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Full text of "Geschichte der weltliteratur"

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—IIX 
weltliteratur 


Alexander 
Baumgartner 


Lit. 3339-97 


Barbard College Zibrarv 


BOUGHT WITH INCOME 


FROM THE BEQUEST OF 


HENRY LILLIE PIERCE, 


OF BOSTON. 


Under a vote of the President and Fellows, 
October 24, 1898. 





. 


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Geſchichte 


der 


Weltliteratur. 


Von 


Alexander Baumgartner S. J. 


IV. 


Die lateinische und griechiſche Literatur 
der chriftlichen Dölfer. 


Sreiburg im Breisgau. 
BHerderfhe Derlagshandlung. 
1905. 
Sweigniederlafjungen in Wien, Straßburg, München und St Louis, Mo. 


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Die 
lateiniſche und griechiſche 
Kiteratur 
der chriftlichen Dölker. 


Don 


Alerander Baumgartner S. J. 


Dritte und vierte, verbefferte Auflage. 





Freiburg im Breisgau. 
Herderfhe Derlagshandlung. 


1905. 
Zweigniederlafjungen in Wien, Straßburg, Münden und St Konis, Mo. 


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Alle Rechte vorbehalten. 








Buchbruderei ber Derder ſchen Verlagshandiung in Freiburg. 


Inhalt. 


Erſtes Buch. 
Die althriftlihe Literatur des Abendlandes. 


Erfied Kapitel: Grundlagen und Anfänge der alichriſtlichen griechiſchen Literatur. 


Der Eintritt Ehrifti in die Weltgeſchichte; feine Stellung zur antiken Bilbung 
und Literatur 3 4. — Raſche Verbreitung des Chriftentums; bie erften Ehriften im 
Gegenſatz zu dem herrſchenden Anihauungen und Sitten 5 6. — Ideeller Gehalt und 
praktifche Tragweite ber neuen Offenbarung 7 8. — Die Evangelien und Apoftel« 
briefe 9. — Die apoftolifhen Bäter 10—12. — Die erften Apologeten des Chriften- 
tums gegen Heibentum, Judentum unb Härefie 12—15. — Alten der Märtyrer. 
Die Katechetenſchule von Alexandrien 15. — Klemens von Alerandrien unb feine 
Werle 16. — Seine Auffaffung des Hellenismus und der antifen Philojophie 17 18, 
Sein Hymnus an Ehriftus "den Hirten 18—20. — DOrigened als Dogmatifer und 
Shhrifterflärer. Seine Schüler 20-22. — Methobius von Olympos. Ein Seitenftüd 
zu Platons „Gaſtmahl“ 22—25. — Das Brautlied der Jungfräulichkeit 26—29. 


Zweites Kapitel: Die griechiſchen Kirchenväter. Athanafius, Baſilius und 
Gregor von Ayfla. 


Der Nrianismus und deſſen Ausbreitung 29 30. — Athanafius, ber große 
Borfämpfer für die Gottheit Ehrifti 380. — Die Schule von Antiohien 31. — Der 
Kirhenhiftorifer Eufebius Pamphili 32—34. — Die Katecheſen bes hl. Eyrillus von 
Jeruſalem. Die zwei Apollinarius 34. — Das Möndhstum in Ägypten, geichildert 
vom hl. Athanafius 35 36. — Der Hl. Bafilius, Begründer des griechiſchen Mönchs- 
tums 36. — Seine Stellungnahme zu den klafſiſchen Studien 87 88. — Sein poe- 
tiſches Naturgefühl, von Aler. v. Humboldt anerfannt 38 39. — Poetifhe Begabung 
und theologifche Werte des hl. Gregor von Nyfia 39 40. 


Drittes Kapitel: Gregorius von Raziany. Johannes Ehryſoſtomus. 


Lebensjhicdfale des hl. Gregorius von Nazianz. Seine Briefe 40 41. — Die 
Fabel von den Schwalben und den Schwänen 41 42. — Seine Gründe zur Be- 
Ihäftigung mit ber Poefie. Gruppen und Charakter feiner Gedichte 42 43. — Der 
Hymnus an Chriftus 44. — Ehe und Jungfräulichkeit (aus dem Gedichte von ber 
Jungfräulichkeit) 45-48. — Der Abjhieb von Konftantinopel 48 49. — Neue Aufs 
gaben ber Berebjamfeit. Johannes Chryſoſtomus 49—51. — Seine Naturauffaffung 
in voller Harmonie mit feiner Auffaffung des Dienfchenlebens und der geoffenbarten 
Wahrheit 51 52. 


vi Inhalt. 


Biertes Kapitel: Syneſius. 


Die heibnifche Philofophie in Berührung mit dem Ehriftentum. Synefius und 
Dypatia 52. — Literariihe Eſſays im Stil der früheren Sophiften 53. — Lobſchrift 
auf den Rhetor Dion. Angriffe auf ein einfeitig asfetifches Leben; Verteidigung 
ber wiſſenſchaftlichen Studien 54-56. — Wahl zum Bifhof und bifhöfliche Tätig- 
feit. Die Briefe bes Syneſius 57. — Die zehn Hymnen 58. — Ein Morgenlieb 
59. — Hymnus auf den Triumph Ehrifti 61 62. — Reuegebet 68. — Die litera- 
riſche Entwidlung durch neue theologische Kämpfe zurüdgedrängt 63. — Die Irrlehren 
des Neftorius und Eutyches 64. — Die Historia TLausiaca 65. — Die Kirchen- 
biftorifer: Sofrates, Sozomenus und Theoboret 66. 


Fünftes Kapitel: Rachklänge antiker Poeſie. Verſuche chriſtlicher Epit. 


Fortleben des Heidentums unter den erſten chriſtlichen Kaiſern. Schonung ber 
antiken Kunſt 66—68. — Bereinigung ber kykliſchen Dichtungen durch Quintus Smyr⸗ 
näus 68 69. — Nonnos 69. — Analyſe der „Dionyſiaka“ 70—73. — Charakteriſtil 
der Dichtung. Eine Art von gänzlichem Ausverkauf. Der Hexameter des Nonnos 
73—75. — Die Umſchreibung bes Johannesevangeliums 76 77. — Nachfolger bes 
Nonnos. Muſaios. „Hero und Leander“ 77 78. — Die Philofophentodhter Athenais als 
Kaiferin Eudolia 79. — Paraphrafe zum Oktateuch. „Eyprian und Juſtina“ 79-—83. 


Sechſtes Kapitel: Die Anfänge der hriftlich-Tateinifchen Literatur. 


Vorwiegen bes Griehiihen bis zum 4. Jahrhundert. Die „Itala* 84. — 
Minucius Felir, ein Hriftlicder Eiceronianer 85— 87. — Geftaltung einer jelbftänbigen 
Batinität. Tertullian 87 88. — Allgemeine Charakteriſtik Tertulliang 88 89. — Stellung 
zu Literatur und Theater 89—91. — Die apologetiihen Schriften, Proben daraus 
92—95. — Der hl. Eyprian 95. — Armobius, Lactantius 96, 


Siebtes ſtapitel: Die großen lateinischen Kirchenichrer des 4. und 5. Jahrhunderts. 


Die arianiſchen Wirren in Stalien und Gallien. Hilarius von Poitiers als 
Vermittler zwiſchen griechiſcher und lateinischer Theologie 97—100. — Der hi. Am: 
brofius von Mailand 100. — Seine Schriften 101 102. — Der hl. Auguftinus 103. 
— Die „Belenntnifie” 104 105. — „Bon der Stadt Gottes“, die Geihichtstheologie 
bes Ehriftentums, Inhalt und Gruppierung des Werkes 106 107. — ECharakteriftif. 
Schilderung der ewigen Seligleit. Sprade und Kunſt bes hl. Auguftin 107—110. — 
Leben und Wirkſamkeit des Hl. Hieronymus 110. — Seine Briefe. Seine geſchicht- 
fihen und literaturgeſchichtlichen Leiftungen 111. — Geine Bibelüberjeßung und 
feine biblifchen Kommentare 112 113. — Internationaler Charakter der Kriftlichen 
Literatur. Die Lleineren Kirchenfchriftiteler 114. — Leo 1. der Große. Römiſch— 
chriſtliche Beredſamkeit 114. — Petrus und Paulus. Auffaffung des Papfttums 
115—117. 


Achtes Kapitel: Epiſche und didaktiiche Verfuche. 


Späte Entwidlung ber epiſchen Dichtung. Verſchiedenheit bes hriftlichen Lebens 
vom antifen 117 118. — Der fpanifche Priefter Juvencus und feine poetifche Be: 
arbeitung der Evangelien. Hohe Auffafjung von der Würde ber Hriftlichen Poefie 
118-—120. — Eyprian und Victorin 120. — Das Gedicht „vom Kreuze“ oder „vom 
Bebensbaum* 121 122. — „Vom Phönir* 122. — Commodians chriſtliche Eitten- 
fprüde 122. — PBergil-Eentonen. Proba. Der Hl. Damafus 124 125. 





Inhalt. VII 


Neuntes Kapitel: Liturgiſche Hyumnendichtung. Der hl. Ambrofius. 


Palmen, Hymnen und geiftliche Lieder ſchon in ben Apoftelbriefen erwähnt 
125. — Die Cantica der Bibel. Ältefte Liturgie 126. — Bericht der hf. Silvia 
über den Gottesdienjt in ber Grabestirde zu Jeruſalem 127. — Die firdlichen 
Gebetsitunden (Horen) und der Chordienſt 128. — Hymnen des hl. Hilarius don 
Poitiers. Der hl. Ambrofius ala Hymnendichter 129. — Auguftin und Ambrofius 
über die kirchliche Humnik 130. — „Das Lied vom Hahnenſchrei“ 131. — „Das Lieb 
bom Morgenrot“ 132. — Andere Hymnen. Metrik und Sprade. Geſamtcharakteriſtik 
bon Erzbiſchof Trend 133 134. — Ursprung bes Tedeum 134 N. 


Zehntes Kapitel: Aufonius und Paulinus von Nola, 


Weltliher Humanismus und geiftliche Poeſie. Die Schulen in Gallien 135. — 
Der Rhetor Aufonius zu Borbeaur und feine Familie 186 137. — Seine „Opuscula”. 
Geographifche Verſe 138. — Des Dichters Freundeskreis. Die Profefforen von Bor— 
beaur. Des Dichters Tageslauf 139, — Orthodorschriftliches Morgengebet 140—142. — 
Spielereien 142 143. — Mosella, das ältefte Mojellied 144. — Der Konful Pau— 
Iinus 145. — Seine Bebensihidiale 146. — Paulinus an Aufonius 147—149. — Der 
letzte Freundesgruß 149. — Paulinus ala Priefter und Biſchof. Seine Gedichte auf ben 
hl. Felix 150. — Frühlingsſchilderung 151. — Vermiſchte Gedichte. Der Abjhieds« 
gruß an den Miffionsbiihof Nicetas 152. — Metrik und Sprade bei Paulinus 153. 


Glites Kapitel: Prudentius. 


Selbfibiographie und bdichterifches Programm in Verſen 154 155. — Hohe 
Stellung und entichieden hriftliher Standpunft des Dichters 156. — Das „Tages- 
liederbuch“ 157 158. — Ehriftus die Zentralfonne feiner Dichtung 159—161. — 
Der Kampf gegen die Irrlehre. Didaktiſche Richtung 162. — Die „Apotheofis“ 
163. — Die „Hamartigenie” 164. — Die „Piyhomadie” 165. — Der Kampf gegen 
das Heibentum 166. — Der Altar der Biltoria und die Relatio des Symmachus 
167 168. — Die zwei Bücher „gegen Symmachus“ 169. — Der heibnifche Olymp 
und Theodofius, fein Befieger 170. — Apoftrophe an die Senatsminberheit und an 
Symmahus 171. — Das zweite Bud. Das wandelbare Fatum und ber Genius 
Roms 172 173. — Die providentielle Sendung und wahre Größe Roms 174. — 
Weitere Einwürfe des Symmadhus widerlegt 175 176. — Die „Siegeöfränze* 177 
178. — Das Peter- und Paulöfeft zu Rom 179 180. — Das „Dittohäum“ 181. 
— Bahnbrechende Bebeutung des Prudentius 182. 


Zwölftes Kapitel: Das letzte Auffladern der heidniſchen Literatur. 


Großartige Nefultate der erften vier Jahrhunderte. Fehlen einer chriftlid- 
weltlichen Literatur 183. — Symmadhus und bie heibnifhe Senatsminorität. Die 
Briefe und Reden des Symmadhus 184—186. — Der Augur Bettius Prätertatus, 
Heidniſche Philofophen, Redner und Grammatifer 186. — Der Geihichtichreiber Am— 
mianus Marcellinus 187. — Der Dichter Elaubius Elaudianus 187. — Seine Werke 
188. — Charatteriftif. Meifterjhaft ber Form, antik-heidniſche Auffaffung 189 190. 
— ARutilius Namatianus. Gebichte gegen ChHriftentum und Möndstum 190-192. 


Dreizehntes Kapitel: Die Inteinifche Dichtung unter den Iekten weſtrömiſchen ſtaiſern. 


Berfall und Sturz bes weftrömifchen Reiches 192. — Zeitjchilderung und 
Selbftbiographie des Paulinus von Pella 198. — Die „Genugtuung“ und das 


VIII Inhalt. 


„Gotteslob“ des Dracontius. Kleinere Dichter 194. — Das „Oſtergedicht“ des Se— 
dulius 195. — Der Weihnachtshymnus des Sedulius 196. — Der Spanier Flavius 
Merobaudes. Der Gallier Sibonius Apollinaris als Hofdichter ber Iekten Kaijer 
197. — Der Dichter ald Biſchof von Glermont-Ferrand, fein perjönlicher Charakter 
198. — Der geiftlihe Dichter Avitus, Bifhof von Vienne 199 200. — Martianus 
Gapella. Die Hochzeit der Philologia und des Merkur. Grundlinien ber mittel 
alterlihen Schule: Trivium und Ouadrivium 201 202. — Die Mythologien bes 
Grammatifers Fulgentius. Die Götter treten als allegorifche Fabelgeftalten in ben 
Dienft der KHriftlihen Schule 203. 


Bierzehntes ſtapitel: Die Kriftlich-lateinifche Literatur im oftgotifchen Reiche. 


Das Reich Theoborichs des Großen 204. — Ennodius, erft Rhetor, dann Biſchof 
von Pavia 204. — Sein Briefwehiel. Die literarifch gebildeten Kreife zu Rom 205. 
— Seine päbdagogifhen und humaniſtiſchen Anfhauungen 206. — Hymnen und Ge- 
legenheitögebidhte 206 207. — Der Senator Bosthius 208. — Vielſeitige Bildung des— 
felben 209 210. — Das „Troftbühlein” 211-213. — Das Lied auf die ewige Liebe 
214. — Erhabene Anrufung Gottes 214. — Die Lehre vom göttlihen Wiffen 215. — 
MWeitreihender Einfluß des Werkes 216. — Die Dichterin Elpis und der Hymnus 
auf die Apoftelfürften 217. — Priscian, Lurorius, Helpidius, Arator 218. — Eaffio« 
dorus am Hofe Theodorichs und feiner Nachfolger 219. — Politifhe und hiſtoriſche 
Werte 220. — In der Einfamkeit von Bivarium. Organifation ber Studien 221. — 
Troſt in den Pſalmen 222 223. — Beglüdender Einfluß der chriſtlichen Lebensanſchauung 
224. — Caſſiodor als Erhalter der antiken und chriſtlichen Literaturſchätze 224 225. 


Zweites Bud). 
Die lafeinifhe Literatur des Mittelalters. 


Erſtes Kapitel: Die Erhaltung des Lateins als lebendiger Sprache ber Ktirche, bes 
Rechts und der Wiſſenſchaft. 


Das Chaos der Völkerwanderung. Die Schilderungen Salviand 229. — Der 
Sittenverfall im alten Römerreihe 230 231. — Römer und Germanen. Schwierige 
Aufgabe der Kirche 232. — Ungünftiger Einfluß der römiſchen Entartung und bes 
Arianismus auf die Germanen 233. — Verheerung ber alten Kulturländer 234. — 
Rettung ber lateinifh-Hriftlichen Bildung durch die Mönde. Benedikt von Nurfia 
und Gregor I. der Große 285. — Verbindung der Völkerſtämme dur die Einheit 
ber Kirchenſprache 236. — Das Opus Dei, die heilige Mefje und bie kirchliche Liturgie; 
kulturhiftorifche Bedeutung berjelben 237—239. — Erhaltung der lateinischen Sprache 
in Predigt und Wiſſenſchaft, in den Rechtsbüchern und in ber Verwaltung 239. — 
Gediht des Marcus von Monte Eaffino auf den HI. Benedikt 240. — Hymnen und 
Proſaſchriften bes hl. Gregorius des Großen 240 241. 


Zweites Stapitel: Lateiniiche Sihriftiteller in Nordafrifa und im weitgotifchen Spanien. 


Fulgentius von Ruſpe. Gorippus. Verecundus. Fulgentius Ferrandus 242. — 
Die Könige Sifebut, Chintila, Reccesvinth und Wamba 243. — Gelehrte Bijchöfe 
in Spanien 243 244. — Der hl. Eugenius II. von Zoledo ald Dichter 245. — 
Iſidor von Sevilla als chriſtlicher Encyklopädift 246—248. — Harte Verurteilung 
bes Theaters 248. — Inſchriften für eine Bibliothef 249 250. — Martinus Du— 
mienfis in Portugal 250 251. 


Inhalt. Ix 


Drittes ſtapitel: Literarifches Leben in Gallien. Gregor von Tours. 
Benantius Fortunatus. 


Verwilberung im Reiche der Merowinger 251—253. — Tours und Poitiers 
als Kulturftätten. Das Grab bes Hl. Martin 258. — Fortſchritte der kirchlichen 
Organifation. Gregor von Tours 254 255. — Seine „Geihidhte der Franken“ 255. 
— Seine religiöjen Schriften 256. — PVenantius Fortunat und feine Wallfahrt nad) 
Tours 257. — Die hl. Radegund und ihr Kloſter 258. — Profafchriften des Venantius 
259. — Die Kreuzeshymnen Vexilla regis und Pange lingua 260—263. — Die 
Elegie „Bom Untergang Thüringens‘ 263 264. — Andere Dichtungen. Gejamt- 
charakteriſtik 265—-268, 


Biertes Kapitel: Die Flucht der Inteinifchen Bildung nah den britifchen Inſeln. 


Bekehrung Irlands durch ben hl. Patrid. Sein Schüler Secundinus 268. — 
Das Klofter Bangor in Ulſter. Columba und bie Gründung bes Klofters Jona in 
den Hebriben. Seine Lebensgeihichte von Abt Adamnan 269. — Adamnan redigiert 
Arculphs Reifeberiht aus Paläftina. Der Engländer Egbert in Echternach und Utrecht. 
Gildas „der Weije* 270. — Strafrebe bed Gildas (De excidio Britanniae) 271 
272. — Belehrung der Angeljahjen dur den hl. Auguftin. Der griehiihe Mönd 
Theodor, Erzbiſchof von Eanterbury 273. — Der hl. Aldhelm von Malmesbury. Seine 
Proſaſchriften 274. — Seine Rätjel 275. — „Bom Lobe ber Jungfrauen“ und andere 
Gedichte 276. — Das Klofter Wearmouth und deſſen Bücherſchätze (Biblia Amiatina) 
277. — Beba ber Ehrwürbige und feine Kirchengefhichte 278 279. — Lateinifche 
Gedichte Bedas. St Euthbert und die diebiſchen Vögel 280. — Die vier Jahreszeiten 
281. — Bedas Bericht über Kädmon 282 283. 


Fünftes Kapitel: Die Pioniere der Hriftlich-Inteinifchen Bildung in Deutſchland. 


Die bl. Eolumbanus und Gallus 284. — Columban über das irdiſche Leben 
285. — Briefe und ihm zugejhriebene Gedichte 286. — Aus einer Predigt bes 
bl. Gallus in Konftanz 287. — Winfried-Bonifatius, der Apoftel der Deutjchen 
288. — Seine Rätfel 289. — Briefe und Mleinere Gedichte. Lioba, Eadburga und 
andere gebildete Frauen im Dienfte des hriftlichen Apoftolats 290 291. 


Sechſtes Kapitel: Die literariſche Tafelrunde Karls des Großen. 


Gründung bes Kriftlihen Kaifertums durch Karl den Großen. Seine Be- 
ftrebungen für geiftige Bildung 292 298. — Alluin und die Domjhule zu Vorf. 
Sein päbagogijches Wirken in Frantreih 294 295. — Seine Briefe und Dichtungen 
296—298. — Das Gedicht vom Ktuckuck 298-300. — Angilberts Gedichte 300. — 
Karl ber Große und Leo III. in Baberborn 301. — Theobulf 302 303. — Paulinus 
bon Aquileja, Joſeph Scottus und Nafo. Fardulf und Bernowin. Peter von Pija 
und Paulus Diafonus 304. — Einhard 305. 


Siebtes Kapitel: Die Literatur an den lofterfhnlen: Fulda, Reichenau, St Gallen. 


Mangel an literarifhem Intereffe bei den Laien; weitere Pflege der geiftigen 
Bildung dureh ben Klerus 306 307. — Gelehrte Äbte in Fulda. Sturmi. Hrabanus 
Maurus, primus praeceptor Germaniae. Walafrid Strabo in Reichenau. Die 
Vifionen des Wettin 308. — Das Gediht vom Kloftergarten. Schilderung der Me— 
Ione 309 310. — Andere zeitgenöffiiche Dichter: Ermoldus Nigellus, Wandalbert von 
Prüm, Sebulius Scottus 311. — Florus. Andrabus 312. — Des Agius Elegie auf 


X Inhalt. 


Hathumod 313. — Theologiſche Schriftjteller 318. — Der Humanift Servatius Lupus. 
Bertharius zu Monte Gaffino und Eulogius von Corduba 814. — Das Klofter 
St Gallen und feine Bibliothef. Notker ber Stammler, Zutilo, Ratpert 815 316. 
— Notlers Sequenzen 317. — Andere Sequenzendichter von St Gallen 318. — Die 
fünf Etfeharde 319 320. 


Achtes Kapitel: Das Walthariuslied. 


Seine Entftehung 320. — Analyfe 321. — Die Flucht Waltharis und Hilt 
gunds 322. — Weitere Abenteuer 323. — Die Nachtwache 324 325. — Der Schluß 
326 327. — Wert ber Dichtung 327. 


Neuntes Kapitel: Der Ruodlieb. 


Die Handſchrift von Tegernſee 328. — Analyfe. Die zwölf weifen Räte 329 
330. — Ruobliebs Brautfahrt und Hochzeit 331. — Beurteilung bes Romans 332. 


Sehntes Kapitel: Das lateiniſche Tierepos. 


Die Echasis captivi 332—335. — Der Isengrimus 836. — Der Reinhardus 
Vulpes bes flandrifhen Dtagifters Nivardbus 337—339. 


Elftes Kapitel: Hroswitha von Gandersheim. 


Neuer Auffhwung der Bildung unter den Ottonen 339. — Die Äbtiffin Ger- 
berga und ihre Schülerin Hroswitha 340. — Epiſches: Marienleben 341 342, — 
Heiligenlegenden 343. — Die hl. Agnes 344. — Andere Legenden 345. — Die 
fehs Dramen Hroswithas 346. — Komiſche Scene aus „Dulcitius“ 347 348. — 
Scene aus „Abraham“ 349—351. — Vorzüge und Mängel ber Stüde 552. — Ge- 
dit auf Otto I. 353, 


Zwölftes Kapitel: Chroniften und Geſchichtſchreiber. 


Aufblühen ber Volksliteraturen; das Lateiniſche bleibt die Sprache der Wiflen- 
Ihaft 353. — Ungeheurer Umfang der lateinifhen Geihichtsliteratur. Leben der 
Heiligen. Die Hagiographen Liudger, Altfrid, Hufbald, Ansgar, Adalhard, Wandal⸗ 
bert 354. — Annalen und Chroniken 355. — Heinrih von Auxerre. Liudprand. 
MWidulind. Thietmar. Hermann der Lahme 356. — Adam von Bremen. Anaftafius 
ber Bibliothefar. Orbdericus Bitalis. Flodoard von Reims 357. — Lambert von 
Hersfeld. Sigebert von Gemblour. Otto von Freifing 358. — Wilhelm von Tyrus 
359. — Rahevin. Gotfried von Biterbo 360. — Mifhung von Sage und Ge- 
Ihichte. Die goldene Legende. Thomas von Chantimpre. Gäfarius von Heifter- 
bad. Saro Grammaticus 361. — Naiver Wunderglaube. Gerechtere Beurteilung 
der alten Legendenſchreiber 362. — Der Mönch von St Gallen und die Gesta 
Caroli Magni 8368. 


Dreizehntes Kapitel: Epiſche Verſuche und hiſtoriſche Zeitgedichte. 


Bevorzugte Stelle ber Heiligenlegende in der mittelalterlichen Epik. Prolog zu 
Flodoards Legende 364 365. — Überficht feiner Begendenfammlung 866. — Andere 
Legendendichter 367. — Die Chriftophslegende bes Walter von Speier 368. — 
Hiſtoriſche Zeitgedichte 369. — Wipos Tetralogus. Das Epos vom Sachſenkriege 
870. — Andere Gedichte aus ber Zeit Heinrichs IV. 871. — Gunther von Päris. 
Der Solymarius. Der Ligurinus. Proben daraus 372 373. — Die Alerandreis 


Inhalt. xI 


bes Walter von Ehätillon 374—376. — Gedichte über Mohammed. Antiocheis, 
Philippis 376 377. — Die Aurora bes Peter (de) Riga. Carolinus. Margarita 
Biblica, Magifter Yuftinus von Lippftadt 377 378. 


Bierzehutes Kapitel: Die Humaniften und die Schulpoefie des 12. und 
13. Jahrhunderts. 


Ständige Fortdauer humaniftifher Studien 378 379. — Marbods didaktiſche 
Gedichte 379 380. — Hildebert von Tours. überſicht feiner Werte 380 381. — 
Zwei Elegien: Das heibnifhe Rom 3831 382. — Das Kriftlihe Rom 383. — „Das 
Horojlop“ (Liber mathematicus) 384—388. — Über den Einfluß hellenifher Bil« 
bung auf das alte Rom 388. — Berbindung ber philoſophiſchen Bildung mit ber 
humaniftifhen. Johannes von Salisbury und fein Polycratius 389 390. — Sein 
Entheticus 891. — Manus be Inſulis. Das allegoriich-philofophifche Lehrgedicht 
Anticlaudianus 392—395. — Peter von Blois. Der Archithrenius des Johann 
von Hantville 395. — Heinrih von Settimello und Heinrid von Mailand 396. — 
Die Briefe des Peter von Blois. Die humaniftiihen Studien als VBorftufe der philo- 
fophiichen 897. — Die Poetik bes Geoffrey Vinjauf 398. — Das, Labyrinth“ des Eber- 
hard von Bethune 399 400. — Verſchiedene Schätzung der antiken Klaffifer 401. — 
Einfluß des Plautus und Terenz. Bitalis von Blois und Matthäus von Vendöme 402, 
— Wilhelm von Blois’ Alda 403. — Die Gefhichte von Paulin und Polla 404 405, 


Fünfzehntes Kapitel: Satirifche Dichtung. Die Goliarden. 


Schattenſeiten des Mittelalters in fatirifhher Beleuchtung 405. — Literarische 
Bildung in England. Neben ernften Leiftungen viel Satire und Humor 406. — 
Nigel Wireferd Brunellus 407 408. — Walter Diap 409 410. — Die Goliarben. 
Bettellied 411. — Unweſen der Baganten. Der „Golias" Abälarb 412. — Die 
„Metamorphofis* und ihr fatirifher Schluß 413—416. — Die zwei Sammlungen 
ber Goliardengebichte 416. — Wirres Durkeinander. „Bon Phyllis und Flora” 
417. — Die „Beiht des Golias“ mit den Bemerkungen des Giraldus Cambrenſis 
418 419. — Meum est propositum 419. — Satiren gegen Papft, Kurie und Klerus 
420. — Allgemeine Satire auf alle Stände 421. — Bernharb von Geft. Ein Wein- 
lied bei Salimbene 422. — Zeilweife günftiger Einfluß der Goliardenpoefie 423, 


Sechzehntes Kapitel: Die geiftlichen Schaufpiele. 


Anhaltende VBerfemung des Theaterd und Mangel einer bramatiihen Poefie 
424. — Erjaß dafür im religiöjen und jozialen Leben 425. — Entftehen ber geiftlichen 
Schaufpiele im Anſchluß an die Liturgie. Erfter Anja zu den Djfterfpielen 426. — 
Englifche, franzöſiſche und deutſche Ofteripiele 426—428. — Krippenfpiel von Rouen 
429. — Das entwideltere Weihnadtsjpiel von Benedikibeuren 430 431. — Das 
franzöfiiche Efels- oder Narrenfeft 431. — Stimmen gegen die Spiele 432. — Plan bes 
DOfterfpiels von Benediktbeuren 433. — Das Ofterfpiel vom Antichriſt 434—437. — 
Die Mojterienfpiele des Hilarius. Das Katharinenfpiel zu Dunftaple in England 437 438, 


Siebzehntes Kapitel: Religidje Lyrik und Hymmenpoefte. 


Riefiges Anwachſen der religiöfen Lyrik 438 489. — Hiſtoriſche Überfit. Drei 
Sauptperioden 440. — AZufammenhang mit der übrigen Bildung 441. — Der 
hl. Petrus Damiani 441. — „Die Glorie des Paradiejes* 442 448. — Hermannus 


xII Inhalt. 


Gontractus. Petrus Venerabilis. Marbod. Hildebert von Tours (Lavardbin) 444. — 
Aus Hildeberts Lied auf bie heilige Dreifaltigkeit 444 445. — Abälards Hymnarium 
445 446. — Der hl. Bernhard von Clairvaux 446. — Adam von St Biltor 448. 
— Dfterlied 449. — Sequenz auf Mariä Himmelfahrt 449—451. — Ungleicher Wert 
der Hymnen. Hohe Bedeutung der Hymnik an fi und in Verbindung mit der Liturgie 
(Mefie und Stundengebet) 451 452. — Sequenzen (Tropen), eigentlihe Hymmen, Reim— 
offizien 452 453. — Julian von Speier und die früheften Reimoffizien ber Franzis« 
faner 454. — Andere Neimofficien. Spätere Überfünftelung und Spielereien 455. 


Adtzehntes Kapitel: Die Scholaftifer und Myftiter. 


Die Entwidlung ber chriſtlichen Philofophie 456. — Ausbildung der Scholaftit 
457. — Ihre Hauptvertreter 458. — Die fholaftiiche Methode 458. — Die lateiniſche 
Schulſprache 459. — Die Summa bes hl. Thomas von Aquin 460. — Die Scholaftit 
fein Hemmnis der übrigen Bildung. Der Aquinate als liturgiſcher Dichter 461 bis 
463. — Das Stabat mater und Dies irae 463 464. — Der hl. Bonaventura. Das 
„Nachtigallenlied" 464—467. — Myſtiſche Schriftftellerinnen: Birgitta, Mechtild und 
Hildegard. Die finnige Künftlerin Herradb von Landsperg 467 468. 


Neunzehntes Kapitel: Ein mittelalterlicher Encyklopädiſt. 


Die mathematischen und naturwifjenihaftlien Studien im Mittelalter 469. — 
Vincentius von Beauvais. dee und Anlage des Speculum triplex 470. — Das 
Speculum naturale 471. — Speculum doctrinale 472. — Speculum historiale 
473. — Die von Bincenz benußte Literatur. Fruchtbare Grundlage einer weiteren 
Literaturentwidlung 474, 


Zwanzigftes Kapitel: Anfänge der jog. Nenaifiance in Italien, 


Harmoniſcher Ausgleich der Scholaftit und des Humanismus bei Dante. Dante 
als Humanift 475 476. — Die Schrift De monarchia. Der Ghibellinismus als 
Rückkehr zum antiken Staatögebanten und ala Wurzel eines antifichliden Humanis- 
mus 476 477. — Bunte Entwicklung bed Humanismus in der nächſten Zeit. Dantes 
Zeitgenofien 478. — Franz Petrarca 479. — Seine Dichterfrönung 480. — Als 
gemeine Charakteriftif feiner Periönlichleit und feiner Schriften. Briefe und Streit- 
ihriften 481. — Das Epos „Afrifa*. Prinzipiell Kriftlihe Auffaffung der huma— 
niftiihen Stubien 482 483. — Luigi de’ Marfigli und die erften Humanijten in 
Florenz 484. — Boccaccio und feine lateiniihen Schriften. Seine Kenntnis ber 
Alten. Anregung zum Homerftubium 485 486. 


Einundzwanzigfted Kapitel: Die italienifhen und deutſchen Humaniften bes 
ausgehenden Mittelalters, 


Die Sholaftif nad ihrer Hochblüte im 13. Jahrhundert 486 487. — Hebung 
der humaniſtiſchen Stubien ein Bedürfnis der Zeit. Anfänge der Florentiner Afa- 
bemie 488. — Die Päpfte und bie italienifhen Fürften treten an die Spitze ber 
Renaiffancebewegung 489. — Niccoli, Manetti, Traverfari und andere italienifhe 
Humaniften 490. — Der Humanismus auf dem päpftlihen Thron. Nikolaus V. 
und Pius II. Die Humaniften im übrigen Italien 491 492. — Bedenkliche Elemente 
unter den Vertretern des Humanismus 493. — Verhalten der Päpite gegen diejelben. 
Poggio. Beccabelli 494. — Balla 495. — Erllärte Revolutionäre und Freigeiſter. 
Literarifche Leiftungen der Humaniften. Filelfo 496. — Maffeo Begiv. Janus Pan 
nonius 497. — Lateinifche Tragödien, Komödien und Elegien 497 498. — Der 








Inhalt. xım 


Humanismus in Paris, Nikolaus de EClamengis. Johann Gerfon 498—500. — 
Die deutfhen Humaniften 500. — Nikolaus von Eues. Gerhard Groot und bie 
nieberdeutijhe Schule 501. — Thomas von Kempen. Dionyfius der Sartäufer. 
Humaniften in Öfterreih 502. — In Süddeutſchland, Ungarn und Polen 503 504. 


Drittes Bud). 
Die byzantiniſche Literatur. 


Erſtes Kapitel: Die byzantiniſche Profaliteratur, 


Allmähliche Entfremdung der griechiſchen von ber lateiniſchen Welt 507 508. — 
Hoher Stand ber geiftigen Bildung von Byzanz. Berwertung der Patriftil. Neue 
theologifhe Kämpfe 509. — Theologen. Marimos Confeſſor. Johannes von Da— 
mastus 510. — Asketiſche und hagiographiſche Literatur. Johannes Klimakos 511. — 
Theodoros Studita. Johannes Moſchos 512. — Legenden. Symeon Metaphraftes 
513. — Barlaam und Joſaphat 513—516. — Photius als Literaturfritifer 516 
517. — Die Geſchichtſchreiber 518 519. 


Zweites Kapitel: Die byzantiniſche Hymnil. 


Nahwirkungen der alten poetifhen und Tünftleriichen Traditionen. Übergang 
zur chriftlihen Poefie 519 520. — Die neuen rhythmiſchen Formen. Allgemeiner 
Eharakter der Hymnenpoefie 521. — Kontalia und Kanones. Akroſtichen. Romanos, 
ber größte Hymnendichter 522. — Sein Weihnadhtshymnus. Aufbau feiner Hymnen, 
„Die Berleugnung Petri” 523. — Drei Hymnen auf den ägyptifchen Joſeph. „Mariä 
Lichtmeß“ 524. — Schema bes Hymnus „Der jüngfte Tag* 525. — Probe aus dem— 
ſelben 526—532. — Der Hymnus „Atathiftos” 532—534. — Andere Hymnendichter. 
Johannes von Damaskus. Kosmas ber Melode 534 535. 


Drittes Kapitel: Die nichtliturgiſche Dichtung der Biyantiner. 


Die poetifhen Formen. Neigung zu Künftelei 535. — Palladas. Chriftodoros. 
Agathias 536. — Feſtgedicht des Paulus Silentiarius auf die Agia Sophia 536 
537. — Georg Pifibes 538. — „Über den Feldzug bes Kaifers Herallios* 539 
540. — Das Heraömeron 541. — Kloſterverſe des HI. Theodor Stubita 541 542, — 
Die Dichterin Kaſia 543. — Johannes Mauropus 544. — Die Anthologien des 
Konftantinos Kephalas und des Maximos Planubes 544 545. 


Vierte Kapitel: Dad Drama „Der leidende Chriſtus“. 


Troftlofes Schidjal der dramatiſchen Poefie. Erft fpät taucht ein einziges 
Drama auf 546. — „Der leidbende Ehriftus". Prolog. Auffafjung des Stoffes als 
„Marienklage“ 547. — Analyje des Stüdes 548 549. — Ergreifender Monolog nad 
ber Kreuzabnahme 550. — Der dritte Teil ein freundliches Ofterfpiel. Verfchiedene 
Beurteilungen 551. 


Fünftes ſtapitel: Epit und SHeindichtung der ſpäteren Byyantiner. 


„Die Eroberung von Kreta” des Mönches Theodoſios. Apoſtrophe an Homer 
552. — Der Ejel in ber Wurfmaihine Theodor Prodromos 553. — Niletas 
Eugenianos. Michael Hapudleir. Manuel Philes 554. 


xıv Inhalt. 


Sechſtes Kapitel: Literatur in ber Vulgärſprache. 


Allmähliche Geftaltung der Vulgärſprache. Theodor Prodromos 555. — Andere 
Dichter. Anonyme Dichtungen. Die Rhodiſchen Liebeslieder. Die Ilias des Kon— 
ftantin Harmoniakos 556. — Baſilios Digenis Alritas. Hiſtoriſche Zeitgebichte, 
Romantifhe Sagendidtungen 557. — Der Phyfiologus. Das Obftbud. Andere 
Boltsbüher 558. 


Siebies Kapitel: Die griechiſchen Humaniſten im Abendland, 


Annäherung der Griehen und Lateiner in den Unionöverhandblungen. Ver— 
triebene Griechen in Stalien 558. — Leontios Pilatos. Manuel Chryfoloras. Gemiftos 
Plethon. Streit zwifchen Platonifern und Ariftotelifern. Georgios von ZTrapezunt. 
Michael Apoftolios. Andronitos Kalliftos 559. — Kardinal Beffarion ald Vermittler 
560. — Langfame Verbreitung ber griehifchen Literatur 561 562. — Yohannes 
Argyropulos. Konftantinos Laskaris. Demetrios Moſchos 563. — Markos Mufuros 
und Janos Laskaris 564. — Förderung ber griehifchen Studien in Rom 565. — 
Das griehiiche Kollegium bdafelbft. Nikolaus Alemanni und Leo Allatius 566. — 
Die „Hellas“ des Leo Alfatius 566—568. 


Viertes Bud). 
Die lateinifhe Literatur der Menzeif. 


Erftes Kapitel: Die deutfchen Humaniften und die Glaubendtrennung. 


Spaltung der europäischen Bölkerfamilie. Der Humanismus an fi unabhängig 
von der Trennung 571. — Die bedeutendften Humaniften bleiben bei der alten Kirche. 
Johannes Reudhlin. Konrad Geltes 572. — Charitas Pirfheimer und ihr Bruber 
Wilibald 573. — Heynlin a Lapide. Glareanus. Die Donaugejelihaft 574. — 
Johann Spießmaier. Joachim von Watt. Johann von Dalberg. Trithemius 575. — 
Yohann Butzbach. Ortwin Gratius. Hermann von dem Buſch 576. — Mutian Rufus. 
Eoban Hefius. Erotus Rubeanus. Euricius Eordus 577. — Ulrih von Hutten 578. — 
Der Reuchlinſche Streit und „Die Briefe der Dunkelmänner* 579 580. — Defiberius 
Erasmus 581—584. — Der Humanismus in England 584. — Die Gräciften in 
Oxford und London 585. — Thomas Morus und jeine Utopia 586 587. — John 
Fiſher 588. — Elegie des Erasmus auf Morus und Filher 589—591. 


Zweites Kapitel: Weiterblühen der neulateinifhen Literatur in Jtalien. 


Das Rom der Renaifjance 591. — Blüte ber italienischen Literatur neben ber 
lateinifhen 592. — Jakob Sabolet und Peter Bembo 593. — Hieronymus Bida 
und feine Dichtungen 594 595. — Seine Auffafiung der Poefie 596. — Seine 
Ehriftiade 597. — Jacopo Sannazaro 598. — Sein Epos De partu Virginis 
599. — Die römiſche Akademie 600. — Corycius. Ruccellai und Triffino 601. — 
Aldo Manuzio und Andrea Navagero. Andere Epiler 602, 


Dritted Kapitel: Weiterleben des Humanismus anherhalb Italiens. 


Hohannes Dantiscus 602. — Nikolaus Copernicus und jein „Siebengeftirn“ 
608 604. — Nikolaus Dlay. Knobelsdorf in Paris 605. — Die humaniftiihen 


Anhalt. xV 


Studien in Frankreich. Wilhelm Bubeus 605. — Germain de Brie. Friedliche Er- 
weiterung der humaniſtiſchen Studien 606. — Die erften Jejuiten als Schüler am 
Kollegium Sainte-Barbe. Peter du Ehaftel 607. — Jacques Touffain. Henry Eftienne. 
Zurnebe und Dluret. Georg Buhanan 608. — Der Humanismus in den Niederlanden. 
Johannes Secundbus 609. — Juſtus Lipfins 610. — Die Brüder bes gemeinjamen 
Lebens. Entwidlung bes Schuldramas. Wimpheling. Reudlin 611. — Makropedius 
612. — Schonaeus. Andere mieberländiihe Schuldramatifer 613 614. 


Viertes Kapitel: Der Humanismus im Dienite der neuen Lehre. 


Luthers Stärke in feinen deutſchen Schriften; ber volle Bruch mit ber lateiniſchen 
Bildung jedoch durch die Verhältniffe aufgehalten 614. — Melanchthons Berdienfte 
alö Praeceptor Germaniae 615. — Durdfreuzung feiner Beftrebungen durch die 
Wirren der Zeit 616. — Ungünftige Lage der neugläubigen Poeten und Magiſtri. 
Sabinus. Micyllus. GCamerarius. Andere Poeten. Georg Fabricius 617. — Zaub- 
mann 618. — Paul Meliffus. Petrus Secundus Lotihius 619. — Johann Sturm und 
die proteftantifhe Schulbühne 620 621. — Das Schuldrama wird hauptſächlich 
polemifches Kampfesmittel. Chriftophorus Stymmelius 622. — Sirt Birf. Naogeorgus 
Nikodemus Friichlin 623 624. — In England tritt der Humanismus gegen die nationale 
Poefie zurüd 625. — John Owen und Franz Bacon 626. — Aufblühen der Haffiichen 
Studien in den Niederlanden. Dufa. Scaliger. Heinfius. Seriverius. Boffius 
627. — Grotius als Dichter 628. — Lateiniſche Mariendichtungen bes Iutherifchen 
Biſchofs Brynjölfe Speinsion in Island 629. 


Fünftes Kapitel: Das lateiniſche Schuldrama der Jeſuiten. 


Pflege des Schuldramas als eines untergeordneten päpagogiſchen Hilfsmittels 
630. — Nichtsdeſtoweniger reihe Entwidlung 631. — Verſchiedene Beurteilung 632, — 
Hervorragende Schuldbramatiter 633 634. — Pädagogiſcher Wert. Einſchränkung 
ber Dichter durch den pädagogiſchen Zwed. Vorliebe des Zeitgeſchmacks für die Alle 
gorie 635 636. — Wahl guter Stoffe. Techniſche Ausbildung bes Bühnenwejens 
637 638. — Aufführungen in Wien und Graz 639. — Nußen bes Schultheaters für 
die damalige Literatur überhaupt 640. — Die Schulbühnen von La Fleche und Louis 
le Grand zu Paris 640 641. — Karl Porree, Voltaires Lehrer, der letzte bedeutende 
Schuldramatifer in Paris 642 643. 


Sechſtes Kapitel: Urban VIII, Sarbiewsti und Balde. 


Günftiger Einfluß des Humanismus auf die romanischen Literaturen 644. — 
Allmählices Zurücktreten ber lateinischen Dichtung. Anregender Einfluß ber befferen 
lateiniihen Schulpoefie 644 645. — Wert der Tatholifchen Überlieferung überhaupt 
für Kunft und Literatur 646 647. — Rom als Mittelpunft geiftiger Kultur im 
17. Jahrhundert. Urban VIII. 648. — €. Sarbiewsti 649. — Die Revifion ber 
Brevier-Hymnen 650. — Jakob Balde und jein Liederbuh 651—653. — Das Lied 
ber Liebe 654 655. — Abendlied 656. — Mahnung an die Deutichen 657 658. — 
Marienliedber. Der Schwanengefang 659. — Die Übrigen Werfe Baldes 660—663. 


Siebtes Kapitel: Andere Neulateiner des 17. und 18. Jahrhunderts. 


A. Widl 664. — 3. Biflel. Johann Kreihing. Niederländiice Elegiler 665. — 
Der Humorift U. Gazet 666. — Franzöfiſche Neulateiner 667. — Italieniſche Neu— 


XVI Inhalt. 


lateiner 668. — Engländer. Lateinifhe Dichter in Brafilien und Mexilo 669, — 
Michael Denis 670. — Kardinal Polignac 671. — Opitz. Fleming. Leibniz. Kafpar 
von Barth 672. — Gottfried v. Herder über bie neulateiniiche Dichtung 673 674. 


Achtes Kapitel: Die Inteinifche Dichtung im 19. Jahrhundert. Leo XII. 


Bruch ber neueren Wiſſenſchaft mit ber lateinifhen Sprade 674 675. — 
Statiftifches über den Rüdgang ber lateinischen Verskunſt 676. — Nur mehr ſchwache 
Pflege berfelben, auch in ben Tatholifchen Ländern. Der Preis Hoeufft. Peter Eſſeiva 
677. — „Die Eifenbahn“ 678 679. — „Die Emanzipierten“ 680 681. — Leo XIII. 
als lateiniſcher Dichter. Poetiihe Selbftbiographie 682 683. — Oben und Epi- 
gramme. „An Gallus‘. „Die Photographie” 684. — Die Fortſchritte und Leiftungen 
ber modernen Philologie 685. — Verfchiedene Zeitftrömungen in Bezug auf den 
chriſtlichen Humanismus 685 686. — Garantien für bdeffen Fortdauer in maß» 
vollem Umfang und zum Vorteil der mobernen Bildung. Poetiſche Prophezeiung 
des Papites 687 —689. 


— 0.2 











Erſtes Bud. 


Die althriflihe Literatur des Abendlandes. 


Baumgariner, Weltliteratur. IV. 3. u. 4. Aufl. 1 


Erites Kapitel. 


Grundlagen und Anfänge der altchriſtlichen 
griechiſchen Literatur. 


oc bevor die römische Literatur unter Auguſtus zur vollen Hochblüte 
gelangt war, hatte fih das größte Ereignis der Weltgeſchichte vollzogen. 
Die wunderbare Weihnadht war erjchienen, nad der die Menjchheit noch heute 
ihre Jahre zählt. Das ewige Wort des Baters, ihm gleih an Weſen, 
Macht und Herrlichkeit, Hatte im Schoße der Jungfrau fi) mit der menfch- 
lihen Natur zu unauflöslihem Bunde vereinigt, um die gefallene Menſch— 
heit vom Joche der Sünde zu erlöfen, ihre Schuld durch flellvertretende 
Genugtuung zu fühnen, ihr in feinem fterblichen Leben den Weg des Heiles 
zu zeigen und ihr im einer Diesjeitd® und Jenſeits umjpannenden Heils— 
ordnung das höchſte übermatürliche Ziel wieder zu eröffnen. Eine der Volks— 
zählungen, melde Auguftus zur Aufftellung der Zenfusliften im ganzen 
römiſchen Weltreih vornehmen ließ, führte Maria die Jungfrau und ihren 
jungfräulichen Gemahl, den hl. Joſeph, nad Bethlehem. Sie fanden in 
der überfüllten Stadt feine Herberge; in einem armen Stalle ward ber 
Welterlöſer geboren. 

In tiefem Dunkel floffen die erften dreißig Jahre feines Lebens dahin; 
jeine öffentliche Lehrtätigkeit beſchränkte fih auf die engen Grenzen bon 
Paläſtina. Erſt als Gefangener, des Aufruhrs angeklagt, erjchien er zum 
eriten- und letztenmal dor dem Stellvertreter des römiſchen Weltbeherrichers. 
Im Namen des fiegreichen Heidentums verurteilte der römiſche Statthalter 
auf die verleumderifche Anklage der Synagoge den unjdhuldigen, von ihr 
verjtoßenen Meſſias zum Sreuzestode und verkündete in der dreiſprachigen 
Inſchrift der gefamten Welt die Urſache feiner Hinrihtung. Drei Tage 
jpäter ward feine Auferftehung von einer ganzen Schar von Zeugen verbürgt, 
zwei Monate jpäter beteten ſchon Zaufende aus den verjchiedenften Völkern 
den Auferftandenen als ihren Gott und Erlöjer an; dreißig Jahre jpäter 
war die Kunde feiner Lehre Schon in alle Hauptländer des römischen Reiches 
gedrungen, und Petrus, da3 Haupt des von ihm berufenen Apoſtelkollegiums 


und der bon ihm gegründeten Kirche, ftarb unter Nero in Rom jelbit, 
1* 


4 Erites Kapitel, 


in den Gärten des Vatikans, den Martertod, mit ihm der Bölferapoftel, der 
die Lehre Chriſti durch ganz Kleinafien gepredigt und im alten Athen wie 
am Fuße des Kapitol3 verfündigt Hatte. Das Ehriftentum war bereits eine 
Meltmadt. 

Die neue Lehre ſchien der geſamten damaligen Wiſſenſchaft und Literatur 
gleihgültig, wenn nicht ablehnend und feindlich gegenüberzuftehen. Sie 
beihäftigte ſich zunächſt nur mit religiöfen, fittlihen und jozialen Aufgaben. 
Die einzigen Schriften, deren ihr göttliher Stifter erwähnt, find die in- 
fpirierten Bücher des Alten Bundes. Er beruft fi auf fie, um jeine 
meffianifhe Sendung nachzuweiſen und feine Lehre, die des Neuen Bundes, 
daran zu fnüpfen. Er jelbft hat feine Schriften hinterlaffen noch zur Auf: 
zeihnung feiner Lehren ausdrüdlichen Befehl erteilt. Seine ganze Tätigkeit 
jpielt fih in den Beifpielen der hödhften Tugend, mündlicher Belehrung und 
wunderbaren Erweiſen göttliher Kraft und Gnade ab. Sie ift ein tat- 
ſächlicher Proteft gegen jene naturaliftiihe Anjchauung, welche in erfter Linie 
von wiſſenſchaftlicher und äfthetiicher Bildung das Heil der Menjchheit er- 
wartet. Der Hl. Paulus hat diefem Gegenja aud Haren und deutlichen 
Ausdruck gegeben, indem er den Korinthern fagte: „Denn da in der Weis: 
heit Gottes die Welt dur die Weisheit Gott nicht erlannt hat, jo hat es 

Gott gefallen, durch die Torheit der Predigt zu erretten die Glaubenden, 
da aud die Juden Zeichen begehren, und die Griechen Weisheit juchen, wir 
aber Chriſtum predigen den Gefreuzigten, den Juden denn als ein Ärgernis, 
den Heiden aber als eine Torheit, ihnen jelber aber, den Berufenen, Juden 
jowohl als Griechen, Chriftum als Gottes Kraft und Gottes Weisheit.” 1 

In diefen Worten ift ſowohl der faljchen, verknöcherten Auffaffung des 
Alten Bundes von feiten der Juden als aud dem grenzenlojen Wiſſensſtolze 
der helleniſchen PHilojophie ein ewiger Krieg erklärt, keineswegs aber die 
providentielle Führung abgebrochen, durch welche Gott im Alten Bunde den 
Neuen angekündigt, vorbereitet und grumndgelegt hatte, ebenjowenig das 
natürlih Wahre, Gute und Schöne abgelehnt und verurteilt, daS die antife 
Welt im Laufe der Jahrhunderte hervorgebracht hatte. Die Bildung der 
antiten Welt beſaß jedoch durchaus nicht jene Harmonie, Schönheit und 
Bolltommenheit, welde ihr don vielen fälſchlich zugeihrieben worden ift?; 
fie hatte vielmehr die wichtigſten Grundlagen der gottgewollten Ordnung 
verfehrt und umgeftürzt, den Menſchen an Stelle Gottes, das Geihöpf an 
Stelle des Schöpfers gejebt, die höchſten Ziele der Menjchheit aus den 


1 Kor 1, 21—24. 

® Zu weit geht in der Wertihäßung bes Altertums au E Norden, Die 
antife Kunftprofa II, Leipzig 1898, 452—460. Die Kriftlihe Weltanfhauung hat 
weber bie individuelle Freiheit noch die „Heiterkeit“ noch das nationale Element in 
der Siteratur no die „Formſchönheit“ aufgehoben, jondern nur heilfam beſchränkt. 


Grundlagen und Anfänge der althriftlichen griechiſchen Literatur. 5 


Augen verloren und fih völlig unfähig erwiefen, den Menjchengeift aus dem 
ungeheuerlihen Wirrwarr des Polytheismus, der Gottlofigkeit und Sitten: 
fofigkeit auf den richtigen Pfad zurüdzulenfen. Unter dem Einfluß der 
Sünde war gerade der verlodende Kultus des Schönen zu einem Pfuhl des 
Verderbens, die jheinbar kraftvollſte Rechtsentwidlung zu einem Duell der 
Iyrannei und graufamfter Ausſaugung für die Mehrheit der Menfchen ges 
worden. Aus der falſchen Überfultur war eine neue Barbarei emporgewachien, 
gegen welche alle Herrjcher und Staatsmänner, Philoſophen und Dichter 
ih ohnmächtig erwiejen. Ein Brucd mit der vorhandenen Zivilifation war 
unvermeidlich geworden; aber derjelbe jollte nicht gewaltjam vor ſich gehen. 
Demut, Armut, Leiden follten der Lehre vom Kreuz die Welt erobern und 
jene Erneuerung der Völker herbeiführen, auf welcher alle jpätere Zivili- 
jation beruht. 

Wie der MWelterlöfer feinen Namen in die Zenjusliften des erften 
römiſchen Kaiſers eintragen ließ, jo hat er auch mit Bezug auf feine 
Nachfolger die Weifung gegeben: „Gebet dem Gäjar, was des Cäſars 
it!" Jeder Gedanfe an eine politiihe Ummälzung lag ihm ferne. Seine 
Lehre trug er offen vor aller Welt vor. Die Stimmführer feines Volkes, 
Priefter und Pharifäer, wie römische Genturionen und Beamte konnten ihn 
bören. Er trug dafür Sorge, dab jelbft der Hohepriefter, der römiſche 
Profurator,, die höchſten Autoritäten Paläftinas von ihm und feinem 
Wirken Kenntnis nehmen konnten und mußten; aud die Kunde feiner 
Auferftehung ift noch am erften Oftertag zu den Ohren derſelben gelangt. 
Schon der Kaiferhof Neros wurde mit der neuen Religion befannt; Ylavius 
Joſephus machte die Zeitgenoffen Veipafians auf Chriſtus und deffen Apoftel 
Jakobus aufmerlfam!; die Kaijerfamilie der Flavier zählte Belenner des 
CHriftentums in ihrem eigenen Scope. An Bublizität hat es aljo dem 
Auftreten des Erlöſers und feiner Schüler nicht gefehlt, und es ift völlig 
irreführend, wenn man ihn heute als bloßen Wanderprediger und Tröſter 
der Enterbten, Berftoßenen, Unglüdlihen und Siechen, feine Lehre als bloße 
„Stlavenmoral* darftellt. 

Hat er aud die meiften feiner Apoftel und Jünger aus dem eigent- 
lien Volke, den niedrigeren Ständen erforen, jo hat er doch auch Hochgebilvete 
Männer, wie Nikodemus und Joſeph von Nrimathäa, unter feinen früheſten 
Schülern gezählt. Paulus und Lukas beſaßen die helleniſche Bildung ihrer 
Zeit in hohem Grade. Schon in der Npoftelzeit drang das Chriftentum 
nit bloß in die niederen Volksſchichten, jondern aud) in die höchſten Lebens: 
freije ein. Es iſt einerjeit3 völlige Bürgſchaft vorhanden, daß die Lehre 


IK. Aneller, Flavius Joſephus über Jeſus Chriftus (Stimmen aus 
Maria-Qaah LIII [1897] 1—19 161—174). 


6 Erftes Kapitel. 


Chriſti nicht aus zeitgenöffiihen Anregungen hervorgewachſen, ſondern wirklich 
göttlichen Urſprungs ift; anderfeits aber ift durch die Überlieferung ebenfogut 
bezeugt, daß die erften Chriftengemeinden durchaus nicht ein bon der zeit: 
genöffiihen Bildung völlig abgetrenntes a en Kon: 
ventikelweſen darftellten, 

Der polytheiftiiche Staatsgottesdienft griff allerdings jo tief in alle 
Kreife des öffentlichen Lebens ein, daß die Chriften genötigt waren, ſich fait 
böllig von dieſem zurüdzuziehen, um nicht in der einen oder andern Form 
die Schuld des Göbendienftes auf fih zu laden. Noch ſchlimmer ftand es 
mit den öffentlihen Schaufpielen und Bergnügungen; fie wurden vielfach 
durch die Schamlofefte Unzucht oder unmenſchliche Graufamteit entehrt. Das 
Naturgejeß, das am Chriftentum endlich wieder einen wirkfjamen Anwalt 
gefunden hatte, zwang feine Belenner jhon, all jenen Schauftellungen fern 
zu bleiben. Bon den philofophiihen Schulen untergruben die meiften und 
verbreitetften, wie jene des Epifur, alle und jede Religion; die Chriften 
mußten fi) notwendig davon abgeftoßen . fühlen, während ihnen die Lehre 
der Stoa oder der Akademie mit ihren zum Zeil idvealeren Strebungen nichts 
bieten konnte, was die Lehre Chrifti nicht viel einfacher, Harer und unendlich 
vollfommener darbot. So wurden die Chriften notwendig mehr und mehr 
in die Stille des Privatlebens zurüdgedrängt. Das Geheimnis, das ihre 
Sonderftellung umgab, veranlaßte die Heiden, ihnen ähnlihe Greuel anzu— 
dichten, wie fie, wenn auch nicht in fo ungeheuerlicher Weiſe, bei den Anz 
hängern verjchiedener orientaliiher Geheimfulte wirklich vorkamen. Der 
Widerftand gegen den hergebradhten Götzendienſt wie gegen die in Kunſt, 
Literatur und Vollsleben herrſchende Umfittlichfeit wurde als feindjeliger 
Vorwurf empfunden. Als Feinde des Menſchengeſchlechts, der Götter und 
Gäfaren wurden die Chriften verfolgt und durch die Verfolgung noch mehr 
in die Verborgenheit zurüdgedrängt. Die Verfolgung führte ihnen jedoch 
auch ftet3 neuen Zuwachs zu, erhielt fie in beftändiger Fühlung mit dem 
zeitgenöffijchen Leben, und die Lehre Chriſti drang in immer meitere Kreiſe 
der heidniſchen Gejellichaft ein. 

Beſaßen die Chriften auch feine eigenen Tempel und glänzende Ver— 
jammlungsftätten, jo gewährten doch die Feier der heiligen Myſterien, 
gemeinjame Gebete und Gejänge, die Ausjpendung der Saframente, die 
Predigt der Kriftlihen Lehre, Werke der Liebe und Barmherzigkeit und 
das Martyrium dem Leben der erften Chriftengemeinden einen ehrwürdigen, 
feierlichen, firhliden Charakter; duch die Wanderungen der Glaubensboten 
und den regen brieflichen Verkehr gewann es das Gepräge einer alle Völker 
umfjpannenden Univerjalität; durch den Martertod des Apoftelfürften ward 
Nom der bleibende Sit der hierarchiſchen Einheit, melde Abendland und 
Morgenland verband. 


Grundlagen und Anfänge der altriftlichen griechiichen Literatur. 7 


Während die antite Poeſie, übertäubt vom raufchenden Gelärm der 
Zirkusfpiele, kaum mehr einen bedeutenden Vertreter fand, der antike Mythos 
in froftigen Schulfünfteleien erftarrte, ſchlug das lebendige Reis der chriſt— 
ihen Wahrheit mächtige und tiefe Wurzeln in dem heidniſchen Rom, breitete 
feine Zweige über alle Provinzen aus und legte den Grund zu jener groß: 
artigen Ziviliſation, durch welche die griehiiche wie die lateinifhe Literatur 
zu einer neuen fruchtreihen Entwidiung gelangen follte. An die Stelle des 
Mythos mit feinen vielfah findiihen und unwürdigen Fabeleien trat als 
Prinzip einer neuen Poefte die göttlich geoffenbarte Wahrheit jelbft, verkörpert 
in der gottmenjhlihen Perfon des Erlöjers, des Kindes von Bethlehem, des 
BVerflärten auf Tabor, des Siegerd auf Golgatha, des Gefreuzigten und des 
ewigen Weltenrichterd, dejlen Geftalt hoch Hinausragt über alle menſchliche 
Geſchichte in die Tage der Ewigfeit, des höchften Prieſters und Propheten, 
des erhabenfien Gefeßgebers und bes liebenswürdigſten Menſchenfreundes, 
des Gründers und Königs jenes erhabenen Weltreiches, das Erde und Himmel 
umfpannt und die Menfhheit durch das Leiden und Kreuz diefeg Erden— 
dajeins zur ewigen Glüdjeligkeit emporführt. 

Ehriftus ift der Schlußftein der vorausgegangenen Jahrtaufende. In 
ihm erfüllen fih die Prophezeiungen, durch melde Gott feit dem all im 
PVaradieje da3 gejuntene Menfchengejchleht gehoben und getröftet; in ihm 
erfüllen fi alle Verheißungen und Vorbilder, durch welche Gott im Alten 
Bunde den Plan der künftigen Erlöfung immer deutlicher vorgezeichnet; in 
ihm erfült fih das Sehnen der Völker nad Befreiung bon dem immer 
drüdender laftenden Jod der Sünde und des Heidentums, das dunkle 
Ringen und Streben der großen Denker nad Erfenntnis des ewig Wahren, 
der Traum der Dichter vom Wiederfehren des goldenen Zeitalter, der Auf: 
ihrei der von ftolzen Gewaltherren niedergetretenen und gequälten Maffen, 
das Gebet der Frommen, die von Geſchlecht zu Geſchlecht jehnfüchtig nad) 
dem Meſſias riefen. Seinem Helden der antiten Welt ift Jahrhunderte, 
ZJahrtaufende zuvor eine ſolche Huldigung dargebraht worden. Mit ihm 
beginnt eine neue Zeit, die Fülle der Zeiten. 

Durch die Menſchwerdung verband ſich die göttlihe Natur. in der 
Perjon des ewigen Wortes wahrhaft und für immer mit der menfchlichen, 
trat faßbar, fihtbar, menſchlich in die menjchlihe Gedichte ein, übernahm 
die Sühnung aller menſchlichen Sünde und Bergehungen, die Belehrung 
und Führung des Menjchengejchledhts, die Erziefung und Vorbereitung des— 
jelben zur ewigen Vereinigung mit Gott. Das Schönfte und Tieffte, was 
der alte Mythos aljo ahnend und jehnend über die Verbindung von Gott 
und Menſch gedichtet hatte, ward zu voller Wahrheit und Wirklichkeit, aber 
in viel erhabenerer Weife, als die polytheiftifchen Religionen es erträumten. 
Alles Unwürdige, Häßliche, Schmähliche fiel Hier weg. Die Gottheit ftieg 


8 Erſtes Kapitel. 


zu den Menſchen auf die Erde nieder, nicht um in Menſchengeſtalt ſchranken— 
fofem Sinnengenufje zu buldigen, alle Berirrungen menſchlicher Leidenſchaft 
und Sünde jelbjt zu begehen, die Gottheit bis zum Tier und unter das Tier 
zu erniedrigen, und den Menjchen dann nad allen Richtungen feiner Lafter- 
Haftigfeit zu vergöttern und an die Stelle der Gottheit zu jeßen. Gott ftieg 
vielmehr zu den Menjchen herab, um fie, im Lichte feiner unendlichen Reinheit 
und Zauterkeit, über die gräßliche Entweihung und Entwürdigung aufzuklären, 
in welche das Menjchengefhleht durch die Sünde gefunfen war, als un— 
Ihuldiges Opferlamm ihre Schuld auf fid) zu nehmen und zu büßen und 
ihnen im Rampfe gegen das Böfe, in Leiden und Kreuz den Weg zu zeigen, 
auf weldem fie die Gelüfte der Tierheit wie den jelbfivergätternden Stolz ihres 
Geiftes überwinden könnten, um des göttlichen Lebens teilhaftig zu werden. 

Zerftörte au das Dogma von der Erbjünde und von der Erlöfung 
unnachſichtlich die Jdole, in welchen die heidnifche Vielgötterei die Lafter und 
Zorheiten der Menſchen mit dem Schimmer der Göttlichkeit umkleidet hatte, 
bernichtete es aud den Heibnifchen Traum, volle Schönheit und Harmonie, 
volles Genügen, Seligfeit und Götterwonne im irdischen Dafein zu genießen, 
jo Schloß die große Lehre von der Menſchwerdung dafür eine neue, un: 
erihöpfliche Welt wahrer, höchſter Schönheit auf. Nichts wahrhaft Schönes 
ward ihr dadurch entfremdet, alle menſchlichen Beziehungen und BVerhältniffe 
vielmehr auf eine höhere Stufe, in die Anteilnahme am göttlichen Leben, 
emporgerüdt, die natürlichen Jdeale zu übernatürlihen erhoben und verflärt. 
Der Einzelne wurde zum Kind Gottes geadelt, die gefamte Menjchheit durch 
das große Gebot der Bruderliebe vereint, die Ehe zu ihrer urfprünglichen 
Einheit und Reinheit zurüdgeführt, Jungfräufichkeit und opfermutige Welt: 
entjagung nad Chriſti Beifpiel als jhirmende Engel dem Anfturm der 
niedrigen Leidenjchaften gegenübergeftellt, himmliſche Barmherzigkeit zum Aus: 
glei des irdiſchen Güterbefibes berufen, der Heroiämus des Kreuzes zum 
Ziel der edelften Herzen gemacht. Bon unberedhenbarer Tragweite war es 
namentlih, daß das Chriftentum das Problem des Leidens, mweldes den 
größten Denkern des Altertums ein umlösbares Rätſel geblieben war, in 
der wunderbariten Weiſe löfte, Sünde, Tod und Hölle im Kreuz des Erlöfers 
überwand und aus den Diffonanzen der phyfiichen und moraliſchen Ordnung 
die dolle Harmonie des göttlichen Weltplans geftaltete. 

Ihren erften und zugleih unvergänglid ſchönſten Ausdruck Hat die 
chriſtliche Lehre, unter göttlicher Eingebung und Obhut jelbft, in den Heiligen 
Schriften des Neuen Bundes gefunden!, Eine genaue Angabe der 
Abfaffungszeit it von feiner derjelben vorhanden; doch geben innere und 


ı Eine furze Charakteriftit berjelben wurde ſchon früher gegeben. Vgl. Bb I* 
143— 158, 





Grundlagen und Anfänge der althrifilihen griechiſchen Literatur, 9 


äußere Anhaltspunkte hinreichende Sicherheit, dab die ganze Sammlung in 
der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts vollendet ward. 

Mutmaßlich jhon zwiihen den Jahren 40—50 ſchrieb Matthäus 
fein Hebräifches Evangelium für die Judenchriſten in Paläſtina; zwiſchen 
52 und 62 verfaßte Markus, unter Leitung des hl. Petrus, jein 
Evangelium in Rom. In die Jahre 59—63 dürfte etwa das Evangelium 
fallen, das der hl. Lukas in Verbindung mit den Hl. Paulus fchrieb, 
ob zu Cäſarea oder Rom, ift ungewiß. An dasjelbe reiht fih als Fort— 
jegung die Apoftelgejhichte, welche mit der Gefangenschaft des Hi. Paulus 
zu Rom (62—64) abihliegtt. Bon den Briefen des hl. Paulus 
ftammen die zwei erjien „an die Theffalonicenjer” jowie derjenige an die 
Galater aus dem Jahre 53 oder 54, die zwei Briefe an die Korinther 
aus dem Jahre 58, der Brief an die Römer aus dem Jahre 59, die 
Briefe an die Philipper, Koloffer, Ephefier, Hebräer und an Philemon aus 
der Zeit der römischen Gefangenschaft, die zwei Briefe an Timotheus und 
derjenige an Titus aus den lebten Lebensjahren des Apoftels (65—67)2. 
Um die gleihe Zeit (64 und 67) fhrieb der Hi. Petrus feine zwei 
Briefe von Rom aus3. Der bl. Johannes dagegen fcheint, nad den 
Zeugniflen der Väter und älteften Kirchenſchriftſteller, ſen Evangelium, 
jeine drei Briefe und jeine Apokalypſe erft im letzten Jahrzehnt 
des 1. Jahrhunderts niedergejchrieben zu Haben, unter der Regierung des 
ſtaiſers Domitiant oder des Kaiſers Nerva. 

Sind auch alle diefe Daten nur als annähernd zu betrachten, jo war 
doh etwa ein Jahrhundert nad der augufteiichen Blütezeit der römischen 
Literatur, fünf Jahrhunderte nad der Hochblüte der helleniſchen Literatur 
unter Perilles bereits das Fundament jener neuen Bildung gelegt, melde, 
die alten nationalen Grenzen des Orients und Occidents überjchreitend, Die 
gefamte Welt zu einem geiftigen Reich verbinden und auf deren breiter 
Grundlage das Griechiſche und das Lateinische als liturgiſch-heilige Sprachen 
jelbft einen neuen Literaturfrühling erleben und dem bunten Flor der abend» 
ländijchen Literaturen als Ausgangspunkt dienen jollten®. Nocd ehe Plutarch 


! R. Cornely, Introductio spec. in libr. Nov. Test.?, Parisiis 1897, 79 
117 168 f. 

» Ebd. 376 |. s Ebd. 634. * Ebd. 259 f 664 698 f. 

5 Aus ber unabfehbaren Literatur find zunächſt hervorzuheben die wichtigften 
Sammlungen ber Werke ber Kirchenväter und Kirchenfchriftftellee von: Marguerin 
de la Bigne, Bibliotheca SS. Patrum, 9 Bde 2%, Paris. 1575—1579; erweitert 
al$ Maxima Bibliotheca veterum Patrum etc., 27 Bde 2°, Lugd. 1677. — 
Andr. Gallandi, Biblioth. veter. PP. etce., 14 ®be 2%, Venetiis 17651782, 
— Migne, Patrologiae cursus completus. Series lat. I et II, 221 Bbe 4°, 
Paris. 1844— 1864; Series graec., 162 Bde 4°, ebd. 1857— 1866. — Corpus scrip- 
torum eccl. latinorum (herausgeg. von ber faiferlihen Akademie der Wiſſenſchaften 


10 Erftes Kapitel, 


in feinen Biographien den Heldenruhm von Rom und Hellas zufammenfaßte, 
zeichneten die Evangeliften jenes wunderbare Lebensbild, das für alle folgenden 
Jahrhunderte die Menjchheit erleuchtete; noch ehe Petronius, Martial und 
Juvenal die Schande des faiferlihen Rom cyniſch zu Markte trugen, konnte 
Paulus bezeugen, daß der Glaube chriſtlich gewordener Römer bereits welt: 
fundig geworden feil, und während verbitterte Stoifer fih an den Greuel- 
tragödien des Senefa unterhielten, ermutigten fi in demſelben Rom drift: 
lihe Heldenjeelen an der Paſſionsgeſchichte des Erlöjers, um frohen Muts 
dem ſchrecklichſten Tode entgegenzugehen. 

Neben den heiligen Schriften, deren göttlihen Urjprung das kirchliche 
Lehramt auf Grund lebendiger Überlieferung verbürgte und welde neben 
diejer Überlieferung die unverfiegbare Quelle des Glaubens blieben, entftanden 
ihon vom 1. Jahrhundert an andere, melde teils die kirchliche Autorität 





in Wien), Vindobonae 1866 ff. — Die griechiſchen chriſtlichen Schriftftelfer ber erſten 
drei Jahrhunderte, herausgeg. von der Kirchenväter-Kommiſſion ber fünigl. preuß. 
Akademie der Wiſſenſchaften. I. Hippolytus GBGonwetſch-Achelis), IL III. VI XL 
Origenes (Koöetſchau, Kloftermann, Preuſchen), Leipzig 1897—1903, VII. IX. X, 
Eujebius (Heitel, Shwark und Mommſen), 1901—1903. — Monumenta Ger- 
maniae historica. Auctores antiquissimi, Berol. 1877 ff. — Dann die patrologifchen 
Werte von: R. Ceillier O. 8. B., Histoire generale des auteurs sacrés et ec- 
elösiastiques, 23 Bbe, Paris 1729—1763 (Neuaufl. in 16 Bon, Paris 1858—1869). 
— 3.4. Möhler, Patrologie; herausgeg. von F. XR. Reithmahyr, Bd I, Regens- 
burg 1840. — I. Fessler, Institutiones Patrologiae, 2 ®be, Oeniponte 1850 
bis 1851; denuo edid. B. Jungmann 1890—1892. — %. Alzog, Grunbriß ber 
Patrologie, Freiburg i. B. 1866; 4. Aufl. ebd. 1888. — J. Nirſchl, Lehrbuch ber 
Patrologie und Patriftit, 3 Bbe, Mainz 1881—1885. — D. Barbenhewer, 
Patrologie, Freiburg i. 8.1894; 2. Aufl. 1901; Derf., Geſchichte der altfirhlichen 
gileratur, Freiburg i. ®., I 1902, II 1908. — P, Batiffol, Anciennes litteratures 
chrötiennes. La litt. Greeque, Paris 1897. — U. Harnad, Geſchichte der alt— 
chriſtlichen Literatur, 1. u. 2. ZI, Leipzig 1893 1897. — G. Krüger, Geſchichte 
der altchriftlihen Literatur in den erften drei Jahrhunderten, Freiburg i. B. 1897. 
— A. Ehrhard, Die althriftliche Literatur und ihre Erforfung jeit 1880, rei« 
burg i. ®. 1894. — W. Smith and H. Wace, A Dictionary of Christian Bio- 
graphy, Literature, Sects and Doctrines, 4 ®be, London 1877—1887. — Bon 
andern Werken: 3. Chr. F. Bähr, Geſchichte der römischen Literatur, Karlsruhe 
1836—1840 (4. Bd, 1. Abteilung: Die riftlihen Dichter und Geſchichtſchreiber 
Roms, 2. Aufl. 1872). — W. ©. Teuffel, Gejhicdhte der römifchen Literatur, 
Leipzig 1870; 5. Aufl. von Shwabe, 18%. — M. Schanz, Geſchichte der rö- 
miſchen Literatur III, Münden 1896, 204—410; IV, 1 (1905). — Abd, Ebert, 
Allgemeine Geſchichte ber Literatur des Dtittelalters im Abendlande, 3 Bde, Beipzig 
1874; 2. Aufl. 1889. — W. Chrift, Geſchichte der griechiſchen Literatur?, München 
1898, 879-926. — 6. Gröber, Ülberfiht über die lateiniſche Literatur von der 
Mitte des 6. Jahrhunderts bis 1350 (Grundriß der Romaniſchen Philologie II, 
Straßburg 1898, 97—427). 
ı Rom 1, 8. 


Grundlagen und Anfänge der altriftlichen griechiſchen Literatur. 11 


teils einzelne Lehrer zu Urhebern hatten, fi mit der Regelung des kirch— 
lihen Lebens, der Liturgie und Disziplin, des Unterricht? der Katechumenen 
und Gläubigen befakten und als offiziell kirchliche Schriften eines nicht ges 
ringen Anjehens genofjen, die jog. „apoftolijhen Väter“. Dahin 
gehören die fog. „Didache“ oder Zmwölf-Apoftel-Lehre, der jog. „Barna: 
basbrief”, der Brief des Hl. Klemens von Rom, eines der erſten 
Päpſte, an die Korinther, die ergreifenden Briefe des heiligen Märtyrer: 
biſchosfs Ignatius don Antiohien, der unter Trajan im Amphitheater 
zu Rom den wilden Tieren vorgeworfen wurde, und des hl. Bolytarp, 
Biihof3 von Smyma, eines Schüler des hi. Johannes, der unter Anz 
toninus Pius im Jahre 155 zu Smyrna den Feuertod erlitt, die nur in 
Fragmenten erhaltenen Aufzeihnungen des Papias, Biſchofs von Hiera- 
polis, der noch den hl. Johannes kannte und mit Polyfarp in Verbindung 
ftand, der „Brief an Diognet” und der jog. „Hirt des Hermas“, 
eine myſtiſche Erbauungsjchrift, welche fünf Viſionen, zwölf Gebote und 
zehn Gleihniffe umfaßt. Iſt aud feine diefer Schriften auf künftlerifche 
Zwede gerichtet, jo bringen doch 3. B. die Briefe des Hl. Ignatius die 
Gefinnung der Märtyrer zu rührend ſchönem Ausdrud, die Vifionen und 
Gleihniffe des Hermas bieten allegoriſche Momente, welche für die fpätere 
Poefie und Kunft bedeutung&voll geworden find, Klemens von Rom fchlägt 
in feinem Schreiben an die Korinther (befonder8 in den erft 1875 ver— 
öffentlichten Kapiteln) jhon den Ton an, den wir in den jpäteren Papſt— 
briefen zu finden gewohnt find?, und die übrigen atmen einen Geift 
der Andacht, der Frömmigkeit und Heiligkeit, der fie den Schriften der 
Apoftel naherüdt. 


„Die apoftolifhen Väter“, fagt be Preſſenſe, „find feine großen Schriftfteller, 
aber große Charaftere.“ „Ahr Stil”, fügt Lightfoot bei, „ift nadjläffig; es fehlt an 
Gruppierung bes Stoffes und an Syftemalifierung der Lehre. Sie ftellen einerjeits 
einen ſcharfen Gegenfaß zu ber Tiefe und zu der Maren Auffaffung dar, mit welder 


ı F,X. Funk, Patres apostolici?, 2 Bde, Tübingae 1901. — Die übrige 
Spezialliteratur bei Barbenhewer, Patrologie? 15 ff; Geld. d. altkirchl. Lit. I 
66 fi. — A. Harnack aa. 8.139 ff. 

2 Zu einer jolden Stelle bemertt Harnad (Clementis Romani ad Corinthios 
quae dieuntur epistulae, Lips. 1876, c. 63): Ecce quanta auctoritate hie Roma 
locuta sit... . Haec vox gravis neque opinata; ecclesia Romana nequaquam 
a Corinthiis advocata iurisdietionem quandam sibi arrogat. — Der anglikaniſche 
Biſchof Dr Lightfoot aber jagt: It is the more instructive to observe the 
urgent and almost imperious tone which the Romans adopt in addressing their 
Corinthian brethren during the closing years of the first century... . It may 
perhaps seem strange to describe this noble remonstrance as the first step towards 
papal domination, and yet undoubtedly this is the case (The Apostolic Fathers, 
Part I. S. Clement of Rome I, London 1890, 69 70). 


12 Erites Kapitel. 


bie verſchiedenen apoftoliihen Schriftfteller ung das Evangelium nad) verjchiedenen 
Seiten vorlegen; anderjeits entbehren fie bes wiſſenſchaftlichen Geiftes, welcher bie 
Väter des 4. und 5. Jahrhunderts auszeichnet und welcher fie befähigte, die Glaubens: 
lehre als ein Bollwerk gegen willfürliche Spekulation zu formulieren... . Es herrſcht 
in ihnen aber ein weitherziges fittliches Mitgefühl, ein ernftes Bewußtfein perfönlicher 
Berantwortlichkeit, ein Eifer chriſtlicher Andacht, weldhe von dem Einfluß bes Evan 
geliums auf jelbftverftändblich jehr verſchiedene Charaktere das edelfte Zeugnis geben 
und welde ihren Schriften immer eine Hochachtung fihern werben, die mit ihren 
literarifchen Verdienſten durhaus nicht im Verhältnis fteht. Die Liebenswürbigteit 
und Seiterfeit des Klemens, deſſen Geift ganz verloren ift in die Betrachtung ber 
Harmonie von Natur und Gnade; ber fyeuereifer des Ignatius, in welchem bas über- 
wöältigende Verlangen nad) dem Martertod jede menfchliche Leidenfchaft erſtickt hat; 
die unerfchütterte Feſtigkeit des Polykarp, deſſen langes Beben ganz darin aufgeht, den 
ben Heiligen einmal mitgeteilten Glauben aufrecht zu halten, — bas find Lektionen, 
welche nie veralten, nie ihren Wert verlieren können,” ! 


Im 2, Jahrhundert zählte das Chriftentum jchon eine Menge Anhänger, 
welche, den höheren Lebenskreiſen angehörig, mit der ganzen zeitgenöffiichen 
höheren Bildung ausgerüftet waren, Juriften, Rhetoren, Philofophen, Es 
bot fi ihnen eine doppelte Tätigkeit dar. Die Verfolgung, melde das 
Heidentum noch immer gegen die Ehriften führte, rief fie auf den Kampf: 
plag, um die Unschuld und das gute Recht ihrer Glaubensbrüder zu ver: 
teidigen; die Härefien, melde in ftel$ neuen Formen den inneren Beftand 
deö Glaubens bedrohten, machten es nötig, die faljchen Lehren, Einwendungen 
und Vorwürfe der Jrrgläubigen abzuwehren. An der Spike der Apo- 
logeten? ftehen die griechiſchen Philojophen Ariftides und Quadratus, 





' ‚The apostolic fathers‘, it has been justly said, ‚are not great writers, 
but great characters‘ (De Pressense6, Trois premiers siöcles II 384). Their 
style is loose; there is a want of arrangement in their topics and an absence 
of system in their teaching. On the one hand they present a marked contrast to 
the depth and clearness of conception with which the several Apostolic writers 
place before us different aspects of the Gospel. On the other they lack the 
scientific spirit which distinguished the fathers of the 4% and 5% centuries and 
enabled them to formulate the doctrine of the faith as a bulwark against lawless 
speculation.... There is a breadth of moral sympathy, an earnest sense of 
personal responsability, a fervour of Christian devotion, which are the noblest 
testimony to the influence of the Gospel on characters obviously very diverse 
and will always command for their writings a respect wholly disproportionate 
to their literary merits. 'The gentleness .and serenity of Clement, whose whole 
spirit is absorbed in contemplating the harmonies of nature and grace; the fiery 
zesl of Ignatius, in whom the over-mastering desire of martyrdom has crushed 
all human passion; the unbroken constancy of Polycarp, whose protracted life 
is spent in maintaining the faith once delivered to the saints — these are lessons 
which can never become antiquated or lose their value (Lightfoot, The 
Apostolic Fathers, Part, I. 8. Clement of Rome I, London 189%, 7). 

2 Gefamtausgaben von Prudentius Maranus O.S.B. (Paris 1742, 
Venet. 1747) und 3. €. Th. v. Otto (Corpus apologetarum christianorum saec. 2, 


Grundlagen und Anfänge der althriftlichen griechiſchen Literatur. 13 


welche unter der Regierung Hadrians (117—138) zu Athen die erften Schub: 
Ihriften zu Gunften des Chriftentums veröffentlichten. Ihnen gefellte ſich 
unter Antoninus Pius und Marc Aurel Juftinus, der Sohn des Pris— 
cus, ein befehrter Heide aus Paläftina, der, von mächtigem Wiſſensdrang 
getrieben, weder bei den Stoifern noch bei den Peripatetitern noch bei den 
Pothagoreern Befriedigung fand, endlih durd die Erjheinung eines ehr- 
würdigen Greifes für das Chriftentum gewonnen wurde und nunmehr ala 
hriftliher PHilofoph in aller Welt umherwanderte, um das Ehriftentum ala 
„die einzig zuverläffige und brauchbare Philofophie” zu verbreiten, -jeinen 
Hauptfiß aber in Rom aufſchlug und hier, auf Anklage des Cynikers Gres- 
cens (zwifhen 163—167) gefangen genommen, den Martertod durd das 
Schwert erlitt. Seine zwei Apologien find an die Kaiſer ſelbſt gerichtet 
und verbinden mit der Verteidigung der chriftlichen Lehre eine ſcharfe Kritik 
des Heidentums und feiner Göttermythen; in dem „Dialog mit dem 
Juden Trypho“ mies er ebenjo jchlagend die Einwürfe der Juden gegen 
das Chriſtentum zurüd. 


Juſtins Sprache ift einfadh, mitunter faft einfach naiv, aber getragen von dem 
Bewußtſein, im ſichern Beſitz der Wahrheit zu fein, und verffärt von der Überzeugung, 
daß ber Kraft bes Evangeliums niemand wiberftehen kann, ber es auf ſich wirfen 
läßt und bie Titel feiner Glaubwürbdigfeit unterfudht. Seine erſte Apologie beſchließt 
er ohne allen rhetorifhen Prunt mit den einfahen Worten: „Und wenn nun Dies 
euch der Wahrheit und Vernunft gemäß zu fein ſcheint, jo achtet es hoch; ſcheinen 
es euch Poflen, fo veradhtet es als Poſſen, aber verhänget doch nicht, glei als wären 
es Feinde, über ſchuldloſe Menſchen den Tod. Wir jagen euch aber, daß ihr Gottes 
Gericht nit entfliehen werdet, wenn ihr in Ungerechtigkeit verharret; wir aber werben 
ausrufen: Was Gottes Wille ift, gefchehe.” ! Die ganze Furdtlofigfeit der Katafomben- 
zeit und das unüberwindliche Vertrauen auf die fiegende Kraft bes Chriftentums jpricht 
fih in den Worten aus: „Und daß niemand uns, die wir an Jeſus auf dem ganzen 
Erbfreis glauben, in Schreden verfeßen und zu feigen Menſchenknechten erniedrigen 
fönne, liegt offen zu Tage. Denn obwohl wir mit dem Schwert enthauptet, ans 
Kreuz geihlagen, wilden Tieren vorgeworfen, den Banden, dem Feuer und allen 
andern Dlartern preisgegeben werben, jo laffen wir do, wie es allbefannt ift, vom 
Belenntnis niht ab. Im Gegenteil, je mehr und mehr berartiges über und fommt, 
um jo mehr andere werben gläubig und gottesfürdhtig im Namen Jeſu. Wie wenn 
vom Weinftod einer bie überflüffigen Ranten wegjchneibet, dies zur Folge hat, dab 
andere herrlich blühende und fruchttragende Reben hervorſproſſen, jo geht es auch 
mit und. Denn ber von Gott und unferem Erlöfer gepflanzte Weinftod ift fein 
Bolt." ? 


9 Bde, Ienae 1847—1872). — Bl. A. Harnad, Die Überlieferung der griechifchen 
Apologeten bed 2. Jahrhunderts in der alten Kirche ufw. (Terte und Unter— 
fugungen I 1—2), Leipzig 1882. — G. Schmitt, Die Apologie der erften drei 
Jahrhunderte, Mainz 1890. 

ı IT Apol. c. 68 (Migne, Patr. gr. VI 432). 

® Dialog. $ 110 (Migne a. a. ©. VI 7350e). 


14 Erites Kapitel. 


Mährend Juftinus die Dichter und Denker von Hellas mit fichtlicher 
Hochachtung behandelte, ſchenkte Tatian, fein Schüler, in feiner Apologie 
an die Griechen (zoöc "Eiinvag) den Lichtfeiten und Verdienſten der grie— 
chiſchen Bildung feine Berückſichtigung, jchrieb diejelben vielmehr barbarijchen 
Einflüffen zu und ftellte dann die innere Hohlheit und fittliche Verderbtheit 
des zeitgenöffiichen Griechentums in ſchonungsloſeſter Schrofffeit an ben 
Pranger, wie fie es tatſächlich auch volllommen verdiente. Im übrigen ift 
jeine Schutzſchrift jehr gewandt und inhaltsreich, voll Kraft und Wärme. Bon 
großer Bedeutjamfeit wurde auch feine Evangelienharmonie (Diateffaron), 
welde der hl. Ephräm fommentierte und welde in ſyriſcher, armeniſcher 
und arabijcher Überſetzung, nicht aber im Urtert, erhalten iſt. Leider ift er 
ſelbſt ſpäter ala Gnoftiter von der Kirche abgefallen. Wieder milder gegen 
die platoniſche Philofophie ſpricht ſich die ſprachlich jehr vollendete Apologie 
des Athenagoras aus, an die Kaiſer Marc Aurel und Commodus ges 
richtet, von großer Bertrautheit mit der griechiſchen Poefie zeugend und jehr 
maß» und würdevoll gehalten. Eine mehr jubjeltive Färbung trägt die 
Apologie des Theophilus von Antiohien, wie fie denn auch in drei 
Büchern nit an die Obrigkeit, jondern an einen Privatmann — Auto— 
plus — gerichtet ift. Gewandt und witzig, wenn aud ohne methodijche 
Tiefe, dedte Hermias in feiner „Verfpottung der heidniſchen Philoſophen“ 
(diunavpnög av Ew prloaupwv) die zahllofen Widerfprüche der Heidnifchen 
Philofophie auf, um die Geifter auf die harmoniſche Weltanfhauung des 
Chriſtentums Hinzumeifen!, Sein Spott verſetzt uns mitunter lebendig in 
die neueſte Gegenwart: 

„Bald bin ih unſterblich und frohlode, bald werde ich fterblih und jammere; 
dann werde ich in Atome aufgelöft, werde Wafler, werbe Luft, werde Feuer; gleich 


darauf bin ich feine Luft und fein feuer mehr, man macht mid zum Tiere, man 
macht mich zum Fiſche; ich habe alfo zur Abwechſlung die Delphine zu Brüdern.” ® 


So ward aus den Reihen der Neubefehrten heraus das Heidentum und 
das Judentum in den mannigfahften Formen angegriffen, das Chriſtentum 
alljeitig verteidigt, begründet und befannt gemadt. Won vielen diefer tapfern 
Verteidiger, wie Arifto (der hauptjählich gegen die Juden jchrieb), Mil: 
tiades, Melito, Apollinarius, ift aber faum etwas erhalten. Ähn— 
lich ift es mit zahlveihen Schriften, in welchen die Irrlehrer jener erften 
Zeit, die Montaniften, Marcion und die übrigen Gnoftifer, ihre jchlagfertige 
Widerlegung fanden. Erhalten find nur die bedeutjame Streitfchrift des 


ı Die Zeit jeines Lebens ift ungewiß, früheftens jchrieb er gegen Ende bes 
4. Jahrhunderts, 

2 Ataaypnög tüv Ew gprlossgwv c. 2. Überfegt von J. Seit! (Viblioth. der 
Kirhenväter, Kempten 1878). 


Grundlagen und Anfänge der altchriftlihen griechiſchen Literatur. 15 


heiligen Biſchosfs Jrenäus von yon „Entlarvung und Widerlegung der 
tathhlich fo genannten Gnofis“ und die viel umftrittenen „Philofophumena“, 
welche mwahrjheinlih den hl. Hippolytus zum Berfaffer haben. Sie 
genügen indes, um uns ein Bild der regen Geiftestätigfeit zu geben, melde 
das Chriſtentum im Kampfe mit der Irrlehre am Ende des 2. Jahr: 
hunderts und am Beginne des folgenden entfaltete. Denn Jrenäus lebte und 
ſchrieb um diefe Zeit!, und Hippolytus ward im Jahre 235 mit dem heiligen 
Papfte Bontian nad Sardinien verbannt. 

Die Hriftlihe Geſchichtſchreibung, in der Apoftelgeihichte jo glücklich 
begonnen, fand ihre Fortſetzung zunächft in den Alten der Märtyrer, 
deren ältefte, jene des Polyfarp, aus dem Jahre 155 ftammen. Mutmaß— 
fih wurden aud andere Aufzeihnungen gemadt, find aber während der 
beftändigen Berfolgungen verloren gegangen ?, 

Wo das Chriftentum Eingang fand, entftanden naturgemäß Kleinere 
und größere Schulen, an melden feine Lehren den Satechumenen mitgeteilt 
und näher erklärt wurden. Mehr als ein Jahrhundert ging indes vorüber, 
ehe in ſolcher Weije eine theologische Schule in höherem Stile erwuchs. Das 
geihah zuerft in Alerandrien, das jeit den Ptolemäern nicht nur für den 
Welthandel, jondern auch für Wiſſenſchaft und Literatur das große Stell 
dichein des Orients und Occidents geworden war. Hier, wo die altgriechiiche 
Bildung in ſchulmäßigem Encyklopädismus ihren legten Abſchluß gefunden 
hatte, international und fosmopolitifc geworden war, griechiſche Spekulation 
in das bis dahin abgejdloffene religiöfe Leben der Juden hineingetragen, 
durch die Überjegung der GSeptuaginta die Weisheit des Alten Bundes in 
den Wiſſensſchatz der heidniſchen Bölfer herübergenommen hatte, follte auch 
das Chriſtentum feinen eriten Einzug in die Gelehrtenwelt halten und jeine 
erfte ſchulmäßige theologische Faſſung befommen, 

Pantänus, eim befehrter Stoiter, machte diefe Katechetenſchule 
von Alerandrien, gegen das Ende des 2. Jahrhunderts, zuerſt be 
rühmt. Bei ihm ließ fih um das Jahr 180 Titus Ylavius Klemens 
nieder, ein Grieche, wahrſcheinlich aus Athen ſelbſt gebürtig, den jein Wiſſens— 
durft erſt duch Griechenland und Unteritalien, dann durch Syrien und 
Paläftina, ſchließlich nach Ägypten führte, wo er im Unterricht des Pantänus 
volle Befriedigung und Ruhe fand. Er ward Priefter und wirkte als ſolcher 
in Ulerandrien, bis ihn (202) die Verfolgung unter Septimius Severus 
nötigte, don neuem den Wanderftab zu ergreifen und nad) Stleinafien zu 
flüchten, wo er, wahrjheinlih zu Antiohien, um das Jahr 215 ftarb. 


! Daß er ald Märtyrer geftorben, beruht auf einer Überlieferung, die erft im 
5. Jahrhundert urkundlich bezeugt ift. 
? Acta martyrum selecta, berauögeg. von O. v. Gebhardt, Berlin 1902. 


16 Erſtes Kapitel. 


Die Frucht feines eingehenden Studiums der dhriftlichen Lehre ſowie 
einer ausgebreiteten Profangelehrjamteit entfaltete er nit nur in jeinen 
mündlichen Lehrvorträgen, fondern aud in einem grokartig angelegten drei— 
teiligen Wert, das den Reichtum der riftlihen Jdeen zum erftenmal in 
umfaffender Weife zur Darftellung bradte!. Der erfte Teil, eine „Er: 
mahnungsrede“ (Adyog zporperrixig) an die Griechen, ſchloß ſich als 
Apologie in Form und Inhalt an die Werke der vorausgegangenen Apo— 
logeten an, indem fie einesteil$ nachdrücklich die heidniſchen Religionen bes 
fämpfte, andernteil3 ebenjo wirkſam die riftlihe Religion anempfahl, aber 
mit einer fo gründliden und vieljeitigen Kenntnis des Heidentums, wie fie 
feinem früheren Apologeten zu Gebote geitanden hatte, und mit fteter Rüd- 
fiht auf die Chriſten, welde im Gewirre jener libergangszeit das Heidentum 
noch nicht völlig abgeftreift hatten. Im zweiten Zeil, dem „Bädagogen“, 
übernimmt Chriftus, der „Logos“, die Aufgabe, den dem Heidentum ent= 
riffenen Leſer erft im allgemeinen, dann, nad den verſchiedenſten Einzel- 
rihtungen hin, für das neue Leben in Wahrheit und Gnade zu erziehen. 
Im dritten Zeil, den „bunten Deden“ (Irpwuareig, Stromata), wird 
endlich die Gnofis, d. h. die wiſſenſchaftliche, theoretiſche Erkenntnis des 
Chriſtentums angebahnt, aber nit im Rahmen eines ftreng gegliederten 
Lehrgebäudes, wie es jpäter der hl. Thomas in feiner Summa errichtete, 
jondern in der zwanglofen Folge buntgeftidter „Teppiche“, in melden ſich, 
wie in Wiefen und Gärten, Blüten und Früchte, Gefträudhe und Bäume 
bunt aneinander reihen, um einer oberflählihen Ausnügung zuborzulommen 
und nur der Mühe des ernftlih Suchenden und tiefer Dringenden den 
Bollgenuß zu gewähren ?. 

Klemens’ Schriften, befonders die „Stromata”, enthalten zahlreiche 
Angaben über die ältere griechiſche Literatur, die jonft nirgends erhalten 
find®, Bon großem ntereffe ift auch jein Verfuh, das Wertvollfte der 


! Hauptausgabe von %. Potter (2 Bde 2%, Orford 1715; abgebrudt bei 
Migne, Patr. gr. VIIE IX). — Bol. 9. Schürmann, Die helfenijhe Bildung 
und ihr Verhältnis zur chriſtlichen nach der Darftellung des Klemens von Aerandrien, 
Münfter 1859. — E.Freppel, Clement d’Alexandrie, Paris 1865. — Ch. Bigg, 
The Christian Platonists of Alexandria, Oxford 1886. — A. Scheck, De fontibus 
Clementis Alexandrini, Aug. Vindel. 1889, — P. Wendland, Quaestiones Mu- 
sonianae, Berol. 1886. — Th. Zahn, Forſchungen zur Geſchichte bes neuteftament- 
lien Kanons ꝛc. III Supplementum opp. C. A., Erlangen 1884. — Clement of 
Alexandria Miscellanies Book VII, The Greek text with introduction ete. By 
the late F. J. A. Hort and J. B. Mayor, London 1902. — Weitere Literatur 
bei Bardenhemwer, Patrologie? 114—120; Geld. d. altkirchl. Lit. II 15—66, 

® Trefflihe Analyie der drei Werke von Bilhof Fehler, Art. „Clemens 
Alerandr.* in Wetzer und Weltes Kirenleriton III? 510—516. 

’ Strom. 1, 21; 5, 14; 6, 2. 


Grundlagen und Anfänge der althriftlichen griechiſchen Literatur. 17 


griehifhen Bildung aus morgenländifchen Quellen, beſonders aus jüdiſchen 
Einflüffen abzuleiten. Geht er Hierin auch manchmal zu weit, jo ſchränken 
die bon ihm angeführten Tatſachen dod eine einjeitige Bevorzugung des 
Hellenismus heilfam ein, erweitern das Kulturhild des Altertums in bedeut: 
ſamer Weiſe (3. B. in Bezug auf Indien und Ägypten) und bezeichnen die 
providentielle Stellung des Volles Gottes in der Erziehung des Menjchen: 
geſchlechts. Diejen erhabenen Gedanken göttlicher Pädagogik in der Menjchen- 
geihichte hat vor ihm feiner in jo großartigen Zügen entwidelt. 

Den Hellenismus mit all jeinen Borzügen und Schwächen hat Klemens 
wie wenig andere durchſchaut!. Er fennt jeine ganze Sagenwelt und Mytho— 
logie, jeine Dichter und Künftler, feine Gejhichtichreiber und Redner. Seine 
Abhandlungen find mit häufigen Eitaten aus Homer, Pindar, Euripides, 
Menander, Platon und andern Dichtern und Schriftſtellern durchwoben. Er 
hat für das Schöne das innigfte, wärmfte Gefühl, aber er verfennt auch 
den jugendlichen Leichtſinn nicht, der das hochbegabte Dichter: und Künftler- 
volt auf feiner ganzen Entwidlung begleitete. Mit Platon im „Timäus“ 
ruft er ihnen zu: „DO Solon, Eolon, ihr Griechen bleibt ewig Finder, es 
ift fein Greis unter euh!”? In breiten Schilderungen von erjchredender 
realiftiicher Wahrheit zeichnet er die furdhtbare Entfittlihung, in welche der 
götzendieneriſche Kultus des Schönen ausgemündet?, den unzweifelhaften 
Anteil, welchen die entartete Kunft daran genommen“. Er fteht nit an, 
die helleniſche Mythologie, ſoweit fie alle Leidenſchaften und Yafter des 
Menſchen vergötterte, für nichtswürdiger und jhändlicher zu erklären als 
den ägyhptiſchen Tierfult®. Doch er läßt ſich dadurd weder an der Kunſt 
jelbft beirren noch an dem Schönheitäfinn, der die griechiſche Kunſt befeelte. 
„Der Kunft ſoll ihr Yob werden ; aber fie foll nicht den Menſchen täufchen, 
als ob fie die Wahrheit wäre!" Den Schönheitäfinn der Hellenen aber 





ı Gegen die abjhäßige Kritil, die U. v. Wilamowi-Möllenborff 
(Eurip. Herafles I 171) über ihn ergehen läht (abgedrudt bei W, Chriſt, Ge 
ſchichte der griehifhhen Literatur 396 A. 5) ſpricht das einftimmige Urteil der Kirchen» 
väter, bie ihn fjämtlih als einen ebenjo gründlichen wie vielfeitigen Gelehrten an— 
erkennen (f. Migne, Patr. gr. VIII 33—59). Eyrillus von Alerandrien 
fagt von ihm: „Stlemens, ein hochberühmter und gelehrter Dann, hat, wie wohl 
feiner vor ihm, die Tiefen der griehifhen Wiſſenſchaft durchforſcht“ (Contra Iulian. 
1. VII (Migne a. a. ©. LXXVI 853). 

® Strom. 1, 15 (Migne a. a. ©. VIII 772). 

> Paedag. 3, 2—5 (Migne a. a. ©. VII 569—604). 

* Cohort. ad gent. c. 4 (Migne a. a. ©. VIII 133—164). 

> Cohort. c. 3 (Migne a. a. O. VIII 120 f). Nachdem er hier einige der 
ſcheußlichſten Kulte erwähnt, jagt er: „Bon folder Art find ihre Götter, und von 
folder Art aud fie felbft, die mit ben Göttern ihr Spiel treiben, vielmehr aber ihr 
Spiel mit fi ſelbſt treiben und ſich babei jelbft mit Schmach überhäufen.“ 

® Cohort. ec. 4 (Migne a. a. ©. VIII 156). 

Baumgartner, Weltliteratur. IV. 3. u. 4. Aufl. 2 


18 Erftes Kapitel. 


juht er von dem unfläten, ewig jeine Geftalt wecjelnden Proteus der 
finnliben Yeidenfhaften auf Gott, den ewigen Duell aller Schönheit, zu 
lenten, in welden Wahrheit und Schönheit eins find, und in welchem 
allein auch der Menſch zur inneren Harmonie gelangen fann, zur vollen 
Schönheit der Seele hienieden, zur verklärten Schönheit des Leibes in einer 
beſſeren Welt!. 

Als Anknüpfungspunkt, um die Griechen für die chriſtliche Welt— 
anſchauung und ihre Ideale zu gewinnen, dient ihm hauptſächlich die grie— 
chiſche Philoſophie. „Nach einigen“, ſagt er, „iſt die griechiſche Philoſophie 
gelegentlich und dunkel zur Erkenntnis der Wahrheit, aber nie der ganzen, 
gelangt; wie andere wollen, hat fie ihre Anregung vom Teufel. Einige 
meinen, gewille vom Himmel herabgelommene ‚Mächte‘ hätten die gejamte 
Philofophie injpiriert. Wenn nun auch die griechiſche Philojophie die ganze 
Größe der Wahrheit nicht erfaßt, wenn fie feine Kraft gewährt, die gött: 
lichen Gebote zu erfüllen, jo bereitet fie doc der königlichen Lehre den Pfad, 
indem fie einigermaßen zur Bejonnenheit führt, den Charakter formt und 
denjenigen, der an eine Vorjehung glaubt, geeignet macht, die Wahrheit 
aufzunehmen.“ ? Ya, in feinen Augen ift die griechiſche Philojophie den 
Hellenen gewiſſermaßen von Gott felbit zugeteilt „als ein häusliches Teſta— 
ment, als Leiter, um zur Kriftlihen Philofophie zu gelangen“. Auch zu 
Homer und Hefiod und zu den übrigen alten Dichtern ift ein jolder Strahl 
von Gotteserfenntnis gedrungen®. 

Mit dem univerjellen Blick eines großen Gelehrten verbindet Klemens 
nicht jelten auch die Anmut, Anjhaulichkeit und Empfindung einer echten 
Diehternatur, und mit feinem ſchlichten und doch jo erhabenen „Lobgejang 
auf Chriſtus den Erlöfer“ fteht er, ein neuer Pindar, an der Spite der 
chriſtlich-helleniſchen Dichter 5. 

Unbänbiger Rofie Gebiß, 
Unirrenden Gefieders Fittich, 


Unwanfendes Steuer Unmünbiger, 
Königliher Lämmer Hirt! 


Veriammle bu nun 
Deine Kinder um dich, 
Daß fie preifen vereint, 





! Paedag. 3, 3: lepi roö zailoug tod dAndwoo, 

2 Strom. 1, 16 (Migne, Patr. gr. VIII 796). 

> Hon di zai zamorım Äöyw ndvra dävayzata xal Ävarsiä ro Aw Veider 
Arsıv elg huäg Adyovres, obx äv ändpromer" ryv Ö& griooopiar, zal närkor "Eiinorr 
olo dıadhamy olxsiay abrois dıdüoda:, broßadpav obaay is xara Aptotor grio- 
ooriag (Strom. 6, 8 [Migne a. a. O. IX 288]). 

* Strom. 5, 4 (Migne a. a. DO. IX 44). 

s Paedag. 3, 11 (Migne a. a. O. VIII 681—684). 


Grundlagen und Anfänge der althriftlichen griechiichen Literatur, 19 


Daß fie fingen mit füh- 
Unfhuldigem Mund 
Did, Ehriftus, Lehrer der Kinder. 


Fürft Heiliger Schar, 
Allwaltendes Wort 
Bom Bater der Höh'n, 
Du, der Weisheit Born, 
Im Leiden ein fyels, 
Der Unfterblichkeit Herr, 
Und des Menſchengeſchlechté 
Heiland, Jeſus, 
Hirt, Vater zugleich, 
Du Steuer und Zaum, 
Shwungfitti der hoch— 
Aufihwebenden Schar. 
Du Fiſcher im Meer 
Des Lebensgewühls, 
Der aus Wogen der Schuld 
Mit der Angel des Worts 
Seine heilige Brut 
Aus tobender Flut 

Zum lieblichen Leben emporzieht. 


Geh voran benn, o Hirt, 
Deiner geiftigen Schar, 
Geh, Heil’ger, voran, 

D du Fürft unfhuldiger Kinder! 


Fußpfad Ehrifti, 
Du himmliſcher Weg, 
Unfterbliches Wort, 
Unermeßlicher Geift, 
Unſchaubares Licht, 
Des Erbarmens Quell 
Und der Tugenden Born; 
Du Heiliger Hauch 
In dem Leben, das Gott durch Rechttun preift. 


O himmliſche Milch, 
Süßquellend empor 
Aus der ſeligen und 
Jungfräulichen Bruſt deiner Weisheit, Herr! 


Unmündige wir, 
Vom zärtlichen Mund 
Zum Neben belehrt, 
An ber geiftigen Bruft 
Mit befruchtendem Hauch 
Des Lebens erfült, 
2% 


20 Erftes Kapitel. 


Unſchuld'gen Geſang, 
Untadliges Lob 
Unferem Herrn Chriſtus, 
Und ber Heiligen Lohn 
Nach der Lehre des Heils 
Laßt uns fingen zumal 
Dem erhabenen Sohn, 
Wir ber Friedenschor 
Aus Chriſti Geſchlecht, 
Eine heilige Schar, 

Laßt ums preiſen den Gott bed Friedens vereint!! 


Gar nicht poetiſch angelegt, aber weit hervorragender durch die aus— 
gebreitetſte Gelehrſamleit war der Schüler und Nachfolger des Klemens, 
Origenes, 185 zu Alexandrien geboren, mit achtzehn Jahren ſchon 
Lehrer an der dortigen Katechetenſchule, nah der Entfernung des Klemens 
deffen Nachfolger, fpäter ebenfalls aus Ägypten vertrieben, 218 in Antiochien, 
jeit 231 ftändig in Gäfaren, von mo aus er 240 Athen, 244 Arabien 
beſuchte, in mannigfache Glaubensftreitigfeiten verwidelt, aber dabei als 
Forſcher unausgeſetzt tätig, jo daß er wegen feines Fleißes der „Mann von 
ehernen Eingeweiden“ (NuAxevrepog) genannt, wegen jeiner enchklopädiſtiſchen 
Gelehrfamkeit mit dem Römer Varro verglichen wurde. Seinen Beinamen 
„Adamantios“ bezieht Hieronymus auf feinen Fleiß, Photius auf die un: 
widerleglihe Wucht feiner Beweisführung. Er ftarb 253 in Tyrus, nachdem 
er in der Verfolgung unter Decius ſchweren Kerker und Folterqualen erlitten 
hatte?. Der Schar riftliher Apologeten reihte er ſich ein durch feine acht 
Bände gegen das fog. „Wahre Wort“ (Adndng Aurog) des Philofophen 
Geljus, eine Streitjehrift, die etwa 178 erſchienen war und wie faum eine 
andere die beliebteften, böswilligften und blendendften Einmwürfe gegen das 
Ehriftentum vereinigte, Einmwürfe, die auch jpäter immer und immer wieder 
auftauchten. Über zahlreiche dogmatifche Traktate, praktiſch-asketiſche Schriften, 
Homilien und Briefe, die ſchon für ſich eine Heine Bibliothef ausmachen, 
ragt die Riefenarbeit feiner Herapla empor, der erfte Verſuch einer alt: 
teftamentlihen Zertkritit, worin dem Tert der Septuaginta zunächſt der 
hebräifche Text in hebräifchen Lettern, dann derſelbe in griechiſcher Tran: 
ſtription, die Überfeßungen des Aquila, des Symmachus und des Theodotion 





s Überfet von C. Fortlage, Geſänge chriſtlicher Vorzeit, Berlin 1844, 
38 40. 

® Verzeichnis ſeiner Werke bei Pitra, Spicilegium Solesmense III, Paris. 
1855, 313— 8317; 4. Harnad, Geſchichte der althriftlichen Literatur I 334— 336. 
— €. Kloftermann, Die Schriften des Origenes in Hieronymus’ Brief an 
Paula (Situngsberichte der königl. preuß. Akademie der Wiſſenſchaften, Berlin 1897, 
855—870). 


Grundlagen und Anfänge der althriftlihen griechiſchen Literatur. 2 


gegenübergeftellt wurden!. Bei einigen Büchern erweitert fi das Werk 
jogar zur Oktapla, weil nod zwei griechiſche überſetzungen hinzukommen. 
Zu faſt ſämtlichen Büchern des Alten und Neuen Teſtamentes hat Origenes 
Kommentare, zum Teil ſogar mehrfache, gejchrieben ?, 

Auh auf dem Gebiete der Dogmatit ging Origenes über Siemens 
hinaus, indem er in feinem Werke Wept dozav eine zufammenhängende, 
methodijche Gliederung der gefamten Glaubenslehre unternahm. Trotz jeines 
immenſen Wiffens 3 und feiner vielfadh zu Tage tretenden Bejcheidenheit ver: 
mwidelte er ſich dabei jedodh in Irrtümer, welche jeine kirchliche Verurteilung 
bon jeiten zweier Synoden zu Alerandrien (231) und des Papſtes Pontian 
(231 oder 232) herbeiführten und in weiteren Streitigkeiten den kirchlichen 
Frieden noch bis über das folgende Jahrhundert ftörten. „In feinem Leben“, 
jo urteilt der Neuplatonifer Porphyrios von ihm, „war er ein Ghrift und 
ein Feind der Gejebe, in feinen Anjhauungen über die Dinge der Welt und 
das göttliche Weſen aber war er ein Hellene.“ Das ift indes zuviel gejagt. 
Wurde der reihe Schab jeines Wiſſens auch durch den Einfluß Heidnijcher 
Philoſophie zum Teil getrübt, jo blieb er zum größeren Teil eine unerjchöpf: 
liche Fundgrube für die weitere Entwidlung der kirchlichen Wiſſenſchaft“. 
Gregor von Nazianz und Bafilius bildeten fih an feinen Schriften, aus 
weichen fie gemeinjam die „Philokalia“ zufammenftellten. Athanafius, 
Hilarius und Ambrofius haben ebenjo vieles aus ihm geihöpft. 

Origenes verlörpert das gejamte Willen feiner Zeit. Logik, Phyſik 
und Ethik treten bei ihm als Vorbereitungswiſſenſchaften in den Dienft der 
Theologie. Die Theologie jelbft beherricht er nah allen ihren Richtungen 
Hin, oder befjer gejagt, er hat fie nad allen Richtungen Hin begründet: 
bibliſche Textkritik, eigentliche Schrifterflärung, Apologetit, Widerlegung der 
Härefien, pofitive Theologie, chriſtliche Metaphyſik, Askeſe. In all diejen 
Zweigen find jeine Leiftungen bewundernswert. „Er ift“, wie Bigg mit 
Recht jagt, „der erfie große (hriftliche) Gelehrte, der erfte große geiftliche 


ı Elf Pfalmen der Herapla hat 6. Mercati in einem Palimpfeft der Am— 
brofiana entbect, aber nod nicht veröffentliht. Vgl. G. Mercati, Un Palimpsesto 
Ambrosiano dei Salmi Esapli, Torino 1896. — gl. A. Durand, Notes d’archeo- 
logie bibligue (Etudes LXVIII, Paris 1896, 693). 

? Gefamtausgabe ber Mauriner Charles und Bincent dela Rue (4 Bde 2°, 
Paris 17835— 1759); abgedrudt von Er. Oberthür (15 Bde 8%, Würzburg 1780 
bis 179), E. Lommatzſch (25 Bde 8%, Berlin 1831—1848), Migne (Patr. gr. 
XI—XVI, Paris. 1857—1860). 

® Über die Vielfeitigfeit diefes Wiſſens vgl. Origenes’ Werfe 1. und 2. Bd, 
berausgeg. von Paul Koetſchau, Leipzig 1899, I xxıv ff. — Bgl. Civilta Catt. 
ser. 17, VI (1899) 75. 

* E. Freppel, Origöne, 2 Bde, Paris 1868, ? 1875. — J. Denis, De la 
philosophie d’Origäne, Paris 1884. 


22 Erſtes Kapitel. 


Schriftſteller, der erſte große Schrifterklärer, der. erſte große Dogmatifer“. 
Er eröffnet auch die lange Reihe der großen chriſtlichen Kanzelredner !. 

Als Lehrer an der Katechetenſchule zu Alerandrien folgten ihm Hera: 
las und der hl. Dionyfius d. Gr., beide nachher Biſchöfe dafelbft, 
und namentlich der letztere bewährte fi in den vermworrenften Zeiten ala 
eine unmwandelbare Stübe echter Rechtgläubigkeit. Ein anderer Schüler 
des Origenes, Gregor, 210 zu Neocäjaren geboren und jpäter der 
Wundertäter zubenannt, wirkte als Biſchof von 240—270 in feiner 
Baterftadt und hat feinem Lehrmeifter in einer Lobrede ein glänzendes Denk— 
mal gejebt. 

Unter den Männern, welche die Jrrtümer des Origenes befämpften, 
ragt durch feine literarifche wie theologische Bedeutung der HI. Methodiug, 
Biſchof von Olympus in Lykien, hervor. Er ſchrieb mehrere Bücher gegen 
Porphyrius, „Das Gaftmahl“, ein Seitenftüd zu jenem des Platon, ein 
treffliches Wert „Über die Auferftehung” gegen Origenes, eine Schrift „Über 
den freien Willen“ (nept od aurefovaton), Kommentare zur Geneſis und 
zum SHohenliede und mehrere andere Schriften, die nad) dem Zeugnis des 
hl. Hieronymus viel gelefen wurden?. iiber fein Leben ift nahezu nichts 
befannt, als daf er während der diokletianischen Verfolgung um das Jahr 311 
die Krone der Märtyrer erlangte. 

Während Drigenes fih feine Mühe gab, die Haffiihe Formſchönheit 
Platons nahzuahmen, dagegen fih von deſſen irrigen Anſchauungen über 
die Präeriften; der Seele, deren Sündenfall vor der leiblihen Geburt, deren 
Verbannung in den Leib als in einen Kerfer und von der ſchließlichen Ver— 
nichtung des Leibes beftriden ließ und diefelben jogar zu weiteren Hypotheſen 
ausbaute, welche ſich mit der Kriftlichen Lehre von der Auferftehung nicht 
vereinigen ließen, eignete ſich Methodius in jeltenem Grade die Sprache, 
den Stil und die Formgewandtheit des großen griechiſchen Philofophen an, 
ließ fih aber — als echter, Kriftliher Humanift — von deſſen faljchen 
Borftellungen und Spekulationen nicht betören, fondern hielt in Bezug auf 
alle jene Fragen die kirchliche Überlieferung feſt. Die Schrift „Über die Auf: 
erſtehung“, nur im größeren griechiſchen Bruchflüden und ſlaviſchen liber- 


! P, Batiffol, Anciennes litteratures chretiennes 167. 

2 S, Hieron., De viris illustr. ec. 83. 

3 Seine Werke gefammelt bei Gallandi, Bibl. vet. Patrum Ill 663—832; 
abgedrudt bei Migne, Patr. gr. XVII 9—408. — Neue Ausgabe von A. Jahn, 
S. Methodii Opera et S. Methodius Platonizans, Halis 1865. — Die in flavifher 
Überfegung erhaltenen Werke bei ©. N. Bonwetih, Methodius von Olympus I, 
Erlangen und Leipzig 1891. — ®. Fritſchel, Methodius von Olympus und 
feine Philofophie, (Differt.) Leipzig 1879. — A. Pankow, Methodius, Biſchof 
von Olympus („Der Katholik“ LVII, Mainz 1887, 1—28 113—142 225—250 ; 
auch jeparat, ebd. 1888), 





Grundlagen und Anfänge der altchriftlichen griehijchen Literatur. 93 
fegungen erhalten, ift in der Form eines platoniihen Dialogs abgefaft, in 
welchem Aurentius und Methodius die kirchliche Lehre mit ebenfo Iharffinniger 
Dialektit als feiner Sprachgewandtheit gegen die Origeniften Aglaophon und 
Proklus verteidigen!. Noch mehr zur Höhe Platons erhebt fih Methodius 
in jeinem „Gaflmahl“ (Fuursawv % zept dyvsiag)?, worin ftatt des irdiſchen 
Eros die reine Jungfräulichkeit als Ausdrud und Wirkung der lauterften, 
erhabenften Gottesliebe gefeiert wird. Schon der Gedanke, den mit jo 
viel Unlauterfeit behafteten Idealen Platons das chriſtliche Ideal in feiner 
ganzen Reinheit und Lieblichkeit gegenüberzuftellen, befundet einen erhabenen, 
zugleich dichteriſch und philofophifh angelegten Geiſt. Methodius ift nicht 
bloß platonizans, er ift ein mit Platon metteifernder Denter. 


„Was denn mun glauben wir”, läßt Platon die Diotima fagen, „wenn es 
jemand zu teil würde, das Urſchöne felbit zu fehen, lauter, rein und unvermiſcht, 
nicht angefüllt mit menſchlichem Fleifhe und Farben und vielem andern fterblichen 
Zande, fondern wenn er das göttlide Schöne jelbft in feiner Einartigfeit erbliden 
könnte, — glaubt du alfo, daß dieſes Leben eines Menſchen ein nichtswürdiges jein 
werde, welcher dorthin blickt und jenes dann num erfhaut und mit ihm zufammen 
ift? Ober erwägft bu nicht, daß dort allein es ihm zu teil werben wird, indem er 
das Schöne fhaut, womit es ſchaubar tft, dann nicht Schattenbilder der Vortrefflih- 
feit zu erzeugen, weil er ja fein Schatienbild ergreift, fondern eine wahre Vortrefflich- 
feit, weil er ja das Wahre ergreift? Hat er aber wahre Bortrefflichkeit erzeugt und 
aufgenährt, jo ift jein Anteil, daß er gottgeliebt, und wenn je irgend ein anderer 
Menſch, auch er unsterblich wird.” ? Das find die höchſten Vorftellungen über „Schön- 
heit” und „Liebe, zu denen fich Platon in feinem „Gaſtmahl“ erſchwungen hat. 


Die frommen Ahnungen Diotimas über Gotteserfenntnis, Gottesliebe 
und Bereinigung mit Gott werden bei Methodius nicht, wie in Platons 
„Gaſtmahl“, von den mythologiſchen Phantafiegebilden eines Phädros, von 
der ſchmutzigen Sophiftif eines Paufanias, von dem naturphilofophiichen 
Geſchwätz eines Eryrimachos, von den zotenhaften Witzen eines Ariftophanes, 
von der. prumfhaften Äſthetik eines Agathon und ſchließlich von den wüſten 
Orgien eines Altibiades übertäubt. Der ganze dumpfe Wuft Heidnijcher Erotif 
ift von dannen gewichen. Reine, heitere Paradieſesluft umfächelt uns. Was 
Diotima dunkel geahnt, ift zur vollen, frohen Wirklichkeit geworden *. 


! Bei Bonwetid a. a. D. I 70-283. 

® Migne a. a. D. XVII 27—220. — Bol. Nirſchl, Patrologie und 
Patriftif I, Mainz 1881, 347—349. 

» Plato, Symposion 29, 

* In literarifcher Formvollendung hat Methodius fein Vorbild Platon nicht 
erreicht ; doch zu weit geht wohl Batiffol (Anciennes litteratures chretiennes 40), 
wenn er jagt: Ce dialogue, d’un art mediocre, a été beaucoup lu et tr&s surfait. 
Als einer der früheften Anſätze zu einem hriftlichen Humanismus verdient er hohe 
Anerkennung. 


24 Erftes Kapitel. 


As Schauplag ift ein Garten im fernen Often angegeben. Er gehört 
der „Tugend“ (dosry), der Tochter der „Weisheitäliebe” (Drinaogia). 
Der Weg dahin ift rau, jehwierig, ſteil emporfleigend. Aber die edeln 
Jungfrauen Gregorion und Theopatra, Procilla und Tyfiana lafjen fi) die 
Mühe nicht verdrießen. Oben fommt ihnen in ruhigem, würdevollem Schritt 
eine erhabene Frau mit huldreihem Antli entgegen: Arete. Ihr Gewand 
ftrahlt wie der Schnee. Wahrhaft göttlich, unbeſchreiblich ift ihre Schönheit. 
Ehrfurdtgebietende Majeität ift durch ſanfte Heiterkeit gemildert. Alles ift 
wahr, ungeſchminkt, ungefünftelt. Mit vieler Huld tritt fie zu jeder der 
Jungfrauen heran, jhaut fie an wie eine Mutter nach langer Trennung, 
umfängt und füßt fi. „O meine Töchter!” jpricht fie, „wie habe ich mich 
gejehnt, euch in den Garten der Unfterblichfeit einzuführen! Endlich ſeid 
ihr gefonımen, nachdem ihr unterwegs jo vielen Schreden vor mannigfaltigem 
Gewürm überftanden. Denn ich jah euch von meiner Warte aus oft dom 
Wege ablenfen und fürdtete, ihr möchtet umkehren und in die Abgründe 
hinunterflürzen. Aber Dank jei dem Bräutigam, Kinder, dem ich euch ver: 
lobt, der unſern Gebeten volle Erfüllung gewährt Hat!" Nun kommen fie 
an das Gehege. Die Türe ift no offen. Drinnen finden fie jhon Thekla, 
Agatha und Marcella zum Mahl bereit. Nun ladet Arete ein, ſich zu jehen. 
Es find der Jungfrauen im ganzen zehn. 

„Der Ort war wunderbar ſchön und erfüllt mit himmliſcher Ruhe. Die 
Luft, von den reinften Yichtftrahlen durchflutet, ergo& ſich weich in fanfter 
Harmonie. In der Mitte jprudelte ein Quell ruhig mild wie Öl den 
ſüßeſten Tranf. Helles, reines Waſſer, ihm entftrömend, bildete Brunnen. 
Diefe, zu Flüſſen anjchwellend, tränkten das ganze Land und fpendeten 
reihlihes Nah. Denn mannigfaltige Bäume waren dort, überfüllt mit 
friſchem Obſt, und fröhlid vereinigten fi die herabhängenden Früchte zu 
einem Bilde von Pracht, umd immer blühende Yluren waren dort, beftreut 
mit wohlriehenden und buntfarbigen Blumen, von denen ein milder Haud) 
jüßen Wohlduft dahintrug. In der Nähe war das Lamm, ein erhabener 
Baum; darunter ſetzten wir uns zur Ruhe, da er weit jeine Zweige aus: 
breitete und Schatten bot.“ 

Da Halten nun die zehn Jungfrauen ihr Gaftmahl. Dann fordert 
Arete fie auf, es folle eine jegliche zum Lobe der Jungfräulichteit eine Rede 
halten. Marcella als die ältefte erhält zuerft das Wort und feiert die Jung: 
fräulichfeit al die Blüte und edeljte Frucht der Kirche, als eine früher un- 
befannte himmlische Blume, die erſt Chriſtus auf diefe Welt hernieder gebracht 
und die wieder empor zum Himmel führe, als jchönfte Krone der Seligen. 
Da Marcella aber im Lobe der engelgleihen Tugend zu weit zu gehen 
ſcheint, lenklt Theophila, die zweite Rednerin, maßvoll und finnig zum Lobe 
der Ehe über, die Gott im Paradiefe jelbjt eingejegt, fort und fort mit 


Grundlagen und Anfänge ber althriftlihen griechiſchen Literatur. 25 


feiner Schöpfermadt, feinem Segen und jeiner Gnade begleite. Wenn 
darum auch die Jungfräulichleit in Gottes Augen höher ftehe, jo löſche 
darum des Mondes Größe und Schönheit das Licht der Sterne nit aus, 
Auch Thalia ſetzt das Lob der Ehe fort, die al3 Abbild der Bereinigung 
Chriſti mit feiner Kirche zur erhabenften Würde gelangt ift und, von 
Chriſtus ſelbſt geheiligt und geweiht, der Kirche unaufhörlich neue Gottes- 
finder jchentt, von denen die einen wieder zur Ehe, die andern zur Jung: 
fräulichteit berufen find, jo dab Ehe und Jungfräulichkeit in voller 
Mürde und Heiligteit nebeneinander zu Recht beftehen. Hohe Vorzüge jchliebt 
indes die Jungfräulichkeit in fih, und dabei verweilen die übrigen fieben 
Reden. Der eine ftrahlende Lichtglanz teilt jih darin gleihjam im die 
Farben des Spektrums und vereint fih dann wieder zu nod leuchten: 
derer Helle. 

Theopatra hebt hervor, daß die Jungfräulichkeit gewiffermaßen in den 
paradiejiihen Stand der Unverſehrtheit zurüdverfeße und mit heilbringender 
Macht die Seele dem ewigen Leben entgegenführe. Thaluſa weift nad, 
wie fie die edelfte Gabe und das jchönfte Weihegeſchenk jei, das der 
fterblihe Menih Gott darbringen könne. Agatha erblidt in der jung: 
fräulih reinen Seele das jhönfte und ungetrübte Bild göttliher Reinheit 
und Heiligfeit und erklärt danach im ergreifender myſtiſcher Weiſe die 
Parabel von den fünf Eugen und den fünf törihten Jungfrauen. Procilla 
läßt den himmliſchen Bräutigam jelbft in den Worten des Hohenliedes 
jeine Braut begrüßen und fnüpft daran eine Schilderung der Herrlichkeit, 
die fie im Himmel jhmücden wird. Thekla feiert in bezaubernder Innigkeit 
die Früchte, welche die jungfräuliche Reinheit ſchon hienieden zeitigt und jo 
das irdiſche Leben dem ewigen ähnlich macht, verbunden mit einem erhabenen 
Triumphe der fittlichen Freiheit, welder die Gnade zur Seite fteht. An 
der Freier des Laubhüttenfeites und andern myſtiſch gedeuteten Schriftterten 
beſchreibt Tyſiana dieſen glüdjeligen Triumph. Domnina aber führt dieſe 
myſtiſche Beſchreibung weiter und fordert die übrigen Jungfrauen begeiſtert 
auf, allen irdiſchen Lodungen und Reizen zu entjagen und ji in unver: 
brüdlicher Treue dem ewigen Bräutigam zu weihen. Der Preis als Rednerin 
wird von allen Thella zuerkannt. Sie ftimmt darum zum Schluß das 
herrliche Brautlied an, das den Parthenien der altgriehiihen Lyriker nach— 
gebildet zu fein jheint!, an Schwung jedenfall3 nicht hinter ihnen zurüd- 


! Parthenii titulum Methodii carmini indidimus, quod a virginibus cantabatur 
et eius auctor, quem veterum scriptorum splendida exempla suis libris aemulari 
solitum esse satis constat, in hoc quoque poemate Alcmanis et Pindari pervulgata 
zapdesıa imitatus esse videtur. Nec non Theocriti et Catulli carminibus nuptia- 
libus, quibus puerorum puellarumque chori permixti maritos domum proseque- 
bantur, hoc carmen Methodii conferre iuvat. Quo enim pacto romanus poeta 


26 . Erites Kapitel. 


fteht, an reiner Schönheit fie überflügelt. Thekla fingt vor, die übrigen 
Jungfrauen antworten mit den beiden Kehrverſen: 


Aus den Höhen fholl die Stimme, Jungfrau’n, welde Tote wedt. 
Auf! Dem Bräutigam entgegen, weißgeihmücdt, die Lampen ftredt, 
Eh’ das Tor im Morgengrauen fich verichließt und ihm verfterkt! 
Dir weih’ ih mih! Mit Heller Lampe Bier 
Komm’ ih, o Bräutigam, entgegen dir! 


Auf der Erde Glüd und Jammer, ird'ſcher Liebe flücht'gen Schein 
Gern verzichtend, wünſch' ich eins nur, Sel’ger, von den Armen bein 
Stets umfhlungen, in dein Schauen ewiglich entzückt zu fein. 

Dir weih’ ih mih! Mit heller Lampe Zier 

Komm’ ih, o Bräutigam, entgegen dir! 


Ich begehr’ Fein bräutlich Lager und fein reihgefhmüdtes Haus, 
Zieh’ in fledenlofem Kleide gern aus biefer Welt hinaus, 
Darf nur, Herr, in beinen Zelten meine Seele ruhen aus, 
Dir weih’ ih mih! Mit Heller Lampe Zier 
Komm’ ih, o Bräutigam, entgegen dir! 


Tauſendfachen Sinnenzauber ſpann die Schlange um mein Herz; 
Kaum entging ich ihren Schlingen, wilder Gluten bittrem Schmerz, 
. Wilder Tiere grimmem Raden, dich erwartenb bimmelwärts. 
Dir weih' ih mih! Mit heller Lampe Zier 
Komm’ ich, o Bräutigam, entgegen bir! 


Aus dem Sinn flug ih die Heimat, di verlangend, ew'ges Wort, 
Eilt’ aus der Gefpielen Kreife, aus dem Arm der Liebſten fort — — 
Vater, Mutter, alles, alles bift du, Ehriftus, mir, mein Hort! 

Dir weih' ih mih! Mit heller Lampe Bier 

Komm’ ih, o Bräutigam, entgegen dir! 


Ehriftus, Lebensfürft, dich grüß' ich, Licht, das niemals untergeht. 
Nimm der Jungfrau'n Gruß entgegen, unſer freudiges Gebet: 
Schönſte Blume, Gnade, Liebe, ew'ge Weisheit, Majeftät. 

Dir weih' ich mich! Mit heller Lampe Zier 

Komm’ ich, o Bräutigam, entgegen dir! 


Lab ums durch die offne Türe, Kön'gin, ſchöngeſchmückte, ein, 

Siegesreihe Braut voll Hoheit, laß und mit bei Chriſtus fein, 

Daß wir ihm und dir als Kinder frohe Brautgefänge weihn. 
Dir weih’ ih mih! Mit heller Lampe Zier 
Komm’ ih, o Bräutigam, entgegen dir! 


virgines, dum pineas taedas manu quatientes novam nuptam flammeo indutam 
comitantur, notum illud 

Hymen, o Hymenae, Hymen ades, o Hymenaee 
suceinentes facit, eodem modo christianae virgines, dum candida veste et lucidis 
facibus Christo sponso obviam eunt, exultantes, identidem exclamant: 

Aypreiw eoı zal Aanrädas passpöpous zparodea 

wungpie, Uravrdvm oot 

(Christ-Paranikas, Anthologia Graeca, Lips. 1871, xvır). 





Grundlagen und Anfänge ber althriftlichen griechiſchen Literatur. 


Seufzend, jammernd jeßt die andern weinen vor geſchlofſ'nem Tor, 
Weil der Lampen Licht erlofchen, nicht bereitet Tags zuvor, 
Weil zu dem Gemad) der Gnade Zutritt ihre Schuld verlor. 

Dir weih’ ih mih! Mit heller Lampe Zier 

Komm’ ih, o Bräutigam, entgegen dir! 


Denn vom heil’gen Pfade weichend, haben jene Ärmſten nicht 

Sich verihafft das ÖL des Lebens; drum erlofchen ift ihr Licht, 

Dunkel ftarren ihre Lampen, und ihr Herz vor Trauer bricht. 
Dir weih’ ih mich! Mit heller Lampe Zier 
Komm’ ih, o Bräutigam, entgegen bir! 


Becher voll des jühen Nektars ftehn vor uns, greift zum Potal! 
Jungfrau'n, es ift Himmelslabung, bie im frohen Hodzeitsfaal 
Der Geliebte und bereitet, den Gelab’nen allzumal. 
Dir weih’ ih mi! Mit heller Lampe Zier 
Komm’ ih, 0 Bräutigam, entgegen dir! 


Deinen Tod vorbildend, Abel rief, dem Himmel zugewandt: 
Sieh, o Heil’ger, mid erfählagen von des eig’'nen Bruders Hand 
Unbarmberzig! Zu dir fleh’ ih, nimm mid auf ins fel’ge Sand: 
Dir weih’ ih mih! Mit Heller Lampe Zier 
Komm’ ih, o Bräutigam, entgegen dir! 


Höchſten Siegespreis ber Keuſchen fih errang Joſeph, dein Sohn, 
Als das Weib, das Iuftentbrannte, warb um freveln Liebeslohn, 
Er nicht wanfend, ohne Mantel, zu bir rufend, floh davon: 
Dir weih’ ih mih! Mit heller Lampe Zier 
Komm’ ich, o Bräutigam, entgegen bir! 


Gott zum Opfer bradte Yephte jeine Tochter zum Altar, 

Unberührt, gleich einem Lamme fie bereit zu allem war, 

Sie, bein Vorbild Hier im Fleiſche, brachte willig ſelbſt ſich dar. 
Dir weih’ ih mih! Mit heller Lampe Zier 
Komm’ ih, o Bräutigam, entgegen dir! 


Die mit wohlgezielten Liften ihres Volles Feind bezwang 
Dur der Schönheit Reiz, doch felber rein ſich der Gefahr entrang, 
Triumphierend mit dem Haupte, Jubith dir das Loblied ſang: 
Dir weih’ ih mih! Mit heller Lampe Bier 
Komm’ id, o Bräutigam, entgegen dir! 


Hingeriffen bis zum Wahnfinn von Sufannas Huldgeftalt, 

Zodten fie zum fFrevellager die zwei Richter mit Gewalt; 

Doch auf ihre Schmeichelreben nur ihr Ruf gen Himmel fallt: 
Dir weih’ ih mih! Mit heller Lampe Fier 
Komm’ ih, o Bräutigam, entgegen dir! 


Lieber, lieber will ich fterben, als verraten ben Gemahl, 

Als den Augenblid der Sünde bühen ohne Map und Zahl. 

Nette mid aus ihren Händen, Herr, aus der Bebrängnis Qual! 
Dir weih’ ih mih! Mit heller Qampe Zier 
Komm’ id, o Bräutigam, entgegen dir! 


Erites Kapitel, 


Der mit heil’gem Quell der Taufe wuſch die Sünder für bein Reid, 
Ward gemordet von dem Frevler, weil er rein und engelgleich, 
Dein Vorläufer, zu bir rief er, Heil’ger, noch beim Todesſtreich: 
Dir weih’ ih mih! Mit heller Lampe Zier 
Komm’ ih, o Bräutigam, entgegen dir! 


Deine und des Lebens Mutter, gnadenvoll, rein, mafellos, 
Schien der Jungfraufhaft verluftig, da du weilft in ihrem Schoß, 
Aber unverjehrt und heilig, pries auch fie ihr jel’ges Los: 

Dir weih’ ih mih! Mit heller Lampe Fier 

Komm’ ich, o Bräutigam, entgegen bir! 


Deinen Brauttag mitzufeiern, Sel’ger, find wir hier bereit, 

Alle, König du der Engel, die du jelber dir geweiht, 

Bringen dir die beften Gaben, huld'gen dir in weißem Kleid. 
Dir weih’ ih mich! Mit heller Lampe Bier 
Komm’ ih, o Bräutigam, entgegen dir! 


Dih mit Hymnen froh wir preifen, auserwählte Gottesbraut, 
Du jungfräulid reine Kirche, dir zum Dienfte anvertraut, 
Schimmerndweiße, Beildhenlodige, wei’ und edel, hold und traut! 
Dir weih' ih mih! Mit Heller Lampe Bier 
Komm’ ich, o Bräutigam, entgegen bir! 


Die Verwefung ift entflohen. Tränen, Krankheit find verſcheucht. 
Tod und Schmerzen find vertrieben. Schuld und Torheit ſcheu entweicht. 
Ehriftus jelbit ald Gott der Menichheit Gnade, Huld und Freude reicht. 
Dir weih’ ih mih! Mit heller Lampe Zier 
Komm’ ih, o Bräutigam, entgegen dir! 


Wieder ift erfüllt mit Menſchen das verlor'ne Paradies, 
Die der Neid des jhlauen Draden und die Sünde draus verwies; 
Ew’ges, fichres, jel’ges Leben Gottes Nat fie finden lieh. 

Dir weih’ ih mih! Mit heller Lampe Bier 

Komm’ ih, o Bräutigam, entgegen bir! 


Nun das Neue Lied erhebend, jhwebt mit dir der Jungfrau'n Ehor, 
Hehre Königin, dich preifend, zu des Himmels Höh'n empor, 
Helle Fadeln in den Händen, um das Haar ben Lilienflor. 

Dir weih' ih mih! Mit Heller Lampe Zier 

Komm’ ih, o Bräutigam, entgegen dir! 
Der du throneft in der Himmel reinem, mafellofem Licht, 
Anfangslos, ob allen Weſen führeft Szepter und Gericht, 
Nimm uns auf mit deinem Sohne, Vater, o verftoß uns nicht! 

Dir weih’ ih mih! Mit heller Lampe Zier 

Komm’ id, o Bräutigam, entgegen dir! ! 


ı Bei Migne, Patr. gr. XVIII 208—213. Christ-Paranikas, Antho- 


logia 33—37. — Deutſche Profaüberjegung (nicht ganz vollftändig ; es fehlen Strophe 
? 89 16) von C. Fortlage, Gefänge Kriftliher Vorzeit 190—194. Unfere 
freiere Überjegung jucht mehr Sinn und Stimmung als die einzelnen Worte wieber- 
zugeben. Im Original beftehen die Strophen je aus drei längeren (meift vierzehn: 


Zweites Kapitel. Die griechiſchen Kirchenväter. 29 


Die herrlihe Schilderung des Paradiejes, die holdjelige Jungfrauen: 
ſchar, ihr zartes, gottbegeiftertes Lied erinnern unmwilltürlih an jene lieblichen 
Geftalten, wie fie mittelalterliche Meifter an jo manchem Portale hoher Dome 
angebradt oder Fra Angelico und Hubert van Eyd in Farben hingezaubert 
haben. Der innigfromme Gefihtsausdrud ift derfelbe. Aber ftatt der mittel- 
alterlihen Tracht tragen fie hier noch die wallenden, faltenreihen Gewänder 
der beften althelleniſchen Kunſt. So bietet diejes altchriſtliche Brautlied eine 
„Anbetung des Lammes“ dar, welches den Reiz antiler Formſchönheit jchon 
mit der ganzen Innigleit und Gefühlätiefe mittelalterliher Minne vereinigt. 
Noch vor Konftantin ward das „Neue Lied“ (To zawov nana) der Liebe 
angeftimmt, von dem die antife Welt faum eine dunkle Ahnung hatte umd 
das nun mädtig dur die Jahrhunderte weiterklingt. 


Zweites Kapitel. 


Die griehifhen Kirchenväter. Athanafius, YBaflius und 
Gregor von Ayffa. 


Nahdem Alerandrien der erſte Hauptjig chriſtlicher Theologie geworden 
war, jollte es aud der Ausgangspunkt der gefährlichſten Härefie werden, 
welche bis dahin die Kirche bedroht hatte, aber hinwieder ihr aud den ſieg— 
reihften Borlämpfer der Wahrheit fchenten, dem die Überwindung jener 
Spaltung vorbehalten war. Am Anfang des 4. Jahrhunderts trat dajelbit 
der Priejter Arius mit der Lehre auf, das ewige Wort, der Yogos oder 
Sohn Gottes, jei nicht eine dem Vater ebenbürtige, göttlihe Perjon, jondern 
ein Geihöpf (zriana, roirua), vor der Weltzeit aus Nichts geſchaffen, um 
Gott bei der übrigen Weltihöpfung ala Werkzeug zu dienen; jündlos jei 
er nur durch den guten Gebraud feines an fich geihöpfliden und wandel- 
baren Willens, göttliher Herrlichkeit teilhaftig nur dur das Verdienft jeines 
heiligen, rein gejhöpflicen Lebens, dennoch ſei er nunmehr göttliher Ehren 
würdig. Der Urheber diejer Lehre war durchaus fein genialer Denter, 
jondern ein oberflädlicher, weichlicher, ehrgeiziger und verfhmigter Intrigant, 
die von Widerjprüdhen ftrogende Lehre ein Produkt geiftiger Oberflächlichteit, 
aber gerade in ihrer Oberflächlichkeit jehr geeignet, verſchwommenen Namen— 





filbigen) Verſen und einem kürzeren Schlußvers, durchweg alle jambiſch; doc ift eine 
beftimmte Silbenzahl nicht ftreng eingehalten. Die vierundzwanzig Strophen find, nad) 
bem Borbild der alphabetifhen Pjalmen, in ihren Anfangsbuchftaben alroſtichiſch nad 
ben Alphabet geordnet, was fi etwas gefünftelt ausnimmt, aber Gehalt und Stim— 
mung tatſächlich kaum benachteiligt. 


30 Zweites Kapitel. 


riften und unklaren Köpfen entgegenzulommen, al3 eine Art Kompromiß 
zwijchen Seidentum und Ghriftentum. Chriſtus ward rationaliftiid zum 
menſchlichen Heros herabgedrüdt und als folder dann, wie die heidniſchen 
Heroen, göttlich verehrt; als platonijches Phantafiegebilde trat er zugleich 
zwiſchen Gott und Welt und geftaltete das Chriftentum aus einer göttlichen 
Religion in ein hellenifches Syftem um. 

Obwohl in Alerandrien ſelbſt gleih im Beginn mit allen Mitteln der 
firhlihen Autorität befämpft, auf dem erſten allgemeinen Konzil zu Nicäa 
von der Geſamtkirche verurteilt, gelangte die Härefie durch angejehene, jchlaue, 
feine Mittel jcheuende Anhänger zu weitefter Verbreitung und bedrohte nahezu 
ein Jahrhundert lang, bei den germanijchen Völkern in Spanien und Italien 
noch länger!, den Beſitzſtand der Kirche, nachdem diefelbe kaum dur Kaiſer 
Konftantin der langen Verfolgung entriffen worden war. Jahrzehntelang 
trat die faiferliche Gewalt, von Konftantius an, ebenjo rückſichtslos und ges 
walttätig für den Irrtum ein wie früher für das Heidentum. 

Wie Bardefanes und andere ſyriſche Gnoftifer begnügte ſich Arius nicht, 
feine Lehre in einem größeren Wert, „Thalia“ (Gaftmahl), niederzulegen, 
jondern brachte feine Lehre aud) in ſangbare Verſe für Wandersleute, 
Schiffer, Müller ufw., um fie jo leichter im Volke zu verbreiten. Es zeichnet 
fih auch Hierin der profane, heidnijche Geift, der dem Religiöfen feine wahre 
Ehrfurcht ſchenkt, jondern es unbedentlih auf die Gaffe wirft, um es als 
Gaffenhauer zu verbreiten. — Die Vorfämpfer der orthodoren Lehre führten 
den Kampf mit ernfteren, würdigeren Waffen. Indem fie den Arianigmus 
Schritt für Schritt widerlegten, geftalteten fie zugleich jenen Zeil der Theo: 
logie, welcher fih auf die Menfhwerbung bezieht, in immer veicherer 
Vollendung aus und öffneten damit auch der philofophiihen Spekulation 
nteue Gebiete. 

Die Entwidlung einer poetijhen Literatur ward dadurd allerdings 
wieder auf lange Zeit zurüdgedrängt. Das Ghriftentum mußte erft religiös, 
wiſſenſchaftlich und politiich die Welt durchdringen, ehe aus der Fülle eines 
neuen Geifteslebens die Blüte der Poeſie emporfpriegen fonnte. Dennod) 
entbehren auch diefe Zeiten des theologifhen Kampfes einer gewiſſen Poefie 
nicht, wenn ſich diefelbe auch nicht aus dem übrigen Geiftesleben abjonbert 
und in eigentlihen Kunſtwerken geltend mad. 

Mie unter den Märtgrern der erften drei Jahrhunderte, jo begegnen 
uns bier wieder Geftalten, denen das Altertum nichts Ähnliches gegenüber- 
zuftellen hat, die von dem Zauber einer erhabenen Poeſie verklärt find. So 
vor allen der große Athanaſius, der in dem Kampfe gegen den Arianis- 
mis an der Spibe fand, deffen einzigen Lebensgedanken gemwiffermaßen die 


In Spanien bis 590, bei den Sangobarden bis 653 ufw. 


Die griehifchen Kirchenväter. Athanafius, Bafilius u. Gregor von Nyſſa. 31 


Gottheit Chrifti bildete, der ſchon als jugendlicher Diakon dem feden Häretiler 
mutvoll entgegentrat, auf kleineren Synoden und auf dem Konzil zu Nicäa 
den Kampf wider ihn führte, und dann als Bifchof von Alerandrien nahezu 
fünfzig Jahre unter zahllofen Mühen, Gefahren und Leiden die Sade Chrifti 
gegen übermädtige Hofbiſchöfe und Statthalter, gegen ganze Synoden, gegen 
die Kaiſer und die gejamte Staatsgewalt unerjchroden verteidigte, als Ver: 
bannter in Trier wie als Flüchtling in Oberägypten, in der halbın Welt 
berumgetrieben, nie entmutigt zurüdwich, jelbft von der Mehrheit jeiner Amts: 
brüder im Stiche gelaffen, nicht erlahmte, Leben und Kraft, fein ganzes 
Dajein als Anwalt des großen riftologijhen Grunddogmas verzehrte. Er 
hat den Bänleljängereien des Arius feine Gedichte entgegengeftellt; aber jeine 
vielen dogmatiihen, apologetiihen und eregetiichen Schriften atmen eine 
Wärme und Begeifterung für jein hohes, erhabenes Ziel, welche ganze 
Scharen der Edeljten und Beſten mit ſich fortriß. Seine Sprade ift nad) dem 
Urteil Des Photius! Har, kurz und einfach, fein Geift ſcharf, jeine Beweis- 
führung gewaltig und Hinreißend, jeine Gedanfenfülle bewundernswert ; jeine 
philoſo phiſchen Ausführungen verraten den gereiften Meijter, jeine Bücher gegen 
die Heiden, über die Menjhwerdung und gegen die Arianer find ein groß« 
artiges Siegesdentmal über den Arianismus, und jpätere Lehrer, wie Gregorius 
von Razianz und Bafilius, haben viele ihrer ſchönſten Ideen aus ihm geſchöpft?. 

Athanafius Hat nächſt Origenes am mädhtigften auf die folgenden Lehrer 
der Kirche eingewirkt, aber injofern noch weit jegensreidher, als fein Irrtum 
jeine philoſophiſchen Anjhauungen und jeine Schrifterklärung trübte, die 
Lehre in jih und mit feinem Leben im vollften Einklang jtand. 

Wie zu Alexandrien, jo wuchs aud an dem Primatialfib von An: 
tiohien, wo die Anhänger des Erlöſers einft zuerft „Ehriften“ genannt 
worden waren, bereits um die Mitte des 3. Jahrhunderts eine blühende 
Katechetenſchule empor, welche in den riftologischen Kämpfen der folgenden 
Zeit eine hervorragende Rolle jpielte und fi um die Verbreitung und Ber: 
teidigung der Kriftlihen Wahrheit die höchſten DVerdienite erwarb. Nach 
dem Beifpiel ihres Lehrers Malchion, der 269 ruhmreich gegen Baul von 
Samofata in die Schranken trat, zogen die Priefter Dorotheus und 
Lucianus zur Berbefferung der Septuaginta den hebräifchen Text heran 
und verfaßten jo eine Bibelausgabe, welche fid) über ganz Sleinafien und 


i Migne, Patr. gr. XXV ccıxxvzu. 

2 Gejamtausgaben jeiner Werte: Heidelberg (ex offic. Commeliniana) 1600 
bis 1601; 3. Lopin und ®. de Montfaucon (Mauriner, Paris 1698, abgedr. 
zu Pabua 1777); Migne (a. a. OÖ. XXV—XXVIN); Heitel, Shwarß. und 
Mommfen (Sammt. der Berliner Akad. VII IX X). Leipzig 1901—1903. — Bgl. 
J. A. Möhler, Athanafius d. Gr. und die Kirche feiner Zeit, Mainz 1827, 
2, Aufl. 1844. 


32 Zweites Kapitel. 


Griechenland verbreitete. Lucian ftarb 311 (312) zu Nikomedia als Mär- 
tyrer. Diodor, der 378 Biſchof von Tarjus wurde, führte die Schule 
einer noch größeren Blüte entgegen. Während die Nlerandriner vorwiegend 
unter dem Einfluß der platoniſchen Philofophie fanden und darum einer 
moftiich-allegorifhen Deutung der heiligen Schriften zumeigten, jchloffen 
ih die Meifter von Antiohien mehr an die müchternere Richtung der 
Ariftoteliter und der ftoifchen Efleftifer an und betonten darum den ein: 
fahen Wortfinn, die grammatiſch-logiſche und geſchichtliche Auslegung der 
heiligen Bücher. Die beiden Schulen ergänzten ſich gegenfeitig. Wohl 
find aus beiden Lehrer hervorgegangen, welche die Richtung derfelben ein- 
jeitig auf die Spiße trieben, wie Origenes unter den Wlerandrinern, mehr 
noch Theodor von Mopfueftia unter den Antiochenern, aber ungleich größer 
ift die Zahl derjenigen, melde ein richtiges Maß zu halten wußten, und 
anderer, welche die beiden Richtungen in glüdliher Harmonie vereinigten !. 

Euſebius, der Schüler des Märtyrers Pamphilus (dem zu Ehren er 
ih Eufebius Pamphili nannte), zu Cäſarea in Paläftina um 265 geboren, 
jpäter Biſchof diefer Stadt bis zu feinem Tode 340, fteht als Charakter 
weit hinter Athanafius zurüd. Litt er auch ſelbſt noch während der legten 
Ghriftenverfolgung als Befenner, jo nahm er doch ſpäter als Biſchof, nament- 
lih in den Kämpfen wider Arius, eine ſchwankende, vermittelnde und un— 
fihere Haltung ein und hat dadurd, ala Günftling Kaifer Konſtantins, 
nicht wenig zur Förderung des Arianiamus beigetragen. Dagegen hat er 
ih durch feine geſchichtlichen Werke und die an geſchichtlichem Gehalt eben: 
falls ſehr reihen apologetiihen Schriften nicht geringe Verdienſte erworben ; 
er ift der Herodot der chriſtlichen Vorzeit, d. h. der Bahnbrecher der chriſt— 
lihen Kirchengeſchichte. Seine Kirchengeſchichte, melde bis auf die Allein: 
herrſchaft Konftantins d. Gr. reicht, ift die reichfte und wertvollfte Geſchichts— 
quelle für die erften drei chriftlihen Jahrhunderte. Die künftlerifche Voll: 
endung der großen griechiſchen Hiftoriter hat er nicht angeftrebt, fondern 
lediglih eine möglichſt jorgfältige Feftitellung der Tatſachen. Indem er 
jeine Belegftellen aus jet zum Zeil verlorenen Schriften meift wörtlich 
zitierte, ertwuchs eine Art Quellenmofait, die den Wert einer noch fo jhönen 
Durdarbeitung weit überfteigt. Die chriſtliche Geſchichtſchreibung wurde 
dadurch gleih von Anfang an auf die richtige Bahn gewieſen?. In feiner 


! Hornung, Schola Antiochena de 8. Scripturae interpretatione quonam 
modo sit merita, Neostadii 1864. — Kihn, Die Bedeutung der antiochenifchen 
Schule auf eregetifhem Gebiet, Weißenburg 1866; Theodor von Mopfueitia und 
Junilius Afrifanıs als Gregeten, Freiburg i. B. 1880. — Ph. Hergenröther, 
Die antiohenifhe Schule und ihre Bedeutung auf eregetiichen Gebiet, München 1871. 

® Bis heute ift dies ihre Signatur geblieben, bei Baronius, ben Maurinern, 
Bollandiften, wie bei Janſſen, Paftor ufw., ohne daß dabei eine mehr philo» 


Die griehifchen Kirhenväter. Athanafius, Bafilius u. Gregor von Nyſſa. 33 


allgemeinen ſynchroniſtiſchen Welthronit (von ihm felbit AMuvrodarr taropta 
genannt), die bis zum Jahre 325 geht (nur in einer armenischen Überfegung, 
einem ſyriſchen Auszug, in der lateinischen Bearbeitung des Hieronymus 
und einigen Originalbrudftüden erhalten), ftüßt ſich Eufebius hauptſächlich 
auf das gleichartige frühere Werk des Prieſters Sertus Julius Afrifanus 
aus NAlerandrien!, der hinwieder aus Alexander Polyhiſtor und andern 
Geſchichtswerken geſchöpft hat; die Haffiihen Geſchichtſchreiber der Griechen 
jelbft find darin nicht verwertet. 

Der erſte Teil (Npovorpagpia) enthält eine ethnographiſche Chrono: 
logie, welche, mit der Geburt Kains beginnend, alle Völker und Reiche bis 
zum Jahre 325 umfaßt, der zweite Teil (Auvov ypovıxis) ſynchroniſtiſche 
Tabellen, welde, mit der Berufung Abrahams anhebend , die Namen der 
politifchen Herrfcher, der jüdischen Hohenpriefter, der chriſtlichen Biſchöfe und 
eine Überficht der wichtigſten Zeitereigniffe, nad Dekaden abgeteilt, enthalten. 
„Gerade diefe Zufammenfaffung des Entlegenften mit dem Nächſten verſchaffte 
der Arbeit des Eufebius eine unberehenbare Ausdehnung und Einwirkung 
auf die Nahmelt.“? Bon Hieronymus ins Lateinifche übertragen und mit 
Zufägen vermehrt, ins Syriſche, Armeniſche und Arabiſche überjegt, un- 
zähligemal bearbeitet und weitergeführt, bildete dieje Ehronif über ein Jahr: 
taufend für das Abendland und für das Morgenland den Grundftod alles 
biftorischen Wiſſens. Noch am Anfang des 16. Jahrhundert3 wurde fie 
bis auf die jüngfte Zeit ergänzt und von neuem gedrudt®. 

Urſprung, Mittelpunft und Ziel der Weltbetradhtung bildet bei Eufebius 
Gott, der durch jeine Vorſehung alle Ereigniffe leitet und durch feine ewigen 
Ratihlüffe den Mißbrauch menschlicher Freiheit wunderbar auf das rechte 
Geleife zurücklenkt. Durch die Menjchwerdung Hat fi das ewige Wort 
jelbft der Menjchheit eingegliedert, durch jeine im Alten Bunde borgebildete 
und verbreitete Kirche führt Chriſtus die Menjchheit ihrer ewigen Be— 
ftimmung entgegen. 
ſophiſche Betrachtung und künſtleriſche Durchdringung des Attenmaterials ausgefchloffen 
worden wäre. 

ı Bol. 9. Gelzer, Sertus Julius Afritanus und die byzantiniihe Chrono» 
graphie, 2 Bde, Leipzig 18851899. 

? Rante, Weltgeſchichte I 2, 285; IV 2, 263. 

> Gefamtauögabe nur bei Migne, Patr. gr. XIX-—XXIV, — N. Schoene, 
Die Weltchronik des Eufebius in ihrer Bearbeitung durch Hieronymus, Berlin 1900. 
— Fr. Overbed, Über die Anfänge der Kirchengeſchichtſchreibung, Bafel 1892, 
— Shöne Charakteriftif des Eufebius bei Hipler, Die driftlihe Geſchichts— 
Auffaffung (Vereinsſchrift der Görres-Gejellihaft II, Köln 1884, 20—24). — Das 
erfie Buch der „Ehronil* ift nur in armenifcher Überfegung erhalten, herausgeg. 
von Angelo Mai und J. Zohrab (Mailand 1818), U. Schvene und H. Peter- 
mann (Berlin 1875). 

Baumgartner, Weltliteratur. IV. 3. u. 4. Aufl. 3 


34 Zweites Kapitel. 


„Die von ihr verfündete Wahrheit empfiehlt fih von felbft und leuchtet im 
Laufe der Zeiten in immer hellerem Glanze. Die Erfindungen der Widerfadher aber, 
von ber Wahrheit ſelbſt widerlegt, verſchwanden bald; denn indem eine Sefte nad 
der andern mit Neuerungen hervortrat, zerflofien jedesmal bie früheren und gingen, 
in vielfache und vielfürmige Geftaltung aufgelöft, bald auf dieſe bald auf jene Art 
zu Grunde Die hellleudhtende, ftets in allem fich gleichbleibende katholiſche und 
allein wahre Kirche dagegen nahm täglid an Wachstum und Größe zu und zeigte 
die Ehrwürdigkeit, die Echtheit und den Adel jowie die Vernünftigfeit und Reinheit 
ihrer göttlichen Lehre und Lebensweiſe vor dem ganzen Geſchlechte der Griechen und 
Barbaren in hellem Lichte.“ ! 


Einen eifrigen Vertreter fand die fatholifche Lehre an dem HI. Eyrillus, 
der von 350 (oder jhon 347) bis zu feinem Tode (386) den biſchöflichen 
Stuhl von Jerufalem innehatte, aber dur die Arianer dreimal davon 
vertrieben wurde. Seine „Katecheſen“, berühmt durch ihre klaren Zeugniffe über 
die Euchariftie, gehören zu den ſchönſten Dentmälern des hriftlichen Altertums, 

Inzwiſchen mehrte fi im Orient dad Gewirr der Härefien. Die Arianer 
jpalteten fi in Arianer, Semiarianer, Macedonianer; aus dem libereifer, fie 
zu betämpfen, erwuchjen neue Irrlehren, wie die Lehre des Apollinarius ; 
daneben wucherte noch der Gnoftizismus in den verjchiedenften Formen weiter. 
Gleih Arius ſuchte aud Paul von Samofata jeine Jrrtümer durch Lieder 
zu verbreiten, indem er, wie Eujebius erzählt, die „Pſalmen“ abſchaffte, 
welhe man in den Kirchen „zur Ehre unjeres Herren Jeſu Chriſti“ fang, 
und jelbfiverfaßte Gejänge an deren Stelle jegte. Apollinarius der 
ältere, ein gelehrter Rhetor in Berytus und jpäter in Laodicea, wie jein 
gleihnamiger Sohn, der fih als Philofoph und Dichter einen Namen machte, 
bearbeitete unter Julian dem Apoftaten bibliſche Stoffe in metrifcher Form, 
um für die den Ghriften verbotenen Klaſſiker einen Erſatz zu bieten?; als 
der jüngere Apollinarius indes, zum Biſchof von Laodicea erhoben, 
die vernünftige Seele in Chriftus leugnete, nahmen auch feine früheren ver- 
dienftlihen Literaturbeftrebungen eine üble Wendung, und die Synode von 
Laodicea erließ gegen feine häretiichen Yieder (in ihrem 59. Kanon) die 
Verfügung, dab man in der Kirche feine von Privaten verfahten Palmen 
vorlefen dürfe. 3 

Perſönliche Beſchränktheit und Verjchrobenheit, Ehrgeiz und Herrſch— 
jucht, lofaler Partikularismus und Eiferfudt, Mangel an Demut und Unter: 
würfigleit gegen die kirchliche Autorität, der alte, nicht überwundene heid- 


ı Euseb,, Hist. ecel. IV 7 (Migne, Patr. gr. XX 5320). 

? Apollinaris Interpretatio Psalmorum versibus heroicis, Paris. 1580, 
Heidelb. 1654. — Fragm. Apollin. bei Gallandi, Bibl. vet. Patrum XII 706 f; 
Mai, Nov. coll. VII 1, 16 208. 

» Hefele, Konziliengeihichte 1? 774. — Sozomenos, Hist. ecel, V 18. — 
Hergenröther-Kirſch I* 386. 


Die griehifchen Kirchenväter. Athanafius, Bafilins u. Gregor von Nyſſa. 35 


niihe Sauerteig des Rationalismus und der religiöfen Willkür, Einflüffe 
heidniſcher und jüdiſcher Selten, fittlihe Verderbtheit und weltliche Gefinnung 
ipielten bei diefem Gewirre unzweifelhaft eine Hauptrolle. Eine nicht zu 
unterfhägende Urſache dürfte aber in der Oberflächlichkeit, Verdrehtheit, 
Schwindelei und Disputierwut zu fuchen fein, womit die Sophiften und 
Rhetoren die ganze zeitgenöffiiche Bildung angeftedt hatten. Um Geld ward 
alles gejagt, deflamiert, bewiejen, verteidigt. Wenn etwas nur neu tönte: 
um die Wahrheit fümmerten fi) die wenigften. Das ganze Seftengetriebe 
fällt deshalb nicht dem Chriftentum zur Laft, fondern hauptſächlich dem tief: 
geſunkenen und entarteten Hellenismus. Seiner bediente fih hauptfächlich 
der Feind des Guten, um Unkraut unter die Saat Chrifti zu fireuen. 

Bon meittragenditer Bedeutung war e3 für Bildung und Literatur, 
daß mitten in diefer Verwirrung der Geifter das Mönchs- und Ordens: 
feben fi) gerade in Agypten zur bleibenden kirchlichen Einrichtung geftaltete. 
Nicht überfättigte peifimiftiiche, ſchiffbrüchige Eriftenzen, welche ſchon mit 
allen Freuden und Genüffen diejer Welt abgehauft, wie die indijchen Büßer, 
zogen ſich hier in die Einſamkeit der Wüfte zurüd, fondern die Edelften und 
Beiten, in der Blüte der Jahre, noch ehe die Sittenverderbnis der Groß— 
ſtädte fie angefränfelt, Ehrgeiz und Habſucht die Schwungkraft ihres Geiftes 
untergraben hatte. Alles, was ſich hemmend zwiſchen Gott und ihre Seele 
eindrängen wollte, warfen fie von fih, um Gott in Gebet und demütiger 
Arbeit zu dienen, dad Wort Gottes ungeftört zu betrachten und in ſich auf: 
zunehmen, das Böſe durch heroifhe Entjagung in ſich niederzufämpfen und 
durch Übung der hödften Tugenden das Bild des Erlöfers in ſich aus— 
zuprägen. Die Heilige Schrift, welche in den religiöfen Wirren der Zeit 
nur zu oft in Gefahr fam, ein bloßer Spielball disputierfüchtiger Gelehrten 
zu werden, ward hier wieder zu einem Quell der innigften Andacht, Liebe 
und Erbauung, eine Geiftesnahrung, die den ganzen Menjchen belebte. Die 
Theologie ward hier dem Getümmel des Streites entzogen und auf ihr 
eigentliche Hauptobjett — Gott — hingelentt. Der größte Teil der Mönde 
febte als Gönobiten in großen Hlöfterlihen Genoſſenſchaften vereint, jo daß 
fie alle Segnungen des priefterlihen und kirchlichen Lebens genießen und 
aud die Tugenden des gejelligen Lebens reihlih üben konnten. Sie beteten 
für die Melt; fie gaben der Welt das Schaufpiel eines Lebens, das bie 
höchſten chriſtlichen Ideale verwirklichte, fie erzogen Männer, die mit dem 
vollen Geifte der Apoftel wieder in die Welt zurüdtraten und die ungetrübte 
Überlieferung der Kirche weiter verfündeten !, 





. + Möhler, Gef, Schriften II 165 fi. — Evelt, Das Möndtum in jeiner 
inneren Entwidlung und feiner kirchlichen Wirkfamteit bis auf ben hi. Benebitt, 
Paderborn 1863. 

5* 


36 Zweites Kapitel. 


Athanafius, der ſelbſt in klöſterlicher Einſamkeit zum Geiftesriefen er- 
ftarkte, hat uns das frühefte Bild des Hl. Antonius, des Patriarchen der 
ägyptiihen Mönche, und feiner Klöſter hinterlaffen. Er jagt am Schluffe 
feines Berichtes: 


„Zwiſchen den Bergen ftanden Klöfter, wie heilige Gezelte, angefüllt mit gött— 
lien Chören, melde Palmen fangen, die heiligen Schriften lafen, fih im Faſten 
und Gebete übten, frohlodten in ber Hoffnung auf die ewigen Güter, mit ihrer Hände 
Arbeit ſich verihafften, was fie als Almofen verſchenkten, und in Eintradht und Liebe 
aneinander hingen. Und wahrhaftig! Dort war es einem vergönnt, ein abgejonbertes 
Sand ber Frömmigkeit und Gerechtigkeit zu ſchauen. Da gab es keine Beleidiger 
unb feinen Beleidigten, ſondern nur eine Schar von Asketen, deren einziges Streben 
auf Vollkommenheit gerichtet war, fo daß ein fremder, der dieſe Klöfter und bie 
Ordnung darin fähe, ausrufen würde: ‚Wie ſchön find deine Wohnungen, o Jakob, 
und beine Hütten, o Israel! wie fhattige Haine und wie ein Garten am Geftabe 
bes Fluſſes, wie Zelte, die der Herr befeftigt hat, wie Zebern, die an Waſſerbächen 
jtehen.‘* ! 


Die Athanafius, jo Haben aud die übrigen großen Lehrer der grie- 
chiſchen Kirche wenigſtens zeitweilig die Schule des Mönchslebens, d. h. des 
Drdenzftandes, durchgemacht, und erft durch den inneren Geift, den fie hier 
Ihöpften, erlangte ihre übrige theologiſche und weltliche Bildung ihre Flare 
Richtung, ihre volle Harmonie und Wirkjamteit. 

In vielen Stüden gemahnt an Athanafius der HI. Bafilius d. Gr., 
Biſchof von Neocäfarea in Kappadocien. Er entftammte einer reihen und 
vornehmen Familie diefer Stadt, um das Jahr 331. Seine fromme Groß— 
mutter Mafrina madte ihn früh mit den Geheimniffen des Glaubens be- 
fannt; der Vater, ein angejehener Rhetor, führte ihn in die allgemeine 
Bildung ein. Zu weiteren Studien beſuchte er Konftantinopel und Athen, 
im Verein mit jeinem gleichgefinnten Jugendfreunde Gregor von Nazianz. 
Beide machten in Literatur und Philoſophie die glänzendften Fortfchritte. 
Doch Bafilius fand darin nicht daS Genügen, das er erhofft. Nach vier- 
bis fünfjährigem Studium tehrte er nad) feiner Vaterftadt zurüd, empfing 
die heilige Taufe, bereifte Syrien und Ägypten, um das Möndsleben aus 
eigener Anſchauung kennen zu lernen, und ließ fih dann in der Nähe 
feiner Waterftadt als Einfiedler nieder. In der Nähe und Ferne entftanden 
um diefe Zeit Klöfter und Mönchsgenoſſenſchaften. Im Verein mit Gregor 
von Nazianz faßte er Lebensregeln für fie ab und ward fo der Patriarch 
des griechiſchen Möndtums. Im Jahre 364 ward er Priefter und ala 
folder die Stüße feines Biſchofs Eufebius, nad deffen Tod (370) ſelbſt 
Metropolit von Cäſarea, nächſt Athanafius der gewaltigfte und erfolgreichfte 


'S. Athan., Vita S. Antonii n. 44 (Migne, Patr. gr. XXVI 908). 








Die griechiſchen Kirchenväter. Aihanafius, Bafilius u. Gregor von Ryſſa. 87 


Verteidiger des katholiſchen Glaubens gegen die Arianer, bis ihn 379 der 
Tod aus diefem Leben abrief!. 

Seine zahlreihen Schriften gehören wie jene des hl. Athanaſius vor- 
zugsweiſe der Theologie an. Dod befunden fie, namentlich jeine 365 Briefe, 
die feinfte klaſſiſche Bildung, künſtleriſchen Geſchmack und bei jcharfem, prak— 
tiihem Verſtand und großer Gelehrfamteit auch ein tiefpoetiiches Gemüt. 
Unter feinen vierundzwanzig Homilien ift eine auch don pädagogiſchem und 
literariſchem Gefihtspunft aus bemerkenswert und deshalb au jehr berühmt 
geworden: „An die Jünglinge, wie fie aus heidnifchen Schriften Nutzen 
ſchöpfen können.““ Es ift das erfte, Kar formulierte Programm eines 
hriftlihen Humanismus gegenüber dem Studium der antiten Literatur, und 
bei den Vorurteilen, welche gegen Mönde und Möndtum noch immer im 
Schwange find, verdient herborgehoben zu werden, dab e& der Begründer 
des griechiſchen Möndtums, einer der Patriarhen des kirchlichen Ordens: 
lebens ift, der zuerft in ebenjo freifinniger als auch maßvoller und praktiſch 
vernünftiger Weife jih für das Beibehalten der Haffiihen antiken Literatur 
als Bildungsmittel für die ftudierende Jugend erklärt hat. Ausgehend von 
der übernatürlihen Beltimmung des Menfchen und der notwendigen Unter: 
ordnung des zeitlichen Lebens und feiner Intereſſen unter die ewigen, ſpricht 
er zwar mit aller Wärme eines großen Asketen umd Heiligen die unumftöß- 
fihe Wahrheit aus, daß das religiöfe Wiffen alles rein natürliche und profane 
ebenjo überragt wie die Seele den Yeib. Ebenjo unummwunden erklärt er 
fih aber aud dahin, daß der jugendliche Geift den hohen Aufgaben der 
chriſtlichen Philoſophie und Theologie noch nit gewadfen ift und darum 
ertt an Poeſie, Rhetorik und Geſchichte entwidelt und vorgeihult werden 
jol. Als Beifpiele dafür werden Mofes und Daniel vorgeführt. Die fitt- 
liche Bildung muß aber dabei ftet3 als Ziel im Auge behalten und alles 
ausgejchloffen werden, was Geift und Herz davon ablenken könnte. 

„Was nun zunädhft die Dichter betrifft (um damit anzufangen), fo find dieſe in 
ihren Werfen gar verjhiedenartig beichaffen, und man muß nit allen der Reihe 
nah gleihe Aufmerkſamkeit ſchenken. Wenn fie uns die Taten und Reben guter 
Männer vorführen, da muß man diefe lieben und ihnen naceifern und nad Mög: 


lichleit ebenſo zu werben traten. Wenn fie aber auf lafterhafte Menſchen fommen, 
muß man beren Nahahmung fliehen und fi die Ohren verftopfen, wie es der Sage 


! Gejamtausgabe ber Werke: Bafel 1532, Venedig 1535, Baſel 1551, Paris 
1618 1638; von Combefis 0. Pr. (Paris 1679), 3. Garnier und Pr. Daran 
(Mauriner, 3 Bde 2%, Paris 1721—1725), Migne (a. a. ©. XXIX— XXX). 
— W. Klose, Bafilius d. Gr., Stralfund 1835. — Fr. Böhringer, Die Kirdhe 
Chriſti und ihre Zeugen VIL®, Stuttgart 1875. — E. Fialon, Etude historique 
et litteraire sur St Basile, Paris 1869. 

® Ipös robs veoug ünwg Ay 2E Eiinvzüv npzioivro Aöyws ſMigné a. a. O. 
XXXI 563—590). 





38 Zweites Kapitel. 


zufolge Odyffeus beim Gefange der Sirenen getan. Denn die Gewöhnung an ſchlechte 
Neben ift ber Weg zu derartigen Taten. Deshalb muß die Seele mit aller Wach— 
famteit behütet werden, damit wir nicht über dem Genufie ber Worte unvermerkt 
Schlechtes in uns aufnehmen, wie jene, bie mit dem Honig Gift einichlürfen. Wir 
bürfen beshalb bie Dichter nit loben, wenn fie läftern unb fpotten, Verliebte und 
Zrunfene darjtellen, noch wenn fie die Seligfeit nad) reichlich beſetzten Tiſchen und 
zuchtlofen Liedern bemeſſen. Am wenigften Beachtung aber müflen wir den Dichtern 
ſchenken, wenn fie von ben Göttern handeln und wenn fie von ihrer Vielheit und 
von ihrem Widerſpruch untereinander berichten. Denn bei ihnen erhebt ſich ber 
Bruder gegen den Bruder und der Bater gegen die Söhne, und dieſe hinwieder führen 
unverföhnlichen Krieg mit den Eltern. Die Ehebrüche und Liebesgeſchichten und öffent- 
lichen Beilager der Götter, befonders des Zeus, des Oberften und Hödjften, wie fie 
ihn nennen, Dinge, über die man erröten müßte, wenn auch nur von Tieren bie 
Rede wäre, die wollen wir ben Leuten vom Theater überlafjen.” ! 


Daß Bafilius das tiefe Naturgefühl eines Dichters beſaß und es aud 
wahrhaft dichteriſch auszuſprechen wußte, ift Alerander v. Humboldt nicht 
entgangen, als er Umſchau über die Auffaffung des Naturſchönen in ver- 
ſchiedenen Zeiten und Yiteraturen hielt ?, 


„IH beginne“, jagt er, „mit einem Briefe Baftlius’ des Großen, für den ih 
lange jhon eine bejondere Vorliebe Hege. Aus Cäſarea in Kappadocien gebürtig, 
hatte Bafilius, nicht viel über dreißig Jahre alt, dem heitern Leben zu Athen ent- 
jagt, auch ſchon bie chriſtlichen Einfiedeleien in Eölefyrien und Oberägypten befucht, 
als er fih nad Art der vorchriſtlichen Eſſener? und Therapeuten in eine Wildnis am 
armeniihen Fluſſe Iris zurüdzog. Dort war fein zweiter Bruder Naufratius nad 
fünfjährigem jtrengen Anadoretenleben beim Fiſchen ertrunken. ‚Ich glaube endlich‘, 
ichreibt er an Gregorius von Nazianz*, ‚das Ende meiner Wanderungen zu finden. 
Die Hoffnung, mid mit dir zu vereinigen, ich jollte jagen, meine jühen Träume 
(denn mit Recht hat man Hoffnungen Träume der wachenden Menſchen genannt), 
find unerfüllt geblieben. Gott hat mich einen Ort finden laflen, wie er uns beiden 
oft in der Einbildung vorgeſchwebt. Was diefe uns in weiter ferne gezeigt, febe 
ich jet vor mir. Ein hoher Berg, mit dichter Waldung bededt, ift gegen Norden 
von friſchen, immerfließenden Waſſern befeuchtet. Am Fuße bes Berges behnt ſich 
eine weite Ebene hin, fruchtbar durch die Dämpfe, die fie beneken. Der umgebende 
Wald, in welchem ſich vielartige Bäume zufammendrängen, ſchließt? mich ab wie in 
eine ſeſte Burg. Die Einöde ift von zwei tiefen Talſchluchten begrenzt. Auf der einen 
Seite bildet der Fluß, wo er vom Berge ſchäumend herabftürzt, ein ſchwer zu über: 


ı Migne, Patr. gr. XXXI 568 f. 

2A. v. Humboldt, Kosmos II, Stuttgart 1847, 27—30. — Bol. Ville- 
main, Mölanges historiques et litteraires III 320—325. 

> Bon ben Efjenern jagt Plinius (5, 15): Mira gens, socia palmarum. 

* Ep. 19 (14) (Migne a. a. O. XXXII 276 277). 

5 „Ichließt fie jo ab, dab die Inſel der Kalypfo gering dagegen erſcheint, bie 
do wegen ihrer Schönheit Homer mehr als alles bewundert. Es fehlt ihr nicht viel 
zu einer Inſel, da fie von allen Seiten mit Bollwerken verfchanzt ift“. So heit es 
hier wörtlih. Humboldt hat die ganze Stelle ziemlich frei behandelt, aber bie Haupt» 
züge ber malerifhen Schilderung doch gut wiedergegeben. 





Die griehiichen Kirchenväter. Athanafius, Bafilius u. Gregor von Nyfe 39 


ſchreitendes Hindernis; auf der andern verfchlieht ein breiter Bergrüden den Eingang. 
Deine Hütte ift auf dem Gipfel jo gelegen, daß ich die weite Ebene überfchaue wie 
den ganzen Lauf bes Jris, welder jhöner und waflerreider ift als ber Strymon 
bei Amphipolis. Der Fluß meiner Einöde, reißender als irgend einer, ben ich kenne, 
bricht fi) an ber vorfpringenden Felswand und wälzt fi) Ihäumend in den Abgrund, 
dem Bergwanberer ein anmutiger, wundervoller Anblid, den Eingebornen nutzbar 
zu reichlichem Fiſchfang. Sol ich dir beſchreiben die befruchtenden Dämpfe, welche 
aus der (feuchten) Erde; die fühlen Lüfte, welche aus dem (bewegten) Waſſerſpiegel 
auffteigen ? Soll ih reden von bem lieblichen Geiang der Vögel und der Fülle 
blühendber Kräuter? Was mid vor allem reizt, ift die ftille Ruhe der Gegend. Sie 
wird bisweilen nur von Jägern beſucht; denn meine Wildnis nährt Hirſche und 
Herden wilder Ziegen, nicht eure Bären und eure Wölfe. Wie möchte ich einen andern 
Ort mit diefem vertaufhen! Alkmäon, nahdem er die Echinaden gefunden, wollte 
nicht weiter umherirren.‘ Es ſprechen fi in dieſer einfahen Schilderung ber Land» 
Ihaft und bes Waldlebens Gefühle aus, welche fih mit denen der mobernen Zeit 
inniger verfchmelzen als alles, was uns aus dem griechiſchen und römischen Altertum 
überlommen if. Von der einfamen Berghütte, in die Bafilius ſich zurüdgezogen, 
fentt fich ber Blid auf das fenchte Laubdach des tief liegenden Walbes. Der Ruhefik, 
nad dem er und jein Freund Gregorius von Nazianz fo lange ſich geiehnt, ift endlich 
gefunden. Die dichteriſch-mythiſche Anfpielung am Ende bes Briefes erklingt wie 
eine Stimme, die aus einer andern, früheren Welt in die KHriftliche hinüberſchallt. 

„Auch des Bafilius Homilien ! über bas Herasmeron zeugen von feinem Natur« 
gefühl. Er beichreibt die Milde der ewig heitern Nächte in Kleinafien, wo, wie er 
ſich ausdrüdt, die Sterne, ‚die ewigen Blüten bes Himmels‘, ben Geift des Menſchen 
bom Sichtbaren zum Unfihtbaren erheben. Wenn er in der Gage (sie!) von ber 
Weltihöpfung die ‚Schönheit bes Meeres‘ preifen will, jo beichreibt er den Anblid 
ber grenzenlojen Fläche in ihren verjchiedenen, wedhjelnden Zuftänden: ‚wie fie, vom 
Hauch der Lüfte fanft bewegt, vielfarbig, bald weißes bald blaues bald rötliches Licht 
zurüdtwirft; wie fie die Küfte liebkoſt in ihren friedlichen Spielen‘. Diefelbe jentimental- 
ihwermütige, der Natur zugewandte Stimmung finden wir bei Gregorius von Nyſſa, 
dem Bruder des großen Bafilius. ‚Wenn ich‘, ruft er aus, ‚jeden Felſenrücken, 
jeden Zalgrund, jede Ebene mit neuentiprofjenem Grafe bededt jehe, dann den mannig- 
faltigen Shmud der Bäume und zu meinen Fühen die Bilien, doppelt von ber Natur 
ausgeftattet mit Wohlgerud und mit Farbenreiz; wenn ich in der Ferne jehe das 
Meer, zu dem bin die wandelnde MWolte führt: jo wird mein Gemüt von Schwermut 
ergriffen, die nit ohne Wonne ift. Verihwinden dann im Herbſt die Früchte, 
fallen die Blätter, jtarren die Alte des Baumes ihres Schmudes beraubt, jo verſenken 
wir uns (bei dem ewig und regelmäßig wiederfehrenden Wechſel) in den Gleichklang 
der Wunberfräfte der Natur. Wer dieſe mit dem finnigen Auge ber Seele durch— 
ihaut, fühlt der Menſchen Kleinheit bei ber Größe des Weltalls.‘“ ® 


Gregor war bedeutend jünger als jein Bruder Bafilius, jo daß diejer 
ſtark auf feine Heranbildung einwirken fonnte. Er ward früh Xeltor, ver: 
tauſchte die kirchliche Stellung mit der weltlichen eines Rhetors, zog fi 
aber ſchließlich doch von der Welt zurüd und ward 371 Biſchof von Nyſſa. 








ı In Hexaim. 6, 1; 4, 6. 
* Aus verſchiedenen Stellen zufammengetragen: S. Greg. Nyss., Opp., 
Paris, 1615, I 49 539 210 780; II 860 619 324. 


40 Drittes Kapitel. 


Als ſolcher wohnte er 381 dem zweiten allgemeinen Konzil in Konftantinopel 
bei, wo er als tüchtiger Theologe eine Hervorragende Rolle jpielte. Er 
zeichnete fi durch Hohe jpekulative Begabung aus; in der Verwaltung des 
kirchlichen Hirtenamtes fand er aber weit hinter jeinem entſchloſſenen, tat= 
kräftigen Bruder zurüd. 

Seine Hauptwerfe find: „Die große Katecheje“, eine Begründung der 
wichtigſten hriftlihen Lehren gegen Heiden, Juden und Häretiter; die zwölf 
(oder dreizehn) Bücher „Gegen Eunomius“, eine der vorzüglichſten Streit: 
ihriften gegen den Nrianismus, und zwei Schriften gegen Apollinarius 
bon Laodicea. Bald nah dem Tode jeines Bruders Baſilius bejuchte er 
gegen Ende 379 feine Schweiter Makrina, melde er und Bafilius immer 
wie eine zweite Mutter betrachtet Hatten und welche nun auf einem ber 
Familie gehörigen Landgut am Fluſſe Iris mit andern Frauen ein gott: 
geweihtes Leben führte. Sie war ſchon dem Sterben nahe, ala er bei ihr 
eintraf, und jehnte fih nah dem Himmel. Das lebte Geſpräch der beiden 
Geſchwiſter drehte fih deshalb nur um das Wiederjehen in der befjeren 
Welt. Seinen Inhalt legte Gregorius jpäter in einem ſchönen Dialoge 
nieder: „Über die Seele und die Auferftehung“ (Ieot duzig xat dvaerd- 
oewc). Bon feinen Briefen find noch jehsundzwanzig erhalten; zwei der- 
jelben wurden dadurch berühmt, daB fie zu den früheſten Beſprechungen des 
„Wallfahrens“ gehören. In dem einen jchildert er feinen Schweftern Euftathia 
und Ambrofia den Befuh, den er auf einer Reife nach Arabien an ben 
heiligen Stätten in Jerufalem machte, den weihevollen Eindrud ihrer ehr: 
würdigen Erinnerungen, aber auch die traurige Lage des Gelobten Landes ; 
in dem andern tadelt er die Mißſtände, die er bei diefer Wallfahrt wahr: 
genommen, und jpricht ſich ziemlich ſcharf über die Gefahren folder Pilger: 
fahrten aus. Seine zahlreihen Reden find etwas überladen. In Redeform 
behandelte er auch das Leben feiner Schweiter Makrina und dasjenige des 
hl. Gregor des Wundertäters. 


Drittes Kapitel. 
Gregorius von Nazianz. Johannes Ehryfoflomus. 


Zu den beiden Brüdern gejellte fih als innigfter Geiftesperwandter ein 
dritter Happadocier, Gregorius von Nazianz, der Freund und Studien- 
genofje des Bafilius. Er war etwas älter, etwa 330 auf dem Landgut Arianz 
bei Nazianz geboren. Üüber jeine Kindheit wachte jeine fromme, heiligmäßige 
Mutter Nonna. Dann folgten lange Studienjahre an den berühmteften 
Schulen, zu Cäſarea in Kappadocien, zu Gäjarea in Baläftina, zu Alex— 


Gregorius von Nazianz. Johannes Chryjoftomus. 41 


andrien und Athen. Hier aufs innigjte mit Bafilius befreundet, folgte er 
diefem in die Einſamkeit von Pontus. Auch bei ihm jollte indes das 
Mönchsleben nur die geiftige Vorſchule des großartigften kirchlichen Wirlens 
jein. Er ward 361 Priefter, das Jahr darauf Biihof von Safina und 
dann Gehilfe feines Vaters, der die Würde eines Biſchofs zu Nazianz be- 
fleidet und den er den Neben der Hypſiſtarier entriffen hatte. Im Jahre 379 
beriefen ihn die Katholiten zu Konftantinopel in die Reihshauptitadt, um die 
dortigen kirchlichen Wirren beizulegen, im Mai 381 ward er von dem zweiten 
allgemeinen Konzil jelbft auf den Patriarhenftuhl von Sonftantinopel be- 
rufen, fand jedoch heftige Gegner und mußte jhon nah Monatsfriſt auf die 
faum erlangte Würde verzihten. Er zog fih nad) Nazianz, dann 383 in 
die Einſamkeit von Arianz zurüd und lebte hier ungeteift den Übungen der 
Frömmigkeit und wiſſenſchaftlichen Studien bis zu feinem Tode (um 390). 
Als jpefulativer Denter fieht er hinter feinem Namenspetter von Nyſſa zurüd, 
beherrichte aber die bereits ausgebildete Kirchenlehre in umfalfendftem Maße 
und brachte fie al3 Hinreißender Redner jo gewaltig zur Geltung, daß ihm 
ihon vom driftlihen Altertum der Ehrenname des „Theologen“ zu teil 
ward. In der flillen Muße, die er aber troß feiner glänzenden Redner: 
gabe immer und immer wieder aufjuchte, und welche in feinen lebten Lebens: 
jahren nicht mehr gejtört ward, entfaltete er feine große literarifche Begabung 
nit nur in einer reihen Brieffammlung (bei den Maurinern 243 Nummern), 
jondern trat auh — der erfle der großen Kirchenväter — als eigentlidher 
Dichter auf. 

Schon in den Briefen findet fi) vieles, was den eigentlihen Dichter 
verrät. Nicht etwa bloß häufige Reminiszenzen aus Homer, Pindar, Theognis 
und andern Dihtern, jondern die lebhafteften, oft abrupten Wendungen, die 
treffendften Bilder und Figuren, die natürlihften Äußerungen der jeweiligen 
Stimmung, wahrhaft lyriſche Gefühlsausbrüche und dann wieder die feinften 
epigrammatiſchen Sentenzen. Den Seleufios, der ihm das Höfterlihe Still- 
jchweigen als bäurifche Roheit (@yporzia) gedeutet hatte, fertigt er in einer 
wigigen Fabel von den Schwalben und Schwänen ab!: 

„Die Schwalben verjpotteten einmal die Schwäne, weil fie nicht mit den Men— 
fhen verkehren und öffentlid mufizieren wollten, jondern nur in den Wiefen und 
an ben fylüffen wohnten und die Einjamfeit Tiebten und nur wenig fängen, und 
was fie ſängen, für ſich fängen, ala ob fie fich der Mufit jhämten. Uns aber, jagten 
fie, gehören die Städte unb die Menſchen und die Gemächer, und wir ſchwätzen bei den 
Menſchen und ſetzen ihnen unfere Angelegenheiten auseinander, all die alten Geſchichten 
aus Attifa, von Pandion und von Athen und vom Tereus und von Thracien, von ber 
Auswanderung, der Berwandtichaft, der Beleidigung, von dem Ausſchneiden der Zunge, 
von den Buchſtaben und bejonders vom Itys und wie wir aus Menſchen in Vögel 


! Ep. 114 (Migne, Patr. gr. XXXVII 209 f.) 


42 Drittes Kapitel. 


verwandelt wurden!. Die Schwäne würbigten fie faun einer Antwort, weil ihnen 
ihre Gefhwäßigfeit zumider war; wie fie ſich aber dazu herbeiließen, fagten fie: 
O ihr (Schwäter)! Um unfertwillen fommt wohl einer aud in die Einfamfeit, 
um unfere Muſik zu hören, wenn wir dem Zephyr unfer Gefieder überlafien, damit 
er fühe Melodien darauf haude. Wenn wir deshalb aud) nicht viel und nicht für 
viele fingen, jo ift dod das am jhönften bei uns, dab wir im Liede philofophifch 
Mab halten und die Mufit nicht mit tobendem Gelärm vermiſchen. Ihr aber werdet 
den Menſchen, in deren Käufern ihr euch eingeniftet, zum Überdruß, und fie wenden 
fih von eurem Gefang ab. Und das mit vollem Recht. Denn obwohl euch die 
Zunge ausgejchnitten, könnt ihr nicht ſchweigen, ſondern klagt über eure Sprad)- 
lofigfeit und euern Jammer, und feid geſchwätziger als irgend einer der wohlzüngigen 
und gefangreihen Vögel. Verftehe, was ich fage, jagt Pindar, und wenn du findeft, 
daß mein Schweigen beffer ift als beine Nebfeligfeit, jo höre auf, mein Stillſchweigen 
zu bejpötteln. Sonft jage ih dir ein ebenſo wahres als Fluges Spridwort: ‚Die 
Schwäne werden fingen, wenn die Dohlen jchweigen.‘“ 


Gregorius gibt in einem feiner Gedichte vier Gründe an, weshalb er 
fi von der ungebundenen Redeform der gebundenen zugewandt habe: erftlich 
um feine literariſche „Maßloſigkeit“ (d. 5. ungezügelte Schreibjeligfeit und 
Breite) dur das Metrum Heilfam einzuſchränken; zweitens, um der Jugend, 
die num einmal an Spiel und Poefie Luft hat?, eine poetifche Unterhaltung 
zu bieten, die alle fittliche Gefahr ausjchlöffe; drittens, um den Ungläubigen 
zu zeigen, daß fie nicht das Monopol der Literatur befigen, jondern dab 
die Katholifen, wenn fie auch den Schwerpunft der Kunft in die religiöfen 
Ideale ſetzen, doch auch den Schmud der Rede mit kräftiger Anmut zu 
handhaben wiſſen; viertens endlih, um ſich in der Krankheit zu tröften und 
aufzuheitern und glei dem Schwane, nicht mit einem Klagegejang, jondern 
mit einem frohen Auszugshymnus von hinnen zu jcheiden 3. 

Zum vierten fand ich, von der Krankheit viel geplagt, 
Drin Linderung, glei einem alten Schwan, 

Im Flügelrauſchen mit mir jelbft zu ſprechen, 

Kein Klaggefang, ein Lied von froher Ausfahrt. 

Gregor: Gedichte jind überaus zahlreih und zum Teil don bedeutendem 
Umfang. Die Herausgeber feiner Werke haben fie in zwei Hauptgruppen 
geteilt: theologiſche und geſchichtliche; die theologischen ſchieden fie wieder in 
dogmatiſche und moraliſche, die geſchichtlichen in ſolche, welde von dem 
Dichter ſelbſt, und jolde, melde von andern handeln. Daran reihen fi) 
noch 129 Epitaphien und 94 Epigramme ®. 

ı Die „alten Geſchichten“ ſehr jhön erzählt bei Ovid, Metamorphofen VI 
420—720. 

. El zati zo zaldog mu dv Vzwpia, 

“Yniv iv obv rolg aopoig draifaner. 
> Carm. lib. 2, sect. 1, 39, n. 33 f (Migne, Patr. gr. XXXVII 1331 f). 


“Bei Migne a.a. O. XXXVII 397—1604; XXXVIH 9—136; Kommentar 
des Kosmas Hierofolymitanus zu denfelben ebd. XXXVII 339—630; Kommentar 


Gregorius von Nazianz. Johannes Chryfoftomus. 43 


Die dogmatiihen (38 an der Zahl) handeln von den einzelnen drei 
göttlihen Perfonen, von der Welt, von der Vorjehung, von den Engeln, 
von der Seele, von den zwei Teftamenten und der Ankunft Chriſti und 
von der Menſchwerdung. An dieſe längeren Dichtungen ſchließen fich 
Memorialverje über die Bücher der Heiligen Schrift, die Patriarchen, die 
Genealogie und die Wunder Chriſti ufw., und endlid verjchiedene Hymnen 
und Gebetälieder. 

Die moraliihen (40) beihäftigen jih mit den verſchiedenen chriſtlichen 
Tugenden, bejonders der Jungfräulichkeit, der Armut und Geduld. 

Die jelbfibiographiihen (99) find lyriſche Stimmungsbilder der ver: 
ihiedenften Art; einige geftalten fi} zu längeren poetiſchen Tagebüchern aus. 

Die übrigen Hiftoriihen (8) beziehen ſich auf einige wenige Freunde, 
die auch in der Korreſpondenz des Heiligen vertreten find. 

Die Stärke Gregors befteht im der Tyeinheit und Fülle der Sprade, 
der Leichtigkeit der Form, der Genauigkeit des theologiſch-dogmatiſchen Aus: 
druds bei inniger Wärme des Gefühle. Herameter, Diftihon, jambifche 
Trimeter, kurze anakreontiſche Verſe beherricht er mit fpielender Leichtigfeit ; 
dagegen hat er weder die künftlihen Formen der altgriechiſchen Lyrik gepflegt 
noch die freiere Rhythmik, im welcher ſich fpäter die liturgiſche Poefie ent: 
widelte. Seine ganze Poefie trägt einen durchaus perjönliden, fubjektiven 
Charakter. 

Seine Spradgewalt zeigt jih am glänzendften darin, daß er die 
feinften jpefulativen Begriffsbeftimmungen fo natürlih in die Formen der 
altklaſſiſchen Sprade zu gießen weiß, ald wäre dieje gleihjam als natür— 
liches Behifel der chriſtlichen Theologie entitanden. Seine deutſchen oder 
lateiniijhen Herameter können zugleih die Würde und Majeftät und den 
Wohllaut der Verſe wiedergeben, in melden er 5. B. die drei göttlichen 
Perſonen harakterifiert. Wer Hefiod oder Dante bewundert, der wird ihm 
noch mehr Bewunderung zollen müffen, da er von den Tiefen der Gottheit 
Dinge weiß, von denen der heidniſche Dichter feine Ahnung Hatte, fie aber 
mit einer Freiheit und Beftimmtheit behandelt, welde jene des großen. 
Ylorentinerd noch weit übertrifft. Erquidend und erhebend ift es ſchon, 
anftatt der dunkeln Rätjel der antiken Tragiker und der leichtfertigen 
Spielereien helleniſcher Mythologie, einmal das Lob des wahren, dreieinigen 
Gottes in der Sprache Homers zu vernehmen, tie in dem jhönen Hymnus 
„An Ehriftus“ : | 





des Nicetas David ebd. XXXVII 681-842. — Auswahl von Gedichten bei 
W. Christ et M. Paranikas, Anthologia graeca carminum christianorum, 
Lipsiae 1871, 23-832. — Überfegungsproben bei Fortlage, Gejänge hriftlicher 
Vorzeit 13 23 279 280 297 341. 


44 


Drittes Kapitel. 


Dich unſterblichen Monarchen 

Laß mich fingen, laß mich preiſen, 

Dich den König, dich den Herrſcher, 
Durch den Lied und Hymnen tönen, 
Durch den jaudhzt der Chor der Engel, 
Durch den fließt der Strom ber Zeiten, 
Durch den ftrahlt der Glanz ber Sonne, 
Durch den freift ber Lauf des Mondes, 
Durd) den glänzt die Pracht der Sterne, 
Durch den göttliches Erkennen 

Ward zu teil dem hehren Menſchen, 

Zu vernünft'gem Sein erkoren. 


Denn du ſchufeſt alle Dinge, 

Sekend Ziel und Orbnung jedem, 
Lenfend fie mit weiſer Vorſicht. 
Ausgeiproden, ward zur Tat bein 
Wort, dein Wort ift ber Sohn Gottes, 
Eins mit dir, desſelben Wefens, 
Gleihen Ruhmes mit bem Bater, 
Der das ganze All geordnet, 

Um zu herrſchen als jein König, 
Während Gott der Geijt, der Heil’ge, 
Aller Wejen Kreis umfpannend, 

Alle jorglich lenkt und leitet. 


Did, lebend'ge Dreiheit, lieb’ ich, 
Einen, einzigen Monarden, 
Wanbellojes, ew'ges Wejen, 

Bon Natur ganz unausſprechlich, 
Geift, der Weisheit unerreihbar, 
Nimmer ruh'nde Kraft der Himmel, 
Ohne Anfang, ohne Grenzen, 
Undurchdringlich hoher Lichtglanz, 
Der doch alles überichauet, 

Dem verborgen feine Tiefe 

Bon der Erde bis zum Abgrund. 


Vater, jhenfe mir Erbarmen, 
Daß ich dir in allem dienend 
Immerdar Anbetung zolle. 
Waſche ab von mir bie Sünben, 
Zäutere mir dad Gewifien 

Ganz von jedem böjen Sinnen, 
Auf daß ih die Gottheit preife, 
Hebend aufwärts reine Hände, 
Daß ih Ehriftus benebeie, 

Und fniebeugend zu ihm flebe, 
Daß er mid zum Knecht erfüre, 
Menn du einftens naht als König. 





Gregorius von Nazianz. Johannes Ehryioftomus. 45 


Vater, jchenfe mir Erbarnen, 
Laß mid Hilfe, Gnade finden, 
Daß dir Ruhm und Dank ertöne 
Bis in Zeiten ohne Ende! 


Sn der Begrenzung der einzelnen Stoffe iſt freilich die theologiſche 
Schablone nit abgeftreift, und jo nehmen ſich dieje „dogmatiſchen“ Gedichte 
allerdings auf den erſten Blid aus wie verfifizierte theologiſche Traktate. Das 
ift auch bei den „moralifhen“ der Fall, und da hier noch eine gewiffe orien- 
talifche Breite und Weitjhweifigfeit hinzutommt, die längften in Herametern 
oder jambiſchen Trimetern verfaßt find, jo mag andauernde Leſung derjelben 
leicht ermüden. Dennoch pulfiert in denfelben eine wahre und mächtige 
Begeifterung, und wer fi auf feinen Standpunft zu erſchwingen vermag, 
dag die KHriftlihe Jungfräulichkeit ein unendlih höheres deal ift als alle 
heidniſche Erotif, der wird in feinem langen Gedichte „Von der Yung: 
fräulichkeit” (e3 zählt 732 Herameter) viel Schönes finden, zumal er darin 
auch der ehelihen Liebe im Sinne des Chriftentums ganz und voll gerecht 
wird. Gerade die Stelle, wo er beide einander gegenüberftellt, mag als 
charakteriſtiſche Probe dienen: 


Wie wenn der Dialer zu dem Engelbild, 

Das, Schuldbeladne tröftend, licht und mild, 
Uns lächeln fol aus dunfler Kerferwand, 

Den Plan entwirft mit funftgeübter Hand: 

Er zieht erft Striche, zeichnet grau in grau 

Den Schattenriß zum leichten Gliederbau, 

Bis dieſer endlich fi dem Wuſt entwinbet 

Und der Geftaltung Müh’ in Huld verihwinbet: 


So nad dem erften Spruch vom Weibesſamen, 
An deſſen wunder Ferſe fih der Wurm 
Verbluten jollte; jo ald no im Sturm 

Der Herr erihien und vom erfehnten Namen 
In Stein gefhrieben dunkle Rätſel lamen: 
Da war nicht mehr, da war noch nicht geehrt 
Die reine Magdſchaft; wenige vernahmen 

Bon ihrer Spur, bis fi ihr Bild verflärt. 


Bis Gottes Sohn in einer Jungfrau Schoß — 
Die, unberührt von aller Knechtſchaft Los, 

Nicht aus des Mannes Willen Mutter ward — 
Gemwohnt und fi ben Kleinen offenbart. 

In Ave wandelt ba fih Evas Leib, 

Dem Machtgebote weicht der Hölle Neid, 
Empörten Sinnen ift die Kraft genommen, 

In ftarrer Schrift bes Geiftes Licht entglommen. 


Nun ftrahlet unverweltter Jugend Hulb 
Gelöft und löſend von den eiteln Schatten, 


Drittes Kapitel. 


Womit die Welt fih täufcht ob arger Schuld, 
So hoch erhoben ob dem Los ber Gatten, 
Wie fih der Geift über das Fleiſch erhebt, 
Der Sterne Chor die Erbe überjchwebt, 

Wie Gott und der Beftand in feiner Minne 
Mehr gilt, als, was er fhuf, daß es zerrinne. 


Und um bie Königin drängt fi ein Chor 
Bon Himmelsbräuten, bie zu Gott empor 

Dem Lamm anbetend folgen, ihm vermählet 
Unter bem Kreuz, das neu bie Welt bejeelet. 
Sie find geftorben allem, was vergeht, 

Und leben ihm nur, der, im Lichte thronend, 
In ihnen fpiegelnd zeigt, was fortbejteht: 

Sie jelbft in Gott und Gott in ihnen wohnend,. 


Herbei nun ihr, die ihr von Gattenliebe 
Bezaubert, ftolz im Jod, mit trunfnem Blid 
An goldner Kette folgt dem Herzensdiebe, 

Für Ebdelftein’ ein edleres Geihid 

Zum Opfer bringt dem Reiz unedler Triebe, 

In Samt gehüllt das ſchwellende Genid: 

So rühmt uns denn des Eh’bunds Herrlicfeiten, 
Dann joll die freie Reine mit euch ftreiten. 


„So hört uns alle denn, die ihr das Leben 
Der Macht verdankt, die Eins in Zweien ſchuf; 
Hör’ jeder, dem Berftand und Sinn gegeben 
Für der Natur geheimnisvollen Ruf! 

Heißt ung nicht übermütig wiberftreben 

Der Merdeluft, Die des Geſchlechts Beruf! 

Dem Schöpferwort ift diefer Bund entjprungen, 
Als Adams Seit’ die Männin fi entrungen. 


„Und wer erfand wohl Kunft und Wiſſenſchaft? 

Wer ſchloß die Tiefen auf der Forſcherkraft 

Zum reihen Schoß ber Erde, zu bem Meer 

Und zu der weiten Himmel fichtem Heer? 

Wer gründet Städte, füllt den Markt, den Saal, 
Spannt Segel, treibt zur Schlaht und lodt zum Mahl? 
Wer Ientt den Pflug, wer lenkt der Menſchen Herde, 
Der nicht Gejeß und Recht entliehn vom Herde? 


„Unb höher hebet fi} ber Liebe Ruhm 

In des Gemütes ftillem Heiligtum, 

Da fühlet ſich gedoppelt jede Kraft, 

Ya Freundeshand befreit aus Feindeshaft, 
Des Raumes Barın gelöft für Aug’ und Ohr 
Und doch in ſichrer Hut der Sinne Tor; 
Mitleid verfüht und mildert alle Veiden, 
Mitfreude mäßigt und erhöht die Freuden. 





Gregorius von Nazianz. Johannes Chryjoftomus. 47 


„Und höher hebt fi) noch der Liebe Ruhm, 
Wie fie ung eint in Gottes Heiligtum. 

Wer ſich allein lebt, heget fein Verlangen 
Nach immer neuer Hilfe; wenig danft 

Dem Geber er; indes das Herz im Bangen 
Um Kind und Gatte brünftig aufwärts ranft, 
Und in der Zwei und Dreien Mitte weilet, 
Der dem Gebete Kraft und Lohn erteilet. 


„Was ift das Leben ohne Liebesluft ? 

Gefühllos, träge, kalt, ja rauh und wild, 

Co jchleiht und fhweift der Sonberling; fein Schild 
Dedt heißer Jugend, matten Alters Bruft; 

Des Dafeins jelber wird fi faum bewußt, 

Wem nicht entgegenladt fein Spiegelbild. 

Wie wär’ eö möglich, fich bes Lebens freuen 

Und freunblos doc des Lebens Wurzel ſcheuen? 


„Do ift vielleicht des Selbentumes bar 

Die Eh’? — Sie liebt und ſucht nicht die Gefahr, 
Do zeugt fie Helden. — Wilder Riejen Leib 
Gebar die Erd’ allein; das keuſche Weib 

Erzieht in Ehren hoher Männer Mut. 

Bom Weibe ftammt, was groß ifl und was gut: 
So Moſes, Samuel, David, die Propheten, 

Die Starken all’ in Kämpfen, Lehren, Beten. 


„Wie ehrte Ealomon ber Mutter Thron! 

Bar nidt Elias eines Weibes Sohn? 

Wuchs nicht im mütterlihen Schuß Johannes? 
Woher die Zwölf? — und bes gewalt'gen Mannes 
Bon Zarios Flammenjhwert? — und woher wir, 
Und die ihr euch des Urſprungs ſchämet, ihr? 
Wollt einfam ihr, den Eltern ungleich, fterben, 

So nennt doch danfbar euch der Eltern Erben!” 


Genug! — So komme nun bie ſcheue Maid, 
Um fieggewohnt zu jchlichten dieſen Streit! 
Barfuh, in dunklem, ärmlihem Gewand, 

Den Blick gejenkt, die Wangen fonnverbrannt, 
Nur leicht gerötet jet von heil’ger Scham — 
So tritt fie, ftummberedt, ein wunderjam 
Gebild von Kraft und Schwäche, zarter Sitte 
Und Mut, bedächtig ernft in unfre Mitte, 


„Des Himmels Kind, im ew’gen Heiligtume 

Dem Engelchor gejellt und do zum Ruhme 

Der Erdbewohner noch im Fleiſche weilend 

Und armer Pilger Leib in Hulden teilend: 

Dein Knecht bin ich, dir weih’ ich Herz und Hand!" — 
Sie hört’s und ſpricht mir freundlich zugewandt: 


48 Drittes Kapitel. 


„Wozu mich ftören aus bem ftillen Trieben, 
Den mein Gemahl, der Friedensfürſt, beichieben ? 


„Ihm bien’ ich fern der Welt und ihrer Pradt, 
Ihm weine, büße, fing’ ih Tag und Nacht. 
Im Wortgefechte mag ein Kind mich meiftern, 
Für Markt und Bühne fi der Tor begeiftern! 
Eind’s Ehren, was bie eitle Menge ſchenkt? 

It Net, was fih nad jedem Hauche ſchwenkt? 
Mir gilt nur eins: in ew’ger Wahrheit Sonne 
Gott liebend nahn zu ew’ger Sllarheit Wonne.“ ! 


Wer möchte nicht nach all den verfänglichen Liedern hellenifher und 
römischer Erotik diefe neuen Attorde willlommen heißen, welde die Würde 
treuer Gattenliebe Schöner verherrlien, als fie ein antifer Dichter befungen 
bat, zugleih aber jene reinfte Minne feiern, welche das Herz mit nichts 
Geſchöpflichem teilt, fondern einzig und allein dem Quell aller Liebe, Gott 
ſelbſt, ſich hingibt? Und diefer erſte Frühling chriſtlichen Minnefangs nur 
ein paar Jahrzehnte nahdem Julian den Kult des alten Olymps berftellen 
wollte! Ein Mitjhüler Julians felbft Hat dieſes Loblied der wahren Minne 
angeftimmt. 

Auch die biographiichen Gedichte des großen Kirchenfürſten, Theologen 
und Möndes haben manches Feſſelnde, wenn man fi in jeine Zeit 
verhältniffe zurüdverfegt. Als ihn Parteiränte im Jahre 381 nötigten, auf 
den Patriarchenſtuhl von Konftantinopel und den Vorſitz des zweiten all: 
gemeinen Konzils zu verzichten, widmete er den Bilhöfen und der Stadt 
das folgende Abſchiedsgedicht: 


O ihr Prieſter, die ihr unblutige Opfer nur darbringt, 
Die ihr den einigen Gott in der Dreifaltigkeit ehrt! 
O ihr Geſetze, ihr Kaiſer, ber lauterſten Frömmigkeit Lichter! 
Du auch, des glorreichen Manns, Konftantins, herrliche Stadt! 
Romas Erbin, jo glanzvoll die Städte der Welt überftrahlend, 
Wie fternflimmernd der Dom Gottes die Erb’ überftrahlt! 
Höret, o hört mich, ihr Edlen: was hat nur der Neib mir bereitet? 
Warum vertrieb er mid, fern von der geheiligten Schar 





ı Hapdeving Erarog (In laudem virginitatis) ®. 189— 367 (Migne, Patr. gr. 
XXXVII 537—550), frei in Stangen bearbeitet von (Kardinal) 3. 9. Newman, 
Die Kirche der Väter (deutih von J. Kayjer, Köln 1859) 108—111. Einzelne 
Stellen find verfürzt, anbere erweitert und paraphrafiert; mit Recht jagt indes New- 
man: „Ih muß aber den Leſer au hier vor der Meinung warnen, meine Über 
ſetzungsverſuche könnten ihm eine richtige Vorftellung von Gregors Dichtungen geben. 
Sollte man mir aber einwenden, daß ich dann dem Dichter unrecht tue, jo antworte 
ih, dab ich das Original in meinen Verfen wenigftens ebenfo treu wiedergebe, als 
wenn ich eine genaue Überfegung desjelben in Proſa machen wollte.“ 


Gregorius von Nazianz. Johannes Chryioftomus. 49 


Gläubiger Söhne, nachdem ih fo lange gefämpit und bes Himmels 
Lehren erleuchtet, dem Fels lautere Quellen entlodt? 
Soll ih zum Lohne nun Schreden und bittered Drangfal erbulden, 
Weil aus der Irr' ih das Volk führt’ auf die Wege des Heils? 
Soll fih ein andrer nım weiden an dem, was ich ſchuldlos verloren, 
Stürmiſch befteigen ben Thron, der ihm mit nichten gebührt, 
Den ich allein nad Gottes und feiner erforenen Diener 
Willen befaß? O zur Qual find mir die Ainechte bes Herren, 
Die, in unfeligem Hader einanber befämpfend, an mir num 
Feindlihe Unbill verübt; Chriftus, dir fei es geklagt! 
Denn nicht kämpft' ich vermeflen ben Kampf einer einzelnen Rotte, 
Auch nichts Irdiſches ging fiber den Heiland mir je. 
Nein, als Verbreden nun gilt’s, daß ich nicht, wie andere wohl, abfiel, 
Nicht wie der Nahen mid hing an das befraditete Schiff. 
Darob ward ich verhaßt leichtfertigen Seelen, die ſchmählich 
Jetzt auf den heiligen Thron feßten die Freunde der Zeit. 
Aber dies bede Hinfort der Vergeſſenheit Schoß. Ach entweidhe 
Froh aus dem Haber der Welt jeht in bes Friedens Aſyl. 
Wilfig entjag’ ich dem Hof und ber Stadt und ber Priefter Gemeinſchaft, 
Allen zumal, wie ih felbft mir es vor Jahren eriehnt, 
Als der Allmädtige mich jo in nächtigen Träumen berufen 
Wie in bes wogenden Meers furdtbar erbraufendem Sturm. 
Darum nun jubelt mein Herz, vor den Neidern geborgen, und freudig 
Werf' ih nah ftürmiiher Fahrt Anker im jhimmernden Port. 
Jetzt erſt erheb’ ich den Geift in lauterm, beſchaulichem Sinnen, 
Bringe mein Schweigen, wie einft Worte, ald Opfer dem Seren. 
Alfo lauten die Worte Gregord des Nazianzeners: 
Für feinen Heiland und Herrn tat er auf alles Berzicht '. 


Se weniger im ganzen die herrjchende Zeitrihtung mit ihrer ftarf 
rhetoriſchen Färbung, ihren theologiihen Kämpfen und Streitigkeiten, ihrer 
materiellen Überfultue die Poeſie begünftigte, defto mehr Gelegenheit zur 
Entwidlung bot fie der religiöjen Beredfamfeit, und diefe hat an all den 
bereit3 erwähnten Kirchenlehrern ziemlich hervorragende Vertreter gefunden, 
bejonders an Gregorius dem Theologen. Noch größeren Ruhm auf dieſem 
Gebiet erwarb ſich aber einer feiner Nachfolger auf dem Patriardhenftuhl 
von Konftantinopel: Johannes, wegen jeiner Beredjamfeit der „Goldmund“ 
(Chrysostomus) zubenannt. Soweit fih die politifche oder panegyriiche 
Rede der Antifen mit der hrifllihen Rede vergleichen läßt, fteht derjelbe 
faum hinter einem Demofthenes oder Iſokrates zurüd. Die Erklärung religiöfer 
Myſterien, die Deutung mehr oder weniger dunkler Schriftterte, die An: 
wendung der höchften übernatürlihen Grundſätze auf die Fragen des Alltags: 
lebens ftellen aber dem Redner ſchon eine ganz andere Aufgabe, ala fie der 


ı Ipös tobs tus Awvoravrıwourilsws tspdag zal abrhy Tyv zoiw (Carm. lib. 2, 
sect. 1, 10; Migne, Patr. gr. XXXVII 1027). — überſetzt von Abd. Elliſſen, 
Verſuch einer Polyglotte I, Leipzig 1846, 178 ff. 

Baumgartwer, Weltliteratur. IV. 3. u. 4. Aufl. 4 


50 Drittes Kapitel. 


politiiche oder fonftige profane Redner je zu löſen hat, und vollends die 
Anforderung, das von irdiſchen Gelüften und Neigungen befangene Menſchen— 
herz durch die ganze Stufenleiter der Gefühle aus jeiner Indolenz oder aus 
jeinem MWiderfireben aufzurütteln und den Willen zum Höchſten und Idealſten 
zu entflammen, läßt ſich faum mit der Anwaltſchaft einer politiichen oder 
gerichtlihen Frage vergleihen. Der geiftlihe Redner muß fat beftändig die 
bedeutjamften philofophiihen Fragen ftreifen und fie mit praftiihen Zielen 
in Verbindung ſetzen, die nüchternſten Wahrheiten rationell begründen und 
Hinwieder mit dem höchſten Zauber der Poeſie und einer von allen Schladen 
geläuterten Leidenſchaft bejeelen. Das Bibelwort jelbft, jeine mächtigſte Waffe, 
macht den Kriftlihen Redner vielfah zum Propheten und Dichter, ohne daß 
fih die Dichtung dabei zum jelbftändigen Kunſtwerk entfalten fann. 

In diefem Sinne gehört auh Johannes Ehryſoſtomus einiger: 
maßen der Literatur an, der wortgewaltigite Prediger der griehiichen Kanzel. 
Seine Werke (griehiih und lateinisch) füllen in der Ausgabe Montfaucons 
dreizehn große Foliobände. 

Von Geburt an war er eigentlih Syrer, von reicher und angejehener 
Familie (344) in Antiodhien geboren. In feiner Ausbildung wirkten diejelben 
drei Elemente zujanımen wie bei Baſilius dem Großen: erftlih eine tief: 
religiöfe Erziehung durch jeine Fromme Mutter Anthuſa, wodurch die 
hriftlihe Wahrheit die tiefften Wurzeln in jeiner Seele ſchlug; dann eine 
vorzüglihe profane Schulung in Literatur und Philojophie durch den Rhetor 
Libanius, den Verteidiger des finfenden Heidentums, und den Philoſophen 
Andragathius; endlih die Schule ernfter und ftrenger Mönchsaskeſe in 
jehsjähriger völliger Abgeihiedenheit (375— 381), nahden er ſchon zuvor 
längere Zeit im Elternhaufe das Leben eines Einfiedlers geführt Hatte. So 
wurden die religiöfen Ideen des Chriftentums die eigentlihe Seele jeines 
Lebens, die klaſſiſche Bildung, melde fein Lehrer Libanius bewundert, zum 
lebendigen Mittel und zur fruchtreichen Ausftattung feines apoftolifchen 
Berufes. Denn troß langen Widerftrebens und zeitweiliger Flucht, zu deren 
Rechtfertigung er die herrlichen jehs Bücher vom Prieſtertum! jchrieb, ließ 
er ſich 381 zum Priefter weihen und unterftüßte feinen Biſchof Flavian Haupt- 
jählih dur jein Wirken als Kanzelredner. Aus den jechzehn Jahren diejes 
Wirken? ftammen die meiften und berühmteften feiner geiftlihen Reden, die 
fih in der Form der Homilie fait jämtlih der Heiligen Schrift anſchließen 
und nahezu alle Bücher des Alten und Neuen Teftamentes erklären. Im 
Gegenjag zu andern Vätern, die mit Vorliebe den myſtiſchen Sinn ber 
Schrift behandeln, geht er meift vom nädjftliegenden, buchſtäblichen Literalfinn 


ı Nicht ſechs „Reden“, wie Chriſt meint (Geichichte der griechiſchen Lite: 
ratur? 905). 





Gregorins von Nazianz. Johannes Chryſoſtomus. 51 


aus und knüpft daran feine oft in den erhabenjten Schwung ausflingenden Be: 
trahtungen und Ausführungen. Am meiften Bewunderung fanden die Homilien 
über die Pſalmen und über den Römerbrief. „Namentlih“, jagt Iſidor von 
Peluſium, „in der Erklärung des Briefes an die Römer ift des gelehrten 
Johannes Weisheit in Schägen aufgehäuft. Ich meine nämlich (und niemand 
glaube, ich redete jemand zu Gefallen), wenn der göttlihe Paulus fich jelbft 
in attiiher Sprade hätte erklären wollen, jo würde er nicht anders erklärt 
haben, als jener berühmte Meifter es getan. So jehr zeichnet ſich jeine 
Erklärung ſowohl durd den Inhalt als die jchöne Form und den treffenden 
Ausdrud aus,“ 

Sein Ruf drang in weite Ferne. Er wurde 397 auf den Patriarhenftuhl 
nad Konftantinopel berufen und bewährte feinen Ruf durch die Macht feines 
Wortes wie duch fein oberhirtliches Wirken. Sein glühender Eifer, die 
Mipftände zu heben, welche unter dem Klerus der Hauptitadt malteten, 
erwedte ihm indes bittere Gegnerihaft, und jeine Feinde wußten auch den 
Hof gegen ihn zu flimmen. Schon 403 ward er durd) eine vom Hofe 
berufene Bifchofsverfammlung (die fog. Eichenſynode) jeiner Würde entjebt, 
mit Rückſicht auf feine Beliebtheit beim Volke zwar bald wieder zurüdberufen, 
aber auf Beranlaffung der Kaiſerin Eudoria, die feinen Freimut nicht zu 
ertragen vermochte, am Karjamstag 404 bewafinet aus jeiner Kathedrale 
vertrieben, dann aus der Stadt verbannt. Sein übrige: Leben war das 
Martyrium eines vielgequälten Verbannten. Von Antiohia ward er auf 
fatlerlihe Ordre nah Pityus an das Oftufer des Schwarzen Meeres geſchleppt, 
erlag aber jeinen Mühſalen jhon zu Gomana in Pontus am 14. Sep: 
tember 407. 

Auch an Chryſoſtomus betont Humboldt! das tiefe, liebevolle Natur: 
gefühl, das mit einer religiöjen Auffaffung der Natur als Verherrlihung 
Gottes Hand in Hand geht. Er führt dafür eine Außerung an, welche ſich 
in den Homilien häufig wiederfindet: 

„Sieht du ſchimmernde Gebäude, will dich der Anblid der Säulengänge ver- 
führen, jo betrachte fchnell das Himmelögewölbe und bie freien Felder, im melden 
die Herden am Ufer ber Seen weiden. Wer verachtet nicht alle Schöpfungen ber 
Kunft, wenn er in ber Stille bes Herzens früh die aufgehende Sonne bewundert, in— 
dem fie ihr goldenes (frofosgelbes) Licht über den Erdfreis gieht; wenn er, an einer 


Duelle im tiefen Grafe oder unter dem dunfeln Schatten dihtbelaubter Bäume ruhend, 
fein Auge weidet an der weiten, bämmernb hinſchwindenden fFerne ?” ? 


Der Gegenjag zwiſchen Natur und Kunſt ift aber nicht, wie Humboldt 
andeutet, als Treindjeligkeit gegen die Kunſt überhaupt aufzufaffen, jondern 
nur als folhe gegen den Mißbrauch der Kunst durch heidniſche Üppigkeit, 


’ Kosmos II 30. 
®?S. Ioan. Chrys, Opp., Paris. 1838, IX 687; II 821 851; 1 79. 
4” 


52 Biertes Kapitel. Synefius. 


Luxus und Entartung, wie er als Hindernis dem Ghriftentum entgegenjtand 
und von deſſen Verkfündern notwendig befämpft werden mußte. Im übrigen 
zeigt. der gewaltige Redner für den Menſchen, fein Streben und Ringen, 
jein Sinnen und Tradten, für alle Stände und Verhältniſſe, für das 
Erhabene und Große wie für das Kleine und Unſcheinbare ein ebenſo ver— 
fändnisvolles, liebendes Herz wie für die Natur. Er ſchaut und ſchildert 
alles mit der friichen Lebendigkeit und Beweglichleit des Hellenen ; aber zum 
höchften, hinreißendſten Pathos erhebt ſich feine Rede erft, wo die größten 
Lebensfragen in Betracht fommen, welche die Tragifer nit zu löjen ber- 
mochten, welche aber das Kreuz des Welterlöferd bald im milden Lichte von 
Bethlehem, bald im Blitesglanz des MWeltgerichtes oder im en des 
Paradiejes erleuchtet. 





Viertes Napitel, 


Spnefius. 


Nachdem das Chriftentum fi ſchon jeit mehr als einem Jahrhundert 
in Alerandrien eingebürgert hatte, theologiihe Fragen und Kämpfe im 
Vordergrund des Intereſſes fanden, blühten dafelbft auch noch die viel- 
feitigen Profanftudien der helleniftiihen Zeit weiter und mit ihnen aud die 
frühere heidniſche Philoſophie. Der merkwürdigfte Repräjentant des UÜber— 
gangs diefer reife zum Chriftentum ift der PhHilofoph und Dichter Synefius!. 
Er murde —— den Jahren 370 und 375 zu Cyrene in der Pentapolis 

ı Gefamtausgabe feiner Schriften von Dionyfius Petapvius, Paris 1612 
1631 1633 1640, abgedrudt bei Migne, Patr. gr. LAVI, Paris. 1859 1864. — 
Unvollftändige Gejamtausgabe von J. G. Krabinger, Landshut 1850. — Die 
zehn Hymnen, herausgeg. von: 3. F. Boiſſonade (Poetarum graec. sylloge XV, 
Paris. 1825, 97—160), W. Chrift und M. Paranifas (Anthol. graec. carm. 
christ., Lips. 1871, ıx—xır 8—23), J. Flach, Tübingen 1375. — Die Briefe 
bei R. Hercher, Epistolographi graeci, Paris. 1873, 638—739. — Die Rede 
über das Königtum, deutfjh von J. G. Krabinger, Münden 1825; Das Lob 
der Kahlköpfigkeit, von bemf., Stuttgart 1834; Die Ägyptifhen Erzählungen, von 
demſ., Sulzbach 1835. — Fr. &. Kraus, Studien über Synefiod von Kyrene 
(Theol. Quartalſchrift XLVII, Tübingen 1865, 381—448 537—600; XLVII [1866] 
85—129). — R. Volkmann, Synefius von Cyrene, Berlin 1869. — H. Druon, 
Oeuvres de Synesius, précédées d’une &tude biographique et litteraire, Paris 
1878. — €. Gaifer, Des Synefius von Cyrene ägyptiſche Erzählungen, Wolfen: 
büttel 1886. — D. Seed, Studien zu Synefios, im „Philologus* LII, Göttingen 
1893, 442—483. — A. Gardner, Synesius of Cyrene, philosopher and bishop, 
London 1886. — ©. M. Dreves, Der Sänger der Kyrenaifa, in Stimmen aus 
Maria-Laach Lil (1897) 545—562 (mit Überjeßungsproben aus Hymnus I II V 
VIIXX). 


Synefius, 53 


geboren als Sohn einer Adelöfamilie, welhe ihren Stammbaum bis in die 
helleniſche Heldenſage, auf den Heratliden Eurpfthenes, hinaufdichtete. Zu 
Aerandrien führte ihn Hypatia, die gelehrte Tochter des Mathematiters 
Theon, in die neuplatoniſche Philofophie ein, für die er ſich lebhaft begeifterte 
und die er mit einem hoben, myſtiſchen Idealismus erfaßte. Hypatia aber 
verehrte er als Freundin zugleih, Schwefter und Mutter. Nicht minder 
pflegte er auch Poetik und Rhetorik, Mathematit, Phyſik und Aftronomie. 
Er muß früh zum glänzenden Redner herangereift fein. Denn die ſchwer 
bedrängten und ausgejogenen Städte der Pentapolid jandten ihn 397 nad 
Konftantinopel, um vom Kaifer Arcadius Schuß, Hilfe und Beiftand zu 
erflehen. Als Zeugnis des hohen Freimuts und der Tüchtigkeit, mit welcher 
er ſich jeines Auftrags entledigte, ift feine Rede, die er 399 vor dem Kaiſer 
hielt, noch erhalten!,. Einen der vornehmften Staatsbeamten, Päonius, 
gewann er durch das Geſchenk eines jilbernen Aftrolabiums, an dem Hypatia 
jelbjt gearbeitet hatte; die Begleitihrift, welche die vieljeitigften Kenntniſſe 
vorausfegt, ift ebenfalls no) vorhanden?. Allerlei Berhältnifie am Kaiferhof 
jhilderte er verfappt unter dem Mythos des Oſiris und Typhon mit dem 
Titel: „Ngyptifhe Erzählungen, oder über die Vorjehung.” 3 Erjt nad 
drei Jahren fehrte er in die Heimat zurüd, mit günftigen Ergebniffen für 
jeine Landsleute, deren Vertrauen und Achtung er in höchſtem Grade gewann. 
Ein Aufenthalt in Athen ließ ihm ſehr unbefriedigt, Dagegen nahm er feine 
Studien nohmal3 an der Seite Hypatiad in Alerandrien auf (402—404) 
und jeßte diejelben dann auf feinem Landſitz in Cyrene fort. Eine hriftliche 
Gattin, von welcher ex mehrere Kinder hatte, jcheint religiöfen Einfluß auf 
ihn gewonnen zu haben. Doc blieb er in heidniſchen Anfchauungen be- 
fangen und jchrieb ganz in der Art der früheren Alerandriner ein Gedicht 
„Über die Jagd“ * und ein „Lob der Kahlköpfigkeit“, Gegenftüd zu der 
Lobrede, welche Dio Chryjoftomus „auf die Haare“ gehalten Hatte, aud) 
eine ziemlih dunkle, jchwerverftändliche Abhandlung „Über die Träume“, 
welche fi) aber gegen den Schluß Hin nicht undeutlih als einen Angriff 
gegen die von der alttlaffiihen Poeſie und Tradition abgefallene, völlig 
jubjektiviftiiche Bielfchreiberei der Sophiften verrät. Alle diefe Schriften find 
noch von heidniſchem Geiſt getränft, doc nicht von jenem offiziellen Staats: 

ı IIzpt Banssias (Migne, Patr. gr. LXVI 1053—1108). Mit großer Energie 
fordert er darin ben jugendlichen, verweichlichten Herrſcher auf, ſich aufzuraffen und 
die Barbaren, weldhe beftändig bie Sicherheit des Reiches bedrohten, von deſſen Grenzen 
zurückzudrängen. 

2 rip roö dwpou derpolaßiov (Migne a. a. O. LXVI 1577—1588). 

3 Alyixreor Ädyor # mept zpovolas (Migne a. a. O. LXVI 1209-1281). 

* Kurnyarızd. — Valazpas Eyrapıov. — Ilspi dvursios. Die letztere Schrift 
trägt am meiften neuplatonifches Gepräge. 


54 DViertes Kapitel. 


gögendienft, den Kaiſer Julian wieder hatte zur Herrihaft bringen wollen, 
ſondern von jener theoſophiſchen Weisheit, welche die Schriften der Neu: 
platoniter beherrjchte und manche Ideen aus dem Alten und Neuen Teftament 
aufgenommen und ſynkretiſtiſch mit willfürlichen Spelulationen verihmolzen 
hatte. In feinen Schriften ift feine Spur von jener ernften Kenntnis der 
Heiligen Schriften, welche feit Klemens und Origenes den Wifjenstern der 
griechischen Kirchenlehrer ausmadte. Da ift feine Rede von Chriſtus und Er: 
löfung. Bon Gott wird nur gejproden, wie es bei den Neuplatonifern üblic) 
war. Statt der Apoftel und Propheten wurden tieder Homer und Pindar 
zitiert, ftatt bibliſcher Erzählung altgriehiihe Mythen und Anekdoten. Es 
begreift ſich, daß eine joldye geradezu heidniſche Renaiffance, Hundertundfünfzig 
Jahre nah dem Tode de3 Drigines, dreißig nad jenem des großen Atha- 
nafius, im chriſtlichen Alerandrien lauten Widerſpruch Herborrief. 

Auh unter den Neuplatonifern waltete damals ſchon eine moftifch- 
philoſophiſche Richtung vor, welche die eigentlich helleniſche Bildung nicht 
begünftigte, vielmehr durch Enthaltfamteit, Lebensftrenge, asketiſche Übungen, 
Pieudompftif und Theurgie das Ghriftentum zurüdzudrängen ſuchte. Da 
fih unter die ägyptiichen Mönde, deren man damals viele Tauſende zählte, 
manche Unberufene einjhlihen, war aud das Ordensleben von der Blüte, 
die es unter Pahomius entfaltet hatte, bereit3 herabgejunten und mannig— 
fahen Mißbräuchen und Übertreibungen anheimgefallen. 

Syneſius fleidete jeine Entgegnung in eine Lobſchrift auf den Rhetor 
Dio Chryſoſtomus. ALS feinen Widerpart ftellt er aber ſehr deutlih das 
Möndstum hin. „Ich Habe”, jagt er, „barbariſche Menſchen beiderlei 
Gejhlehts aus den vornehmften Familien kennen gelernt, welche ſich zur 
religiöfen Beihauung bekannten und fi darum von aller bürgerlichen Ge: 
meinshaft und Verwaltung unter den Menjchen trennten, indem fie glühend 
verlangten, fi von der Natur loszumaden; fie hatten feierliche Gelänge 
und heilige Zeichen und gewiffe Annäherungsmittel an das Göttliche. Das 
alfes jchneidet fie ab von der Hinwendung zur Materie, und fie leben ab— 
gejondert voneinander, um nichts Angenehmes zu jehen oder zu hören. 


„Und fie efien fein Brot, noch trinken fie funfelnde Weine.“ ! 


Indem er num die Sade jo hinftellt, al& wollten die hriftlihen Asketen 
fih jchon hienieden völlig von der Natur losmachen und ein rein geiftiges, 
in Gott verfuntenes Leben führen, wigelt er in launiger Weife darüber, daß 
fie das doch nicht zuftande brädten, die wenigften ſich an der geiftigen 
Schönheit erjättigten, und ſelbſt diefe ſchließlich nicht unausgejeßt mit gött- 
lichen Dingen fi befaffen könnten und deshalb, um den Müßiggang zu 


I Im H repi vis za kauröv draywyäs ec. (Migne, Patr. gr. LXVI 11297). 


Synefius, 55 


meiden, zu Korb: und Mattenfledhten ihre Zuflucht nähmen, ſich daran er- 
bolten und erluftigten und ſich jogar daran erfreuten, die ſchönſten Körbe und 
Matten zu liefern. Er gibt num zu, daß die Barbaren, d. h. die Nicht- 
Griechen, mehr Feſtigleit und Standhaftigfeit beſitzen als die Griechen, welche, 
mit feineren Eitten und janfterem Charakter ausgeftattet, leichter in etiwas 
nadhlaffen. Aber auf eben jenes Bedürfnis der Erholung und Abipannung, 
das die leiblihe Natur jelbft den Mönchen auferlegt, gründet er feine For— 
derung einer höheren literariichen und profanen Bildung, 


„Ich wünſchte vecht fehr“, fagte er, „es läge in unferer Natur, beftändig geiftiger 
Beihauung obzuliegen. Da das aber erwiejenermahen unmöglich ift, jo möchte ich 
mi bald mit ben beften Dingen beichäftigen, bald zur Natur herabfteigend mir 
einige Erheiterung verſchaffen und das Leben mit Frohmut würzen. Denn ich weiß, 
daß ich ein Menſch bin und kein Gott, jo daß ich für jedes Vergnügen fühllos wäre, 
noch ein Zier, dab ich die Freuden bes Leibes fuchte. Wir müfjen alfo etwas in 
der Mitte Suchen. Was kann das fein, als die Erholung an wiflenfhaftlicher Bil— 
dung und durch willenfchaftliche Bildung? Welche Freude ift reiner? Welche Leiden- 
ſchaft Teidenfchaftlofer, welche immaterieller, welche matellojer? Bon diefer Seite hin- 
wieber ziehe ich den Hellenen dem Barbaren vor und halte ihn für weiſer, weil er, 
wo man ſich einmal herablaffen muß, gleich in der Nachbarſchaft innehält; denn er 
hält in der Wiffenihaft inne. Die Wiſſenſchaft aber ift ein Ererzitium des Ver— 
ftandes: fie geht von einem Begriff zum andern über, von demjenigen, von dem fie 
ausgegangen. Was fteht aber dem Geifte näher als ber Begriff, und welches Fahr: 
zeug ift ihm paflender? Denn wo immer der Begriff, da ift auch der Geift; wo 
nicht, Doc irgend ein Erkennen untergeordneter Art, Denn aud hier werden einige 
untergeordnete Tätigkeiten bes Geiftes Beihauung und beſchauliche Erfenntniffe 
(Theorie und Theoremata) genannt, wie Rhetorik, Poetif, Phyſik und Dtathematik. 
Alles dieſes vervollkommnet jenes (geiftige) Auge, heilt die Triefäugigfeit, und indem 
es den Geift an das finnlih Wahrnehmbare gewöhnt, regt es ihn an, jo daß er fi 
an höhere Beihauung heranwagt und nicht mehr leicht blinzelt, auch wenn er in bie 
Sonne haut. So übt der Grieche, auch wo er fich erluftigt, feine Geiftesfraft und 
zieht aus dem Spiele Gewinn für feinen Hauptzwed. Denn eine Rebe oder ein Ge- 
dicht beurteilen oder verfaflen, wäre das dem Geiſte fremb? Und den Ausdrud ver- 
beffern und bdrechieln und den Hauptſatz herausfinden und eine Dispofition anlegen 
oder die Anordnung eines andern herausfennen, wie wären das Lappalien und 
Spielereien? Diejenigen aber, welde den andern Weg wandeln, welder als ber 
‚diamantene‘ gilt (und es foll zugegeben werden, daß einige tatjählih jo zum Biel 
gelangen), fcheinen mir eigentlich gar feinen Weg zu gehen. Denn wie künnte das 
ein Weg fein, auf dem fich kein ftufenmäßiger Fortſchritt, nichts Erftes und nichts 
Zweites und gar feine Ordnung zeigt ?* ! 


Das Hört fih ganz jhön an und entjpridht ungefähr der Stellung, 
welche Baſilius dem Studium der heidnifchen Klaſſiker in feiner erwähnten 
Rede anweiſt. Bei Synefius orbnet fi) jedoch die formelle Bildung nicht 
der chriſtlichen Wiſſenſchaft, fondern nur der neuplatoniſchen Philoſophie 





AMigne a. a. O. LXVI 1133. 


56 Viertes Kapitel, 


unter, Der PhHilofopgin Hypatia, welcher er die Schrift vor deren Ber: 
öffentlihung zur Einſicht zufandte, jchrieb er in dem Begleitbrief: 

„I Habe biefes Jahr zwei Bücher verfaht, eines durch Gott, das andere durch 
die Läfterungen ber Menſchen angeregt. Denn einige von den Leuten, bie in weißen, 
und andere, die in Ihwarzbraunen Gewanben einhergehen, behaupten, ich fündige 
gegen die Philofophie, weil ih im Ausdbrud Schönheit und Rhythmus fuche und den 
Homer erwähne und die rhetorifchen Figuren; als ob ein Philofoph ein Wortfeind 
fein und fi nur mit göttlihen Dingen beſchäftigen ſollte. Sie find freilih Beſchauer 
des Intelligibeln; mir aber wird es ſchon als Unrecht angerechnet, wenn ich mir von 
meiner Lebenszeit au nur etwas Muße nehme, die Sprade zu läutern und ben 
Geist aufzubeitern. Zu der Behauptung aber, ich fei nur zu Kindereien tauglich, 
wurden fie dadurch angetrieben, daß mein Gedicht von der Jagd, id weiß nicht wie, 
über mein Haus hinausgedrungen ift und ganz befonders einige junge Beute eifrig 
beihäftigt hat, denen Hellenentum und Anmut am Herzen Tiegt; dasjelbe beſitzt auch 
einige Torgfältig nach ber Poetif gearbeitete Züge, welche die alte Hand verraten, 
wie wir von den Statuen zu jagen pflegen. Doch einige unter jenen, bei welchen die 
Unwiſſenheit noch den Vortritt vor der Dreiftigfeit hat, find vor allen allzeit am meiften 
bereit, über Gott zu reden. Wenn du ihnen begegneft, wirft du alsbald Syllogismen 
über Dinge hören, die in feinen Syllogismus gehören, und Leute, bie es nicht be- 
gehren, überſchwemmen fie mit Neben, weil ihnen, wie mir fcheint, Vorteil daraus 
erwählt. Denn aus biejen Leuten gehen die Lehrer des Volles hervor, was ebenjo- 
viel bedeutet als das Füllhorn Amaltheas, von dem jene Gebrauch madhen zu müſſen 
glauben. Du erfennft, denke ich, leicht dieſes Geflecht, welches edleres Streben 
verleumbdet.* ! 


Es jpriht aus diefen Worten ſchon einige Gereiztheit und bittere Eatire. 
Doch Handelt es ſich dabei ficher nit um den Gegenſatz heidniſcher und 
chriſtlicher Bildung, jondern vielmehr um denjenigen helleniiher Schön— 
geifterei und einer mehr asfetiich-theologiihen Richtung, welche ſowohl die 
Philoſophie Platons als auch Poefie und Rhetorik geringſchätzig behandelte. 
Eine jolhe Richtung, oder wenigftens einzelne, die einer ſolchen Huldigten, 
hat e3 außerhalb und innerhalb der Kirche faft immer gegeben; fie ift 
durdaus nicht als Postulat kirchlicher Gefinnung zu betradhten, wie das 
Beijpiel der großen Kirchenlehrer zeig. Es ift recht wohl möglid, daß 
die MWiderfadher des Synefius nicht$ weniger ald „Diamantene”“ in der Art 
eines Origenes waren. 

Jrreligiös war Syneſius durchaus nicht. Er ſpricht oft und mit ge 
ziemender Ehrfurdt von Gott und der göttlihen Weltregierung. Eine der 
ihönften Stellen in der Rede „Über das Königtum“ ift diejenige, wo er 
dem Kaiſer das göttliche Walten als Vorbild der irdiſchen Herricher Hinftellt. 
Während feiner Gejandtihaft befuchte er alle Kirchen Konftantinopels, um 
jein Anliegen Gott anzuempfehlen. Seine Ehe ließ er von dem Patriardhen 
Theophilus einjegnen. 


! Epist. 155 (Migne, Patr. gr. LXVI 15583). 


Syneſius. 57 


Bei dem Volle von Cyrene genoß er das höchſte Anſehen. Als 
deshalb 409 der Bilhofsfig von Ptolemais, zugleih Metropolitanfig für 
die Pentapolis, verwaift war, wurde er dom Klerus und Bolt zum 
Biſchof verlangt. Wie er in einem Briefe an feinen Bruder Euoptius 
ſchreibt, wünjchte er um jeden Preis die Würde abzulehnen und wie bisher 
ihlihter Laie zu bleiben. Vielleiht um dies zu erwirfen, ließ er dem 
Batriarhen durch jeinen Bruder Forderungen jtellen, die nad bisheriger 
firhliher Praris mit der Übernahme der Würde unvereinbar waren. Er 
verlangte mit feiner Gattin auch fürder zufammenzuleben und ließ Theophilus 
daran erinnern, daß er jelbit fie ihm angetraut. Ferner begehrte er, bei 
feinen bisherigen philoſophiſchen Anſchauungen zu verharren, 3. B. daß die 
Seele Ihon lange vor dem Körper beitehe, daß die fichtbare Welt nicht zu 
Grunde gehen könne, dab die Auferftehung der Leiber nur allegoriich zu 
faffen jei. Nach Photius war dies von ihm wirklich erntlid gemeint. Da 
er aber ein ehrliher und tüchtiger Mann war, jo zweifelte Theophilus nicht, 
jeine philojophiihen Bedenten und Zweifel würden bald dem Lichte der 
Wahrheit weihen, und erteilte ihm die bilchöflihe Weihel. In der Tat 
fand er ſich nicht getäuſcht. Synefius umfing vollftändig den kirchlichen 
Glauben und erwies ſich al3 einen ganz trefflichen Oberhirten. Doch dauerte 
jein Wirken nicht lange. Schon nad vier Jahren (413) hören alle Nach— 
rihten über ihn auf, und man nimmt darum an, dab er um dieje Zeit 
geftorben. Den jehredlihen Tod der „gottgeliebten” Hypatia, die 415 in 
einem Boltsauflauf gefteinigt und in Stüde zerriffen wurbe, erlebte er 
nicht mehr. 

Aus der kurzen Zeit, da er erflärter Chriſt und Biſchof war, ift nicht 
viel von ihm erhalten, zwei Homilien in jehr fragmentariihem Zuftand, zwei 
ihöne Reden, eine über den Einfall der Barbaren in die Bentapolis (411) 
und eine zum Lobe des kaiferlihen Präfekten Anyfius, und endlich eine 
Anzahl Briefe, welche feine firhliche Gefinnung, feine demütige Unterordnung 
unter den Patriarchen Theophilus, Hohe Verehrung für den Hl. Johannes 
Chryſoſtomus, die Hingebendfte Hirtenforgfalt für die ihm andertrauten 
Seelen inmitten der ſchrecklichſten Kriegsunruhen und Prüfungen aller Art 
befunden. 

Den merfwürdigften Teil feines literariichen Nadjlaffes bilden überhaupt 
feine Briefe (155 an der Zahl), das einzige größere Denkmal, das von den 
damaligen Verhältniffen der Pentapolis Hunde gibt, zugleih das wichtigfte 
Atenftüd über jein Leben, ein jprechendes Bild jeines lebhaften, reichen, 


! Die wahrjheinlihfte Erklärung über jeine jhließlihe Erhebung zum Biſchof 
gibt J. A. Kleffner, Art. „Synefius" in Wetzer und Weltes Kirchenlexikon 
XI*®, Freiburg 1899, 1108—1117. 


8 Vierted Kapitel. 


feingebildeten, allerdings mehr künſtleriſch und myſtiſch als ftreng philoſophiſch 
und theologiſch angelegten Geiſtes. Er war ein echter Hellene, und wie 
chriſtliche Einflüffe die guten Seiten des Hellenismus feineswegs unterdrüdten, 
. Jondern hoben und veredelten, zeigt ſich vielfach in feinen übrigen Schriften; 
am meiften tritt dies aber in den zehn Hymnen hervor, die er ala ein zu: 
ſammengehöriges Ganzes hinterlaſſen hat!. 

Dieſelben find in doriihem Dialekt abgefaßt, aber nicht in doriihen 
Rhythmen, ſondern in anafreontiihen Bersmaßen (1 2), anapäftiidhen 
Monometern (3 4 10), ioniſchen Trimetern (7), logaödiſchen Berjen (7 
8 9). Über ihren veligiöfen Gehalt wie ihren äfthetifchen Wert gehen die 
Anfichten weit auseinander. Die Urſache dieſer Verſchiedenheit liegt zumeist 
darin, dab fih in den zehn Hymnen neuplatonifche und dhriftliche An— 
Ihauungen in verfchiedenem Grade miſchen. So war e3 möglich, daß einige 
fie jämtlih für hriftlih, andere fie faſt ausnahmslos für platoniſch, wieder 
andere zum Zeil für Hriftlih, zum Zeil für platonifch erklärten. Eine 
haarſcharfe Gruppierung ift ſchon deshalb nicht möglich, weil äußere Anhalts: 
punfte fehlen; nad inneren Momenten fönnen dagegen wohl die bier erften 
Hymnen als vorwiegend neuplatonifch, die übrigen als ausgeſprochen chriſtlich 
bezeihnet werden, jo dak die ganze Sammlung einigermaßen die ftufenmweije 
Entwidlung des Dichters zum Ausdrud bringt. Als Maßſtab des Fort: 
Ihritts fann die Trinitätsidee gelten, welche im erften Hymnus nur in leichtem 
Umriß auftaudht, im zweiten ſchon mit den dhriftlichen Namen der drei 
göttlihen Perſonen auftritt, im dritten und vierten den Einzeldharakter der: 
jelben weiter eniwidelt, wenn auch nit in völliger Übereinftimmung mit 
der Kirchenlehre, da der Unterihied der drei Perjonen allzujehr als etwas 
bloß Gedachtes erjcheint und der Sohn vom Vater — nad der Auffafjung 
des Dichters — durd den Heiligen Geift gezeugt wird. Der fünfte befingt 
Ihon Chriſtus als den Menſchgewordenen, den „Sohn der Jungfrau“, und 
wenn auch der jechite in das Geheimnis der ewigen Zeugung zurüdtehrt, jo 
findet fi doch nichts mehr, was fi mit den Ausdrüden chriſtlicher Dog: 
matik nicht vereinen ließe; im fiebenten feiert der Dichter ſehr anziehend 
dad Geheimnis der Epiphanie, im achten legt er dem Sohne der Jungfrau 
alle feine Anliegen in rührendem Bittgebete zu Füßen; im neunten jehildert 
er großartig die Höllenfahrt und die Himmelfahrt des göttlichen Siegers; 
im zehnten endlich jchlägt der fonft jo hochfliegende Platoniker die innigiten 
Töne hriftliher Reue und Bußfertigfeit an und fleht den Erlöſer demütig 





! Migne, Patr. gr. LXVI 1588—1616.— Christ-Paranikas, Anthologia 
3—23; vgl. ©. ıx—xır. — Bier Hymnen deutfh bei Fortlage, Gefänge ber 
hriftlihen Vorzeit. I. Hymne ©. 20, U. 316, V. 41, IX. 151. — Hymnus 1I 
V VI X X betih von G M. Dreves (Stimmen aus Maria-Laach LII 552 
bis 562). 


Synefius. 59 


an, ſich ihm einft in der ewigen Glorie zu zeigen. So führt der Kranz 
der Dichtungen, von Anakreon ausgehend, empor zu Platon, hinüber zu 
Plotin, dann empor zum hl: Johannes, zu der erhabenen Lehre der Kirche 
und endlich in die demütige Thebaie. 

Schon die neuplatonish gefärbten Hymnen befißen eine eigenartige 
Schönheit und Grofartigfeit; fie machen es recht fühlbar, wie die Jdeen 
Platon mande edlere Geifter dem Chriftentum näher bringen, aber auch 
phantaftifche Gemüter in Gefahr bringen fonnten, in die Iuftigen Wolten: 
pfade mwillfürliher Einbildung zu entjchweben. Der zweite Hymnus ift ein 
Morgenlied, gleihfam ein Morgenlied der Schöpfung. 


Wieder Licht uns, wieder Frührot, 
Wieder blinkt ber Glanz bes Tages 
Nach der Naht unfteten Dunfel; 
Wieder finge mir, o Seele, 

Singe Bott im Mtorgenliede, 

Der bem Tage jeine Strahlen, 
Der der Naht gab ihre Sterne; 
Die im Reih'n die Welt umfreifen. 
Es bebedte ſchon der Äther 

Des erregten Stoffes Rüden, 

Über Feuerflocken ſchreitend, 

Wo den niedrigſten der Kreiſe 

Der erlauchte Mond durchſchneidet. 
Ob der achten Windung aber 

Der geſtirnten Himmelsringe 

Mt ein Strom, ein flernelofer, 
Der, in feinem Schoß bewegend 
Die entgegenläuf’gen Sphären, 

Um den großen Geift fidh drehet, 
&o ber höhern Welten Höhen 

Mit der Flügel Grau bedadet. 
Und darüber jel’ges Schweigen 
Die unteil'ge Teilung birget 

Des Berftandes und Gebanfens, 
Nur ein Quell, nur eine Wurzel, 
Doch ein dreifach Licht entftrömt ihr: 
Mo des Vaters Tiefe, dorten 

Auch der Sohn ift, der erhabne, 
Der dem Baterherz entfeimte, 
Deſſen Weisheit ſchuf die Welten, 
Dort erglängt des heil’gen Geiftes 
Süßes Licht, das fie umſchlinget. 
Nur ein Quell, nur eine Wurzel 
Ale Schätze barg des Segens 

Und ber Knoſpe Weſensfülle, 

Bon des Lebens Trieben ichwellend, 
Und das Licht, das wunderbare, 


60 


Viertes Kapitel. 


Das der ſel'gen Gottheit leuchtet. 
Diefem Quell der Herrider Reigen, 
Der unfterbliden, entjtrömte, 

Die den Ruhm bes ew’gen Vaters, 
Die bes Erftgebornen Schönheit 
In erhabnen Liedern feiern. 

In ber güt’gen Zeuger Nähe 

Iſt der Engel ew’ge Jugend, 

Die ben Urquell teils der Schönheit 
In dem ew'gen Geift erkennen, 

Zu den Sphären teils fi wenden 
Und der Welten Bau beherrſchen, 
Die erhabne Ordnung wahrend 
Bis hinab zum tiefften Stoffe, 

Mo die Weltenjeele kauert 

Und das Heer gebiert der Teufel, 
Der verfchlagnen, ruheloſen, 

Von woher der Held, ber Geift, ſich 
Auf die Erbe einft ergofien, 

Um in wechlelreichen Formen 

Ihre Teile zu beleben. 

Ya, nad deinem Rate alles 

Sich vollzieht, du bift die Wurzel 
Des, was ift und was geweien, 


Was da jein wird und was möglid. 


Du bift Vater, du bift Mutter, 

Du bift Mann und Weib vereinigt, 
Du bift Stimme, du bift Schweigen, 
Die Natur du ber Natur biit, 

Du, 0 Herr, die Zeit der Zeiten, 
Wenn wir aljo mögen Iallen. 

Sei gegrüßt, der Welten Wurzel, 
Sei gegrüßt, der Weſen Mitte, 
Ewig Eins der ew’gen Zahlen, 
Diejer wejenlojen Herricher! 

Ewig Heil dir, ewig Heil bir, 
Denn bei dir, o Gott, das Heil ift. 
Zu dem Reigen meines Liedes 

Mir dein Ohr in Gnaden neige, 
Lab ber Weisheit Licht mir leuchten, 
Gieß herab mir Heil und Segen. 
Gieh herab mir Huld und Gnabe, 
Gib ein Leben mir bes Friedens, 
Von mir ab die Armut treibe 

Wie die Erdenpeit des Reichtums; 
Don den Gliedern wehre Krankheit 
Wie der Luft unlautre Flammen, 
Auch den Bram, den Herzverzehrer, 
Bon der Seele ferne halte, 


Wohl am jhwungvolliten ift die antife Form, auch Züge der alten 
Mothologie, dem Kriftlihen Stoff in dem neunten Hymnus angegliedert, 
in welchem Synefius, der frühere Gegner der Auferftehungslehre, den glor: 
reihen Triumph des Gottesjohnes über Tod und Hölle ſowie jeinen Einzug 


Synefius. 


Daß nicht irdifches Verhängnis 
Meines Geiftes Schwingen lähme, 
Sondern leicht den Fittich Tüftend, 
Um den Sohn, den wunderbaren, 
Er in fel’gem Schauen reife‘. 


in den Himmel befingt. 


ı jlberfegt von G. M. Dreves (Stimmen aus Maria-Laach LII 552-554). 


Geliebter, erhabener, 

O feliger Sohn der Maid 

Don Solyma, dir ich fing’, 

Der die Friehende Schlange du, 
Die ränfeerfinnenbde, 

Aus dem Garten bes Waters triebft. 
Du ftiegeft zur Erd’ herab, 

Did geſellend den Sterblichen, 
Du ftiegeft zur Unterwelt, 

Wo der Seelen unzählig Bolt 
In Gefangenihaft hielt der Tod. 
Da erſchauderte Hades bang 

Vor bir, der uraltrige, 

Und ber Hund von der Schwelle wid, 
Der Völlerverſchlinger. 

Nachdem du vom Leid erlöft 

Die Chöre der Seelen bort, 

Du führteft den reinen Zug 
Robfingend dem Bater zu. 

Da, Herr, da du aufwärts fuhrft 
Durd den Raum, den unendlichen, 
Erbebte der Geifter Heer, 

Es ftaunte ber ew'ge Chor 

Der lichten Geſtirne, 

Und lächelnd der Äther rief, 
Der Bater der Harmonie, 

Die Töne der Leier wach, 

Der fiebenbefaiteten, 

Ein feierndes Siegeslied. 

Da lächelte Phosphoros, 

Der Herold des Tages, da 

Der goldene Heſperos, 

Der Stern Kytheräns; 

Da ſchmückte mit hellerem Glanz 
Der Mond, ber gehörnte, fi 


62 Biertes Kapitel. 


Und führte ben Reigen, 

Der jilbernen Schafe Hirt. 

Und die Sonne, fie breitete 
hr goldenes Haar vor bir 
Zum Teppich ber Füße aus; 
Sie erfannte den Gottesjohn, 
Den Geijt, der die Welt erfanı, 
Den Quell ihres Lichtes. 

Du aber den Fittih ſchwangſt 
Und über das Himmeläzelt, 
Das blaue, du ſchwebteſt, 

Und du flogft zu den Streifen auf, 
Den reinen, den geiftigen, 

Wo bie Quelle des Guten 

Im ſchweigenden Himmel flieht; 
Dort flutet nicht ruhelos 

Der wirbelnde Strom der Zeit, 
Fortſchwemmend den Erdenjohn, 
Dort herrſchet nit rüdfichtslos 
Der gärenden Stoffe Wucht; 
Dort waltet und altert nie 

Seit alters die Ewigkeit, 

Die Mädchen und Ahn zugleid, 
In der ewigen, feligen 
Erhabenen Gottesitabdt !. 


Den Hymnus des Klemens von Alerandrien und die Gedichte des hi. Me- 
thodius und des hl. Gregor von Nazianz ſcheint Synefius nicht gekannt 
zu haben, da er im fiebenten Hymnus ſich jelbjt als den erften Pfadfinder 
hriftlich-hellenifcher Lyrik bezeichnet: 


Ilpüros vinov zbpönav Der erite ich fand den Braud, 
er! ooi, ndxap, üuspore, Dir, jeliger, unfterblicher, 

rore zudıne mapdesonv, O ebelfter Sproß ber Maib, 
Inooö Foiuunis, Dir, Jeſu von Solyma, 
veorayia üppoyaks Zu fingen zum Lautenſchlag, 
zpefat zıdapag wiroug. Neufügend der Weifen Bau ®, 


Iſt nun Syneſius auch nicht der erfte Bahnbrecher chriſtlicher Lyrif, 
jo Hat er dod in feinen Gedichten auf Chriftus aus dem überreihen Stoffe 
vielfah das Erhabenfte herausgegriffen und es nad Art und Weile alt= 
hellenijcher Lyrik begeiftert und ſchwungvoll zum Ausdrud gebradt. Doc 
befteht zwiichen der Kürze der Verfe und der Länge der Gedichte ein gewiſſes 
Mißverhältnis; die leichten Versmaße, die etwas Spielerifches an ſich haben, 
pafjen nicht recht zu der Würde des Gehalts, und der Mangel einer ftrophiichen 

ı jiberjegt von G. M. Dreves (Stimmen aus Maria-Laach LII 560 561). 

® Ebd. 559. 


Synefius. 63 


Gliederung wie die vorherrſchende jubjektive Färbung der Hymnen machte 
fie von vornherein ungeeignet, in die Liturgie aufgenommen zu werben. 
Aber als einfahe religiöje Poeſie ftehen fie auf einer jehr Hohen Stufe; 
in Feinheit und Glätte der Form werden fie faum von einem Sänger 
jener erſten Jahrhunderte erreicht. Tief ergreifend klingt der Schwanen- 
gelang des vielgeprüften Dichter-Biſchofs in ein kindliches Neuegebet an 
Chriſtus aus: 


MHıweo, Apter:, 
uvit Beoio 
inbıuedovros, 
olxsrew os, 
zip üdızooio 
rads ypadavrog* 
xaf not Urasooy 
iu zadeuv 
znpırpapewv, 

Ta por &uoun 
duga punapü- 
dus d2 Weodar, 
oürep Inaoo, 
Kadeav alykar 


Chriſte, gedenke, 
Einziggeborner 

Gott des Allherrſchers, 
Deines in Schuld ge— 
borenen Knechtes, 

Der dies geſungen. 
Löſe in Huld mein 
Herz von der Sünde 
Banden, die meine 
Seele befleckend 

Mit mir geboren. 
Gib, daß dein Licht ich, 
Jeſu, Erretter, 
Schaue, das heil'ge, 


% * ® 
cäv, &:da gaveis 


Bor deinem Antlik 


ueidw dodas, Singend mein Lied dir, 
ratove buyän, Arzt meiner Seele, 
raiost yolws, Arzt du des Leibes, 


Dir mit dem Bater 
Und mit dem Geifte! 


zarpi al neydiw 
zveönari DW dyvo. 


Nah Synefius wich die antife metriſche Dihtungsform mehr und mehr 
bor der neuen, welche nur Silbenzahl und Wortaccent beadhtete. In ſolchen 
accentuierten Berjen ijt die Maſſe von griechiſchen Kirchenliedern abgefaßt, 
welche von Ende des 4. Jahrhunderts an entftanden und deren Berfaffer 
noch zum großen Teil unbekannt find. Als Hymnendichter des 5. Jahr: 
hunderts werden genannt: Anthimus, Timokles, Marcian, Johannes Monachus, 
Seta und Aurentius. Bis auf Romanus (im 8. Jahrhundert) ift feiner zu 
Hervorragender Berühmtheit gelangt. 

Die literariſch-humaniſtiſche und philofophiihe Bildung, für welde 
Spnefius fo begeiftert eingetreten, wurde ſowohl in riftlichen als heidniſchen 
Kreiſen des oftrömijchen Reiches weiter gepflegt. Doch religiöfe Fragen 
und Kämpfe nahmen im 5. wie im 4. Jahrhundert alle hervorragenden 
Geifter in Anſpruch und drängten alle übrigen Beftrebungen zurüd. Die 
Theologie erregte ein Intereſſe, wie heutzutage vielleicht faum die Natur: 
wiffenihaften. Schon unter Konftantin machten ji die Hofdamen mit 
Theologie zu jhaffen. Kaifer Juftinian jegte eine Ehre darein, Glaubens: 


64 Biertes Kapitel. 


defrete zu verfaffen und diejelben von den Gegnern angenommen zu jehen. 
Jeder Gebildete wollte über dieje Dinge mitreden, und bereit3 Gregor von 
Nyſſa erzählt: 

„Die geftern und vorgeftern noch im ehrjamen Handwerk fi abmühten, werden 
mit einem Schlag Lehrer ber Theologie, wenn fie auch vielleicht nichts find als Stlaven, 
die eben der Peitjche entlaufen find. Überall in der Stadt wimmelt es von jolden, 
in den Durdgängen, Kreuzwegen, Märkten, Straßen, unter ben Stleiberverfäufern, 
Geldwedjlern, Viktualienhändlern. Willft du Geld wechſeln, fo philofophiert er über 
‚Gezeugt‘ und ‚Ingezeugt‘. Fragſt du nad bem Preis des Brotes, jo antwortet er: 
‚Der Vater ift größer, und ber Sohn ihm unterworfen.‘ Sagft bu: ‚id möchte mir 
ein Bad bejtellen‘, jo ift er ber Anfidt, der Sohn jei aus nichts geichaffen.“ ! 


Welch ein Gewirr von phantaftiihen und rationaliftiichen Jrrtümern 
das Chriftentum während der erften Jahrhunderte zu erftiden drohte, zeigt 
am beiten das „Heilmitteltäft—hen” (Huvdpıov zara raosamv av atptaswv) 
des hl. Epiphanius, Biſchofs von Konftantia (Salamis) auf Cypern (367 
bis 403), worin (meift nad Juftinus, Jrenäus und Hippolyt) achtzig ver- 
ſchiedene Jrrlehren, darunter allerdings zwanzig vorchriſtliche heidniſche und 
jüdiſche Sekten, aufgeführt und widerlegt werden. Noch um das Jahr 433 
pochten die Heiden fo ftarf auf die um 362 und 363 gejchriebenen Bücher 
Juliana des Apoftaten gegen das Chriftentum, daß der HI. Eyrillus, feit 
412 Patriarch von Nlerandrien, fid) veranlaft ſah, ein breit angelegtes 
Werk „für die Heilige Religion der Chriften gegen die Bücher des gottlojen 
Julian“ zu jhreiben. Die Angriffe des Neuplatoniters Porphyrius befämpften 
Apollinarius der Jüngere von Yaodicea (in 30 Büchern), Eujebius 
Pamphili (ebenfalls in 30 Büchern) und Methodius von Olympus. Den 
Neuplatoniker Proklus miderlegte (um 470) der Kriftlihe Rhetor Pro- 
fopius von Gaza. Eine umfaffende Kritif und Widerlegung des gejamten 
Heidentumsd (in 12 Büchern) lieferte (etwa um 427) Theodoret, jeit 
423 Biſchof von Cyrus in Syrien?. Ein ähnliches allgemein apologetijches 
Werk gegen die Heiden, das aber bejonders die Einwürfe des Porphyrius 
berüdfihtigt, trägt den Namen des Makarius Magnes (von Magnefia). 

Während das Heidentum, unfähig, die großen jittlichen ſozialen Fragen 
der Zeit zu löſen, ſich in hohlen, jophiftiichen Deklamationen wie in ohn— 
mächtigen Todeszudungen gegen das Ghriftentum aufbäunte, richtete der 
Arianismus, auch nachdem er die politische Oberherrſchaft verloren hatte, 
duch die Intrigen und Quertreibereien feiner Anhänger noch immer viel 
Unheil an. Auch gegen diefe Gegner erhob der HI. Cyrillus von Alerandrien, 

! Gregor. Nyss., Oratio de deitate Filii (Migne, Patr. gr. XL 557%). 

2 Eilnviröv Veparzurun rafnndrev % shayyeimäs Alndeias EE Elnwuig 
eriomogins äriyvwars: „Heilung der heidnifchen Krankheiten oder Erkenntnis ber 
evangelifhen Wahrheit aus ber heidniſchen Philofophie.” 


Syneſius. 65 


ein durch theologiſche Gelehrſamkeit ausgezeichneter Mann, in zwei bedeutenden 
Werten ſeine Stimme!. Ungleich größere Schwierigkeiten aber erwuchſen der 
Kirche bald aus den neuen Irrlehren des Neftorius und Eutyches, welche, 
obihon auf den allgemeinen Konzilien zu Ephejus (431) und zu Ghal- 
cedon (451) feierlich verurteilt, noch bis in das folgende Jahrhundert bin 
die lebhafteften Kämpfe erregten und einen großen Teil des Orients für alle 
Folgezeit von der kirchlichen Einheit losriffen. Als der Herborragendfte Anwalt 
der Kirche auch in diefen Kämpfen tritt der eben erwähnte hl. Cyrillus her: 
vor. Ihm zur Seite ftehen der hl. Proflus, Biſchof von Eyzicus, Memnon 
von Epheſus, Dalmatius von Konftantinopel, Theodotus von Ancyra u. a. 
Cyrillus jelbft Tegte mehr Gewicht auf Stlarheit des Ausdruds und Schärfe 
der Beweisführung ald auf Schönheit der Darftellung und hat darum für 
die Literatur feine jo hervorragende Bedeutjamfeit wie die großen Kappadocier 
und der hl. Chryſoſtomus. 

Die Werke des Didymus des Blinden, der über ein halbes Jahrhundert 
der alerandrinifhen Katechetenſchule vorſtand (geft. um 395), des Diodor 
von Tarſus, des Theodor von Mopfueflia, des Iſidor von Peluſium, des 
Heſychius von Jerufalem, des hi. Nilus und des Markus Eremita, ſoweit 
fie erhalten find, gehören faſt ausschließlich der theologischen Literatur im 
engften Sinne an. Dagegen haben die Schriften des jog. Dionyſius Areo- 
pagita der mittelalterlihen Myſtik reihen Stoff und mächtige Anregung 
geliefert?. Noch weiterhin wirkten die erbauliden Erzählungen, welche der 
vielgereifte Galater Palladius, Biſchof von Helenopolis, jammelte und welche 
unter dem Titel Historia Lausiaca (Avdyuwar eis To Aayaraxiv) 
früh ins Lateinifhe übertragen wurden. Die origeniftifhen Irrtümer, zu 
denen er hinneigte, machen fi darin nicht bemerkbar, und jo hat ſchon 
Gaffiodor fie lebhaft den Mönchen empfohlen, und gleid den übrigen „Leben 
der Väter“ find fie vereinzelt oder in Sammlungen in verjchiedenfter Form 
und Yafjung in die mittelalterlihen Vollsliteraturen übergegangen. 

ı Hl Alßios züv Wneoaupüv zepl ris dyiag zai önooualou zpendog (in 35 Thefen: 
Jiyo) und Ilspi äyias re xai ünoouelon rpeidog {in fieben Geipräden). 

? Die Belor uvor, bie Dionyſius Areopagita (De cael. hierarchia VII 4) 
als von ihm verfaßt angibt, find verloren. — Über die Dionyfiusfrage, die ſelbſt— 
verllänblih außerhalb unjeres Rahmens liegt, vergleiche die verdienſtvollen Inter: 
fuhungen von J. Stiglmayr S. J., Der Neuplatonifer Proflos als Vorlage bes 
fog. Dion. Areop. (Hiftor. Jahrbuch der Görres-Gefellihaft 1895, 253 M); Das 
Auftommen der Pjeudo-Dionyfifhen Schriften und ihr Eindringen in die Kriftliche 
Literatur bis zum Lateranfonzil 649 (Programm, Feldkirch 1895); Die „Ehren 
rettung* des Dion. Areop. (Diftor.:polit. Blätter CXXI [1898] 650—661; CXXU 
[1898] 27—49); Der Bater der Myftif (ebd. CXXV [1900] 541—550 613—627). 
— 9. Rod, Pjeubo-Dionyfius Areop. in jeinen Beziehungen zum Neuplatonismus 
und Myſterienweſen, Mainz 1900. 


» Die lateiniſche Bearbeitung bei Migne, Patr. lat. LXXIII 1065—1234. 
Baumgartner, Weltliteratur. IV. 3. u. 4. Aufl, > 


66 Fünftes Kapitel. 


Ebenjo allgemeines literarifches Intereffe beanſprucht die kirchliche Ge- 
ſchichtſchreibung, welche, im Anſchluß an Eufebius, jih um dieſe Zeit reich- 
fiher zu entwideln begann. Verloren find die „Chriftlihe Geſchichte“ des 
Philippus Sidetes, die Kirchengeſchichten des apollinariftiichen Biſchofs Timo: 
theus von Berptus und des Priefters Heſychius von Jeruſalem ſowie die 
Konziliengefhichte des Sabinus von Heraklea in Thracien, eines Mace— 
donianerd. In einem Auszug des Photius und in Fragmenten ift teilweije 
nod die Kirchengeſchichte des Philoftorgius, eines Eunomianerd, erhalten. 
Vollſtändig vorhanden find dagegen noch die drei Kirchengeſchichten des 
Sofrates, des Sozomenus und des Theodor. Sokrates, Sadmalter 
(oroiaszızis) in Konftantinopel, Führt die Kirchengeſchichte des Euſebius 
meiter und behandelt in fieben Büchern die Zeit von der Abdankung des 
Diofletian bis zum Jahre 439, ſchlicht und einfah, zugleih mit großer 
Umfiht und gutem Urteil. Die Kirchengeſchichte des Hermias Sozomenus 
Salaminius, ebenfalls eines Sahmwalters, hebt mit dem Jahre 324 an 
und reiht bis zum Jahre 425. Sie fußt durchweg auf Sofrates, geht 
aber häufig auf deſſen Quellen zurüd und verwertet diefelben zu einer aus— 
führliheren Darftellung. Theodoret von Cyrus ſchließt ſich gleich Sokrates 
unmittelbar an Eufebius an und gibt die gefamte Geſchichte vom Beginn 
des Arianismus bis zu jenem der neftorianiichen Kämpfe (323—428), wie 
es jcheint, unabhängig von Sokrates und Sozomenus, mit bejonderer Be— 
rüdfihtigung des Patriarhats3 von Antiohien, in einfahen, klarem und 
anziehendem Stil. In einem eigenen Werke (Priodeoz taropia 7 darmrım 
rosreta) zeichnete er nicht minder ſchön und anziehend das Leben von dreißig 
der berühmteften Einfiedler des Morgenlandes, darunter des Jakob von Nifibis 
und des Säulenfteher Simon Stylites, zum Teil auf eigene Kenntnis, zum 
Teil auf die Berichte von Augenzeugen geftüßt, ein erhabenes Gegenbild zu 
den vielen unerquidlihen Streitigleiten jener Zeit, ein ehrwürdiges Zeugnis 
für das auf reinfter Gottesliebe beruhende Gnadenleben, das unſcheinbar, 
aber wirffam der riftlihen Zivilifation die Pfade ebnete. 





Sünftes Kapitel. 
Raͤchklänge antiker Voeſte. Verſuche chriſtlicher Epik. 


Kaiſer Konſtantin J. trat gegenüber dem Heidentum mit viel Nachſicht 
und Milde auf. Es ſteht nicht einmal feſt, ob er ein allgemeines Verbot 
gegen alle heidniſchen Opfer erlaſſen hat. Durchgeführt wurde ein ſolches 
Verbot jedenfalls nicht. Nur gegen heidniſche Tempel, welche der öffentlichen 
Unzucht und den ſchreiendſten Betrügereien dienten, wurden ſtrenge Maßregeln 


Nachklänge antiker Poeſie. Verſuche chriſtlicher Epik. 67 


ergriffen, die Privatopfer eingeſchränkt, den kaiſerlichen Statthaltern die 
offizielle Teilnahme an den Opfern wahrſcheinlich unterſagt. Nach dem zeit 
weiligen Übereifer des SKonftantius jchritt erſt Theodofius I. (379—395) 
frenger gegen das Heidentum ein, entzog denjenigen, die zum Heidentum 
abfielen, das Erb- und Teſtierrecht, ftellte jeden ſolchen Abfall unter Strafe, 
unterfagte die Augurien und Harujpicien, verfügte 386 die Schliegung der 
Tempel in Afien und Ägypten, verbot 391 den Tempelbeſuch, belegte 392 
jede Art von Göbendienft mit den Strafen eined Majeftätäverbredheng und 
mahnte nad feinem Siege über Eugenius 394 den Senat in Rom jelbit, 
dem Ihmählichen Gößendienft für immer zu entjagen. 

Obgleih das Ghriftentum von da an als Staatsreligion galt, wid 
das Heidentum vielerort3 nur langſam vor demjelben zurüd. Die vielfachen 
Bedrängniffe des Reiches durch die Einbrüche der Barbaren verftatteten nicht, 
die faijerlichen Gejege mit Strenge durchzuführen. Die nie endenden Religions- 
ftreitigkeiten unter den Ghriften ſowie der ärgerlihe Wandel vieler unter 
ihnen waren nicht dazu angetan, den Heiden da Auge für die göttliche 
Wahrheit des Evangeliums zu öffnen. Schroffe Gewalttaten, wie die Ser: 
flörung des Serapeums zu Alerandrien durch Zheophilus (391) und die 
Ermordung der Philofophin Hypatia (415) erbitterten die Heiden mehr, 
als daß fie diejelben Hätten gewinnen können. Durd die herrlihften Pracht: 
bauten, Denkmäler und Kunftwerfe, durch die beliebteften nationalen und 
lofalen Erinnerungen hing das Heidentum mit dem gejamten Volksleben 
zufammen. Die höhere literariihe und milfenihaftlihe Bildung leitete fich 
aus heidniſchen Schriftftellern und Überlieferungen her und wurde großenteils 
noch durch heidnifche Lehrer und Schulen vermittelt. Die neuplatonijche 
Philojophie zog viele Elemente aus dem Chriftentum an ſich, äffte jelbjt die 
hriftliche Asteje und Myſtik nad und gab jo dem Heidentum einen ernfleren, 
fittlicheren Anſtrich. Die antike Literatur und Philojophie enthielt des Wahren 
und Schönen fo viel, daß ein vollftändiger Bruch mit ihr unmöglid war, 
die Lehrer der Kirche ſelbſt fich vielmehr daran bildeten und fie in den 
Dienft der hriftlihen Wahrheit zogen. Die Meifterwerfe der antiken Kunft 
aber übten auf die Kriftlihen Kaiſer einen ſolchen Zauber aus, daß fie 
fi meift damit begnügten, die Tempel in Kriftliche Bafiliten umzuwandeln, 
die übrigen Kunſtwerle aber dem göbendieneriichen Gebraud zu entziehen 
und zur Zierde des neuen Rom am Bosporus zu verwenden. Nicht fanatifcher 
Übereifer oder Kunſthaß hat die gefeierten Kunſtdenkmäler des alten Hellas 
zerftört, fie find durd) Feuersbrünſte, Vollsaufftände und ähnliche Kataftrophen 
zu Grunde gegangen, an welden die Kirche nicht die mindefte Schuld trägt. 
Juftinian I., der endlich 529 die Schulen des längft überlebten Neuplatonigmus 
ſchließen ließ, hat jelbft eine religiög-fünftleriihe Prachtliebe entfaltet wie 
wenige Kaijer vor ihm, 


5% 


68 Fünftes Kapitel, 


Hätte das Heidentum noch innere Lebenskraft genug bejefjen, jo hätte 
es in dem halben Jahrtaufend von Auguftus bis Juftinian noch Zeit genug 
gehabt, eine neue Blüteperiode helleniſcher Poeſie aufleben zu laffen. Noch 
im Jahre 393 thronte die Zeusftatue des Phidias in dem berühmten Tempel 
zu Olympia; erft im folgenden Jahre hörten die olympiiden Spiele auf. 
Als der Neuplatoniter Proklos im Jahre 429 nad Athen kam, befand ſich 
die aus Gold und Elfenbein geftaltete Athene Parthenos noch im Parthenon 
zu Athen; erſt während feiner langen Lehrtätigkeit dajelbft wurde fie von 
den Chriften daraus entfernt. Denn jein Biograph Marinos erzählt: 

„Wie fehr Proflos diefer Göttin der Weisheit wert gewejen ift, hat fie felbft 
damals fund getan, als ihr Bild, welches fich bisher im Parthenon befunden hatte, 
von benen, bie alles Heilige aus den Angeln heben, hinweggeführt wurde. Denn 
dem Philofophen erihien im Zraum eine erhabene Frauengeftalt, die ihn auf- 
forderte, jchnell ein Haus zu rüften, weil, jo fagte fie, bie Herrin Athene bei dir 
bleiben will.“ ! 

Es war indes nicht innere Lebenskraft, jondern nur das mechanische 
Beharrungsvermögen alter Überlieferung und die Gunft äußerer Umftände, 
welche den Todestampf des antilen Hellenigmus jo lange Hinauszogen. Weder 
unter Hadrian und Marc Aurel noch unter Julian ift den Griechen ein 
Dichter eritanden, der ſich über die flahen Niederungen der damaligen 
Sophiftenihulen erhoben hätte. Erſt nah Julian ſchwirren wieder einige 
Poetennamen herum, denen die Forſchung bis jetzt nicht einmal ein ficheres 
Lebensdatum zu geben vermodt hat. Kaum läßt jih noch auf dieje jpäten 
Nachklänge altllaffiiher Kunft der Vers der Anthologie anwenden: 

Auöpzvos yap önwg Ykdg dorw Ere — 
Sinket gen Weften auch fie, ftrahlet die Sonne ung noch?. 


Wann Quintus Smyrnäus gelebt, ift nicht zu ermitteln. Das 
einzige, mas fi aus feinem Epos „Nah Homer“ (Ta ne#’ Vunpov) er: 
gibt, ift, daß er in früher Jugend als armer Hirt bei einem Tempel der 
Artemis in der Nähe von Smyrna die Schafe hütete und zu dichten begann, 
noch ehe ihm der Bart fproßte, und daß ferner feine Herameter noch nicht 
jene daktyliſche Eigenart befigen, welche der Dichter Nonnos aufbrachte und 
welche nad ihm allgemein in Mode famen. Die einzige Handſchrift feines 
Werkes wurde 1450 von Kardinal Befjarion in einem Klofter in Kalabrien 
entdedt, wovon er den Beinamen „Salaber“ erhielt d. Das Werk faßt kurz 


ı Marinus, Vita Procli c. 30, 

2 Anthol. XII 178. 

> Herausgeg. von Aldus, Venedig 1504; Rhodomannus, Hannover 
1604; Tyhjen, Straßburg 1807; Lehrs, Paris 1840; Köhly, Leipzig 1853. 
— Bol. Sainte-Beuve, Etudes sur Virgile suivies d’une &tude sur Quintus 
Smyrnaeus, Paris 1857; Neuaufl. 1891. 


Nachklänge antiker Poeſie. Verſuche Kriftlicher Epik. 69 


in 14 Büchern die kykliſchen Dichtungen zuſammen, welche ſich an die Ilias 
reihen, von dem Tode Hektors bis zur Rückkehr der griechiſchen Helden. 
Pentheſilea, die Amazone, kommt den entmutigten Troern zu Hilfe; dann 
folgen die Heldentaten des Memnon, der Tod des Achilleus und des Ajax, 
die Kämpfe des Neoptolemos, um den Zod jeined Waters zu rächen, die 
Ankunft des Philoktet, der Bau und Einzug des hölzernen Pferdes, der 
jhrediihe Untergang des Laokoon, die Einnahme Trojas, die Hinopferung 
Polyrenas am Grabhügel des Adilleus, die Einihiffung der Griechen, der 
Schiffbruch des Ajax Dileus auf der Rüdkehr der Flotte. Der Dichter folgt 
den Spuren Homers und denjenigen Vergils zugleih. Die ſchlichte, ein- 
fahe Erzählung wird durch ſchöne Gleichniſſe gehoben, geht allen verfäng: 
lichen und anftöhigen Zügen aus dem Weg, als wäre fie in usum Delphini 
abgefaßt, entbehrt aber der frammen Einheit und Spannung. Die Sprade 
weit in manden feinen Zügen von der alten epiſchen Diktion ab. 
Nicht weniger rätjelhaftes Dunkel umgibt die Geftalt des Dichters 
Nonnos, unter deffen Namen zwei Werte erhalten find. Das eine, ein 
großes Epos: „Der Zug des Dionyſos“ (Jovvaraxd), feiert in 48 Büchern 
den fabelhaften Zug des Bakchos nad) Indien, eine phantaftische Verbindung 
der alten Dionyſosſage mit jüngeren Mythen, welche ſich an die Indienfahrt 
Alerander3 d. Gr. fnüpften. Das andere ift eine poetiſche Umſchreibung 
(neraßo)r) des Johannesevangeliums in Herametern. Ein Epigramm der 
Anthologie (IX, 198) erwähnt Nonnos nur al3 Verfaffer der „Dionyfiala“ ! 
und bezeichnet als feine Heimat die Stadt Panopolis in Ngypten. Ob er 
derjelbe ift, dem Syneſios (in Brief 43) eine Empfehlung ausftellt, ift 
zweifelhaft. Sonit fehlen alle äußeren Zeugniffe über fein Leben. Nur aus 
Beziehungen feiner Dichtung zu früheren und fpäteren Dichtern erwächſt einige 
Wahriceinlichkeit, dab er gegen Ende des 4. Jahrhunderts gelebt hat?. 
In Bezug auf Metrit und Grammatik weichen die beiden Dichtungen 
ftarf voneinander ab: in dem Epos ijt die Strenge der metriihen Form 
bis zur Eintönigleit feftgehalten, während die Paraphraje ſowohl metrijche 
al3 grammatijche Unebenheiten aufweift. Da zudem eine jüngere Handſchrift 
der Paraphraje einen „Ammonius, Philoſoph und Rhetor“ als Verfaſſer 
bezeichnet, fo Hat man die zwei Gedichte in neuerer Zeit zwei verjchiedenen 
Verfaſſern zuteilen wollen. Da indes Stil und Wortſchatz eine gewiſſe 
Berwandtihaft der zwei Gedichte befunden, jo iſt wohl die ältere Annahme 
vorzuziehen, daß derjelbe Nonnos beide verfaßt hat, die „Dionyfiafa“ ver- 





4 Nöswos &ya* Ilavög nv dun mürs, Ev Papin 2 
Eygel pwohssti yoväs Yunoa Iryadvrmn. 
2 Agathias (get. vor 582) bezeichnet Nonnos im Gegenſatz zu den älteren 
tlafſiſchen Dichtern als einen ber seor (zomrai). Man kann ihn aljo aud etwa in 
die erfte Hälfte bes 5. Jahrhunderts jehen. 


70 Fünftes Kapitel, 


mutlih nod als Heide, indem ein Chriſt kaum den Abenteuern des Dionyjos 
eine jo ausdauernde Begeijterung gewidmet haben würde, die Paraphraje 
aber in borgerüdterem Alter, nachdem er inzwiſchen Chriſt geworden !. 

Die „Dionyſiaka“ umfaffen 27000 Herameter, faft fo viel als Alias 
und Odyſſee zufammen. Es ift mahezu unmöglich, eine Überficht über dieſes 
Riejenepos zu geben. Eine kurze Inhaltsangabe der einzelnen Gejänge kann 
noch am eheften dazu dienen. 


I. Vorgeſchichte und erftes Erfheinen bes Dionyfos. 1. Ans 
rufung. Zeus entführt Europa in ber Geftalt eines Stieres. Typhoeus ftiehlt Zeus 
ben Blitz. Liſt des Kadmos. — 2. Wirren auf Erden und im Himmel. Kampf 
zwiſchen Zeus und Typhoeus, der mit dem Tode des Typhoeus endet. Zeus verkündet 
ſtadmos fein künftiges Schidjal. — 3. ſtadmos verläßt Kilikien und kommt nad 
Samothrafe. Palaft des Emathion. Kadmos erzählt ber Königin Eleftra feine 
Abkunft. Ratſchläge der Elektra. — 4. Harmonia weift die Hand bes Kadmos ab, 
wirb aber dur Aphrodite in ber Geftalt der Pifinos für ihn gewonnen und folgt 
ihm auf feinen Wanderungen. Kampf bes Kadmos gegen ben Draden von Dirfe 
und gegen die Bewohner von Nonien. — 5. Die Erbauung von Theben. Hochzeit 
bes Kabmos mit Harmonia. Hochzeitögefchente der Götter. Die vier Söhne des 
Kabmos und ihre Verehelihung. Ariftäos. Aktäon und feine Rücktehr aus Indien. 
Zeus verliebt fih in Perfephone. — 6. Beunruhigung der Demeter, ihr Beſuch bei 
dem Seher Aftraivos. Sie verbirgt ihre Tochter, welcher Zeus aber in Geftalt einer 
Schlange naht. Geburt des Zagreus, bes erften Dionyfos. Sein Tod. Race des 
Zeus dur Feuer und Flut. — 7. Klagen bes Kronos. Zeus tröftet ihn durch die 
Berheigung eines neuen Dionyfos. Die heimliche Verbindung des Zeus mit Semele. 
— 8, Eiferſucht der Here; in der Geftalt der Amme Semeles fordert fie biefe auf, 
eine Erſcheinung des Zeus in feiner vollen Dtajeftät zu fordern. Der Blitz verzehrt 
fie; fie wird aber fhliehlih do in den Himmel entrüdt. 


I. Jugendgeſchichte des Dionyfos und Urjprung bes Wein 
ftods. 9. Geburt des zweiten, eigentlichen Dionyfos. Seine Aufnahme bei den 
Töchtern des Lamos. no, die Frau bes Athamas, feine Amme, übergibt ihn der 
Sorge der Myſtis. Sie jelbft verfällt der Raferei und entflieht. — 10. Wut des 
Athamas. Rückkehr und abermalige Flucht der Ino. Sie ftürzt fi mit Melitertes 
ins Meer. Die Jugendjahre des Dionyfos. Seine Übungen und Spiele mit dem 
Satyr Ampelos. — 11. Kampf im Waffer. Tod des Ampelos. Trauer bes Dionyfos. 
Eros tröftet ihn mit der Gefhicdhte des Karpos und Kalamos. — 12. Ampelos wird 

! Ausgaben ber Paraphrafe von Aldus, Venedig 1501; Sylburg (1596); 
N. Abram (1638); Heinfius (Aristarchus sacer), Leiden 1627; Biblioth. 
Patrum XIV, Paris, 1644; $r. Paſſow, Leipzig 1834; Migne, Patr. gr. XLII, 
Paris. 1858; de Marcellus (1861); 9. Scheindler, Leipzig 1881. — Aus 
gaben der Dionyfiafa von G. Faltenburg, Antwerpen 1596; Gräfe, Leipzig 
1819—1836; Köchly, Leipzig 1857/58. — Bol. A. Koechly, De Evangelii 
Ioannaei paraphrasi a Nonno facta, Turici 1860 (abgedrudt in deſſen Opuscula 
philologiea I, Lips. 1881, 421 ff). — G. Kintel, Die Überlieferung der Para» 
phraje des Evangeliums Johannis von Nonnos, Züri 1870. — H. Tiedke, 
Quaest. Nonnianarum specimen, Berol. 1870. — Idem, Nonniana, Berol. 1883. 
— Wild, Die Vergleiche bei Nonnus, Regensburg 1886. 





Nachklänge antiter Poeſie. Verſuche hriftliher Epik. 71 


in eine Rebe verwandelt. Freude des Dionyſos. Andere Sage über ben Urfprung 
ber Traube. Trunkenheit der Satyrn. 

II. Rüftungen und Aufbruch nad Indien. 13. Aufzählung des 
irdiichen Heeres des Dionyjos: bie Böotier, Phokier, Euböer, Athener; die Bewohner 
von Ägina, Kreta, Arkadien, Sizilien, Libyen, Eypern, Lydien, Phrygien und 
Samothrafe. — 14. Aufzählung des himmlifchen Heeres des Dionyfos: die Kabiren, 
Zeldinen, Korpbanten, Kentauren, Kyflopen, Nigipanen, Silenen, Satyrn, Baldhanten, 
Baffariden. Schlacht am Aitakidifhen See. Sein Wafler in Wein verwandelt. — 
15. Die Inder betrinten fi umb werden zu Gefangenen gemadht. Ihr Führer 
Aftrais zieht fi vor Dionyjos zurüd. Die Nymphe Nikäa und der Hirt Hymnos. 
Tod des Hymnos und Trauer feiner Herden. — 16. Rache bes Eros. Liebesgefchichte 
bed Dionyfos mit Niläa. Geburt bes Teletos. Gründung ber Stadt Nikäa. — 
17. Dionyfos verläßt Mäonien. Gaftfreundidaft des Hirten Brongos. Kampf in 
den Bergen. Dionyfos langt fiegreih am Orontes an. Orontes ber Inder bringt 
fh jelbft um. Blemys, der Fürft des äthiopifchen Arabiens, unterwirft ſich. — 
18. König Staphylos und fein Sohn Botrys. Palaft und glänzende Gaftlichleit des 
Staphylos. Er ftirbt in Abwejenheit bes Dionyfos. Rückkehr des Dionyfjos. Trauer: 
feierlihfeiten. — 19. Dionyſos tröftet die Königin Methea und ihren Sohn Botrys. 
Er führt Spiele zu Ehren bes Staphylos ein. Dichterifher Wettſtreit zwischen 
Onagrios und Eredtheus. Pantomimifcher Wettfampf zwiichen Maron und Silenos. 
Der letztere in einen Fluß verwandelt. 

IV. Der weitere Zug nad Indien. Abenteuer unterwegs. 
20. Dionyſos, von der Zwietracht aufgeftahelt, zieht nad Indien. Methea und 
Botrys begleiten ihn. Am Libanon vorbei gelangt er nad Nyja, ber Refidenz des 
Lykurgos. Diejer verfolgt ihn und zerfireut die Bakchanten. Der Gott flieht in 
das Rote Meer. — 21. Ambrofia befämpft Lykurgos. Diejer wird von den Ammen 
bes Dionyſos gefangen. Seine Wut. Seine Befreiung. Zeus nimmt ihm das 
Augenlicht. Dionyfos verläßt das Meer. Sein Geſandter ehrt von König Deriades 
zurüd. Die Inder legen fi in den Hinterhalt. — 22. Dionyfos zieht voran. Der 
ihm gelegte Hinterhalt wirb vereitelt. Glorie des Gottes; Heldentaten des Onagrios, 
Eretheus und Kalos. — 23. Der Feind ins Waſſer getrieben. Das Heer will den 
Hydaspes überjchreiten. Zorn des Flußgottes. Drohungen des Dionyjos. Die Wafler 
in Brand geftedt. Der Ozean ruft Thetis zu Hilfe. — 24. Hydaspes ruft um 
Gnade und wird in Wein verwandelt. Milde des Dionyfos. Trauer des Feindes. 
Klage einer indiſchen Witwe. Feſtmahl bes Heeres. Eiferſucht der Aphrodite auf 
Athene. 

V. Die Kämpfe des Dionyfos in Indien. 25. Anrufung des Homer 
und Pindar. Bergleih des Dionyfos mit Perjeus, Minos und Herafles. Attis 
überbringt ihm im Auftrage Rheas die göttlichen Waffen. Morya und Tylos. — 
26. Athene reizt, in der Geftalt des Orontes, König Deriades zum Kampfe auf. 
Aufzählung der indifhen Truppen. Stammbaum bes Königs Deriades. — 27. Auf: 
ftellung der zwei Deere. Reben ber beiden Führer Deriades und Dionyfos. Zeus 
jendet feinem Sohne Apollon, Athene und Hephaiftos zu Hilfe. Die Götter jcheiden 
fih in zwei Parteien. — 28. Beginn der Schlacht. Der indiſche Held Korymbaſes. 
Der Elefant des Deriades wird getötet. Mut ber Athener. Heldentaten ber Kyflopen. 
— 29. Fortjegung des Kampfes. Hymenaios nah großen Waffentaten verwundet 
und bon Dionyjos geheilt. Die Inder werben zwiſchen die Stadt und den Fluß 
Hydaspes gedrängt. Traum des Ares: er geht aus der Schlacht, um Aphrodite zu 
bewachen. — 30. Morrheus greift den Eurymedon an, ber von feinem Vater Hephai— 


12 Fünftes Kapitel, 


ftos verteidigt wird. Der Flußgott Hydaspes beſchirmt Morrheus, der auf bie 
Bakchanten einftärmt. Tod bes Tektaphos. Here ermutigt den Deriades. Dionyfos 
weicht zurücd, wird aber von Athene in den Kampf zurüdgeführt. — 31. Here ver- 
ſchafft ſich durch Perfephone die Hilfe der Megära, dur Iſis aber den Gürtel der 
Aphrodite, um Zeus zu betrügen. — 32. Zeus durch Here in Schlaf gelullt, während 
der Kampf immer hifiger, Dionyfos durch Megära in Raferei getrieben wird. Die 
Inder dringen fiegreih vor; alle griechiſchen Heerführer weichen, mit Ausnahme des 
Aakos. — 33, Die Chariten Hagen weinend bei Aphrodite; dieſe ſchickt dem Dio- 
nyjos den Eros zu Hilfe. Diefer entflammt den Inder Morrheus mit Liebe zu 
Challomedia, die ſich entjeßt, aber von Thetis beruhigt wird. — 34. Morrheus in 
heftiger Aufregung. Bei dem wieder begonnenen Kampf nimmt er viele Bakchanten 
gefangen und übergibt fie dem Deriades zur Beftrafung. Während er fi dann mit 
Chaltomedia aus dem Gefecht zurüdzieht, werden die Baflariden hart an die Stabt 
gedrängt und daſelbſt eingeihlofien. — 35. Niederlage der Baldhanten. Chalfomedia 
und Morrheus. Hermes befreit die Baffariden. Zeus erwacht und befiehlt Here, 
den Dionyjos von feiner Raſerei zu befreien. Diejer kann denn ins Treffen zurüd- 
fehren und entflammt die Seinen zum Kampf. — 36. Kampf ber Götter, von Hermes 
beſchwichtigt. Gefecht zwifchen den Indern und ben Satyrn. Deriades von Dionyjos 
angegriffen. VBerwandlungen bes Gottes. Die Rhadamanen rüften Schiffe zum See- 
frieg. Waffenſtillſtand. 

Vl. Der Seelampf in Indien. 37. Beftattung der Gefallenen. Der 
Scheiterhaufen des Opheltes. Spiele an jeinem Grab. Fauft: und Ringkampf. 
Wettlauf. Diskuswerfen. Bogenſchießen. Sceinfampf. — 38. Wieberbeginn bes 
Kampfes. Sonnenfinfternis. Hermes erzählt Dionyjos die Geihichte Phastons. — 
39. Flottenfhau des Dionyjos und des Deriades. Die Reben beider an ihre Truppen. 
Aatos betet zu Zeus, Erechtheus zu Boreas. Schiffskampf. Morrheus verwundet. 
Brander des Kabiren Eurymedon. Brand der Flotte. Deriades flieht. — 40. Athene 
täuſcht den Deriades, der in den Fluten des Hydaspes ertrinft. Die Klagen ber 
Fürſtinnen. Ende bes indifchen Krieges. Dionyſos entläßt fein Heer und fommt 
nad Tyrus. Beihreibung der Stadt. Erfindung der Schiffahrt. Tyrus und feine 
Brunnen, 

VO. Die Rüdfahrt. Dionyjos in Tyrus und Beros. 4l. Be 
ichreibung von Beroe. Die Nymphe Beros, Tochter der Aphrodite und bes Adonis. 
Ihre Mutter forſcht über ihr künftiges Geihid nah und fordert Eros auf, Pofeidon 
und Dionyſos für fie zu entfachen. — 42. Dionyjos verkleidet ſich erſt als Jäger, 
dann als Gärtner, um ihr jeine Liebe zu erflären. Auch Pofeidon verliebt ſich in 
Beros. Aphrodite fürchtet ihre Eiferfuht und fordert die beiden Freier auf, ben 
Befit der Braut durch einen Wettlampf zu entjcheiden. — 43. Die Heere der zwei 
Götter ziehen gegeneinander und werden von ihren Führern angefeuert. Der Kampf 
bricht log, aber Zeus macht ihm bald ein Ende, Beros wirb dem Pojeidon zugeteilt, 
Dionyjos durch Eros getröftet. 

VII Dionyjos in Griedhenland. Seine Apotheoſe. 44. Dionyios 
in Theben. Aufruhr unter den Thebanern. Der Traum Agaves. Pentheus waffnet 
feine Untertanen. Dionyfos ruft Selene an und bejudt Autonoe in ber Geftalt 
eines Stieres. — 45. Agaves Rajerei. Teirefias und Kadmos nehmen die Verehrung 
des Dionyjos an. Pentheus befämpft fie. Die Tyrrhenier. Der Rieje Alpos. Ge- 
waltmaßregeln des Pentheus. Wunderzeihen in Theben. — 46. Auf den Rat des 
Dionyſos verkleidet fih Pentheus als Weib, um die Vkyfterienjeier zu überwachen, 
und wirb von den Baldantinnen in Stüde zerrifien. Trauer der Agave, der Autonoe 


Nachklänge antifer Poefie. Verſuche chriſtlicher Epit. 73 


und des Kadmos. Dionyjos zieht nah Athen. — 47. Dionyfos in Attila. Ylarios 
und Erigone. Ariadne auf Naros. Kampf des Dionyjos gegen Perfeus in Argolis. 
Tod der Ariadne. Der Wahrjager Melampos ftiftet Frieden. — 48. Gäa reizt ihre 
Söhne zum Kampf gegen Dionyjos. Die Gigantomadhie endet mit dem Siege bes 
Dionyfos. Abentener des Gottes mit Pallene und Aura. Der dritte Dionyios, 
Apotheofe des Dionyfos !. 


Eine eigentliche künſtleriſche Einheit, d. 5. eine Einheit der Handlung, 
befitt die Dichtung offenbar nicht; es ift nur die Verjönlichkeit des Dionyſos, 
welche die einzelnen Abenteuer loſe zuſammenhält. Doch ballen fi die 
breiten Stoffmafjen in acht größere Teile, die für ſich ziemlich) gut gegliedert 
find. Auch in Bezug auf diefe aber find die folgenden Bemerkungen des 
franzöfijchen Überjegers, de3 Grafen de Marcellus, nit ganz aus der 
Luft gegriffen: 


„Nein, bei Nonnos find nicht, wie man gejagt, mehrere Gedichte in ein einziges 
zufammengebrängt; er hat eine fefte Methode, einen wohlerwogenen Plan, ben er 
ohne Berworrenheit entworfen, ohne Unordnung befolgt hat. . . Bevor er den wohl» 
tätigen Gott vorführen konnte, mußte er erft zeigen, aus weldem Chaos jeine Macht 
die Welt herauszog. Daher glei am Anfang der Kampf des Guten mit dem Böjen 
oder des Zeus mit Typhoeus; dann folgen die Verſuche des Kadmos und der Har- 
monia, welche den Kultus und die Künfte Phöniziens und Ägyptens in den Schoß 
von Griechenland verpflanzen. Nach Zagreus, der in der Verſchwörung der Titanen, 
dem zweiten Anjturm des böfen Prinzips, untergeht, ericheint endlich ber große 
Dionyfos, Dionyjos ber Thebaner, dad vom Blitz erzeugte zivilifatorifche Genie. 
Er entihlüpft der Wohnung des Athamas, dem Neide ber Here und wählt auf an 
der Seite Rheas, der allgemeinen Mutter. Dann bändigt der Gott Die Ungeheuer, 
welche die Welt quälen, gewöhnt feinen Leib an die Vorübungen des Kampfes und 
Ihafft den Wein, feine friedlihe Waffe der Eroberung. Bald jammelt er aus allen 
Zeilen der Welt und aus ben Reihen der himmlischen Gefhlehter ein ungeheures 
Heer; er ftellt ih an feine Spike, um Indien zu unterwerfen, auf demjelben Weg, 
den Alerander eingeihlagen. Darauf folgen bie Tage am Aſtakidiſchen See und in 
den Engpäflen bes Libanon, welche für Dionyjos die Schladten am Ifſus und 
Granifus bedeuten; langjam folgt man der Verbreitung bes Weinftods in dieſem 
pomphaften Wanbderbud aus bem inneren Golf von Nilomedien bis an die Ufer des 
Hydaspes quer durch feindliche Hinterhalte, wie dur gaftliche Hütten und Paläfte. 
In Indien entfaltet fi der Kampf mit all feinen Peripetien, Wechjelfällen, Siegen, 
Niederlagen, Überrafhungen und friegerifhen Künften. Endlich triumphiert Dionyfos 
und begründet feinen Kult und jein Reich bei den Völkern des indiſchen Orients. 
Alsdann kehrt er an die Hüften des Meittelmeers zurück, wo er fein anderes Heer 
mehr mit fi führt als fein gewöhnlices Gefolge. Er beſucht unterwegs Tyrus, 
das Vaterland feines Ahnen Kadmos, bereichert mit jeinen Gaben das glänzende 
Berytos und bie Täler des Libanon; dann zieht er dur Eilicien und Lydien, trägt 
feinen wohltätigen Einfluß weiter nad Europa, jteigt von den Bergen Thraciens 
und Dlaceboniens herab nad TIheben, wo er einjt geboren wurde, und wo feine gött- 
liche Macht fi in der Beitrafung eines ungläubigen Königs offenbart; gleich darauf 
weiht er Athen in jeine Diyjterien ein und tröftet zu Naros eine trauernde Geliebte; 





! gl. Migne, Patr. gr. XLIII 1227—1232, 


74 Fünftes Kapitel. 


benn er verfteht die Kunſt, Tränen zu trodnen und Schmerzen zu lindern. Sodann 
befämpft er jeine unverſöhnliche Feindin Here im Herzen von Argos ſelbſt, dem 
irdiihen Mittelpunkt der Macht der Götterfönigin, bändigt bie Rieſen von Thracien, 
d. h. die unfrudtbaren Gebirge, unterwirft Pallene, db. h. den ber Kultur wiber- 
ftrebenden Boden. Nah Phrygien zurücgefehrt, dem Reiche feiner Amme Kybele, 
bon wo er ausgezogen, bezwingt und mildert er bajelbjt die giftigen Ausdbünftungen 
ber Luft und verläßt endlich die Erbe, um unter den Scharen ber Unfterblichen feinen 
Thron zu befteigen. Diefes Gejamtbild entbehrt fiherlih nicht der Großartigfeit, 
nicht des Zufammenhangs.“ ! 


Mit Rüdfiht auf die meite Ausbreitung des Dionyſoskultes, feine 
fulturelle Bedeutung, feinen Zuſammenhang mit den berühmteften Mofterien, 
mit der dithyrambiſchen Poejie und mit dem Urjprung des helleniſchen 
Dramas gewinnt dieſer poetiihe Baldhuszug noch ein größeres nterefle. 
Doch war dem Dichter und feiner Zeit der altklaffiiche Geihmad zu ehr 
abhanden gefommen, als daß er im Auge gehabt hätte, dem reihen Stoff 
eine feite, abgerundete Einheit zu geben. Es war ihm weit mehr darum 
zu tun, gleih Ovid die bunte Fülle antiker Mothen in einen gemeinjamen 
Rahmen zu bringen und mehr den Zauber der Mannigfaltigteit wirken zu 
laffen. Das jagt er jelbft in der Anrufung der Mufen: 


Afare nor vapdnza, rıwafarz zönßala, Moboa:, 
zat zaldyın Ödre Bupaov dsıdönevov Jıovsaou* 

alla yopod YJavoyra, Papw rapa yslrovı viow, 
armearz nor Nowrja rolurporor, bppa pavsiy, 
rormilov eldog Eywv, ürı romilov Duvov dpdeow. 


Neichet den Narther mir, o Diufen, und jchlaget die Cymbeln, 

Gebt in die Hand mir ben Thyrſos, den herrlichen, bes Dionyſos, 
Laſſet, gejellt eurem Chor, auf der Inſel nahe bei Pharos 

Zanzend den Proteus mich mit feinen Verwandlungen ſchauen, 
Bunt von Geftalt und Geſicht; denn ein buntes Lied will ih fingen. 


So läßt Nonnos denn der Phantafie ganz ungebunden die Zügel 
ſchießen, ſchweift bei jeder Gelegenheit zu epiſodiſchen Sagen ab, malt die 
einzelnen Scenen jo breit wie möglid) aus, häuft Gegenjäte oder ähnliche 
Züge, bildet lange Stellen des Homer in übertriebener Weije oder an un— 
geeignetem Plate nad, jpielt willfürlih mit dem Wunderbaren und über: 
bietet jeine Haffiihen und alerandriniihen Vorbilder und oft fi jelbit im 
übermaf der maleriſchen Schilderung, des Ausdruds und der Sprade. Es 
it, als ob auf dem indiſchen Schauplag auch indiiche Maßlofigfeit und 
Phantaftif in die helleniihe Sage und Dichtung hereingebrodhen wären. Der 
junge Gott Dionyjos tanzt ſchon wie ein Viſhnu im Mutterleibe, der Berg 
Kithairon vergießt Tränen, und der Berg Atlas dreht den Himmel im 


ı112—16. Be Migne, Patr. gr. XLII 746 747. 


Nachllänge antiker Poefie. Verſuche chriſtlicher Epif. 75 


Kreife herum. Durch diefe Buntheit und Üppigleit ift die Dichtung mehr 
zu einem folofjalen fünftlihen Schauftüd ala zu einem von tieferem reli- 
giöfen und nationalen Gehalt befeelten Epos geworden. Sie madt fat 
den Eindrud, als hätte hier die antife Mythologie mit ihrem ganzen Vor: 
rat don Homer und Hefiod bis zu den Alerandrinern gänzlihen Ausverkauf 
balten wollen. 

Bei alledem erweiſt fih Nonnos als einen Dichter, der ebenſowohl die 
Titanenſchlacht des Hefiod oder die Kämpfe der homeriſchen Helden mit einer 
gewiſſen Selbftändigfeit nadhzubilden weiß als die zarte und liebliche Klein— 
malerei der Bukolifer und die jentimentalen Versromane der alerandriniichen 
Erotifer. Er befigt Feuer und Kraft wie Anmut und Leichtigleit. Die 
dichteriſche Sprache beherricht er im feltener Fülle und hat fie mit treffenden 
Neubildungen vermehrt. Auch dem Herameter hat er gewiffermaßen ein 
neues Kolorit gegeben, indem er ihn ftreng daktyliſch hielt, d. h. nie mehr 
al3 einen Spondeus in demfelben Versglied (Kolon) duldete und die Haupt: 
cäfur ftatt nad der Arfis des dritten Fußes, erſt nad dem Trochäus des- 
jelben eintreten ließ (weibliche oder trochäiſche Cäſur). Auch anderweitig 
unterwarf er den Bau des Herameters firengeren Regeln. So darf 3. B. nie 
ein auslautender Bofal mit dem anlautenden des folgenden Wortes zufammen- 
ſtoßen, ein furzer Vokal nicht durd die bloße Kraft der Arſis und Cäſur 
gelängt werden, die Schlußfilbe eines Verſes für gewöhnlich nicht kurz jein. 
Elifionen ſucht er jorgfältig zu meiden. Durch diefe Einſchränkungen, welche 
auf dem feinften Gefühle für Wohllaut beruhen, haben die Verſe des Nonnos 
eine jeltene Weichheit und einen melodischen Fluß erlangt, melde ſich für 
die bufolifden und romantischen Epifoden feiner Dichtung vorzüglich eignen, 
wenn aud ihre Gleihförmigfeit auf die Dauer eine gewilfe Eintönigkeit 
herbeiführt. 

Überaus merkwürdig wäre es, wenn derjelbe Nonnos, der letzte große 
hellenifche Epiter, der noch einmal das Füllhorn des alten Mythos in den 
einſchmeichelnden Verſen der „Dionyfiata“ ergoß, der zum Abſchied noch 
einmal den bakchantiſchen Siegeszug des vielbefungenen Dionyjos in aller 
Pradtentfaltung helleniicher Sprache jchilderte, wirklich die religiöje Nichtig: 
feit des Paganismus eingefehen, ſich als betagter Mann oder ſchon Greis 
zum GChriftentum befehrt und mit der ganzen Fülle feiner Spradgewandt: 
heit das Evangelium des Hl. Johannes in die poetifchen Formen des alten 
Hellas gekleidet hätte, um den jchönheitsdurftigen SHellenen den menſch— 
gewordenen Logos, fein Leben und feine Lehre, feinen Opfertod und feine 
glorreihe Auferftehung näher zu bringen. Volle Gewißheit haben wir 
hierüber nicht; doc ſpricht eine nicht geringe Wahrfcheinlichkeit dafür. Zum 
wenigſten ift den „Dionyſiaka“ des Nonnos bald die feinen Namen tragende 
Baraphraje des Johannesevangeliums gefolgt, welche in Versbau, Sprade 


76 Flinftes Kapitel. 


und Ausdrud die innigfte Verwandtſchaft mit Nonnos verrät; die erfte 
chriſtliche Epik in griehiiher Sprache fußt alſo in formeller Hinfiht un— 
mittelbar auf ihm. 

Meraßoin zo zara "lodvvuyv Ayloy edayyektov: „Umſchreibung des 
heiligen Evangeliums nad Johannes” lautet der Titel. Das Gedicht flieht 
fh eng an den Evangeliften an, Vers für Vers wird beibehalten und in 
griehiihe Herameter umgegojjen. 


Ayposog dv, üxiynros, & dphyrw .loyos äpzn, 
leogung Isverüpos üpndızos, Nlöog duntwp, 

hai Joyog abrogiror @soö, güs, dx Pdeos Ps. 
llarpos In» duspıorog, drpsuor aivdpovos Eden“ 
Kai Hzüg bnyevedlog En» Adyos. Obros ar’ dpyüs 
devdwm auvelaure Gew reyvijnove xöonou 
Ilpsoförspos xöoonoro, Kal Iriero zdyra di abroö, 
Amvoa zai nyelovra* zal dpyorivou diya Misov 
0ud8, Zpu rörsp Eoxe. 


Zwed der Paraphrafe ift nicht, den Sinn des Evangeliums dem Ver: 
ſtändnis näher zu bringen, jchwierige Gedanken und Verbindungen zu er= 
läutern. Sie ift mehr eine Umfchreibung der Worte als der Gedanlen. 
Oft begnügt fih Nonnos einfah, den Tert metriſch zu geftalten und dur 
ſchmückende Beimörter und Appofitionen leicht zu erweitern. So lautet 
3. 8. Io 15, 1 2: „Ih bin für die erneuerte Welt der Weinftod des 
Lebens, mein Vater aber ift der Winzer. Die jhönlaubige Rante, welche 
nicht vermochte, Trauben Hervorzubringen, wird er abſchneiden. Diejenige 
aber, welche geziert ift mit dunfelfarbiger Frucht, die weiß mein Vater, der 
lebenjpendende Adersmann, zu reinigen bon dem zu früh hervorgejproßten 
Laub, damit jie mehr Frucht bringe.“ Anderswo wird nur der einfache 
Ausdrud des Evangeliums in dichteriihe Sprache umgeſetzt; z. B. „ſtatt 
am dritten Tage“ (2, 1) jagt der Dichter: „ALS die dritte bräutliche 
Morgenröte die Felszacken mit Purpur bemalte.” Manchmal werden nahe 
liegende Gedanten in die Erzählung eingefügt; jo ſchlägt (1, 50) Nathanael 
vor feiner Antwort fih dor Verwunderung vor die Stim; 12, 31 ſchwingen 
die Juden die abgejhnittenen Palmzweige dem Heiland entgegen; da man 
dem Herrn am Kreuze Ejfig reicht (19, 29), fügt der Dichter bei: „und 
da3 aljo war die Vergeltung für den honigjühen Schnee des himmlijchen 
Brotes“ (Manna); an 18, 28 knüpft fih ein Ausruf über die Schein: 
heiligfeit der Juden. Mitunter bietet ein einzelnes Wort des Evangeliums 
Anlaß zu einer breiteren Amplifilation: jo wird zu 18, 1 der Bad Cedron, 
V. 3 der Zug der Häfcher, V. 19 das Äußere des Kaiphas während feiner 
Antwort genauer bejchrieben. Der einzige Bers 11, 44 wird in vollen 
22 SHerametern ausgeführt, welche die Auferftehung des Lazarus in groß: 


Nachklänge antiter Poefie. Verſuche chriſtlicher Epif. 77 


artigfter, ergreifendfter Weile zur Darftellung bringen. An andern Stellen 
find dagegen Beräteile! oder ganze Verſe? weggelaffen. 

Trotz der ftrengen Regeln, mit welchen Nonnos die Freiheit des Hera- 
meters einjchränfte, fließen feine Verſe überaus leiht und wohlklingend 
dahin, und fo Hat der Dichter der Paraphraje das nicht geringe Verdienſt, 
die Gedanken des erhabenften der vier Evangeliften mit der reichten Pracht 
einer Dichterſprache umfleidet zu haben, welche zu jener Zeit unzweifelhaft 
das Entzüden der gebildeten Kreife war. Sie verrät nicht nur den aus- 
gezeichnetften Verskünſtler jener Zeit, jondern einen Dichter, der jeine Sprach— 
gewandtheit und jein Formtalent in tiefer Ehrfurdt und Frömmigleit dem 
heiligen Terte unterordnete und fie jo in den Dienſt des „Königs“ ftellte, 
wie er gewöhnlich den Heiland nennt. Dur dieſen treuen Anſchluß an 
den evangeliihen Tert, die maß- und gejhmadvolle Erweiterung desjelben, 
die herrliche Sprade und die melodiihe Schönheit des Verſes ragt dieſe 
ältefte griehiiche Evangeliendihtung weit über die ihr folgenden lateinijchen, 
auch über mande der jpäteren Meſſiaden hervor. 

Die Verstechnik wie die Epif des Nonnos fand zahlreihe Nachahmer 
und machte gewiſſermaßen Schule. Bon Tryphiodoros, ebenfalld einem 
Ägypter, führt Suidas vier Dichtungen an®, von welchen fi indes nur 
da3 unbedeutende Epyllion „Die Eroberung von Troja” erhalten hat. Von 
Kolluthos aus Lyfopolis in der ägyptiſchen Thebais ift ebenfalld nur 
ein Epyllion „Der Raub Helenas“ (in 400 Berjen) vorhanden; feine 
übrigen Werte* find verloren. Hohen Ruf al Epiker genoß Kyros, 
gleih Nonnos aus PBanopolis, im Jahre 441 Konful, jpäter Biſchof von 
Kotyaion, jo daß man ihn jogar als einen Sohn Kalliopes und Mild- 
bruder Homers feierte; doch fennt man von ihm nur ein paar Verſe in 
der Anthologie. Claudian, wahrſcheinlich identiſch mit dem lateiniſchen 
Dichter Claudius Glaudianus, ſchrieb die Stadtgejhichte (Ta rdrpıa) von 
Tarjos, Anazarba, Berytos und Nilda in Berjen; erhalten find von ihm 
nur einige Epigramme (in der Anthologie) und fiebzig Shöngebaute und wirk— 
ih erhabene Berje einer Gigantomadie. Ein ſchönes Gedicht auf Ehriftus 
(Anthologie XIII 615) läßt annehmen, daß er fpäter Chrift geworden, 

Bekannter als dieſe Dichter wurde Mufaios, über deſſen Lebenszeit 
die Vermutungen früher um 1000 Jahre auseinandergingen. Stil und 

1So fehlt 1, 30: öre npwrög ou Av; 14, 26: 5 rind ö marıp iv rw 
öyöpari nov; dgl. 1, 12; 11, 33 ꝛc. 

24, 41 42; 6, 41—55; 8, 38 haben alle Eodices eine Vüde. 

’ Hapadwvıazd, IMov ülwuas, Ta zara Irzodaznzcav, Odsoesıa Asıroypdunaros. 

* Kalvdwuaxa, Ilspawxd, ’Eyrönıa. 

® Herauögeg. von A. Ludwich, Leipzig 1897; Th. Birt (Monum. Germ. 
Auctores antiquissimi X), Berlin 1892, 415—422, 


78 Fünftes Kapitel. 


Metrum machen es indes ziemlich fiher, dab er der Schule des Nonnos 
beizuzählen, andere Momente deuten darauf hin, daR er gleich diefem zum 
Ehriftentum übergetreten if. Seinen Ruhm dankt er dem Epyllion „Hero 
und Leander”, das in jeinen 340 Berjen zwar nicht die dolle Strenge der 
alttlajfiichen Form beſitzt, aber eine bezaubernde Anmut der Daritellung 
und Sprade entfaltet!. Nicht mit Unrecht Hat man es „die letzte Roſe 
im dahinwellenden Garten der griehiichen Poeſie“ genannt. Das Schönfte 
daran, die Sage, hat er freilich nicht jelbft erfunden, aber fie echt dichteriſch 
zu geftalten verftanden. Der ergreifende Schluß lautet: 


Nacht war's, wenn fich zumeift dumpfbraufende Wetterorfane, 
Schauriges Wintergeftürm herſchleudernde Wetterorfane, 

Zu dem Geftade des Meeres in tummelnden Scharen heranziehn. 
Aber Leandros, im hoffenden Wahn ber gewohnten Vermählung, 
Trieb daher auf dem Rüden ber lautaufbrüllenden Meerflut. 

Schon an die Wog’ antürmet die Woge fi, Brandungen jehäumen, 
Ather vermengt mit dem Grund fich, es wacht ringsum das Getös auf 
Wildanfämpfender Stürm’, auf Zephyros braufet nun Euros, 

Und es entbeut auch Notos dem Boreas furdtbare Drohung, 

Und es ertoft ohn’ Ende die wildherdonnernde Salzflut. 

Aber aus ftrudelnden Wirbeln erhob der duldende Yüngling 

Oft fein brünftiges Flehn zur Göttin der Flut, Aphrodite, 

Oftmals aud zu ihm jelber, dem Dieerobwalter Pojeidon, 

Ließ auch den Boreas nicht ungemahnet der attıihen Jungfrau. 
Aber es half ihm feiner, denn nicht wehrt Eros den Dloiren. 
Rings num gepeiticht von ber ſchwellenden Flut unbezwinglihem Andrang, 
Trieb er daher. Schon löfte der Füß' anftrebende Kraft ſich, 

Unb es erihlafften die Sehnen der nie ausruhenden Arme, 

Ihm in den Mund von ſelber ergoß fi ein reihliher Meerichwall, 
Und unerquidlihen Trunk des brandenden Salzes verſchluchkt' er. 
Jetzt auch löſchte die trügende Lampe ein feindlicher Winbdftoß, 
Löſchete Leben und Liebe dem jammervollen Leandros. 


Schlaflos ſpähet indes, und bes immer noch weilenden Yünglings 
Harret die Braut, durchſchauert von oft aufftöhnender Bangıtis. 
Eos bämmert empor, und es jah nicht den Bräutigam Hero. 
Rings nun ſchweifet ihr Blick auf des Meers unermeßlichem Rüden, 
Ob auf der Flut fie gewahre des irrenden Lagergenofien, 
Welchem die Lampe verloih, und jobald fie zu Füßen des Turmes 
An dem Gezade der Klippen zerichmettert ben toten Gemahl ſchaut, 
Da, von der Bruft wegreißend den künſtlich gewobenen Leibrod, 
Schwingt fie mit Macht fih, vornübergebeugt, von ber ragenden Turmhöh'. 
Über des Gatten entfeelter Geftalt erblaßte auch Hero, 
Und bie Liebe vereint fie auch noch in dem legten Verberben ?. 





! Ausgaben von Fr. Paſſow, Leipzig 1810; Dilthey, Bonn 1874. — 
Schwabe, De Musaeo Nonni imitatore, Tubing. 1876. 
® Iberfeßt von Fr. Paſſow. 


Nachklänge antiker Poefie. Verſuche chriſtlicher Epif. 79 


Auch eine Dichterin Hat diefe Übergangszeit aufzuweiſen. Es iſt 
Athenais, die um ihrer Schönheit wie um ihrer Geiftesbildung Hoch» 
gefeierte Tochter des Philojophen Leontios!, Mutmaßlich um den Anfang 
des 5. Jahrhunderts geboren und im Heidentum auferzogen, nad) des Vaters 
Tod von habgierigen Brüdern um ihr Exrbteil bedroht, juchte fie Hilfe und 
Schuß bei der jugendlihen Kaijerin Pulderia, melde damald das Steuer 
des oftrömischen Reiches führte, und fand bei ihr nicht nur den gewünjchten 
Schuß, jondern ward von ihr zur Gemahlin ihres Bruders, des Kaiſers 
Theodofius II., auserjehen. Nachdem fie die nötige Vorbereitung erhalten, 
empfing fie die heilige Taufe, wobei Pulcheria ſelbſt ihre Patin ward und 
Athenais ihren bisherigen Namen mit dem fürftlihen Eudokia vertaufchte. 
Als Alia Eudokia wurde fie am 7. Juni 421 durd den Patriardhen 
Attikus dem Kaiſer angetraut; ſechzehn Jahre jpäter ward ihre Tochter 
Eudoria mit dem weſtrömiſchen Saifer Valentian ILL. ebenfalls in Kon— 
ftantinopel vermähft. Die Trennung von ihrem geliebten Finde trübte 
indes bon da an ihr Familienglüd. Auf den Rat der Hl. Melania der 
Jüngeren ſuchte fie 438 Troſt in der Wallfahrt nad Jerufalem, wo fie 
ein volles Jahr vermweilte. Nach ihrer Rückkehr flörten mwahrjdeinlih un— 
begründete Eiferfuht des Theodofius und Palaftintrigen das bisherige 
gute Einvernehmen der faiferlihen Gatten. Eudokia fiel bei Theodoſius in 
vollftändige Ungnade und ſah ſich genötigt, zwiihen den Jahren 441—444 
vom Hofe fich zurüdzuziefen. Sie wählte zu ihrem Aufenthalt abermals 
Jerufalem, wo fie, mit allem äußeren Prunk einer Kaiferin umgeben, den 
Reit ihrer Tage verliebte. Während der monophyfitiihen Wirren dajelbft 
ließ fie fich zeitweilig von den Führern der neuen Härejie umgarnen, unter: 
warf jih aber 456 den Defreten des Konzil® von Chalcedon und ftarb 
(etwa um 460) im Schoß der fatholiichen Kirche. Ihren Reichtum ver: 
wandte fie in freigebigfter Weiſe auf Werke der Frömmigkeit und Wohl: 
tätigfeit. Sie ließ die Mauern der Stadt wiederherftellen, ftiftete Klöfter 
und Hojpize und erbaute in der Nähe der Stadt eine herrliche Kirche zu 
Ehren des hi. Stephanus. Seit Helena hatte niemand jo viel für die 
Stadt getan. Ihre Mupeftunden wandte die feingebildete Kaiferin der 
Poeſie zu. 

Nah dem Vorbild des Nonnos verfaßte Eudokia poetiiche Paraphrafen 
in Herametern zum Oftoteuh (d. 5. zu den fünf Büchern Mojes, den 
Büchern Jofua, Richter und Ruth) jowie zu den Propheten Zacharias 
und Daniel. Diejelben find nicht erhalten. Photius, der fie noch gelejen, 
erklärt fie für bewundernswürdig, nicht nur weil eine Frau, und zwar 
eine im faiferlihen Glanze jchwelgende, diejelben verfaßt, jondern aud an 





ı 5. Gregorovius, Athenals. Gefchichte einer byzantiniſchen Kaiſerin?, 
Leipzig 1882. — Wiegand, Euboria, Worms 1870. 


80 Fünftes Kapitel. 


fih, als eine ganz hervorragende Leiſtung im epiſchen Metrum. Als einzige 
Schwäche derjelben in künſtleriſcher Hinficht bezeichnet er den Umftand, daß 
die Dichterin, auf poetijche Freiheit völlig verzichtend, fi zu eng an den 
bibliſchen Text anſchließt, faum etwas verkürzt oder verlängert, nod 
weniger den jugendliden Leſer durch jelbftändige Erfindungen und Digreſ— 
fionen zu ergößen wagt. Wie er bemerft, rechneten ihr dies andere zum 
Lobe an, 

In ähnlicher Weiſe bearbeitete Eudofia in drei Büchern die Legende 
des Magier Eyprian und der Märtyrin Juftina, melde als Borläuferin 
der Theophiluslegende und Fauſtſage wie durch Calderons „Wundertätigen 
Magier“ Hohe Bedeutung für die ganze Weltliteratur erlangt hat. Diejelbe 
lag ihr in der Projafaffung der jog. Confessio Cypriani vor: fie veritieg 
fih auch hier nicht zu einer völlig jelbftändigen Behandlung, jondern be- 
gnügte ſich, diefelbe in Herameter umzugießen. Von diejer Dichtung ift 
noch ein größerer Torſo vorhanden, aber Anfang und Schluß fehlen. 
Von dem Ganzen liegt aber noch ein ziemlich reichhaltiger Auszug des 
Photius vor?, 

Danad) begann das erfte Bud mit der Geſchichte der heiligen Märtyrin 
Suftina, welde, zum Chriftentum befehrt, auch ihre Eltern für dasjelbe 
gewinnt. Ein Jüngling, von ihrer Schönheit bezaubert, verſucht umjonft, 
ihre Liebe zu gewinnen, und wendet ſich nun an den in allen magijchen 
Künften erfahrenen Cyprian. Diefer bietet alle diabolifhen Mittel auf, 
um die keuſche Maid ins Wanken zu bringen, aber umfonft. Das Sreuzes: 
zeichen vereitelt allen Teufelsfpuf. Cyprian bricht deshalb mit den Dämonen, 
wirft alle feine magiſchen Bücher ins Feuer, läßt fih im Ghriftentum 
unterrichten, empfängt die heilige Taufe und die niederen Weihen, wirft 
Wunder, treibt Teufel aus und wird jchlieflih auf den erzbiſchöflichen 
Stuhl erhoben. 

Die Confessio und nad ihr aud das Gedicht der Eudokia ift nicht 
gut angelegt. Denn das zweite Buch wiederholt einen guten Zeil des be: 
reits Erzählten. Nur wird Cyprian hier redend eingeführt und entwirft 
an feinen eigenen Lebensihidjalen ein eingehendes Bild von dem gejamten 
Gößenaberglauben und dem Dämonismus der antifen Welt. 


! Photius, Bibliotheca, cod. 133 (Migne, Patr. gr. CI 535—538). 

? Die Fragmente der Eudofia herausgeg. von A. Ludwich, Leipzig 1897. 
— Der Auszug bes Photius (Cod. 184) bei Migne a. a. O. CII 537—542. — 
Bol. Th. Zahn, Eyprian von Antiohien und die deutſche Fauſtſage, Erlangen 1882. 

» Dies beruht auf einer Verwechſſung des Märtyrer Cyprian von Antiochien 
mit dem bl. Eyprian von Karthago, welche ſich Schon in einer Lobrede des hl. Gregor 
von Nazianz auf den lehteren findet und dann in die Schriften des Prubdentius und 
anderer überging. 


Nachklänge antiter Poefie. Verſuche chriſtlicher Epif, 


Bekenner Chriſti, die ihr treu und warm 
Im Herzen hegt den vielgeprief'nen Heiland, 
Seht meiner Tränen friſchen Strom, und dann 
Bernehmt, aus welhem Quell mein Kummer ftammt. 
Und ihr, die noch der finſtre Wahn umftridt 
Der Götzeubilder, merkt auf das, was id) 
Bon ihrem Lug und Trug erzählen werde. 
Denn nimmer hat ein Menſch gelebt, der fo 
Wie ich dem falichen Göttern war ergeben 
Und der Dämonen Art jo gründlich kannte. 


Ja, Eyprianus bin ich, den als Kind 
Die Eltern dem Apollo bargebradt. 
Es war bes zarten Säuglings Wiegenlieb 
Gelärm der Orgien, wenn man das Feſt 
Des graufen Drachen feiert’. Siebenjährig 
Ward ich geweiht bem Sonnengotte Mithras. 
Ich wohnt’ in der erhab’nen Stadt Athen 
Und ward ihr Bürger au. Denn jo gefiel’s 
Den Eltern. Als ih zehn der Jahre zählte, 
Hab’ ich Demeters Fadeln angezündet 
Und mich verientt in Koras ZTotenflage. 
Ich hegt' der Pallas Schlange auf der Burg 
Als Zempelfnabe. 


Dann zum Waldgebirg 
Olympos jtieg ih auf, wo Toren fid 
Den lichten Wohnfik jel’ger Götter denken. 
Die Horen fah ih und den Schwarm der Winde, 
Der Tage Chor, die phantafiebeflügelt 
Mit Gaufelbildern durch das Beben ziehn. 
Ih jah Gewühl von Geiftern fampfentbrannt, 
Und Hinterhalte voller Lift; von Spott 
Und Laden beritend bie, und jene ganz 
Bon Schred erftarrt. Die Reihen ſah ih all’ 
Der Göttinnen und Götter. Denn wohl vierzig 
Und nod mehr Tage hab’ ih dort vermweilt. 
65 war mein Dahl, wern Helios niederſank, 
Der bichtbelaubten Wipfel Frucht. Wie 
Als wären fie aus hoher Königsburg 
Entfandt, durchziehn die Luft die Geifterboten, 
Um dann zur Welt hinabzufteigen, wo 
Die Menſchheit fie mit taufend Übeln plagen. 


Ich zählte fünfzehn Jahr’ und kannte ſchon 
Die Wirkenskraft der Götter und der Geifter, 
Denn mich belehrten fieben Oberpriefter. 
Der Eltern Wille war, daß ich gewänne 
Von allem Wiffenihaft, was ift auf Erden, 
Im Reich der Lüfte und im tiefen Meer. 
Baumgartner, Weltliteratur. IV, 3. m. 4. Aufl. 


82 Fünftes Kapitel. 


Ich hab’ durchforſcht, was in ber Menſchenbruſt 
Verderben brütet, was im Kraute gärt, 

Im Saft ber Blumen, was um müde Leiber 

Als Siechtum ſchleicht, und was die bunte Schlange, 
Der Fürft der Welt, voll arger Lift erfinnt, 

Um Gottes ew’gen Ratſchluß zu beftreiten. 


Ans ſchöne Land von Argos zog ih Hin, 
Das roffenährende. Das Feſt der Eos, 
Der weißgewand’gen Gattin des Tithonos, 
Beging man grad, und dort ward ich ihr Priefter. 
Ich lernte fennen, was geſchwiſterlich 
Die Luft und dieſes Poled Rund durchzieht, 
Mas Waller maht der Aderflut verwandt, 
Und was die Himmel trübt als Regenihaner !. 


Weiter geht die Wanderung dann nad) Elis und Sparta, nad Phrygien, 
Agypten, Chaldäa und Perfien, um allen Zauberjput diefer Völker zu er 
gründen. Alle böjen Geifter, den Teufel jelbit lernt Gyprian fennen. Die 
Schilderung ift von hoher poetiiher Schönheit. 


Ih jah den Dämon jelbft von Angeficht, 
Nachdem ih ihn mit Opfern mir gewonnen ; 
Ich ſprach zu ihm, und er erwibert! mir 

Dit Schmeihelworten, Deine Jugendſchöne 
Und mein Geſchick zu feinen Werten rühmend, 
Verhieß er mir die Herrſchaft dieſer Welt 
Und gab mir Madt, den Geiftern zu gebieten. 
Er grüßte mid mit meinem Namen, alg 

Ich ſchied, und ftaunend ſahn es feine Großen. 
Sein Antlik gleicht ber Blume reinen Goldes; 
Er trägt ein Diadem von Funkelſteinen 

Und flammenbes Gewand. Die Erde bebt, 
Wenn er fih rührt. In dichten Reih'n umftehn 
Speerträger feinen Thron, den Blick gejentt. 
So bünft er fi ein Gott, jo äfft er nad 
Des Emw’gen Werke, den er frech beftreitet. 
Dod machtlos jhafft er nicht’ge Schemen nur; 
Denn ber Dämonen Wejenheit ift Schein. 


Diefer lügnerifhe und trügeriihe Charakter des Dämoniſchen wird 
noch des meiteren gejchildet. Dann fommt Gyprian endlih auf das 
eigentliche Abenteuer der Legende. 


Ich z0g vom Land ber Perfer fort und kam 
Nah Antiohia, der großen Stadt 


ı jiberfeßt von Gregorovius, Athenais 267 ff. 


Nachklänge antifer Poefie. Verſuche hriftlicher Epif. 83 


Der Syrer; bier verübt’ ih Wunders viel 

Bon Zauberei und hölliſcher Magie. 

Ein Yüngling ſucht' mic auf, Aglaidas, 

Bon Lieb’ entbrannt, und mit ihm viel Gefährten. 
Ein Mädchen war's, Yuftina ift ihr Name, 

Für das er glüht’, und meine Knie umſchlingend 
Beihwor er mid, in feine Arme fie 

Durch Zauberfunft zu ziehn. Und da zuerft 
Ward mir de Dämons Ohnmacht offenbar. 
Denn fo viel Geifterfharen er beherrſcht, 

So viel entjandt er wider jene Jungfrau, 

Und alle kehrten fie beſchämt zurüd. 

Auch mid, Aglaidas’ Beförd’rer, machte 
Juftinas fromme Glaubensfraft zu Schanden; 
Sie zeigte mir, wie eitel meine Kunft. 

Manch ihlummerloje Naht durhwadt’ ih da 
Und quälte mi mit Zauberei ab. 

Zehn Wochen lang beftürmt’ der Fürſt ber Geifter 
Das Herz der Jungfrau. Eros hatte, ah! 
Nicht den Aglaidas allein verwundet, 

Auch mich ergriff der Liebe Najerei. 


Vergebli) wendet Cyprian andere diaboliihe Kunſtſtücke an; vergeblich 
bringt er durch Unglüdsfälle die Eltern Juftinas an den Bettelftab; vergeblich 
ſucht er das ganze Volt mit einer Peft heim. Grbittert wirft er endlich 
dem Dämon feine Ohnmacht vor; diefer droht ihn zu erwürgen, aber auch 
Cyprian ſcheucht ihm jetzt mit dem Zeichen des Kreuzes fort und wendet ſich 
um Hilfe an die chriftlihe Gemeinde. 

Hier briht das Fragment der Eudofia ab. Nah dem Auszug des 
PHotius wird noch weiter erzählt, wie Cyprian von dem milden Priefter 
Eufebius aufgenommen wird, der Zauberei entjagt und ſich befehrt, auch 
Aglaidas jeine Güter an die Armen verteilt und Chriſt wird. 

Das dritte Buch behandelte das Martyrium Cyprians und Juſtinas. 

Es verdient fiher Beachtung, dab eine jo feingebildete Griedhin wie 
Eudokia, welche den zeitgenöjfischen Hellenismus von Grund aus fannte, die 
Götter und Mofterien Griechenlands fo unbedenklich in dieſes düftere Nacht: 
gemälde des heidnifhen Zauberglaubens hineingezogen und gewiljermaßen 
das Heidentum jelbft ebenjo unnachſichtlich enilarvt hat als einer der chrift- 
fihen Apologeten. Aber ungleich ſchöner und rührender ijt die Huldigung, 
welche die einftige Verehrerin Athenes und Aphrodites, die Kaiſerin von 
Byzanz und die Kaiferinmutter von Rom, in dieſer frommen Legenden- 
dihtung der Macht des Kreuzes, der fiegreihen Jungfräulichleit und dem 
chriſtlichen Martyrium darbringt. 


6* 


84 Sechſtes Kapitel. 


Schjtes Kapitel, 
Die Anfänge der chriſtlich-lateiniſchen Literatur. 


Mie der hl. Paulus in griehijcher Sprade an die Römer jchrieb, der 
hl. Markus in derjelben Sprade fein zunächſt für die Römer beftimmtes 
Evangelium verfaßte, der hl. Polykarp auf griehiih in Rom predigte, die 
erften römischen Päpfte, wie der hl. Klemens, und die älteften römijchen 
Kirchenſchriftſteller griechiſch ſchrieben, jo iſt das Griechiſche bis an die Wende 
des dritten zum vierten Jahrhundert die liturgiſche und kirchliche Sprache 
Roms geblieben. Deutlich weiſen dies die Inſchriften der Papſtgräber 
aus!,. Der hl. Hieronymus kannte nur zwei chriſtliche Schriftſteller, die 
vor Tertullian lateiniſch ſchrieben. In vielen Zeilen Italiens aber, in 
Gallien, Spanien und Afrifa mußte das Evangelium gleih von den älteften 
Zeiten an aud in lateinischer Sprache gepredigt werden. Die beftändige 
Anwendung des Bibelwortes bei der hriftlihen Predigt heiſchte auch bald 
eine Überſetzung der beiden Teftamente, und fo entitand ſchon früh im 
zweiten Jahrhundert die ſog. „Itala“, das älteſte chriftlihe Denkmal in 
lateiniſcher Sprade?. Genau läßt ji die Zeil und Weife ihrer Abfaſſung 
nicht beftimmen, aber Tertullian fand fie gegen Ende des Jahrhunderts 
ſchon in allgemeinem Gebrauh. Durch mannigfahe Eigentümlichfeiten der 
Volksſprache, Gräzismen und Hebraismen weicht die Sprache diefer Über: 
ſetzung ſtark vom klaſſiſchen Latein ab. 

Als unmittelbares Gotteswort, Quelle der Offenbarung, Grundlage 
der gejamten neuen Weltanfhauung drängte die Bibel für die nächſten 
Jahrhunderte wie im Orient jo auch im Occident alle übrigen Studien 


! L’uso eostante della lingua greca in quegli epitaffi (dei romani pontefici) 
& prova manifesta, che greco fu il linguaggio ecclesiastico della chiesa romana 
nel secolo terzo. ... Circa la fine del secolo terzo, o volgendo il quarto, la 
greca lingua ecelesiastica cedette in Roma il luogo alla latina (G.B. De Rossi, 
Roma Sotterranea II, Roma 1867, 236 f). — Über andere griechiſche Inſchriften in 
Rom vgl. G. B. De Rossi, Inscriptiones christianae II, Roma 1888, xxvı f; 
Batiffol, Anciennes litteratures chret. 114. 

® R. Cornely, Introductio generalis I, Paris. 1885, 358 f; ed. 2, Paris. 
1894, 876 f. — Verzeichnis ber Handichriften und ber neueren Arbeiten von Rönſch, 
Ziegler, Ranfe, Wölfflin, Berger, Wordsworth, Belsheim in Nov. 
Testamentum graece, ed. Tischendorf. Ed. VIII. 3b II. Prolegomena seripsit 
©. R. Gregory (9483—971). — Ältere Literatur über die „Itala“ bei Sabatier, 
Bibliorum 8. Latinae versiones antiquae, 3 Bde, Remis 1739—1749; Bianchini, 
Evangeliarium quadruplex, Romae 1749 (abgedbrudt bet Migne, Patr. lat. XII 9f). 
— Über die Bezeichnung „Itala“ vol. Wölfflin (Sikungsberichte der fönigl. 
bayr. Akademie ber Wiſſenſch., PhHilof.-hiftor. Klafie II, Münden 1893, 256) und 
F. €. Burfitt (The Old Latin and the Itala, Cambridge 1897). 





Die Anfänge der KHriftlichelateiniihen Literatur. 85 


und Literaturintereffen zurüd. Das ganze Denken, Leben, Fühlen und 
Spreden mußte fih erſt umgeftalten, ehe fib auf diejer Grundlage eine 
neue Literatur entwideln konnte. ine jolhe hat darum erjt gegen Ende 
des zweiten Jahrhunderts aufzublühen begonnen, und zwar in Nordafrika, 
wo, wie alle Umſtände andeuten, die ältefte lateiniſche Bibelüberjegung ent: 
Handen ift!, Die erfte und dringendſte Aufgabe, weldhe an die chriftlichen 
Schriftfteller Herantrat, war es, ihre verfolgte Religion gegen die Verleum: 
dungen und ungerechten Anjhuldigungen der Heiden zu verteidigen. 

In wahrhaft klaſſiſcher Form entledigte fi diefer Aufgabe Marcus 
Minucius Felir, nah dem Zeugnis des hl. Hieronymus und des 
Lactantius ein ausgezeichneter Advokat in Rom, der erft in jpäteren Jahren 
„aus tiefer infternis zu dem Lichte der Weisheit und Wahrheit” empor: 
drang. Zu jeinen Freunden zählte er Octavius Januarius, der, gleich ihm 
Sadhmalter, noch vor ihm zum Chriftentum übertrat, aber gewöhnlich in 
Afrika lebte, und Cäcilius Natalis, der, noch Heide, aus Cirta in Numidien 
(Ronftantine) gebürtig war, aber in Rom lebte. Dieſe zwei Freunde und 
fich jelbft wählte er zu Perfonen eines Dialogs, den er mutmaßlih ſchon 
in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts jchrieb, der für die ges 
bildeten Heiden jener Zeit berechnet ift und durch Schönheit und Form— 
vollendung den Leiftungen der beften damaligen Profanſchriftſteller gleich— 
tommt. Der Dialog führt den Titel „Octavius“ 2, 

Die drei Freunde machen einen Ausflug bei Oftia, der folgendermaßen 
geihildert wird: 

„Die Herbftferien waren angebrocdhen und hatten uns Raſt von den gerichtlichen 
Sorgen verschafft. Denn um dieſe Zeit trat nad den heißen Sommertagen bereits 
ein angenehm gemäßigtes Herbfimetter ein. So fpazierten wir denn ſchon in aller 


Frühe am Meeresftrand,, ein janft fähelnder Wind erquickte die Glieder, der weiche 
Sand gab ſehr angenehm jedem Schritte nad — ba erblidte Eäcilius eine Statue 





ı Überrefte der „Itala“ haben fih in den beweglichen Teilen der Meſſe (In— 
troitus, Grabuale, Offertorium, Kommunion) jowie in Antiphonen und Reiponforien 
bis heute im der firhlihen Liturgie erhalten, während bie Epifteln und Evangelien 
nad und nad ber Vulgata entnommen wurden. In die Vulgata ſelbſt ift die Über- 
ſezung ber Pſalmen und der beuterofanonischen Bücher aus ber „Itala“ herüber« 
genommen. Ältere Sammlung der Fragmente von Sabatier. Die Funde haben 
ſich inzwiſchen jehr vermehrt, und die Münchener Akademie bereitet eine neue Aus« 
gabe vor. 

® Ausgaben von F. Balduin, Heidelberg 1560; C. be Muralt, Züri 
1836; Lübkert, Leipzig 1836; Migne, Patr. lat. III 239 #; F. Debler, 
Leipzig 1847; A. Holden, Cambridge 1858; E. Halm (Wien 1867; Corpus 
seript, ecel. lat. II); 9. Hurter, Innsbrud 1871; 3.3. Corneliſſen, Leiden 
1882; 5. Leonard, Namur 1888; €. Bährens, Leipzig 1886. — Überjegungen 
von J. G. Rußwurm, Hamburg 1824; Lübkert, Leipzig 1836; A. Bieringer, 
Kempten 1871; B. Dombart, Erlangen 1875, ?1881; 9. Hagen, Bern 1890. 


86 Sechſtes Kapitel. 


des Serapis und warf ihr nad Sitte des abergläubiichen Volkes ein Kußhändchen 
zu. Da jagte Octavius: ‚Das ift nicht Schön und vet, Bruder Marcus, dab bu 
einen Mann, der im häuslichen wie Öffentlichen Leben dir fo nahe fteht, im dieſer 
Blindheit des ungebilbeten Volkes verharren, ja ihn bei hellem Tage an Steinen 
anftoßen läſſeſt, allerdings behauenen und gefalbten und befränzten; bu weißt doch, 
dab die Schmach dieſes Irrtums nicht weniger dich als ihn trifft.‘ Unter diefer Rebe 
hatten wir ſchon die Hälfte der Stadt durdfchritten und befanden ung am offenen 
Strand. Dort riejelten fanfte Wellen über den äußerſten Sand dahin, wie um ihn 
zum Wege zu glätten. Und wie das Meer auch bei rubigem Wetter immer ruhelos 
ift, jo wogte es, zwar nicht in ſchäumender Brandung, and Land daher, aber doch in 
anjehnlichen, gefräufelten Wellen. 

„Da ftreiften wir herum und ergößten uns fehr, indem wir hart an ber Grenze 
des Meeres einherfchritten, das abwechſelnd heranwogend unjere Füße umſpielte und 
dann wieder zurückweichend, feine Fluten im fich ſelbſt verſchlang. Langjam und 
ruhig gingen wir am Saume bes janft gejchweiften Geftades umher und fürzten uns 
den Weg mit Gejhichten.“ 


Cäcilius redet aber nit mehr mit, jondern geht ſchweigend und 
Ihmollend neben den andern her. Darüber befragt, gefteht er, daß er fi 
dur die Äußerung des Octavius ſehr gekränkt fühle. Er ſchlägt eine ein: 
läßlihe Disputation vor und wählt Marcus zum Schiedsrichter zwiſchen ſich 
und Octavius. Sie ſetzen ih nun am Meeresftrande, Marcus in der Mitte, 

Cäcilius eröffnet feinen Angriff mit der Erklärung, dab er als Skep— 
tifer an der fihern Erfenntnis des Wahren wie an einer göttlihen Welt: 
regierung berzweifle (das war damals die Philofophie der meiften jog. „Ge: 
bildeten“, wie jo oft in fpäteren Zeiten), daß man aber um jo mehr an 
dem Glauben der Bäter fefthalten müfje, denen Rom feine Größe dante; 
dagegen frevelten aber die Chriften durch ihre aller Vernunft und Sitt: 
lichkeit jpottenden Lehren: Verehrung eines Ejelstopfes, thyeftiiche Mahlzeiten, 
ruchlojefte Blutjhande und Atheismus. Denn der aufgeflärte Steptifer 
glaubt an allen Unfinn, den man verleumderiſcherweiſe gegen die Chriften 
ausgeftreut. In faft doppelt jo langer Rede übt Octavius zuerft eine ver: 
nichtende Kritik an der heidniſchen Vielgötterei und widerlegt dann, Schritt 
für Schritt, die faljchen Anktlagen wider die Chriften. Mit Freuden erklärt 
fih Gäcilius für befiegt. „Darauf gingen wir froh und heiter von dannen: 
Gäcilius, meil er zum Glauben gelangt; Octavius freute ſich, weil er geftegt ; 
id, meil jener.glaubte und diejer gefiegt.“ 

Als Borbild Hatte ſich Minucius Felix die Schrift des Cicero De 
natura Deorum gewählt, worin der römiſche Populärphilofoph der chriſt— 
lichen Weltanfhauung ftellenweije näher fommt als die meilten Weifen des 
heidnischen Aitertums!. In Schönheit der Anlage, Abrundung der Form 





» Über Anflänge an Vergil und andere Klaſſiker vgl. H. Boenig, Minueii 
Felicis Octavius, Edit. Teubner, Leipzig 1908. 


Die Anfänge der Kriftlich-lateinischen Literatur. 87 


und Reinheit der Sprache ift das Vorbild jo ziemlich erreicht, jo dak manche 
diefe Apologie für die ſchönſte des chriſtlichen Altertums halten. Sie befigt 
alle Anmut eines klaſſiſchen Meifterwert3 und dazu die shriftliche Idealität 
und Wahrheit. Es war hier in trefflicher Weile der Weg gewieſen, auf 
welchem chriſtliche Philoſophie und Theologie fih mit der altklaſſiſchen 
Form organiſch verbinden und eine Haffiihschriftlihe Literatur anbahnen 
fonnten. 

Allein Männer von der Hohen Bildung und dem feinen künſtleriſchen 
Geihmad des Minucius Felix waren felbft unter den Heiden des damaligen 
Rom jo dünn gefät, daß man ihn faft als eine Ausnahme betrachten kann. 
Es läßt ſich auch nicht leugnen, daß ein enger Anſchluß an den Eiceronianismus 
in der eigentlihen Theologie, in der Behandlung der heiligen Schriften auf 
faft unüberfteiglihe Schwierigkeiten geftoßen wäre, und daß er bei ftrengerer 
oder weniger firenger Durhführung faft notwendig eine gewiſſe Steifheit, 
Eintönigkeit und Manieriertheit hätte herbeiführen müffen, wie bei den ſpäteren 
Humaniften. Die römische Welt ſchloß indes längft zu bunte Elemente ein, 
um ciceronianishe Sprade und Stil in ihrer Reinheit zu pflegen. Die 
meiften Schriftiteller ftanden unter dem Einfluß auch anderer Autoren, der 
griehiichen Literatur und des Verkehrs mit Semiten und Germanen. Die 
meiften nahmen viel von der freieren Volksſprache in fih auf und achteten 
nur darauf, ſich ihren Lejern möglichſt verftändlih zu maden!. Stiliften 
und Grammatifer mögen dies bedauern, der eigentlichen Geiftesbildung hat 
es eher gefrommt als geichadet. 


' Ipsa latinitas quotidie mutatur et regione et tempore, jagt ber 
hl. Hieronymus (Ad Gal. prol. 2). Konflikte mit der Grammatif waren darum 
faft unausweihlid. Melius est, ut grammaticos offlendamus, quam legentibus 
scrupulum aliquem in veritatis explanatione ponamus (Rufinus in der über— 
fegung von: Origenes, In Cant. cant.; Migne, Patr. lat. XIII 151). — Am 
refoluteiten fündigte der hl. Auguſtin den Grammatifern den Gehorjam auf: 
Quid ad nos, quid grammatici velint? Melius in barbarismo nostro vos intel- 
legitis quam in nostra disertitudine vos deserti eritis (In Psalm. 36 serm. 3, 
n. 6; Migne a. a. ©. XXXVI 386). Melius est, reprehendant nos grammatici, 
quam non intellegant populi (In Psalm. 138, n. 20; Migne a. a. ©. XXXVI 
1796). Salvator. Hoc est enim latine Iesus., Nec quaerant grammatici, quam 
sit Jatinum, sed christiani, quam verum. „Salus“ enim latinum nomen est, „sal- 
vare“ et „salvator* non fuerunt haec latina, antequam veniret salvator: quando ad 
latinos venit, et haec latina fecit (Sermo 299, n. 6; Migne a. a. O. XXXVIII 
1371). Plerumque loquendi consuetudo vulgaris utilior est significandis rebus, 
quam integritas literata. Mallem quippe cum barbarismo dici: non est abscon- 
ditum a te ossum meum, quam ut ideo esset minus apertum, quia magis latinum 
est (De civ. Dei III 3, 7). — Bgl. 8. Sittl, Die Iofalen Verfchiedenheiten der 
lateiniſchen Sprache, Erlangen 1882. — G. Kofmanne, Gefhichte des Kirchen— 
lateins, Breslau 1879. 


88 Sechſtes Kapitel. 


Der frühefte, ſprachgewaltigſte Schriftjteller diefer Art, ein eigentliches 
Kraftgenie, ift Quintus Septimius Florend Tertullianus, als Sohn eines 
römischen Genturio in prokonſulariſchem Dienft 160 zu Karthago geboren. 
Beide Eltern waren Heiden. Er erhielt die höhere Bildung, die zum Staats: 
dienst befähigte, und eignete fi) das Griechiſche jo volllommen an, daß er ganze 
Schriften in diefer Sprache verfaffen konnte. Wahrieinlid die Standhaftig- 
feit der hriftlihen Märtyrer und ihre Gewalt über die Dämonen bewogen 
ihn, Chrift zu werden. Juriſtiſch und jonft vieljeitig gebildet, ein angejehener 
Mann, erhielt er aud die Würde des Presbyterats umd trat unter den 
Kaijern Severus und Garacalla (193— 217) mit dem fyeuereifer eines Neu: 
befehrten, der Gewandtheit eines Sachwalters und der Kraft eines mächtigen 
Agitators für den Glauben ein. Sein unbejonnener libereifer verftridte 
ihn jedod in die Irrtümer der Montaniften, und er befämpfte in der legten 
Zeit ſeines Lebens den fatholiihen Glauben faſt ebenjo heftig wie zubor 
das Heidentum, Nach Hieronymus ftarb er erit in hohem Greifenalter, aljo 
gegen die Mitte des dritten Jahrhunderts. Seine zahlreihen Schriften zer: 
fallen in drei Gruppen: 1. apologetifche; 2. moralifch-paränetiiche; 3. dog— 
matijch=polemiide!. Sie gehören aljo alle dein theologijchen Gebiete an; das 
literariiche jtreifen fie nur infofern, als in einigen die Stellung der Chriften 
zur Literatur berührt wird, und infofern Tertullian der lateiniihen Sprache 
und Diktion neue Bahnen eröffnet hat. 


„Diefer vir ardens (wie ihn der hl. Hieronymus ? nennt) hat in einer Flammen 
ſprache geredet. Ein Fanatismus ohnegleihen tobte in ihm, eine ihn jelbft und 
andere verzehrende Glut. Maßlos wie jein Haß gegen die Heiden und heterodoren 
Ehriften, zügellos wie jeine Phantafie ift feine Sprade. Von keinem ift bie lateinifche 
Sprade auf einen fo hohen Grad ber Leidenihaftlichkeit gehoben wie von ihm; das 
Pathos, das Zacitus mit vornehm verhaltener Jndignation zurüddämmt, wird bei 
ihm zu einer alles Widerftrebende mit fi wirbeinden Sturmflut; er hat die hoheits- 
volle Ruhe des Tacituö mit der turbulenten Leidenjchaftlichfeit und dem pamphletis 
ftiihen Ton des Juvenal fowie mit der affektierten Dunkelheit des Perftus verbunden 
(die beiden erften hat er nachweislich gern gelefen). Es gibt feinen Jateinifchen 
Shriftfteller, bei dem die Sprache in jo eminentem Sinn ber unmittelbare Ausdrud 
deö inneren Empfindens gewejen wäre. Er ift ohne (Frage der ſchwierigſte Autor in 


’ Gefamtausgaben von B. Nhenanus, Bajel 1521; 3. Pamelius, Ant« 
werpen 1579; NR. Rigaltius, Paris. 1634; J. S. Semler, Halle 17691776; 
5. Oberthür (nad Semler), Würzburg 1780; Qeopold, Leipzig 1839—1841; 
Migne (a. a. O. J, Il, Paris 1844); Fr. Oehhler, Leipzig 1853 1854; A. Reiffer- 
ſcheid-Wiſſowa (1. XI, Wien 1890; Corp. script. ocel. lat. XX). — Über: 
fegungen jämtliher Schriften von Fr. A. v. Besnard, Augsburg 1837 1838; 
9. Kellner, Köln 1882; ausgewählte Schriften von 9. Kellner, Kempten 1870 
1871. — P, Monceaux, Histoire littöraire de l’Afrique chretienne. Bb I: 
Tertullien et les origines, Paris 1902. 

® Epist. 84, 2. 


Die Anfänge der chriſtlich-lateiniſchen Literatur. 89 


lateiniſcher Sprade; leiner ftellt jo rüdfihtsloje Anforderungen an ben Leſer: er 
deutet meift nur an, verläßt einen Gedanken plöglid, um ohne anfnüpfende Partifeln 
zu einem andern überzufpringen, alles ein Ausflug überjprudeluder Leidenihaftlic- 
feit und haftiger Genialität des Denkens. Er hat mehr als irgend ein antiker 
Shriftfieller das höchſte Geſetz antiker Kunitanfhauung, die Unterordnung des Indi— 
viduellen unter das Traditionelle, verlegt: zweifellos mit vollem Bewußtfein und 
mit Abficht; denn was fein Geiftesverwandter im Often, Gregor von Nazianz, ein- 
mal jagt: ‚r@ dpyaia mapjider ldoö yeyovs ra rdvra zamwa‘!, das war aud feine 
fundamentale Überzeugung. Mit einer geradezu beifpiellofen Willfür meiftert er die 
Sprade, um fie in die Feſſeln feines herrifhen Denkens zu zwängen; er ift fo recht 
eigentlich der Typus des chriſtlichen Sprachſchöpfers geweien; aus den gewalttätigen 
Neuprägungen atmet der Geift eines Mannes, ber von dem Glauben durdhdrungen 
war, daß das Ehriitentum als eine neue Größe in die Welt gelommen jei und da— 
her neue Faktoren für feine Ausdrudsweije beanſpruchen dürfe. Die verhältnismäßig 
große Biegſamkeit und Geſchmeidigkeit, bie der lateinischen Spradhe in jehr alter Zeit 
eigen geweien war, und bie fie durch die Beftrebungen der Puriften und Analogiften 
in fletigem Fortſchreiten verloren hatte, ift ihr tatſächlich durch das Chriſtentum 
wieder gegeben worden, freilich in einer Art und in einem Umfang, die ihrer gravitas 
widerfpracdhen.” ? 


An diefem ebenjo lebendigen als treffenden Porträt ift nur dies richtig: 
zuftellen, dab das, was hier „Fanatismus“ genannt wird, in den meilten 
Fällen eine glühende, wohlbegründete Begeifterung für die hriftliche Religion, 
der Abſcheu Tertullians aber nicht gegen die Heiden, jondern gegen das 
Heidentum, deſſen innere Lügenhaftigfeit, Unfittlichleit und blutige Berfolgungs: 
wut gerichtet ift. Häufig läßt fi) indes Tertullian als Apologet von diejem 
Feuereifer zu weit fortreißen. Er fennt in der Polemik feine Mäßigung. 
Kein Vergleich ift ihm zu niedrig und niedrig genug, wo e& gilt, die Häretifer 
ihres Anſehens zu berauben und lächerlich zu machen. 

Die Stellung der Ehriften zur Literatur und zur heidnifchen Bildung 
überhaupt berührt Tertullian hauptfählih in feinen zwei Schriften „Von 
den Schaujpielen“ (De spectaculis) und „Vom Gößendienft“ (De idolo- 
latria). Beide find an die Chriften gerichtet und bezweden, diejelben voll: 
Händig von dem Beſuch der heidniſchen Schaufpiele wie von allen Beziehungen 
zum heidniſchen Polytheismus abzufhreden. ZTertullian geht dabei jchroff, 
unnahfihtlih, mit unbeugjamer Strenge voran. Ohne langes Tyederlejen 


ı Mit dem Alten iſt's vorüber. Siehe, alles it neu geworben !“ 

2 €. Norden, Die antife Kunſtproſa II, Leipzig 1898, 606 607. 

’ Den Marcion nennt er eine Ratte, die das Evangelium zernagt (mus 
Pontieus, qui evangelia corrosit. Adv. Marcion, I 1). Der Gajaner, den er in 
der Schrift „Über die Taufe” befämpft, ift ihm „eine giftgeihwollene Natter” (De 
bapt. c. 1). In der „Scorpiace“ werden bie Häretifer mit Skorpionen verglichen 
(e. 1). Das Pleroma der Balentinianer mit feinen dreißig onen vergleicht er mit 
dem Mutterihwein und deſſen dreißig Jungen, welche Aneas bei Vergil als ein 
günftiges Omen begrüßt (Adv. Marcion. I 5). 


90 Sechſtes Kapitel. 


wirft er Tragödie und Komödie mit dem Zirkusrennen, den Gladiatoren— 
fämpfen, Tierhegen und all den übrigen öffentlihen Vergnügen zufammen, 
die jämtlih dur alten Braud der Verehrung der alten Götter geweiht, 
den niedrigften Neigungen und Zrieben des Menſchen Huldigten. Wie aus 
jeinen Ausführungen Klar genug hervorgeht, war das Theater aus feiner 
einftigen fittlihen Höhe völlig herabgeſunken in den Pfuhl der niedrigften 
finnlichen Augenmeide, deren gemeinfames Gepräge Wolluft, Graufamfeit und 
Gögendienft war. Aus ihren geheimen Schlupfwinkeln kroch die Unzucht hier 
mit triumphierender Schamlofigfeit and offene Tagesliht und verpeftete das 
ganze öffentliche Leben mit ihrem Gift und ihrer Schande. 


Similiter impudicitiam omnem amoliri iubemur. Hoc igitur modo etiam 
a theatro separamur, quod est privatum consistorium impudicitiae, ubi nihil pro- 
batur, quam quod alibi non probatur. Ita summa gratia eius de spureitia 
plurimum concinnata est, quam Atellanus gesticulator, quam mimus etiam per 
mulieres repraesentat, sexum pudoris exterminans, ut facilius domi quam in 
scena erubescant; quam denique pantomimus a pueritia patitur in corpore, ut 
artifex esse possit. Ipsa etiam prostibula publicae libidinis hostiae in scena 
proferuntur, plus miserae in praesentia feminarum, quibus solis latebant, perque 
omnis aetatis, omnis dignitatis ora transducuntur: locus, stipes, elogium, etiam 
quibus opus non est, praedicatur., Taceo de reliquis, ea, quae in tenebris et 
in speluncis suis delitescere decebat, ne diem contaminarent. Erubescat senatus, 
erubescant ordines omnes. Ipsae illae pudoris sui interemptrices, de gestibus 
suis ad lucem et populum expavescentes, semel anno erubescant. Quod si nobis 
omnis impudieitia execranda est, cur liceat audire quae loqui non licet? Cum 
etiam scurrilitatem et omne vanum verbum iudieatum a Deo sciamus, cur aeque 
liceat videre, quae facere flagitium est? Cur quae ore prolata communicant 
hominem, ea per oculos et aures admissa non videantur hominem communicare: 
cum spiritui appareant aures et oculi, nec possit mundas praestari, cuius ap- 
paritores inquinantur? Habes igitur et theatri interdietionem de interdictione 
impudiecitiae !. 

An dieſe vernichtende Charakteriftif des Theaters reiht ſich der allgemeine 
Satz: „Wenn wir die Lehre der weltlichen Literatur veradhten, weil fie vor 
Gott als Torheit gilt, ift und genugjam vorgezeichnet, was wir bon jenen 
Arten der Schaufpiele zu Halten Haben, melde in der Profanliteratur in 
die komische und tragiihe Gattung unterjdhieden werden. Wenn num die 
Tragödien jowohl als die Komödien den Trieb zu Verbreden und zur Wol- 
luft fteigern, graufamen und ausgelafjenen, ruchloſen und lodern Charakters 
find, jo ift die Vorftellung ſowohl gräßlicher als gemeiner Handlungen 
um nichts beſſer. Was als Tat verwerflich ift, ift auch in der Rede nicht 
zuzulaffen.“ 

Noch viel ſchärfer und allgemeiner verurteilt Tertullian die ganze heidniſche 
Bildung in der Schrift: „Über den Gößendienft“, der mit dem Kraftſpruch 


' Tert., De spectaculis c. 17 (Migne, Patr. lat. I 649 f). 


Die Anfänge der Kriftlich-lateinifchen Literatur. 91 


beginnt: „Principale crimen generis humani, summus saeculi reatus, 
tota causa iudicii idololatria — Das Hauptverbreden des Menſchen— 
geſchlechts, die ſchwerſte Schuld der Welt, der Gefamtgrund der Berwerfung: 
das ift der Göbendienft.” Der Götzendienſt ſchließt alle übrigen Sünden in 
fih ein; der Gößendiener ift Mörder, Ehebrecher, Schänder feiner jelbit und 
Betrüger zugleid. Da nun die ganze antike Kunft mit der Mythologie 
zujammenhängt, jo erfolgt eine ebenjo rückſichtsloſe Verurteilung der gefamten 
antifen Mtalerei, Plaftil, Kleinkünſte überhaupt. In der ganzen regen Kunft: 
tätigfeit feiner Zeit fieht er nur die Wirkung der niedrigften Gelüfte „Die 
Künfte haben fo viel Quelladern, als es Begierden der Menſchen gibt. — 
Tot sunt artium venae, quot hominum concupiscentiae.* Wie den 
Gößendienft, verdammt er aud) die Sinnenluft und den Ehrgeiz, der die 
ihönen Künſte bejhäftigt: „Denn verbreiteter als aller Göbenaberglaube 
iſt Wolluft und Ehrgeiz — Frequentior omni superstitione luxuria et 
ambitio.“ 

Er jchredt nicht davor zurüd, felbit den gewöhnlichen Schulunterricht 
des Zujammenhanges mit dem Gößendienft zu zeihen und deshalb als un— 
erlaubt zu verpönen. Chriften dürfen das Amt eines Scullehrers oder 
Literaturprofefford nicht auf fi nehmen, weil fie die Jugend in der heid- 
niihen Mythologie und der ganz davon durdtränkten Literatur unterrichten 
und die heidnifchen Fyefte mitmachen müßten, wenn fie die an denfelben üb- 
lichen Feſtgaben erhalten wollten. Hier hält Tertullian aber denn doch inne; 
auch er läßt einem hriftlihen Humanismus die Türe offen. Er hat nichts 
dagegen, dab die Jugend, nachdem fie gründlih im Chriftentum unter: 
richtet und gefeftigt it, auch mit den hHeidniihen Mythen und Dichtungen 
betannt gemadt werde. Sie ift dann gefhüßt, fie jchlürft nicht aus Un: 
wiflenheit das Gift ein. 

Bei aller Neigung zu übertriebener Strenge, zum Maklojen und 
Formloſen hat Zertullian doch viel des Anziehenden und Erhebenden. Er 
befigt im allgemeinen einen jcharfen, praftiihen Blid, die Dialeltik eines 
tüchtigen Yuriften. Dabei ift er eine Feuerſeele, die alles mit Glut und 
Leben erfaßt, umd die man nit nah dem Mafe eines jchulmeifterlichen 
Spiekbürgers meflen darf. Bellagt auch Lactantius, daß fein Stil häufig 
ihtwer, vernadhläffigt, dunkel jei, jo bemerkt do Johann Cave dazu: „Der 
Stil des Tertullian hat eine ihm eigene Majeftät und großartige Beredjamteit, 
reihlih mit Wit und Geiſtesſchärfe gewürzt, die zugleich den Verſtand des 
Lejers übt und fein Gemüt angenehm erheitert.“ In origineller Kraft des 
Gedantens und des Wortes fommen ihm wenige gleih. „ryaft jedes Wort 
it ein Sprud, und jeder Sprud ein Triumph — Quot paene verba, 
tot sententiae sunt, quot sensus, tot vietoriae“, jagt von ihm Vincenz 
bon Lerin. 


92 Schftes Kapitel. 


Tertullians beſte Schrift ift feine „Verteidigungsrede ! für die Chriften“, 
ein wahres Meifterwert wegen der ſchlagenden Dialektik der Beweisführung, 
der kunſtvollen Abwedilung von Abwehr und Angriff, indem jede Anklage 
doppelt und dreifah auf die Heiden zurüdgeichleudert wird, wegen der 
Miihung von jharf jatiriihen Stellen mit andern, in welchen ein wirklich 
erhabener Ton angejdhlagen wird. 

„Euer Haß gegen die Chriften iſt ungerecht“, lautet der Sab, den Ter: 
tullian aufftellt. „Nicht weil ihr Haffenswertes an uns findet, Habt ihr ung, 
jondern umgekehrt, weil ihr einmal haſſen wollt, deshalb dichtet ihr uns 
Haffenswertes an.” Und num geht er nad) einigen einleitenden Bemerkungen 
alle die einzelnen Beihuldigungen gegen die Chriſten durch, zeigt, wie alles 
erfunden und widerſpruchsvoll ift, nichts zuſammenhängt, wenn man e3 näher 
unterſucht. So die Anflagen auf Kindermord und Blutihande, die ſich 
mertwürdig ausnehmen im Munde von Liebhabern der Gladiatorenjpiele und 
gewiffer anderer Dinge. Und mas foll erft im Munde der Heiden bie 
Anklage auf Irreligiofität! „Wie treibt ihr es denn mit euern Göttern!“ 


„Ih will mich nicht Über euer Verfahren beim Opfern verbreiten, wie ihr 
nämlich alles, was abgeradert, hinfällig oder räudig ift, als Opfer ſchlachtet, wie 
ihr von dem fetten und gefunden Vieh nur das abjchneidet, was entbehrlich iſt, bie 
Köpfe und Klauen, die ihr zu Haufe wohl auch euern Kindern oder den Hunden 
beftimmt haben würdet, dab ihr vom Zehnten des Herkules nicht einmal ben britten 
Zeil auf feinen Altar legt, jondern ih will vielmehr eure Weisheit loben, womit 
ihr von dem, was fonft doch verloren ift, etwas reitet; aber wenn ich mich zu euerer 
Literatur wende, wodurd ihr euch zur Wiſſenſchaft und zu ben höheren Berufsarten 
heranbildet, wie viele Narrheiten finde ih dba! Die Götter jollen wegen ber Tro- 
janer und Achiver, wie Glabiatorenpaare fämpfend, aneinanbergeraten, Venus von 
einem menſchlichen Pfeile verwundet fein, weil fie ihren Sohn Äneas, der von Dio: 
medes beinahe getötet worden wäre, biejem entreißen wollte, Mars jei, breizehn 
Monate lang gefeffelt, beinahe umgelommen, Juppiter nur dur Hilfe eines gewiffen 
Ungeheuers? davor gerettet worden, daß ihm die übrigen HSimmelsbewohner dasjelbe 
Schidjal bereiteten; dann beweine er den Unfall des Sarpedon und fröhne mit feiner 
Schweiter der ſchnöden Luft, wobei er an jeine früheren Freundinnen denkt, die er 
nicht jo Heftig geliebt habe. Welcher Dichter hat fih nicht nad) dem Vorgange jeines 
Meifters? als Beihimpfer der Götter gezeigt? Der eine läßt den Apollon dem König 
Admet zum Biehweiden in Schuldhaft gegeben werden, der andere ben Neptun ſich 
dem Laomedon zu Frondienften beim Bauen verbingen. Unter den Lyrikern gibt 
es einen Pindar, meine ih, der da fingt, Astulap fei um feiner Habſucht willen, 
weil er die Heilfunde zum Schaden ausübte, burch den Blik gezüdtigt worden. Das 
war nieberträdtig von Juppiter, wenn er es nämlich ift, dem der Blitz gehört, hart 
war es gegen jeinen Entel und neidiſch gegen den Heilkünſtler. Dergleichen hätte, 
wenn es wahr, nicht mitgeteilt, wenn es falſch ift, bei jo religiöfen Leuten nicht eine 





ı Sb ber Titel Apologeticus oder Apologeticam und ob er in leßterem Fall 
als Genit. plur, für droloyyruww zu deuten, iſt fraglid. 
* Briareus,. ® Homer. 


Die Anfänge der Kriftlichelateinifchen Literatur. 93 


mal erſonnen werben ſollen. Die Tragiker und Komiler üben auch keine Schonung, 
fondern nehmen gewöhnlich die Sorgen oder Berirrungen in der Familie irgend 
eines Gottes zur Einleitung. Von ben Philofophen ſchweige ih und begnüge mich 
mit Sofrates, der — zum Hohn auf die Götter — bei der Eiche, beim Bod und 
beim Hunde zu jhwören pflegte. Freilich ift Sokrates deöwegen verurteilt worden, 
weil er ben Götterglanben untergrub. Ja, feit langem, db. h. immer ift die Wahr: 
heit verhaßt gewejen. Jedoch, da bie Athener fpäter aus Reue über das Urteil fo- 
gar die Verleumber bes Sofrates beftraften und fein Bild aus Gold verfertigt im 
Tempel aufftellten, jo hat ihm der Widerruf der Berdammung feinen guten Auf 
zurüdgegeben. Aud Diogenes verfpottet, ich weiß nicht was, am Herkules, und der 
römiſche Cyniker Varro führt dreihundert Joves, die richtiger Juppiters heißen müßten, 
ohne Köpfe auf,“ ! 


Wie der Haß die Chriftenfeinde dazu verführt, den Ehriften völlig Falſches 
anzudichten und aufzubürden, fo verleitet er jie au, mit argwöhnischem Auge 
ihr Tun zu belauern und ihnen das Unjchuldigfte zum Tadel auszulegen. 
Wenn die Chriſten einmal ein bejcheidenes Mahl zu Gunften der Armen 
halten, jo jehreit man über Verſchwendung. Aber werdet man auch gegenüber 
jonftigen Gaftereien denjelben Mapitab an? 


„Wenn fo viele Tribus, KHurien und Dekurien rülpfen, fo wirb bie ganze 
Atmofphäre weinfäuerlih; wenn die Salier einen Schmaus halten, jo wäre eine 
Staatsanleihe nötig; den Aufwand der Herkuleszehnten und Opferihmäufe müſſen 
Regiftratoren zuſammenrechnen; für die Apaturien, Baldhanalien und attiſchen 
Myſterien wird eine förmliche Truppenaushebung unter den Köchen angefagt; wenn 
für das Serapismahl gekocht wird, fo fteigt ein Qualm auf, daß die Feuerwehr in 
Alarm fommt, Nur gegen bie Gaftmahle ber Ehriften hat man Bedenken!” *® 


Ebenſo hat man in anderer Beziehung doppeltes Maß und Gewicht. 
Berfünden die Chriften die Auferftehung des Fleifches, fo findet man dies 
läherlih ; dagegen jhenft man dem Pythagoras Glauben, wenn er die 
Menihen vom Maultier abftammen läßt oder die Seelenwanderung lehrt, 
jo daß manch einer fih von Fleiſchſpeiſen enthält, um nicht unverjehens 
einmal „einen Urgroßvater im Rindfleifch zu verjpeien“ 3. Diejelben Dinge 
nennt man Einbildungen, wenn wir fie vortragen, hohe Wiſſenſchaft aber, 
wenn ein Philoſoph oder Dichter fie ausjpriht. Nachdem man uns aber 
als bloße Toren hingeftellt hat, jo übt man Gericht über uns nicht durch 
Spott, fondern durd Schwert und Feuer, Kreuz und wilde Tieret. 

Einen erhabenen Ton weiß Zertullian anzujhlagen, wenn er pojfitid 
die hriftliche Lehre darlegt: 

„Gegenitand unjerer Verehrung ift der eine Gott, welder ben ganzen unend« 


lihen Bau, den wir ſehen, famt dem ganzen Zubehör der Elemente, Körper und 
Geiſter dur das Wort, womit er befahl, und die Weisheit, womit er ordnete, und 


! Apologet. c. 14 (überjegt von H. Kellner). 
® Apologet. c. 39. s Ebd. c. 48. Ebd. c. 49. 


94 Schftes Kapitel. 


die Macht, womit ex es vermochte, aus dem Nichts hervorzog, zur Zierbe feiner Herr- 
lichkeit, weshalb auch die Griechen der Welt ben Namen Kosmos (Schmud, Ordnung) 
beigelegt haben. Er ift unfihtbar, obwohl er gefehen wird, unbegreiflih, obwohl 
er mittels feiner Gnade fich zeigt, und unerfaßlid, obwohl des Dienihen Sinn von 
ihm eine Anihauung hat. Deshalb ift er der wahre und fo groß. Was aber auf 
gewöhnliche Weiſe gejehen, betaftet und wahrgenommen werben fann, ift geringer als 
die Augen, bie fi darauf richten, die Hänbe, die es berühren, und die Sinne, bie 
es finden, Was dagegen unendlich ift, das ift nur fich jelbft befannt. So kommt 
es, daß man eine Vorftellung von Gott hat, während er eben doch nicht begriffen 
werden kann. Deshalb ftellt ihn gerade jeine geiwaltige Größe den Menſchen dar als 
etwas Belanntes und Unbelanntes. Darin beruht gerade das Hauptvergehen derer, 
die denjenigen nicht erkennen wollen, den fie nicht zu ignorieren vermögen.“ ! 


Wahrhaft großartig zeihnet er aud die Religion des Chriften, der 
feinen Gott ehrt „nicht durch das Opfer eines ausrangierten, lebensmüden 
Ochſen“, fondern dur fein Gebet „aus keuſchem Yeib und unſchuldigem 
Herzen“, oder wenn er, die Hände in Kreuzesform zum Gebet ausbreitend, 
den Martertod erduldet. 


„Mögen wir durch eijerne Krallen zerfurdt, am Kreuze erhöht werben, mag 
das Feuer an und emporzüngeln, mögen Schwerter uns den Hals durchhauen, Die 
wilden Tiere uns anfallen, durch feine Haltung ſchon ift der betende Ehrift zu jeder 
Todesqual bereit. Auf! ihr wadern Präfides, preffet die Seele aus dem Leib, während 
fie zu Gott für den Kaifer betet! Wo die Wahrheit Gottes und ber Gehorjam gegen 
ihn zu finden ift, da muß natürlich auch das Verbrechen fteden.” ® 


Einigermaßen getrübt wird die herrliche Rede nur durch einen gewiſſen 
Zug von Unverjöhnlichkeit, der fie durchklingt, die bittere Überzeugung: „Ihr 
werdet auf umfere Widerlegung nichts zu jagen finden, ihr werdet die Un— 
gerechtigfeit eures Hafjes empfinden, aber troß alles Redens auf nichts hören, 
jondern unbefehrbar weiter Hafen. Alſo nur voran!“ 


„Quält uns, foltert uns, verurteilt uns, zertretet ung: eure Bosheit ift nur 
der Beweis für unfere Unſchuld. Darum läßt Gott ung biejes leiden. Da ihr 
neulich eine Chriſtin nicht den Löwen, jondern ben Lüftlingen vorwarft, habt ihr 
eingeftanden, dab eine Verlegung der Schambaftigkeit bei ung für ſchrecklicher gilt 
als jede Strafe und jelbjt der Tod. Und doch fommt ihr mit eurer ausgefuchteften 
Graufamfeit nicht ans Ziel; fie wirkt eher als Lodipeife für unjere Sekte. Wir 
werden um fo zahlreiher, je mehr ihr uns hinmäht. Das Blut der Chriſten ift 
frudtbarer Samen.“ 


Cruciate, torquete, damnate, atterite nos; probatio est enim innocentiae 
nostrae inquitas vestra. Ideo nos haec pati Deus patitur. Nam et proximo, ad 
lenonem damnando Christianam potius quam ad leonem, confessi estis labem 
pudieitiae apud nos atrociorem omni poena et omni morte reputari. Nec quicquam 
tamen proficit exquisitior quaeque crudelitas vestra; illecebra est magis sectae. 
Plures effieimur, quoties metimur a vobis; semen est sanguis Christianorum. 


! Apologet. c. 17. ? Ebd. c. 30. 


Die Anfänge der riftlicgelateinifhen Literatur. 95 


Viel Schönes enthalten auch die andern apologetiihen Schriften Ter— 
tulliang, die zwei Bücher „An die Heiden“, die Heine Schrift an den Pro- 
fonjul Scapula, und vor allem „Bom Zeugnis der Seele“, worin das 
natürliche Zeugnis der Seele für die Wahrheit des Chriftentums noch ein: 
läpliher ausgeführt wird als im „Apologeticum“. An der Spike feiner 
dogmatiihen Schriften fteht das berühmte Werk „Über die Prozekeinreden 
der Häretifer”, dann die Bücher „Von der Taufe“, „Gegen Hermogenes“, 
„Gegen die Balentinianer“, „Gegen Marcion”, „Von der Seele“ ujm. 
Unter den praktiſch-asketiſchen Schriften find viel gefeiert: „An die Märtyrer”, 
„Dom Gebete”, „Bon der Geduld“, „Von der Buße“ uſw. 

Auch der Autorität jeiner rehtgläubigen Schriften mußte es natürlich 
Ihaden, daß er jpäter zu den Montaniften abfiel; doch wirkten diejelben 
dennoch mächtig meiter und haben der Verbreitung des Glaubens die größten 
Dienfte geleiftet. Der berühmtefte Schüler diejer Schriften, wenn auch fein 
perſönlicher Schüler Tertullians, war Thascius Cäcilius Cyprianus (um 
den Anfang des dritten Jahrhunderts geboren), ein angejehener Rhetor zu 
Kartdago, um 246 für das Chriftentum gewonnen, jhon 248 oder 249 
zum Biihof von Karthago erhoben, in der Verfolgung de3 Valerian 257 
enthauptet, der erfte afrifanische Biſchof, der mit der Märtyrerfrone ge: 
Ihmüdt wurde. Mehrere feiner Schriften fußen auf jenen des Zertullian!, 
Wegen der Ketzertaufe geriet er in Kontroverje mit dem Papfte Stephan, 
do blieb Eyprian der kirchlichen Gemeinschaft treu. Seine Schrift De 
unitate Eccelesiae ift die ältefte Hajfiihe Schrift, welche die frühere 
Überlieferung über Wefen. und Charakter der Kirche Har und energiſch 
zufammenfaßt. Cyprian bejaß vor allem ein ausgezeichnetes Verwaltungs— 
und Organifationstalent, und feine Schriften hatten darum vorab kirchen— 
rechtliche Bedeutung. Sein Stil ift ruhig, Har, leicht umd gefällig; ge 
Ihmadvolfe Bergleihe und Allegorien, forgfältig durchgeführt, verraten 
den feingebildeten Rhetor, warme Innigkeit den gottbegeifterten Glaubens— 
helden?. Sein hohes ſtiliſtiſches DVerdienft erkennt man erſt dann in 


i Ausgaben von Eraſsmus, Bajel 1520; W. Morelius, Paris 1564; 
% Pamelius, Antwerpen 1568; N. Rigaltius, Paris 1648; Fell und 
Pearjon, Oxford 1682; Baluzius und Maranus, Paris 1726; Golbhorn, 
Leipzig 1888; Migne (nad Baluzius), Patr. lat. IV, Paris 1844; ®. Hartel, 
Wien 1868—1871 (Corp. script. ecel. lat. III); 9. v. Soden, Die cyprianiiche 
Brieffammlung (Zerte und Unterfuhungen von Gebhardt und Harnad X, 
Heft 3), Leipzig 1904. — Überfekungen ausgewählter Schriften von Krabinger, 
Augsburg 1848; U. Uhl, Kempten 1869-1879. — G. Mercati, Di alcuni nuovi 
sussidi per la critica del testo di S. Cipriano, Roma 1899. 

® Nur in der Heinen Schrift Ad Donatum fiel bereits dem Hl. Auguftin ein 
gewiffer rhetorifher Schwulft auf, welhen Cyprian nod aus ber heidniſchen Schule 
mitgebracht hatte, der aber in feinen ſpäteren Schriften einem maßvollen Schmude 


96 Sechſtes Kapitel. 


jeiner ganzen Bedeutung, wenn man in feiner Brieffammlung die im 
Yulgärlatein abgefakten Briefe anderer an ihn (Ep. 21 22) mit den 
feinigen vergleicht. 

Aus einem heftigen Gegner der GChriften ward Arnobius, Lehrer 
der Rhetorik zu Sicca (Numidien), gegen Ende des dritten Jahrhunderts 
dur ein Traumgefiht in einen Anhänger derjelben umgewandelt und be 
fämpfte nun in ſechs Büchern „Gegen die Heiden“ feinen früheren Wahn: 
glauben!,. Die erften drei Bücher find hauptſächlich gegen die abergläubijche 
Vorftellung gerichtet, das Chriftentum habe alles Elend der Gegenwart 
herbeigeführt, indem die Götter darüber zürnten; die andern drei Bücher 
wenden fi unmittelbar gegen die heidniſche PVielgötterei jelbit. 

Ein Schüler des Arnobius, Lucius Cäcilius Firmianus Yactantius, 
wurde aus Afrila, wahricheinlich feinem Heimatlande, von Kaiſer Diocletian 
al3 Lehrer der lateiniſchen Rhetorit nad Nikomedien berufen, lernte dajelbft 
das GEhriftentum kennen und trat noch vor der diocletianiihen Verfolgung 
(303) dazu über, lebte dann in großer Armut zu Nilodemien, ward fpäter 
als Greis zum Lehrer des Cäſars Grijpus in Gallien beſtimmt und ftarb 
vermutlih in Trier. Die Arbeiten feiner heidniichen Periode, darunter eine 
Beihreibung feiner Reiſe nad) Nikomedien in lateinischen Herametern, find 
verihollen. Bon feinen Werfen, die er als Chrift fchrieb, find feine „Sieben 
Bücher chriſtlicher Unterweiſungen“ (Divinarum Institutionum libri VI) 
das bedeutendfte?. In den erften drei Büchern widerlegt er das Heidentum, 
die folgenden Bücher „Von der wahren Weisheit und Religion“, „Bon der 
Gerechtigkeit”, „Bon dem wahren Kultus“, „Vom feligen Leben“ (De vera 
sapientia et religione; De iustitia; De vero cultu; De vita beata), 


wid. In populo autem gravi, de quodictum est Deo, In populo gravi laudabo 
te (Ps 34, 18), necilla suavitas delectabilis est, qua non quidem iniqua dicuntur, 
sed exigua et fragilia bona spumeo verborum ambitu ornantar, quali nec magna 
atque stabilia decenter et graviter ornarentur. Est tale aliquid in epistula be- 
atissimi Cypriani, quod ideo puto vel accidisse vel consulto factum esse, ut 
sciretur a posteris, quam linguam doctrinae christianae sanitas ab ista redundantia 
revocaverit et ad eloquentiam graviorem modestioremque restrinxerit, qualis in 
eius consequentibus litteris secure amatur, religiose appetitur, sed difficillime 
impletur (8. Aug., De doctr. christ. IV 31. Migne, Patr. lat. XXXIV 102 f). 
— Bol. E. Norden, Die antike Kunftprofa II 620 621. 

! Ed, Princeps von Fauftus Sabäus, Rom 1543. — Neuere Ausgaben 
von Migne, Patr. lat. V, Paris. 1844; Hildebrand, Halle 1844; Fr. Oehler, 
Leipzig 1846; U. Reifferiheid, Wien 1875 (Corp. script. ecel. lat. IV). — 
Deutihe Ausgaben von Fr. U. v. Besnard, Landshut 1842; %. Alleler, 
Trier 1858, 

® Ed. Princeps, Subiaco 1465. — Neuere Gefamtausgaben von D. F. Fritzſche, 
Leipzig 1842—1844; Migne, Patr. lat. VI—VII, Paris. 1844; ©. Brandt und 
D. Laubmann, Wien 1890 1893 (Corp. seript. eccl. lat. XIX XXVI). 





Siebtes Kapitel. Die großen lateinifchen Kirchenlehrer des 4. u. 5. Jahrh. 97 


entwideln pofitiv die chriftlihe Weltanfhauung in foftematiihem Aufbau, 
doch mehr nad der ethiihen als dogmatiichen Seite Hin, in durchaus eigen: 
artiger Fafjung und einer Schönheit des Ausdruds, welche die feine Bildung 
des einftigen Rhetors bezeugt, beſonders innige Vertrautheit mit den Werken 
des Gicero, den er fih zum Vorbild nahm. Lange Zeit wurde ihm aud 
die merkwürdige Schrift De mortibus persecutorum, der erite Anja einer 
lateiniſchen Kirchengeſchichte, zugefchrieben ; doch wird feine Autorſchaft aus 
inneren Gründen (Berjchiedenheit des Temperament, der Stimmung und 
Sprade) angeftritten, von andern dagegen verteidigt !. 


Siebte3 Kapitel, 


Die großen lateinifhen Kirchenlehrer des 4. und 5. Jahr- 
hunderts. 


Einen größeren und freieren Aufſchwung konnte die chriſtliche Literatur 
erſt gewinnen, als mit dem Siege Konſtantins an der Milviſchen Brücke der 
Sieg des Chriftentums über das Heidentum aud für die abendländijche 
Welt entichieden war. Auch diefe Weiterentwidlung der Hriftlihen Literatur 
gehört nun zwar größtenteil3 dem engeren Kreis der Patriftit oder der 
Theologie an. Da aber die gejamte chriftlihe Bildung der Folgezeit zu 
nit geringem Zeil auf diefem ehrwürdigen Untergrunde beruht, jo müffen 
wir auch kurz der großen Kichenväter gedenken, welche im jchönften Sinne 
auch Väter der chriſtlich-abendländiſchen Bildung find. 

Durch die Kaiſer, in etwa jhon durh Konftantin, weit mehr aber 
durch die Parteinahme feines Sohnes Konftantius für die Lehre des Arius, 
wurde auch das Abendland in die theologiihen Wirren hineingeriffen, melde 
für mehrere Jahrhunderte das geiftige Leben des Orients zerflüfteten, und 
ebenfalla von der Gefahr bedroht, ftatt der reinen und unverfäljchten chriſt— 
fihen Lehre gnoſtiſche und rationaliftiihe Willfürdogmen zur Grundlage des 
teligiöfen und fittlichen Lebens zu erhalten. In Italien übten die arianiſchen 
Hofbiihöfe der Kaifer durch Lift und Gewalt den hartnädigiten Terrorismus 
gegen die Anhänger des Nicänums aus. In Gallien wollte Saturnin, der 
Metropolit von Arles, alle unter das Joch des Arianigmus beugen. 

Der erfte und fiegreiche Pionier, der bier für die gefährdete Trinitäts- 
und Menjchwerbungslehre, die eigentliche Baſis des Chriftentums, in langem 


! Segen die Autorſchaft bes Lactantins ift der neuefte Herausgeber, Brandt 
(im Wiener Corpus); für diefelbe Belfer (Tübinger Theol. Quartalſchriſft UXXIV 
[1892] 246 ff 439 ff; LXXX [1898] 547 ff) und Pichon (Laetance, Paris 1901), 
welchem Kloftermann (Zarnde, Gentralblatt 1904, 707) — 
Baumgartner, Weltliteratur. IV. 3, u. 4. Auf. 


98 Siebtes Kapitel. 


Kampf in die Schranten trat, der Athanafius des Abendlandes, war His 
larius von Poitiers, zwiiden 310—320 von heidniihen Eltern ge— 
boren, dur ernftes philoſophiſches Studium dem Glauben entgegengeführt, 
dann deſſen begeifterter Belenner und Berfechter, jchon geraume Zeit vor 
395 Biſchof feiner Vaterſtadt. Auf die Angebereien der Nrianer hin ver— 
bannte ihn Kaiſer Konftantius nah Phrygien. Das war aber eine wahr— 
haft providentielle Verbannung. Denn mit dem Griehijchen völlig vertraut, 
hatte er im Drient Gelegenheit und Muße, fid mit den Werfen der 
griehiihen DBäter genau befannt zu machen und deren Lehrgehalt in einem 
eigenen Werke zu verwerten. So entitand jeine bedeutendfte Schrift, ur: 
ſprünglich „Vom Glauben“ (De fide) oder „Vom Glauben gegen bie 
Arianer“ (De fide adversus Arianos) betitelt, jpäter befannter unter dem 
Namen „Von der Dreifaltigfeit“ (De Trinitate), Er wirkte im Orient 
jo mädtig für die wahre Lehre, dab die Arianer jelbft darauf drangen, 
daß er wieder nah Gallien zurüdgejchidt werden möchte. Dies gejchah. 
Durch Klugheit und Milde föhnte er viele Biſchöfe, die unter weltlichen 
Einfluß abgefallen waren, wieder mit der Kirche aus. Auf einem National: 
fonzil zu Paris (361) traten fait jämtlihe Biihöfe Galliend wieder der 
nicäniihen Lehre bei, und Saturninus wurde feines Amtes entjeßt. Auch 
in Italien bahnte er die völlige Überwindung des Arianismus an. Er 
führte den Vorſitz auf einem Konzil zu Mailand (364), vor melden ſich 
der Biſchof diefer Stadt, Aurentius, über feine Lehre verantworten mußte, 
und wenn e3 diefem aud gelang, den Kaiſer Valentinian mit eiteln Vor— 
jpiegelungen zu täufchen, jo war diejer Erfolg doch von furzer Dauer, 
d. 5. bis zum Tode des Auxentius. Hilarius erlebte diefe Wendung 
aber nicht mehr. Er jtarb bereit3 366, bald nad jeiner Rückkehr, in 
Poitiers 1. 

In jeinem Wert De fide jammelte Hilarius gewilfermaßen die reife 
Frucht der tiefen Unterfuhungen, welche die griechiſchen Kirchenväter bis 
dahin über die großen Grundgeheimnifje des Chriftentums angeftellt hatten, 
durhdrang und verband fie in tiefgehender, eigenartiger Weile und ſchuf 
jo die vollendetite theologische Schrift, welche aus den langen Kämpfen des 
Arianismus hervorgegangen ift und ihre wichtigiten Ergebniffe der Nachwelt 
überliefert. Sie bezeichnet die VBerbindungslinie der griechiſch-orientaliſchen 
mit der abendländiihen Theologie. Seine Sprade ift fernig, Fraftvoll, 
urwüchſig; fein Stil ift nit immer ganz frei von Dunfelheit, mit dem 
ſchwierigen Stoffe ringend, über den bisher in lateiniſcher Zunge noch 


! Gejamtausgaben von Eradmus, Bajel 1523; 2. Miräus, Paris 1544; 
M. Lipfius, Bajel 1550; P. Eouftant, Mauriner, Paris 1693; Sceipio 
Maffei, Venedig 1749/50; Migne, Patr. lat. IX X, Paris 1844/45. — Aus 
gewählte Schriften, deutih von 9. Fiſch, Kempten 1878. 





Die großen lateinifchen Kirchenlehrer des 4. und 5. Jahrhunderts, 99 


nicht geſchrieben worden war, meift von einer edeln Feierlichkeit getragen, die 
dem erhabenen Gegenftand entipricht, durchweg von hoher, nahezu klaſſiſcher 
Vollendung !. 

Auch feine Kommentare zum Matthänsevangelium und zu den Pjalmen 
haben bahnbredend gewirkt: der erftere, noch aus früherer Zeit, verfolgt 
hauptfählih den typiſchen Sinn; der zweite, aus jpäteren Jahren, zieht 
auch den nädften Wortfinn und deshalb den griehifhen Text zu Rate. 
Seine Gelegenheitsihriften find nicht bloß für die Theologie, jondern aud 
für die Zeitgeihichte von hohem Wert. Nachdem er z. B. in einer Schrift 
an den Kaiſer Konftantius vergeblih geſucht hatte, ſich in offener und 
redlicher Weiſe gegen die boshaften Verdächtigungen des Metropoliten Sa= 
turnin zu verteidigen, zeichnet er im einer Klageſchrift wider den Kaiſer, 
die jedoch erſt nad deſſen Tod ericheinen fonnte, mit hinreißender Bered- 
ſamkeit das ganze Lug: und Trugſyſtem, auf das der Saifer und die 
Arianer ihre Politif bauten. Die alten Verfolgungen fcheinen ihm dagegen 
weniger gefährlich. 

„Jetzt aber fämpfen wir gegen einen Berfolger, der betrügt, einen Feind, ber 
jchmeichelt, gegen Konftantius, den Antichriften; der geißelt nicht den Rüden, jondern 
flreihelt den Bauch; er proftribiert nicht zum Beben, jondern bereichert zum Tode; 
er wirft nicht in den Kerker zur Freiheit, jondern er ladet mit Ehren in feinen 
Palaft ein zur Knechtſchaft; er peinigt nicht die Bruft, fjondern nimmt das Herz 
gefangen; ſchlägt nit das Haupt ab mit dem Schwerte, jondern tötet die Seele 
mit dem Golde; nicht droht er öffentlich mit Verbannung, fondern zündet (privatim) 
im ftillen das Höllenfeuer an. Er kämpft nit, um nicht befiegt zu werben, fonbern 
er ſchmeichelt, um zu herrſchen. Chriftus befennt er, um ihn zu leugnen; Einigkeit 
erjirebt er, damit fein Friede fei; er unterbrüdt bie Irrlehren, damit es Teine 
Ehriften gebe; die Priefter ehrt er, damit fie nicht Biſchöfe feien; der Kirche errichtet 
er Bauten, um ben Glauben zu Grunde zu richten. Dich trägt er in Worten, dich 
im Munde herum und tut allerwegen alles, damit du, o Gott, nicht ald Water ges 
glaubt werdeſt.“ 


Schwerlich ift eine heimtüdifhe, anſcheinend konziliatoriſche Kirchen— 
politit weltlicher Herrſcher je jo einſchneidend nad allen ihren Widerſprüchen 
harafterifiert worden. 

Tapfere Bundesgenofjen fand der Hl. Hilarius an dem Biſchof Hofius 
von Corduba, der wahrſcheinlich bei dem erſten allgemeinen Konzil als 
päpftliher Stellvertreter den Vorfig führte und nod 354 als achtund— 





ı ch trage kein Bedenken zu behaupten, dab er neben Boöthius der form- 
gewandtefte Schriftfteller der jpätlateinifchen Periode geweſen ift.... Wo bie Rebe 
ruhig fließt, da bildet er meifterhafte Perioden: man leſe dafür im Anfang des 
Wertes ‚De fide‘ den ſalluſtiſchen Ideengang in langen ciceronianifchen Perioden 
und frage fi, ob irgend jemand damals Gleiches geleiftet hat“ (E. Norden, Die 


antife Kunftprofa II 588—585). 
7* 


100 Siebtes Kapitel. 


neunzigjähriger Greis das nicänifche Belenntnis im einem griechiſchen Brief 
an Kaiſer SKonftantius verteidigte, dann an dem feurigen Biſchof Lucifer 
von Galaris (Cagliari auf Sardinien), der feine derben Briefe an den 
arianischen Kaifer in gewöhnlicher Vulgärſprache fchrieb und fi in dem 
legten (360) freudig anbot, für das Bekenntnis der Gottheit Chrifti den 
Martertod zu leiden, an dem Biſchof Gregor von Gliberis (Elvire bei 
Granada), dem Diakon Hilarius von Rom, dem heidniſchen Rhetor Marius 
Victorinus in Nom, der ald Greis zum Chriftentum übertrat und dann in 
drei Schriften den Arianismus befämpfte, an den Biſchöfen Eujebius von 
Bercelli und Zeno von Berona, die beide als Heilige verehrt werben. 

Der gewaltigfte Kämpe jedoch, der den Arianismus in feinem lebten 
Hauptbollwerte, in Mailand, niederfhlug, war der Hl. Ambrojius. 
Derjelbe wurde wahrjeinlid um 340 zu Trier geboren, wo jein Vater, 
von Hoher, römischer Familie und Chrift, das Amt eines praefectus prae- 
torio Galliarum befleidete. Als er ftarb, fiedelte die Mutter mit ihren 
drei Kindern nah Rom über. Ambrofius wurde für die höhere Beamten: 
laufbahn ausgebildet und erlangte jhon früh, um 374, die Würde eines 
Konfulars für Ämilien und Ligurien. Als er in feinem Site, Mailand, 
anlangte, war eben der arianiſche Biſchof Aurentius geftorben. Katholiken 
und Arianer ftritten aufs Heftigfte, um einen Mann ihres Belenntniffes 
auf den erledigten Bifhofsftuhl zu bringen. Als Ambrofius in der Kirche 
erihien, um Frieden zu fliften, wurde er, obwohl noch nicht einmal getauft, 
wunderbarerweije jelbit zum Biſchof verlangt und wirflid gewählt. 

Der Tag, an dem er, erft eine Woche nah Empfang der heiligen 
Taufe, zum Biſchof Eonfekriert wurde, wird Heute noch (7. Dezember) ala 
jein Feſt gefeiert. 

Als Biſchof entfaltete Ambroſius eine Weisheit, Kraft und Milde, 
welde ihn für alle Folgezeit zum Herrlihften Vorbild des katholiſchen 
Epiffopat3 gemadt haben. Sein Vermögen teilte er beim Amtsantritt an 
die Armen aus und war fürder ihr liebevolliter Anwalt. Seinem Worte 
lauſchte nicht nur das gläubige Volk, fondern aud die begabteften Geifter 
und die Mächtigen der Erde. Kaifer Gratian verehrte ihn wie einen Vater, 
Papſt Damafus übertrug ihm die Führung der wihtigften Angelegenheiten. 
Furchtlos und unbeugjam wie ein echter alter Römer troßte er allen Ber: 
ſuchen, welche die ränfevolle Kaiferin Juftina, die Mutter und VBormünderin 
Valentinians II., madte, um den Arianismus wieder zur Reichsreligion zu 
erheben. Ebenſo mutvoll ging er im ihrem Auftrag als Gefandter zu 
Marimus, dem Mörder Gratians, um für die ntereffen Valentinians II. 
einzutreten. Er ſetzte es durch, daß Balentinian den Heiden fein Gehör 
ihenfte, melde den Altar der Victoria wieder in der Halle des Senats 
aufrichten wollten, nachdem ihn Gratian hatte wegräumen laffen. Er er— 


Die großen lateinischen Kirchenlehrer des 4. und 5. Jahrhunderts. 101 


langte auch bei Kaifer Theodofius volle Freiheit und Unabhängigkeit der 
Kirche don der Staatögewalt. Auf jeine Bitte nahm Theodofius das 
Strafeditt gegen die Chriften von Kalliniton zurüd, auf jeine Forderung 
fügte fi) der gewaltige Monarch nad dem Blutbad von Theſſalonich 390 
der über ihn verhängten Kirchenbuße. Er farb 397, von der ganzen 
hriftlihen Welt verehrt und betrauert!. 

Auch die Schriften des großen Mailänder Biſchofs tragen das Gepräge 
römischer Kraft und Weisheit im jhönften Sinne, verflärt duch die Liebe 
des Chriſtentums?. Mit den griehichen Kirchenſchriftſtellern, wie Origenes, 
Bafilius, Athanafius uſw., war er wohl vertraut; aber er verfolgte ihre hohen 
umd erhabenen Spetulationen nicht weiter, ſondern vermwertete fie mit großer 
Selbftändigkeit vorwiegend zu praktiihen Zwecken. Ein großer Zeil jeiner 
Bibelerlärungen wie feiner dogmatiihen Schriften ift aus Predigten und 
Reden erwachien, z. B. feine ſechs Bücher über das Heraemeron, in welden 
er vielfach den hl. Bafilius benutzt hat und wie dieſer ein liebevolles Natur: 
gefühl an den Tag legt. Daß weder er noch die andern Väter jchon den 
Schwerpuntt menſchlicher Forſchung in Fragen der Kosmologie, Kosmographie 
und Phyſik legten, kann ihnen, bei dem damaligen Stand der Wiſſenſchaft, 
nicht zum Vorwurf gemacht werden. &3 mar für die menſchliche Bildung 
damals unendlich wichtiger, dab die Welt aus dem Jrrwahn des Poly: 
theismus und der phantaftiihen Härefien herausgeriffen wurde, als daß 
man ſich bei Erklärung der Genefis mit naturwiſſenſchaftlichen Problemen 
beihäftigt hätte. 

Auf ausdrüdliden Wunfh des Kaiſers ſchrieb Ambrofius ſowohl die 
fünf Bücher „Bom Glauben, an Kaijer Gratian“, gegen den Arianismus 
gerichtet, al3 die drei Bücher „Vom Heiligen Geifte, an Kaiſer Gratian“, 
welche die göttliche Natur des Heiligen Geiftes verteidigen. 

Zu den eigentlichen Perlen feiner Werke gehören die moraliſch-asketiſchen 
Abhandlungen „Bon den Yungfrauen”, „Bon den Witwen“, „Bon der 
Jungfräulichkeit“. Die Klage, daß er alle Welt ins Klofter bringen wolle, 
ift unbegründet, wenn er auch nad dem Ausdrud des hl. Hieronymus das 
Thema „Bon der Jungfräulicleit” einigermaßen erihöpft hat. 


! Paulinus, Vita S. Ambros, bei Tillemont, Memoires X 78—306. 
— G. Hermant, Vie de S. Ambroise, Paris 1678. — A. Baunard, Vie de 
8. Ambroise, Paris 1871; deutſch von Bittl, Freiburg 1873. 

? Gejamtausgaben von Erasmus (jehr fehlerhaft), Baſel 1527; I. Gillot, 
Paris 1569; Kardinal Montalto, Nom 1579-1587; I. du Friſche und 
N. le Nourry, Mauriner, Paris 1686—1690; danach abgebrudt bei Migne, 
Patr. lat. XIV—XVI, Paris 1845; P. A. Ballerini, Mailand 1875—1883, 
C. Schenkl (Corpus script. ecel. lat. XXXII), Wien 1896/97; 9. Schenkl (ebd. 
XXXI), Leipzig und Prag 1902. — Ausgewählte Schriften überſetzt von 
5. 8%. Schulte, Kempten 1871—1877. 


102 Siebtes Kapitel, 


In feiner Schrift De officiis ministrorum, welde der Schrift Giceros 
De officiis nadhgebildet ift, wendet er fih zwar zunächſt nur an die Diener 
der Kirche; doch zeichnet fie keineswegs bloß die höhere chriftliche Voll— 
fommenheit, weldhe die Kirche von ihren Dienern fordert, fondern verbreitet 
fih in jeher praktiſcher Weiſe über das weitere Gebiet der chriftlichen Pflichten, 
die allen Chriften gemeinfam find und vorab das joziale Gemeinmwohl be: 
treffen. Gerade die Parallele zu dem Werke Ciceros zeigt auf Schritt und 
Tritt, wie hoch die hriftliche Sittenlehre über derjenigen der Stoifer, durch— 
ſchnittlich der edelften und beften Heiden, fteht, und die häufige Berufung 
auf Beifpiele des Alten Teftamentes zieht auch die ältere Offenbarung höchſt 
fruchtreih in die Sittenlehre des Neuen hinein. Prachtvoll find die Leichen- 
reden auf jeinen Bruder Satyrus wie auf die Kaifer VBalentinian und 
Theodofius den Großen. Sie find, wie feine (91) Briefe, zugleih auch 
wertvolle Geſchichtsquellen. 

Zahlreihe Anklänge an griechiſche und römiſche Klaſſiker, bejonders 
Bergil, unerihöpfliche Zitate aus dem verichiedenften Büchern der Heiligen 
Schrift, häufige Verwendung der griehijchen Schriftiteller bezeugen den weiten 
Umfang feiner tiefen und gründlihen Bildung. Seine Sprade ift gemefjen 
und würdevoll; wo ihn jeine raftlofe praftiiche Tätigkeit nicht hemmte, die letzte 
Teile anzulegen, ift fie auch voll treffender Kürze und origineller Kraft. Seine 
redneriiche Begabung ift häufig mit einer nicht geringen poetijchen verwandt. 

Die meittragende Tätigkeit des großen Kirchenfürſten und Kirchen: 
lehrer fand ihre Ergänzung und großartige Erweiterung durch die Be- 
fehrung eines afrikaniſchen Gelehrten und Rhetors, dem der Stadtpräfeft 
Symmachus zu Rom, der Hartnädigfte Verfechter des alten Heidentums 
dajelbit, im Jahre 384 einen Lehrftuhl der Ahetorif in Mailand verſchafft 
hatte. Die Predigt des hl. Ambrofius machte auf den jungen Profeſſor 
den tiefften Eindrud. Nah langem inneren Kampfe wurde er durch 
wunderbare Erleuchtung für die Wahrheit des Chriftentums gewonnen und 
empfing aus den Händen des heiligen Biſchofs in der Naht vom 24. zum 
25. April 387 die Heilige Taufe. Es war Aurelius Auguftinus, 
einer der gewaltigiten Geifter, die je gelebt haben, der chriſtliche Platon, 
der Vorläufer des hl. Thomas von Aquin, der glänzendfte Verteidiger der 
firhliden Lehre in den nädhften vierzig Jahren und einer ihrer größten Ver: 
treter für alle Folgezeit !. 





' Possidius, Vita 8. Augustini, bei Hurter, Opuscula selecta VIII. 
— Acta Sanct. (Bolland.) Aug. VI 213 f. — Berti, Comment. de rebus gestis 
S. Augustini, Venet. 1756. — Poujoulat, Histoire de $. Augustin, Paris 1843, 
beutfjh von Hurter, Schaffhaufen 1845. — Bindemann, Der bi. Auguftinus, 
Berlin 1844— 1369. — Kloth, Der heilige Kirchenlehrer Auguftinus, Aachen 1840. 
— 6. vo. Hertling, Auguftin, Mainz 1901. 


Die großen lateinifchen Kirchenlehrer des 4. und 5. Jahrhunderts. 103 


Der Sohn eines vornehmen Heiden zu Tagaſte (in Numidien), der erft 
furz dor jeinem Tode fih zum Chriſtentum befehrte, und einer Chriftin, 
ward er 354 in der ziemlich umbedeutenden Stadt geboren, fam aber früh 
an die Schule von Madaura und 371 an die Hochſchule von Karthago. 
Durch die Fromme Mutter Monika ward ſchon in zarten Jahren der Heim 
des Glaubens in fein Herz geienft. Ihre Tränen und Gebete begleiteten 
ihn, während Sinnenluft und Wiflensftolz ihn auf gefährliche Abwege Hin: 
riſſen. Als Lehrer der Rhetorit in Tagaſte und Karthago Hatte er alle 
nur wünſchbaren Erfolge; aber die Sekte der Manichäer, der er fih an- 
geihlofien, gewährte feinem hochideal angelegten Geifte feine Befriedigung. 
Auch nachdem er die innere Haltlofigkeit des Jrrtums durchſchaut, vermochte 
er indes die Vorurteile gegen den kirchlichen Glauben ebenjowenig wie die 
Bande der Sinnenluft abzuftreifen. Weder in Rom, wo er fi kurze Zeit 
aufhielt, no in Mailand gelangte er zu innerem Frieden, bis er endlid 
dem Rufe der Gnade folgte und die Taufe empfing. Einige Monate jpäter 
fehrte er mit feiner num überglüdlihen Mutter nah Afrika zurüd. Ihre 
Lebensaufgabe war aber erfüllt. Sie ftarb ſchon unterwegs in Oftia. In 
Tagafte führte er drei Jahre lang mit einigen freunden ein Hlöfterlich 
zurüdgezogenes Leben, das erft 391 durch eine Reife nah Hippo Regius 
unterbrodhen ward, Das Volt dafelbft verlangte ihn zum Priefter, und fo 
ward er zumächit Priefter, dann Hilfsbifchof des greifen Oberhirten Valerius 
und 394 oder 395 deſſen Nachfolger. 

Bis zu feinem Tode am 28. Auguft 430, aljo 35 Jahre oder darüber, 
mwaltete Auguftin mit hingebendfter Treue des Hirtenamtes in Hippo. Auch 
als Biſchof lebte er nad Flöfterlicher Art mit feinen Prieftern zuſammen. 
Öfter predigte er fünf Tage lang hintereinander und mitunter zweimal am 
Tage. Die Armen und Notleidenden fanden an ihm einen unerſchöpflichen 
Helfer und Freund. Weit über feine Diözefe hinaus, über das chriftliche 
Afrifa und bald über die gejamte Kirche erftredte ſich feine Wirkſamkeit 
als theologiſcher Lehrer und Schriftfteller. Ähnlich wie Athanafius hat au 
er bis zum lebten Atemzug unermüdlich gegen Härefie und Schisma ge- 
fritten. Sein erfier großer Widerpart war der Manihäismus, dem er jelbft 
zeitweilig gehuldigt und den er zuerſt fiegreich in ſich jelbit überwunden, ehe 
er ihn mit ebenjoviel Liebe und Geduld als Kraft und Nahdrud in andern 
befämpfte. Dann führte er den Kampf wider die Donatiften, die zeitweilig 
die Übermacht im riftlihen Nordafrifa erlangten und die Katholiken mit 
größter Hartnädigteit befehdeten. Die mühevollfte, dornenvollfte, aber auch 
ruhmreichſte Aufgabe bereitete ihm jedoch die Lehre des Pelagius, eine natura- 
Iftiiche Deutung der Gnadenlehre, welche ihn veranlaßte, diejen ſchwierigen, 
teilweife dunfeln Zeil der Dogmatif pofitiv wie polemiſch nad allen Seiten 
aufzuhellen und zu verteidigen. Bei mehreren Synoden und Konzilien wurden 


104 Siebtes Kapitel. 


Sätze von ihm als treffendfter Ausdrud der kirchlichen Lehre zu feierlichen 
Entſcheidungen erhoben oder benutzt. Er ward die größte patriſtiſche Auto: 
rität auf diefem Gebiete, und jchon der Hi. Hieronymus rief ihm als Greis 
die freudigen Worte zu: „Heil dir! Dich feiert der Erdfreis! Die Katholiken 
berehren und bewundern dich al3 den Wiederbegründer des alten Glaubens!“ 

Unterdeffen waren bereits die Wogen der Böllerwanderung und mit 
ihr grenzenlofes Unheil über das fintende Römerreich hereingebrodhen. Alarich 
hatte 410 Rom vermwüfte. Seine Nachfolger zogen nah Gallien, nad 
Spanien und gründeten dort unabhängige Reihe. König Genjerih, von 
dem aufrühreriichen Statthalter Bonifatius eingeladen, führte Bandalen und 
Ulanen von Spanien nad) Afrita hinüber, Seine Horden verwandelten 
die blühende Kornkammer Jtaliens in eine troftlofe Wüftenei. Bonifatius 
ſah fich genötigt, felbft wider fie zu Felde zu ziehen und ſchließlich vor ihmen 
hinter den Wällen Hippos Schuß zu ſuchen. Während fie ihn Hier belagerten, 
ward Auguftinus duch ein Fieber aufs Krankenlager Hingeftredt. Innig 
flehte er zu Gott, er möchte die von Feinden umzingelte Stadt befreien 
oder, wenn ihm anders jchiene, feine Diener flärken, um feinen Ratſchluß 
zu ertragen oder ihn jelbft aus diefer Welt zu ſich nehmen. Dieſes letzte 
Gebet ward am 28. Auguft 430 erhört. Der große Lehrer ſchloß an diejem 
Tage, 76 Jahre alt, feine irdiihe Laufbahn. 

Auguftinus ift der fruchtbarfte der lateinischen Väter und Kirchen— 
fhriftiteller. Seine Werte füllen in der großen Mauriner-Ausgabe elf Folio— 
bände!, Es ift weder möglih noch auch nötig, fie alle Hier aufzuzählen, 
da fie faft ganz dem eigentlichen theologifchen Gebiete angehören. Zwei 
derjelben ragen indes auch bebeutjam in die Weltliteratur Hinein: feine 
„Belenntniffe“ und fein großes Werft „Von der Stadt Gottes“. 

Die „Belenntniffe*, um das Jahr 400 geſchrieben, geben ein tief 
ergreifendes Bild feines Entwidlungsganges von früher Kindheit bis in die 
erite Zeit feines Epiſtopats. Sie find eine der berühmteiten Selbjtbiographien, 


ı Gejamtausgaben von Y. Amerbad, Baiel 1506; Erasmus, Bajel 
1528.29; von den theologi Lovanienses, Antwerpen 1577; ben Dlaurinern 
Th. Blampin, P. Eouftant ufw., Paris 1679—1700; letztere häufig abgedrudt, 
au bei Migne, Pair. lat. XXXII—XLVII, Paris 1845—1849. Von ber neuen 
Geiamtausgabe ber faiferl. Akademie der Wiflenfhaften zu Wien find erſchienen: 
Eregetifhe Schriften von F. Weihrih, Wien 1887 (Corpus XI) und J. Zycha 
(XXVII, ebd. 1894); Schriften gegen die Manihäer von J. Zycha (XXV, ebb. 
1892); Confessiones von P. Anöll (XXXIII, ebd. 1896); Epistulae von A. Golb- 
bader (XXXIV, ebd. 1895 1898); Dogmatiſche und moraliihe Schriften von 
J. Zycha (XLI, ebd. 1899); Dogmatiihe von J. Zycha (XLII, ebd. 1902); De 
eivitate Dei von E. Hoffmann (XL, ebd. 1899 1900). — Analyie der fämtlidhen 
Werte bei R. Ceillier, Auteurs sacres IX, Paris 1861. — Raufher-Wolfs 
gruber, Auguftinus, Paderborn 1898. 








Die großen lateinifhen Kirchenlehrer des 4. und 5. Jahrhunderts. 105 


über alle andern hervorragend durch die tieffte Religiofität, verbunden mit 
der ſchlichteſten Offenherzigfeit und Lebenswahrheit. Aus dem inneren Drang 
eines tiefbewegten Herzens find fie in Form eines Gebets und einer Beicht 
zugleih an Gott jelbft gerichtet, deffen Werk und Führung der heilige Biſchof 
in jeinem eigenen Lebensgang erjhaut. In allen natürlichen Begebniffen 
geht jein Blick den übernatürlihen Zielen und Einflüffen nad, die ihn aus 
den Abgründen innerlihen Zerfall und Unheils in gewaltigem Ringen zum 
Hrieden und zur Liebe Gottes geführt. Gottes Gnade hat ihn aus dem 
Irrſal heidniſcher Anſchauungen, manihäifher Phantafien, platonijcher 
Träumereien herausgerifjen, ihn aus den unwürdigen Banden befreit, 
welche die Sinnenluft um feine Seele geihlagen, ihm die Schäge der Wahr: 
heit und Weisheit aufgetan, welche er bis dahin in den heiligen Schriften 
und Überlieferungen des Chriftentums in umjeliger Verblendung mißkannt. 
So geitaltet fih die Schrift ungeſucht zu einem Loblied auf die göttliche 
Gnade, deren Walten und Wirken der große Theologe dann weiter in jeinen 
übrigen Schriften entwidelt. 

Sie geht von dem jchlichten, aber ebenjo erhabenen Grundgedanten 
aus: „Du haft und, o Herr, für dich geihaffen, und unjer Herz ift un: 
ruhig, bis e& ruhet in dir!” Zu den fchönften Stellen gehören wohl jene, 
wo Auguftin die Belehrung des Rhetors PVictorinus, die Sinnesänderung 
der Faiferlihen Höflinge zu Zrier, feine eigene Belehrung, die letzte Unter: 
redung mit feiner Mutter in Oftia, den Tod der treuen Monika und jeine 
Trauer um fie erzählt: 

„Und von da führte ih mir allmählich wieder, wie vorher, deine Magd ins 
Gedächtnis zurüd, ihren frommen Umgang mit dir unb ihren heilig freundlichen und 
bienftwilligen mit uns, deſſen ich jo plößlich beraubt worden war; und num wandelte 
es mid an, zu weinen vor deinem Angefichte über und für fie, über und für mid). 
Und id ließ den Tränen, die ich zurüdgehalten hatte, ihren Lauf, daß fie ftrömten, 
folange fie wollten. ch bettete mein Herz darauf und fand Ruhe in ihnen. Deine 
Ohren vernahmen es, nicht bie eines Menſchen, ber mein Jammermweinen gering: 
ſchätzig ausgelegt hätte. Jetzt aber, o Herr, befenne ich dies in biefer Schrift. Mag 
es lejen, wer es will, und deuten, wie er will! Und wenn er es fündhaft findet, 
daß ich meine Mutter bei weiten feine Stunde lang beweint habe, jo verlade er 
wenigftens nicht meine Dlutter, bie num meinen Augen gejtorben war, bie aber fo 
viele Jahre Über mich geweint hatte, auf baß ich deinen Augen lebte; vielmehr möge 


er jelbft, wenn er reich an Liebe ift, für meine Sünden zu dir weinen, dem Bater 
alfer Brüder deines Gefalbten,“ ' 


Aus dem ftillen Bereich des innigften Gemütslebens, feeliiher Kämpfe 
und eine wunderbaren Gnadenfieges tritt Auguftin in feinem andern Werte, 
„Bon der Stadt Gottes”, auf die Hodhmarte jeiner Zeit und ſchildert in 
gigantiiden Zügen das Walten der Gnade in der gefamten Welt: und 


! Confess. 1. IX, c. 13. 


106 Siebtes Kapitel. 


Böltergeihichte, ausihauend von dem gewaltigen Wendepunft der Bölter: 
wanderung in Vergangenheit und Zulunft in den entſchwundenen Glanz der 
griechiſch-römiſchen Kulturwelt, der fintenden Stadt diejer Welt, wie in 
die wachjende Herrlichkeit des aufblühenden Chriftentums, der Stadt Gottes, 
ihre Kämpfe und ihren glorreihen Triumph am Ende der Zeiten. 

Dieſes Werk ift des öftern als erfter Verſuch einer Geſchichtsphiloſophie 
bezeichnet worden; es ift aber weit mehr eine Geſchichtstheologie, da Auguftin 
feiner gefamten Pragmatif die übernatürliche Heildordnung zu Grunde legt. 

Den Anlaß zu dem Werke boten die furchtbaren Heimſuchungen, welde 
im Gefolge der Völkerwanderung über das römiſche Reich hereinbraden, 
beſonders die Plünderung Roms durch Mlarih im Jahre 410. Die noch 
zahfreihen, zum Zeil vornehmen Heiden erklärten dies als eine verdiente 
Nahe der alten Götter, als Strafe für den Abfall von ihrem Dienft; 
andere ergoffen fih in unfrudhtbaren, verzweifelten Klagen; ſchwache und 
ſchwankende Chriften wurden in ihrem Glauben an die Vorfehung erjchüttert ; 
in diefem trüben Gewirr griff Auguftinus zum Wort, um die wantenden 
Gemüter aufzurihten, ihnen den göttlihen Plan der Ereigniffe zu erklären 
und das Gottesgeridht, das die heidniſche Welt traf, aus feinen wirklichen 
Urſachen zu beleuchten. Er war ſchon neunundfünfzig Jahre alt, ala er 
das Werk begann; dreizehn Jahre Hat er daran gearbeitet; es ward in 
einzelnen Zeilen veröffentliht und hat darum nicht volle Abrundung ge 
wonnen; aber um jo mehr ijt es das geiftige Teftament und Hauptwerk 
des greifen Kirchenvaters geworden. Es enthält die Summe feines Wiffens 
und feiner Erfahrung. 

Den Plan des Ganzen entwidelt Auguftinus gelegentlid) an verjchiedenen 
Stellen des Werkes jelbft ſowie gedrängt und überfichtlich in feinen „Retraf: 
tationen“ 1. Es follte eine Antwort an diejenigen fein, welche nad der 
Eroberung Roms durd die Goten alles Unglüd dem Chriftentum zujchrieben 
und „bitterer als je den wahren Gott zu läftern begannen“. Die erften 
Bücher (I—V) find gegen diejenigen gerichtet, welche das Glüd des Staates 
vom Polytheismus abhängig maden und alle Übel aus dem Verlaſſen des: 
jelben ableiten; die folgenden (VI—X) wenden ſich gegen jene, welche zwar 
jene Übel als unvermeidlihe auffaffen, die immer vorgefommen find und 
immer borlommen werden, aber den Polytheismus, aus eigentlich religiöſen 
Gründen, mit Rüdjiht auf das fünftige Leben für nüglih halten. „Um 
ih) dann nicht dem Tadel auszufegen, er habe nur die Gegner widerlegt, 


’ Interea Roma Gothorum irruptione ... . eversa est; cuius eversionem 
deorum falsorum multorumque cultores ..... in christianam religionem referre 
conantes solito acerbius ... deum verum blasphemare coeperunt, Unde ego... 
libros de civitate Dei scribere institui .. . (Retract. II 43, 1. Migne, Patr. 
lat, XXXI 647). 


Die großen lateiniſchen Kirchenlehrer des 4. und 5. Jahrhunderts. 107 


aber nicht feine eigenen Anſichten auseinandergejebt“, fügte er noch zwölf 
Bücher Hinzu, melde pofitiv die chriftliche Weltanfhauung entwideln. Von 
diefen behandeln die erften vier (XTHI—XV) den Urfprung der zwei Reiche, 
nämlich der „Stadt Gottes“ und der „Stadt diejer Welt”, die folgenden 
(XVI— XIX) deren Entwidlung, die legten endlich das beiden zulommende 
Ende. Den Titel erhielt das Ganze nah dem vorzügliceren Zeil, der 
„Stadt Gottes”. 

Die „Stadt“ oder das „Reich“ Gottes bilden die gottergebenen Engel 
und Menichen; die „Stadt diefer Welt“ beginnt mit dem Sündenfall der 
Engel und Menſchen. Nur für die Dauer der Zeit (in hoc saeculo) 
find beide Reihe „miteinander verflodhten und vermiſcht“ (perplexae in- 
vicemque permixtae), indem die Bürger des einen, die Frommen, als 
Pilger unter den Bürgern des andern, den Gottlofen, ihrem Ziele entgegen: 
wandeln. Bon ihren erften beiden Repräfentanten, Abel und Kain, an 
verfolgt Auguftinus die zwei Reihe durch die gefamte Geſchichte des Heiden- 
tums und Judentums bis auf Ghriftus, den Mittler, dann an der Hand 
der Propheten und Apoftel in ihrem weiteren künftigen Entwidlungsgang 
bis zum Weltende und Weltgericht, wo die „Stadt diefer Welt“ ihren Ab: 
ihluß in den ewigen Strafen der Verdammten, die „Stadt Gottes“ aber 
ihre glorreiche Vollendung in der Herrlichleit des Himmels findet. So gibt 
dag Merk ein Gejamtbild der Menjchheit und ihrer Gejdichte von dem 
hehren Standpuntt des ewigen, unmwandelbaren Gottes jelbit. 

Die Darftellung und jchneidende Kritik des Heidentums beruht auf 
einer umfaflenden Kenntnis der antiten Welt. Diejelbe ift zum großen 
Teil aus Cicero und Barro geihöpft, dann aus Platon, Salluft, Plinius 
dem teren, Solinus. Von den Dichtern wird Vergil häufig angeführt, 
dann auch Horaz, Perſius, Lucanus, Terentius, Claudianus u. a. Die 
Hauptautorität für die pofitiv=theologiishen Ausführungen bilden natürlich 
die heiligen Schriften des Alten und Neuen Bundes, meift nad der „Itala“ 
zitiert, feltener nach der Überfegung des Hl. Hieronymus. Als Quelle für 
Nahrichten aus dem Orient dient hauptfählih die Ehronif des Eujebius 
in der Bearbeitung des Hl. Hieronymus. Die Literatur des Neuplatonismus 
und der zeitgenöffiichen Härefien beherrſcht Auguftinus wie faum ein anderer. 

Obwohl der hiſtoriſch-theologiſche Grundcharakter des grandiofen Wertes 
einheitlich nad dem bezeichneten Plane fejtgehalten und durchgeführt ift, Hat 
Auguftinus in dasjelbe doch nahezu alle wichtigeren Fragen der Philoſophie 
und Theologie eingegliedert, jo daß es zu einer unerſchöpflichen Vorrats- 
fammer de3 vieljeitigften Wiffens geworden ift und einigermaßen den Sammel- 
und Zentralpunkt für feine übrigen jchriftftelleriichen Arbeiten bildet. Seine 
Auffaffung des klaſſiſchen Altertums wie jene der Weltgeſchichte überhaupt 
it in ihren Grundzügen für das ganze Mittelalter maßgebend geblieben 


108 Siebtes Kapitel. 


und bezeichnet die feſten Umriffe, über welche eine tiefere Geſchichtsauffaſſung 
nit Hinausschreiten fan, ohne wieder in heidniſche Irrtümer zurüdzufallen 
oder von dem tiefſten Gefihtspunfte, dem religiöfen, abzujehen. 

| Wie in feinem andern Werk, entfaltet Auguftinus Hier nicht nur die 
Fülle feines ftaunenswerten Willens, jondern auch feinen jharfen, tief: 
dringenden Berftand, feine Iebhafte, künſtleriſche Phantaſie, ein warmes, 
lebendiges Herz, das ſich zur mädtigften Begeifterung erihwingen kann, die 
ſtiliſtiſche Gemandtheit eines römischen Rhetors, das Schönheitsgefühl eines 
Platoniter3, die Gefühlstiefe und Erhabenheit eines chriftlihen Predigers. 
Eine Abnahme oder eine Erſchlaffung ift in dem meitfchichtigen Werk nicht 
zu bemerken. Die leßten Bücher gehören vielmehr zu den jchönften Teilen 
des Ganzen, und faum ein Ungläubiger wird fi dem Zauber entziehen, 
mit welchem zum Schluß das verflärte Bild der Stadt Gottes am Ende 
der Zeiten gejchildert wird. 


„Wie groß wird jene Seligfeit fein, wo es fein übel gibt, fein Gut verborgen 
bleibt, wo man fi in voller Muße dem Lobe Gottes wibmet, der alles in allem fein 
wird! Denn was anderes man tun joll, wo feine Trägheit zum Aufhören veranlaßt, 
feine Not Bedrängnis ſchafft, das weiß ich nit. Es muntert mid auch das heilige 
Lied auf, worin ich leſe oder höre: ‚Selig, bie in deinem Haus wohnen, o Herr, 
von Ewigkeit zu Ewigkeit werben fie dich loben.‘ Affe Glieder und Organe bes un— 
verweslichen Leibes, die wir nun für die Bebürfniffe des Lebens zu verfchiebenem 
Dienjt verteilt jehen, werden dann, weil jedes Bebürfnis aufhört, nur volle, gewiffe, 
fihere, ewige Seligleit bleibt, im Lobe Gottes gewinnen. Alle jene verborgenen 
Harmonien körperlicher Symmetrie, von denen ich früher geſprochen, bie innen und 
außen an alle Zeile bes Leibes verteilt find, werben nicht länger verborgen bleiben, 
fondern mit den übrigen Herrlikeiten und Wunbern, bie dort zu ſchauen find, 
durch bie Wonne der Schönheit den vernünftigen Geift zum Lobe des großen Künftlers 
begeiftern. Wie fid) die Körper dort bewegen werben, wage ich nicht vermefjentlich 
zu beftimmen, weil ich es nicht zu erdenfen vermag. Doc Bewegung und Zuftand 
wie ber äußere Anblid wird voll Würde jein; Unwürdiges wird es nidht geben. 
Sicherlih, wo der Geift fein will, ba wird auch alsbald der Leib fein, und ber Geift 
wird nichts verlangen, was nicht ber Würde des Geiftes wie bes Leibes entſpricht. 
Wahrer Ruhm wird bort fein, wo niemand durch Irrtum des Lobenden oder auf 
Schmeicheleien Hin gelobt wird. Wahre Ehre, die feinem Würdigen verfagt, feinem 
Unwürdigen gejpendet wird, ja fein Unwürdiger erftreben kann, weil nur Würdige 
dort geduldet werden. Wahrer Frieden, wo keiner irgend etwas Widriges, weder 
dur ſich noch durch andere, leidet. Der Lohn der Tugend wirb berjenige fein, ber 
jelbft die Tugenb verliehen und ihr verheißen hat, ihr Lohn zu fein, über den hinaus 
ed etwas Größeres und Befferes nicht geben fann. Denn was anders hat er durch 
den Propheten gejagt: Ich werde ihr Gott fein, und fie werben mein Bolt jein? 
Was heit das anders als: Ich werde es fein, wodurch fie gefättigt werden; ich 
werde alles fein, was die Menſchen nur irgendwie vernünftigerweije begehren können: 
Leben und Heil und Nahrung und Reichtum und Ruhm und Ehre und Friede und 
alle Güter zugleih? Denn in diefem Sinn wird auch mit Recht verftanden, was 
der Apoftel jagt: ‚daß Gott alles in allem ei‘. Er ift das Endziel unferer Wünſche, 
der.ohne Ende geihaut, ohne Überdruß geliebt, ohne Ermattung gepriefen werden 


Die großen lateiniſchen Kirchenlehrer des 4. und 5. Jahrhunderts. 109 


wird. Diefe Beihäftigung, diefe Gefinnung, biefe Tätigkeit wird fürwahr, wie das 
ewige Leben jelbft, allen gemeinſam fein. 


Ibi vacabimus, et videbimus; videbimus, et amabimus; amabimus, et 
laudabimus. Ecce quod erit in fine sine fine. Nam quis alius noster est finis, 
nisi pervenire ad regnum, cuius nullus est finis? 


So ftrahlen, vom himmlischen Licht umfloffen, die leuchtenden innen 
der ewigen Stadt Gottes in das trübe Gewirre der Völkerwanderung, in 
die viel verfhlungenen Pfade der Welt: und Menjchengeichichte hinein. 
Dante hat fie kaum ſchöner beſchrieben. Weder die forſchende Geiftesarbeit 
des Ariftoteles noch der kühne Flug Platons ift in diefe lichten Höhen 
emporgebrungen, aus melden allein ewige Poeſie in die Welt dringt. 

In Bezug auf Sprade, Stil und rhetoriſche Kunſt ift Auguſtinus 
denjelben Grundfägen gefolgt, welche ſich ſchon in der Tätigkeit des hl. Paulus 
ausprägen und melde bei den großen griechiſchen Kirchenvätern genaueren 
Ausdrud gefunden hatten. Entſprechend der chriſtlichen Gnadenlehre konnte 
er die übernatürlihe Wirkſamkleit der Predigt nicht von natürlicher oder 
künſtlicher Beredſamleit erwarten. Doc die Gnade zerftört die Natur nicht 
und verfümmert fie nicht; fie erhebt fie nur, veredelt die natürlichen 
Fähigkeiten und ftellt fie in den Dienft höherer Kräfte und Ziele. So hat 
auh Auguftinus die reihe philoſophiſche und literariihe Bildung, die er 
beſaß, nad feiner Belehrung allerdings nicht mehr als das Höchſte umd 
Erhabenfte, was dem Menſchen zu teil werden mag, überjhäßt; aber er 
hat fie keineswegs verachtet und geringgefhätt, jondern eifrig weitergepflegt 
und für jeine hohen chriftlihen und kirchlichen Aufgaben verwertet. 

„Auguftin it auch als Stilift die gewaltige, Vergangenheit und Nach— 
welt überragende Perjönlichkeit.“! Im feinen an die ganze gebildete Welt 
gerichteten großen Werten hat er fich eines klaſſiſchen Stils und, ſoweit es 
damals noch möglid war, aud einer klaſſiſchen Sprache beflifien. In feinen 
für das Volk beftimmten Predigten aber hat er den Stil angewandt, der 
Ohr und Herz feiner Zuhörer padte, weil er nicht gelehrt altertimelnd war, 
jondern duch lange, ununterbrodene Entwidlung feine Unverwüftlichteit 
bewiejen Hatte?. Vieles, was uns heute nicht mehr zujagt oder was ſich 
im Deutſchen gar nicht wiedergeben läßt: fein Sabparallelismus, die reim- 
artigen, gleichllingenden Sagichlüffe 3, feine Antithefen und Wortfpiele, feffelten 

1E. Norden, Die antike Kunftproja II 621. 

2 Erhalten find 363 Predigten an das Boll. Rechnet man dazu feine Er: 
Härungen zu ben Pjalmen, zur Genefis, zum SJohannesevangelium ufw., die aus 
Predigten hervorgegangen, fo kommt bie Zahl der Predigten auf nahezu taufend. 
gl. G. Longhaye, Saint Augustin predicatenr (Etudes XLIIT, Paris 1888, 


161—176 377—413). 
> Homoioteleuton. 


110 Siebtes Kapitel. 


und gewannen feinen Zuhörerkreis und madten es ihm möglid, denſelben 
in wahrhaft vollstümliher Weiſe über die erhabenften Glaubensgeheimniffe 
und die verfänglichften Einwürfe der zeitgenöffifchen Irrlehrer aufzuklären. 
Er hat es nicht verjhmäht, eine Abwehr gegen die Donatiften in die Form 
eines abecedariſchen Pialmes zu Heiden, um fie den Gläubigen recht ins 
Gedächtnis einzuprägen!, Das ift das einzige, was er im poetifcher Form 
geihrieben hat. Um jo reicher weht aber der Geift erhabenfter Poefie in 
jeinen großen Werfen. 

Zehn Jahre vor Auguftinus farb an der Geburtäftätte des MWelterlöjers, 
zu Bethlehem, ein anderer Geiftesriefe, der für die Entwidlung der riftlichen 
Bildung don faum geringerem Einfluß war. Es war der Dalmatiner 
Sophronius Eujebius Hieronymus, zu Stridon, an der Grenze von 
Pannonien, um 331, nad andern erjt 340 oder jpäter geboren. Die 
Eltern waren Ghriften, und er wurde ganz in driftlihem Geift erzogen. 
In Rom, wohin er als zwanzigjähriger Jüngling zur Fortjeßung feiner 
Studien gejhidt wurde, blieb er nicht ganz umberührt von dem Einfluß 
der no halbheidniſchen, fittenlojen Großftadt; jeine Frömmigkeit leitete ihn 
jedoch wieder auf den richtigen Weg, und er empfing vom Papſt Liberius 
die heilige Taufe. Weitere Studien führten ihn nad Trier, wo er zuerft 
ih aud der Theologie zumwandte, dann nad Aquileja. Bon hier aus 
bereifte er mit einigen ?reunden Ihracien, Bithynien, Pontus, Galatien, 
Kappadocien und Gilicien. Nad einer ſchweren Krankheit, die er zu Antiochien 
(374) glüdlih überftand, zog er fih für fünf Jahre in die Wüfte von 
Chalcis, die „ſyriſche Thebais“, zurüd, Tebte hier anfänglid als Einfiedler 
nur dem Gebet und den ftrengften Bukübungen, wandte ji aber aud) 
wieder den Studien zu und ließ fih bon einem befehrten Juden im 
Hebräiichen unterrichten. In Antiochien empfing er die Priejtermweihe, ftellte 
aber die Bedingung, daß er Mönd) bleiben dürfe. Um das Jahr 379 
jiedelte er nah Konftantinopel über, um die Vorträge des Hl. Gregor von 
Nazianz anzuhören und ſich mit andern griechiſchen Kirchenſchriftſtellern, 
namentlich Eujebius und Drigenes, näher vertraut zu machen. Im Jahre 382 
wurde er zu einer Synode nad) Rom berufen und ward hier für drei Jahre 
der vertrauliche Berater des Papftes Damafus, ward von diefem mit Her: 
ftellung eines forgfältig vevidierten Textes der Evangelien und Pjalmen 
betraut, verſchaffte dem Höfterlich-astetiihen Leben Eingang in Rom und 
gewann für dasjelbe mehrere Frauen aus den höchſten Senatorenfamilien. 
Nah dem Tode des Papftes (384) folgte er dem Zuge feiner Andacht zu 
den Heiligen Stätten der Erlöfung und ließ ſich im Bethlehem nieder, wo 


! Psalmus contra Donatistas (Psalmus abecedarius) vom Jahre 393, bei 
Migne, Patr. lat. XLIII 23—32. 


Die groben lateiniſchen Kirchenlehrer des 4. und 5. Jahrhunderts. 111 


er ein Mönchskloſter mit Bibliothek und Klofterfhule, die Hl. Paula und 
ihre Tochter ein Nonnenklofter gründeten. Hier lebte er die übrige Zeit 
feines Lebens (noch 35 Jahre) ausfchlieglih dem Studium und der jchrift: 
ſtelleriſchen Tätigkeit, überjeßte das Alte Teftament aus dem hebräijchen 
Ürtert, im Briefwechſel mit den herborragendften Vorkämpfern der Kirche 
und in regiter Beteiligung an den theologischen Fragen und Kämpfen feiner 
Zeit. Seine weder durch Askeſe noch Studien völlig gebrochene Leiden— 
ihaftlichfeit verwidelte ihn zeitweilig in gelehrte Fehden mit jeinem Jugend: 
freund Rufinus, mit dem hi. Auguftin und andern bedeutenden Lehrern. 
Un der Seite Auguftins befämpfte er indes dann auch mannhaft den 
Pelagianismus, deſſen Anhänger in PBaläftina ſich in tätlicher Weife rächten, 
indem fie fein Slofter in Brand fledten und ihm während feiner letzten 
Jahre harte Bedrängnis verurfahten. Am 30. September 420 ftarb der 
bis ins höchſte Alter geiſtesfriſche, unermüdliche Greis, der große Bibel: 
überjeber und Bibelerklärer des hriftlihen Altertums !. 

Gehört aud er, gleich den übrigen Kirchenvätern, mehr der Patriftif 
und der Geſchichte der Theologie an, jo reicht feine umfangreiche literariſche 
Tätigkeit doch auch in das Gebiet der allgemeinen Literaturgejchichte hinüber ?. 

Wie er unter den lateinischen Kirchenvätern der gewandtefte Sprachen— 
fenner, der beleſenſte Polyhiſtor und der gründlichfte Bibelkritifer war, jo 
bejaß er au unter allen die umfangreichfte profane Belefenheit und die 
tüchtigſte und vieljeitigfte Haffifche Bildung. Das beredtefte Zeugnis hierfür 
bilden jeine Briefe, von denen noch gegen hundertzwanzig erhalten find. 
In den verſchiedenſten Tonarten gehalten, bald belehrend oder erzählend, 
bald mahnend und tröftend, bald hadernd und kämpfend, bald hochasketiſch 
und myſtiſch, bald aus den mannigfaltigften Elementen gemiſcht, treffen fie 
immer, auch ftiliftiich und ſprachlich, die richtige Hlangfarbe und den rechten 
Ton. Ungeſucht verfügt er über alle Kunftmittel, welche die alte Rhetorik 
zur Belebung der Darftellung an die Hand gab. Cicero und Quintilian, 
Vergil und Horaz, Salluft und Suetonius, Terentius, Lucanus und Perfius 
find ihm ebenjo geläufig wie die Bücher der Heiligen Schrift, und er liebt 





! Martianay, La vie de S. Jeröme, Paris 1706. — Stilting in Acta 
Sanct. (Bolland.), 30. Sept. VIII 418—688. — F. Z. Collombet, Histoire de 
S. Jeröme, Paris-Lyon 1844, beutjch bearbeitet von Lauchert und Knoll, Rott: 
weil 1846— 1848. — O. Zödler, Hieronymus. Sein Leben und Wirken, Gotha 1865. 
— A. Thierry, Saint J&röme, la soeietö chretienne ä Rome etc., Paris 1867 
(d"* ed. 1876). 

2 Gejamtausgaben von Erasmus, Bajel 1516—1520; Marianus Vic- 
torius, Rom 1565—1572; Martianay und Pouget, Mauriner, Paris 1693 
bis 1706; D. Ballarji, Verona 1734 ff und Venedig 1766 ff; Migne (nad 
Ballarfi) a. a. DO. XXII-XXX. — Ausgewählte Schriften überfegt von P. Lei— 
pelt, Kempten 1872—1874. 


112 Siebtes Kapitel. 


es, feine eigenen geiftreihen Gedanken mit Zitaten aus den Klaffifern zu 
verbrämen, nicht wie ein Lehrling, der mühjam ſolchen künftlihen Redeſchmuck 
zufammenftoppelt, fondern wie ein belefener Mann, dem die alte Literatur 
ganz geläufig ift, und der aus dem Bollen jhöpft. Gleich Tertullian hat 
auch er eine durchaus originelle Lebendigkeit, die Wort und Ausdrud jelb- 
ftändig zu modeln weiß, aber zugleihb aud ein großes Feingefühl für 
Schönheit, Abrundung und fiiliftifche Eleganz. Ob er grollend feine Leiden: 
ichaftlichkeit in ftürmifcher Kraft dahinbraufen läßt, oder ob jeine tiefe, 
männlihe Andacht die ungeftimen Wogen dämpft und mäßigt, immer hat 
jeine Sprade das Gepräge eines feingefchulten Humaniften. Chriftlicher 
Gehalt und altklaſſiſche Form Haben fich bei ihm in ungezwungenſter Weile 
vermählt. Seine Briefe haben deshalb große pädagogiihe Dienfte geleiftet 
und fönnen fie noch leiften. 

Inden Hieronymus die Zeittafeln des Euſebius lateiniſch bearbeitete 
und meiterführte, hat er fih auch um die Geſchichtſchreibung verdient 
gemacht, und wenn auch jeine Schrift De viris illustribus raſch und ohne 
genauere Durcharbeitung nad griechiſchen Borlagen zufammengeftellt ift, jo 
ift der unermüdliche Polyhiftor mit diefer Schrift doch immerhin an bie 
Spitze der chriſtlich lateinischen Literaturhiftorifer getreten und hat für meitere 
Forihung die Pfade geebnet. Sachlich wertvoll und ftiliftiih überaus ſchön 
und originell durchgearbeitet find jeine Biographien des hi. Paulus des Ein- 
fiedlers, des gefangenen Mönches Malhus und des HI. Hilarion, die fi) als 
würdige Fortſetzung Hriftlicher Hagiographie an die alten Märtyreralten reihen. 

Den tiefften Einfluß auf die Bildung des Mittelalterd und die ganze 
Folgezeit hat Hieronymus durch fein eigemtliches Lebenswerk, feine Bibel: 
überjeßung, gewonnen, welche die offizielle lateiniſche Bibelüberſetzung der 
Kirche im Abendlande geworden und bis auf den heutigen Tag geblieben 
ft. Sie umfaßt dad gejamte Alte Tchtament mit Ausnahme des Buches 
Baruch, des erften und zweiten Buches der Maflabäer, des Buches Sirach 
und des Buches der Weisheit. Das Neue Teftament hat er nicht neu über: 
ſetzt. Won feiner Überſetzung ift auch diejenige der Palmen nicht in die 
Yulgata übergegangen, weil die von ihm bereits früher emendierte Überjegung 
der Itala (das jog. Psalterium Gallicanum) im ganzen Abendlande ſich 
ihon zu ſehr feftgejegt hatte und nicht mehr verdrängen ließ. Trotz mancher 
Mängel im einzelnen übertrifft feine Überſetzung weit alle vorausgegangenen 
und entjpridt in hohem Grade jeinem Streben, das Beitmöglichite zu leiften, 
was eine Überjegung leiften kann. Seit dem fiebten Jahrhundert ziemlich) 
allgemein eingeführt, ward fie eine Hauptquelle des mittelalterlichen Lateins 
und insbeſondere der lateiniſchen Kirchenſprache. 

Wie Hieronymus ſeine Aufgabe als Bibelüberſetzer und Schrifterklärer 
auffaßte, tritt in vielen ſeiner Werke und Briefe klar zu Tage. Belehrend 


Die großen lateinifchen Kirchenlehrer des 4. und 5. Jahrhunderts. 113 


ift in dieſer Hinficht bejonders ein jchöner Brief an den hl. Baulinus von 
Nola, in welchem er kurz die einzelnen Bücher der Heiligen Schrift harafterifiert. 
Inſtändig mahnt er ihn von einem autodidaftiihen Studium derfelben ab. 
Er verweilt auf die profanen Wifjfenihaften: Grammatik, Rhetorit, Philo: 
fophie, Geometrie, Muſik, Aftronomie, Aftrologie und Medizin, die alle von 
hohem Nuten find, die aber theoretiſch, methodiih und praktiſch (To dörua, 
mv nzdodov, Tyv Enrerptav) ftudiert fein wollen. Selbfi bei den Hand- 
werfen ift Anleitung nötig. 


„Bauern, Dlaurer, Zimmerleute, Metallarbeiter, Schreiner, Wollmeber, Gerber 
und bie fFabrifanten des Hausrats und ber gewöhnlichften Geſchirre fünnen ohne 
Lehrer nicht werden, was fie wollen. Quod medicorum est, promittunt medici, 
tractant fabrilia fabri. Nur die Aunft des Schriftftudbiums mahen fih alle an. 
Sceribimus indoeti doctique poemata passim. An dieje wagen ſich alle: alte Schwah- 
weiber, verrüdte Greije, geihwäßige Sophiften, alle reihen fie in Stüde, alle lehren 
fie, bevor fie etwas gelernt haben. Andere philofophieren mit hoch emporgezogenen 
Augenbrauen, großartige Worte abwägenb, mit Dämchen über die heiligen Schriften; 
andere lernen, o Schande! von ben Weibern, was fie ben Männern bozieren, ja in 
ihrer Kedheit tragen fie andern vor, was fie jelbft nicht wiffen. Ich ſchweige von 
jenen, Die gleich mir, von den Profanwiffenichaften zum Stubium der heiligen Schriften 
übergegangen find, und wenn fie nun in gut abgefaßter Rede bas Ohr ber Leute 
gewonnen haben, alles, was fie jagen, für göttliches Gefek halten, fi gar nicht 
würdigen zu erfahren, was die Propheten, was die Apoftel gedacht, ſondern nad 
ihren Ideen fi unzutreffendbe Zeugniffe zurechtmachen, glei als ob es granbios 
wäre und nicht die allerfchleitefte Lehrmethode, den Sinn zu fälſchen und die ihnen 
entgegenftehende Schrift auf ihre Deutung berüberzuziehen, gerade als hätten wir 
noch feine Homercentonen und Vergilcentonen gelefen und als könnte man nicht aud 
den Bergil ohne Ehriftus zum Chriſten maden, weil er geſchrieben hat: 


Iam redit et virgo, redeunt Saturnia regna. 
Iam nova progenies caelo demittitur alto .. 


Das find Kindereien, und bem Treiben ber Marktſchreier ähnlich ift es, das 
lehren, was bu nit weißt; ja, um es etwas jchärfer zu jagen, nidht einmal willen, 
was du nit weißt.” 


Ein Schriftftudium dagegen, das, von Gebet begleitet, von Demut und 
teligiöfer Lernbegierde bejeelt, auf der redlihen und jorgfältigen Erforſchung 
der Kirchlichen Überlieferung fußt, erſcheint ihm als der höchfte geiftige Genuß, 
den es auf Erden geben kann. 


„Sch bitte dich, Liebfter Bruder, in diejen Dingen leben, fie betrachten, nichts 
anberes wiſſen, nichts anderes verlangen, ſcheint dir das nicht ſchon hier auf Erben 
eine Wohnftätte des himmliſchen Reiches zu fein? Stoße dich ja nicht in dem heiligen 
Schriften an der Einfachheit oder gleihjam Niedrigfeit der Ausdrüde, die von dem 
Mangel ber Überfeßer berrühren oder auch abfichtlich gewählt find, da fie leichter 
eine volfsmäßige Predigt bilden, und in demfelben Sa ber Ungelehrte wie ber 
Gelehrte feine Rechnung findet. Nicht bin ich jo anmakend und ihwahfinnig, daß 
ih verfprechen möchte, das alles zu wiſſen und die Früchte der Bäume jhon bier 

Baumgartner, Weltliteratur. IV. 8. u. 4. Aufl. 8 


114 Siebtes Kapitel. 


auf Erben zu pflüden, bie ihre Wurzeln im Himmel haben; aber ih geftehe, ich 
wünſche es zu wiffen; ich ziehe mich dem Untätigen vor. Lehrer will ih nicht fein, 
aber zum Gefährten verpflichte ih mich. Dem Bittenden wird gegeben, dem Klopfen- 
den geöffnet, der Suchende findet. Wir wollen hier auf Erden das lernen, befien 
Kenntnis uns im Himmel fortdauert.” 


Deutlich tritt Schon in den Geftalten der großen Klirchenlehrer der inter: 
nationale, wahrhaft katholische Charakter der Kirche hervor. Es waren nicht 
irdiſche Herrſchergelüſte, nicht Überlieferungen altrömiſcher Größe, welche das 
neue Gottesreih aufbauten. Hilarius, von Abftammung Gallier, gehört 
jeiner theologiihen Bildung nad teilmeije der griechiſchen Schule an. Am— 
brojius war Römer, verlebte aber den: beiten Teil feines Lebens in Nord: 
italien. Auguftinus war Afrikaner. Das Leben des Hieronymus teilt 
ſich zwiſchen Dalmatien, Rom und Paläftina.. So ift es aud mit den 
übrigen Kleineren Schriftitellern, die fih an jene großen Leuchten der Kirche 
reihen. Sulpicius Seberus, der das Leben des Hl. Martin und die 
Geſchichte der Kirche in Haffiicher Form nach dem Vorbild des Salluft und 
Tacitus ſchrieb, war wieder ein Gallir; Tyrannius NRufinus, der 
Jugendfreund des Hl. Hieronymus, ein gewandter überſetzer griedifcher 
Kirchenliteratur, ftammte aus Aquileja, lebte in Rom, Yerufalem, wieder in 
Rom und Aquileja und ftarb endlih in Sizilien. Bon den Freunden und 
Schülern des Hl. Auguftin war Marius Mercator, der Belämpfer der 
Pelagianer und Neftorianer, ein Afrifaner, Paulus Orojius, der Be 
lämpfer der Priscillianiften und Kirhenhiftorifer, ein Sohn der pyrenäifchen 
Halbinjel (aus Braga in Portugal). Johannes Eajjianus, aus Süd: 
gallien gebürtig, machte die Schule des chriſtlichen Ordenslebens in Bethlehem 
und Ägypten durch und befuchte Konftantinopel und Rom, ehe er dasjelbe 
als Abt in Marjeille begründete. Honoratus und Hilarius von Arles, 
Euderius von Lyon und Vincenz von Lerin find Gallier. Am 
Schluß der ehrwürdigen Reihe ftehen wieder Jtaliener, der beredte Petrus 
Chryſologus, Bilhof von Ravenna, Marimus, Bilhof von Turin, 
und der heilige Papſt Yeo I. der Große. 

Bereit3 unter den vorhergehenden Päpften Göleftin I. und Sixtus IH. 
(422— 440) römiſcher Diakon und ein einflußreiher Mann, jaß Leo L 
einundzwanzig Jahre (440—461) auf dem Stuhle des hi. Petrus, einer 
der größten Päpfte aller Zeiten. Er wehrte Attila von Rom ab, ermirfte 
bon Genjerih, daß er mwenigftens das Leben der Römer jchonte. Er hat 
durch feine unermüdliche Tätigkeit die monophyfitiiche Irrlehre überwunden, 
die unberechtigten Forderungen der Patriarden von Konftantinopel zurüd- 
gedrängt und dem päpftlihen Primat zu jeiner angeftammten religiöjen 
Bedeutung auch jenen mächtigen äußeren Einfluß gewonnen, durch melden 
er, beim völligen Zuſammenbruch de3 alten Römerreichs, in den furdhtbaren 


Die großen lateiniſchen Kirchenlehrer des 4. und 5. Jahrhunderts. 115 


Kataftrophen der Zeit, zum Hort und Felfengrund der chriſtlichen Kultur 
und Bildung ward, bis über die Wogen der ungeheuern Völkerbewegungen 
in Karl dem Großen endlih das römische Kaifertum deutiher Nation empor: 
tauchte und Bapfttum und Kaiſertum vereint das chriftlihe Europa des 
Mittelalters geftalteten!. Eine Sammlung von jehsundneunzig Predigten 
und eine zweite von bundertunddreiundvierzig Briefen geben teilweife noch 
ein lebendiges Bild von der Lehrtätigkeit des großen Papſtes?. Die Predigten 
find auffallend kurz und knapp, frei von allem überflüffigen MWortballaft, 
von wunderbarer Klarheit, Kraft und harmonijcher Abrundung. Haft jeder 
Sat birgt Stoff zu eimer ganzen Abhandlung. Die jhwierigiten dogma— 
tiihen Probleme find mit feinfter Präzifion und durchſichtigſter Klarheit 
gleihjam in epigrammatiihe Form gebracht, aber nie jpelulativ für fich, 
fondern immer in Beziehung zu fittlihen Folgerungen, praftiichen Aufgaben, 
in padenden Antithefen, prächtigem Bilderſchmuck, feierlih mwürdevollem Aus- 
drud, volltlingenden Sätzen und Perioden. Griechiſche Feinheit und römiſche 
Energie, die Zartheit eines Moftifers und die Würde eines MWeltherrichers 
vereinigen ſich in diejer königlid-majeftätiichen Rhetorik, die gleichſam jelbft 
den Schmud der dreifahen Krone trägt. 

Wahrhaft grandios zeichnet Leo z. B. in feiner Predigt auf das Feſt 
der heiligen Apoftel Petrus und Paulus die providentielle Stellung Roms; 
die Kraft, Würde und Schönheit feiner Sprade fann freilich feine andere 
Sprade wiedergeben. 


„Der gütige, gerechte und allmädhtige Gott, der feine Barmherzigkeit nie den 
Menihen verjagt und alle Sterblichen ftets durch Üüberreihe Wohltaten zu führen 
fucht, nahm der freiwilligen Blindheit und Verfommenheit der Irrenden dur einen 
Ratſchluß feiner innigften Erbarmung fih an, ba er fein ihm weſensgleiches, ewiges 
Wort jandte. Diefes Wort ift Fleiſch geworben und Hat feine göttlihe Natur fo 
mit der menschlichen vereint, daß feine tiefite Erniedrigung unfere glänzendſte Er— 
höhung ward. Damit aber der Strom dieſer unausſprechlichen Gnabe fi über bie 
ganze Welt ergöfje, bereitete die göttliche Borjehung das römische Weltreih vor, 
deifen Grenzen jo weit fid) ausdehnten, daß dieſes eine Neich alle Völker zu Grenz« 
nahbarn hatte. Denn dem göttlichen Plane des großen Wertes war es angemeffen, 
daß viele Reiche zu einem Staate fi) vereinigten und fo die für alle beftimmte Predigt 
ohne Säumen Zutritt hätte zu allen Völkern, welche bie Herrichaft einer Stabt verband. 


9. Grijar, Geſchichte Roms und der Päpfte im Mittelalter I, Freiburg 
1399, 308 ff. 

2 Ausgaben von P. Quesnel, Paris 1675; P. und 9. Ballerini, Venedig 
1753— 1757; leßtere abgedrudt bei Migne, Patr. lat. LIV—LVI. — Die Predigten 
(deutih) von M. Wilden, Kempten 1876; die Briefe von ©. Wenzlomäty, 
ebd. 18578. — Bol. A. Arendt, Leo d. Gr. und feine Zeit, Mainz 1835. — 
E. Berthel, Papft Leo I. Leben und Lehren, Jena 1848, — 5. und P. Böh— 
ringer, Die Bäter bes Papfttums: Leo I. und Gregor J., Stuttgart 1879. — 
C. Bertani, Vita di S. Leone Magno, Monza 1880/81. 





8* 


116 Siebtes Kapitel. 


„Allein diefe Stadt erfannte den Urheber ihrer Größe nicht, huldigte, zur Ber 
herrſcherin faft aller Vöoller geworben, ben Irrtümern aller Bölfer und erblicte 
darin den Höhepunkt aller Religion, feine Verirrung zu verfhmähen. Doc je tiefer 
fie in ben Banden Satans verftridt war, um jo wunderbarer war ihre Befreiung 
dur Ehriftus. Denn da die zwölf Apoftel vom Heiligen Geifte die Spradengabe 
empfangen hatten und die Welt unter fich verteilten, um ihr das Evangelium zu 
verkünden, fiel dem HI. Petrus, dem Fürften ber Apoftel, die Hauptſtadt des römischen 
Neiches zu, damit das Licht der Wahrheit, das zum Heile aller Völker geoffenbart 
war, um jo mädhtiger fih vom Haupte aus durch den ganzen Leib ber Welt ergöſſe. 
Welche Nation aber war damals in biefer Stadt nicht vertreten? Ober weldem 
Volke wäre lange verborgen geblieben, was Rom gelernt Hatte? Hier galt es alfo, 
die Träumereien falſcher Weltweisheit zu zerftören, hier den Kult der Dämonen zu 
ftürzen, bier das grauenvolle Opferwejen zu vernichten, bei dem ber gewifjenhaftefte 
Aberglaube alles zufammengehäuft hatte, was je der Irrtum erjfonnen. 

„In dieſe Stadt alfo, o Heiliger Apoftel Petrus, fürdteft du dich micht zu 
fommen, und indes der Gefährte deiner ruhmvollen Taten, der heilige Apoftel Paulus, 
noch mit der Sorge für die Gründung anderer Kirchen beihäftigt ift, wagft bu dich 
in diefen Wald wutſchnaubender Tiere und in dieſen Ozean rafender Tiefen, ungleich 
beherzter, ala da bu einft auf dem Meere wanbelteft. Du fürdteft nicht Rom, Die 
Herrin der Welt, bu, ber bu im Haufe bes Kaiphas vor ber Magd eines Priefters 
gezittert hatteft. War benn die Macht eines Claudius, die Graufamfeit eines Nero 
minder jhredlih als ber Richterfprud bes Pilatus, die Wut ber Juden? Es ob«- 
fiegte alſo die Gewalt der Liebe über die Furt; bu glaubteft, die nicht mehr fürdten 
zu follen, welche du mit deiner Liebe umfaſſen wollteft. Gewiß hatteft bu bamals 
ſchon diefe Gefühle furdtlofer Liebe Dir zu eigen gemacht, als das Belenntnis deiner 
Liebe zum Herrn durch das Geheimnis der breimaligen Frage befiegelt wurde. An 
diefe Stimmung beines Herzens wurde auch fein anderes Anfinnen geftellt, als daß 
du die Schafe desjenigen, welden bu Tiebteft, mit eben jener Speife ftärfteft, welche 
dich ſelbſt geftärkt Hatte. Und deine Zuverfiht wurde noch erhöht durch fo viele 
Wunberzeihen, jo viele Gnadengaben, jo viele Bewährungen deiner Tugend. 

„Schon hatteft du die Völker, welde aus der Beſchneidung den Glauben ans 
genommen hatten, unterrichtet; ſchon hatteft du die Kirche von Antiochien gegründet, 
wo zuerft die Würde des glorreidhen chriſtlichen Namens erglänzte; ſchon hatteft du 
in Pontus, in Galatien, Kappabocien, Aſien und Bithynien bie Geſetze bes Evan- 
geliums verkündet: da trägft bu, wohlbefannt mit dem Erfolge deiner Mühen und 
mit bem Zielpunfte beines Lebens, das Banner des Kreuzes Chrifti nad jenem Boll: 
werte Rom, wohin dir, göttliher Anordnung gemäß, der Glanz deiner Gewalt und 
der Ruhm deines Leidens vorauszogen.“ ! 


In tiefer Demut aber führt der wortgewaltige Hohepriefter alle feine 
amtlihe Macht und Ehre, feine Hirtentätigfeit und feine Lehre auf Petrus 
und durch ihn auf das unfidhtbare Haupt feiner Kirche, Chriftus ſelbſt, zurüd, 
deffen Verherrlihung feine ſchönſten Reden gewidmet find. So fpridt er 
3. B. am Jahrestag der Papftwahl: 


t ÜÜberfept von Schleiniger-Rade, Mufter des Predigers®, Freiburg 
1895, 388—3%. 


Achtes Kapitel. Epifche und didaktifche Verſuche. 117 


His itaque modis, dilectissimi, rationabili obsequio celebratur hodierna 
festivitas, ut in persona humilitatis meae ille intellegatur, ille honoretur, in quo 
et omnium pastorum sollicitudo eum commendatarum sibi ovium custodia per- 
severat, et cuius dignitas etiam in indigno herede non deficit. Unde venerabilium 
quoque fratrum et consacerdotum meorum desiderata mihi et honoranda prae- 
sentia hinc sacratior est atque devotior, si pietatem huius officii, in quo adesse 
dignati sunt, ei prineipaliter deferunt, quem non solum huius sedis praesulem, 
sed et omnium episcoporum noverunt esse primatem. Cum ergo cohortationes 
nostras auribus vestrae sanctitatis adhibemus, ipsum vobis, cuius vice fungimur, 
loqui eredite: quia et illius vos affeetu monemus, et non aliud vobis, quam quod 
doeuit, praedicamus: obsecrantes ut suceineti lumbos mentis vestrae castam et 
sobriam vitam in timore Dei ducatis, nee concupiscentiis carnis mens princi- 
patus sui oblita, eonsentiat. Brevia et caduca sunt terrenarum gaudia volupta- 
tum, quae ad aeternitatem vocatos, a semitis vitae conantur avertere. Fidelis 
ergo et religiosus animus ea, quae sunt caelestia, concupiscat, et divinarum 
promissionum avidus, in amorem se incorruptibilis boni et in spem verae lueis 
attollat. 


Achtes Kapitel, 
Epiſche und didaktifhe Berfude. 


Die religiöjen, fittlihen und fozialen Aufgaben des Chriftentums ftellten 
an feine erften Belenner Anforderungen, welche vorläufig alle Kunſtbedürfniſſe, 
alle poetiihen Beftrebungen vollftändig zurüddrängen mußten. Es gab un: 
endlich Wichtigeres zu tun als Berje zu machen. Non loquimur magna, 
sed vivimus. Dieſer Sa würde nicht wörtlich von drei Schriftſtellern 
diejer älteften Zeit wiederholt worden fein, wenn er nicht diejer Zeit jelbit 
aus dem Herzen geſprochen wäre!. 

Moderne Menſchen, melde gewohnt jind, die Kunſt fait ebenfo hoch 
zu ftellen al& die Religion, oder welchen das Chriftentum nahezu gleihgültig 
geworden ift, mag dies jonderbar, kaum verſtändlich, kulturfeindlich, rüd- 
ihrittlih erjcheinen. Sie mögen auf den Gedanken verfallen, die Poefie 
wäre abfihtlih, gewaltjam unterbrüdt worden. Das ift aber gar nicht der 
Hal. Der Hauptgrund, daß eine hriftli-lateinische Poeſie jo lange auf 
ih warten ließ, liegt lediglich darin, daß die Poefie für die ewigen Ziele 
des Menſchen lange nicht jene Wichtigkeit oder gar Notwendigkeit befitt, 
welche ihr eine naturaliftiiche Weltanfhauung beimefjen mag. Die Menſch— 
heit mußte vor allem die verborbene und verrottete Überfultur abftreifen, 
welche fie an den Rand des Verderbens gebracht hatte und woran gerade 


‘ Tertullian., Apologeticum e. 88. Minucius Felix, Octav. 38, 6. 
Cyprian., De bono patientiae c. 3 (ed. Hartel 398). 


118 Achtes Kapitel, 


die Poefie den verhängnisvollften Anteil hatte. Die Belehrung erheifchte 
eine Faſten- und Abſtinenzkur. Diefe wurde aber nit nur durd das 
Walten der Gnade erleichtert, fondern auch dur die Aufgaben, melde 
Glaube, Kriftlihe Liebe und Heldenmut den Chriſten ftellte, und durd den 
reihen Erſatz, welden ihnen das Ghriftentum für die profane Dichtung in 
den Schriften des Neuen und Alten Teftamentes bot. Gelehrten wie Un— 
gelehrten erſchloß Fich bier eine Welt voll erhabener Schönheit, von welcher 
das klaſſiſche Altertum feine Ahnung gehabt hatte und melde die Neu: 
befehrten zur glühendften Begeifterung mit fich fortriß. Da ift nicht eine 
Spur von Heimweh nad) den „Göttern Griehenlands“. Die erften chriſt— 
lichen Jahrhunderte fanden im Chriftentum ganze und volle Befriedigung 
für Geift und Herz. 

Dazu trug wohl in nicht geringem Grade aud die Tyeier der heiligen 
Geheimnifje bei, welche ſchon in den Mpoftelzeiten nicht bloß mit Predigt und 
Lehrvorträgen, fondern aud mit Gebeten, Hymnen, Palmen, geiftlichen Ge- 
jängen, d. 9. einer mannigfaltig gegliederten Liturgie, verbunden war. In 
der gewaltigen Geiftesarbeit aber, welche die Kirchenlehrer und Väter der 
eriten vier Jahrhunderte geleiftet haben und welche man gettoft mit den 
Leiftungen der größten Denker des Altertums vergleichen darf, fand feines- 
wegs bloß der Berftand feine Rechnung; wie in den heiligen Schriften felbft, 
floß hier auch der Phantafie, dem Gemüt und dem Willen reihliche Nahrung 
zu. Dogma und Moral, philofophiiche Spekulation und poetiihe Auffaſſungs— 
weile treten faum je völlig abgetrennt auf. Die chriftliche Lehre zieht den 
ganzen Menſchen in ihren lebendigen Anziehungskreis. Im Lichte des Neuen 
Bundes geftaltet ſich der Alte zur großartigften poetiihen Typil. Der Ge: 
danke an Gott, an Chriftus verflärt Menjchenleben und Natur. Predigten, 
Abhandlungen, Reden und Briefe der Väter find durdtränft von diejer reli- 
giöfen Poeſie. 

So ift in den erften drei Jahrhunderten faum von Dichtern die Rede, 
und bon dem wenigen ift faum eine dürftige Nachricht erhalten. 

Der frühefte fiher und klar beglaubigte chriſtliche Epiler ift erft der 
ſpaniſche Prieſter C. Vettius Aquilinus Juvencus, von dem aber ander: 
weitig nichts befannt ift, als daß er vom jehr vornehmen Geſchlechte war 
und unter Konftantin d. Gr. dichtete, Mit entjchiedenem Dichtertalent be: 
gabt, Klajfifch gebildet, nit nur mit Vergil, Lucan und Statius vertraut, 
jondern auch mit den ardaiftiihen Wendungen des älteren Latein, hat er 
es zuerjt eingejehen, daß der Epik in den heiligen Evangelien ein neuer 
Stoff geboten jei, der an Bedeutung die Sagenmwelt des Homer und Bergil 
weit überrage und feinem Sänger deshalb eine weit erhabenere Unsterblichkeit 
zu fihern geeignet fei, und fo hat er, vorzüglich nad Matthäus, aber auch 
mit Zuziehung der andern drei Evangeliften, die erſte Chriſtiade in bier 


Epiſche und didaltiſche Verſuche. 119 


Büchern entworfen!, oder wie der hl. Hieronymus ſich ausdrückt, „er hat es 
gewagt, die Majeftät der Evangelien den metriſchen Geſetzen zu unterwerfen“. 
Im Prolog fündet Juvencus feine Abficht folgendermaßen an: 


Nichts Unfterbliches Hält der Bau der Welten umfangen, 

Weder das goldene Rom noch die Reiche ber Menſchen, der Erbfreis, 
Weber Land noch Meer noch die flammenden Sterne des Himmels. 
Denn vom Schöpfer beftimmt ift der unvermeidlihe Zeitpunkt, 
Wo bie zündende Glut hinrafft vernichtend den Meltbau. 

Doch erhabene Tat und der Ruhm vortrefiliher Tugend 

Bleibt auf lange hinaus zahllofen Menſchen geborgen, 

Deren Lob und Preis die Dichter häufen zum Liebe, 

Jene feiert der Sang, von Smyrnas Quellen entftrömenbd, 

Diefe das Tiebliche Lied Maros, an des Mincios Ufern, 

Nicht geringerer Ruhm umfreifet aber den Sänger: 

Ewigen ift er gleich, folang die Jahrhunderte fliegen 

Und der jhwindelnde Pol ummälzet Bänder und Deere 

Rings im ätheriſchen Raum nad) unverrüdtem Geſetze. 

Wenn die Dichtungen ſchon jo Sangen Ruhm fich verdienen, 
Welche die Heldenwelt mit menſchlichen Lügen verknüpfen, 

Wird und ewiges Lob der fidhere Glaube gewähren, 

Spenden unfterblide Zier, unfterblien Lohn uns erteilen. 

Denn es gilt mein Lied bes Erlöfers Leben und Taten, 
Göttlichem Gnadengeſchenk an bie Menjchheit, Iedig des Irrtums. 
Nicht zu fürchten fteht, der Weltbrand werbe verzehren 

Diejes Werk; ja vielleicht wird e8 mich entreihen dem fyeuer, 
Wenn auf flammenden Wolfen herab wird fteigen der Richter, 
Ehriftus wunderbar, ber Ruhm bes erhabenen Vaters. 

Freudig ans Werk! Der Heilige Geift bejeele die Dichtung, 
Läut’re des Sängers Herz mit den reinen Fluten des ſüßen 
Horbanftroms, auf daß wir Ehriftum würdig befingen ?. 


Wie Ihon Hieronymus bemerkt, hat Juvencus „die vier Evangelien 
(nad) der „Itala*) fait wörtlih (pene ad verbum) in Herameter überjegt“. 
Er Hat es nicht gewagt, eigene Erfindungen einzuſchieben oder ſich freiere 
Umjchreibungen zu erlauben; eher hat er den Tert gelegentlih noch fnapper 
gedrängt oder gefürzt, wie 5. B. in der Wiedergabe des Magnifikat: 

Magnificas laudes animus gratesque celebrat 


Immensi Domino mundi, Vix gaudia tanta 
Spiritus iste capit, quod me dignatus in altum 





’ Evangeliorum libri IV, herausgeg. von F. Arevalo, Rom 1792; danad) 
von Migne, Patr. lat. XIX 53—346; €. Marold, Leipzig 1886, 3. Huemer 
(Corpus script. ecel. lat. XXIV), Wien 1891. — Bgl. U. Ebert, Literatur bes 
Prittelalters I?, Leipzig 1889, 114— 121. — M. Manitius, Gefhichte der chriftlich- 
lateiniſchen Poefie, Stuttgart 1891, 55—61. 

2 Uberſetzt vom Verfaſſer. 


120 Achtes Kapitel. 


Erigere ex humili celsam, cunctisque beatam 
Gentibus, et seclis voluit Deus aequus haberi. 
Sustulit ecce thronunı saevis, fregitque superbos, 
Largifluis humiles opibus ditavit egentes. 


Eine eigentliche poetiihe Neufhöpfung konnte jo nicht entftehen. Aber 
die Verje fließen leicht und gefällig, geben jehr genau Inhalt und Färbung 
des bibliſchen Berichtes wieder, und jo hat ſich der Dichter ſchon bei Papft 
Gelafius das Lob verdient: Item Iuvenci nihilominus laboriosum opus 
non spernimus, sed miramur. Das fleißige Werk verdient durchaus feine 
Geringihätung, fondern Bewunderung. In einer Zeit, wo nod die Apo- 
frpphen, großenteil3 im Dienfte der verſchiedenen Sekten entftanden, die Rein— 
heit des Glaubens bedrohten, war eine jolche Behandlung der bibliihen Epik 
von höchſtem Verdienſt. 

In ähnlicher Weiſe bearbeitete zu Anfang des 5. Jahrhunderts ein 
gewiſſer Presbyter Cyprian aus Oberitalien, wie es ſcheint, die geſchicht— 
lichen Bücher des Alten Teſtaments; es ſind von dieſer Dichtung indes 
nur Fragmente vorhanden, die früher dem Juvencus zugeſchrieben wurden, 
Das Werk verrät Fleiß und Ernft, wenn aud die Erzählung trodener, die 
Poefie mangelhafter ift alS bei Juvencus!. Freier ift der altteftamentlidhe 
Stoff in zwei Epyllien behandelt, die vermutlih von dem gleichen Verfaffer 
herrühren, und von welchen das eine (De Sodoma) den Untergang Sodomas, 
das andere (De Iona) die Rettung Ninives erzählt. Beide Erzählungen 
find in gewähltem Ausdruck und gutem Bersbau durchgeführt, die zweite 
jedod nur zum Zeil erhalten?, Auch die jog. Coena Cypriani, ein heiteres, 
für den Vortrag bei Gaftmählern beftimmtes Gedicht, ift wahriheinlid von 
demjelben Presbyter verfaßt, aber, wie die zwei Epyllien, wohl ſchon zu 
Ende des 4. Jahrhunderts, 

Eine noch viel freiere Behandlung weiſt das Gedicht eines gemiffen 
Rhetors Victorinus auf, welches das Martyrium der fieben makkabäiſchen 
Brüder zum Vorwurf hat. Die biblifhe Erzählung ift hauptſächlich dahin ab: 
geändert, dab der Tyrann Antiohus fi zuerft an die Mutter wendet und dieje 
zu bewegen jucht, ihre Söhne vom Glauben abjpenftig zu maden. Anftatt 


’ Unvollftändig bei Arevalo, Juvencus und Migne, Patr. lat. XIX 345 
bi8 380; Ergänzungen bei Pitra, Spicilegium Solesmense I, Paris. 1852, 151— 258, 
und Analecta sacra et classica I, Paris. 1888, 181—209. — Vollſtändige Ausgabe 
von R. Peiper, Cypriani Galli poetae Heptateuchos (Corpus script. ecel. lat. 
XXIII, Vindobonae 1891), 

2 9. Brewer 8. J., Über ben Heptateuhdichter Cyprian und die Coena Cy- 
priani, in Zeitf&hrift für fathol. Theol. XXVIII, Innsbrud 1904, 92—115. — Die 
Gedichte bei Peiper a. a. O. (Corpus XXIII 212— 226), ber Eyprian für einen 
Gallier hält. 


— — 


Epiſche und didaktiſche Verſuche. 121 


deſſen bleibt aber die Mutter nicht bloß in ihren eigenen Folterqualen ſtand— 
haft, ſondern hält an jeden einzelnen der ſieben Söhne eine beſondere Rede, 
um ihn zur mutigen Ertragung des Martyriums anzueifern. Dadurch erhält 
die Darſtellung an ſich mehr dramatiſches Leben; allein die Reden find etwas 
zu lang ausgefallen, und da die Sprade zwar rein, aber etwas ſchwer— 
fällig ift, jo geht durch die Breite der Reden der friſche Eindrud wieder 
verloren. Reicher an Handlung und Abwechſlung ift ein anderes Gedicht, 
das demjelben Victorinus zugejchrieben wird, De Iesu Christo deo et 
homine, da3 in 137 Hexametern das ganze Leben Chrifti umfaßt. Ein 
drittes Gediht, das bon einigen ebenfalls dem Victorinus, von andern 
einem Eyprian zugeteilt wird, De Pascha oder De ligno vitae oder De 
eruce, befingt (in 69 Herametern) in tieffinnig allegoriicher Weiſe die Aus— 
breitung des Chriftentums !. 


Sieh, es Liegt ein Ort in der Mitte des fihtbaren Erdrunds, 
Welchen nach Lanbesiprade die Juden Golgatha nennen: 

Hier hat, wie ich erinn’re, ein Stamm unfruchtbaren Eihbaums, 
Abgehaun und gepflanzt, heilfame Früchte getragen, 

Doch nit bot er fie dar den Gärtnern, die ihn gepflanzet, 
Nein, auswärtige Menſchen gewannen bie feligen Früchte. 
Diefe Gattung Gewächs fleigt auf aus einfahem Stamme, 
Breitet jodann feine Zweige in zwei gradftrebenden Armen, 
Gleich wie bie ſchwere Stang’ am gebläheten Segel ſich ftredet, 
Oder das Jod quer fteht mit gefpanneten Stieren am Pfluge. 
Wen es da trug ala Frucht, aus urfprünglihem Samen gereifet, 
Nahm, da er abfiel, auf in dem dunkeln Schobe die Erbe. 
Aber im dritten Lichte, für Erb’ und Himmel ein Staunen, 
Sproßt er wieber empor, ein Zweig voll Früchten des Lebens. 
Zweimal zwanzig Tage hindurch erfräftigte der ſich, 

Wuchs zum unenblihen Raum und berührte mit oberftem Wipfel 
Himmlifhen Ort, und verbarg das heilige Haupt in der Höhe, 
Während er zweimal ſechs der Zweig’ unermefjener Schwere 
Bon ſich firedte und weit hinbreitete über das Erdrund, 

Dap fie den Völkern allen Genuß und ewiges Leben 

Böten und Iehrten die Art, wie man einen jeligen Tod ftirbt. 
Auh nun bald, da fünfzig der Tage waren erfüllet, 

Sandte vom höchſten Gipfel des Himmels göttlichen Nektars 
Einen Regen den Zweigen das Hauchen himmlifcher Lüfte, 
Und vom fühen Tau quoll überall buſchiges Laubwerf. 

Unter dem unermeßlichen Schatten ber ſchirmenden Zweige 
Bar ein Quell ganz lauter und ohne trübende Störung, 
Shlammlos, von durhfihtiger Welle, und fprießende Kräuter 
Goffen fröhliche Farben umher aus blühenden Kelchen. 

Um ihn fand unzählige Schar, und es ftrömten die Völker, 
Viannigfaltig an Art und Geſchlecht, an Alter und Ehren, 








— —— 


» Alle drei Gedichte bei Peiper a. a. ©. (Corpus XXIII 231-274). 


122 


Achtes Kapitel. 


Unvermählt' und Vermählte, bei Witwen blühende Frauen, 
Säuglinge, Anaben und Männer, die Jungen zugleih mit den Alten. 
Hier, wo fie ſahn von unzähligen Früdten die Zweige gebogen 
Hängen herab, bier freuten fie fi, mit begierigen Hänben 

Nah’ zu berühren bie Früchte, noch feucht vom himmlischen Nektar. 
Aber fie konnten nicht mit begierigen Händen fie pflüden, 

Eh’ den befubelnden, jhmußigen Staub fie bes früheren Weges 
Abzuwaſchen, den Leib in ber heiligen Quelle gebabet. 

Lange fodann ringsum im weichen Gras ſich ergehen, 

Nehmen die Frücht' abhangend vom hohen Baum in Empfang fie. 
Doch wenn einige nur von den Zweigen bie fallenden Hülfen 

Und bie fühen Blätter, im reichlihem Nektar gebabet, 

Eſſen, jo wählt die Luft, die wahren Früchte zu toften. 

Wenn aber jelbft im Mund den himmliſchen Saft fie gefoftet, 
Mandeln bie Seelen fie um, und verlieren die Triebe ber Selbſtſucht, 
Dak mit mildem Gefühl der Menſch erfennet den Menſchen. 

Viele fahen wir aud vom neuen Geſchmacke den Magen 

So empört und erregt dur den Honig das Gift ihrer Galle, 
Daß fie verftöreten Geiſtes verſchmähten die heilfame Labung, 
Oder auch nicht ertrugen die gierig genommene Speije, 

Und ausfpie'n bie zu lange und übel gefhlürfeten Säfte. 

Viele haben jedoch mit erneuertem Geifte geftärtet 

Das kranke Gemüt, und was fie nicht glaubten zu können, 

Gut ertragen und dann die Frucht ihrer Mühen empfangen. 

Diel’ au, welde gewagt in den heiligen Quell fi zu tauchen, 
Wichen plößlid wieder zurüd und ftürzeten rüdlings, 

Wälzen fi nun im alten Schmuß und dem Staube des Weges, 
Aber viele empfangen mit ganzer Seele die Früchte, 

Ziehen fie tief ins Inn're und tragen fie fromm in bem Buſen. 


Alle, welde vermögen zur heiligen Quelle zu ſchreiten, 

Diefe führet der fiebente Tag zur erwünfceten Welle, 

Ihnen benetzend mit flüffigem Naß die ermatteten Glieder. 

So erft legen fie ab des Geiftes Schlamm und die Flecken 

Ihres früheren Lebens und führen, vom Tode gereinigt, 

Ihre geabelten Seelen zurüd, für den Himmel bereitet. 

Bon da geht zu ben Zweigen der Weg und den Früchten bes Heiles, 
Und zum Himmel von hier durch die Zweige bes ftrebenden Baumes. 
Dies ift das Holz bes Lebens für alle Gläubigen. Amen !, 


Einen wirklich poetiſchen Anhauch Hat das Gediht „Vom Phönir“, 
das die ältere Überlieferung dem Lactantius zuſchrieb, die Kritik dann ab- 
ſprach, die neuere Kritik wieder zufpricht ?. 


t jÜberfeht von C. Fortlage, Gefänge ber Hriftlichen Vorzeit 115—118, 

? Herauögeg. von A. Martini (Lactantii Carmen de Phoenice, Lüneburg 
1825); Rieje (De ave Phoenice in Claudii Claudiani carmina II [ed. Jeep] 
211 ff). — Bal. die Aufjäge von Riefe und Dechent im Rhein. Mufeum XXXI 





(1876) 446 ff und XXXV (1880) 29 fi. 


In fünfundachtzig gutgebauten 


Epiſche und didaktiſche Verſuche. 123 


und wohlklingenden Diſtichen erzählt es in ſehr anmuliger, geſchmackvoller 
Weiſe die orientaliſche Sage von dem berühmten Vogelkönig, der auf einem 
Berge in der Nähe des Sonnentors wohnt, alle tauſend Jahre einmal in 
die Arabiſche Wüſte herniederſchwebt, ſich aus den duftenden Hölzern und 
Pflanzen ein Neſt errichtet und in deſſen Flammen ſtirbt, um in neuer 
Pracht aus der Aſche hervorzugehen. Im Ausdruck iſt mehrfach die antike 
Mythologie beibehalten, für einen chriſtlichen Dichter ſpricht die Deutung der 
Sage auf die Auferftehung, deren Symbol der Phönir aud in der chriſt— 
lien Kunft wurde, die Baradiejesheimat des Vogels, das deutliche Lob der 
Jungfräulichfeit und die dem Heidentum fremde Anjhauung, daß im Tode 
höchſte Wonne und ein ewig ſeliges Leben beginne, 
At fortunatae sortis filique voluerem, 
Cui de se nasci praestitit ipse Deus! 
Femina sit, vel mas, seu neutrum, seu sit utrumque, 
Felix, quae Veneris foedera nulla colit. 
Mors illi Venus est; sola est in morte voluptas: 
Ut possit nasci, haec appetit ante mori. 
Ipsa sibi proles, suus est pater et suus heres, 
Nutrix ipsa sui, semper alumna sibi. 
Ipsa quidem, sed non eadem, quae est ipsa, nec ipsa est, 
Aeternam vitam mortis adepto bono'!, 


Als der ältefte Epiter hat lange Commodianus gegolten; es ift 
nunmehr aber ziemlich fiher, daß er erft der Mitte des 5. Jahrhunderts 
angehört?. Man weiß übrigens nicht genau, wann er geboren, wann er 
geftorben if. Wahrſcheinlich verfaßte er feine Dichtungen um 458—466 
in Südgallien, war weder Biihof noch Priefter, wie man früher annahm, 
ſondern ein einfacher Aslet. Er ſelbſt nennt fi in dem legten feiner Akroſticha: 
Commodianus mendicus Christi, „Bettler Chriſti'. Er muß ein guter, 
frommer Mann gemwejen fein. In feinen achtzig Akroftiha, deren Titel man 
erhält, wenn man die Anfangsbuchſtaben der Verſe vorn vertikal herunterlieft, 
gibt er fich viele Mühe, die alten Götter und das Heidentum, auch das Juden- 
tum zu befämpfen und dann, indem er fih Catos Sprüde zum Vorbild 
nimmt, allen einzelnen Ständen der Chriften gute Lebensregeln und Räte zu 
erteilen; aber ſchließlich ift er doch ein Schlecht unterrichteter Theolog und ein 
noch viel unfähigerer Dichter. Er hält Vater und Sohn für diejelbe gött- 
lihe Perjon, die je nah ihren verſchiedenen Beziehungen bald Vater bald 
Sohn heißt. Er ift auch Chiliaft, d. h. er erwartet in allernächfter Zeit 

' Migne, Patr. lat. VII 277—284. 

? Der fihere Nachweis hierfür wird in Ausficht geftellt von 9. Brewer 8. J., 


Abfafjungszeit der Dichtungen bes Commodianus von Gaza (Zeitihrift für kathol. 
Theol. XXIN, Innsbrud 1899, 759—763). 


124 Achtes Kapitel, 


den Antihrift und das taufendjährige Reid. Seine Sprüche aber find 
nichts mehr als reine Proja, und feine Herameter holpern unbeholfen daher, 
ohne Beobahtung der Quantitätzgejege, ohne Rhythmus und Wohllaut 1. 
Nicht viel beſſer ift fein zur Belehrung der Juden und Heiden verfaktes 
Carmen apologeticum (in 1060 &$erametern). Statt eines Antihrifts 
läßt er hier ſogar zwei auftreten, und das Gedicht läuft ganz in politiſch— 
möftiiche Prophezeiung aus. Papſt Gelafius hat darum Commodians Ge: 
dichte den „Apokryphen“ beigezählt und damit jeine wunderlichen Schwarz- 
jehereien unſchädlich gemacht. 

In Form und Sprache ſchloſſen ſich die meiſten epiſchen Verſuche an 
Vergil an, der wegen feiner fittlihen Reinheit von den alten Dichtern am 
meiften Achtung verdiente und am wenigften Gefahr bot. Es kann darum 
nicht befremden, daß auch eigentlihe Vergil:Gentonen entftanden, d. h. 
Gedichte, welche in ihrem Ausdrud ganz oder faft ganz aus Vergil: „Lappen“ 
zufammengeflidt waren. Diejelben werden gewöhnlich jehr verächtlich be— 
Handelt, do find fie als Vorübungen und Vorarbeiten einer erſt werdenden 
Literatur keineswegs zu veriverfen, da die antike Dichterſprache nicht über 
Nacht zum tauglihen Werkzeug einer ganz neuen Weltanfhauung umgemodelt 
werden konnte. Stellenweiſe lejen fie fih gar nicht übel, wenn man bon 
ihrem Urfprung etwas zu abftrahieren weiß und nur an das denkt, was fie 
jet ausdrüden mollen und follen. Der anjehnlichfte Verſuch dieſer Art, 
der in zwei Teilen (694 Herametern) Schöpfung und Sintflut und dann 
die Hauptereigniffe des Lebens Chrifti behandelt, trägt den Namen einer 
vornehmen Römerin, Broba, deren Großvater Probus und Vater Petronius 
Probianus Konjuln waren und deren Sohn Olybrius (379) ebenfall3 Konſul 
wurde. Sie foll jhon vor ihrer Belehrung ein Epos verfaßt haben, das 
aber verloren ift?. 

Der aufblühenden chriftlihen Poefie gereichte es fiher zum Vorteil, 
dat man fi in den vornehmften Streifen Roms dafür zu interejlieren be: 
gann. Noch bedeutjamer mußte es fein, daß in der zweiten Hälfte des 
4. Jahrhunderts auch ein Papft in die Reihen der Dichter trat, und 
zwar einer der Hervorragenditen Päpfte diejes Jahrhunderts. Es war der 
hl. Damajus, der von 366—384 auf Petri Stuhl ſaß und auf ent: 
iheidenden Synoden zu Rom (369 und 374) die Lehre der Macedonianer 
verwarf. Er Hat den Hi. Hieronymus zur Abfaffung der Bulgata heran: 
gezogen und duch umfaſſende Bautätigkeit im alten Rom ein neues, chriſt— 


! Derauögeg. von E. Lubwig (Commodiani carmina, Lips. 1877/78) und 
3. Dombart (Corpus script. ecel. lat. XV, Vindobonae 1887). 

? Herausgeg. von C. Schenfl (Poetae christiani minores I, Vindobonae 1888; 
Corpus XVI; bafelbft noch brei andere Centones Vergiliani). Über andere Gentonen 
vgl. Manitius, Geſch. db. riftl.-Iat. Poefie 127—130. 





Neuntes Kapitel. Liturgifhe Hymnendichtung. Der bl. Ambroſius. 125 


lies begründet. Er Hat es fi nicht nehmen laſſen, die von ihm verehrten 
Grabftätten der Märtyrer und die von ihm gebauten Heiligtümer felbft mit 
Inſchriften zu verſehen!. Manche jener Grabſchriften (tituli) und Infchriften, 
von dem Kalligraphen Yurius Dionyfius Philocalus in Stein gemeihelt, 
find noch erhalten, andere find noch dur Kopien befannt. Sie find 
meiften® jehr kurz. Sein längftes erhaltenes Gedicht, auf den Martertod des 
heiligen Apofteld Paulus, zählt nur jehsundzwanzig Berje. Umfangreichere 
Ditungen über die „Jungfräulichkeit“ und über bibliſche Stoffe find ver: 
loren. Zwei Hymnen, auf den Hl. Andreas und auf die hi. Agnes, in 
alten Sammlungen ihm zugefhrieben, werden von den Kritikern in Zweifel 
gezogen. So läßt fich über fein poetiiches Verdienſt nichts Entjcheidendes 
jagen. Mag die Sprache feiner Epitaphien manden ungelent oder gar 
projaifh erjcheinen, fie befift monumentale Einfachheit, Kraft und Würde, 
und es Tann faum ein Zweifel fein, dab der große Papft, der mächtige 
Hörderer des Bibelftubiums, auch der dhriftlichen Poeſie durch feine eigene 
Betätigung die fruchtreichften Impulfe gegeben hat. Die Dichtungen des 
Prudentius weiſen deutlih auf ihn zurüd, 


Neuntes Kapitel. 
Fiturgifde Hymnendihtung. Der Hl. Ambrofius. 


„Seid voll des Heiligen Geiftes, redend miteinander in Pjalmen und 
Hymnen und geiftlihen Liedern, fingend und jubelnd in euern Herzen dem 
Herrn!“ So mahnt der Hi. Paulus die Ephelier und genau in denfelben 
Worten die Koloffer?. Die einzelnen Ausdrüde — „Pjalmen“, „Hymnen“ 
und „Geiftliche Lieder” — haben verſchiedene Erklärung gefunden. Theodoret 
glaubte darin ſchon die Hauptbeftandteile des jpäteren liturgiichen Gebetes 
unterfhieden zu finden. Unzweifelhaft empfiehlt der Apoftel im allgemeinen 
die Pflege religiöfer Poefie und kirchlichen Geſanges. Als wohl ebenfo ficher 
dürfen wir annehmen, daß die erften Chriften Pjalmengebet und Pjalmen- 
gejang (in gemeinſamem wie in abwechſelndem Vortrag) aus der Synagoge 
herübergenommen haben. Unter den „Hymnen“ laſſen fi ſehr wohl die 
berrlihen Gantica des Alten und Neuen Teftamentes verftehen, welche noch 











! Ausgabe feiner Schriften von A. M. Merendba, Rom 1754, abgebrudt bei 
Migne, Patr. lat. XIII 109442; bie Epigramme bei J. B. De Roifi (In- 
scriptiones christianae urbis Romae I, Romae 1857—1861; II 1888), M. Ihm 
(Damasi Epigrammata, Lips. 1895). — gl. H. Grisar, Analecta Romana ], 
Romae 1899, 118; Derf,, Geih. Roms und ber Päpfte I 257 fi. 

2 Eph 5, 18 f. Kol 3, 16. 


126 Neuntes Kapitel. 


heute einen bevorzugten Zeil des liturgifchen Gebetes bilden: das Ganticum 
Moſis (2 Mof Kap. 15), das Abſchiedslied Mofis (5 Mof K. 32), das 
Danklied der Anna (1 Kön 8.2), der Gefang Habakuks (Hab K. 3), das 
Gebet des Iſaias (If K. 12), ein anderes Lied des Iſaias (K. 26), das 
Klagelied des Königs Ezehias (IJ 38, 10—20), das Dantklied des Jonas 
(Ion 8. 2), der Hymnus der drei Jünglinge im Feuerofen (Dan K. 3), 
das Benedictus des Zacharias (Luk 1, 68—79), das Magnificat der 
feligiten Jungfrau (Zut 1, 46—55) und das Danklied des greifen Simeon 
Nunc dimittis (Luk 2, 29—32). 

Diefe Cantica maden für ſich jhon, noch mehr aber in Berbindung 
mit den Palmen, das jchönfte und ehrmürdigfte Liederbud der Welt aus, 
Sie Hangen darum, nad dem Wunjche des Apoftels, fort durch die Jahr: 
hunderte bis auf den heutigen Tag. Sie follten aber feineswegs vereinzelt 
bleiben, jondern zum Grundftod einer religiöfen Lyrik werden, an der ſich 
alle folgenden Jahrhunderte beteiligten. Unter den „geiftlihen Liedern”, bon 
welchen der Hl. Paulus redet, fünnen wir am füglichſten die neueren Gejänge 
verstehen, welche fromme Männer im Schoße der Kriftlihen Gemeinde zu 
dem altehrwürdigen Schab der göttlih infpirierten Poefie fügten und von 
welchen die Kirche im Laufe der Zeit mande ihrer Liturgie einverleibte!. 
Die Älteften derjelben modten in der Form den bibliihen Pjalmen und 
Gantica nachgebildet fein, wie die herrlihe uralte Dorologie, die ih im 
Gloria der heiligen Meſſe erhalten hat. Später indefjen bildeten ſich zuerft 
bei den Syrern, dann bei den Griechen, Armeniern und Lateinern eigene, 
neue Liederformen heraus, welche ſich deutlich von den Pjalmen und Gantica 
unterſchieden und bei den Griehen und Lateinern, zum Unterfhiede von den 
übrigen Bejtandteilen der Liturgie, Hymnen genannt wurden. Die Pflege 
diejer Art Poefie hängt wejentlich mit der Ausbildung des kirchlichen Stunden: 
gebete3 zufammen, dieſes Hinwieder mit der Entwidlung des Mönchs- und 
Ordenslebens im Orient. Nach Sokrates reiht der Wechlelgefang der 
Pjalmodie in die Zeit des Hl. Ignatius von Antiohien zurüd, nad 
Theodoret ift er erft dur Diodor und Flavian unter Kaiſer Konftantius 
in Flor gelommen, was Theodor von Mopjueftia dahin erklärt, dab bie 


ı Spuren bon liturgifhen Hymnen finden fi im Neuen ZTejtament, 3. B. 
1 Zim 3, 6: Ds dpavspadn dv aapri — Edixamidn dv mveuuarı — üedn dy- 
r&lors ujw. Undere mehr oder weniger wahrſcheinliche Epuren verfolgt Harnad, 
Geſchichte der altchriftlichen Literatur I 795, fowie in Zerte und Unterſuchungen 
XII, Zeipzig 1894, 1 ff. — Über ein „Tauflied“, das ſich inhaltlich mit der „Di« 
dache“ berührt, vgl. A. Harnad, Zu den Amherſt-Papyri (Situngsber. d. k. Preuß. 
Akad. d. Wiſſenſch., Berlin 1900, 986 987). Er ſetzt die Abfafjungszeit zwiſchen 
250 und 330. — Bon den Kriftlihen Agapen erzählt Tertullian (Apol. c. 39): 
Ut quisque de Scripturis sacris vel de proprio ingenio potest, provocatur in 
medium, Deo canere, 


Liturgiſche Hymnendichtung. Der hl. Ambrofius, 127 


beiden Männer nur den Wechjelgefang, wie er längft bei den Syrern im 
Gebrauche war, zu dem Griechen verpflanzten. ine nähere Unterfuhung 
muß den liturgiſchen und hymnologiſchen Forſchern überlaffen bleiben. Wir 
fönnen hier nur einige Hauptmomente ftreifen 1, 

Die älteften Nachrichten über das kirchliche Stundengebet, wie dasjelbe 
um die Jahre 380 bis 390 in der prädtigen, von Konftantin erbauten 
heiligen Grabeskirche zu Jeruſalem gehalten wurde, enthält der Wallfahrts- 
bericht, welden die hl. Silvia von Aquitanien — wahrſcheinlich Schwefter 
des Rufinus, Reichsminiſters unter den Kaiſern Theodofius dem Großen 
und Arkadius — an ihre frommen Mitſchweſtern in Gallien jandte?. 


! Die bisherigen Forſchungsergebniſſe nebft Literaturangaben am beften zu— 
jammengeftellt von S. Bäumer, Geſchichte bes Brevierd. Verſuch einer quellen- 
mäßigen Darftellung bes altkirchlichen und des römiſchen Offtciums, Freiburg 1895. 
— Bgl. Hergenröther-Kirſch, Kirchengeſchichte It, Freiburg i. B. 1903, 
472 478. 

? Ut autem sciret affectio vestra, quae operatio singulis diebus cotidie in 
locis sanctis habeatur, certas vos facere debui, sciens, quia libenter haberetis 
haec cognoscere. Nam singulis diebus, ante pullorum cantum, aperiuntur omnia 
hostia Anastasis, et descendent omnes monazontes et parthenae, ut hic dicunt; 
et non solum hii, sed et laici, praeter viri aut mulieres, qui tamen volunt 
maturius vigilare. Et ex ea hora usque in lucem dieuntur ymni, et psalmi 
responduntur; similiter et antiphonae: et cata singulos ymnos fit oratio. Nam 
presbyteri bini vel terni, similiter et diacones, singulis diebus vices habent simul 
cum monazontes, qui cata singulos ymnos vel antiphonas orationes dieunt. Iam 
autem ubi ceperit lucescere, tunc incipiunt matutinos ymnos dicere. Ecce et 
supervenit episcopus cum clero, et statim ingreditur intro spelunca, et de intro 
cancellos primum dicet orationem pro omnibus; commemorat etiam ipse nomina, 
quorum vult, sic benedicet cathecuminos. Item dicet orationem et benedicet 
fideles; et post hoc, exeunte episcopo de intro cancellos, omnes ad manum ei 
accedunt; et ille eos uno et uno benedicet exiens iam, ac sic fit missa, iam luce. 
Item hora sexta denuo descendunt omnes similiter ad Anastasim.... Ita ergo et 
hora noha fit, sicuti et ad sexta. Hora autem decima, quod appellant hic 
licinicon, nam nos dieimus lucernare, similiter se omnis multitudo colliget ad 
Anastasim, incenduntur omnes candelae et cerei, et fit Jumen infinitum. Lumen 
autem de foris non affertur, sed de spelunca interiori eieitur, ubi noetu ac die 
semper lucerna lucet, id est de intro cancellos: dicuntur etiam psalmi lucernales, 
sed et antiphonae diutius. Ecce et commonetur episcopus, et descendet et sedet 
susum, nec non etiam et presbyteri sedent locis suis: dieuntur ymni vel anti- 
phonae. Et ad (finem) ubi perdicti fuerint iuxta consuetudinem, levat se epi- 
scopus, et stat ante cancellum, id est ante speluncam: et unus ex diaconibus 
facit commemorationem singulorum, sieut solet esse consuetudo. Et diacono 
dicente singulorum nomina, semper pisinni plurimi stant, respondentes semper: 
Kyrie eleyson, quod dieimus nos: Miserere Domine, quorum voces infinitae sunt 
(J.F.Gamurrini, $. Silviae Aquitanae Peregrinatio ad loca sancta, ed. altera, 
Romae 1888, 45 f; Itinera Hierosolymitana saeculi IV--VIII recensuit P. Geyer, 
Vindobonae 1898: Corpus script. eec). lat. XXXIX 71). 


128 Neuntes Kapitel. 


„Jeden Tag”, To erzählt fie, „vor dem Hahnenſchrei werben alle Türen ber 
Auferftehungsfirhe (Anastasis) geöffnet, und es fteigen alle Mönde und Nonnen 
hinunter (Monazonten und Parthenae, wie fie hier genannt werden), und nicht nur 
fie, fondern auch bie Laien, Männer und Frauen, welche bie Frühwache mitmachen 
wollen. Unb von bdiefer Stunde bis zum hellen Tag werben Hymnen gebetet und 
Pialmen wechjelweife rezitiert unb ebenſo Antiphonen: und nach ben einzelnen 
Hymnen kommt ein Gebet. Denn je zwei ober brei Priefter unb ebenfo Diafonen 
wechſeln an ben einzelnen Tagen mit den Mönden ab, welche nad) den einzelnen 
Hymnen oder Antiphonen Die Gebete jprehen. Sobald es aber hell zu werben be— 
ginnt, fangen fie an, die Morgenhymnen zu beten. Siehe, und dann fommt ber 
Biſchof mit dem Klerus und tritt alsbald in bie Höhle und verrichtet zuerft inner- 
halb der Gitter das Gebet für alle; dann fommemoriert er auch jelbft die Namen 
derer, die er will, jo fegnet er die Katechumenen. Ebenfo ſpricht er das Gebet und 
fegnet die Gläubigen. Und danach, wenn der Biſchof aus bem vergitterten Raum 
hervortritt, treten alle an feine Hanb heran, und er fegnet fie, einen nach dem anbern, . 
indem er hinausgeht, und jo endigt bie Diefje (Verabſchiedung) ſchon bei hellem 
Tag. Item um bie ſechſte Stunde fteigen gleihermaken alle zum Grabesraum 
hinab. ... Gerade jo wie zur jechiten Stunde wirb e8 wieder um bie neunte ge: 
halten. Um bie zehnte Stunde aber (die fie hier Licinifon nennen, denn wir jagen 
Lucernare) verfammelt fi die ganze Menge beim Grabesheiligtum; es werben alle 
Leuchter und Kerzen angezündet, und es wird ein unabjehbares Lit. Das Licht 
wird aber nicht von außen herbeigebradht, ſondern aus ber inneren Grotte hervor— 
gereicht, wo bei Nacht und Tag immer die Ampel brennt, d. 5. zwiſchen ben Gittern: 
es werden nun aud die Pfalmen beim Lichtanzünden (psalmi lucernales) gebetet 
und noch längere Antiphonen. Siehe, und dann wird der Bifchof gemahnt und fteigt 
herab und fit oben (in der oberen Kirche), und auch die Priefter an ihren Plätzen: 
eö werben die Hymnen und Antiphonen gebetet. Und wenn fie nad dem Gebraud) 
zu Enbe gebracht find, erhebt fich ber Biſchof und ftellt fi vor bas Gitter, d. h. vor 
die Grotte, und einer ber Diakonen macht die Kommemoration für alle, wie es Sitte 
zu fein pflegt. Und während ber Diafon die Namen ber Einzelnen ſpricht, ſtehen 
zahlreihe Kinder da und antworten immer: Kyrie eleyfon, was bei uns heißt: Er- 
barme di, Herr, und ihres Aufes ift fein Ende." 


Der ganze Chordienft, wie er fih zu Jerufalem feit den Zeilen der 
Apoftel entwidelt Hatte — die Liturgie trug den Namen des Hl. Jakobus —, 
beſitzt ſchon alle Grundzüge der fpäteren Ausbildung. Nur der Lektionen 
wird keine ausdrüdlihe Erwähnung getan. Sonft beftehen alle Horen aus 
Palmen, Antiphonen und Hymnen und werden mit Berfifel und Oration 
abgeichloffen. Der Chordienft vor dem Hahnenſchrei entjpricht offenbar ber 
Matutin mit den Qaudes, der zweite am Morgen mit der daran ſich ſchließenden 
Meſſe der jeigen Prim und Terz, der dritte (hora sexta) der Sert, der vierte 
(hora nona) der jeßigen Non, der fünfte (hora decima) „beim Anzünden der 
Lichter“ der Veiper und der fih daran fließende nächtliche Dienft dem Com— 
pletorium. Was Silvia mit der Meffe meint, die auch beim Wbendgottes- 
dienst erwähnt wird, ift zweifelhaft, da fie diejelbe nicht von der am Morgen 
unterſcheidet; jedenfalls ift das Wort nicht im heutigen Sinne zu verftehen. 

Daß das liturgifhe Stundengebet aus den Klöftern des Orients ſchon 





Liturgiſche Hymnendichtung. Der bi. Ambrofius. 129 


längſt aud nad Rom gedrungen und dajelbft im Brauch war, zeigen die 
Briefe des Hi. Hieronymus an Laeta und an Demetriad, Die bornehme 
Patrizierin Laeta mahnt er, ihrer Tochter nicht eine feine, geledte, modijche 
Zofe zu halten, jondern eine ernfte, treue, alte Magd, die fie „durch ihr 
Beiſpiel gewöhne, nachts zum Gebet und Pfalmengefang aufzuftehen; in der 
Frühe die Hymnen zu fingen, zur dritten, jechften und neunten Stunde 
als Kämpferin in den Reihen zu ftehen und beim eben angezündeten Lämpchen 
das Abendopfer darzubringen“ 1, 

Als den erjten Hymnendichter des Abendlandes nennen Hieronymus 
und Iſidor von Sevilla den Hl. Hilarius von Poitiers, welcher während 
feiner Verbannung im Orient ſyriſche und griechiſche Hymnenpoefie kennen 
fernte und, davon angeregt, ſelbſt ein Hymnenbuch verfahte?. Der dreizehnte 
Kanon des vierten Konzils von Toledo (663) bezeugt, dab Lieder daraus 
noch im fiebenten Jahrhundert beim Gottesdienft gefungen wurden. Drei 
längere Fragmente find erſt in neuerer Zeit von Gamurrini entdedt und 
1887 herausgegeben mworden?. Zwei davon find abecedariſch angelegt und 
weifen jhon dadurh auf morgenländiihe Einwirkung Hin. Der jchöne 
Pfingſthymnus Beata nobis gaudia, fowie der Hymmus Lucis largitor 
splendide, welche ihm früher zugejchrieben wurden, werden ihm von der 
neueren Kritik abgeftritten, obwohl nicht gerade mit durchſchlagenden Gründen, 
Das zweite Fragment, ein Lied auf die Taufe einer Frau, ſchildert in den 
vorderen Strophen den Sieg Ghrifti über den Tod in einer Weije, die ſtark 
an die Dichtungen des Hl. Ephräm erinnert. Der gelegentliche Charakter des 
Gedichts wie die Länge der beiden andern ſcheinen eher dafür zu jprechen, 
dag Hilarius fie nicht gerade zum liturgifchen Gebraud) verfaßte. Als eigent- 
liher Vater des liturgiſchen Hymnengeſangs galt denn auch ſchon im chriſt— 
lihen Altertum nicht er, jondern der Hl. Ambrojiust. 


ı Epist. CVII. n.9 (Migne, Patr. lat. XXII 875). — An Demetrias jchreibt 
er: Praeter psalmorum et orationis ordinem, quod tibi hora Tertia, Sexta, Nona, 
ad Vesperam, Media nocte et Mane semper est exercendum, statue quot horis 
Sanctam Scripturam ediscere debeas (Epist. CXXX, n. 15; Migne a. a. ©. 
XXI 1119). 

® Hieron., De script. eccl. c. 100 (Migne a. a. DO. XXIII 701); In Epist, 
ad Galat. 2 (Migne a. a. DO. XXVI 355). — Isid., De ofl. ececl. lib. 1, e. 6. 

»S. Hilarii Tractatus de mysteriis et hymni etc. Quae inedita ex codice 
Arretino deprompsit loh. Franeise. Gamurrini, Romae 1887. — ®ie brei 
Hymnen abgedrudt und erläutert bei G. M. Dreves, Das Hymnenbud bes hl. Hi— 
lorius, in Zeitjchrift für kath. Theologie XII, Innsbruck 1888, 358—369. — Vgl. ebb. 
XVI (1892) 315 316. — Schlojjer, Die Kirche in ihren Liedern 12, Freiburg 1863, 
34. — Paulin. Mediol., Vita S. Ambrosü n. 18 (Migne a. a. ©. XIV 31). 

G. M. Dreves, Aurelius Ambrofius, „der Vater des Kirchengejanges”. 
Eine hymnologiſche Studie, freiburg i. ®. 1898. — Biraghi, Inni sinceri e 
<carmi di S. Ambrogio, Milano 1862. 

Baumgartner, Weltliteratur. IV. 3. u. 4. Aufl. 9 


130 Neuntes Kapitel. 


Wie der ſtaatsmänniſch veranlagte Biſchof von Mailand zum liturgifchen 
Dichter wurde, darüber haben wir Nachricht von ihm jelber, wie auch von 
dem hi. Auguftinus, der damals in Mailand weilte. Es war in der Kar— 
woche des Jahres 385, als die arianishe Kaiferin-Mutter Juftina im Namen 
ihres Sohnes Balentinian IL. die Katholiken zwingen wollte, den Arianern 
eine neugebaute herrlihe Bafilifa herauszugeben. Aber Ambrofius zog in 
der Frühe des Dienstags mit dem treuen Volle in die Bafilika und ließ fi 
darin zwei Tage und Nächte belagern. Um nicht aus der kirchlichen Ge— 
meinſchaft ausgejhloffen zu werden, traten die katholiſchen Soldaten zum 
Bolfe über, und die arianishen Germanen waren nicht zahlreidh genug, 
um die Einſchließung fortzufegen. So wurde der faiferliche Befehl zurüd- 
genommen, und die Katholiken konnten im Frieden die übrigen Feittage feiern. 
Während der zwei Tage und Nächte jener Gefangenihaft verfiel Ambrofius 
auf den Gedanken, die langen, angftvollen Stunden damit zu kürzen, daß 
er bon zwei Ghören abwechſelnd Pjalmen und mehrere von ihm verfaßte 
Hymnen fingen ließ. 

„Es wachte“, erzählt der hl. Auguftin im feinen „Belenntniffen“, „das fromme 
Volt in der Kirche, bereit, mit feinem Biſchof, deinem Diener, zu fterben. Dort lebte 
meine Mutter, beine Magd, in Sorgen und Wachen immer voran, ganz dem Gebete, 
Ih, von ber Wärme beines Geiftes noch nicht erglüht, ward doch durch das Staunen 
und die Erregung ber Stadt aufgerüttelt. Damals wurde die Einrichtung getroffen, 
dab Hymnen und Pjalmen nad der Sitte ber orientalifchen Länder gefungen werben 
follten, Damit das Bolf nicht burch die traurige Stimmung niedergebeugt werde; und 


biefe Einrihtung wurbe bis heute beibehalten, indem viele, ja faft alle Herden der 
Deinen dur den übrigen Erbfreis hin fie nahahmten.“ ! 


Es ift faum anzunehmen, daß der hl. Ambrofius jeine erften Hymnen 
in jener plößlihen Bedrängnis impropifierte. Er muß eine Anzahl derjelben 
Ihon verfaßt und mit Sängern eingeübt haben. Aber fie waren dem Ver: 
ftändnis und Geihmad des Volfes angepaßt und konnten fo tröftend und 
erhebend auf dasjelbe einwirken. Da die Arianer ihn aber des Zauber: 
anflagten, erwiderte er ihmen in einer während jener Tage gehaltenen Predigt: 

„Sie jagen au, das Volk ſei durch die Zaubereien meiner Hymnen betrogen. 
Auch das leugne ich gar nidt. Es liegt ein großer, übermächtiger Zauber darin. 
Denn was ift mächtiger als das Belenntnis der Dreifaltigkeit, die täglih durd den 
Mund des ganzen Volkes gefeiert wird ? Um die Wette bemühen fie fih, den Glauben 
zu befennen, den Vater und den Sohn und den Heiligen Geift in Verſen zu preifen. 
So find alle zu Lehrern geworden, die faum hätten Schüler jein können.” * 


Bier Hymnen, deren jichere Beglaubigung durch den Hl. Auguftin auch 
die zweifelfüchtigfte Kritik verftummen macht, entfalten ganz den Zauber, der 





! Confessiones IX 7 (Migne, Patr. lat. XXXII 770). 
? Sermo contra Auxentium n. 84 (Migne a. a. ©. XVI 1017 1018). 


Liturgifhe Hymnendichtung. Der hl. Ambrofius. 131 


in jenen Worten bezeichnet ift. Sie bejiten reihen dogmatiſchen Gehalt in 
fnapper, lichtvoller, echt vollstümliher Form, faßlich und leicht jangbar, 
nicht zart oder fühlih, aber voll kräftigen, männlichen Gefühle. „Seine 
Hymnen gleihen den Schriftzügen einer altchriſtlichen Injchrift auf marmorner 
Tafel; mit nur wenigen furzen Verſen verftehen fie tiefe und dauernde 
Eindrüde zu erzielen. Da ift ſcheinbar fein Feuer zu bemerken, und doch 
brennt es verborgen im Innern; da jprühen keine Flammen, und doch fühlt 
man die Glut nüchterner, ernfter, überirdischer Begeifterung. Mehr als die 
Anmutungen zärtliher Frömmigkeit fommen in ihnen die Kraft des Kreuzes, 
der Mut des Glaubens, der Sieg ded Evangeliums über die Welt zum 
Ausdruck.“ 1 

Als einer der jhönften Hymnen gilt der Morgendymnus Aeterne 
rerum conditor, für die erfte Morgenwache beim Hahnenjchrei beftimmt 
und daher au wohl das „Lied vom Hahnenſchrei“ zubenannt. 


Aeterne rerum conditor, 
Noctem diemque qui regis 
Et temporum das tempora, 
Ut alleves fastidium; 


Praeco diei iam sonat, 
Noctis profundae pervigil, 
Nocturna lux viantibus, 
A nocte noctem segregans, 


Hoe execitatus Lucifer 
Solvit polum caligine, 
Hoc omnis erronum chorus 
Vias nocendi deserit. 


Hoc nauta vires colligit, 
Pontique mitescunt freta, 
Hoc ipse petra ecclesiae 
Canente culpam diluit. 


Surgamus ergo strenue, 
Gallus iacentes excitat, 
Et somnolentos inerepat, 
Gallus negantes arguit. 


Gallo canente spes redit, 
Aegris salus refunditur, 
Muecro latronis conditur, 
Lapsis fides revertitur, 


lesu, labantes respice 

Et nos videndo corrige, 
Si respieis, lapsus cadunt 
Fletaque culpa solvitur. 


! Biraghi, Inni sinceri 8. 


O em’ger Schöpfer aller Welt, 
Der Tag und Nacht regieret, der 
Jedweder Zeit gibt ihre Zeit, 
Daß er dem Überdruffe wehr'. 


Der Herold ſchon des Tages ruft, 
Des nächt'gen Dunkels treue Wacht, 
Des jpäten Wandrers freundlich Licht, 
Abſcheidend von der Nacht die Nadıt. 


Sein Ruf erwedt den Mlorgenftern, 
Die Finfternis vom Himmel weicht, 
Sein Ruf verfheudht die dunkle Schar, 
Die auf dem Pfad bes Böſen ſchleicht, 


Sein Ruf des Schiffers Kraft belebt, 
Es mildert fi) der Brandung Wut, 

Sein Ruf macht, dab der Kirche Fels 
Abwäſcht die Schuld mit Zährenflut, 


Drum raſch vom Lager euch erhebt, 
Der Hahnenihrei vom Schlummer wedt, 
Schilt, die no jchlafestrunten find, 
Der Hahnenfhrei Verleugner jchredt. 


Der Hahnenihrei der Hoffnung wintt, 
Den Kranken Lind'rung er gewährt. 
Scheu birgt der Räuber feinen Dolch, 
Und ber Gefall’nen Glaube fehrt. 


Sieh, Herr, uns, wenn wir wanfen, an, 
Straf uns mit einem Blid der Huld, 
Ein Blick, und alle Sünde weidt, 

Und Zähren fühnen jede Schuld, 


9* 


132 Neuntes Kapitel. 


Du, Licht, in unfere Herzen leucht', 
Vertreib daraus bes Geiftes Nacht, 
Dich preife unfer erfter Laut, 

Dir fei dies Morgenlob gebradt !, 


Tu, lux, refulge sensibus 
Mentisque somnum discute, 
Te nostra vox primum sonet, 
Et ora solvamus tibi. 


Den größeren Teil des Hymnus bilden jo anschauliche, kurze Bilder 
aus Natur und Menjchenfeben, daß man meinen könnte, ein profanes 
Morgenlied zu hören, riefen uns nicht die Eingangsfirophen in die erhabene 
Sphäre des Göttlihen empor und wäre nicht die köſtliche Morgenſchilderung 
fo innig mit der Erinnerung an den Fall und die Belehrung Petri ver: 
toben, daß fie fih gar nicht davon lostrennen läßt. Der Hahn, der erjehnte 
Verkünder des Tages, wird durch jenen evangeliichen Borgang zum Symbole 
Chriſti, des Verfünders und Bewirkers des geiftigen Tages, und der gemütliche 
Morgengruß wird zum innigften Morgengebet um Gnade, Licht und Heil. 
Das natürlih Schöne ift getragen und durchtränkt von den Ideen des über: 
natürlichen Lebens. 

Bon ähnliher Schönheit ift das Lied für die zweite Gebetäftunde (in 
aurora), nur dab hier das Morgenrot ſelbſt als Symbol des Heilandes 
erſcheint: 


Splendor paternae gloriae, 
De luce lucem proferens, 
Lux lucis et fons luminis, 
Diem dies illuminans, 


Verusque sol, illabere 
Micans nitore perpeti 
lubarque Sancti Spiritus 
Infunde nostris sensibus, 


Votis vocemus et patrem, 
Patrem perennis gloriae, 
Pater potentis gratiae 

Culpam releget lubricam; 


Informet actus strenuos, 
Dentem retundat invidi, 
Casus secundet asperos, 
Donet gerendi gratiam ; 


Mentem gubernet ac regat 
Casto, fideli corpore, 
Fides calore ferveat, 
Fraudis venena nesciat. 


O Abglanz von bes Waters Pradt, 
Der und vom Lichte Licht gebradt, 
O Licht vom Lichte, Lichtesquell, 

Tag, der den Tag uns madet hell, 


Du wahre Sonne, deren Licht 

In Ewigkeit fih mindert nicht, 
Gieh deines Heil’gen Geiftes Strahl 
In unfre Herzen allzumal, 


Laßt und zum Bater gleicherweif, 
Zum Vater flehn, dem ew’ger Preis, 
Zum Vater, deſſen Macht und Huld 
Halt’ Schande fern von uns und Schuld; 


Uns führe auf der Tugend Bahn, 
Und ftumpfe ab des Neides Zahn, 
Uns fteh’ in ſchweren Stunden bei, 
Zu heil’gem Werfe Gnade Icih'; 


Er lenke unfern Sinn allzeit, 
Verleih’ dem Leibe Züdhtigkeit, 

Fady’ in uns an bes Glaubens Glut, 
Nehm’ uns vor aller Lift in Hut, 


ı Überfept von G. M. Dreves, Des hl. Ambrofius Lied vom Hahnenfchrei 


(Stimmen aus Maria-Laach LI [1896] 86-97). 


Liturgiſche Hymnendichtung. Der hi. Ambrofius, 138 


Christusque nobis sit cibus, Daß unsre Speife Ehriftus fei, 
Potusque noster sit fides, Der Glaube Tranf und Arzenei, 
Laeti bibamus sobriam Daß uns erfül’ mit Fröhlichkeit 
Ebrietatem Spiritus. Des Geiftes Heil’ge Trunkenheit. 
Laetus dies hic transeat, Der Tag vergeh’ ohn' Sorg und Not, 
Pudor sit ut dilaculum, Die Scham fei wie das Morgenrot, 
Fides velut meridies, Der Glaube wie bes Mittags Licht, 
Crepusculum mens neseiat. Doch Abend werd's im Herzen nidt. 
Aurora cursus provehit, Das Morgenrot fteigt höher ſchon, 
Aurora totus prodeat, Ganz Morgenrot, geh’ auf, o Sohn, 
In Patre totus Filius Im Vater ganz der Sohn und ganz 
Et totus in Verbo Pater. Im Sohn bes Vaters ew’ger Glanz !. 


Außer dem Morgenliede (Aeterne rerum conditor) verbürgt das 
Zeugnis des Hl. Auguftin nod die Öymnen Deus creator omnium, Jam 
surgit hora tertia und das Weihnachtslied Intende, qui regis Israel. 
Biraghi und nah ihm G. M. Dreves haben übrigens nachgewieſen, daß 
bon den einundvierzig früher dem hl. Ambrofius zugejchriebenen Hymnen 
ihm außer jenen vier noch jechzehn andere zugeſprochen werden müffen oder 
zum wenigften können, weil fie durchaus das Gepräge feines Stiles tragen 
und au äußere Umftände auf feine Autorſchaft hinweiſen?. Was die äußere 
Technik betrifft, find feine Hymnen ſämtlich in jambiſchen Dimetern gefchrieben, 
in vierzeilige Strophen gegliedert und beftehen gewöhnlich aus acht ſolchen 
Strophen (32 Berjen), jo daß fie zwiſchen allzu großer Länge und Kürze 
ein praftifches, volksmäßiges Mittelmaß innehalten. „Was von der größten 
Bedeutung“, bemerkt Ebert, „das Metrum ift mit aller Sorgfalt beobachtet, 
die Cuantität genau gewahrt, der Hiatus durchaus vermieden, felbit der 
Spondeus nur an erfter und dritter Stelle zugelaffen.“ Einige Freiheiten 
hat fi der Dichter indes doch erlaubt, und es braudt ein Hymnus ihm 
nicht gleih rundweg abgeiprochen zu werden, wenn jene Strenge der Form 
nicht überall eingehalten ift. Die Zartheit, Lieblichleit und Fülle jpäterer 
Homnendichter Hat Ambrofius nicht. 


ı fberfegt von G. M. Dreves, Des HI. Ambrofius Lied vom Morgenrot 
(Stimmen aus Maria⸗Laach LII [1897] 241— 258). 

2 Nur dier Hymnen nehmen als echt an Ebert (Gefchichte der hriftl.-Int, 
Literatur I? 142); Huemer (Unterfuhungen über den jambiiden Dimeter, Wien 
1876); 3. Rayfer (Beiträge zur Geſchichte und Erklärung der älteften Kirdhen« 
hymnen?, Paderborn 1881—1886); Ihm (Studia Ambrosiana, in Fledeifens 
Jahrbuch für Hajfifhe Philologie XVII, Leipzig 1890, 1—124); M. Manitius 
(Geihichte ber lateiniſchen Poefie 139). — Die Dlauriner nahmen zwölf Hymnen 
als echt an. Für die Echtheit einer größeren Zahl außer Biraghi und Dreves 
auch S. Bäumer (Gefhichte des Breviers 184 U. 2). — Bal. A. Steier, Unter 
fuchungen über die Echtheit der Hymnen des Ambrofius (Jahrbuch für klaſſ. Philol., 
Supplementbd, Leipzig 1903, 549—662). 


134 Neuntes Kapitel. 


„Man hat das Gefühl“, fagt der anglifanishe Erzbiſchof Trend !, 
„als begegne man in ihnen einer gewiffen Kälte, mit welcher der Dichter 
mehr über jeinem Gegenftande ſchwebt, ftatt mit ihm zu verſchmelzen. Auch 
das Fehlen des NReimes, für welchen ein ſchlechter Erſatz in dem ftändigen 
Miederfehren eines Metrums liegt, das gewiß nicht zu den reidheren Formen 
der lateinifhen Lyrik zählt und bei dem für angenehme Brechung oder 
wechſelnden Schluß der Zeilen jo gut wie nicht gejorgt if, — das Fehlen 
des Neimes, ſage ich, vermehrt noch unfere Mikftimmung, fo dat Ohr und 
Herz fich gleicherweile unbefriedigt fühlen möchten. Allmähli indes lernt 
man die Größe diefes ſchmuckloſen Metrums fühlen und die tiefe Weisheit 
des Dichter bewundern, der, wenn auch vielleicht mehr inftinktiv als bewußt, 
dasjelbe gewählt hat. Allmählih gewinnt man das richtige Berftändnis für 
das unbegrenzte Vertrauen in die erhabene Größe ſeines Vorwurfs, welches 
den Dichter mit Zurüdweifung jedes andern das einfachſte und durchſichtigſte 
Gewand des Gedanken: wählen läßt. Es ift, als hätte ihm, indem er dem 
lebendigen Gott einen Altar errichtet, das Gebot des Leviticus vorgeſchwebt, 
ihn zu errichten aus unbehauenen Steinen, die niemals die Schärfe des 
Meißels berührt hat. Die großen Geheimniffe des Glaubens find in feinen 
Augen auch in dem ſchmucloſeſten Ausdrud jo mächtig, die tiefften Gefühle 
der Seele zu weden, daß jeder Verſuch, fie auszuftaffieren, fie in bewegliche 
Morte zu Heiden, ihm als ein höchſt überflüffiges Bemühen erjcheinen muß. 
Die Glut der Leidenihaften ift da, aber verborgen und wie zugededt, ein 
euer, das im Innern und nad) innen brennt, die Flamme einer männliden, 
ruhig⸗ernſten Begeifterung. Aud dürfen wir nicht überjehen, wie ſehr dieje 
Lieder der Zeit und den Umftänden ihres Entftehens angepaßt find, einen wie 
bezeichnenden Ausdrud der Glaube, der im Kampfe lag mit der Welt und 
im Begriffe war, zu fiegen über deren Mächte, in Hymnen fand mie diefe, 
Hymnen, in denen nichts Weichliches, in denen vielleicht wenig Zartes zu 
finden, aber ftatt deilen feljenhafte Stärle, der alte römiſche Stoizigmus, 
umgewandelt und verflärt zu jenem edleren, hriftlihen Heldentum, das die 
Welt herausforderte und die Welt befiegte.“ ® 





ı Richard Chenevix Trench (Archbishop of Dublin), Sacred Latin 
Poetry *, London 1874, 87 f. — Bl. 6.M. Dreves, Aurelius Ambrofius, „ber 
Vater des Kirchengeſanges“ 3 4. 

2 Das Tedeum, das nach mittelalterliher Überlieferung im Wechfelgefang 
der beiden Heiligen, Ambrofius und Auguftinus, zu ftande fam, wirb in vielen 
Handihriften einem Biſchof Nicetas zugejchrieben. Es ſcheint etwa in den Jahren 
400 -—430 entftanden zu fein. G. Morin fieht in Nicetas den Biſchof Nicetas von 
Nemefiana in Dacien (im heutigen Serbien), denſelben, an welchen der hl. Paulin 
von Nola fein fiebzehntes Gedicht richtete (Revue Bönedictine 1890, 151; 1894, 
49 f 837 f; 1895, 886 f; 1898, 99 f). Aus einem Briefe des Biihofs Cyprian von 
Zoulon an den Biihof Marimus von Genf (um 525) erhellt, daß das Tedeum in 


Zehntes Kapitel. Aufonius und Paulinus von Nola. 135 


Zehntes Kapitel. 
Aufonius und Yaulinus von Nola. 


Die Selbftändigkeit, mit welcher der hl. Ambrofius fih den Feſſeln 
des heidniſchen Klaffizismus entrang und der riftlichen Lyrik neue Bahnen 
eröffnete, erwedt um jo mehr Bewunderung, wenn wir auf die Verhältniffe 
zurüdbliden, in welchen fih damals die allgemeine Bildung nod bewegte, 
auf die Zähigfeit, mit welder nod ausgedehnte Kreife an heidniſchen An— 
ihauungen und liberlieferungen feithielten, auf die politischen Wirren, welche 
den früheren Mittelpunften teilweije ihren Einfluß entzogen hatten, auf die 
geiftige Gärung, aus der fi die chriftlich-lateinifche Literatur herausarbeiten 
mußte. Am auffallendften zeichnen fich die Hauptgegenjäbe in zwei Dichtern, 
die beide jhon dem Ghriftentum angehörten, der eine aber als Dichter in 
einem weltlichen, halbheidniihen Humanismus befangen blieb, während der 
andere zu einem der Bahnbrecher des mittelalterlihen Möndtums und ber 
religiöfen Legendenpoejie geworden iſt. Der eine ift Aufonius, der andere 
Paulinus von Nola. 

Mährend noch zu Giceros Zeit Rom jelbft und Athen die Hauptfiße 
der Bildung waren, Marjeille nur als eine Inſel voll griechiſcher Kultur 
in einem Ozean von Barbarei galt, erftanden in der Saijerzeit, ſchon von 
Auguftus an, zahlreihe Schulen in Afrita, Spanien und bejonders Gallien. 
Rhetorik und Rechtskunde wurden an denjelben wie in Rom vorgetragen, 
und junge Beamtenjöhne wie Söhne reiher Eingeborener konnten fich daſelbſt 
vollftändig für die juriftiich-militärische Beamtenlaufbahn vorbereiten. Unter 
den galliihen Schulen genofjen Bordeaur (Burdigala), Autun (Augusto- 
dunum) und Trier (Treviris) bejondern Rufes. Wie Konftantius Chlorus, 
fo ließ fih auch fein Sohn Konftantin d. Gr. die Förderung diefer Schulen 
ſehr angelegen fein. Die Ärzte, Grammatifer und Rhetoren wurden von 
den Munizipalbeamtungen frei erklärt, ihnen dagegen die mit Privilegien 
verbundenen Ehrenämter zugänglich gemadt. Sie wurden durch befondere 
Berfügungen gegen willkürliche Belangungen bei Gericht wie gegen perjönliche 
Bedrüdung und Beleidigung geſichert. Auh waren fie vom Kriegsdienſt, 
von Einquartierung und andern Laften befreit, damit fie um jo ungehinderter 
fi ganz dem Unterricht widmen könnten, Kaiſer Gratian ftellte fie jogar den 
höchſten Zivil- und Militärbeamten gleich und ließ ihnen anſehnliche Spenden 


Toulon damals ſchon täglich gebetet wurde (cod. 202, fol. 113 im Ardiv bes 
Metropolitantapitel3 von Köln. Monum. Germ. Hist. Epistulae III 434—4386). 
2gl. Art. „Te Deum* (von Y. Wordsmworth) bei J. Julian, Dictionary of 
Hymnology, London 1892, 1119—1134 1547, — R.E. Thompson, The origin 
and structure of the The Deum (The Andover Review XIV [1890] 52—63). 


136 Zehntes Kapitel. 


an Korn, Wein und Öl zulommen. Wie fi Diokletian den Rhetor Cactantius 
von Afrika her nad Nikomedien verjchrieb, jo ließen jpätere Kaiſer Lehrer der 
Beredfamteit aus dem Drient, aus Rom und Spanien nah Gallien fommen 1, 

Diefe Rhetoren verfahen bis zu einem gewiflen Grade aud das Amt 
offizieller Publiziften, welche bei feierlichen Anläffen die großen Lobreden auf 
die Kaiſer hielten, die dann in zahlreihen Abjchriften im ganzen Reiche 
verbreitet wurden. So waren Eumenius don Autun und Nazariuß die 
Lobredner des großen Konftantin, Claudius Mamertinus derjenige Julians, 
Drepanius Pacatus verherrlichte Theodofius I., Aurelius Symmachus die 
Kaifer Valentinian I. und Gratian. 

Zu Dielen faiferlihen Lobrednern, wohlbeftallten und privilegierten 
Rhetorikprofefforen gehört au Decimus Magnus Aujonius, 309 oder 310 
in Bordeaur geboren. Sein Vater Julius Aufonius war Arzt, ein praktiſcher 
und genügjamer Mann, der das hohe Alter von achtundachtzig Jahren 
erreichte?. Noch zu feinen Lebzeiten widmete ihm der Sohn die Berfe: 


Cura dei, placidae functus quod honore senectae 
undecies binas vixit olympiades, 

omnia quae voluit qui prospera vidit, eidem 
optavit quidquid eontigit ut voluit: 

non quia fatorum nimia indulgentia, sed quod 
tam moderata illi vota fuere viro. 


Gott ließ friedlich den Greis zweimal elf Olympiaden 
Schauen, im Alter noch ftets reihlih mit Ehren gefrönt. 

Was er nur immer begehrte, das ſah er glüdlich gelingen, 
Und fo, wie er erjehnt, ſah er fein Wünfchen erfüllt: 

Nicht dab allzu geneigt das Schidjal ihm ſchmeichelte, fondern 
Meife hat ber Dann all feine Wünfche beſchränkt?. 


Die Mutter Aemilia Aeonia ftammte aus einer vornehmen Aeduer— 
Familie. Ihr Bruder Aemilius Magnus Arborius war ein jehr angejehener 
Rhetor an der Schule von Touloufe. Ihm wurde der Neffe zu weiterer 
Ausbildung übergeben, nahdem er einige Zeit in Bordeaux ftudiert hatte, 
wo ihn Macrinus im Lateiniihen, Romulus, Corinthus und Meneftheus 
im Griedifchen unterrichteten. In der leteren Sprache brachte er es indes 
nicht weit. Auch für die lateinische Rhetorik begeifterte er ſich erft recht unter 
der Leitung feines Onkels in Toulouſe. Seinem Einfluß ift es zuzuſchreiben, 
daß er ſich deffen Beruf, nicht den des Vaters, zur Lebenslaufbahn erfor. 





!A. Thierry, La litterature profane en Gaule au IV* siöcle. Les grandes 
ecoles. — Ausone et Rutilius (Revue des Deux Mondes CV [1873] 793—814). 

® D. Magni Ausonii Opuscula recensuit C. Schenkl, Berol. 1883 
(Monum. Germ. Hist. Auct, Antiquissimi V 2), Prooemium vı vıı 

s Ebd. 41 42. 


Aufonius und Paulinus von Nola. 137 


Er blieb dieſer Wahl treu, als Arborius 330 in das neugegründete Kon: 
ftantinopel berufen wurde, und jeßte feine humaniſtiſchen Studien in Bordeaur 
fort. Nach Vollendung derjelben erhielt er daſelbſt zuerit einen Lehrftuhl 
der Grammatik, dann der Nhetorit und war nebenher aud ala Sachwalter 
tätig. Er vermählte ſich mit Attufia Lucana Sabina, der Toter einer 
vornehmen Bürgerfamilie, die ihm drei Kinder jchenkte, dann aber — ſchon 
ſehr früh — ftarb. 

Dreißig Jahre lebte und wirkte Aufonius als Rhetorikprofeffor in feiner 
Baterftadt, ohne fih durch eine größere literariſche Schöpfung bemerkbar zu 
machen, doch als Lehrer ſehr geſchätzt und angejehen; da wurde er bon 
Kaifer Valentinian I. — etwa um das Jahr 365 — an den Hof nad 
Trier berufen, um die wiflenfchaftliche Erziehung des 353 geborenen Cäſars 
Gratian zu übernehmen. Am Kaiferhofe ward er mit dem römischen Stadt: 
präfeften Aurelius Symmadhus, dem begeifterten Verteidiger des alten Heiden- 
tums, umd andern hervorragenden Perjönlichleiten bekannt. Er ſcheint auch 
in der erflen Zeit feines Trierer Aufenthalts an einem Feldzug wider die 
Alemannen teilgenommen zu haben, in welchem ihm ein kleines Schwaben 
mädchen, Biffula, als Beute zu teil ward. Der jedhzigjährige verwitwete 
Profefjor Hat das artige Puttdhen, das noch einer Amme bedurfte (matre 
carens, nutrieis egens) in einigen Gedichtchen bejungen, die, mit ihrer 
doppelten pedantiihen Vorrede, mehr komiſch als poetiſch wirken !, 

Delicium, blanditiae, ludus, amor, voluptas, 
barbara, sed quae Latias vincis alumna pupas, 


Bissula, nomen tenerae rusticulum puellae, 
horridulum non solitis, sed domino venustum. 


Die Gunft des Kaiſers wie des Prinzen erwarb fih Aufonius indes 
in ungewöhnlihem Grade. Seine ganze Familie wurde mit Ehren und 
Mürden überjhütte. Sein Sohn Heiperius wurde zum Profonjul von 
Afrita, dann zum Praefectus praetorio für Ytalien, Jlyrien und Afrila 
ernannt, fein Schwiegerjohn Thalaſſius zum Prokonſul von Afrika, fein greifer 
Dater zum Präfelten von Jllyrien, fein Neffe Arborius zum Praefectus 
urbi, fein Schüler Baulinus zum Konſul. Ihm felbft wurde 378 die Präfektur 
von Gallien und 379 die Konſulwürde zu teil. Als fein kaiſerlicher Schüler 





ıM. Earriere (Die Kunft im Zufammenbang der Kulturentwidlung II® 
632) hat ſich dennoch jehr daran entzädt: „Ein alemanniſches Mädchen warb ihm 
zur Sklavin geſchenkt, ſchwang fih aber zur Gebieterin feines Herzens auf; er zieht 
die Schönheit und den Viebreiz der deutſchen Frauenwelt, das blonde Haar, das 
blaue Auge, den Römerinnen vor und befingt die Rofen und Lilien, die auf Biffulas 
Antlig blühen.“ — „Auh Bifjula war Putte (pupa)*, jagt dagegen Th. Birt 
(Deutfhe Rundfhau LXXIV [1893] 377), „jene Bifjula, der die moderne Romans 
literatur zu einer furzen Auferftehung hat verhelfen wollen.” 


138 Zehntes Kapitel. 


Gratian 383 ermordet wurde, war er noch in Trier, folgte indes bald feinem 
Sohne Hejperiu nah Bordeaur und brachte den Reſt feines Lebens in 
vergnügter Muße teild in diefer Stadt, teild in den Landhäufern zu, bie 
er ſich infolge der früheren kaiſerlichen Gunft an den Ufern der Garonne hatte 
erwerben können. Er beihäftigte ji mit Studien und Poeſie, forrefpondierte 
mit alten Fremden und ergößte fih an den Freuden des Landlebens. 
Sein Todesjahr ift nicht genau bekannt; dody gehen die Andeutungen feiner 
Briefe nicht über das Jahr 393 hinaus, Er ſcheint aljo über 83 Jahre 
alt geworden zu fein. 

Eine wirklich bedeutende Dichtung größeren Umfangs hat Aufonius nicht 
binterlaffen. Seine Werklein (Opuseula) jegen ſich aus lauter gelegentlichen 
Kleinigkeiten zuſammen, bon denen die meiften erft während und nad 
feinem Trierer Aufenthalt entftanden find !, 

Seine geographiihe Weltanfhauung hat er in einem Kranze fleiner 
Gedichte niedergelegt, in melden er die Hauptjtädte des damaligen Römer: 
reih8 nad ihrer Bedeutjamfeit aufzählt und kurz charafterifiert. Die erften 
fünf find: Rom, Stonftantinopel, Karthago, Antiohien und Alerandrien. 
Dann folgt Trier mit den Verſen: 


Gallien heifchet mein Lob ſchon längft, das waffengemwalt’ge, 
Und ber Trierer Stadt, die thront nicht ferne des Rheines. 
Sicher ruhet fie dort gleihwie im Schoße bes Friedens, 

Der die Kräfte des Reiches ernähret und leidet und waffnet. 
MWeithin dehnt fi der SHranz der Mauern über die Hügel; 
Breiten, ruhigen Stroms zieht dran die Mojel vorüber 

Und bringt Waren herbei aus allen Ländern der Erde?. 


Auf die galliiche Mojelftadt folgen dann Mailand, Capua, Aquileja, 
Vienne, Sevilla, Athen, Catania, Syrafus, Touloufe, Narbonne und endlich 
Bordeaur, des Dichterd Vaterſtadt. Diefe erhält eine etwas weitere Be— 
ſchreibung, aber mit der jchlieglichen Verfiherung, dat Rom dod) alle heimischen 
Städte übertreffe, daß er Bordeaur liebe, Rom verehre, dort Bürger, in beiden 
Konjul jei, dort feine Wiege, hier feinen kuruliſchen Sefjel ftehen habe: 

! Ausgaben von B. Girardini (ed. princeps), Venedig 1472; T. Pul« 
mann, Antwerpen 1568; 3. Scaliger, Leiden 1575; €. Vinetus, Borbeaur 
1580; 3. Zollius, Amfterdam 1669; J. B. Souday, Paris 1780; Ed. Bi- 
pontina (1785); Migne, Patr. lat. XIX 823-958; €. Schenfl (Monum. 
Germ. Hist. Auct. Antiquissimi V 2), Berlin 1883; R. Peiper, Leipzig 1886. 
— Biographifhes: G. Heyne, Censura ingenii et morum Ausonii, Gotting. 1805. 
— J. C. Demogeot, Etudes historiques et litt6raires sur Ausone, Bordeaux 
1838. — Bacmeifter, Wemanniihe Wanderungen I, Stuttgart 1867. — 
P.G.Deydon, Un poöte Bordelais: Ausone, Bordeaux 1868. — G. Raufmann 
in $. Raumers Hiftor. Taſchenbuch 1869. 

® Ed. Schenkl.a. a. O. M. 


Aufonius und Paulinus von Nola, 139 


Diligo Burdigalam, Romam colo, eivis in hac sum, 
Consul in ambabus, cunae hie, ibi sella ceurulis ’, 


Ein zweiter Kranz von Gedichten (Epicedion in patrem, De here- 
diolo, Liber protreptieus in nepotem, Genethliacum ad Ausonium 
nepotem und Parentalia) macht uns mit der gejamten Familie, Verwandt: 
haft und Gevatterfhaft des galliihen Rhetors bekannt. Die Parentalia 
allein umfaſſen zweiunddreigig Nummern und widmen aud den Großmüttern, 
Zanten, Großtanten und Enfelinnen je ein aus altklajfiihen Erinnerungen 
gedrechjeltes Kompliment ?. 

Ein dritter Kranz von fiebenundzwanzig Gedichten feiert die Profefforen 
von Bordeaur, bei welchen der Dichter feinen Unterricht genoffen oder mit 
welden er ſonſt in Verbindung ftand. Es finden fi darunter mehrere 
der angejehenften Rhetoren und Literaten jener Zeit, wie Tiberius Victor 
Minervius, der zeitweilig au in Rom und Sonftantinopel wirkte, — 
Latinus Alcimus Alethius, der Lehrer Kaifer Julians, — des Dichters 
Oheim Arborius, der in Touloufe und Spanien und zulegt in Konſtantinopel 
tätig war, — Attius Paternus, deffen Wirken in Rom der hl. Hieronymus 
lobend erwähnt, — Attius Tiro Delphidius, den Ammian ala hervor: 
ragenden Redner bezeihnet, — Alethio Minervius. Von den griedijchen 
Profefforen Romulus, Korinthus, Pyrrhus, Meneftheus meldet er, daß fie 
jehr fleißig gewejen, aber mit geringer Frucht; daß er ed aber jelbit im 
Griechiſchen nicht weit gebracht, jchreibt er feiner eigenen Ungeſchicklichkeit und 
Nachläffigleit zu. Eine eigentliche Charakteriftif der verſchiedenen Perſönlich— 
feiten gibt Aufonius nicht; die Erinnerungsverje halten fih in allgemeinen 
Zügen des Lobes und der Bewunderung. Der Kranz Ichließt fih um den 
Poeten, der nad feinem Ableben aud ein Pläbchen in der Reihe der be 
rühmten Profefjoren erhoffte — und wohl nicht das lehte®, 

Auch Fi ſelbſt Hat Aufonius mit einem vierten Eyflus von Gedichten 
bedacht, der aber nit ganz erhalten zu fein ſcheint“‘. Er führt den Titel: 
Ephemeris id est totius diei negotium, aljo etwa „Mein Tagewerk“. 
Das erfte Gedichtchen jchildert fein Erwachen. Er erwadt nicht, wie fein 
großer Zeitgenoffe Ambrofius, ſchon beim Hahnenſchrei, jondern erft, da 
ihon der volle Tag durch die Yenfter bricht und die Schwalbe im Nefte 
raſchelt. Er ißt und trinkt zu viel, drum ſchläft er wie ein Siebenichläfer 
in den Morgen hinein, taub und blind, faft wie der verzauberte Endymion. 
Er ſchilt ſich indes ſelbſt dafür und rüttelt fih mit einer ſapphiſchen Strophe 
aus dem Schlummer. In einigen Jamben wird dann das „Aufftehen“ und 
die „Zoilette” bejchrieben. 


ı Ebd. 103. ® Ebd. 32-55. s Ebd. 55—71. 
Ebd. 3—9. 


140 i Zehntes Kapitel. 


Auf, Burfche, reich die Schuhe mir No bring’ ih Honigkuchen dar. 
Und gib das linnene Gewand, Das Grasbah mit dem Kleinen Herb 
Und was zur Kleidung nötig ift, Sei überlaffen eitlem Wahn. 

Wie du's zum Ausgehn hältft bereit. Ich bete zu dem einen Gott 

Her mit dem frifhen Brunnenquell, Und zu bes höchſten Gottes Sohn, 
Daß ih waſch' Händ' und Augen Har, Mit ihm von gleicher Majeſtät, 
Und öffne mir das Heiligtum, Dem Heil’gen Geifte zugejellt, 
Das keiner äußern Bier bedarf, Und nun beginn ih mein Gebet, 
Denn fromme Worte, reines Flehn, Und zitternd mein Gedanke fühlt 
Das ift der reichſte Gottesdienſt. Ter Gottheit hohe Gegenwart — 
Ih zünde feinen Weihraud an, Wie? Glauben, Hoffen zitterten ? 


63 folgt nun das „Morgengebet”, das in Herametern abgefakt ift, 
da& wir aber, der Genauigkeit halber, in Profa wiedergeben müſſen. 


Allmädhtiger, mir nur durch geiftige Erziehung befannt, 

Bon ben Böfen unerfannt und feinem ber Frommen unbelannt, 

Obne Anfang und ohne Ende, älter als die Zeit, 

Die war ober fein wird, deſſen Form und @eftalt 

Kein Geift erfaflen, feine Zunge ausſprechen kann, 

Welchen zu fchauen und deſſen Gebot gegenwärtig zu hören 

Und zu beffen väterlicher Seite zu ſitzen allein das Recht hat 

Der Schöpfer ber Dinge, die Urſache der zu fchaffenden Dinge, 

Das Wort Gottes felbft, Gott das Wort, der Vorläufer 

Der Welt, die er ſchaffen follte, gezeugt in jener 

Zeit, da es noch feine Zeit gab, gezeugt, ehedenn 

Das Licht und der ftrahlende Morgenitern den Himmel erleuchtete: 
Ohne den nichts geſchehn, Durch ben alles gemacht, 

Deflen Thron im Himmel, deſſen Herrihaft die Erde unterworfen 

Und das Dieer und das unbezwingbare Chaos ber dunfeln Nacht: 

Der nimmer raftende, alles beivegende, das Starre belebende 

Gott von dem ungezeugten Erzeuger, der, durch den Trug 

Des jtolzen Volkes beleidigt, die Heiden zur Herrſchaft rief, 

Um von ber befieren Nachkommenſchaft des adoptierten Stammes verehrt zu werben, 
Den die Väter ſchauen durften, und in deſſen Anblid 

Es ihnen gewährt war, den Water zu ſchaun; der unfere Sünden 

Trug, und die Schmad des harten Todes leidend, 

Uns lehrte, daß der Pfad des ewigen Bebens wieder betretbar geworden, 
Und daß nicht die Seele allein zurüdfehrt, fondern mit dem ganzen Leib 
In die himmlischen Lande eingeht und das leere Geheimnis 

Des Grabes offen der öden Erbe zurüdläßt. 


Sohn des höchſten Vaters und Heiland unjrer Welt, 
Dem alle väterlihen Gewalten der Erzeuger übergeben, 
Nichts aus Neid zurücdbehaltend, und voll der Gaben, 
Öffne unfern Bitten den Weg und trag fie zu des Vaters Ohren! 


Gib, o Vater, unbefieglihe Kraft gegen alle Sünden 
Und wende ab von uns das ſchädliche Gift der böſen Schlange. 
Es ſei genug, daß bie Schlange die Stammfrau Eva verdarb 


Aufonius und Paulinus von Nola. 141 


Und ihr ben getäufchten Adam zugefellte; wir, die fpäten Sprößlinge 
Seiner Enkel, dur wahrhafte Propheten einft vorausgeiagt, 

Mögen die Schlingen meiden, welche die tobbringende Schlange flicht. 
Öffne den Weg, der mich aus ben Banden des Franken Beibes 

In die Höhe führt, wo die Milchſtraße bes reinen Himmels 

Sid über die wandelbaren Wollen des windigen Mondes erhebt, 

Do die frommen Vorfahren hingingen und wohin einft unverjehrt 
Auf vierfpännigem Wagen entrafft über die Lüfte 

Elias drang und vor ihm mit dem wirflien Leibe Enod. 


Gib mir, o Pater, den erhofften Hauch des ewigen Lichtes, 
Wenn ich nicht auf fteinerne Götter ſchwöre, und zu einem Altar 
Des hehren Opfers auffchauend, tadellofe Opferfpenden 
Des Lebens bringe; wenn ich dic) anerfenne als Vater 
Des eingebornen Herrn und Gottes und beiden vereint 
Den Geiſt, der über des Meeres Wogen jchwebte. 
Schente mir, o Bater, Berzeihung und Täutere bie gefreuzigte Bruft, 
Wenn ich dich nicht in Fibern ber Tiere noch in vergofjenem Blute 
Suche, noch im Geheimen der Eingeweibe nad Göttlichem forſche, 
Wenn ih, dem Irrtum zugänglich, dev Sünbe mich enthalte, 
Und wenn ic) mehr wünfche, ala mir's getraue, gut und rein erfunden zu werben. 
Nimm die geftändige Seele gnädig auf, wenn id) die gebrechlichen Glieder 
Verwüniche, und wenn ich ftill bereue, und wenn tiefe Furcht 
Die Sinne quält, und wenn die wunbe Seele die Qualen 
Der Hölle vorausfühlt und des Jenſeits Peinen leidet. 
Gib, Pater, dab unſere Wünfche fi auf diejes unfer Gebet erfüllen; 
Daß ich nichts fürchte noch begehre; dab ich das für genug halte, 
Was genug ift; dab ich nichts Schändliches wolle, noch mir felbit 
Urfade der Scham fei; dab ich feinem tue, was ich zu gleicher Zeit 
Mir nicht getan wünichte; daß ich durch feine wahren Frevel verlegt 
No durch zweifelhafte befledt werde. Wenig voneinander abzuftehen 
Scheint der vermutfiche und der wirflide Schuldige. Böfes zu tun 
Sei mir feine Macht und Gutes zu tun ruhige Vollmacht. 
Genügfam jei ih in Speiſe und Kleidung; lieb jei ih den Freunden 
Und immer Vater ohne diejes Namens Schädigung. 
Nicht an der Seele mög’ id; leiden, nit am Leibe; alle Glieder 
Mögen ruhig ihres Amtes walten, noch gejtörter Gebrauch 
In irgendwelden Zeilen etivas Verlorenes miſſen lafien. 
Möge ich des Friedens geniehen, fiher wandeln, Wunder ber Erbe 
Keine erwarten. Und wenn des Tages letzte Stunde kommt, 
Möge bas Leben guten Gewifjens ben Tod weder fürdten noch wünſchen. 
Wenn id) durch deine Huld rein von Berborgenem erfunden werde, 
Werde ich alles verachten, da die einzige Wonne fein wird, 
Dein Urteil zu erhoffen. Wenn ber Tag jeine Friſt 
Verſchiebt und verzögert, treibe fort von mir die grimmige Schlange, 
Die mit Schmeichleriichen Täufhungen mir nadjitellt. 
Diefe frommen, aber ob trauriger Schuld jhüchternen Bitten 
Empfiehl, o Sohn, verſöhnlich bei dem ewigen Vater, 
Heiland, Gott und Herr, Geift, Glorie, Wort, 


142 Zehntes Kapitel. 


Sohn, Wahrer vom Wahren, Licht vom Licht, 

Ewig mit dem Bater dauernd, in alle Zeiten herrſchend, 
Den die harmoniſchen Lieder des Sängers David feiern: 
Und im Wechjelgefang durhraufcht die Lüfte das Amen. 


Mieder im leichteren jambiihen Tempo wendet fih der Dichter den 
weltlihen Tagesgeſchäften zu. 


Zu Gott ift nun genug gefleht — 
Obwohl der Sünder nie genug 

Zu Gott fi) betend wenden mag. — 

Gib mir das Kleid zum Ausgehn, Burſch! 
Ih muß die Freunde grüßen gehn 

Und Abſchied nehmen — wechſelweis. 


In ſiebenfüßigen Jamben beſchreibt der Dichter dann eine Einladung 
zum Schmaus, in Diftichen die nötigen Beftellungen beim Koch. In Hera: 
metern folgt endlih die Schilderung der Naht und der Träume, die den 
Dichter beläftigen. Dazwiſchen find wohl längere Lüden anzunehmen, da 
weder das weitere gejellige Leben noch die Studien und Arbeiten des Dichters 
bejchrieben find. 

Das Gebet läht feinen Zweifel übrig, daß Aufonius wirklich Chrift, 
und zwar rechtgläubiger Katholit, nicht etwa Arianer oder Semiarianer war; 
denn die Gottheit Chriſti ift wiederholt und mit voller Klarheit betont. 
Dagegen maden es mande Stellen, wie auch die einleitenden Jamben, 
wahrſcheinlich, daß der Dichter in feiner Jugend noch das Heidentum mit: 
machte oder durch jeine Erziehung und den Verkehr mit Heiden noch ftarf 
davon beeinflußt wurde. Die übrigen Stüde zeichnen den behaglichen Welt: 
mann, dod ohne Heidniiches Kolorit. In den phantaſtiſchen Träumen tritt 
dazu eine lebhafte und finnlihe Poetennatur zu Tage. Der Theaterpomp, 
die Gladiatorenjpiele und die unfaubern Dinge, von denen er träumt, erinnern 
an den fittlihen Verfall, der noch als Folge des nur halb überwundenen 
Heidentums die römische Welt beherrfchte. Wenn er fi aber beim Erwachen 
freut, daß dies alles nur Traum, ift das indes doch ein Zeichen, daß in 
ihm eine beffere Gefinnung jene Einflüffe überwand, wenn aud vielleicht 
nicht ohne Kampf und Schwanfen. 

Auch in der von Schmeicheleien überfließenden Rede, womit Aufonius 
als fiebzigjähriger Greis feinem Taiferlihen Zögling Gratian für die Ehre 
des Konſulats dankte, befannte er fich ziemlich deutlich als Chriſt. Dagegen 
bewegt fih ein Gedicht auf den Antritt feines Konſulats in altheidnifchen 
Formen: 


lane, veni: novus anne, veni: renovate, veni, Sol, 
Consulis Ausonii Latiam visure curulem. 


Aufonius und Paulinus von Nola. 143 


Das Ehablonenhafte, das die biographiihen Gedichte des galliichen 
Rhetors beherrſcht, zeigt ſich nicht weniger in feinen anderweitigen Verſuchen. 
Da begegnen uns die fieben Weifen von Griechenland in fteifen Monologen, 
worin ihre befannten Sprüche zu zweihundertundreigig Verſen breit geſchlagen 
werden, Memorialverje über die römischen Kaifer zufammen und dann Doppel: 
diftichen über die einzelnen von Gäjar bis auf Antonius Elagabalus, Epi— 
taphien auf die Haupthelden der Ilias, aſtronomiſch-aſtrologiſche Verſe auf 
die fieben Wochentage, die Monate, die Solftitien, die römischen Feſtſpiele 
und Feſte. Im Griphus ternarii numeri ſuchte er im Himmel und 
auf Erden alle Dinge auf, in melden fi irgendwie die Dreizahl finden 
läßt, und widmete die wunderlihe Zujammenfteflung feinem Freunde, dem 
römischen Stadtpräfelten Symmachus. Im Technopaegnion lieferte er 
Herameter, die ji von rechts nad linls wie von links nad) rechts leſen 
loffen; daran reihen fi) Gedächtnisverfe (Herameter) über die Glieder des 
Leibes, die Götter, die Speijen, die griehiich-römifche Geichichte, die Buch— 
ftaben des Alphabets und grammatiihe Fragen, die ſämtlich auf ein ein- 
filbige8 Wort ausgehen, die barodite Spielerei, die man ſich denken fann!, 
Bielleicht hat ihn, außer der hergebrachten Verehrung für Catull und Martial, 
diefe mwunderlihe Neigung zum Baroden mitverführt, aus lauter ganz an- 
fändigen Phrafen Bergils ein Hochzeitägedidht (Cento nuptialis) zujammen: 
zuftoppeln, das an Obfcönität mit den ſchmutzigſten Stüden jener beiden 
Dichter metteifert. Auch im feinen Epigrammen findet ſich dieſe abjurde 
Künftelei mit dem fraffeften Schmuß beifammen. 

Nicht nur das längfte, fondern auch das bedeutendfte und anjprechendfte 
Werk des Aufonius ift das Gedicht, daß er wohl in der erſten Zeit feines 
. Trierer Aufenthalts auf die Mofel verfaßt bat — Mosella —, daß erfte 
Mojellied?. Er hebt mit einer kurzen Skizze feiner Fahrt an. Un der 
„nebligen” Nahe gefiel es ihm nicht. Bei Berntaftel wurde es ſchon etwas 
beffer. Bei Neumagen ging ihm vollends das Herz auf. 


Bieblich erinnerte mich an die Pracht der jtrahlenden Heimat, 
An Borbdeaur, was rings dem forjchenden Blide fi) darbot: 
Hoch am Uferrand bie Giebel der ragenden Billen, 

Grün von Rebenlaub die Hügel und murmelnd vorüber 
Rauſchend der freundblihe Strom, die hurtig fließende Mofel. 


ı „Unausftehlih find bie eigentlichen ludicra, wie ba8 Technopaegnium, ber 
Gryphus ternarii numeri, der Brief an Theon über die dreißig Auftern, die Briefe 
an Arius Paulus in maccaronifchen Berjen u. a.” (FJ. Marr, Art. Aufonius bei 
Pauly: Wijjomwa, Real-Encyflopädie II 2566). 

2 Herausgeg. von E. Boeding, in Rhein. Jahrb. VII 1845; 9. be la 
Ville de Mirmont (La Moselle d’Ausone, Bordeaux 1889; De Ausonii Mo- 
sella, Paris 1892); €. Hojius, Marburg 1894; €. Schenkl (a. a. ©. 81—97). 





144 Zehntes Kapitel. 


Sei mir gegrüßt, o Strom, an Land und Bewohnern jo herrlich, 
Welchem Hof und Palaft des Kaifers die Belgier danlen, 
Strom, am Hügelrand mit buftenden Reben beitanben, 

Strom, vom reizenden Grün ber herrlichſten Wieſen umfjäumet, 
Schiffbar wie das Meer, flußgleich hinwälzend bie Fluten, 
Hurtig, und hell wie ein See mit klar durchſichtigem Spiegel, 
Bächen aud fommft du gleich mit deinen fprubelnden Wellen, 
Und bein fühles Nah ift friſchen Quellen vergleichbar, 

Alles vereinft du in dir, was Quellen, Bäche und Flüffe, 
Seen und jelbft das Meer, in Flut und Ebbe fi wandelnd. 
Freundlich rinnft du dahin, haft nicht mit braufenden Winden, 
Nicht vom fämpfenden Stoß verborgener Klippen zu leiden 
Nicht zwingt feichterer Grund, den rajchen Lauf zu beeilen, 
No drängt trennendes Land fich zwiſchen ben fließenden Spiegel 
Und bedroht deinen Namen, indem eine Juſel den Fluß teilt. 


Ein tiefes Naturgefühl und gute Beobadhtung vereint fih in ber 
Schilderung des Abends: 


O wel ein köſtliches Bild, wern bie dunkelnden Hügel ſich fpiegeln 
Unten im bläulichen Fluß, bie Tiefe des Betts fih belaubet 

Und ber ganze Strom fih ſchmückt mit Rebengeländen ! 

O wel farbige Pradt, wenn Heſper verlängert die Schatten 

Und in ein grünes Geländ’ verwandelt die lieblihe Moſel! 
Shwimmend kräuſeln ih dann die Hügel, es zittert des Weinlaubs 
Spiegelbild, und es fchwillt der Trauben Laft in den Wogen. 

Und es zählet getäufcht ber Schiffer die grünenden Stöde, 

Der auf ber Fläche dahinſchwebt in dem winzigen Nadhen, 

Mitten wo ſich das Bild der Hügel vereint mit dem Strome, 

Und wo bie Grenze bes Stromes zerfließt in die fpielenden Schatten. 


Die Beichreibung ift oft zu künſtlich und holt zu breit aus, um überall 
zu feſſeln. Bald werden in langer Reihe die Fiſche der Moſel aufgezählt 
und einzelne gejdhildert, wo ſchon Symmachus die Bemerfung madte: „Ich 
war doch oft bei dir zu Tiih, und obwohl ich das meiſte andere bewunderte, 
was damals im Prätorium aufgetragen wurde, habe ich doch diefe Art 
Filhe nie wahrgenommen. Wann find dir dieſe Fiſche in deinem Bud 
geboren worden, die fih auf den Schüffeln nidt fanden?“ 1 


ı Er gratuliert ihm jedod zu dem glänzenden Erfolg des Gedichtes (volitat 
tuns Mosella per manus sinusque multorum divinis a te versibus consecratus) ; 
nur darüber beflagt er fih, dab er ihm das Gedicht nicht zugefandt. Dem Witze 
über die Fiſche aber fügt er alsbald bei: locari me putas atque agere nugas ? 
ita dii me probabilem praestent, ut ego hoc tuum carmen libris Maronis adiungo, 
(Symmachi epistulae lib. 1, ep. 14 a. 370-371. Q. Aurel. Symmachi quae 
supersunt, ed. OÖ. Seeck, Berol. 1833. Monum. Germ. Hist. Auct. Antiquissimi 
VIilp.9 10). 


Aufonius und Paulinus von Nola, 145 


Nah klaſſiſchen Reminiscenzen wird darauf das Flußtal weiter ge: 
zeichnet und mit griechiſchen, thracischen und aquitanischen Landſchaften ver- 
glihen. Dann wird von den Faunen, Satyrn und Najaden erzählt, wie 
fie die Schulpoefie in allen Flüffen, Seen und Meeren wiederfand, von dem 
Leben und Treiben der Schiffer, vom Fiſchfang, aber wieder mit gelehrten 
Verbrämungen und PVergleihen, die fih bis nah Afien und Ägypten ver- 
fteigen. Schließlich kommt der Dichter auch wieder auf fih zurüd, feine 
Abftammung, feine Studien, feine Würden und fein Konſulat. Die weitere 
Schilderung von Land und Leuten, Städten und Burgen verfpricht er zwar, 
hat aber das Verſprochene nicht eingelöft. Und jo läßt fih aus feinem 
Mofelgediht fein deutliches Bild von dem damaligen Trier und feiner 
Kaiſerpfalz gewinnen. 

Bon den „Epifteln“ des Aufonius ift nur ein Heiner Zeil erhalten, 
ein paar Yamilienbriefe an feinen Vater und an feinen Sohn Hejperius, 
einige an den Dichter Theon, fieben an den Rhetor Axius Paulus, einen 
jeiner intimeren Freunde, andere an den Dichter Tetradius, an den Prae- 
fectus praetorio Probus und an Symmadhus, AI dieſe Briefe zeugen 
von großer Belefenheit in den alten klaſſiſchen Schriftftellern, von einem 
feinen Formgefühl für Ausdrud und Metrif, von einem gewiffen poetijchen 
Gefühl; aber viel Poefie enthalten fie nit. Am meiften Intereffe haben 
noch die fieben Epifteln an feinen Schüler Paulinus, aber wieder nicht 
wegen ihres Inhalts, jondern mehr wegen des Gegenjaßes, in welchem 
Paulinus zu ihm fteht. 

Meropius Pontius Anicius Baulinus war zu Bordeaux im Jahre 
353 geboren, mithin ſechs Jahre älter als der Cäſar Gratian, dreiundbierzig 
Jahre jünger als Auſonius. Seine Yyamilie gehörte nad) dem Zeugnis des 
hl. Ambrofius zu den bornehmften von ganz Aquitanien; Baronius ver: 
mutet fogar, daß fie von der römiſchen Familie der Anicier abzuleiten jei. 
Aujonius ftand wohl jchon in den Fünfzigern und mar längſt der gefeiertfie 
Rhetor zu Bordeaur, als ihm der gemwedte Knabe zur Erziehung übergeben 
wurde. Er wandte ihm die Liebe und Sorge eines Vaters zu und behielt 
ihn im treueften Andenken, als die Berufung zum Prinzenerzieher ihn (um 
365) nad Trier führte. Paulinus fchreibt ihm feine ganze Bildung und 
feine raſche Beförderung zu, und das wäre nicht möglid, wenn fie nicht 
auch fürder in lebhaften geiftigen Verkehr geblieben wären. Sicher ift, 
daß er jhon ein Jahr vor Aujonius, 378, im Alter von erſt fünfund- 
zwanzig Jahren, mit der Würde eines Konſuls bekleidet wurde, und zwar 
auf Betreiben des Aufonius, dur die Gunft des jungen Kaiſers, deſſen 
Vater Balentinian I. 375 das Zeitliche gejegnet hatte. 

Paulino Ausonius. Metrum sic suasit, ut esses 


Tu prior, et nomen praegrederere meum, 
Baumgartner, Weltliteratur. IV, 3. u. 4. Aufl, 10 


146 Zehntes Kapitel. 


Quamquam et Fastorum titulo prior, et tus Romae 
Praecessit nostrum sella curulis ebur. 


Daß Paulinus wirklicher Konſul war und die Gerichtsbarkeit eines 
ſolchen bejaß, geht klar aus einem feiner Gedichte an den hl. Felix von 
Nola hervor: 


Te duce, fascigerum gessi primaevus honorem 
Teque meam moderante manum, servante salutem, 
Purus ab humanae caedis discrimine mansi. 


Nah Ablauf jeines Konjulatsjahres kehrte er in die Heimat zurüd 
und ging von da nad Spanien, wo er an der Chriftin Therafia eine mit 
allen Tugenden geihmüdte Gattin fand. Er jelbit verſchob noch den Empfang 
der heiligen Taufe und empfing diejelbe erft im Jahre 389 von dem Biſchof 
Delphinus in Bordeaur. Inzwiſchen ſcheint er feine literariſchen Studien 
fortgejeßt und gelegentlich auch etwas gedichtet zu haben. Er brachte unter 
andern Senecad drei Bücher „Bon den Hönigen” in Berfe und wurde 
dafür von Auſonius höchlich belobt. Indefjen führte der Tod eines Bruders 
Schwere Wirrfale über ihn herein. Wie er in einem Gedichte an den 
Hl. Felix erzählt, wurde er fälſchlich als Brudermörder angeklagt und in 
einen Prozeß vermwidelt, der ihm zuleßt jelbft mit dem Tode bedrohte, und 
er jchreibt e8 nur der Fürbitte des Heiligen zu, daß fein väterliches Erb: 
gut aus den Klauen des Fiskus, fein Leben aus der drohenden Gefahr 
errettet wurde. Dieje Erfahrungen aber wie die Mahnungen feiner frommen 
Gattin führten ihn zu einer erniten Einkehr in fi jelbft, und nad dem 
Empfang der heiligen Taufe reifte in ihm der Gedanke, fi gänzlich von 
der Welt zurüdzuziehen. Im Jahre 390 begab er fi vorläufig mit 
feiner Frau nah Spanien, wo er ebenfalld begütert war, und lebte hier, 
wie es ſcheint, die nächſten vier Jahre bereits in einer Art religiöfer Zurüd- 
gezogendeit!. 


I Gefamtausgaben feiner Werle von Fronton du Duc und Heribert 
Rosweyde, Antwerpen 1622; PB. F. Ehifflet, Dijon 1662; J. B. Le Brun 
des Marettes, Paris 1685; 2.4. Muratori, Verona 1736; letztere abgedruckt 
bei Migne, Patr. lat. LXI; ©. v. Hartel (Pars I, Epistulae. Corpus script. 
eccl. lat. XXIX), Wien 1894. — Nachträge zu den Älteren Ausgaben von J. A. Min» 
garelli (Anecdot. Fasciculus, Romae 1756); A. Mai (Ss. Episcoporum 
Nicetae et Paulini Scripta, Romae 1827); DO. Barbenhewer im „Satholif* 1877, 
I 498— 510). — Biographifhes: A. Bufe, Paulin, Biſchof von Nola, und jeine 
Zeit, Regensburg 1856, — G. Fahre, Etude sur Paulin de Nole, Strasbourg 
1862. — F. Lagrange, Histoire de 8. Paulin de Nole®, Paris 1882 (beutich, 
Mainz 1882). — M. Lafon, Paulin de Nole, Montauban 1885. — G. Boissier, 
La fin da paganisme II, Paris 1891, 57—121. — ®. Reinelt, Studien über 
die Briefe bes hl. Paulinus von Nola, Breslau 1904, 





Anfonius und Paulinus von Nola. 147 


Sein greijer Lehrer Aufonius, nunmehr ein Achtziger, aber noch immer 
ein behäbiges, vergnügtes Weltkind, fchrieb um dieje Zeit viermal an ihn; 
doch einer feiner Briefe ging verloren, die drei andern langten erft veripätet 
zujammen an und trafen Paulinus in einer ganz andern Geiftesverfafjung, 
als fie der eitle, lebensluftige Rhetor früher an jeinem Schüler gewohnt war. 
Paulinus antwortete ihm: 


Viermal kehrte zurüd geplagten Schnittern ber Sommer, 
Diermal fhimmernd in Reif ftarrte der Winter von Forft, 
Seit fein Wort, kein Laut aus deinem Mund mid) erfreute, 
Keine Zeile von dir jpendete Freundesbericht, 
Bis zuletzt dein Brief voll glüdverheißender Botichaft 
Hat das entbehrte Geſchenk mir um fo reicher gebradt. 
Denn drei Briefe zugleich entfalteten bunt ihre Blüte, 
Unb ein jeder der drei war ein melodifher Sang. 
Süßes hatte gemiſcht und Bittres mit allerlei Klagen, 
Tadel und ängſtliche Furcht forgliche Liebe und Huld. 
Aber die Güte des Baterd ging mehr mir zu Derzen als alle 
Strenge des Richters; was herb, ward durch das Süße mir mild. 
Doch davon fpäter, nicht jetzt; ich werd’ im heroifchen Versmaß 
Mich verteidigen nod feierlich, wie ſich's gebührt. 
Leichter indeflen voraus laff’ ich hinhüpfen die Jamben, 
Daß fie in rihtigem Takt führen das Wechjelgeipräd. 
Am elegiihen Maß nod lab mich herzlich dich grüßen, 
Wie ſchon oft zum Beginn: alsdann ſei deffen genug ! 


Wie? Bater! Soll den abgedanften Mufen id 
Bon neuem weihen meinen Dienft? — 

Nicht den Eamönen, nicht Apoll ſchlägt mehr das Herz, 
Das einmal Ehriftus fi geweiht. 


Einft haben gleihen Eifers, doch nicht glei an Kraft, 
Wir eind gemeinjam angeftrebt, 
Phöbus in Delphis heil’ger Grotte aufgewedt, 
Der Mufen Gottheit anerkannt, 
Der Rebekunft Gejchente, die uns Gott verliehn, 
Bon Hainen, Bergen uns erfleht. 
Jetzt treibt die Seele höh're Kraft, ein größ'rer Gott, 
Und forbert andern Braud von uns, 
Die Gaben, die er und geſchenkt, heifcht er zurück, 
Auf daß dem Vater leben wir. 
Verboten ift uns eitle Muße, eitle Tat 
Und leerer Fabeln eitler Sang, 
Auf daß wir fein Geſetz erfüllen ganz und treu 
Und ichauen feiner Wahrheit Licht, 
Das ſchlauer Philoſophenwitz, Rhetorenkunſt 
Und Dichterphantafie ummwölft. 
Sie füllen nur mit eitlem Tand und Trug das Herz, 
Sie bilden nur die Zunge aus; 
10* 


148 


Zehntes Kapitel. 


Sie bringen nichts, was wahres Heil verleiht, 
Noch was die Wahrheit uns enthüllt. 

Wie follten fie befigen, was da wahr und gut, 
Die nit der Fülle Kern erfaßt, 

Des Wahren, Guten Born und Urquell: Gott, 
Den feiner außer Ehriftus ſchaut! 

Er ift der Wahrheit Licht, des Lebens Weg, 
Des Vaters Geift, Arm, Kraft, Gewalt, 

Des Rechtes Sonne, ber Gottheit Blüte, des Guten Quell, 
Der Weltenihöpfer, Goties Sohn, 

Der Sterbliden Leben und des Todes Untergang, 
Der Meeifter, der uns Tugend lehrt; 

Er, unfer Gott und unfertwillen Menſch zugleid, 
Er zog fid) aus und zog und an, 

Und zwifchen Gott und Menſch, gefellend beiden ſich, 
Schloß er den ew’gen Freundſchaftsbund. 

Wenn er einmal in unſer Innerſtes 
Läht flammend ftrahlen feinen Glanz, 

Nimmt er des matten Leibs Gebredhen fort von uns, 
Gibt neue Jugendkraft dem Geiit, 

Erſchöpfet, was an feufcher Freude jemals nur 
Uns hat erhoben und entzüdt. 

Drum fordert er mit vollem Herrſcherrecht aud ganz 
Das Herz von uns und Mund und Zeit. 

Ihm gelte Denten, Glauben, Lejen und Beritehn, 
Ihm Furcht und Liebe: jo will er’s. 

Den eiteln Drang, der auf des Erbenlebens Bahn 
Uns voller Mühſal treibt voran, 

Deriheudt der Glaube an die jel’ge Ewigfeit, 
Der nicht als weltlih und gering 

Der Erde Güter wegwirft, als veradht’ er fie, 
Vielmehr in Ehrifti Gotteshand 

Sie als viel teurer für den Himmel übergibt, 

°« Der reiten Lohn dafür verheißt, 

Der das Berihmähte nimmt als Dinterlage auf 
Und mit den größten Zinfen mehrt, 


Er trügt uns nit. Was ihm als Schuldner anvertraut, 


Gibt reichlich er gemehrt zurüd; 

Freigebig wie nur Gott erftattet er das Gold, 
Das du verfhmäht, mit Wucherzins. — 

O Hage nicht, ich ſei jetzt fäumig und verkehrt, 
Sei nimmer treu der Frömmigkeit; 

Wie kann's ben Ehriften fehlen je an Frömmigkeit ? 
Denn gegenjeitig ſchließt ſich's ein: 

Fromm fein heißt Kriftlich jein, und unfromm jein 
Der Herrſchaft Ehrifti fih entziehn. 

Da dieſer Lehr’ ich huldige, wie könnt’ ih nun 
Unfromm fein, Bater, gegen did, 


Aufonius und Paulinus von Nola, 149 


Dem ih das Heiligite an Namen, Pfliht und Recht 
Verdanke ja nad Gottes Rat? 

Dir dank’ ih Bildung, Würde und Gelehrfamteit, 
Des Ruhms, des Amts, der Zunge Schmud, 

Von bir begünftigt, aufgezogen und belehrt, 
Mein Gönner, Mteifter, Vater, bir! 

Doch daß fo lange fern ich weile, Flageft bu 
Und zürnft mir mit der Liebe Groll. 

Run, ſei ed nützlich, nötig oder frei beliebt, 
An jedem Fall ift Hein die Schuld. 

Verzeih dem Liebenden, ſuch' ich das, was mir frommt, 
Und freu’ dich, leb' ich, wie mir's paßt! ! 


Nun geht der Brief, wie früher angelündigt, ins heroiſche Versmaß 
über und widerlegt in 228 Herametern mehr die einzelnen Vorwürfe, welche 
Auſonius gegen die neue Lebensweile des Freundes und feine Trennung 
von ihm und der Heimat geltend gemadt hatte. Auf die liebenswürdigfte 
Weiſe juht Paulinus in dem greifen Lehrer diefelben religiöfen Anichauungen 
zu ermweden, die ihn jelbit nunmehr bejeelen. Er mweift ihn von den Mufen 
und Den Träumereien der antiken Poefie auf Gott, feine Macht, Schönheit 
und Herrlichkeit, auf das künftige Leben, auf das ernfte Gericht, da unfer 
harrt, auf die Notwendigkeit, jih auf die Ankunft Chriſti vorzubereiten. Er 
hätte den ehrwürdigen Greis, der dem Grabe jhon jo nahe ftand, nicht 
ihöner und freundlider zu einem wahrhaft hriftlihen Lebensende in die 
richtige Stimmung verjegen können, als es hier gejchieht. 

ALS Aufonius fih damit nicht zufrieden gab, ſondern den Freund jelbft 
zurüdforderte und mit neuen, fat etwas bittern Vorwürfen beftürmte, kam 
Paulinus auf die früheren religiöfen Ausführungen nicht mehr zurüd, ver- 
fiherte ihn aber um jo inniger feiner unwandelbaren Dankbarkeit, Liebe und 
Treue, die ihm nicht nur duch fein übrige Pilgerleben hienieden, jondern 
weit über das Grab hinaus begleiten werden. 


Ach werde dich dur alle Zeit, die Sterblichen 
Bergönnt und zugemeffen ift, 

So lang bes ird' ſchen Leibes Hülle mid umfängt, 
In jedem Erdteil wiederjehn, 

Nicht weit von diefem Erbteil, noch dem Auge fern, 
In meinen Fibern halt’ ich dich, 

Im Herzen Schau’ ich di, umfang’ did; treuen Sinns, 
Mir gegenwärtig überall. 

Und wenn ich, aus des Leibes Kerler einft befreit, 
Don dieſer Erde bin entichwebt, 

Auf welden Stern mid unfer Vater auch verſetzt, 
Bewahr’ ich dich in meinem Geift, 


ı Poema X (Migne, Patr. lat. LXI 453—461), überſetzt vom Berfafler. 


150 Zehntes Kapitel. 


Und mag ber Tod mich löfen auch von meinem Leib, 
Bon beiner Liebe nimmermehr. 

Denn, ba bie Seele, die von himmliſchem Geſchlecht, 
Der Glieder Sinten überlebt, 

Muß ihre Neigung und Empfindung fie zugleich 
Sefthalten mit dem Lebenshaud); 

Mie fie nicht fterben Tann, jo auch vergeflen nicht, 
Lebendig ſtets und eingedenk!. 


Diejes lebte Gediht fammt aus dem Jahre 393. Es war der Ab- 
ſchiedsgruß des Schülers an feinen Lehrer, den er bienieden nicht mehr jehen 
jollte. Auſonius farb vermutlih in einem der nächſten Jahre. Noch in 
demjelben Jahre aber empfing PBaulinus, nad langem Widerftreben, durch 
den Biſchof Yampius zu Barcelona die heilige Priefterweihe. Es war indes 
jeines Bleiben: in Spanien nidt. Schon in feinen Knabenjahren war er 
einmal nad Nola in Gampanien gelommen. Nach Ablauf feines Konjulats 
bejuchte er die Stadt wieder; wie Muratori annimmt, zeitweilig als Kon— 
jular mit der Verwaltung Gampaniens betraut. Die Wunder, die fich 
damals am Grabe des hl. Felir ereigneten, erregten feine Aufmerkſamkeit und 
wedten in ihm eine bejondere Andacht zu diejem Heiligen, den er fortan 
als jeinen beſondern Schußheiligen verehrte. Er ließ einen prächtigen Weg 
zu der Kirche anlegen, wo defjen Gebeine ruhten, und neben derjelben ein 
ftattliches Haus für Pilger und Kranke errihten. Nachdem er aber Priefter 
geworden, beſchloß er, fih mit Therafia für immer an jener ehrwürdigen 
Stätte niederzulaffen. Er verkaufte alle jeine Güter in Gallien und Spanien, 
verteilte alle jeine Habe an die Armen, zog 394 nah Nola und führte 
daſelbſt ein zurüdgezogenes, Höfterliches Leben. In Gallien mit Sulpicius 
Severus, dem Lebensbejchreiber des Hl. Martinus, in Mailand mit dem 
hl. Ambrofius befannt geworden, trat er von Nola aus aud mit den 
HE. Auguſtin und Hieronymus und andern hervorragenden Männern der 
Kiche in Verkehr. Er nahm das früher vernachläſſigte Studium des 
Griechiſchen wieder auf, um die Werfe des Hl. Klemens ins Lateinische zu 
überjegen. Er verlegte fih auch mit größtem Eifer auf das Studium der 
Heiligen Schrift. Als 409 der Biſchofsſtuhl zu Nola durh Tod erledigt 
war, wurde er zum Biſchof diejer Kirche erhoben und verwaltete dieſes Amt 
in ſegensreichſter Weife, hervorleuchtend bejonders durch Liebe und Barm— 
berzigfeit, biß zu jeinem Tode im Jahre 431. 

Der Poeſie ift Paulinus aud als Priefter nicht abtrünnig geworben. 
Bis zu feiner Erhebung zum Biſchof verfaßte er alljährlihd auf das Feſt 
des hl. Felix ein meift längeres Gedicht, worin er zunächſt Leben, Taten 
und Wunder feines Schußheiligen befang, dann aber auch weiter ausholte 


! Poema XI (Migne, Patr. lat. LXI 462). 


Aufonius und Paulinus von Nola. 151 


und die mannigfaltigiten religiöfen und poetifhen Motive mit bereinzog. 
Seine Dihtung gewann damit einen ebenjo konkreten und lokalen als Frucht: 
baren Stübpunft, und zwar durhaus nicht zufällig. Wie er jelbft in einem 
diejer Gedichte jehr ſchön ausführte, verkörperte fih in den Gräbern der 
Märtyrer und Heiligen zumeijt der großartige Sieg, mweldyen die Lehre des 
Kreuzes über die Mächte des Abgrunds davongetragen. Wie dad Blut 
Eyprians dem Kriftlihen Karthago feine Blüte verliehen und den öden Sand 
Libyens befructet, jo ward das campaniihe Nola, früher ein Sik des 
ſchändlichſten Venus- und Bachusdienftes, duch das Wirken des Hl. Felix 
von der finjtern Macht der Dämonen befreit. Die epiiden Zeile diejer 
Feſtgedichte find jehr lebendig und anſchaulich, die lyriſchen voll echter, un— 
gefünftelter Begeifterung. Auch Hier begegnen wir wieder jenem innigen 
Naturgefühl, das Humboldt an den griechiſchen Kirdhenvätern auffiel und 
das die Antike in diefem Grade nicht kannte. 


Lieber fchenfet der Lenz den Vögeln; ber Frühling gewähret, 
Mir, o Felix, dein yet, in deſſen Lichte der Winter 

Selber in Wonne erblüht zur Freude der Menſchen, und mag auch 
Eifig fegen ber Sturm die hartgefrorenen fyelber, 

Unb mit blendendem Weiß der Reif die Erbe bebeden, 
Frühling blühet und doch beim Jubel bes fröhlichen Feſtes. 
Freier atmet die Bruft, der Winter weicht und die Sorge, 
Wolken ber Trauer entfliehn vom frohaufjaudzenden Herzen. 
Wie die Schwalbe erfennt und der Storch bie willfommenen Tage 
Und der Taube verwandt, die Turteltaube, nicht minder 
Stieglig, der Heine Gejell, ber Iuftig zwitſchert im Dornſtrauch, 
AL die Sänger, die ftumm durdirren die kahlen Gebüfdhe, 

Bald zufammen fi Iaut erfreuen des kommenden Lenzes, 

Mit erneutem Gefang und neu fi färbenden Flügeln: 

So erkenne auch ich den Tag, der jährlich erneuert 

Heilige Feſte mit Recht zu Ehren des herrlichen Felix. 

Mir auch ergrünet aufs neu’ im beginnenden Jahre der Frühling 
Und erwedet bie Luft zu neuem Lied und Gelübbde, 

Dir, o Felir, zum Ruhm. Erfülle Gott mit Begeift’rung 

Mich und Löfche den Durft, ben heiken, mit himmliſchem Waſſer, 
Deſſen ein Tröpflein Shen mir wirb zum herrlichen Strome. 
is zum Verwundern denn, wenn du mit winzigem Tropfen 
Taues die Seele erfüllt, da du, zum Menſchen geworben, 

Haft durch ewige Saat mit Menfchen bevöltert den Erbfreis, 
Und ein Tropfen Blut dir genügt, die Welt zu erlöfen ? 

Quelle des Wortes, Gott, gewähre mir treffende Worte 

Und verleihe mir, Herr, daß ich, wie der Vogel des Frühlings, 
Welcher im grünenden Laub verftedt, in vielerlei Weiſen 

Läßt erklingen den Sang hinaus in Wälder und Auen, 

Nimmer finge mein Lied, ift auch die Sprache biejelbe, 

Allzeit in gleihem Ton, wie jehr aud wechſle die Sadıe. 

Seine Farbe ift eins, doch vielerlei klingen die Töne; 


152 Zehntes Kapitel. 


Triller ſchmettert er jekt, dann jpigt er wie Pfeile die Noten, 
Schmelzend wie Liebesgefang beginnt er wieder zu Flagen, 

Bis mit plötzlichem Schluß abbrechend die rührende Weije 

Er das erftaunte Ohr erfchredt dur gänzliches Schweigen. 

Deine Gnabe, o Herr, ich flehe, durchſtröme mich allzeit, 

Daß mir, dem Vögelchen gleich, es gelinge zu wechjeln die Weiſe; 
Daß der nämlide Mund die längft verfprochenen Lieder 

Singe auf manderlei Art und nicht den Hörer ermübe. ! 


In drei ſchwungvollen Pſalmenparaphraſen eröffnet Paulinus diefe Art 
der Dichtung, melde von da ab die ausgedehntefte Pflege fand. In dem 
Hoczeitägediht auf Julianus und Ja ftellte er dem unwürdigen Cento 
nuptialis des Aufonius eine Dichtung gegenüber, welche die Würde und 
Weihe der hriftlihen Ehe in den zarteften Akkorden verherrliht. Das Ab— 
ſchiedsgedicht an den Dacierbifchof Nicetas bejingt in gewandten ſapphiſchen 
Strophen das Kriftlihe Miffionswerf. 


Scheiben willft bu ſchon und entrinnft uns eilig, 
Die doch nur der Raum von dir kann entfernen, 
Deren Herzen doch bir in ewiger Liebe 

Bleiben vereinigt. 


Leiſe gleiteft du auf dem ftillen Meere, 

An dem Schiffe prangt bes Erlöferd Name, 

An dem Maft das Kreuz: nimmer fann dir fchaben 
Woge noch Sturmwinb. 


Fröhlich fingen ftatt ber gewohnten Lieder 

Heil'ge Hymnen jegt der Matrofen Scharen, 

Und mit frommem Klang fie zum Meere loden 
Günftige Lüfte. 


Allen tönt voran des Nicetas Stimme 

Hell wie Tubaflang; benn er fingt von Ehriftus, 

Und das ew’ge Lieb der Davidſchen Pfalmen 
Raufht durch die Fluten. 


„Amen !” klingt es laut, es erbebt ber Walfiſch. 

Laufhend auf den Sang bes erhabnen Priefters, 

Drängen fi herbei, im Gewimmel fpielend, 
Schnelle Delphine. 


Kämpfend du durchklimmſt nun der Heimat Berge 
Über Fels und Kluft und verwanbelft fiegreich 
Öden Wald in Flur, und zum Gotteögarten 
Starrende Seelen. 
! Natale VII (Migne, Patr. lat. LXI 608 609), überfegt bei Qagrange 
(deutſch) 406 407. 


Aufonius und Paulinus von Nola. 153 


Vater nennen bi, die im Norden wohnen, 

Sanft bei deinem Wort wirb ber wilde Schthe, 

Sich verleugnend beugt er den troß’gen Naden 
Himmliſcher Lehre. 


Und bie Goten, fieh! und die Dafer fommen, 

MWeit vom innern Land und vom reichen Ufer 

Andre, dicht gehüllt in die zott'gen Felle 
Stattliher Herden. 


Mahrli wird der Wolf ba zum zahmen Rinde 
Und zum Stier gefellt fich der Löwe friedlich, 
Und ein Knabe darf in ber Vipern Höhle 
Mulig ſich wagen. 


Wo der Erdkreis ſtumm, lehrſt du die Barbaren 

Singen Chriſti Lob mit des Römers Liebe, 

Lehreſt Keuſchheit fie und in ungeſtörtem 
Frieden ſie leben. 


Der Goldgräber Liſt übertrifft dein Eifer, 

Machſt fie ſelbſt zu Gold; ihrem Beispiel folgend, 

Gräbft mit Gotteswort du aus ihren Seelen 
Funfelndes Golderz !. 


Ein Lehrgedicht an Jovius widerlegt beredt die faljchen Vorftellungen vom 
heidniihen Schickſal. Das Troftgediht an die Eltern des verftorbenen Knaben 
Gelfus bekennt in erhabenem Schwung den Glauben an die Auferftehung. 

An Vertrautheit mit den Klaflitern, beſonders Vergil und Horaz, fommt 
Paulinus feinem Lehrer Aufonius zum wenigften gleih, an Gewandtheit 
in Sprache und Ausdrud erreiht er ihn meift, an eigentlichen poetifchen 
Geiſt und Schönheitsgefühl übertrifft er ihn bei weitem. Er hat die antiken 
Beräformen (Herameter, Diftihon, Epoden, japphiihe Strophe) wirklich ges 
wandt und lebendig mit dem meuen chriftlihen Stoff durddrungen und 
bejeelt. Bon der Breite und Weitſchweifigkeit, welche die ganze rhetorifche 
Bildung jener Zeit beherrjchte, vermochte freilih aud er ſich nicht loszu— 
machen. Die meiften feiner Gedichte entbehren darum der vollen künſtleriſchen 
Einheit und Abrundung. Aber fie find reih an den jchönften Ideen und 
Gefühlen, und mit Recht jagt Bufe: 

„Zum erftenmal hatten Heidentum und riftliher Glaube, der Geift 
der Welt mit dem Geifte Chrijti in den bevorzugtejten Männern der Zeit 
auf dem Felde der Poeſie fi gemeffen. Und wenn aud, was Kunſt und 
Gefeiltheit der Sprache angeht, der Rhetor Aufonius den Vorzug verdienen 


! Poema XVII: Ad Nicetam redeuntem in Daciam (Migne a. a, ©. LXI 
485 f), überjeßt vom Verfaſſer. 


154 Elftes Kapitel. 


mag, fo gibt doch die Wahrheit und Größe der Gedanken, die dem Chriflen- 
tum eigentümliche Zartheit und der Reichtum der Empfindungen, endlich 
der milde und weiche Fluß der Darftellung, der in den dazwiſchen geftreuten 
Sentenzen feine Straft erhält, unleugbar dem Paulin die Palme des Sieges.“ 


Elftes Kapitel. 
»rudentins. 


Wie der biihöflihe Sänger von Nola, jo gehörte auch Aurelius 
Prudentius Clemens — unftreitig der bedeutendfte lateiniſch-chriſtliche 
Dichter der erften vier Jahrhunderte — zeitweilig den höchſten Lebenskreiſen 
des damaligen römischen Reiches an. Er ftammte jedod nit aus Gallien, 
fondern wie Kaiſer Theodofius aus Spanien. Ob er mit den Päpften 
jener Zeit, mit Ambrofius, Auguftinus, Hieronymus, Paulinus und andern 
Führern des kirchlichen Lebens in näherer Beziehung geftanden, ift zweifel: 
haft; er wird in den Briefen und jonftigen Schriften diefer Männer nirgends 
eingehender erwähnt. Aud Gennadius, der im folgenden Jahrhundert jchrieb, 
teilt nichts Näheres über feine Perfönlichleit mit, jondern zählt nur furz 
feine Schriften auf. So beichränten fi die ſpärlichen Nachrichten, welche 
über jein Leben vorhanden find, auf einige verftreute Angaben und Winte 
jeiner Gedichte, bejonders auf den Prolog, weldhen er der Sammlung der: 
jelben vorangeftellt, und welcher mit einigem Recht als „Selbftbelenntniffe 
des Dichters“ bezeichnet werden könnte. 

Diefer Prolog befteht aus kurzen Strophen, die je aus einem glylonischen, 
einem asklepiadiſchen und einem größeren asklepiadifchen Verſe beftehen. In 
Jamben übertragen lautet er etwa alio: 

Schon fünzig Jahre, mein’ ich, zählt mein Leben, 
Und nod) ein fiebtes dreht’ fi raſchen Laufs, 
Daß ih der Sonne flücht'gen Glanz genieße. 


Es naht das Ziel, und Gott fickt Thon die Tage, 
Die hart am Greifenalter ftehn. Was hab’ ih Gutes 
In all der Tangen, Tangen Zeit getan? 


Die Kindheit weinte unter harten Schlägen. 
Bald lehrte dann, vom Böſen mich beftridt, 
Die Toga lügen, und nit ohne Schuld, 


Darauf befudelte wollüft'ge Neigung 
Und freder Ubermut (o Schmah und Schande!) 
Die Jugenbdzeit mit ihrem trüben Schmupß. 


Prubentius, 15 


ar 


Streit regte ftürmifch meine Seele auf, 
Und eigenfinn’ger Durft nad Siegesruhm 
Ward harten Schidfalsihlägen unterworfen, 


Zweimal führt’ in berühmten Städten id 
Den Zügel der Geſetze als ihr Herrſcher, 
Den Guten Recht verihaffend, Frevler ftrafend. 


Zu höherm Grad im Dienfte feiner Waffen 
Erhob mid dann bes milden Herrihers Hulb 
Unb ließ mid) ftehn in feiner nächſten Nähe. 


Indem das Leben fo vorüberflog, 
Ward unvermerft dem Greije weiß das Haar, 
Und mahnt mid an ben alten Konſul Salia. 


Mie viele Winter mir bereits entflohn, 
Mie oft bie Rofen drauf im Garten blühten, 
Sagt mir an feinem Tag das ſchneeige Haupt. 


Was wird mir all das nad bes Leibes Hingang 
Wohl frommen, jei es Gutes oder Böjes, 
Wenn, was ih war, mein Sterben hat vernichtet ? 


Feſt fteht das Eine: Was du immer bift, 
Die Welt, der du gedient, ift dir verloren, 
Gott haft du nicht gefucht, und ihm gehörft du. 


So mög’ bie fünd’ge Seele doch zuletzt 
Die Torheit laffen; kann fie mit Verdienſt 
Gott nit lobpreifen, mit der Stimme doch! 


Bei Tag und Naht ertönen ſoll ihr Lied, 
Kampf führen wider Trug und Härefie, 
Eifrig erforfchen die Fatholifche Lehre, 


Der Heibenvölfer Opfer niebertreten 
Und jhmähen deine hohlen Götzen, Rom, 
Den Märtyrern fingen, bie Apoftel preifen. 


Und während ich dies fchreibe ober jage, 
Mög’ ich, befreit von dieſes Leibes Feſſeln, 
Dahin entſchweben freud- und glanzerfüllt, 
Wohin des Liedes letzter Klang mich trug! ! 


Die feften biographiichen Daten, welche uns das Gedicht gibt, find 
fümmerlih. Der Dichter wurde unter dem Konſulat des Salia, alfo 348, 
geboren, elf Jahre nad) dem Tode Konftantins des Großen. Seine Kindes: 
und Knabenjahre fielen in die Zeit des arianijchen Kaiſers Stonftantius 


ı Prooemium (Migne, Patr. lat. LIX 767— 776), überjegt vom Verfaſſer. 


156 Elftes Kapitel, 


und des apoftafierten Julian. Als der Ehrift Jovian den Thron beſtieg, 
war Prudentius fünfzehn Jahre alt. Unter den Kaifern Valentinian I. und 
Gratian vollendete er feine rhetoriihen Studien, zu melden er ungewöhn— 
fies Talent und ebenjo großen Fleiß mitgebradht haben muß, da jeine 
jpäteren Dichtungen eine ausgebreitete Kenntnis der klaſſiſchen Literatur und 
eine bewunderungswürdige Gemwandtheit in allen Formen der Hafliichen Poeſie 
borausfeßen. Als Rhetor und Rechtsanwalt auch praktiſch vorgebildet, betrat 
er dann die römiſche Beamtenlaufbahn, erlangte die Statthalterfchaft zweier 
Ipanischen Provinzen und ftieg endlih, wahrſcheinlich erft unter Kaiſer Theo- 
dofius, zur Würde eine$ Praefectus praetorio empor, die ihn an die Nähe 
des Kaiſers fefjelte. Sein jpäteres Gedicht gegen Symmachus madht es 
wahrſcheinlich, daß er mit dem jungen Kaiſer Honorius und deſſen Feld— 
herren Stiliho nah Rom kam und mit den religiöfen Berhältniffen und 
Überlieferungen der Welthauptftadt perfönlich aufs genaueite befannt wurde. 

Im Jahre 405, bereit 57 Jahre alt, verfaßte der unzweifelhaft reich 
begüterte und hochangeſehene Kronbeamte das eben mitgeteilte Gedicht, in 
welhem er mit tiefer Enttäufhung und heiligem Schmerz auf die Eitel- 
feit feines bisherigen Weltlebens zurüdblidt und den Entſchluß ausſpricht, 
den Reit feines Lebens einzig dem Lobe Gottes und den religiöjen Intereffen 
zu widmen!. Ob feine Anklage über die fittlihen Verirrungen jeiner Jugend 
im ftrengften Sinne oder nur als Ausdrud tiefer Demut eines nad dem 
Höhften ringenden und darum aud die Hleinften Jugendſünden ftreng 
rihtenden Herzens zu fallen ift, läßt ſich nicht mit voller Sicherheit ent- 
Iheiden. Die Belenntniffe des Hl. Auguftin laffen das erftere nicht als un— 
möglich erjcheinen. Es mar eine wirre Zeit, in welcher da3 Chriftentum 
no allüberall mit dem Heidentum und der Härefie zu ringen Hatte, die 
Verderbnis des Heidentums ſich noch in erichredendem Maße geltend madhte 
und viele Chriften in Sünde und Lafter mit hineinzog. Anderſeits aber 
ſpiegelt fi in feinen Werken eine fo flare Auffaffung der gefamten chriftlichen 
Dogmatik im Gegenjaß zum SHeidentum wie zu den damals vorherrichenden 





i H.Middeldorpf, De Prudentio et theologia Prudentiana, Vratisl. 1823 
1827.— F. Delavigne, De lyrica ap. Prud. poesi, Toulouse 1848. — J. B. Brys, 
De vita et scriptis Prud., Lovan. 1855. — EI. Brodhaus, U. Prudentius ET. 
in feiner Bedeutung für die Kirche feiner Zeit (Anhang: Überfegung der Apotheofis), 
Leipzig 1872. — X. Rösler, Der katholifhe Dichter AU. Prudentius El., Frei- 
burg i. B. 1886. — A. Puech, Prudence. Etude sur la po6sie latine chretienne 
au IV"* siöcle, Paris 1888. — A. Zaniol, A. Prudenzio Cl. poeta eristiane, 
Venezia 1889, — G. Boissier, Etudes d’histoire religieuse. Le poöte Prudence, 
in Revue des Deux Mondes XCI (1889) 357—390; La fin du paganisme II, Paris 
1891. — Weitere Literaturangaben in ber Ausgabe von Drefjel, bei Ehe 
valier (Repertoire), Gams (Kirdengeihichte von Spanien II 337—8358), Ebert, 
Manitius. 


Prubdentius, 157 


Irrlehren, eine ſolche Begeifterung für den Glauben, ein jo warmes Um— 
faffen der praftiichen chriftlichen Lebensideale, eine jolde Vertrautheit mit 
denn hriftlichen Gebetsleben und der chriftlihen Nölefe, daß es fchwer 
fällt zu glauben, Prudentius ſei nicht ſchon von Jugend auf im fatho: 
lichen Glauben aufgewachſen und Habe nicht im mejentlihen nad diejem 
Glauben gelebt. 

Als durhaus unhaltbar aber muß die Anficht jener abgemwiejen werden, 
welche meinen, er habe erſt nad jenem erſten Rüdblid im Jahre 405 
begonnen, fich der religiöfen Dichtung zu widmen. Viele Stellen feiner Werte 
mweijen in eine frühere Zeit zurück. Der Prolog jelbft aber haralterifiert 
feine ſämtlichen Werfe, wenn auch furz, fo doch ganz deutlih und Klar, wie 
es faſt nur möglih war, wenn fie im weſentlichen ſchon abgeſchloſſen vor 
ihm lagen, ja fogar in der Reihenfolge, wie fie ungefähr entitanden find !, 

Tag und Naht foll feine Seele unausgejegt Gott loben — das ge— 
ihieht in feinem „Tagesliederbuch“ (Cathemerinon, zadnuepwov), einer 
Sammlung von Hymnen für die verfchiedenen Zeiten des kirchlichen Offiziums 
wie für beftimmte Tage und Feſte. Seine Seele foll die Härejien be: 
fümpfen und den katholiſchen Glauben auseinanderjegen — das verwirklicht 
fih in jeinem polemiſch-dogmatiſchen Lehrgedihte, der „Apotheofis“, worin 
er die Gottheit Chriſti verteidigt und erklärt, der „Hamartigenie”, worin er 
die Lehre vom Sündenfall gegen verjchiedene Irrtümer abgrenzt und dieje 
zurückweiſt, und der „Pſychomachie“, welche den fittlichen Kampf des Menſchen 
hienieden in allegorischer Weile zur Darftellung bringt. Er will dann das 
Heidentum und die faljchen Götter Roms befämpfen, und dies geſchieht in 
feinen zwei Büchern gegen Symmadhus. Er will endlid die „Märtyrer 
befingen und die Apoftel preifen“, und das leiftet er in feinen herrlichen 
„Siegeskränzen“ (Peristephanon, zept orepdvav), einer Reihe von Lob: 
gejängen auf die Apoftel und die Blutzeugen der erften Jahrhunderte?. 


’ Einzeln jheint er fie ſchon früher veröffentlicht zu haben. Vgl. C. Wey- 
man, Prudentius und Sulpitius Severus, in Hiftorifhes Jahrbuch XV, Münden 
1894, 370—872. 

? Die Schriften des Prudentius wurden im Mittelalter viel gelefen; daher find 
von benjelben zahlreihe Handichriften erhalten (die bedeutendfte in Paris, aus dem 
6. Jahrhundert, Cod. Puteanus 8084). Sie wurben ebenfalls ſchon fehr früh ge- 
druckt (Deventer 1472 1492, dann zu Venedig, Bafel, Lyon, Paris ufw.) — Neuere 
Ausgaben von F. Arevalo, Rom 1788—1789; abgebrudt bei Migne, Patr. lat. 
LIX LX; von Th. Obbarius, Tübingen 1845; A. Drefjel, Leipzig 1860. — 
Überjegung der Tageslieder, Seelentämpfe und Siegesfränge von P. Silbert, Wien 
1820; der Apotheofis von El. Brodhaus, Leipzig 1872; einiger Hymnen bei 
Schloſſer, Freiburg 1863 ufw. — F. St. J. Thackeray, Translations from 
Prudentius, London 1890. — J. Bergman, Fornkristna Hymner. Dikter af 
Prudentius. Svensk tolkning med historisk inledning, Göteborg 1895. 


158 Elftes Kapitel. 


Das „Tagesliederbuh“ des Prudentius enthält zwölf Hymnen, deren 
erſte ſechs den Haupttagzeiten im liturgifchen Sinn entipreden. Sie befien 
aber nicht die Inappe Abrundung der ambrojianiihen Hymnen, tragen auch 
ftellenweije ein mehr jubjeltives Gepräge, und wenn aud fein Zweifel darüber 
walten fann, daß fie im Anſchluß an das liturgifche Gebet der Kirche ent- 
ftanden find, jo ift es doch immerhin fraglih, ob Prudentius fie zu litur- 
giſchem Zwecke gedichtet hat, und ob und wieweit fie in der alten ſpaniſchen 
Liturgie Verwendung fanden. Sie beginnen mit einem „Lied beim Hahnen= 
ſchrei“, dann folgt ein „Morgenlied“, ein „Lied vor und nad) dem Eſſen“, ein 
„Lied beim Anzünden des Lichtes“ und endlich ein „Lied vor dem Schlafen- 
gehen“. Das „Lied beim Hahnenſchrei“ berührt fi im Versmaß (jambiſcher 
Dimeter) wie in feinem Hauptgedanten mit demjenigen des hl. Ambrofius, 
ift aber dreimal länger, führt die allegoriihe Deutung der Naht als Nacht 
der Sünde viel weiter aus und fpielt lebhaft auf die Belehrung des Dichters 
an, wie fie der Prolog jhildert. In ähnlicher Weile behandelt das „Morgen- 
lied" das Erſcheinen der Sonne ſymboliſch für das Erjcheinen Ehrijti und 
führt dieſes Motiv dann meiter aus. Die zwei Tiichgebete, von denen das 
erjte über 200 Berje zählt, find von ftrengem asketiſchem Bußgeifte ge: 
tragen. ine ergreifende weihevolle Stimmung durddringt die erhabenite 
Symbolit in dem herrlihen „Lied beim Anzünden des Lichtes“, das die 
ihönften Bilder und Anklänge der Karfamstags-Liturgie in fi vereinigt 
und deshalb von einigen al ein eigentlihes Karſamstags-Lied gedeutet 
worden if. Das „Lied vor dem Schlafengehen“ endlich enthält Strophen, 
weldhe dem Hymnus des jegigen römiſchen Gompletoriums entiprechen, läßt 
denjelben aber eine tiefpoetiihe Schilderung des Schlummerd jowie der 
Schredniffe der Naht vorausgehen, an melde fih dann die liturgijchen 
Bitten knüpfen. 

Bon den zwei „taftenlievern” ift das erfte das längfte Gedicht der 
ganzen Hymnenjammlung; es zählt 220 jambiſche Trimeter. Die Anſchau— 
lihfeit, mit welder das Faſten des Elias, des Mojes, Johannes’ des Täufers, 
der Niniviten und des Erlöſers ſelbſt gezeichnet ift, gibt ihm einen kräftigen 
epiihen Zug wie der Mythos den pindarifchen Oden. Da & fih nicht 
ums Trinken, fondern ums Faften handelt, fo mögen das mande Äſthetiker 
nicht für poetiſch halten; allein die marfige Kraft, mit der z. B. Chriftus 
Hier als fiegreicher DBefreier des in Sklaverei ſchmachtenden Menſchen ges 
zeichnet ijt (Emancipator servientis plasmatis, regnantis ante vietor 
et cupidinis), entbehrt hoher poetiſcher Schönheit fiher nicht. Das zweite 
Faftenlied (in 20 fapphifchen Strophen) hat mehr eigentlich Iyrifches, ſub— 
jettiveg Gepräge. 

An dieje acht Gejänge reiht fih noch ein „Lied zu jeder Stunde zu 
fingen“, ein chriftliches „Beerdigungslied“, ein Lied auf „Weihnachten“ 


Prubdentius, | 159 


und eines auf „Epiphanie”. Aus den lehteren find vier Bruchftüde als 
Hymnen in das römische Freftoffizium übergegangen und zählen zu deſſen 
Ihönften Perlen. Es find die Hymnen Quicumque Christum quaeritis 
und? O sola magnarum urbium für Epiphanie, die Heinen Hymnen 
Salvete, flores martyrum und Audit tyrannus anxius am Feſte der 
Unſchuldigen Kinder. Es find Meifterftüde der zarteften Lyrik, die aber erft 
im Zufammenhang des ganzen Hymmus zur vollen Geltung fommen und 
die reiche Geftaltungsfraft des Dichter im ihrer ganzen Fülle zum Ausdrud 
bringen. Nicht minder anmutend ift das in Nnapäften abgefahte „Be: 
erdigungslied“. Als Probe des mächtigen Schwunges aber, der die Poefie 
des Prudentius durchdringt, möge hier das „Lied zu jeder Stunde zu fingen“ 
einen Platz finden. Es enthält den eigentlihen Zentrafgedanfen des Dichters 
und den Grundafford feiner Dichtung: feine Liebe zu Chriſtus. 


Reich das Pleftrum mir, o Knabe, dab ich vor der Gläub’gen Schar, 
Daß ih Chriſti Wundertaten finge freudig, hell und Har, 
Dem allein gilt unfre Mufe, Lob und Lied und Dank fürwahr! 


Ehriftus ift’s, von deſſen Kommen ſchon der Priefterfönig fang, 
Dem zu Zamburin und Harfe jüh fein Feierlied erflang, 
Das begeiftert in das Herz ihm goß bes Heil’gen Geiftes Drang. 


Längft erfüllt und Tängft erwiefen flaunen wir die Wunder an, 
Zeugin ift die Welt; die Erde, was fie jah, nicht leugnen Tann, 
Daß Gott fi zu offenbaren, ung zu nahen liebenb fann. 


Aus des Vaters Schoß geboren vor des Weltenalld Beginn, 
A und O ift er, der Dinge Urquell und ihr Schlußgewinn, 
Des VBergangenen, Gegenwärt’gen und der Zukunft Sein und Sinn. 


„Werbe*, ſprach er und es wurden, „Sei*, und alsbald trat ins Sein 
Erde, Ozean und Himmel mit der Wefen langen Reih'n, 
Welche unter Mond und Sonne alle fich des Dafeins freun. 


Glieder, bie bem Tod verfallen, fterblich menſchliche Geftalt 
Nahm er an, um zu gebieten dem Verderb ber Menſchheit Halt, 
Die gefallen durch die Sünde in des Höllenreihs Gewalt. 


Selige Geburt des Sohnes, da durch Heiligen Beiftes Kraft 
Eine Jungfrau, zugleih Mutter, aller Welt das Heil verichafft, 
Als ihr Kind, Gott und Erlöjer, aller Lieb’ zu fi entrafft. 


Singt, ihr ſel'gen Engelicharen, finget froh, ihr Himmelshöh’n! 
Wem ein Lied nur ift beihieden, fing’ in freudigem Getön, 
Ale Sprachen, alle Zungen, Hingt zufammen traut und ſchön! 


Den in alterdgrauer Vorzeit pries des Sehers Liederton, 
Den Propheten uns verheigen und glaubwürd'ge Rollen ſchon, 
Er ftrahlt vor uns, lobt ihn alle, lobt und preift den Gottesjohn! 





160 Elftes Kapitel. 


Sieh, das Waffer in bem Becher wandelt duftend fih in Wein, 
Und gefüllt, jo mahnt der Diener, ſtehn die Amphoren von Stein; 
Staunend preift der Herr des Gaftmahls: Könnt’ ein Trunk noch würz'ger fein? 


Waſcht, ipricht er, die kranken Glieber, die ber Ausſatz hat verheert, 
Fäulnis jammervoll zerfreffen. Es gejhieht, was er begehrt, 
Und mit frischer Haut umfleibet prangt der Körper unverjehrt. 


Augen, die in ew’gem Dunkel ftarrten und in Todesnacht, 
Hat mit feines Mundes Nektar Staub er ſeuchtend Heil gebradit. 
Und fie hauen hochbeſeligt jet des Vichtes frohe Pradit. 


Tadelnd ruft er an den Sturmwind, der mit wildentbrannter Wut 
Peitſcht den See und droht das Schifflein zu verjenken in die Flut, 
Und kaum hat er ausgefproden, friedlich fon die Woge ruht. 


Ganz verborgen hat das Weib nur feines Kleides Saum berührt — 
Und geftitit ift ſchon der Blutfluß, der zum Tod fie fait geführt, 
Freudig färbten fi die Wangen, und gerettet fie fi fpürt. 


Allzufrüh entrafft der Jugend dur ben Tod ber Jüngling ſcheint, 
Deſſen Sarg die Mutter folgend, eine Witwe, ſchmerzlich weint. 
„Stehe auf!“ ſpricht er, und lebend Sohn und Mutter find vereint, 


Lazarus bereits vier Tage in bed Grabes Dunkel ruht, 
Als dem Modernden fein Machtwort fpendet neue Vebensglut : 
Die Verwejung weit, und wieder riefelt dur den Leib das Blut. 


Auf des Meeres Fluten wandelt er einher mit fiherm Tritt, 
Und die Wellen, fo beweglich, feiten ſich bei feinem Schritt, 
Keine wanlet, feine weichet, alle tragen freubig mit. 


Der Beſeſſ'ne aus der Höhle, ſchwer bebrüdt von SKettenlaft, 
Bon der Raferei gepeinigt, eilt herbei in wilder Haft; 
Denn daß Chriftus ift erjhienen, hilfefuchend er erfaßt. 


Aus dem Leib vertrieben, ſtürzet zahllos der Dämonen Brut 
Auf die Schar der ſchmutz'gen Tiere und treibt fie mit toller Wut, 
Si zugleich und fie verberbend, in des Sees tieffte Flut. 


Mit fünf Broten, mit zwei Fiſchlein hat des Höchſten Wundermadht 
Tauſende, die dort fi) lagern, alle, alle fatt gemadit, 
Und zwölf große Körbe füllet noch der Überrefte Fracht. 


O du unfer Brot und Speife, o bu ew’ge Süßigfeit, 
Wer bein Heil’ges Dahl genofjen, darbet nicht in Ewigkeit, 
Weil es Nahrung nicht des Leibes, nein, ber Seele hält bereit. 


In des Ohrs verborgne Windung dringet Ehrifti mädtig Wort, 
Macht es jedem Ton empfängli, räumt der Taubheit Mauer fort, 
Jede Stimme, jedes Säufeln tönet freudig wieder bort. 


Jedes Siechtum wird vertrieben, jebe Krankheit muB entfliehn, 
Zungen, bie noch nie geſprochen, wird ber Rede Schaf verliehn, 
Und, mit ihrem Bett beladen, durch die Stabt die Bahmen zieht. 


Prudentius, 161 


Selbft hinab bis in bie Hölle bringt er voll Erbarmen ein, 
Heil und Segen dort zu jpenden, fprengt der Tore mächt'gen Schrein, 
Daß die nie erichloff’nen Riegel flaffend fi vor ihm entziwein. 


Und bie Tür’, die alle aufnimmt, feinen aber läßt mehr gehn, 
Muß ihr altes Recht befeitigt und befreit die Toten fehn; 
Ihr Geſetz ift aufgehoben, fürder gibt's ein Auferftehn! 


Aber während Gott bes Todes Schlund mit feinem Licht erhellt, 
Während heller Tag erftrahlet in dem Schoß ber Unterwelt, 
Da erbleihen alle Sterne trauernd an des Himmels Zelt. 


Und die Sonne floh, verbarg fi, nur ein trübes Dämmerlicht 
Blutig dunkel noch durchblitzet die zerriff'ne Wollenſchicht, 
In bes Chaos Naht verfintend, ſcheint's, der Weltenbau zerbridt. 


Nun erhebe froh die Stimme, finge, Zunge, hochentzückt, 
Feire ben Triumph des Leidens und das Kreuzholz fiegbeglüdt, 
Feire laut das hehre Zeichen, das bie Stirn ber Sel’gen ſchmückt. 


O ber neuen Todeswunde wunderbare Herrlichkeit! 
Hier fließt Wafler, das in Strömen alle Welt von Schuld befreit, 
Dort fließt Blut, das triumphierend hält den Siegesfranz bereit. 


Als die Schlange fah das Opfer rein und ſchuldlos dargebradit, 
Hat ihr altes Gift verloren feine bittre Todesmacht, 
Ziſchend krümmt fie fi im Staube, überwunden, jchmerzentfadht. 


Sag, was hat es bir gefruchtet, arge Schlange, daß voll Zug 
Du verdbarbft die erften Menſchen mit der Sünbe Heuceltrug ? 
Für die Schuld tat jeht ber Höchſte, Gott und Menſch zugleich, genug. 


Kurze Macht nur hat bem Tode über fi) der Herr verliehn, 
Daß die Toten, die Begrabnen, deren Sünden nun verziehn, 
Seiner Herrihaft alten Banden fönnten ungeftört entfliehn, 


Mit den Bätern viele Heilige gaben drum in Feſtlichkeit 
Ihrem Herrn am britten Tage, da er auferftand, Geleit, 
Kehrten aus bem Grabe wieder in das Land der Zeitlichkeit. 


Sieh! Es ftehen ihre Glieder aus der bürren Aſche auf, 
Und den kalten Staub durchdringet Iebenswarm des Blutes Lauf, 
Knochen weben fih und Sehnen, und e8 fpannt die Haut fi drauf. 


Dann, nachdem ber Tod bezwungen und bas Beben ift geftählt, 
Zu des Vaters Richterftuhle fteigt der Sieger auserwählt, 
Mo von jeines Leidens Glorie jeiner Wunden Schmud erzählt. 


Der Lebend’gen und der Toten König, Richter, Heil fei bir, 
Der bu an des Waters Seite ihroneft in des Himmels Zier, 
Der bu einst zu richten fommeft alle mit dem Kreuzpanier. 


Greife, Knaben, Heine Kinder jollen laut dich benebein, 

Der Jungfraun und Mütter Scharen und die Mägdlein hold und rein 

Did in keuſchen, ſüßen Liedern ewig preifen im Verein. 
Baumgarfner, Weltliteratur. IV. 3, u. 4. Aufl. 11 


162 Elftes Kapitel. 


Wafferfturz und Meeresbrandbung, Wald und Flur und Raum und Zeit, 
Sommer, Winter, Schnee und Regen, Naht und Tag und Nah und Weit, 
Alle Weſen follen jubeln bir in alle Ewigkeit! ! 


Als zweite Aufgabe feiner Dichtung bezeichnet Prudentius in feinem 
Prolog die Belämpfung der Härefien und die Erklärung des katholiſchen 
Glaubens: 


Pugnet contra haereses, catholicam discutiat fidem. 


Die beiden Momente find dabei nicht getrennt zu denken, jondern 
vereint. Prudentius wollte weder theologische Traktate noch polemiſche Wider: 
fegungen in Verſe bringen, fondern die großen religiöjen Fragen, melde 
während der legten Jahrhunderte die Geifter jo mächtig beihäftigt Hatten, 
in poetijcher Weife behandeln. Bon dem neueften Irrlehrer, Priscillian, 
defien Jrrtümer damals Spanien und Gallien aufs lebhaftefte beunruhigten, 
ift nirgends ausdrüdlih die Rede, wohl aber von den Jrrtümern der 
Sabellianer, Batripaffianer, Arianer, Gnoftiler und Manichäer, in deren 
Belämpfung ſich der Eirchliche Lehrbegriff zu immer vollerer Klarheit entwidelt 
hatte, und die darum auch dem Dichter Gelegenheit boten, die Fundamental: 
lehren des Ghriftentums von Gott, von Chriſtus, von der Erlöfung, von 
der Sünde und vom Sündenfall, vom Kampfe gegen das Böje zugleih klar 
und deutlich, lebendig, phantafievoll und poetifch zu geitalten ?, 

Daß ih aber ein fo begabter Dichter mit ſolchem Eifer dem Lehr: 
gedichte zumandte, kann nicht befremden. Die Römer hatten dieje Art immer 
mit Vorliebe gepflegt. Lucilius, Lucrez, Horaz wieſen auf dieſen Weg. 
Wer es poetiſch findet, daß Lucrez das troftlofefte aller Syfteme, den nadten 
Materialismus und Atheismus, in Herameter gebradht Hat, wird es dem 
Hriftlihen Dichter nicht verdenfen, wenn er den Verſuch machte, die er— 
habenen Myfterien des Chriftentums in wahrhaft dichteriſcher Weife gegen 
phantaftifche Kebereinfälle zu verteidigen. Die jog. „geiunde Sinnlichkeit“, 





* Cathemerinon IX. Hymnus omni hora (Migne, Patr. lat. LIX 862—875), 
überjegt vom Verfaſſer; im rhythmiſchen Versmaß bes Originals, aber mit Reimen, 
bie im Lateinifchen fehlen. 

s Die Frage, inwieweit Prubdentius dabei dennoch Priscillian im Auge hatte, 
gehört in das theofogifhe Gebiet. Val. darüber S. Mertle, Prubentius und 
Priscilian, in Tübinger Theol. Quartalirift LXXVII (1894) 77—125; U. Rösler, 
Art. „Prudentius“, in Wetzer und Weltes Kirchenlexikon X? 580; Fessler- 
Jungmann, Institutiones Patrologiae Il, Oeniponte 1892, 441. — „Daß Pru- 
dentius durch den Priscillianismus zu einigen feiner Dichtungen angeregt wurde und 
auf denſelben Rüdfiht nimmt”, gibt auch Merkle (a. a. O. 79 125) zu. — Die 
von J. SchepE herausgegebenen Schriften Priscillians (Priscilliani quae supersunt, 
Vindobonae 1889) entlaften bie Priscillianer nicht von den anderweitig gegen fie er- 
hobenen Anflagen, da fie nachweislich ihre Hauptirrtümer als Geheimlehre behandelten. 


Prudentius. 163 


d. 5. die niedern Gelüfte der Menſchen, hat er dabei allerdings nicht für 
fi; aber jeine Gedanken bewegen ſich in einer Weltanfhauung, welche die 
höchſte Harmonie befißt, und den Herameter beherrjcht er nicht minder glüdlich 
als in feinen Tagesliedern die Strophengebilde des Horaz, ja jeine Verſe 
fließen oft entſchieden beſſer als jene des Lucrez. 

Das erfte feiner dogmatiſchen Gedichte, die „Apotheofis“, ift den Ges 
heimniffen der allerheiligften Dreifaltigkeit und der Erlöſung gewidmet. 
Majeftätiich zeichnet der Prolog in wenigen Verſen, Dantes würdig, die 
Zrinitätslehre und flellt der ewigen, jeligen Dreieinigkeit in echt poetiſchem 
Kontraft da3 tolle Gewirr der menſchlichen Irrtümer gegenüber, die, von 
Hochmut geftadhelt, von Leidenschaften gepeitiht, wie Straßenräuber ſich 
an dem Emigen vergreifen und den wahren Glauben in dem Neb ihrer 
hadernden Meinungen erftiden. Boll Überzeugung und Begeifterung tritt 
der Dichter dann in die Schranken und verteidigt die gottmenſchliche Ge- 
alt Jeſu ChHrifti gegen die Wahngebilde der Patripajfianer, der Sabel- 
lianer, der Juden und der verfdhiedenen Sophiften, welche bald Gottheit, 
bald Menjchheit, bald beide zugleih Hinwegzukritteln, zu umbüftern und 
zu entwerten verfucht hatten. In der lebhaften Debatte erhebt fih das 
Bild des Gottmenfchen immer klarer, heller, liebenswürdiger vor und, wie 
es gleihfam im Kampfe der erften Jahrhunderte im Schoße der Kirche 
immer voller und ſchöner herborgetreten if. Das begeifterte Wort des 
Dichters reift ung am Schluß zu der glühenden Überzeugung hin, daß 
in der Bereinigung von Gottheit und Menjhheit unfere größten ntereffen 
liegen, daß es in Chriſti Tode unſere Erlöfung, in feiner Auferftehung 
unjer ewiges, feliges Leben gilt. 


Christus nostra caro est, mihi solvitur et mihi surgit. 
Solvor morte mea, Christi virtute resurgo; 

Cum moritur Christus, cum flebiliter tumulatur, 

Me video: e tumulo cum iäm remeabilis adstat, 
Cerno Deum.... 

Pellite corde metum, mea membra, et credite vosmet 
Cum Christo reditura Deo; nam vos gerit ille, 

Et secum revocat: morbos ridete minaces; 

Inflietos casus contemnite; tetra sepulcra 

Despicite; exsurgens quo Christus provocat, ite. 


Chriſtus ift unjeren Bluts. Mir ftarb er, mir ift er erſtanden. 
Raffet der Tod mich dahin, durch Chrifti Allmacht erfteh’ ih; 
Leidet Chriftus ben Tod, wird er unter Tränen begraben, 
Sehe ih mid; wenn er, dem Grabe entronnen, vor mir ſteht, 
Schaue ih Gott... . 
Scheucht aus dem Herzen bie Furcht, meine Glieder! O glaubet: 
Chriſtus bringet zu Gott euch wieder. Er führt eud, 

11* 


164 Elites Kapitel. 


Nufet mit ſich euch zurüd: O fpottet der drohenden Krankheit, 
Achtet die Schläge nicht des Schidfals, heget fein Grauen 
Vor den Schreden bes Grabs. Folgt froh dem Ruf des Erftand’nen! ! 


Das zweite dogmatiiche Gedicht des Prudentius, die „Damartigenie“ ? 
oder der „Uriprung der Sünde“, behandelt die Lehre vom Sündenfall oder 
bom Urfprung de3 Böſen in nit minder echt poetiicher Weile. Ein 
Aſthetiker, dem der chriftliche Katechismus, die bibliſche Geſchichte und die 
bibliihe Typik fremd geworden oder nie geläufig geweſen ift, wird freilich 
an diefer Widerlegung des manichäiſchen Dualismus wenig Schönes finden. 
Wer fih aber in diefer Welt zu Haufe fühlt, der wird ſchon den Meifter: 
griff des Prologs bewundern, in welchem Abeld Tod mit feiner typiſchen 
Bedeutung in den ergreifenditen, konkreten Zügen in den Vordergrund ge: 
rüdt ift, um der großen dogmatifdhen Frage zugleih den faßlichſten und 
tiefften Ausgangspunkt zu geben. Ein Aeſchylos und Sophofles hätten, wenn 
fie Ehriften gewejen wären, die Sache nicht poetiſcher anfaflen können. Mit 
zündender Satire? ift das angeblihe Prinzip des Böſen ald der „Gott 
Marcions“ geſchildert. In wahrhaft klaſſiſcher Form und Sprache beichreibt 
Prudentius jodann die Wirkung des Sündenfall® auf die fidhtbare, dem 
Menſchen bi dahin untergebene Schöpfung. 


Da nun gejündigt der Menſch, ba fiel der herrliche Erbfreis, 
Zum Palaft ihm beftimmt, anheim dem raſchen Berfalle 

Und nahm teil an dem Fluch, der feinen Herren getroffen. 
Schleichende Kletten und Lolch Täht zwifchen verborbenen Feldern 
Boshaft ſprießen der Grund in ſchlechtbefruchteter Scholle, 
Schändet die Weizenfaat mit leeren, erbärmlichen Halmen. 
Jetzo, da fie das Blut unſchuldiger Rinder gekoſtet, 

Bernen bie grimmigen Leu'n aud Stiere, die jhon gezähmt find 
Und gewöhnt an den Pflug, unb ben Hirten jelber verzehren. 
Bon der Lämmer Geblöd gelodt an bie friedliche Hürde, 
Sinnet der Wolf bei Naht, das Gehege morbend zu brechen. 
Alle Tiere erfüllet der Hang nah räub’riihem Truge, 

Und bösartiger Grimm ſchärft die entarteten Sinne. 

Mag der Steinwall auch die blühenden Gärten umſchirmen, 
Dit die Hede umziehn von allen Seiten den Weinberg, 

Der Heufchreden gefräßiger Schwarm zernaget die Keime 

Ober die Traube zerfleifht der Schnabel gieriger Vögel. 
Pflanzen, die heilendes Gift zuvor gehegt in den Fibern, 
Mandeln in töblihen Trant jet ihre fchwellenden Säfte. 


! Apotheosis ®. 1047—1051 1081—1085 (Migne, Patr. lat. LIX 1003 fi). 

? Spezialandgabe (nah den Cod. Casin. 374 und Vatic. Reg. 2078) von 
%. Bergman, Upfala 1897. — Vgl. Stimmen aus Maria-Laach LV (1898) 458. 

2 G. Boiffier ftellt deshalb Prudentius dem Juvenal an die Seite, in Revue 
des Deux Mondes XCI (1889) 379. 


Prudentius. 165 


Siehe, ein ſchädlicher Duft wallt aus den zarten Gebüſchen, 
Während zuvor die Natur jelbft harmlos hegte den Schierling, 
Und die tauige Blüte, die dem Dleanber jo jchön fteht, 

Spielenden Zidlein bot ein redlich nährendes Futter. 

Selbit ber freundliche Bund der Elemente fich löſet; 

Kämpfend in wildem Gewirr, fie rafen dahin und dorthin, 
Brechend jebes Geje und rüttelnb gewaltfam am Erbfreis. 
Regenihauer und Wind zerfnicden die fchattigen Haine; 

Unter dem Wüten des, Sturms entwurzelt fallen die Wälder; 
Schäumend in tobender Haft ftürzt fich ber geſchwollene Waldſtrom, 
Damm durchbrechend und Wall, auf das troßende Ufer und drüber 
Und ergiehet die Flut weithin durch die Adergefilde '. 


In feinfter künſtleriſcher Weile wird die Rebellion der Sinne ala 
Folge des Siündenfalld dargeftellt; in voller Klarheit tritt der Mißbrauch 
des freien Willens als die eigentliche Urfache der Sünde, als der Störenfried 
der ethiſchen und phyſiſchen Weltordnung hervor. Leider können wir nicht 
beim einzelnen verweilen. Der Dichter verſenkt fich bei der Betrachtung 
der Sünde zulet tief in feine eigene Sündhaftigfeit, und die Dihtung klingt 
darum in ernften, gedämpften Attorden der Demut und Reue aus. Mögen 
andere, die Schläfen mit dem Siegeskranz umſchlungen, in unermeßlichem 
Lichte ſtrahlen, er fleht, dab Barmherzigkeit ihm die Flammen der Strafe 
auf ein Mindeſtmaß befchränte. 


Lux immensa alios et tempora vincta coronis 
Glorificet, me poena levis clementer adurat! 


In feinem dritten dogmatiſchen Gedichte zeichnet Prudentius die Be 
deutung der menſchlichen Freiheit nad) einer andern Seite: im Kampfe des 
Guten und Böfen um die Menjchenjeele. Daher der Titel „Der Seelen: 
fampf“ (Psychomachia). Die Geftaltungsfraft des Dichters zeigt ſich dabei 
wieder von einer neuen Seite. Er faht die Seele nebft den Tugenden und 
Laftern als allegoriihe Figuren und führt den Kampf in völlig epijcher 
Form duch. Er, der Spanier, ift damit der Vorläufer des allegoriichen 
Autos geworden, das fpäter in Lopes und Galderons Schöpfungen ſich zur 
höchſten poetiſchen Vollendung geftalten ſollte. Dazwiſchen liegen freilich jo 
viele und jo froftige Nahahmungen, daß eine gemwiffe Abneigung gegen das 
allegoriiche Epos und Drama wohl verzeihlich erjcheinen mag?. Prudentius 


ı Hamartigenia ®. 218—243 (Migne, Patr. lat. LIX 1027—1029). Über« 
feßt vom Berfaffer. 

2 m Mittelalter war die „Piyhomadie* das beliebtefte unter ben Werfen bes 
Prudentins. Sie wurde mit Borliebe durh Miniaturen iluftriert, und foldhe 
illuſtrierte Handſchriften finden fi) beshalb noch im allen größeren Bibliothefen 
Europas. Die älteren Abbildungen find noch voll von eigentlich antifen Motiven 


166 ° Elftes Kapitel. 


jelbft Hat den allegoriihen Kampf friſch, lebendig und padend aufgefakt. 
Die einzelnen Perfonen find trefflich charakterifiert. So gleid eingangs der 
unbewaffnete, auf feine von Gott berliehene Kraft fußende Glaube, das in 
flolzer Eifenrüftung ftarrende Heidentum, die in lichtem Waffenſchmuck 
prangende Keufchheit, die in trübem Fackelqualm einherftürmende böfe Luft, 
der auf ftolgem Zelter fih brüftende Stolz, die mit dem ſchmeichelndſten 
Put ſich einſtehlende Wolluft. 


Luxuria, extinetae iam dudum prodiga famae, 
Delibuta comas, oculis vaga, languida voce, 
Perdita deliciis: vitae cui causa voluptas, 
Elumbem mollire animum, petulanter amoenas 
Haurire illecebras, et fractos solvere sensus. 


Das ift jo fein gezeichnet, wie Dvid zu zeichnen weiß, aber nit um 
zu betören, fondern um abzufchreden. Hier triumphiert nicht die Sünde, 
fondern die ewige Weisheit. 


Atque ubi peccatum regnaverat, aures templi 
Atria constituens, texat spectamine morum 
ÖOrnamenta animae: quibus oblectata decoro 
Aeternum solio dives Sapientia regnet. 


Der fruchtbare Nährboden, auf dem die Älteren und halb audgeftorbenen 
Härefien ji immer wieder von neuem berjüngten, war die weltliche, halb: 
heidniſche Gefinnung, welche ſich durch die fiete Berührung mit dem Heidentum 
bon den ältejten Zeiten an in den Kriftlichen Gemeinden geltend machte und 
ihon die Apoftel, befonders Paulus und Johannes, zur kräftigen Abwehr 
nötigte. Neben dem Weizen Chrifti tauchte aber nicht nur beftändig neues 
Unkraut auf, auch nad Konftantin dem Großen wucherte das Heidentum nod) 
ununterbrochen weiter und beherrichte gerade die höheren Stände, viele der 
alten Senatorenfamilien, einen großen Zeil der Beamtenmwelt, Rhetoren, 
Philoſophen und Dichter, Maler und Bildhauer, Schaufpieler und Spaß— 
madher mit feinen Anſchauungen und Erinnerungen, mit feinen Überlieferungen 
und Ideen. Ruhm und Wolluft blieb das Ziel der verfommenen höheren Ge- 
jellihaft, Brot und Spiele das Loſungswort der Plebs!. Wie die Flammen 
bei einer jchlecht gelöfchten Feuersglut, fladerte unter Julian das ganze 





und ſcheinen, wie ber vatifanifche Vergil, auf die Zeit bes weſtrömiſchen Reiches zurüd: 
zugehen. — Vgl. R. Stettiner, Die illuftrierten Prubentiushandiäriften, Berlin 
1895, 155 ff. 

! Ammian. Marcell., Hist. XIV c.56.— Allard, Rome au 4“* siecle 
d’aprös les po&ömes de Prudence, in Revue des quest. histor. XXXVI (1884) 5 f 
14 f. — 9. Grijar, Geſchichte Roms und der Päpfte im Mittelalter I (1898) 52—57. 
— G. Kurth, Les origines de la civilisation moderne I?, Paris 1888, 22—38, 


Prudentius. 167 


heidniſche Unweſen noch einmal lichterloh auf und ſchien die ganze chriſtliche 
Saat dreier Jahrhunderte vernichten zu wollen. Nur langſam gelang es 
den folgenden Kaiſern, den offiziellen Götterkult endlich einzuſchränken und 
zu unterdrücken. 

Als ſprechendſter Ausdruck dieſes offiziellen Götterkults galt das Weih— 
rauchopfer, das der römiſche Senat, die ehrwürdigſte Behörde des Reiches 
und die geſchichtliche Vertretung ſeiner Weltmacht, vor jeder Sitzung am 
Altare der Göttin Victoria darbrachte. Dieſes Opfer erhielt ſich von Auguſtus 
bis über die Zeit Konſtantins hinaus. Erſt Konſtantius ſchaffte es ab. 
Nahdem Julian Statue und Altar der Göttin wieder im Verfammlungs: 
faale des Senates hatte aufrichten lafien, wurde das gößendieneriihe Opfer 
von neuem dargebradt. Jovian und Balentinian I. ließen die heidniſche 
Sitte ruhig weiterbeftehen. Erit infolge der Geſetze, die Kaiſer Theodofius 
(in den Jahren 380 und 381) wider das Heidentum erließ, verordnete 
Gratian, daß der Victoria-Altar aus dem Sitzungsſaale des Senats entfernt 
werden und das Opfer aufhören follte. Aber ein Zeil des Senates pro— 
teftierte und jandte (382) eine Deputation, darunter den angejehenen Sym— 
mahus, von Rom nah Mailand zum Kaifer, um die bisherigen Staats- 
zuihüfje für den heidniſchen Kult und die bisherigen Vorrechte der heidnijchen 
Götzenprieſter zu verlangen. Nur der energijhen Dazwiſchenkunft des Papftes 
Damafus und des Biſchofs Ambrofius von Mailand gelang es, die Abficht 
des Senats zu durdfreuzen, und zwar jo wirkſam, daß der Kaiſer die Ge: 
ſandtſchaft nicht einmal vorließ!. Die heidniihe Senatspartei gab indes ihre 
Anhänglichkeit an die alten Götter auch jebt noch nicht auf. Nachdem Kaifer 
Gratian (383) ermordet, die Heiden Symmadhus und Prätertatug zu den 
höchſten Staatsämtern erhoben worden waren, jener zum Stadtpräfelten, 
diefer zum Praefectus praetorio, erneuerte fie im Sommer 384 Die 
früheren Forderungen durch eine Deputation an den Kaiſer. Die von Sym— 
madhus verfaßte Eingabe (Relatio Symmachi)? madte jo großen Eindrud 
im Rate des Kaiſers, daß jelbft die Chriften dem Verlangen des Senates 
zu willfahren rieten, Nur der hl. Ambrofius trat abermals jo entſchieden 
dagegen auf, dab der Kaiſer das Begehren abwied. Um aber aud den 
allzu nachgiebigen Chriſten am Hofe die Augen zu öffnen, verichaffte fich 
Ambrofius eine SAN: der Relatio und widerlegte fie jchlagend in zwei 


1G. Rauſchen, Jahrbücher der Kriftlichen Kirche unter dem Kaiſer Theo» 
bofius db. Gr., freiburg 1897, 119 126, 

® Q. Aurelii Symmachi quae supersunt, ed. O. Seeck, Berol. 1883. Monum. 
Germ. Hist, Auct. Antiquissimi VI, 1, 280—283. — gl. De Symmachi Rela- 
tionibus xvı—_xxı; Rauſchen a. a. O. 184 185. — Die Relatio auch abgebrudt 
in ben Werfen bes bl. Ambrofius (Epist. I 17; Migne, Patr. lat, XVI 
966-971). 





168 Elftes Kapitel. 


Denkſchriften, melde im faiferlihen Konfiftorium zur Berlefung kamen, 
Symmadus ließ diefelben unbeantwortet; nachdem er jedoch 389 Konful 
gerorden, jandte der Senat 390 wiederum eine Abordnung an Kaiſer 
Theodofius in Mailand, und wiederum jcheiterte ihr Bemühen nur an der 
Veftigkeit des Hi. Ambroſius. Einer vierten Gejandtihaft an Balentinian 
ging es 392 nicht beſſer?. 

Es war aber leichter, die geflügelte Victoria aus dem Sitzungsſaale 
des Senates zu verbannen, al3 die zähe Hartnädigfeit zu überwinden, mit 
welher Symmahus und feine Anhänger aud jet noch an den heibnijchen 
Überlieferungen hingen und ſich an den geringften Umftand anklammerten, 
der ihrer Sache no einen Schatten von Hoffnung zu bieten ſchien. Ja das 
Heidentum rüſtete fi jogar noch einmal zum offenen Berzweiflungsfampf 
gegen das Ghriftentum. Nachdem der fränkifche Heerführer Arbogaft 392 
den Kaiſer Balentinian II. hatte ermorden laſſen, übergab er die Regierung 
von Weſtrom dem Emporlömmling Eugenius, einem früheren Ahetor, der 
zwar getauft war, aber, um fi als Kaifer zu behaupten, alle riftlichen 
Intereffen darangab und fi mit dem fanatischen Heiden Flavianus Nico— 
mahus, Präfeft des Prätoriums für Italien, Illyrien und Nordafrika, ver: 
band, um den oſtrömiſchen Kaiſer Theodofius zu befämpfen und das Heiden- 
tum neu aufleben zu laffen. Die längft eingezogenen Tempelgüter wurden 
den Heiden zurüderjtattet, die verjchloffenen Tempel wieder eröffnet, der 
heidniſche Opferdienft mit größtem Aufwand wieder aufgenommen. Flavianus 
ſelbſt leitete als Oberpriefter feierliche Aufzüge zu Ehren der Iſis und des 
Oſiris, ließ die Megalefien zu Ehren der Eybele unter den alten Orgien 
begehen, machte gleih Julian das Taurobolium mit, unterwarf die ganze 
Stadt einer dreimonatlichen Sühnefeier (Luftration), durch welche fie von der 
Entweihung durd das Ehriftentum gejäubert und wieder den alten Göttern 
geweiht werden jollte, und verhieß dem Eugenius, geftügt auf Augurien und 
Opfer, unfehlbaren Sieg. Auf feine Feldzeihen ſetzte Eugenius das Bild 
des „unbefiegten Herkules”, und in den zunädft von Theodoſius bedrohten 
Päffen der Juliſchen Alpen wurden Statuen des Iuppiter latialis auf: 
gerichtet, welche mit ihren goldenen Donnerleilen die chriſtlichen Scharen des 
Feindes vernichten jollten ®, 

Diejer legte Sturmlauf des Heidentums war indes von noch fürzerer 
Dauer als jener Julians. Theodoſius bemächtigte fih mit unerwarteter Raſch— 


8, Ambrosii Epist. I1l8 (Migne, Patr. lat. XVI 971—982); I 57 (ebd. 
XVI 1174—1178). 

2Rauſchen, Jahrbücher der chriſtlichen Kirche unter dem Kaifer Theodo— 
fius d. Gr. 316 361. 

» Grijar, Gefhichte Roms und der Päpfte im Mittelalter IL 4—6; Rauſchen 
a.a. O. 366—369 410-414. 


Prudentius. 169 


heit der Julifchen Alpenpäffe. Flavian wurde in den erften Gefechten getötet. 
Die goldenen Donnerkeile fielen den Siegern in die Hände. Bei Aquileja 
ward am 5. September 394 Gugenius mit feiner Hauptmacht geſchlagen 
und verlor zugleih Thron und Leben, Als Sieger zog Theodofius in Rom 
ein umd befreite die Chriften von der drohenden Gefahr, die über ihrem 
Haupte geſchwebt hatte. Die Häupter der heidnifchen Partei behandelte er 
mit größter Milde, verfammelte aber den Senat und forderte ihn auf, ſich 
demütig der hriftlihen Religion zu beugen. Die Mehrzahl der Senatoren 
nahm die Aufforderung mit Beifallsruf entgegen und anerkannte das Chriften- 
tum al3 Staatsreligion. Nur eine halsftarrige Minderheit verjagte die Zus 
fimmung. Ein anonymes Gediht von 122 Herametern aus diefer Zeit 
jelbjt zeichnet den Jubel, mit welchem die Ghriften den Sturz der heidniſchen 
Partei begrüßten, hat aber literariich wenig Wert !. 

Solange der ebenjo kraftvolle als katholiſch gefinnte Theodofius lebte, 
ftanden die Hoffnungen der Heiden nunmehr jehr tief, faft ausſichtslos. 
Sobald er aber die Augen geihloffen (395) und das Rei für immer in 
ein weſtrömiſches und ein oftrömisches geteilt worden war, mwagten fidh die 
Heiden wieder neuen Mutes mit ihren alten Prätenfionen hervor und ſuchten 
dafür Stimmung zu machen. Bieles war ihnen günftig. Die alten Pradt: 
bauten, Tempel, Paläfte, Thermen, Zirfus, Säulen, Amphitheater, Triumph: 
bogen mit ihren zahllojen Bildfäulen und Bildwerken erinnerten noch auf 
Schritt und Tritt an die einftige Herrlichkeit des Heidnifchen Rom und ber: 
förperten jeine Überlieferungen in großartigfter, poetijcher Weile. Verſtockten, 
eigenfinnigen Heiden bot das Ghriftentum noch nichts Ebenbürtiges dar, 
was den früheren Glanz hätte überftrahlen können. Bei manden fanden 
darum die Slagen des Symmachus noch lebendigen Widerhall. Um das 
Jahr 400 wandten fi die Anhänger des Heidentums von neuem an die 
zwei Kaifer Arcadius und Honorius, um den Forderungen des Symmachus 
Geltung zu verſchaffen, Gegen fie nun erhob diesmal Prudentius jeine 
Stimme in dem umfangreihften und glängendften feiner Gedichte (den zwei 
Büchern gegen Symmahus), worin gewiffermaßen in großartigfter Weiſe 
der letzte Entiheidungstampf des Chriftentums mit dem Heidentum fich 
verlörpert. Es fällt in das Jahr 402 und war darauf berechnet, nicht 





! Cod. lat. Paris 8084, veröffentliht von Delisle, in Bibliotheque de l’&cole 
des chartes III (ser. 6) 297, fommentiert von Ch. Morel, in Recherches sur 
un pocme latin du 4“ siöcle; Revue archeol. XVII, Paris 1868, 4515; XVII 
44 f. — Riese, Anthol. lat. I, n. 4, Lips. 1869. — Bährens, Poetae lat. 
min. III, Lips. 1881, 286 f. — Mommsen, Carmen codieis Par., im „Hermes“ 
IV (1870) 854 ff. — Ebert, Geſchichte der Literatur des Mittelalters I? 312 313, 
— Dobbelstein, De carmine christiano cod. Par. 8084 contra fautores pa- 
ganae superstitionis ultimos, Lovan. 1879. 


170 Elftes Kapitel. 


nur die beiden Kaiſer, vorab Honorius, ſondern aud die gejamte höhere 
Geſellſchaft Roms für die Sache des Chriftentums zu begeiftern. In— 
haltlih und formell feiert darin der alte Römergeift einen herrliden Triumph, 
aber nicht mehr jener bejchränfte Römergeift de Symmachus, der die 
überlebten Formen neu zu galvanifieren verfuchte, jondern der mweitfichtige, 
weltumfpannende Römergeift des Konftantin und des Theodofius, der die 
alte Herrlichkeit Roms dem Kreuze umterwarf und ihr damit eine neue, 
großartige Zukunft eröffnete. 

Der Prolog des erften Buches erzählt (in 89 asklepiadeiſchen Verſen), 
wie der hl. Paulus auf Malta von einer Schlange gebiffen und wunderbar 
gerettet wurde. Einen jolhen Schlangenbiß auf das Chriftentum bedeutet 
der Angriff des Symmachus. Das Chriftentum wird daran nicht fterben; 
aber der Dichter bittet zu Chriftus, er möge dem giftigen Rhetor die 
Gnade der Belehrung zu teil werden lafjen und ihn vor den ewigen 
Flammen bewahren. 

Im Beginn des erften Buches wird Kaifer Theodofius gemütlich, kurz 
und knapp al3 wohltätiger Arzt vorgeführt, der den langen Fyieberträumen 
des Heidentums ein Ende machte und den Glauben an einen Gott an deffen 
Stelle ſetzte. Die Weisheit diefer Regierungsmaßregel wird dann durd ein 
marfig ſatiriſches Bild des heidniſchen Olhmps begründet — ein feflelndes 
Gegenftüd zu Hefiods Theogonie. Der aus jeinem Reich verjagte Bettel- 
fönig Saturn, der Weiberverführer Juppiter, der Erzdieb Merkur, der ſchänd— 
lihe Priapus, der liederliche Herkules, der verlotterte Bachus und das ganze 
übrige Göttergefindel wird nad) Gebühr feiner vermeintlihen Göttlichkeit 
entfleidet und nad feiner ganzen bverfommenen Menſchlichkeit bloßgeftellt. 
Die Ihärffte Satire trifft nicht mit Unrecht Venus und Andijes und die 
ganze übrige trojaniſch-latiniſche Sage, durch melde die helleniſche Mytho— 
logie und Sage mit den Uranfängen Roms in Verbindung gejegt worden 
war, um daran die Upotheofe der heidnifchen Gäjaren zu knüpfen. Auch 
die Götter der Unterwelt erhalten ala Ausgeburten der Hölle ihre bejonders 
ſcharfe Verurteilung. Das ftrenge, aber zugleid verjöhnende Schlußurteil 
über die geftürzte Götterwelt legt der Dichter dem Kaiſer Theodofius 
auf die Lippen, wie er als Sieger über den Gegenkaifer Eugenius 394 
al3 Triumphator in Rom einzog und der Herrjchaft des Heidentums ein 
Ende made. 

Da fah freudig der Fürft, der zwei Tyrannen bezwungen, 
Zriumphierenden Blids hin auf die herrlichen Mauern. 
Schwarzes, büftres Gewöll umhüllte noch dunkel bie Meltftadt, 
Finftre Naht umfchattete fie, und ſtürmiſche Nebel 

Scheuchten deö Himmels Blau von den fieben kriegeriſchen Hügeln. 


Mitleidbewegt feufzt er und fpridt: „Die Trauergewande 
Lege, o Mutter, von bir... . 


Prubdentius, 171 


Was zur Welt nur gehört, ift bir unterworfen, jo hat bir 

Gott es verliehen. Auf jeinen Wink gebeutft du dem Erbfreis, 
Seheft den Fu vol Macht auf alle irdiſchen Dinge. 

Nicht darfft deinen Blick als Herrin du heften zum Boden 
Sklaviſch und Majeftät bir erbetteln von ben Gefchöpfen, 

Die bir untertan und denen bu weit überlegen. 

Nimmer duld' ich es mehr, dab dem alten Tand du noch huldigſt, 
Die Scheufale verehrft der moderzerfreflenen Götter.“ 


In weiterer herrlicher Rede zeichnet der Kaiſer dann die Nichtigfeit der 
bon Menjchenhand verfertigten Jdole, erinnert Rom an den Sieg Konftantins 
und ſchildert den glorreihen Umſchwung, der fih daran knüpfte und der 
der Weltftabt eine weit erhabenere, dauernde Bedeutung verleiht: 


Et dubitamus adhue, Romam tibi, Christe, dicatam 
In leges transisse tuas? omnique volentem 

Cum populo, et summis cum civibus ardua magni 
lam super astra poli terrenum extendere regnum ? 


Kann ein Zweifel no fein, daß Rom ſich dir hat ergeben, 
Chriftus, und deinem Geſetz? Und daß die Schar ber Quiriten, 
Adel und Volk vereint, will fünftig über die Sterne 

In den Himmel hinein ausbreiten ihr irdifches Weltreich? 


Nah des Dichters Darflelung find nit nur die Vollsmaſſen längft 
dem Ghriftentum gewonnen, jondern aud die „Sechshundert“, d. h. zahllofe 
der edelften Familien haben fi Ghrifto zugewandt; im Senat hält nur 
nod ein winziges Häufchen von Leuten, die ſelbſt am hellen Mittag die 
Sonne nit jehen, an dem heidniſchen Kindertande feſt. Es wäre Zeit, 
daß nah allem vernünftigen Braud die winzige Minorität endlich ſchwiege 
und ji dem ervrüdenden Beſchluß der Mehrheit fügte. Mit Recht erinnert 
der Dichter an die Milde und Nahfiht des Theodoſius, der die wider: 
haarigen Heiden und unter ihnen aud Symmachus bei ihren Würden und 
Amtern belafjen. Er lobt die Talente und die Beredfamfeit des Symmachus, 
die er jelbft über jene des Cicero ftellt!. Er will fi nicht mit ihm meſſen, 
jondern nur feine Angriffe wider das Chriftentum abwehren. 


Cur mihi non fas sit, lateris sinuamine flexi 
Ludere ventosas iactu pereunte sagittas ? 


! Yu der HI. Ambrofius anerkennt in feiner „Erwiderung“ bie Bereb: 
famfeit des Symmadus und warnt davor, fi) von berjelben beftriden zu Laffen: 
Relationis adsertioni respondeo, hoc unum petens, ut non verborum elegantiam 
sed vim rerum spectandam putes. Aurea enim, sicut divina scriptura docet, 
est lingua sapientium litteratorum, quae phaleratis dotata sermonibus et quodam 
splendentis eloquii velut coloris pretiosi corusco resultans capit animorum oculos 
specie formosa visuque perstringit (Epist. I 18, 2). 


172 Elites Kapitel. 


Wäre es mir nicht erlaubt, die Bruft leicht jeitwärts zu wenden 
Und zu vereiteln ben Wurf der nutzlos windigen Pfeile? 


Im Prolog zum zweiten Buch erzählt Prudentius (in 66 glykoniſchen 
Verſen) das wunderbare Wandeln des Petrus auf dem See Genefareth und 
fnüpft daran die Bitte, daß Chriſtus aud ihm die Hand reiche. 

Das zweite Buch geht dann auf die Hauptklagepuntte des Symmachus 
ein, aber durchaus nicht rhetoriſch-dialektiſch, ſondern echt poetiih, indem er 
in den Anklagen Anhaltspunkte juchte, um die heidniſchen Anſchauungen 
ſatiriſch abzuweiſen und anderjeits die Schönheit eines Kriftlihen Rom in 
die ganze und volle Beleuchtung zu jeßen. 

Obwohl Spanier von Geburt, fühlt und ſpricht Prudentius, unter 
dem Einfluß des geihichtlihen und chriftlihen Gemeingeiftes, ganz wie ein 
echter Römer. Er identifiziert feine Intereffen völlig mit jenen des Reiches 
und widerlegt damit von vornherein dad Vorurteil der Heiden, das in den 
Chriften geborene und geſchworene Reichäfeinde erblidte. Auf die weinerlichen 
Borftellungen des Symmachus zu Gunften der Victoria und ihres Altars 
erwidert der hriftliche Dichter frifh und frank, daß die Göttin der „Victoria“ 
weiter nichts als ein Geſchöpf der Poefie, der Bildnerkunft und des Aber: 
glaubens jei, dat feine Victoria, fondern römische Arme und Schwerter, 
römiſche Tapferkeit und Heldenmut die zahllofen Siege der römischen Adler 
erfohten. Auf die Bitte des Symmachus, man jolle doch jedem jeine Götter 
lafjen, zumal das Weſen der Gottheit jo ſchwer zu erfaffen jei, jet er treffend 
die Grundlehren des hriftlichen Glaubens über Gott und Menſch, Schöpfung 
und Erlöfer auseinander, wodurd die heidnifchen Vorftellungen völlig hin— 
fällig werden. Wenn Symmachus aber auf den Braud der Vorzeit podht, 
weiſt Prudentius fchlagend nad, daß das Heidentum veraltet und abgebraudt 
fei, das Heidentum jelbft mit früherem Brauch gebrochen Habe, da dem 
Heidentum der Glaube an einen einzigen Gott vorhergegangen. Köſtlich 
widerlegt Prudentius dann die Forderung, man jolle Rom doc bei jeinem 
Genius und bei feinem Fatum belafjen !. ° 

Aber der Genius Roms, fag’ an, warn hat er begonnen 

Sih auf die Stadt zu ergießen in ihrer anfänglichen Kleinheit ? 

Iſt er entfirömt im ſchattigen Tal den Brüften ber Wölfin, 





! Romam nunc putemus adsistere atque his vobiscum agere sermonibus: 
optimi principum, patres patriae, reveremini annos meos, in quos me pius ritus 
adduxit! Utar caerimoniis avitis, neque enim paenitet! Vivam meo more, 
quia libera sum! Hic cultus in leges meas orbem redegit, haec sacra Hanni- 
balem a moenibus, a Capitolio Senonas reppulerunt. Ad hoc ergo servata sum, 
ut longaeva reprehendar? Videro, quale sit, quod instituendum putatur; sera 
tamen et contumeliosa est emendatio senectutis. Ergo diis patriis, diis indigetibus 
pacem rogamus (Relatio Symmachi, bei Seeck, Q. Aurelii Symmachi quae 
supersunt 282), 


Prubdentius, 173 


Um das Zwillingspaar zu nähren, noch jelbft erft im Werben? 
Blog er ald Schattenbild geheimnisvoll mit ben Geiern 

Dur bie Luft? Ward plötzlich er aus Wolfen geftaltet ? 

Thront er in ſchwindelnden Höhn? MWeilt er im innerften Haufe? 
Zieht er bie Sitten heran, und grünbet er ftaatlihe Rechte? 
Mohnt er im Graben vielleicht bes Lagers, ruft er die Mannſchaft 
Auf ins Glied, bläft er das Horn, beftürmt er die Feinde? 

Iſt das alles nicht zum Lachen jebem Gejceiten ? 

Doch geſetzt, ed wäre ein folder Geift oder Schatten, 

Der für all das bereit, von dem ber Staat die Gefchide 

Schöpfte und würde befebt ganz bis in die innerften Fafern, 
Warum fehlt’ ihm an Nat, die Religion zu erfüllen? 

Warum blicdt er empor nicht frei zu den Höhen bes Himmels? 
Warum, ſtlaviſch gefinnt, glaubt er, des Schidfals Beſchlüſſe 
Stünden ewig fett? Was ſchlägt er bas Werden in Banbe? 
Darf er nimmer verihmähn, was eint fein Willen umfangen, 
Beſſern, wo er geirrt, und feine Empfindungen wechſeln? 

Sieben Jahrhunderte ſchon ging wohl er irrend und fuchend, 
Zweifelnd und taftenb umher, die richtige Staatsform zu finden, 
Welche gefiele zugleich und die Rechte billig verteilte, 
Königögewalt beftand in der werdenden Stadt ſchon zu redte. 
Aber der Älteſten Schar trug mit zum Zeile die Sorgen, 

Greije fehn wir darauf am Steuerruder bes Rates, 

Hohen, edelften Stammes; dann teilen plebejiihe Maſſen 

Sid mit den Bätern gemiſcht nad billigem Maß die Gemwalten, 
Führend das Scepter vereint und entſcheidend im Krieg wie im Frieden. 
Konfuln vertreten die Macht des Adels, Tribunen dad Volksrecht. 
Plöglih wankt diefe Ordnung; man wählet jego Decemvirn 
Adligen Stamms an bie Spike des Staats; zwölf Fasces umgeben 
Diejes Kolleg, und es führt ein jeder von ihnen fein Beil nad. 
Wieder erkiefet der Staat zwei Konfuln drauf fih als Führer 
Und übergibt ihrer Hand die Verwaltung wie den Kalender. 
Blutigen Rufes zuleßt verwirren das Reid die Triumvirn. 

Ob fih das Schickſal geirrt in diefen Stürmen, der Vollsgeiſt 
Ober der Genius Roms, Rom fand am Ende zurecht fich 

Und umgab bas erhabene Haupt mit ber fürftlihen Krone: 

Vater des Vaterlands und des Volks und Haupt bes Senates 
Ward der Hehre genannt und führer bes Heers und Diktator, 
Gütiger Genfor und Lehrer der Sitten jowie bes Beſitzes 
Schirmherr, Räder des Unrechts und freubiger Spender bes Guten. 
Wenn des Wechjels jo viel, jo viele Verſuche es brauchte, 

Bis man endlich erreicht, was fi dem Urteil bewährte, 

Und das Bolt voll Heiliger Scheu zu erhalten für gut fand, 

Was nod) fteht es an, das göttliche Necht zu erkennen, 

Das verborgen biäher, fi endlich dem Blicke enthüllte ? 

Heil! Nicht zweifelt e8 mehr. Nom hat fih Ehriftus ergeben 
Und dient Gott allein, der früheren Kulte entledigt '. 


! Contra Symm. II 392—441. Überjegt vom Berfafier. 





174 Elftes Kapitel. 


Kurz wird darauf die Lehre dom Fatum jelbft widerlegt, dann die 
Anſchauung, daß Rom durch die alten Götter fo groß geworden jei. Mit 
Recht erklärt es Prudentius für eine Beleidigung der römischen Bürger, der 
Venus Siege zuzufchreiben, welche der Heldenmut eines Fabricius, Eurius, 
Drufus und Gamillus erfohten. Mit Recht ſpottet er über die Ohnmacht 
der Götter, die Rom jo oft im Stich gelaſſen. Daran fnüpft fih wohl 
die ſchönſte Stelle des Gedichte, in welcher Prudentius in grandiojen 
Zügen die providentielle Stellung des alten Rom in der Weltgeſchichte 
entwidelt. 


Doch ich feh’, was du willſt. Did) begeiftern die herrlichen Züge 
Römischen Heldenfinns, die Land und Meer ſich erobert 

Bis an die Grenzen ber Welt. Drum fhilderft bu Jubel und Siege, 
Führft in unendlichen Reihn uns vor den Pomp der Triumphe, 
Welche mitten dur Rom hintrugen die Beute der Völker. 

Soll ih dir jagen, o Römer, was dich jo hoch hat erhoben, 

So mit Ruhm di umfirahlt, dab du führeft die Zügel des Weltalls? 
Die dur Sprade und Brauch geſchiedenen Völter und Reiche 
Wollte verbrüdern der Herr und einem gemeinfamen Scepter 
Unterwerfen, was Zucht und Sitte könnte vertragen; 

Freundlich follte ein Joch, biefelben Lieblihen Zügel 

Einen zum bleibenden Bunde ber Menſchen jämtlihe Herzen: 
Liebe der Religion. Denn feine Verbindung ift würdig 

Ehrifti, wenn nicht ein Geift umfchlingt die vereinigten Völker. 
Eintracht nur kennt Gott, kann allein den gütigen Bater 

Ehren, wie fi gebührt, denn ihn verföhnt nur ber vollfte 

Friede bes Menſchengeſchlechts in Heiliger Ruh mit ber Erbe. 
Aufruhr ſcheucht ihn fort, der Grimm der Waffen erzürnt ihn, 
Friede gewinnt feine Huld, und fromme Stilfe bewahrt fie. 
Mütend rüftet zum Kampf, zum wirren, Bellona die Bölter, 

Die der Ozean umfpannt an der Hüfte des Weſtens, 

Die mit rofigem Licht zuerft Aurora beftrahlet, 

Daß fie gewaffneten Arms einander tödlich zerfleifchten. 

Um zu zügeln die Wut, ließ Gott die ringenden Bölfer 

Beugen fih einem Geſetz von allen Enden ber Erbe, 

Römer werden fie all’, die fern der Rhein und der Iſter, 

Die mit Gold ber Zajo beipült, der gewaltige Ebro, 

Die der hesperifche Strom beglücdt, die der Ganges ernähret, 

Die fi) baden am Strande des Nils, des fiebengeteilten. 

Ein Recht macht fie gleich, vereint mit demfelbigen Stamme 
Alle und wandelt um die Befiegten in freundliche Brüber. 
Allenthalben nunmehr Iebt fidy’s, als umſchlöſſen diejelben 
Mauern Bürger nur, aus einem Stamme geboren, 

Einer Baterftadt, durch diejelben Laren geeinigt. 

Länder in weitelter Fern’, getrennt durch gewaltige Meere, 

Sind durch Bürgihaft verknüpft und treffen gemeinfam auf einem 
Forum fi vereint und treiben in dichter Verfammlung 

Handel, Gewerbe und Kunft. Es wird das feftlihe Brautbett 


Prudentius. 175 


Nicht dem Fremden gewehrt durch Geſetz; aus verſchiedenen Völkern 
Wächſt durch Miſchung des Bluts ein neues, einziges Volk auf. 
Dies hat erreicht mit jo manchem Erfolg, mit ſo vielen Triumphen 
Glüdlih das römifche Reich. Als Chriſtus dann in die Welt trat, 
Sieh, da waren bie Pfabe bereit, längjt hatte die Herrihaft 

Roms den Frieden der Welt begründet unter den Völlern!. 


Rom iſt dabei nicht gealtert no ſchwächer geworden; vielmehr grüßt 
es jubelnd die Fürſten, durch die ihm die neue Jugendkraft zu teil geworden. 
Vorbei find die Zeiten, wo der Muttermörder Nero die Apoftel Hinjchlachtete, 
Decius im Blute der Chriften wütete. Diefe Blutſchuld ift geſühnt, und 
fiegreih wie ehedem verteidigt fih das riftlid gewordene Rom gegen die 
Anfälle der Barbaren. Noch ſoeben hat in der Schlaht von Pollentia nicht 
Juppiter, fondern der jugendliche Kaifer Honorius mit feinem treuen Feld— 
deren Stiliho die Goten daniedergeworfen: 


Dux agminis imperiique 
Christipotens nobis invenis fuit, et comes eius 
Atque parens Stilico: Deus unus Christus utrique: 
Huius adoratis altaribus, et eruce fronti 
Inscripta, cecinere tubae; prima hasta dracones 
Praecurrit, quae Christi apicem sublimior effert. 


Jubelnd ladet ihn deshalb das befreite Rom zum Triumph ein: 


Scande triumphalem currum, spoliisque receptis 
Hue, Christo comitante, veni: date, vincula demam 
Captivis gregibus; manicas deponite, longo 

Tritas servitio, matrum iuvenumque catervae. 
Dediscat servire senex, laris exul aviti, 

Discat et ad patrium limen genitrice reversa 
Ingenuum se nosse puer: timor omnis abesto. 
Vieimus: exsultare libet! 


Un moderne Seichtheit und Oberflädlichleit erinnert der Einwurf des 
Symmadus, die Wege zur Gottheit feien verſchieden, vereinigten fid aber 
Ihließlih zu einem Pfad, wie überhaupt alles Irdiſche den Menſchen ge: 
meinfam ſei?. In pradtvoller Schilderung zeichnet nun Prudentius Die 
Gemeinjamleit des Naturlebens und des Menjchenlebens im Bereiche der 
fihtbaren Schöpfung, aber auch die Verſchiedenheit der Völler und bie 





! Contra Symm. II 577—621. Überjegt vom Verfafler. 

2 Aequum est, quidquid omnes colunt, unum putari. Eadem spectamus 
astra, commune caelum est, idem nos mundus involvit: quid interest, qua quis- 
que prudentia verum requirat? uno itinere non potest. perveniri ad tam grande 
secretum. Sed haec otiosorum disputatio est (Relatio Symmachi, bei Seeck, 
Q. Aurelii Symmachi quae supersunt 282), 


176 Elftes Kapitel, 


weſentliche VBerfchiedenheit der Religionen, unter denen nur eine, die wahre, 
zum Heile führt, während außer ihr fich die Pfade fo vielfach jpalten, ala 
es Religionen und Götter gibt, und dazu noch den Abmweg des Atheismus 
und der epifureifhen Zufalläiehre. Der wahre Weg zu Gott ift anfänglich 
fteil und rauh, aber er wird ſchöner und lieblicher, je weiter man fommt, 
während die faljhen Wege fih immer mehr teilen und von ihm ablenken 
und fchlieklih ind Verderben führen. 


At nobis, vitae Dominum quaerentibus, unum 

Lux iter est, et clara dies, et gratia simplex. 

Spe sequimur, gradimurque fide, fruimurque futuris, 
Ad quae non veniunt praesentia gaudia vitae 

Nec currunt pariter capta et capienda voluptas. 


Uns aber, deren einziges Ziel nur ber Herr ift bes Lebens, 

Strahlet leuchtend der Pfad, taghell, in fahliher Gnabe. 

Hoffnung und Glaube beflügeln den Schritt; wir genießen des Künft'gen 
Seht Schon, zu welhem gelangt kein Genuß bes irdifchen Lebens, 

Steine Luft ſich erſchwingt, gefoftet ſchon oder zu koſten. 


Im legten Abjchnitt der Dichtung weilt Prudentius den Vorwurf des 
Symmachus zurüd, Teuerung und Hungersnot jeien über das Rei ge- 
fommen, weil man den Beitalinnen ihren bisherigen Unterhalt entzogen habe. 
Er ftellt feit, daß ſolche auffällige Kataftrophen gar nicht vorgekommen feien, 
die Verſchiedenheit der jährlihen Ernte aber andere Urſache Habe. Eine 
treffende Parallele zwifchen den Veltalinnen und den driftlichen Jungfrauen 
beleuchtet auch Hier die fittliche Ülberlegenheit des Chriftentums. In er- 
greifendfter Weije fordert der Dichter am Schluß den Kaifer Honorius auf, 
den Greueln der Gladiatorenfämpfe ein Ende zu machen. 

„Mit ſolch tiefem fittlihen Ernfte und einer jo glänzenden Beweis— 
führung“, jagt Manitiug, „ind nur wenige Apologeten verfahren ; wenigftens 
fteht Prudentius hier als apologetifher Dichter unerreiht da. Heute noch 
ift der Ernft feiner Auffaffung, der Reihtum in der dichterifchen Erfindung 
und die Kraft der Geftaltung zu bewundern.“ 1 

Die zwei Bücher gegen Symmadus ftellen nit nur einen religiös: 
fittlihen, jondern aud einen literarifhen Triumph des Chriftentums über 
da3 Heidentum dar. Prudentius war für die Schönheit der antiken Poefie 
und Kunſt durchaus nicht blind; in ÜÜbereinftimmung mit den Gefeßen der 
Kaiſer? empfiehlt er jogar die Erhaltung der alten Statuen, ſobald fie 
nur, dem Gößendienft entzogen, als Meifterwerfe zum Schmude der Stadt 

ı Mm. Manitius, Geihichte der chriftlich -Tateinifhen Poefie, Stuttgart 


1891, 85. 
? Bgl. Codex Theodosianus XVI 10 15. 


Prubentius. 179 


dienen?!, Aber als Religion ift die alte Mythologie in feinen Augen längſt 
gerichtet, umd er zeichnet ihren inneren Widerſpruch, ihre Unwürdigkeit und 
Lächerlichleit mit der ganzen Energie und Schärfe eines großen Gatirifers. 
Doh hält er ſich nicht negativ, etwa wie Juvenal; er wühlt nicht als ver: 
zweifelter Anfläger in der allgemeinen Zerjegung herum; er hat in den 
Ideen des Ghriftentums eine neue Welt gewonnen, die Natur, Menſchen— 
leben und Geſchichte wunderbar verflärt, dem alten Rom eine weit erhabenere 
Beltimmung gibt, feine alte Ehre rettet und das Große und Gute, das es 
geihaffen, in den Dienft der ChHriftenheit nimmt. Während Symmachus in 
jeiner Relatio nur erftorbene Reminiscenzen und Formeln nadlallt, erhalten 
die altllaffiihen Formen dur Prudentius neuen, lebensfähigen Gehalt, der 
für Jahrhunderte fruchtbar weiter wirkt. 

„Die Märtyrer fingen, die Apoftel preifen”, ift die letzte Aufgabe, 
welche fih Prudentius in feinem Prolog ftellt. Er Hat das in dem Bude 
der „Siegesfränze“ (Peristephanon) getan, d. h. in einer Reihe von 
vierzehn meift längeren Gedichten, in welchen er verſchiedene römiſche, ſpaniſche 
und afrikanische Märtyrer, von den Apofteln aber die zwei Apoftelfürften 
befingt. Die bejungenen Märtyrer find: die zwei belehrten römischen Sol: 
daten Emeterius und Chelidonius aus Galagurris (Galahorra); der heilige 
Diakon Laurentius, Freund und Armenpfleger des heiligen Papftes Xyſtus IL. ; 
die heilige Jungfrau Eulalia von Merida; achtzehn ungenannte Märtyrer 
bon Saragofja; der HI. Vincentius; der heilige Biſchof Fructuofus von 
Zarraco mit jeinen Diafonen Augurius und Eulogius; der hl. Quirinus 
don Siscia (berühmt durch den Sieg des Kaiſers Theodofius über Marimus 
im Jahre 388): zwei umbefannte Märtyrer; der Hl. Gaffian von Imola 
oder Forum Gornelii, von feinen eigenen Schülern mit Griffeln zu Tode 
gequält; der Hl. Romanus, unter Kaifer Diocletian 303 zu Antiodhien ge- 
tötet, aber in Spanien hochverehrt; der HI. Hippolyt, nad ihm ein be- 
fehrter „Novatianer*, in Rom hochgefeiert; der heilige Biſchof Eyprian von 
Karthago und die heilige Jungfrau Agnes. 

Behandlung und Form find überaus mannigfaltig. Das erfte Stüd auf bie 
zwei heiligen Krieger Emeterius unb Chelidonius ift in 120 katalektiſchen trochä— 
iſchen Zetrametern abgefaßt, dem bevorzugten alten Versmaß der römiſchen Solbaten- 
lieder. Das zweite, auf ben hl. Laurentius, ift im jambifhen Dimeter, dem ge- 
wöhnlichen Versmaß der „ambrofianiihgen‘ Hymnen, gedichtet, wächſt aber, im 
Gegenſatz zu deren prägnanter Kürze, bis auf 584 ſolcher Verſe an. Die Hl. Eulalia 
wird in 215 hyperkataleltiſchen daktyliſchen Trimetern befungen (die fi in 43 Strophen 
reihen), die achtzehn Märtyrer von Saragoffa in 50 ſapphiſchen Strophen, ber hl. Vin—⸗ 
centius wieder in jambifchen Dimetern (144 Strophen mit 576 Verſen), ber hl, Fruc— 
tuofus in 162 phaläcifhen Hendekaſyllaben (54 Strophen), der hl. Quirinus in 
Glykoneen (18 Strophen mit 90 Berjen), der hl. Eaifian in 58 Herametern, bie 


! Contra Symm, I 501. 
Baumgartner, Weltliteratur. IV, 8. u. 4. Aufl. 12 


178 Elftes Kapitel. 


mit ebenfo vielen jambifhen Senaren abwedjeln. Am ausführlichften (in 1140 jam« 
bifhen Senaren) ift das Martyrium des hi. Romanus geſchildert, nahezu für fich 
eine eine Epopde. Das des hl. Hippolyt umfaßt 123 Diftihen. Der Hymnus auf 
bie zwei Apoftelfürften zählt 33 archilochiſche Strophen vierter Art, berjenige auf 
ben hl. Eyprian 106 größere archilochiſche Verſe, der auf die Hi. Agnes endlich 
133 alkäiſche Henbefafyllaben. 


Prudentius beherriht die verjchiedenen Vers- und Strophenformen mit 
derjelben Leichtigkeit wie Horaz, den man indes faum fein Vorbild nennen . 
fann, da nirgends eine eigentlihe Nahahmung zu Tage tritt. Der Dichter 
ift nit nur im Horaz, fondern aud in den andern alten Schriftitelern 
zu Haufe; fein Wort: und Formenſchatz reiht darum über jenen des Horaz 
hinaus; die Ideen find neu und bewegen jih in ganz andern Kreiſen; 
Prudentius verfügt über Geftalt und Form mit der Freiheit und Selb: 
ftändigfeit eines echten Dichters. Die lyriſche Grundform mit dem oft vor: 
wiegenden epiichen Charakter der Gedichte jowie deren großer Umfang erinnert 
unmwillfürlih an die Siegesgefänge des Pindar; doch find die Formen lange 
nicht jo fünftlih, nicht auf mufifaliihen Vortrag angelegt, in Sprade und 
Ausdrud einfacher, natürlicher, obwohl es an ſchwunghafter Begeifterung 
nit fehlt. Als Hauptfehler wird Prudentius vorgeworfen, daß er bie 
Qualen der Märtyrer zu realiftiih, oft in geradezu abftoßender Weiſe 
ihildere, jo daß eigentlih das Häßliche vorwiege. Dabei darf jedody nicht 
bergefjen werden, daß er für eine Leſerwelt dichtete, welche noch an die 
biutigften Spiele des Amphitheater gewöhnt war, ja daß er jelbft noch 
jeine Stimme gegen die Gladiatorenftämpfe erheben mußte!. Er brauchte alſo 
nicht mit fo zartbefaiteten Nerven zu rechnen wie Hymnendichter der Neuzeit. 
Die blutige Wirklichkeit jener Leiden und Qualen jelbft lag ihm großenteils 
noch ganz nahe und reichte teilweiſe noch in fein Jahrhundert hinein. Mit 
voller poetiiher Kraft ließ fih der Triumph der Märtyrer nicht jchildern, 
ohne die don ihnen erbuldeten Qualen in ihrer ganzen Schredlichkeit zu 
bezeichnen: ihre unbefiegbare Geduld bildet dabei aud in äfthetiicher Hinficht 
ein bverföhnendes Gegengewicht?. Der grenzenlojen Weichlichkeit der römischen 


ı Mit Recht und in treffendfter Weije ftellte er au ber Verhimmelung bes 
heidniſchen Götzendienſtes die jhmußige, blutige und abftopende Wirklichfeit gegen- 
über. Dem Zaurobolium 3. B., das er (Hymnus X 1006—1056) überaus draftifch 
beſchreibt, unterwarfen fi noch zu feinen Lebzeiten einige der vornehmjten Römer 
und rühmten ſich deffen als ber höchſten Ehre. 

® Mehr begründet ift der Vorwurf, dag Prudentius ähnlich wie Paulinus von 
Nola feinen Stoff zu breit ausfpinnt, und daß befonders jeine epifhen Gedichte der 
feinen Abrundung unb bes fünftleriihen Maßhaltens entbehren, das die antiken 
Klaffiter auszeichnet. Darin trägt indes das allgemeine Sinken des Geihmads bie 
Hauptfhuld. Von ben gleichzeitigen Dichtern nähert er fih noch am meiften 
den Alten. 








Prubentius. 179 


Srotifer gegenüber konnte eine ſolche Poefie nur Träftigend und ermannend 
wirten, wie das Beifpiel der chriſtlichen Glaubenshelden jelbft. 

Den hohen Wert diefer „Siegesgejänge“ für die Geſchichte der Kirche und 
ihrer Lehre, der Märtyrer, der altriftlihen Liturgit und Kunft können wir 
hier nicht näher berühren. Die Anregung zu denjelben jcheint dem Dichter teil- 
teile die Spanische Liturgie gegeben zu Haben; andere aber find offenbar die 
Frucht einer Reife nah Rom und eines längeren Aufenthaltes daſelbſt. So 
erzählt er in dem (9.) Hymnus auf den hl. Caſſian, er jei in das von Cornelius 
Sulla gegründete und noch jetzt nad) ihm benannte Forum Eornelii gelangt, 
al3 er auf dem Wege nad) der Weltitadt Rom geweſen, und da habe er 
die herzlihfte Hoffnung auf Chriſti Beiftand geichöpft: 


Sulla Forum statuit Cornelius: hoc Itali urbem 
Vocant ab ipso conditoris nomine, 

Hic mihi, cum peterem te, rerum maxima Roma, 
Spes est oborta, prosperum Christum fore. 


Da, am Grabe des hi. Gajfian, meinte er über die Wunden feiner 
Seele, jeine Mühen und Leiden. Dann erhob er den Blid und ſah ein 
Gemälde, das den Martertod des Heiligen darftellte. Er fragte den Kirchen: 
diener darüber aus und erfuhr von ihm eingehender die Gejchichte des Mar- 
tyriums. Das erfüllte ihn mit der innigften Verehrung zu dem Heiligen, 
und mit bollem Vertrauen rief er ihn in allen feinen Anliegen an, befonders 
um Hilfe bei jeinen Gefhäften in Rom. Und jein Vertrauen wurde reichlich 
belohnt. Alles ging herrlih von ftatten, und jo preift er nun dankbar den 
Heiligen, der ihm jo freundlich geholfen. 

Auf unmittelbar römiſche Eindrüde weift der Hymnus auf die zwei 
Apoftelfürften — die ältefte Schilderung des St Peter: und Paul-Feſtes und 
der zwei Bafilifen diejer Heiligen. Das merkwürdige Gedidht, etwa um das 
Sahr 402 oder 403 abgefaßt, lautet aljo: 


Es herrjchet ungewohnte Freude. Sag mir, Freund, was gibt's? 
Ganz Rom ift rege, überall klingt Jubel. 

Der Feittag kehrt heut wieder apoftoliihen Triumphs, 
Durh Petri und durch Pauli Blut geadelt. 

Derjelbe Tag, wenn auch durch eines Jahres Friſt getrennt, 
Hat mit dem Lorbeer beider Haupt umwunden. 

Die jumpf’ge Niederung, die noch ber Tiberftrom durchfließt, 
Kennt die zwei Tempel, ihrem Ruhm gewidmet, 

Des Kreuzes Zeugin wie des Schwerts. Des Blutes Regen hat 
Zweimal getränft fie und denfelben Raſen. 

Der erfte Richtſpruch traf den Petrus. Neros Mund befahl, 
Er jolle hoch am Kreuzesihandpfahl hängen. 

Doch dieſer fürdtete durch jo erhabnen Todes Ruhm 
Des Meifters Ehr’ nadeifernd anzutaften 


180 Elftes Kapitel. 


Und bat, dab fie die Füße aufwärts hefteten, das Haupt 
Nah abwärts, unten an dem Marterpfahle. 

So warb die Hand durchbohrt ihm unten, oben hoch der Fuß; 
Erniedrigt warb ber Leib, erhöht die Seele. 

Er wuhte, daß bie Demut raſcher in den Himmel führt, 
Drum beugt’ er fterbend in ben Staub fein Antliß. 

Wie dann ein Jahr auf feiner Bahn den Kreislauf hat erfüllt, 
Denjelben Zag bie Sonne wieber bradite, 

Da ſchleudert Neros Wut auf Paulus’ Hals bas Bluturteil 
Und heifcht den Tod des großen Bölferlehrers. 

Er hatte jelbft vorausgefagt, das Ende fteh’ ihm nah. 
Mir naht das Ende, ſprach er; auf, zu Chriſtus! 

Und raſch wirb er zum Tod gerafft, geopfert mit dem Schwert: 
Den Seher täufhte weder Tag noch Stunde. 

Der beiden überreſte beiden Ufern teilend aus, 
Fließt nun der Tiber zwiſchen heil'gen Gräbern. 

Der rechte Strand umfängt Petrus in goldenem Palaſt, 
Am Strom, dem raufchenden, erglühn Oliven. 

Denn an der Fellen Stirn entjprang ein Quell und weckte bort 
Ein ewig grünes Laubdach, Chrisma ſpendend. 

Durh reihen Marmor rinnt er jet hinab und net den Tyels, 
Bis drunten er im grünen Beden jprudelt. 

Denn in des Hügels Innerm ift der Ort, wo hellen Schalls 
Das Wafler ſich bewegt in fchneeiger Tiefe. 

Bunt färben feinen Spiegel Malerei'n von oben her, 
Moos ftrahlt drin wieder, Gold in grünem Schimmer, 

Und dunkel taucht des Purpurs Schatten in die blaue Flut, 
Die Dede fcheint im Waſſer fich zu regen. 

Der Hirt nährt jelber mit der friihen Quelle ftrengem Na 
Die Schäflein, die nah Chriſti MWaflern dürften. 

Am andern Uferrand, wo links die Wieſen ſäumt ber Fluß, 
Ragt an dem Weg nad Oſtio Pauli Grabmal. 

Da funfelt Königspradt; ein guter Fürſt erichuf den Bau 
Und jpielt’ verſchwenderiſch mit feinem Reichtum. 

Mit Gold bekleidet ſchimmert das Gebälf, daß goldnes Licht 
Wie Morgenfonnenftrahl ben Raum durchleuchtet. 

Der Dede jhimmernd helles Zelt trägt je ein Doppelpaar 
Von Säulen, herrlich, in vier fangen Reihen. 

Mit farb’gem Glafe find die jhmuden Bogen bunt geziert 
Und leuchten wie die Au’n in Srühlingsblumen. 

Das find die zwei Geichenfe, die der höchſte Vater gab 
Der Weltftabt Rom voll Glauben zur Verehrung. 

Sieh, wie das röm’sche Volk fich dit durch beide Straßen brängt, 
Die beiden Feſte nur ein Licht durdftrahlet. 

Lab ung zu beiden eilen, raſch beflügelnd unfern Schritt 
Und uns der Lieder hier und dort erfreuen. 

Erft ziehn wir über Hadrians Brüde weit hinaus den Weg, 
Dann gehn wir auf des Fluſſes linke Seite. 


Prubentius. 181 


Jenſeits des Tibers bringt der Priefter erft das Opfer bar, 
Dann kommt er hierher, doppelnd die Gebete. 

Das lehrt dich Rom. Nun fei zufrieden. Wenn du heimgefehrt, 
Dann feire treulich jo den Doppelfefttag !. 


Noch bleibt ein Kleineres Sammelwerk zu erwähnen, das im Prolog 
nicht bejonders hervorgehoben wird. „Das Dittohäum“?, eine Reihe von 
neunumdbierzig Gedichtchen von je vier Herametern, offenbar beftimmt, als 
Inſchriften zu den Malereien einer Bafilifa (mahrjheinlih in Saragoffa) 
zu dienen. Die erften vierundzwanzig find dem Alten, die andern dem 
Neuen Bunde entnommen, und fo umfaffen fie ziemlih die Hauptmomente 
beider Teflamente: 


1. Adam und Eva. 2. Abel und Kain. 3. Die Are Noe. 4. Bei ber Eiche 
von Mambre. 5. Saras Grab. 6. Pharaos Traum. 7. Joſeph von den Brübern 
erfannt. 8. Der brennende Dornbufh. 9. Der Zug durchs Rote Meer. 10. Die 
Gejeßgebung auf Sinai. 11. Manna und Wadteln. 12. Die eherne Schlange. 
13. Der bittere See in der Wüſte. 14. Der Hain Elim in der MWüfte. 15. Die 
zwölf Steine im Jordan. 16. Das Haus der Rahab. 17. Samfon und ber Löwe. 
18. Samfon und die Füchſe. 19. David. 20. Das Reih Davibs. 21. Der 
ZTempelbau. 22. Die Söhne der Propheten. 23. Israels Gefangenſchaft. 24. Das 
Haus Ezechiels. 

25. Gabriel bei Varia. 26. Bethlehem. 27. Die Gejchenfe der Magier. 
28. Die Verkündigung der Engel an die Hirten. 29. Der Kindermord in Bethlehem. 
30. Die Taufe Ehrifti. 31. Auf der Zinne bes Tempels. 32. Das Wunder von 
Kana. 33. Der Teich Siloe. 34. Der Tob des Johannes. 85. Ehriftus auf dem 
See. 36. Der Teufel fährt in die Schweine. 37. Die fünf Brote und zwei Fifche. 
88. Die Eriwedung bes Lazarus. 39. Der Blutader. 40. Im Haufe des Kaiphas. 
41. Die Geihelfäule. 42. Das Leiden Chriſti. 43. Ehriftus im Grab. 44. Die 
Himmelfahrt, 45. Das Leiden des hl. Stephanus. 46. Die jhöne Pforte (Heilung 
des Lahmen). 47. Die Bifion des Petrus. 48. Das Gefäß der Auserwählung. 
49. Die Apokalypſe des Johannes. 


Für die Kunſtgeſchichte find diefe Injchriften von nicht geringem Intereſſe. 
Die Bilder des Alten und Neuen Bundes jcheinen ſich meiſt typiſch zu ent— 
ſprechen, wenn ſich auch nicht für jeden einzelnen Fall Bild und Gegenbild 
genau fefiitellen läßt. Dieſe Verwendung der bibliihen Typik zu Bilder: 
cytlen, die Schon in die Katakombenmalerei hinaufreicht, ift für die hriftliche 
Kunft und Poefie überaus fruchtbar geworden. In vielen Sprüden des 


' Peristephanon XII (Migne, Patr. lat. LX 556-569), überjegt vom 
Verfafler. 

* Über Namen, Zwed und Verfaſſer des „Ditiohaion” ift viel geftritten worben ; 
der Zitel Jerroyatos wie die Autorſchaft des Prudentius und bie Beitimmung ber 
Berfe als Überjchriften für die Wandmalerei einer Kirche wird indes durch alte 
Zeugniffe wie durch andere gewichtige Gründe geftüßt. Bgl. S. Merkle, Prudentius’ 
Dittohäum, bei Ehſes, Feſtſchrift zum elihundertjährigen Jubiläum des Campo 
Santo in Rom, Freiburg i. B. 1897, 33—45. 


182 Elftes Kapitel. 


Dittohäums liegt die Pointe gerade in dem müftiihen Sinn, und wenn 
man dieſen mit in Rechnung zieht, wird man Prudentius aud) ala Epi- 
grammatiften jhägen lernen. Denn im übrigen find die Sprüche zwar epiſch 
gehalten, aber fie bieten jeweilen ein ſehr treffendes, prägnantes Bild und 
erlangen dur den typiſchen Sinn eine ſehr poetiihe Wendung, wenn fie 
aud die übrigen Werte an Bedeutung nicht erreichen. 

Das Buch der „Siegeskränze“ ſchließt ein kurzer Epilog ab, den man 
wohl mit dem Prolog ald Rahmen der geſamten Werle betrachten darf. 
Der Dichter reiht fi darin unter die Schar der Gläubigen, die Gott ihre 
DOpfergaben darbringen. Ihm fiehen weder reihe Almojenjpenden nod 
hervorragende Heiligkeit zu Gebot. Aber er hat mwenigftens feine Verſe, feine 
raſchen Jamben und feine beweglihen Trochäen, feine ſchlichte Dichtung — 
pedestre carmen —, und die weiht er Gott mit frommem, treuem Herzen. 
Das Gefäß braucht nicht gerade von Silber und Elfenbein zu fein, Gott 
nimmt aud mit einem Becher aus Eichen: oder Ulmenholz vorlieb. Der 
Dichter fühlt feine ganze Gebrechlichkeit und Niedrigkeit vor Gottes erhabenem 
Herriherpalaft. Aber er bringt, was er hat. Mag es noch ſo gering fein, 
nit umfonft hat er Chriſtus verherrlicht, unter deffen Scepter wir leben. 

Quidquid illud aceidit, 
Iuvabit ore personasse Christum, 
Quo regnante vivimus. 


So von Prolog und Epilog umſchloſſen, ftellt fi das gejamte Lieder: 
bud des Prudentius als ein jehr ſchön abgerundetes Ganze dar, das die 
Friſche und den Reiz jugendlicher, volfstümlicher Poefie mit den Intentionen 
eines wohl überlegenden und abmwägenden Kunftdichters verbindet. Mit der 
eigentlich kirchlichen Hyumnik den Wettkampf aufzunehmen, dürfte ſchwerlich 
feine Abjiht geweien fein. Weder die langen Tageslieder noch die noch 
umfangreicheren Siegeskränge find mit ihren teilweife fünftlihen Maßen darauf 
angelegt. Er jcheint vielmehr im Auge gehabt zu Haben, den Werfen der 
heidniſchen Klajfiter einigermaßen gleichwertige Kunſtwerke gegenüberzuftellen, 
und feine chriſtlichen Ideen und feine chriftliche Begeifterung in jene Kreiſe 
der jogenannten Gebildeten hineinzutragen, die aus der klaſſiſchen Poeſie 
noch immer einen Zeil ihrer Anſchauungen und ihrer Gefinnung jchöpften. 
Das hat er in hohem Grade erreiht!, Durch metriſche Fehler, häufige An: 





1J. Burckhhardt (Die Zeit Konftantins des Großen?, Leipzig 1398, 295) 
beurteilt Prubentius zu ſtark nad dem Maßſtab der Alten, ohne die Schwierigkeit 
feiner völlig neuen Aufgabe ins Auge zu faſſen, und wirb ihm beshalb nicht völlig 
gerecht. Eingehender und treffender darakterifiert ihn €. Brodhbaus, N. Pru—⸗ 
bentius Clemens in feiner Bedeutung für die Kirche feiner Zeit, Leipzig 1872, 162 
bis 174; abgebrudt bei F. &. Kraus, Charafterbilder aus der hriftlichen Kirchen⸗ 
geihichte, Trier 1879, 125—136. 


Zwölftes Kapitel. Das letzte Auffladern der heidniſchen Literatur. 183 


wendung des Reimes, der Allitteration und Affonanz, unklaffiiche Wendungen 
und Worte weicht er zwar oft vom Gepräge der altklaffiichen Form ab. 
Aber die Neuheit des Stoffes, mit dem er ringt, macht das begreiflid. 
Im weſentlichen hält er fi) doch auf Haffiiher Grundlage, mehr als alle 
feine dichtenden Zeitgenoffen. Die Geftaltungstraft, mit der er ſich Stoff 
und Ausdrud modelt, darf man wohl öfters mit derjenigen Dantes ver: 
gleihen. Mit dem reichen Kranz feiner Werke war ein Grundftod hriftlicher 
Poefie vorhanden, von dem viele Jahrhunderte zehrten. Sein Anjehen wurde 
erſt zurüdgedrängt, als die Begeifterung für die hriftlihen Ideale fich etwas 
abtühlte und die Verehrung des klaſſiſchen Heidentums wieder an Boden 
gewann. Die hriftliche Poefie wird ihn immer als einen ihrer früheften 
Bannerträger hochhalten. 





Zwölftes Kapitel. 
Das lebte Auffladiern der Heidnifhen Literatur. 


Nah allen Richtungen hin bietet das 4. Jahrhundert das Bild eines 
großartigen Geiftesfrühling dar. Selten find in jo kurzer Zeit jo glän- 
zende Erjcheinungen wie Athanafius, Bafilius, Gregor von Nazianz, Gregor 
von Nyſſa, Yohannes Chrufoftomus, Synefins, Ephrem, Hilarius von 
Poitiers, Ambrofius, Auguftin, Hieronymus zufammengetroffen. Bibel: 
erflärung, jpefulative Theologie und Philofophie, hriftlihe Moral, Kirchen: 
geſchichte und allgemeine Geſchichte wuchſen durch die Geiftestätigfeit diefer 
Männer zu großartigen, jelbftändigen Wiffensgebieten an. Alle Arten des 
projaiihen Vortrags, von der jchlichteften Katechefe bis zur erhabenften Be— 
redjamkeit, wurden dabei auch Funftmäßig ausgebildet. Durch Juvencus 
ward das biblifhe Epos geihaffen, durch Paulinus don Nola die poetische 
Legende, durch Ambrofius die kirchliche Hymnenpoeſie; durch Prudentius 
wurde der gejamte Reichtum alttlaffiicher Formen für Lyrik, Epik und 
Didaktit zugleih chriſtianiſiert. Als Geſchichtsphiloſoph faßte Auguftinus 
Wiffen und Bildung der gefamten Zeit in fo großartiger Weife zuſammen, 
wie feiner vor ihm. Wie fein Werk über die letzten Ausläufer des Heiden: 
tums, jo ragte die wirkliche Stadt Gottes, die Kirche, jchon herrlich über 
die Bölfer empor. 

Was noch am meiften mangelte, war die Chriftianifierung der welt: 
lihen Wiffenihaft und Literatur. Die größten Geifter zogen ſich meift aus 
dem Gemwühl der Welt zurüd und widmeten ſich ausjchließlih dem Dienfte 
der Kirche. Die Kriftlihen Laien am Hofe der Kaifer aber und in den 
höheren Kreifen Roms ftanden nod vielfach unter dem Einfluß altrömijcher 





184 Zwölftes Kapitel. 


Überlieferung und Sitte, in ftetem Verkehr mit Heiden und unter der nad): 
teiligen Einwirkung des religiös und ſittlich wie geiftig und künſtleriſch zer= 
fallenden Heidentums. Im Gemwirr kriegeriſcher und politiſcher Berwidlungen, 
weiter Reifen, glängender Feſte und Spiele, vornehmen Wohllebens oder ehr: 
geiziger Beftrebungen machten fie felten recht Ernſt mit der übung des 
Ghriftentums. In den langen Kämpfen mit dem Arianismus und andern 
Härefien hatte die Kirche nie freie Hand gehabt, die Schule im weiteſten 
Umfang zu organifieren umd ein völlig neues Geſchlecht heranzuziehen. So 
waren weltlide Bildung und Literatur noch großenteil® in den Händen 
bon Heiden geblieben, welche denn auch diefes Gebiet einigermaßen als ihre 
Domäne betradhteten und zum Vorteil des Heidentums auszunußen juchten. 
Ihr Einfluß wurde indes nit nur durch den entjcheidenden Sieg des 
Theodofius, die Bedrängniffe des Reiches von jeiten der Barbaren und die 
wadhjende Macht des Chriſtentums herabgeſtimmt, aud in ihren eigenen 
Reihen herrjchte mehr gejhäftige Rührigfeit, von der altklaſſiſchen Erbſchaft 
zu zehren, als friſche Kraft, ſelbſtändige Fruchtbarkeit und geiftige Bedeutung. 

Bon Quintus Aurelius Symmadhus, der al& angejehener 
Optimat und Beamter durd feine vielen perjönlihen Beziehungen eine Art 
Sammelpunft für die heidniſche Partei zu Rom bildete, ift ein von jeinem 
Sohn herausgegebener Briefwechjel erhalten, welcher die ganze Lage und das 
Niveau der heidniſchen Bildung ziemlich anſchaulich zeihnet!. Er reicht von 
375—402 und umfaßt (47 Relationes oder Amtsjchreiben eingerechnet) 
1049 Nummern. Zu den von geiftigem Gehalt überftrömenden Briefen 
eines Auguftinus oder Hieronymus kann man jih faum einen jchrofferen 
Gegenjag denten. Die größere Maſſe diefer Epistulae find kurze, inhaltlich 
völlig unbedeutende Zettel, Glücwünſche, Komplimente, Grüße, Beileids- 
bezeigungen, Zodesanzeigen, Einladungen, Empfehlungsbriefe, Fürbitten für 
andere und Bitten für fih, Beftellungen (z. B. von Rennpferden, Gladiatoren 
und jeltenen Tieren für die öffentlichen Spiele”), offenbar gar nicht für 


' Ältere Ausgaben von Schott, Straßburg 1510; Gelenius, Baſel 1549; 
Bluretus, Paris 1580; Bectius, Genf 1587; Scioppius, Dlainz 1608; 
Paräus, Neuftadbt a. d. H. 1617; Wingendorp, Leiden 1658; Migne, Patr. 
lat. XVIII 141— 405. — Neue tritifhe Ausgabe von DO. Seed (Q. Aurelii Sym- 
machi quae supersunt, Berol. 1883. Monum. Germ. Hist. Auct. antiquissimi 
VI 1). — E. Morin, Etudes sur la vie et les 6crits d. S. Paris 1847. 

? „Ein großer Teil ber Korreipondenz des Symmachus ijt den Sorgen ge- 
widmet, welde ihm die Aufführungen bei feiner Verwandten Beförderung und bei 
andern Gelegenheiten verurſachen. . .. Man war froh, wenn nur für die fremden Tiere 
ber Zoll erlaffen wurde (Symmachi Ep. V 62). Das wichtigſte war immer bie 
Auswahl ber Pferde für die Eirkusfpiele.... Num hatte fi) der römische Geihmad 
in dieſer Beziehung bergeftalt verfeinert, daß man beftändig mit Pferderafjen ab- 
wechſeln mußte (ebd. IV 63); Kommijfionäre burchftrichen die halbe Welt, um Neues 


Das letzte Auffladern der heibnifchen Literatur. 185 


die Veröffentlihung beſtimmt, wenn der Briefichreiber auch ftet3 bemüht ift, 
den gewöhnlichiten Verkehrsformeln eine zierliche und verbindliche, mo möglich 
neue Wendung zu geben. Auch für die Zeitgefchichte bieten die Briefe diejes 
Konſuls und Stadtpräfelten nur den dürftigften Ertrag. Das intereflantefte 
daran ift die Mannigfaltigteit der Adreffaten, da Symmahus mit aller 
Welt in Verbindung ftand, mit den Kaifern Theodofius, Gratian und 
Arcadius, mit den TFeldherren und Staatsmännern Ricomeres, Zimaftus, 
Rufinus, Stiliho, Bauto, Siburius und Eutropius, mit den heiligen 
Biſchöfen Ambrofius und Paulinus von Nola, mit dem Dichter Aufonius, 
mit den Söhnen des heidniichen Fanatikers Flavianus Nicomahus, mit dem 
nod für das kraſſeſte Gögentum ſchwärmenden Vettius Agorius Prätertatus, 
mit den chrifllichen PBatriziern aus dem Haufe der Anicier, mit einem ganzen 
Schwarm vornehmer Berwandten, mit allen möglihen Senatoren und 
Senatorenjöhnen, Klienten, Rhetoren, Poeten, Zribunen und Notaren — 
wahrhaft der Onkel der ganzen hohen Welt und der gejchäftige Gönner 
derer, die ji von deren Glanz beftrahlen laffen wollten, ftet3 ängſtlich be- 
ftrebt, ſich als mufterhaften Gentleman und feinen Stiliften zu zeigen, 
furchtſam bejorgt, jemand auf die Füße zu treten, erfüllt von den Er— 
innerungen altrömijcher Größe und Herrlichkeit, aber ohne andere Kraft, als 
fi) daran zu fonnen. 

Wie jeine politiichen Schwankungen, jeine Unentſchloſſenheit und Schwäche, 
jo erinnern aud) jeine Vielgefhäftigkeit, jein Wohlwollen, feine Weichheit und 
Eitelteit oft an Cicero und deſſen Schwächen; über von deſſen feurigem 
Temperament, bon deſſen Geift und vielumfaffendem Wiſſen findet fich bei 
Symmahus faum eine Spur. Sein Stil iſt künſtlich gedrechjelt und 
Ihmwulftig wie derjenige des jüngeren Plinius. Auch feine Reden, von denen 


und Außerordentliches zu finden und behutiam nah Rom zu transportieren. Sym- 
machus jhreibt an dieſe Lieferanten in jo verbindlichem Ton als an irgend jemand. 
Für die Tierfämpfe in den Theatern und im Kolofjeum, für die Jagden (Sylvae) 
im Eirfus Marimus bedurfte man zunähft der Glabiatoren, ‚einer Fechterſchar 
ihlimmer als die des Spartafus‘; au gefangene Barbaren, 3. B. Sachſen, traten 
bisweilen auf“ (ebd. II 46; I. Burdhardt, Die Zeit Konftantins des Großen 
457 458). — Burdharbt übergeht dabei den Galgenhumor, mit welhen Symmadhus 
fih darüber tröftete, dab meunundzwanzig ſächfiſche Gefangene fi einmal durch 
Selbſtmord ber entjeglihen Schauftellung entzogen: Sequor sapientis exemplum et 
in bonam partem traho, quod Saxonum numerus morte contractus intra summam 
decretam populi voluptatibus stetit, ne nostrae editioni, si quid redundasset, 
accederet. Nam quando prohibuisset privata custodia desperatae gentis impias 
manus, cum viginti et novem Saxonum fractas sine laqueo fauces primus ludi 
gladiatorii dies viderit? — In bemjelben Brief reiht fid) dann an bie neunund— 
zwanzig Sachſen eine „Büren*Beitellung: Nostros, quibus ursorum lectio et com- 
paratio iam pridem credita est, pervectos ad te temporis aestimatione non ambigo 
(bei Seed a. a. ©. 57). 


186 Zwölftes Kapitel. 


allerdings nur wenige und dieje nicht einmal vollftändig erhalten find, leiden 
an GeziertHeit und Bombaft. Den Kaiſern gegenüber wahrt er im feinen 
Lobreden eine gewiſſe ariftofratiiche Würde; feine unvorſichtige Lobrede auf 
Marimus bradie ihm jedod eine Hocverratsanklage auf den Hals, und 
nachdem ihm das Aſylrecht einer novatianifchen Kirche das Leben gerettet, 
beeilte er fih, dur das Lob des Theodofius die frühere Lobrede auf 
Marimus zu begraben. Im Heidentum erblidte er den Lebenskeim der 
römischen Größe und Herrlichkeit und machte daraus kein Hehl ; dem Ehriftentum, 
für defjen Bedeutung ihm der Blid mangelte, trat er indes nicht ſchroff 
gegenüber, jondern verlangte nur, daß man ihn und feine Freunde bei dem 
Glauben laffe, „der einft lange dem Staat gefrommt habe“, und „da fie 
als Greife auf ihre Nahfommen vererben dürften, was fie als Knaben 
überfommen“. Das Befte, was er gejchrieben, it jeine Schon früher er- 
wähnte Relatio. So geſchickt diejelbe indes au auf das Nationalgefühl 
und die Schwächen unflarer, ſchwankender, weichherziger Chriften berechnet 
war, jo ſchwach waren die eigentlihen Gründe, welche er für jeine For— 
derungen vorbrachte. Es handelte fih um eine verlorene Sache, der noch 
jo ſchön gezirkelte Sätze und jo ergreifende Erinnerungen nicht mehr auf: 
helfen konnten. 


Als PHilofophen nennt Symmadhus einen gewiſſen Batradus, dann Maximus, 
Asflepiades, Jamblihus, Niciad und Celſus; alle übrigen erklärt er als Schwindler, 
und auch die Genannten jcheinen völlig bebeutungslos gewejen zu fein. Mafrobius 
erwähnt einen Fauftlämpfer Horus, der nah unzähligen Boxereien fi ber Philo- 
fophie zumwandte und fi als Eynifer einen Namen machte. Der eigentliche Leib- 
philofoph des Symmahus aber war ber erwähnte Bettius Agorius Prü- 
tertatus, „Augur, Priefter der Veſta, Priefter des Sol, Fünfzehnmann, Kurial 
bes Herfules, Eingeweihter bed Bachus und der eleufinifhen Deyfterien, Hierophant, 
Tempelwart, burd das Taurobolium geheiligt, Vater ber Väter, dazu Quaestor can- 
didatus, Stabdtprätor, Korrektor von Zuscien und Umbrien, Konjular von Lufitanien, 
Protonful von Achäa, Stabtpräfelt (367—370), fünfmal Gejfandter des Senats, 
Praefectus Praetorio für Italien und Illyrien, 385 befignierter Konſul“, ein in 
Aberglauben und Zitelhochmut verrofteter Heide, der, ald alle Götter und Myſterien 
ihn im Kampf gegen das EChriftentum im Stiche ließen, es auch noch mit ber Philo- 
fophie verfuchte und bie Paraphrafen des Themiftius zu den Libri analytici priores 
et posteriores des Ariftoteles ind Lateiniſche überſetzte. 

Als Redner werben von Symmachus Yulianus, Antonius, Gregorius und 
Severus aufgeführt. Erhalten ift eine fachlich interefiante Lobrede, die Latinus 
Drepanius Pacatus, ein Landsmann und freund des Aufonius, 389 im Senat 
auf Theobofius I. hielt. 

Bon den Söhnen und Bettern des Flavianus Nicomachus jchrieb einer „Ans 
nalen“, andere wandten ihre Sorgfalt bem Texte des Livins zu. Die Grammatifer 
Servius und Tib. Claudius Donatus fhrieben Kommentare zu Bergil. Fla— 
bins Begetius ftellte aus früheren Militärihriftftellern einen „Abriß des Militär- 
weſens“ zufammen; vielleicht derſelbe Vegetius ſchrieb aud einen Traktat Über Zier- 
heilkunde. 


Das letzte Auffladern der heibnifchen Literatur. 187 


Der einzige eigentlich nennenswerte Profajchriftfteller ift der Geſchicht— 
ihreiber Ammianus Marcellinus. Er war aus Antiodhien gebürtig, 
diente als Reiteroffizier erft zu Nifibis und Antiodien, wurde um 354 
nah Mailand und Köln fommanbdiert, folgte Julian auf feinen erften 
Feldzügen, wurde dann wieder nad Mejopotamien gefandt, madte 359 
die fiegreihe Berteidigung don Amida mit, diente unter Julian gegen 
die Perjer, lebte bis 378 in Antiodien, von wo aus er Ägypten und 
Griehenland bereift zu haben jcheint, zog endlich über Thracien nad Rom 
und lieb ſich Hier bleibend nieder, um ſich fürder wiſſenſchaftlicher Tätigkeit 
zu widmen. Er ſchloß ih eng an Symmachus und deſſen Partei an und 
fand vielleicht fogar Aufnahme in den Senat. Im Yahre 391 bradte er 
bereit3 die erften Teile feines Geſchichtswerkes zum Abſchluß, das ſich ala 
Fortſetzung an die Annalen des Tacitus reiht, und konnte diefelben in Rom 
rezitieren. Bon da ab verfiegen die Nachrichten über ihn. 

Sein Werf (Rerum gestarum libri!) behandelte die römische Geſchichte 
von Nerva bi zum Tode des Valens (96— 378); erhalten find aber nur 
die Bücher XIV—XXXI, melde die Jahre 353—378 umſpannen, eine 
Zeit, die er ſelbſt als tüchtiger Soldat in wichtigen, kriegeriſchen Epifoden 
mitgelebt hat. Die meiften Territorien des weiten Reichs, die hervorragendften 
Männer und die allgemeinen Verhältniffe fennt er aus eigener Anſchauung; 
er berichtet offen und reblich, urteilt verftändig, kräftig umd derb; dagegen 
ift er als Stilift linkiſch und ungeſchickt, prunkt mit feiner Gelehrjamfeit und 
ift oft bis zur Unverftändlichkeit geziert und ſchwulſtig. Er hängt noch mit 
echt heidniſchem Aberglauben an VBorzeihen und Wunderzeihen, Auſpizien 
und Augurien, verehrt die Götter des alten Olymps, jchreibt aber die Welt: 
regierung einer ziemlich unbeftimmten, allgemeinen Gottheit, dem Fatum und 
der Fortuna, zu. Das ChHriftentum behandelt er achtungsvoll, verwahrt fich 
dagegen, daß man es nur al3 Altweibermärchen anjehe, und tadelt ſogar 
den von ihm fonft hochverehrten Julian, daß er es den Chriften vermehren 
wollte, Rhetorit und Grammatik zu lehren, wenn fie nicht zum SHeidentum 
übergingen. 

Auch auf dem Gebiete der Poeſie hat das Heidentum nur noch einen 
wirflih bedeutenden Vertreter aufzuweilen. Der heidniſchen Senatspartei 
fann der hochbegabte Elaudius Claudianus freilih kaum beigezählt 
werden, da er mit Symmadhus in gar feiner näheren Beziehung fand. Es 
wird ſogar darüber geftritten, ob er Heide oder Ehrift geweien. Man 





Erasmus, Bafel 1518; Aecurfius, Augsburg 1583; Gelenius, Bafel 1583; 
I. U Wagner, Leipzig 1808; F. Eyſſenhardt, Berlin 1871; B. Gardt— 
baujen, Leipzig 1874/75. — Gimazane, Ammien Marcellin, sa vie et son 
auvre, Toulouse 1889. — W. C. Cast, Quaestiones Ammianae, Berol. 1868. 


188 Zwölftes Kapitel. 


braucht ihm aber nur mit Prudentius zu vergleichen, um zu erfennen, daß 
die chriſtlichen Ideen und Jdeale nicht die Seele jeiner Poefie geweſen find, 

Bermutlih um das Jahr 370 zu Alerandrien geboren, fam er noch 
im jugendlichen Alter nah Rom, in griechiſcher wie lateinischer Sprache und 
Berjififation gleih gewandt, machte durch ein Lobgedicht auf die beiden 
jugendlihen Konſuln Olybrius und Probinus, die beide der dhriftlichen 
Familie der Anicier angehörten (395), Aufſehen bei Hofe, ward zum Tribun 
und Notarius (mit dem Prädikat vir clarissimus) erhoben und trat ver: 
mutlich in den Dienft Stilichos, der fürder der Hauptheld feiner Mufe war. 
Seine größeren lateiniſchen Werke find faft ſämtlich politiiche oder höfiſche 
Gelegenheitsdichtungen: Lobgedichte auf das dritte, vierte und jechfte Konjulat 
des Kaiſers Honorius (396 398 403), Schmähgedidte auf den Reiche: 
verivejer Rufinus in Sonftantinopel (zwiſchen 395 und 397) und den ge 
fürzten Eunuchen Eutropius (399), ein Feilgediht auf die Hochzeit des 
Honorius mit Maria, der Tochter Stilihos (398), ein Gediht auf den 
Krieg des Gildo in Afrika (398), drei Bücher auf das Konſulat des 
Stiliho (400), zwei Gedichte an Serena, die Gemahlin Stilihos. Für 
jeine legten großen Lobgedichte wurde ihm um 402 der Rang eines Patricius 
und eine Statue auf dem Trajansforum zu teil, deren Inſchrift 1493 
wieder ausgegraben wurde. Alle diefe Gedichte find geſchichtlich überaus 
intereffant, bi$ zu einem gewilfen Grad aud ala Geſchichtsquellen wertvoll, 
weil fie über Stiliho und die gefamte Zeitgejchichte die merfwürdigften 
Einzelheiten enthalten, fie find aber auch in künftleriicher Hinficht jehr 
glüdlih entworfen, wahrhaft dichterifch bejeelt und im reicher, gewählter 
Sprade, oft mit dem Iebhafteften Schwung ausgeführt. Auch den drei 
Büchern „Bom Raube der Projerpina“ feinen zeitgefchichtliche Anjpielungen 
nit ganz fern zu liegen, obwohl der Mythus jelbft ganz unabhängig von 
denjelben in echt Haffiiher Abrundung durchgeführt ift?. 


ı Als Ehriften (doc) eigentlich als bloßen Namenschriften) betrachtet ihn Th. Birt 
(Prolegomena ıxım—ıxvuı und De moribus christianis, quantum Stilichonis 
aetate in aula imperatoria valuerint), Marburg 1885; ebenfo Vollmer (Art. 
„Glaudianus“ bei Pauly» Wijjomwa, Real-Encyllopädie II 2656). E. Arens 
(Elaubdian, Ehrift oder Heide? in Hiftor. Jahrb. der Görres-Gejellihaft XVII [1896] 
1—22) neigt der Annahme zu, daß ihm das Carmen paschale abzufpredhen und er 
einfach als „Vertreter des Heidentums“ anzufehen jei. — Nah G. Rauſchen (Jahr: 
bücher der Kriftlihen Kirche unter Theodofius d. Gr., Freiburg 1897, 555—559) 
war er „mweber ganz Heide noch ganz Ehrift, aber doch mehr Heide als Chriſt, nad 
der Überzeugung feines Herzens wahricheinfich weder das eine noch das andere”. 

® Ausgaben von Celſanus, Bicenza 1482; Ugoletus, Parma 1500; 
Parrhafius, Mailand 15005 Gamers, Wien 1510; Afulanus, Venedig 
1528; Bentinus, Bafel 1584; Elaverius, Paris 1602; Scaliger, Ant— 
werpen 1608; Barth, Hanau 1612, Frankfurt 1650; Heinfius, Leiden 1650; 
Gesner, Leipzig 1759; Burmann, Amfterdam 1760; Königs, Göttingen 1808; 


Das letzte Auffladern ber heidniſchen Literatur. 189 


In all diefen Gedichten findet fi kein Ausdruck chriſtlichen Glaubens 
und riftliher Gefinnung, nicht die leifefte Andeutung davon. Das Chriſten— 
tum ift jo vollkommen ignoriert, als ob es gar nicht auf der Welt wäre. 
Wie fein anderer römischer Dichter der legten Jahrhunderte ift Claudian mit 
allen vorausgegangenen Dichtern, bejonders jenen des auguſteiſchen Zeitalters, 
veriraut. Er hat fi ihre Sprade vollkonmen angeeignet; er fennt alle 
Feinheiten der Metrif und jpielt damit. Seine Verſe fließen fo leiht und 
anmutig dahin mie jene Obids. Er Iebt und webt aber aud ganz in den 
Anihauungen der Alten, in ihrer Götterwelt, in ihrem Mofteriendienft, in 
dem Kalender der „Faſti“, in der bunten Geftaltenfülle der „Metamorphofen“, 
in dem Römerſtolz umd der künſtleriſchen Selbftgenügjamkeit des Horaz, in 
der Gäfarenverehrung Bergils. Nur Heißt Auguftus jet Theodofius oder 
Honorius, Mäcenas Stiliho; zumeilen treten auch die Saifer zurüd gegen 
Stiliho, melden er den „Vater des Reiches”, ja zweideutig „Fürſt“ und 
„König“, den „Göttern nahelommend“ nennt, ja als Gott verehren möchte, 
wenn er es ſich nicht jelbft verbeten hätte. 

Aut regio quae non pro numine vultus 
Dilectos coleret, talem ni semper honorem 
Respueres !, 

Zweimal befingt er ausführlihd den Triumph des großen Theodofius 
über Eugenius und Flavianus Nicomahus?; aber aus jeinen Verſen ließe 
ih nicht entfernt ahnen, daß es fich dabei um den letzten Entſcheidungskampf 
zwifchen Heidentum und Chriftentum gehandelt hat. Eugenius ift nur ein 
Tyrann, Flavian ein Rebell, welcher die Einheit und Größe Roms bedrohte, 
Den Sieg hat nicht Ehriftus, jondern die heidniſche Victoria erftritten. Auch 
den großen Sieg Stilichos bei Pollentia ſchreibt er der Victoria zu; fie bat 
das jechfte Konſulat des Honorius herbeigeführt, ihr gehört der Senat, fie 
ladet Stiliho ein, al3 Konſul feinen Plab in Rom einzunehmen: 

Quae vero procerum voces, quam certa fuere 
Gaudia, cum totis exsurgens ardua pennis 

Ipsa duci sacras Victoria panderet aedes! 

O palma viridi gaudens et amica trophaeis 

Custos imperii virgo, quae sola mederis 

Vulneribus nullumque doces sentire Jaborem: — — 


Adsis perpetuum Latio votisque senatus 
Annue, diva, tui®, 


2. Jeep (I, Leipzig 1876; 11, ebd. 1879); Th. Birt (Monum. Germ. Hist. 
Auctores Antiquissimi X), Berlin 1892; 3. Rod, Leipzig 1893. — über bas 
Leben bed Dichters geben ben beften Aufſchluß die Prolegomena bei Birt, De 
Claudiani vita et scriptis et temporum historia 1—ıxıx. — Bgl. Bollmer 
a. a. D. II 2652—2660. ı XXII 179 (bei Birt a. a. ©. 209). 

2 VII 63—72; VIII 72—108 (bei Birt a. a. ©. 143 152 f). 

» XXIV 202 ff (bei Birt a. a. ©. 227 f). 


190 Zwölftes Kapitel. 


Gegenüber den Bemühungen des hl. Ambrofius und des Prudentius 
ſpricht dieſes Gebet an die Victoria deutlih genug. Der hf. Auguftin und 
Drofius Haben ſich nicht getäufcht, wenn fie Claudian ald Dichter für einen 
Heiden hielten!. Er Hat allerdings nirgends das Chriftentum angegriffen, 
aud nicht offen für das Heidentum gefämpft, aber bewußt oder unbewußt 
für dasjelbe Stimmung gemadt, vielleiht wirkjamer als Symmachus. 

Daran ändert nichts, daß ſich unter jeinen Heineren Gedichten ein jehr 
ſchönes lateiniſches DOftergediht und zwei griehiihe Epigramme auf den 
Erlöfer finden. Da fein Heidentum nichts von dem verbiffenen Fanatismus 
eines Flavianus Nicomahus oder eines Prätertatus an ſich Hat, jondern 
lediglih poetiih und humaniftiih in der Schönheit der antiten Mythologie 
und Poeſie jchwelgt, da er an einem riftlihen Hof und in ftetem Verkehr. 
mit Chriften lebte, fi der Feier hriftlicher Feſte wohl kaum entziehen konnte, 
und da nichts darauf Hindeutet, dab er je in religiöfen Zwift geraten, jo 
ift es gar nicht ausgeſchloſſen, daß er fih im praftifchen Leben äußerlich 
feiner Hriftlihen Umgebung alkommodiert, zulegt nod das Ehriftentum fennen 
gelernt und auch innerlih angenommen hat, wäre es auch erft am letzten 
Oſtertage jeined Lebens gewejen. Denn er ift jung geftorben; nad 404 
verliert fi jede Spur von ihm. 

Als Dichter gehört er unzweifelhaft noch der heidniſchen Antike an; 
er ift ihr Iehter bedeutender Vertreter. Daß er nicht früher dem Chriften- 
tum näher getreten und ein chriftlicher Dichter geworden, ift ficher zu bes 
dauern. Die Zeiten waren vorüber, wo der „Raub der Projerpina“, diejer 
Hauptmythus der eleuſiniſchen Myſterien, mehr als ein hHumaniftifches Märchen 
hätte fein können. Sein Hauptheld Stiliho aber hatte dem Chriftentum zu 
große Dienfte erwiefen, um in einen römiſchen Halbgott umgewandelt zu 
werden, und war anderjeits ein zu flauer Ehrift, um in jener antifen Be- 
leuchtung die Liebe und Verehrung hriftliher Völker zu gewinnen. Mag 
Glaudian an techniſcher Leichtigkeit und Formgewandtheit Prudentius über: 
flügeln, an geiftigem, ja jelbft an poetiihem Gehalt fteht er weit Hinter 
ihm zurück. Schon da er die jhönften lateinischen Verſe einem Vandalen 
zu Füßen legte, zeigte den inneren Widerjprud, in welchen die antife Welt 
ſich verftridt Hatte und in weldhem fie ihrer Auflöfung entgegenging: 

Zwölf Jahre nachdem die Leier Glaudiand verfiummt war, im 
Jahre 416, bejchrieb ein vornehmer Gallier, Rutilius Namatianus, 
in glatten, tadellofen Diftichen feine Reife von Rom über Oftia, die Küfte 
entlang, nad Gallien. Er hatte es in Rom zu hohen Würden gebradt, 
war faiferliher Haushofmeifter (magister officiorum), 414 fogar Stadt: 





! Poeta Claudius quamvis a Christi nomine alienus (8. August,, De civ. 
Dei V 26). — Paganus pervicacissimus (Orosius, Hist. VII 35). 


Das letzte Auffladern ber heidniſchen Literatur. 191 


präfeft geworden. Allein die Welt war bereit3 auß den Fugen. Die Scharen 
Aarihs Hatten Rom geplündert. Jetzt wurde Gallien von den Weftgoten 
heimgeſucht, und jo waren aud Namatians reihe Befigungen in Südgallien 
bon ihnen vermwüftet worden. Dad war die Urſache der Reife. Trotz allen 
Unheils war der hartnädige Heide jo wenig wie Symmachus und Glaudian 
an der Größe des heidnifhen Rom wankend geworden, er hoffte vielmehr 
au jetzt noch von den alten Göttern Heil und Rettung. Wie ein Lucilius 
und Horaz vertrieb er fi) die Zeit mit Verſemachen. Seine Reifebejhreibung ! 
iſt halb Idyll, Halb Satire. Zwiſchen die Reifenotizen fügen fich Bere 
zum Lobe der Götter, Erinnerungen an Freunde und Verwandte, alte 
Göttermpthen, rhetoriiche Kunftftüdchen, gelegentliche Ausfälle, z. B. gegen 
die Juden? und gegen Stiliho wegen jeined Vertrages mit den Goten?. 
Hür das Ghriftentum hat er nicht das mindefte Verſtändnis. Den Mönden 
auf der Inſel Gapraria widmet er darum folgende Bere: 
Weiter drüben vom Meer hebt fi) die Caprariſche Inſel: 
Männer, jcheuend das Licht, füllen den traurigen Strand. 
Mönche nennen fie fih mit fremden, griechiſchen Namen, 
Weil fie leben allein wollen und ohne @eleit. 
Wie wir fürdten den Zorn, jo fie die Gaben bes Glüdes; 
Mer maht elend fich jelbft, um ja nicht elend zu jein? 
O ber närrifhen Wut des völlig verdrehten Gehirnes; 
Während das Böſe du flieht, raubjt du das Gute dir felbft! 
Mögen die Zühtlinge nun vom Schidjal erwarten bie Strafen, 
Ober ihr Inneres blähn Galle ber ſchwärzeſten Art. 
Denn ber Galle bereits ſchrieb zu ber alte Homerus 
Bellerophontifher Qual Liebes: und Lebensperbruß. 
Denn getroffen vom Pfeil des Schmerzes, jo gehet die Sage, 
Faßte des Yünglings Herz Ekel am Menjchengeichledt *. 


Noch entrüfteter fühlte Fich der vornehme Lebemann, als er auf einer 
andern Küfteninjel einen hochgeborenen jungen Römer aus feiner eigenen 
nächſten Belanntihaft traf, der fih in einer unwirtlichen Felſenhöhle als 
Einfiedler niedergelaffen hatte: 

Aus den Fluten empor redt fi) das umfloffene Gorgon 
Zwiſchen dem Pififhen Strand und dem von Eyrniafum. 


Gegenüber dem Fels, dem Dentmal neulihen Schiffbruchs, 
Wohnte ein Bürger von uns lebend bereits in dem Grab. 





ı Herausgeg. von J. B. Pius, Bologna 1520; 4. Caftalio, Rom 1582; 
C. Barth, Frankfurt 1623; Th. Almeloveen, Amfterbam 1687; 1. W. Zumpt, 
Berlin 1840; 3. 3. Eolombet, Yon 1842; %. Müller, Leipzig 1870; 
Bährens (Poetae latini minores), Leipzig 1883. — Deutſch überjeßt und erflärt 
von JtafiusLemniacus (A.v.Reumont), Berlin 1872. — Bgl. N. Lardner, 
Works VIII, London 1838, 88 -90. 

? Itinerar, I 383 f. » Ebd. IT Alf. 

* Ebd. I 439— 452, überfegt vom Berfafler. 


192 Dreizehntes Kapitel. 


Kürzlich verließ er uns erft, ber Jüngling, von ebelften Stamme, 
Uns befreundet und reich, würdiger Gattin vermäßlt. 

Furien trieben ihn an, vor Göttern und Menſchen zu fliehen, 
Und wahngläubig verfrod er fi in biejes Verfted. 

Armer Tropf! Im Schmutz meint Himmlifches er zu verfoften, 
Quält fi ärger, als je ftrafet ein zürnender Gott! 

Iſt nicht ſchlimmer, o fprid, die Sekte als Eirces Bezaub’rung ? 
Dieje verwandelt ben Leib, jene die Seele zum Tier!!! 


Bon Namatians weiteren Schichſſalen wiffen wir nichts. Anfang und 
Ende feines Jtinerariums find nur in verftümmelter Faſſung auf uns ge: 
fommen. Soviel ift indes ficher, daß die alten Götter ihn und Rom voll- 
ftändig im Stiche gelaffen haben, das von ihm veraditete Möndtum aber 
die furchtbaren Kataftrophen jener Zeit überdauert hat. 


Dreizehntes Kapitel, 


Die Sateinifhe Dichtung unter den lebten weſtrömiſchen 
Kaiſern. 


Die dichteriſche Prophezeiung des Prudentius, das einmal chriſtlich 
gewordene Römerreich würde allen feindlichen Gewalten trotzen und ewig 
weiter dauern, jollte fich nicht erfüllen. Wohl war das mächtige Römerreich 
berufen geweſen, der Kirche die Wege zu bereiten, aber verſchmelzen follten 
fie fih nicht. Ihre Ziele waren ganz verichiedener Natur. Die Kirche fonnte 
das ſchon tief erjchütterte, ſinkende Reich nicht vor dem Untergange retten. 
Schon unter Gallienus (um 260) begannen Einfälle der Barbaren dasjelbe 
zu beunrubigen. Im Jahre 406 brachen germaniide Scharen unter Radagais 
in Gallien ein; 410 ward Rom durch Alarich geplündert; 415 gründeten 
die Weftgoten ihre Herrſchaft in Südfrankreih und Spanien; 429 eroberten 
die Bandalen Afrika, 452 verwüfteten die Hunnen unter Attila Italien, 
455 verheerte Geiferih auh Rom, 476 ward das weſtrömiſche Reich durch 
Odovakar vernichtet, 486 endlich fiel das nördliche Gallien in die Hände der 
Franken. Die noch jugendfräftigen Barbarenvölfer triumphierten über die 
morſche römiſche Überkultur. 

Auch die Freunde der Literatur konnten unter all dieſen Kataſtrophen 
und Drangſalen wenig mehr leiſten. Es fehlte friedliche Ruhe und Muße, 
es fehlte die Grundlage einer ungeſtörten literariſchen Tätigkeit. 

Ein ſprechendes Zeitbild gibt uns die in 616 Herametern abgefaßte 
Selbftbiographie des Paulinus von Pella, eines Enkels des Dichters 


' Itinerar. I 515—526, überjegt vom Verfaſſer. 


Die lateiniſche Dichtung umter ben letzten weſtrömiſchen Kaifern. 193 


Aufonius, welder, 376 zu Pella geboren, jene Erzählung feiner Lebens— 
ſchickſale im Jahre 459 als vierundadhtzigjähriger Greis niederjchrieb !. 
Sein Vater Heiperius war Präfelt von Macedonien, wurde aber, als 
der Knabe faum neun Monate alt war, nad Karthago verjeßt. Die Familie 
zog dahin auf dem Landwege über die Alpen und dann über das Tyrrhenifche 
Meer. Don Karthago ward Hejperius mad anderthalb Jahren abermals 
verjeßt, diesmal in die Heimat jeiner Familie, nad) Bordeaur, wo Paulinus 
als dreijähriger Knabe noch jeinen Großvater, den alten Dichter, fennen 
lernte. Durch die Dienerfhaft ward er zuerft mit dem Griechifchen vertraut, 
las Jjofrates und Homers Ilias und Odyſſee. Dann erft fam das Lateinische 
mit Vergil an die Reihe, das ihm anfänglich ſehr jhwer fiel. Sehr Fromm 
und keuſch erzogen, dachte er ernfllih daran, fih ganz Gott zu weihen; 
die Eltern waren indes damit nicht einverjtanden. Nach einer jchweren 
Krankheit, die ihm nötigte, zeitweilig die Studien mit Spiel und Jagd zu 
vertauſchen, heiratele er die Tochter einer vornehmen Familie und ward durch 
gute Bewirtihaftung jeiner Güter zum wohlhabenden Mann. Sein Vater 
ftarb aber bald. Durch wiederholte Barbareneinfälle verlor Baulinus alle jeine 
Befigungen und feine Habe. Der Tod entriß ihm darauf feine Gattin und 
mehrere der nächſten Verwandten. Bon feinen zwei Söhnen ftarb der eine früh 
ala Presbyter, der andere ließ den hart bedrängten Vater im Stih. Was den 
ſchwer geprüften Mann in all diefen Schichſalsſchlägen aufredht erhielt, war 
feine tiefe Religiofität. Faſt völlig verarmt, 30g er im Alter von fünfund: 
vierzig Jahren nach Marjeille und juchte fih da durch Bebauung eines einen 
Gütchens durchzuſchlagen; aber auch Hier hatte er nur Mikerfolg und kehrte 
nad) Bordeaur zurüd, wo er endlich einen Käufer für das Gütchen in Marjeille 
fand und fo viel herausſchlug, daß er aus der größten Not errettet war. 
Dafür dankt er Gott von ganzem Herzen, bittet ihn um Mut und 

Stärke und um feinen Schuß in allem, was ihm nod) fürder begegnen mag. 

Sed, quaecumque manet nostrum sors ultima finem, 

mitiget hanc spes, Christe, tui conspectus et omnem 

discutiat dubium fiducia certa pavorem, 

me, vel in hoc proprio mortali corpore dum sum, 


esse tuum, cuius sunt omnia, vel resolutum 
corporis in quacumque tui me parte futurum. 


Ein Seitenftüd, wenn auch ein weniger düfteres, zu dieſem bielgeprüften 
Dichterleben bieten die Schidjale des afritaniihen Rhetors Bloffius 





! Sie trägt den Zitel Eucharisticos — „Dankgebet“. Zuerſt herausgeg. von 
Marguerin be la Bigne, Paris 1573; dann von 8. Leipziger, Breslau 
1858; W. Brandes, Wien 1888, in den Poetae christiani minores (Corpus 
script. ecel. lat. XVI 268—334). — J. Rocafort, De Paulini Pellaei vita et 
carmine, Bordeaux 1890. 

Baumgartner, Weltliteratur. IV. 8. u. 4. Aufl. 13 


194 Dreizehntes Kapitel. 


Aemilius Dracontius, der gegen Ende des fünften Jahrhunderts in 
Karthago lebte und beim dortigen Prokonſul eine Stelle bekleidete. Er ſcheint 
zu einer jener römiſchen Familien gehört zu Haben, welche die Bandalen bei 
der Eroberung in ihrem Befigftande beließen, und lebte mit zahlreicher Familie ! 
in Wohlftand und Ehre. Er muß ſich indes erlaubt haben, ftatt den König 
Gunthamund, der von 484—496 regierte, den Kaiſer von Byzanz zu be 
fingen, fam hierdurch in Verdacht geheimer Beziehungen zu den Oftrömern und 
zog fi jo den höchſten Zorn des Königs zu. Er ward aller feiner Güter 
beraubt, jo daß die Seinigen in die äußerfte Not gerieten, ins Gefängnis 
geworfen und jogar graufam mißhandelt. Während feiner Gefangenſchaft 
verfaßte er zwei Gedichte: eine Elegie in 158 Diftihen, Satisfactio über- 
jhrieben, und eine größere religiöje Dichtung in drei Büchern, mit dem Titel 
Laudes Dei, in deren Prolog er abermals an die Gerechtigkeit und Milde 
des Königs appelliert?, 

Das Beitreben der Dichter ging in diefer trüben, ſchweren Zeit mehr 
darauf aus, zu tröften, zu belehren, zu erbauen, als in der Form neue 
Wege einzujhlagen und eigentliche Kunſtwerle zu ſchaffen. Von den meiften 
Dihtern find nur die dürftigften Nachrichten vorhanden, oft faum mehr 
als der Name, und bei etlihen Dichtungen fehlt auch diefer. Ein „Ges 
dicht über die göttlihe Vorjehung“, um 415 oder 416 abgefaht, das 
tüchtige theologische Bildung vorausfekt, wird bon vielen dem Projper von 
Aquitanien zugejchrieben, doch haben ſemipelagianiſche Anklänge gegen jeine 
Autorſchaft Zweifel erweckts. Die „Alethias“ des Claudius Marius Victor 
(der zwiſchen 425 und 455 ftarb) führt den Anfang der Geneſis in freierer 
Bearbeitung aus, in gewandter, frijcher Form und ziemlich reiner Sprade®. 
Noh freier haltet mit dem bibliihen Vorwurfe Hilarius von Arles, der auf 
Anregung Leos I. ebenfalls den Anfang der Genefis bis auf Noe behandelte ®. 
Das „Commonitorium” des Orientius ift ein fchlichtes, Herzliches Lehrgedicht 
(in 1036 Berjen), das vom Lafter abmahnen und auf den Pfad der Tugend 





! Numerosa propago (III 690 ff). 

? Die Satisfactio herausgeg. von F. Arevalo, Rom 1791; abgebrudt bei 
Migne, Patr. lat. LX 901—932; jelbftändig von F. de Duhn (Dracontii car- 
mina minora), Zeipzig 1873. Eine Bearbeitung berjelben durch Biſchof Eugenius 
von Zoledo als Dracontii Elegia bei Migne a. a. O. LXXXVII 383—388. — 
Die Laudes Dei herausgeg. von Arevalo, Rom 1791; und danad bei Migne 
a. a. ©. LX 679—902; ber erfte Zeil derjelben ebenfalls von Biſchof Eugenius 
herausgeg. als Dracontii Hexaemeron bei Migne a. a. ©. LXXXVI 371—B34. 

3» Bei Migne a. a. D. LI 617—638. 

* Herauägeg. von Y. Gagnejus, Lyon 1586, Paris 1545; Migne a. a. O. 
LXI 937— 970; 6. Shentl, Wien 1888, in Poetae christiani minores I (Corpus 
script. eccl. lat. XVI 335—498). 

5 Bei Migne a. a. ©. L 1287—1292. 


Die Iateinifhe Dichtung unter den letzten weſtrömiſchen Kaiſern. 195 


führen will!. Ziemlich troden und nüchtern wirft Proiper von Aquitanien 
den Semipelagianern in feinem Gedihte „Von den Undankbaren“ ihren Un— 
dank gegen die göttliche Gnade vor?; feine mehr als hundert Epigramme 
find faſt ausſchließlich religiöfen Inhalts und ſchließen ſich eng an die Lehre 
des hl. Auguftin. Biihof Paulinus von Perigueur übernahm ed, das Leben 
des hl. Martin von Tours in treuem Anſchluß an Sulpicius Severus zu 
einem legendarischen Epos in Herametern zu gejtalten®. 

Am meiften Erfolg hatte in der Bearbeitung der biblifhen Geſchichte 
Sedulius in feinem „Oftergediht” (Carmen paschale)*. Bon feiner 
Perfon weiß man nichts, als daß er, in der zweiten Hälfte des vierten 
Jahrhunderts geboren, ſich in feiner Jugend mit mweltliher Wiſſenſchaft ab: 
gab, dann nad Griechenland ging und unter dem Einfluffe jeines dortigen 
Freundes, de& Prieſters Macedonius, fih ganz dem religiöjen Leben widmete 
und Kleriker ward. Nachdem er aber hierin fein Glüd gefunden, will er 
auch andere desjelben teilhaftig maden, und da fie lieber Verſe als Proſa 
lefen, will er feinem Unterrichte den Reiz der Poefie verleihen. Im erften 
einleitenden Buche zeigt er, wie hod) die wirklichen Wunder Gottes über allen 
Mythen der Heiden ftehen, und führt dann der Reihe nad) die erhabenften 
Großtaten Gottes im Alten Bunde auf. Die übrigen vier Bücher find 
dem Neuen Bunde gewidmet. Anftatt ängftlih dem evangeliihen Texte zu 
folgen, greift Sedulius friſch und lebendig heraus, was ihn am meiften 
angeſprochen, und führt es ebenjo friſch und originell aus, in ferniger, oft 
wirklich poetiſcher Sprache mit jeinen eigenen Andeutungen und Betradhtungen, 
mit malerifhen Zügen, wohl aud mit der einen oder andern rhetoriſchen 
Spielerei. Um aber auch die ftrengften theologiihen Forderungen zu bes 
friedigen, jchrieb er zu feinem Gedichte noch einen Paralleltert in Proſa, der 

! Bei Migne a. a. D. LXI 977—1000 und R. Ellis, Wien 1888, in 
Poetae christiani minores 1 (Corpus script. ecel. lat. XVI 191—261. — L. Bel- 
langer, Le po&me d’Orientius, Paris 1903; Recherches sur Saint ÖOrens, 
Auch 1903. 

2 Das Carmen de ingratis bei Migne a. a. ©. LI 89—148; die Epigram- 
mata ebd. LI 497—532. — Der Titel De ingratis ift abfihtlih doppelfinnig ge— 
halten: ingratus — „Leugner ber gratia” und deshalb auch „undankbar“. 

3 Heranögeg. von F. Juretus, Paris 1589; Migne a. a. O. LXI 1009 
bis 1076; F. Eorpet, Paris 1852; M. Petfhenig, Wien 1888, in Poetae 
christiani minores I (Corpus seript. ecel. lat. XVI 1—190). 

* Das Paschale carmen bei Migne a. a. DO. XIX 533— 754), das Paschale 
opus ebd. XIX 545— 754; die Hymnen ebd. XIX 753—770. — Gefamtausgaben 
von J. Huemer, Wien 1885 (Sedulii opera omnia. Corpus script. ecel. lat. X). 
— Die Gedichte allein hHerausgeg. von Y. Looshorn, Münden 1879; das 
Paschale carmen von Qurter (SS, Patrum opuse. sel. XXXIII). — I. Huemer, 
De Sedulii poetae vita et scriptis commentatio, Vindob. 1878. — €. 2. Leim— 
bad, Eälius Sedulius und fein Carmen paschale, Goslar 1879. 

13* 


196 Dreizehntes Kapitel. 


alle biblifchen Einzelheiten nachträgt, die er etwa in feinen Verſen vernach— 
läffigt oder verkürzt hat. Was er anftrebte, hat er im reichiten Make er: 
langt, nämlid eine große Volfstümlichkeit, jo daß fein Werk bis tief ins 
Mittelalter hinein meiterwirkte. 

Durh ein Heineres Gedicht, den abecedariihen Weihnachtshymnus 
A solis ortus cardine, lebt Sedulius aud in der firdlidhen Liturgie fort. 
Dasſelbe unterſcheidet ſich durd feine Zartheit jowie die Anwendung des 
Reimes und feine mufifalifche Anlage jehr deutlih von den ambrofianifchen 
Hymnen. 


A solis ortus cardine 
Adusque terrae limitem 
Christum canamus principem 
Natum Maria virgine. 


Beatus auctor saeculi 
Servile corpus induit, 

Ut carne carnem liberans 
Non perderet quos condidit. 


Clausae parentis viscera 
Caelestis intrat gratia, 
Venter puellae baiulat 
Secreta, quae non noverat. 


Domus pudici pectoris 
Templum repente fit Dei, 
Intacta nesciens virum 
Verbo creavit filium. 


Enixa est puerpera 

Quem Gabriel praedixerat, 
Quem matris alvo gestiens 
Clausus Ioannes senserat. 


Faeno iacere pertulit, 
Praesepe non abhorruit, 
Parvoque lacte pastus est, 
Per quem nec ales esurit. 


Gaudet chorus caelestium, 
Et angeli canunt Deum, 
Palamque fit pastoribus 
Pastor creatorque omnium !, 


Vom Aufgang bis zum Niedergang 
Erjchalle Preis und Lobgejang 

Dem Sohn ber Jungfrau Jeſu Chrift, 
Der aller Herren Herrſcher ift. 


Der aller Welt das Dafein gab, 
In Knechtägeftalt fam er herab; 
Das Fleiſch im Fleiſche zu befrein, 
Heil den Gefall’nen zu verleihn. 


Der Gnade Himmelsftrom ergoß 
Eid in ber Jungfrau reinften Schoß, 
Ihr Leib umſchloß das Gottespfand, 
Das der Natur war unerfannt, 


Die Klauſe heil’ger Züchtigkeit 

Hat Gott zum Tempel fich geweiht: 
Der unberührte Leib jofort 

Empfing den Heiland durch das Wort. 


Geboren hat bie keuſche Magd, 

Den Gabriel vorausgefagt; 

Dem, als ihr Shop ihn noch umſchloß, 
Johannes jauchzt' im Mutterſchoß. 


Zum Lager wählt’ er ſich das Heu, 
Ruht' in der Krippe fonder Scheu; 
Er ward mit farger Mil geträntt, 
Der jelbjt dem Vogel Nahrung ichentt. 


Hoch freuet fih der Engel Chor, 

Laut ſchallt ihr Yubelfang empor; 
Als Hirte madt der Hirten Schar 
Der Herr der Welt fi offenbar ®. 


Mie der Heidnifche Dichter Glaudian, der den Stiliho befang, noch am 
Anfang des Jahrhunderts mit einer Bildfäule auf dem Forum Trajans ge: 





! Sedulii opera omnia (ed. I. Huemer) 163 164. 
2» Shlofjer, Die Kirche in ihren Liedern 12 100 101. 


Die lateinifhe Dichtung unter ben fehten weſtrömiſchen Kaifern. 197 


ehrt wurde, jo erhielt aud der Spanier Flavius Merobaudes, der 
ih zugleih als Rhetor und tüchtiger Kriegsmann auszeichnete, 435 ein 
eherned Standbild zu Rom!. Ihm wird ein Lobgediht auf Chriſtus in 
30 Herametern (Proles vera Dei) zugeichrieben. Ganz ficher fteht jeine 
Berfafferfhaft in Bezug auf ein Lobgediht, das in 197 Hexametern, 
mit dem feierlihen Pathos Vergils das dritte Konfulat des Aëtius (446) 
feiert, ebenjo für Bruhftüde von vier andern Gedichten, von welden zwei 
dem Preiie Valentinians III. und feiner Familie gewidmet find? In 
Feinheit des Ausdrudes und Verſes tommt er Glaudian nahe. Man braucht 
darum nicht anzunehmen, daß er Heide geblieben iſt. Es iſt leicht erklärlich, 
daß neben der hriftlihen Kunftrihtung des Sedulius aud eine mehr antike 
fih noch länger forterhielt, ziwar nicht mehr dem Heidentum ſelbſt Huldigend, 
wohl aber deſſen hergebradhten mythologifierenden Formen. Ihren Haupt: 
vertreter fand diefe Rihtung an dem bornehmen Gallier Gajus Sollius 
Apollinaris Sidonius, 430 in Lyon geboren?. Schon der Großvater 
und der Vater, beide mit der Stelle eines Praefectus praetorio Galliarum 
befleidet, waren Ghriften. Das Hinderte nit, daß er felbft noch eine 
thetorifch-humaniftiihde Schulung erhielt, wie fie noch don den Zeiten des 
Aufonius her im Schwange war, mit entſchieden antiker Färbung. Poetiſch 
angelegt, erwarb er ſich nicht nur viele freunde von gleichtehendem Rang, 
jondern gewann aud die Gunft der höchſten Perfönlichkeiten. Avitus gab 
ihm feine Tochter zur Frau, und als er Kaiſer wurde, nahm er ihn (455) 
mit nad) Rom. Sidonius hielt im folgenden Jahre den üblihen Panegyrikus 
auf ihn und ward dafür mit einer Bildfäule in der Bibliothel auf dem 
Forum Trajans ausgezeichnet. Er wußte auch Majorian und jpäter Anthimus, 
die Nachfolger des Aoitus, zu gewinnen. Majorian zog ihn bei den feier- 
lien Spielen zu Arles in feine nächſte Nähe. Anthimus madte ihn zum 
Stadtpräfelten von Rom und erhob feine Familie zur patriziihen Würde. Als 
er ih dann, mit Ehren und Würden überhäuft, auf feine Güter im Lande 
der Urverner zurüdzog, wurde er (470) unerwartet vom Volke zum Bilchof 
begehrt und nahm, anfänglich widerwillig, die Wirde an. Er entjagte 
jetzt jo ziemlich der Poeſie und widmete fich feiner oberhirtlihen Aufgabe 
jo hingebend, daß er fi weit und breit eines hohen Rufes erfreute. Er 
farb nah 480. 


! Die Inſchrift befagt: Viro, tam facere laudanda quam aliorum facta 
laudare praeeipuo. — Corpus inseript. lat. VI, n. 1724 (anno 435). 

® Fl. Merobaudis carminum panegyricique reliquiae ex membranis 
Sangallensibus editae aB. G. Niebuhrio, Bonn. 1824. — 2gl. 6. Fabricius 
763. — Claudian. ed. Gesner 710; ed. Jeep II 202. 

® Bebensabri besjelben von Th. Mommfen (Monum. Germ. Hist. Auctores 
antiquissimi VIII xLıv—ıım). 


198 Dreigehntes Kapitel. 


Sidonius hat eine Sammlung von bierundzwanzig, zum Zeil ziemlich 
langen Gedichten und eine Brieffammlung in neun Büchern Hinterlaffen !. 
„sn gebundener Rede wie in Proja, mag er erzählen oder überreden, loben 
oder tadeln oder was immer für einen Gegenftand behandeln, überall herrſcht 
diefelbe glüdlihe und reichhaltige Darftellung und eine Mannigfaltigfeit der 
Sprade und des Ausdruds, daß eine bewundernswerte Geiftesfraft und eine 
reihe Gelehrſamkeit ſofort in die Augen fpringt.“? Er ift bei weiten geift- 
reicher, belefener und gewandter als etwa Aufonius, ein echter, lebendiger 
Gallier, dem das Wort in wunderbarer Leichtigkeit floß und der dennoch, 
mit feinem Formgefühl begabt, die Kunſt des Stils vielleiht nur allzujehr 
pflegte, um jpäter nüchternen Kritikern zu gefallen. Nicht gerade zum 
Vorteil gereichte es ihm, daß er fih Statius und beſonders Claudian zum 
Borbilde nahm. Dies war indes begreiflih genug. In feinem Panegyrikus 
auf Apitus läßt er mit Juppiter den ganzen alten Olymp aufmarjdhieren, um 
die von der Völkerwanderung hart bedrängte Roma zu tröften und an die 
Regierung feines Schwiegervaters die glänzendften Hoffnungen für die Zukunft 
zu fnüpfen. Wenn man jein Loblied auf Majorian lieft, meint man, es 
wäre ein neuer Auguftus in Sicht, der ſiegreich alle Völker unter den römifchen 
Adlern vereinigte?d. Auch den Anthimus feiert er mit wahrhaft welt: 
Hiftorifcher Grandezza, dab man kaum glauben follte, unmittelbar vor dem 
völligen Sturze des Reiches zu ftehen. Den nüchternen Kritikler mag das 
anmwidern. Aber wer wirklich poetiiches Gefühl Hat, wird fih dem Eindrud 
nicht verſchließen können, daß Sidonius ſich gerade als Dichter über den 
Sammer der Zeit Hinwegzutäufchen wußte und in wirklicher Begeifterung 
alle Reminiscenzen alter Größe zujammenframte, um das finfende Rom 
gleichſam nod einmal in bengalifche Beleuchtung zu rüden. Dem Schwieger: 
john eines Kaiſers und einem Stabtpräfelten von Rom find dieje ftolzen 
Träume nicht zu verübeln *. 

Daß Sidonius ala Biſchof jenen Träumereien und der Poefie über: 
haupt jo ziemlich entjagte, macht feinem gefunden Sinne alle Ehre; daß er 
nicht jofort alle Schwächen eines früheren Hofpoeten und Rhetors abftreifte, 
begreift fih. Läßt fi aud feine Korreſpondenz durchaus nit als ein 





! Ausgaben von J. SirmondS.J., Paris 1614 1652; abgebrudt bei Migne, 
Patr. lat. LVIIT; € Baret, Paris 1879; Chr. Lütjohann, Berlin 1887 
(Monum, Germ. Hist. Auctores antiquissimi VII); P. Mohr, Leipzig 1895. — 
M. Fertig, Sidonius und feine Zeit, Würzburg 1845/46. — L. A. Chaix, 
S. Sidoine-Apollinaire et son siöcle, Clermont-Ferrand 1867/68. 

? So urteilt Sirmond, Vita 8. Sidonii Apollinaris (Migne a. a. O. 
LVIII 442). 
> Migne.a. a. ©. LVIU 672 #; bei Lütjohbann a. a. O. 187—202. 

+ Wie das Ebert (Geſchichte der Literatur des Mittelalters * 425) tut. 


Die lateinifche Dichtung unter den lekten weſtrömiſchen Kaijern. 199 


erihöpfendes Bild feines biſchöflichen Wirkens betrachten, jo ſpricht aus den 
fein gejchniegelten Briefen doch ein raſtlos wirkſamer, liebevoller, gütiger, 
verftändiger und mohltätiger Mann, der in jenen entjeglichen Zeitläuften 
viele Tränen getrodnet, viel Gutes geftiftet, dabei fih und andere auf ber 
Höhe einer feinen literariihen Bildung erhalten Hat. In einem Brief an 
Philagrius? zeichnet er ſich alſo: 

„Du liebſt, wie ich vernehme, die Ruhigen; ich fogar bie Trägen. Du meibeft 
bie Barbaren, weil fie für ſchlecht gelten; ih, auch wenn fie gut find. Du ver- 
wenbeft Fleiß auf die Lefung; auch ich erlaube ber Trägheit nicht, mir hierin zu 
Ihaden. Du ftellft die Rolle eines religiöfen Mannes dar; ich fogar beffen Bild. Du 
verlangft nicht fremdes Gut; ich halte es ſchon für einen Gewinn, wenn ih bas 
meinige nicht verliere. Du freuft dih am Umgang mit Gelehrten; ich nenne eine 
noch jo große Menſchenmenge, ber es an literarifcher Bildung fehlt, die größte Ein- 
ſamkeit. Es heißt, du jeieft ſehr fröhlih; auch ich halte alle Tränen für verloren, 
außer jenen, welde man im Gebete vor Gott weint, Dan fagt, du feieft überaus 
zuvorfommend; aud vor meinem bejcheidenen Tiſch ift noch feiner erichhroden wie 
vor einer Polyphemshöhle. Man jagt dir die größte Milde gegen beine Diener 
nad; auch ich quäle mich keineswegs, wenn die meinen nicht fo oft gequält werden, 
als fie fih verfehlen. Man muß von Zeit zu Zeit faften? Ih jüume nicht, mit- 
zutun. Dann auch wieder fpeifen? Ich ſchäme mich nicht, darin voranzugehen. 
Schenkt mir übrigens Chriftus die Gnade, dich felbft zu ſehen, jo werde id) mid 
freuen, daß ih nun auch das Geringere an dir fernen lernen werde. Was aber 
das Wichtigere ift, das kenne ich ſchon genügend.“ 


Der Übergang des Sidonius in die Reihen des Klerus ift einigermaßen 
typiſch für die Zeitlage. Vor der zunehmenden Macht der Barbaren flüchtete 
die antife Bildung zur Kirche. Sie allein konnte ihr noch Schuß gewähren 
und hat ihr Schuß gewährt. 

Zu dieſen Rettern gehört auch Alcimus Ecdicius Abitus, glei 
Sidonius der Sprößling einer vornehmen galliihen Familie. Im felben 
Jahre, in welchem Sidonius Bifhof von Clermont-Ferrand ward (470), 
wurde er als Nachfolger feines Vaters auf den biſchöflichen Stuhl von Vienne 
berufen. „Biſchof Avitus“, jo meldet Iſidor von ihm, „in allen weltlichen 
Miffenihaften wohl bewandert, gab fünf Bücher in heroiſchem Versmaße 
heraus: das erfte von dem Urſprung der Welt, das zweite von der Erb: 
fünde, das dritte von dem Urteil Gottes, das vierte von der Sintflut, das 
fünfte von dem Zuge durchs Note Meer. Er jchrieb auch an feine Schwefter 
Fuscina ein Buch von der Yungfräulichleit, in einer herrlihen Dichtung 
abgefaßt und mit einem eleganten Epigramm verſehen.“ Aus jeinen Briefen 
ift erfichtlih, daß er im Intereſſe des Ehriftentums alsbald mit den Fürften 

'Sidonii Ep. lib. 7, ep. 14 (Migne a. a. ©. LIII 585); bei Lüt— 
johann aa. O. 121 122. 

? 8. Isid., De viris illustribus e. 26 (Migne a. a. ©. LXXXII 1101). 





200 Dreizehntes Kapitel. 


der neuen Bölfer in Fühlung trat, welche fi in die Erbſchaft des unter: 
gegangenen weſtrömiſchen Reiches teilten. In einem ſchönen Briefe beglüd- 
wünſcht er Chlodwig zum Empfange der Taufe, die dabei ergreifend be— 
jhrieben wird, und fordert ihn auf, das Chriftentum zu ſchirmen. Mehrere 
jeiner Briefe find an den Burgunderfönig Gundabod und an deſſen Nach— 
folger Sigismund gerichtet, der 523 ftarb und den er noch um zwei Jahre 
überlebt zu haben ſcheint. Er wurde nad) feinem Tode als Heiliger verehrt. 

Bon den zahlreihen Bearbeitungen, melde der Anfang der Biblifchen 
Geſchichte bis dahin gefunden, ift die ſeinige die freiefte, jelbftändigfte, nicht 
nur in der Form, jondern aud dem Stoffe nad) poetifch durchgearbeitet. Die 
erſten drei Gejänge entjprechen einigermaßen einem „Verlorenen Paradies” — 
der erfte bejingt das paradiefiihe Glüd der Stammeltern, der zweite den 
Sündenfall, der dritte die Folgen der Sünde. Die Sinflut, d. 6. die 
Rettung Noes aus derjelben und der Zug durchs Note Meer (die den In: 
halt des vierten und fünften Buches bilden), find typiſch als Sinnbild der 
Zaufe aufgefaßt, durch welche der Menſch von der Erbſchuld befreit, das 
verlorene Paradies wiederum zurüdgewonnen wird. Damit ift ein tief 
poetiiher Zujammenhang der fünf Bücher hergeftellt !. 

Das Gedicht „über die Jungfräulichkeit“ Hat Avitus als privates 
Gelegenheitsgedicht für jeine Schwefter verfaßt, die bon der Mutter jchon 
mit zehn Jahren zu fteter Jungfrauſchaft beftimmt wurde. Nur auf in: 
ſtändige Bitten teilte er es dem Biſchof Apollinaris, einem Sohne des Apol- 
linaris Sidonius, mit, dod bloß zur Zirkulation in vertrauten reifen. Es ift 
ungemein herzlich gedacht, aber die Miſchung antifen und bibliſchen Schmudes 
wird nicht jedermann zufagen, obwohl das Gedicht im Mittelalter viele Be: 
wunderer fand. In dem DBegleitihreiben an Apollinaris jagt er übrigens: 
„Unjerem Stande und nunmehr unferem Alter fommt e& zu, wenn etwas 
zu ſchreiben ift, Zeit und Mühe auf ernften Stil zu verwenden und ung 
nit darin aufzuhalten, was durch Beobachtung des Silbenmaßes wenigen 
Kennern harmonisch Eingt, fondern was durch wohlbemefjene Begründung 
des Glaubens vielen Leſern dienen mag.“ ? 

Die profane Schulbildung jener Zeit war im ganzen weſentlich noch 
diejelbe, wie fie fich bereits in den Rhetorenſchulen der früheren Kaiſerepoche 
ausgebildet und in der merkwürdigen Schrift des Martianus Gapella 
„Über die Hochzeit der Philologie und des Merkur“ noch zu 


! Ausgaben von J. Sirmond 8. J., Paris 1643; abgebrudt bei Migne, 
Patr, lat. LIX; R. Peiper, Berlin 1885 (Monum. Germ. Hist. Auctores anti- 
quissimi VI 2). — P. Parizel, De vita et scriptis S. Aviti, Lovanii 1859. — 
V.Cucheval, De S. Aviti Viennae episc. operibus, Paris 1868. — A. Charaux, 
Saint Avite, eväque de Vienne, sa vie, ses @uvres, Paris 1876. 

2 Migne.a.a. ©. LIX 370; bei Peiper a. a. O. 275. 


Die lateinifhe Dichtung unter ben letzten weftrömifhen Kaifern. 201 


Lebzeiten des Hl. Auguftin (etwa zwiſchen 420—427), jedenfall® nod vor 
dem Einbrud der VBandalen in Afrika, ihren literariichen Ausdrud gefunden 
hatte!. Der Berfaffer war, wie der hl. Auguftinus, ein Afrilaner aus 
Madaura. Nichts in feiner Schrift verrät, daß er Chrift geweſen wäre; 
er fteht dem Ehriftentum indes auch nicht feindlich gegenüber, jo daß feine 
Schrift bis tief ind Mittelalter hinein zum Schulbuch, vielfach zur einzigen 
Grundlage des profanen Echulunterrichts werden konnte. 

Sie befteht aus neun Büchern, von welden die erften zwei eine alle: 
goriihe Erzählung als Einleitung enthalten, die andern fieben dann, ebenfalls 
in allegoriihem Gemwande, die jog. fieben freien Künſte (des jpäteren ſog. 
Trivium und Quadrivium) harakterifieren. Das Ganze ift in Yorın einer 
jog. Menippeiihen Satire gehalten, d. 5. abwechjelnd in Verſen und in 
Profa, doch mwaltet die Proja vor, und zwar eine jehr gezierte, gefünftelte 
und überladene, die an Apulejus erinnert. 

Der Fern der einleitenden Fabel ift: dap Merkur, nah dem Vorbild 
der andern Götter, fih nad) einer Gattin umfieht. Da es ihm nicht glüdt, 
die Sophia (Weisheit), noch die Mantike (Wahrjagung), noch die Pine 
(Seele) zur Braut zu befommen, wendet er fih durch Virtus (die Tugend) 
an Apollon, und diefer ſchlägt ihn die gelehrtefte aller Jungfrauen, die 
Philologia vor, die, aus uraltem Gejchleht, mit den Wundern des Parnaſſes 
wie mit den Schreden der Unterwelt, mit den Ratihlüffen des Zeus, mit 
den Bahnen der Sterne und den Tiefen des Meeres vertraut, kurz alles 
Willen in ſich verförpert. Merkur läßt fi den Vorſchlag gefallen und zieht 
mit feiner Heiratsvermittlerin und der von ihr empfohlenen Braut über die 
Milchſtraße, unter dem Gefang der Sphären, zu Juppiters Palaft, um deifen 
Einwilligung einzuholen. Juppiter trägt Bedenken. Auf den Rat der Pallas 
beruft er immerhin alle verheirateten Götter und die älteren Göttinnen zur 
Beratihlagung. Unter denſelben befinden fich nicht bloß die alten, allbefannten 
Potentaten, jondern auch die abſtrakten Wejen der jpäteren alerandrinijchen 
PVoeterei, wie Valitudo, Verisfructus, Geleritas; nur Discordia und Seditio 
bleiben ausgejhloffen. Der Götterjenat entjcheidet fi für die Heirat und 
verlangt nur, daß Philologia zur Göttin erhoben und der Götterbeihluk durch 
die Philofophie in ehernen Tafeln eingegraben und der Welt fundgemacht werde. 

Im zweiten Buch wird dann die Vorbereitung zur Hochzeit gejchildert. 
Die Braut hat anfänglich noch Bedenken, einem Gott ihre Hand zu reichen; 
allein allerlei Zahlenberechnungen, die auf feinem Namen fußen, geben die 
Berfiherung, daß die Ehe glüdbringend fein wird. Die Mutter Phronefis 





! Ausgaben von F. B.Bodianus (Editio princeps), Vicenza 1499; B. Bul« 
canius, Bajel 1577; 9. Grotius, Leiden 1599; 1.9. Kopp und C. F. Her- 
mann, Frankfurt 1836; F. Eyßenhardt, Leipzig 1866. — Vgl. Ebert, Ge— 
ichichte der Literatur bes Mittelalters I? 483—485. 


202 Dreizehntes Kapitel. 


jelbft übernimmt es nun, fie zu ſchmücken, und legt ihr ihren eigenen Gürtel 
um. Die neun Mufen und die vier Kardinaltugenden kommen zur Be: 
grüßung herbei. Die drei Grazien füflen fie auf Stirne, Mund und Bruft, 
um ihren Bliden, Worten und Gefinnungen Huld zu verleihen. Athanafia 
(die Unfterbliche), die Tochter der Apotheofis, übernimmt das Ehrengeleit. 
Da die Braut aber für das ätherifche Leben im Olymp nicht ſchlank genug 
it, muß erſt eine nicht eben äfthetifche Entfettung vorgenommen werben: 
unter nicht geringer Anftrengung erbricht fie eine Menge von Büchern, welche 
von den Künſten und Wiſſenſchaften, unter Beihilfe der zwei Muſen Urania 
und Salliope, zufammengelefen werden. Seht erſt kann die Braut eine 
Sänfte befteigen, welche fie in die himmlifchen Regionen Hinaufträgt. Am 
Eingang derjelben bringt fie der Juno Pronuba ihr Opfer dar und wird 
von derjelben dann weiter durch den Äther geleitet und mit dem ganzen 
Planetenkreis befannt gemadt. Endlich lenken fie in die Milchſtraße ein, 
gelangen zu Juppiters Palaſt und werden bon den Göttern empfangen. 
Merkur erhält feinen Pla neben Pallas, PHilologia läßt ſich beicheiden bei 
den Mufen nieder. Auf Begehren ihrer Mutter wird aber die Lex Poppaea 
verlejen, jofern diejelbe die Veräußerung der Brautausftattung verbietet, und 
darauf die Hochzeitsgaben überliefert. Zu diejen gehören fieben Mägde, 
welche Phöbus der Reihe nad vorführt. Das find die fieben freien Künſte, 
welche jpäter zum Trivium und Quadrivium vereinigt wurden; zum Trivium 
1. Grammatit, 2. Dialektik und 3. Rhetorik; zum Ouadrivium 4. Geo- 
metrie, 5. Arithmetil, 6. Aftronomie und 7. Mufit (Harmonie). 
Nahdem eine allgemeine Schilderung der fieben Schönen mit ihren 
Altributen gegeben, trägt in den folgenden fieben Büchern jede einzeln einen 
turzen Abriß ihrer Lehrweisheit vor, wobei die Götter gelegentlich mitſprechen, 
die Jungfrauen zum Reden auffordern, auch wohl unterbrechen und jogar 
bisweilen ihre Qangeweile kundgeben. Zuletzt melden ſich noch zwei andere 
Sungfrauen, die Medizin und die Nrdhiteltur. Aber e3 iſt zu fpät am 
Abend geworden. Sie werben abgewiejen. Nachdem die Mufik ihren Vortrag 
geichloffen, «folgt noch ein Schlummerlied, das Brautpaar wird zum Hochzeits— 
gemad) geleitet, und der Verfaſſer verabſchiedet fi) von feinen Lejern. 
Das Barode der ganzen Schrift wie einzelne Geſchmacloſigkeiten ihrer 
Alegorien fpringen in die Augen. Noch jchroffer tritt dieſe allegorifche Auf: 
fafjung des antiken Mythus in zwei Werfen hervor, weldhe ein Landamann 
des Martianus Gapella, der Grammatifer Yulgentius in Karthago, etwa 
zu Beginn des jechiten Jahrhunderts verfaßte: Die drei Bücher Mythologie 
(Mythologiarum) und die Virgiliana Continentia!. So komiſch all 





‘ Mythographorum latinorum tomus II, compleetens Fabii Plauciadis Fulgentii 
Mythologias, Continentiam Virgilianam etc, (ed. Muncker), Amstelod. 1681. 


Die lateinische Dichtung unter den letzten weſtrömiſchen Kaijern. 203 


dieje Bücher auf den modernen Leſer wirken mögen, jo war dod) die Schrift 
des Martionus Gapella gar nicht übel dazu angetan, der Jugend jener 
Zeit — ftatt an trodenen Tabellen — in faßliher und amregender Weife 
eine Überſicht der verfhiedenen Wiſſenszweige zu geben, joweit fie damals 
Gemeingut der Bildung geworden waren, und um an dieje encyklopädijche 
Überſicht in poetiſch-allegoriſcher Form einen genauen, ſachlichen Unterricht 
in den einzelnen Disziplinen zu fnüpfen, natürlich mit Zuziehung der be- 
möährteften Autoren, wie 3. B. des Gicero und Quintilian für die Nhetorif, 
des Bergil und anderer Dichter für den poetifhen Stil. Dabei wurde durch 
jene vielfach komiſche Allegorie keineswegs die Philologie als Inbegriff alles 
Wiſſens vergöttert, jondern vielmehr die ganze alte Götterwelt auf die Schul: 
bank Herabgedrüdt. Die Götter wurden aus Göttern in allegoriſche Fabel— 
geftalten, in rhetoriſch-poetiſche Schmudfiguren umgewandelt. Der Gefahr 
des Polytheismus war damit die Spite abgebrochen, und die jungen Ehriften 
fonnten getroft mit der antifen Literatur und ihren Götterfabeln befannt 
gemacht werden. Die formelle Profanbildung kam in feinen Konflikt mehr 
mit dem Glauben, 

Sp fonnte die Kirche die Profanbildung vorläufig getroft den Rhetoren- 
jhulen und Grammatifern überlaffen. Sie hatte feinen Auftrag erhalten, 
jeldjt alle profanen Wiffenszweige zu lehren, jondern nur für Die religiös: 
fittlihe Erziehung der Menſchen zu forgen und das Profanmwiffen durch 
ihren Einfluß zu heiligen und vor Verirrungen zu bewahren. Aus den 
zahlreihen Kirchenſchriftſtellern des vierten, fünften und ſechſten Jahrhunderts 
ift zu erjehen, daß fie fait ausnahmslos durch die damaligen Rhetorifjhulen 
eine für ihre Zeit jehr umfaffende Profanbildung erhielten und wohl hie 
und da in ihren jungen Jahren in Gefahr famen, einer etwas weltlichen, 
aber feineswegs einer eigentlih heidniſchen Richtung anheimzufallen. Bei 
den meiften finden wir, daß dem profanen Unterricht eine Fromme, chrifiliche 
Familienerziehung vorausging, das kirchliche Leben ſelbſt aber für eine ftete 
Fortſetzung religiöfer Belehrung und religiöjen Einfluffes forgte, jo daß der 
antit gefärbte Profanunterricht der religiöjen Gefinnung nicht den mindeſten 
Abbruch tat, wenn aud die Sprade der Bibel und der hriftlihen Predigten 
die Hajfiichen Erinnerungen aus den Privatbriefen, Gelegenheitsreden, Rede— 
übungen und Dichtungen nicht verdrängte. 


— Liber absque litteris de aetatibus mundi et hominis, auctore F. Cl. Gord. 
Fulgentio (ed. I. Hommey), Paris. 1694. — Zint, Der Mytholog Fulgentius, 
Würzburg 1867, 





204 Bierzehntes Kapitel. 


Bierzehntes Kapitel, 
Die Hrifllid-Lateinifhe Literatur im oftgotifhen Weide. 


Fünf Jahre nachdem Sidonius Apollinaris den Kaifer Anthemius jo 
feierlich bejungen, ward derjelbe von den Scharen Ricimers befiegt und ge- 
tötet; nad) vier weiteren Jahren ward Romulus Auguftulus von Odovafar 
abgejegt und die Herrlichkeit des altrömijchen GCäfarenreiches für immer zu 
Grabe getragen. Abermals nad vielen verhängnisvollen Wirren verdrängte 
der Oſtgote Theodorih d. Gr. den fühnen Herulerfürften und errichtete über 
den Trümmern Weftroms das Reich der Dftgoten, deffen Hauptii Ravenna, 
zeitweilig Verona wurde. Trotz aller Verheerungen durd Krieg und Plün- 
derung bewahrte Rom noch einen Reſt feines früheren Glanzes, der die 
germanischen Sieger mit Achtung und Bewunderung erfüllte. Theodorich 
war ein groß angelegter Geift. Er ließ die römischen Einrichtungen, Ver: 
faffung und Verwaltung mit geringen Abänderungen fortbeftehen. Ex er: 
nannte Konſuln, Patrizier und Senatoren, zog angejehene Römer in feinen 
Rat und in die hervorragendften Beamtungen. Auch die hergebrachten 
Bildungsanftalten blieben beftehen und wurden in Italien aus Staats- 
mitteln weiter unterflüßt. So konnte auch die bisherige Geiftesbildung und 
Literatur ihr Daſein weiterfriften, zumal fie an der Kirche, an Papft, Bi: 
ihöfen und Prieftern, einen Halt fand troß der Bedrängniffe, welche in 
jener Zeit auch das kirchliche Leben zeitweilig hemmten und bedrohten. 

Einen vieljeitigen Einblid in dieſe wechjelvolle Übergangszeit gewähren 
uns die Schriften des Magnus Felir Ennodius, Biihofs von Pavia!. 
Stellt ſich Sidonius Apollinaris als der lebte Hofdichter des altrömijchen 
Kaifertums dar, jo könnte man Ennodiuß den erften galliihen Humaniſten 
nennen, der ſich im den Dienft des Heiligen Stuhles ftellte. Denn wie 
Sidonius ſtammte auch er aus dem füdlihen Gallien, 474 in Arles ge 
boren. Er fam aber früh nad Oberitalien und bildete fih zum Rhetor 
aus, Nachdem ſich jeine Verlobung mit einer reihen Braut zerihlagen, 
diefe den Schleier genommen hatte, trat er in den geiftlihen Stand und 
wurde in Mailand zum Dialon geweiht. Er erzählt dies jelbft in einer 
Art Belenntnis in Gebetsform, welche den Belenntniffen des hl. Auguftin 
nachgebildet if. Als Diakon wohnte er 501 der Synode zu Rom bei, 
welche für den eben erwählten Bapft Symmachus und die Rechte des Primats 





! Ausgaben: Editio princeps, Bajel 1569; von J. Sirmond S. J., Paris 
1611 1696 1728; danach bei Migne, Patr. lat. LXIII; von 6. v. Hartel, Wien 
1832 (Corpus script. eccl. lat. Vl); $r. ®ogel, Berlin 1885 (Monum. Germ. 
Hist. Auctores antiquissimi VII). — Fertig, Magnus Felix Ennobius und feine 
Zeit, Paflau 1855. — Magani, Ennodio, 3 Bde, Pavia 1886, 


Die Kriftlich-Tateiniiche Literatur im oftgotifchen Reiche. 205 


gegen deſſen ſchismatiſche Gegner eintrat, und verteidigte dann die Ent: 
jheidung der Synode gegen neue Angriffe in einer energiſchen, jchlagfertigen 
Schrift. Obwohl zu Rom mit dem Papſte felbft und deſſen vornehmiten 
Anhängern perſönlich befannt geworden, fuhr er nad feiner Rücklehr fort, 
in Mailand junge Leute in der Beredfamfeit zu unterrichten. In einer der 
oberitaliihen Städte wurde ihm die Ehre zu teil, auf König Theodorid) 
jelbjt eine Lobrede zu halten, die ſowohl deifen Waffentaten als wohlwollende 
Schonung, Interefie für höhere Kultur, Kunft, Wiſſenſchaft und Religiofität 
in begeifterten Worten feiert. Im Jahre 512 erhielt er den Biſchofsſitz 
von Pavia (Tieinum). Papft Hormisdas, den er ſchon als Diakon fennen 
gelernt und dem er jeine Erhebung zum Papſt einft in einem Briefe voraus- 
gejagt, jandte ihn zweimal (515 und 517) nad Konftantinopel, um dajelbft 
den Sailer Anaftafius für eine Wiederbereinigung der Griechen mit ber 
römischen Kirche zu gewinnen. Ennodius farb 521, von dem Volke zu 
Pavia innig betrauert, ala Biſchof wie als Redner und Schriftiteller hoch— 
angejehen. Außer den bereits genannten enthalten feine gefammelten Schriften 
eine geichichtlich jehr bedeutfame Lebensbeichreibung feines Vorgängers, des 
Biſchofs Epiphanius don Ticinum, ein Lebensbild des Hl. Antonius, eines 
Möndes von Lerin, zwei merkwürdige, poefievolle Gebetäreden auf die Oſter— 
ferze, ein kulturgefchichtlich interefjantes Bittgefuh um Befreiung eines Sklaven, 
achtundzwanzig ziemlich kurze Reden (Dietiones), zum größeren Teil rhetorifche 
Schul- und Übungsftüde, einen pädagogijchen Unterriht an zwei vornehme 
Jünglinge, Ambrofius und Beatus, und endlich eine ftattliche Brieffammlung 
in neun Büdern. 

Der Briefwechſel leidet an der phrajenhaften Schönrednerei, wie fie 
bereits die Rhetorik Ciceros und Duintilians herangezogen, die gallijche 
Schule nicht unerheblich verjchlimmert hatte; aber er zeugt doch von viel— 
jeitiger Bildung, feinem Geſchmack und einer geradezu bewundernswürdigen 
filiftiichen Gemwandtheit und würde noch weit interefianter fein, wenn die 
meiften Briefe nicht jchon vieles als befannt vorausſetzten, was ſich jet 
nicht mehr genauer bejtimmen läßt. Wir fehen Ennodius in vertrauten 
Berkehr mit Verwandten und Freunden in Gallien, mit hohen Staatsbeamten 
in Ravenna, mit Rhetoren und Grammatitern in Gallien und Italien, 
mit Biihöfen und Äbten aus beiden Ländern, mit einer Menge von Pa- 
triziern und Senatoren. Er hat jogar Beziehungen am burgundijden Hofe, 
ihreibt einen Troſtbrief an die Bifchöfe, melde von den Bandalen aus 
Afrika vertrieben worden waren, und beglüdwünjht den Vandalenkönig 
Thrafimund, als diefer den Katholiken Frieden und Freiheit zurüdgab. Den 
größten Raum in Ennodius’ Briefwechſel nimmt jedoch ein Kreis hoch— 
ftehender Perfönlichfeiten ein, melde den vornehmften Geſchlechtern Roms 
angehören. In ihrer Mitte treffen wir den regierenden Papſt Symmahus 


206 Vierzehntes Kapitel. 


(498— 514) und feinen jpäteren Nadhfolger, den Dialon Hormisdas (Papſt 
von 514— 523), den Prieſter Adeodatus, den früheren Konful Yauftus, den 
treueften Anhänger des Papſtes Symmachus in feinen Kämpfen gegen das 
Schisma des Laurentius, die Söhne des Fauſtus, Avienus und Mefjala, 
jeine Schwefter Stephania, Gemahlin des Konfulars Afterius, den Aſterius 
jelbft, den Konfular Gethegus und deſſen Schwefter Blefilla, bejonders aber 
den gelehrten Senator und Konful Boöthius. Aus den Briefen ift erfichtlidh, 
daß ih im diefen vornehmen Freien der höchflen römischen Geſellſchaft 
religiöfe und kirchliche Gefinnung mit der feinften gejelligen Bildung und 
großem Interefje für Literatur und Wiſſenſchaft verband. Auch hochitehende 
Damen, wie die genannte Stephania und eine Domna Barbara, nahmen 
an jenen geiftigen Beftrebungen teil. Ja Ennodius war befonders bemüht, 
jüngere Leute in diefem Sinne und Geifte heranzuziehen. 

Sehr intereffant ift in dieſer Hinficht die erwähnte pädagogiſche Anz 
feitung, welche er zwei Jünglingen, vermutlich feinen Schülern, bei ihrem 
Abgang auf eine höhere Schule (ad disciplinarum arcem), d. h. nad 
Rom ſelbſt, mit auf den Weg gibt, zum Zeil in Verſen, zum Zeil in 
Proja, eifrigft bemüht, zu feinen Präzepten in beiden Formen auch Mufter 
zu liefern!, Es ift hier nicht eine Spur von jenem SHeidentum, das man 
bei Ennodins hat finden wollen, vielmehr haben wir genau ſchon jenen chriſt— 
lihen Humanismus vor uns, der ſich bei den Pädagogen des ausgehenden 
Mittelalters und im 17. Jahrhundert in fait identischen Formen wiederfindet. 

Was er den jungen Leuten vor allem einjhärft, ift Beſcheidenheit 
(verecundia), Keuſchheit (castitas) und Glauben (fides). Die doppelte 
Empfehlung in Profa und Vers mag gefünftelt erfcheinen, aber der Kern 
ift gefund. Die Strophen, welche er die Fides ſprechen läßt, zeichnen die 
erhabene Gefinnung, mit welcher Boäthius lebte und in den Tod ging: 


Qui cupit caelo sociare terram, 

Linquere et luxae vitium parentis, 

Me petat, certum decus et coronam 
Muneris alti. 


llle nee dirum metuit tribunal, 

Nec per urbanos volitat potentes, 

Conscius recti tenet inter 'undas 
Stagna salutis, 


Barbarum quamvis tumeat Gelomus, 

Parthica et latret Morinus figura, 

Omne, quod mundi rabies susurrat, 
Despieit, arcet. 





! Ennodii Opusc. VI. Paraenesis didascalia ad Ambrosium et Beatum ' 
(Migne, Patr. lat. LXIII 249—256; ®ogel in Mon. Germ. Hist. 310—315). 


Die chriſtlich⸗-lateiniſche Literatur im oftgotifchen Reiche, 207 


Intrat excelsi penetrale regis, 

Ditium tutus manet in ruinis, 

Ille nec legem patitur sepulcri 
Nec mala vitae., 


Zu der religiögsfittlihen Bildung muß fih dann der Studienfleiß ge- 
jellen, als Grundbedingung jener formellen Bildung, durch welde die Tugend 
erft ihre würbige Faſſung, der Edelftein feinen feineren Schliff erhält. Gram— 
matit und Rhetorik ala Quinteffenz der unteren Schulbildung werden wieder 
in Berfen verherrliht. Die „Grammatik“ läßt er gemütlich jagen: 


Mentibus damus saporem, dum polimus fabulas. 
Indicem tenemus aequum, si quid errat parvulus. 
Abstinens manu pudorem aure et ore verbero. 
Quidquid ars habet pavendum, ars loquendi temperat, 
Cum pusillis et iocamur inter ipsa dogmata. 

Nam iubet rigor magister, ne per omne terreas. 


Die „Rhetorik“, welche die Feſſeln des Gefangenen löft, den ganzen 
Senat umftimmt, die Urteilätraft jelbjt gefangen nimmt, ſtimmt natürlich 
volltönende Akkorde an und verfteigt fih jogar zu der fühnen Berfiherung: 


Qui nostris servit studiis, mox imperat orbi. 
Nil dubium metuens ars mihi regna dedit. 


Zum Schluß empfiehlt er feine Schüßlinge an die befte römische Ge- 
jellihaft, deren Umgang ſchon bildend wirken wird, aus der alles Unwürdige 
ausgejhloflen, unter andern an den berühmten Patrizier Boöthius, an die 
Patrizier Gethegus, Feſtus, Symmadhus, Probinus, an mwürdige und bor- 
nehme Damen, welde er als leuchtende Mufter jeder Tugend ſowie der 
feinften gejelligen Bildung ſchildert. 

Die Heidniihe Richtung in der höheren römiſchen Gefellihaft, gegen 
welche Ambrofius und Prudentius noch jo entſchieden hatten ankämpfen 
müffen, war aljo überwunden. Was die antike Bildung Schönes und Gutes 
bot, Hatte fih chriſtlichen Anfhauungen und Zielen untergeordnet. Die 
altflajfiihe Literatur war nur mehr ein Bildungsmittel im Dienfte eines 
Hriftlihen Humanismus. Die intime Beziehung aber, im welcher Ennodius 
zu den Päpften Symmahus und Hormisdas ftand, berechtigt zu der An- 
nahme, daB ſich diefe Wendung nicht nur unter den Augen, fondern aud) 
unter dem Einfluß des Papſttums vollzog. 

Ennodins hat aud zwei Bücher Gedichte Hinterlaffen, von denen das 
eine einundzwanzig nicht eben jehr umfangreiche Gedichte, daS andere hundert— 
einundfünfzig Epigramme enthält. Von den erfteren find elf Hymnen, in Form 
und Umfang genau den Hymnen des Hl. Ambrofius nadgebildet, vermutlich 
mit der Abſicht, daß fie ebenfalls in der Liturgie Verwendung finden möchten. 


208 Vierzehntes Stapitel. 


Diefe Ehre ift ihmen nicht zu teil geworden. Sie haben aud weder die 
bewundernswerte Kraft noch die Hare Gliederung der ambroſianiſchen Hymnen, 
und der meift etwas gejuchte, gefünftelte Ausdrud ftimmt ſchlecht zu der jonft 
jo einfaden Form. Ein gewiffer poetijcher Hauch läßt ſich ihnen jedoch nicht 
abſprechen. Glüdlicher ift Ennodius jedenfalls in feinen Gelegenheitsgedichten, 
in deren antik Haffifcher Form er ſich gemwandter bewegt und in melden 
auch rhetoriishe Schwächen weniger auffallen. Ein rechtes Renaifjanceftüd 
it das Epithalamium auf Marimus, jo frei und fed, dab es heutzutage 
faum eine riftlihe Zenfur paffieren würde und daß es aud von Neueren 
als geradezu heidniſch angejehen worden iſt. Eine ſolche Auslegung ift 
nad allem, was wir von feinem Leben wiffen, durdaus ausgejchloffen !. 
Auch unter den Epigrammen finden fi) einige Derbheiten, die fih aus den 
Verhältniffen und dem Geihmad jener Zeit erflären, ohne daß man an dem 
fittlihen Ernfte eines Mannes irre zu werden braucht, der voll Andacht für 
den hl. Ambrofius ihm nadeifern wollte: 


Cantem quae solitus, dum plebem pasceret ore, 
Ambrosius vates carmina pulchra loqui. 


Bei weitem bedeutender als Ennodius war für die Weiterentwidlung 
der abendländifchen Literatur der berühmte Patrizier Boſthius, an den 
fieben Stüde feiner Brieffammlung gerichtet find?, mit feinem vollen Namen 
Anicius Manlius Torquatus Severinus Boöthius, Sohn des gleihnamigen 
Patriziers, der in Jahre 487 das Konſulat bekleidete. Er wurde um das 
Jahr 480 geboren und wahrjdeinlid, da der Vater früh ftarb, von deſſen 
Freunde Symmahus auferzogen, mit deifen Tochter Rufticiana er ſich dann 
au jpäter vermählte. Durch feine ungewöhnlichen Anlagen und Studien: 
erfolge zog er früh die Aufmerkjamkeit des Gotenfönigs auf fih, der ihn 
ſchon vor 507 zum PBatricius erhob, mit ehrenvollen Sendungen betraute 
und 510 zum Konſul ernannte. Dur feinen Einfluß gelang es ihm 
wiederholt, einzelne und jogar ganze Provinzen vor der Begehrlichkeit und 
den Bedrüdungen hoher Kronbeamten zu jchirmen?. Noch 522 ftand er 
bei Theodorih jo hoch in Gunft, daß derfelbe feine zwei Söhne Patricius 
und Hypatius, die noch im Snabenalter ftanden, gemeinfam mit dem 
Konjulat bekleidete, eine Ehrung, wie fie bis dahin feiner römischen Familie 
zu teil geworden. Nicht lange danach gelang es feinen Widerjadhern, ihn 





! Deutlih genug ſpricht er feine tief religiöfe Auffaffung der Ehe in dem Be- 
gleitfhreiben aus (Epist. lib. 8, epist. 10 [Migne, Patr. lat. LXIII 136; Bogel in 
Mon. Germ. Hist. 275 276]). ®gl. Epist. lib. 7, epist. 20—23 (Migne a. a, 0. 
LXIII 123—126). 

® Epist. 6, 6; 7, 13; 8, 1 21 36 37 40. 

® De consolatione philosophiae c. 1, pros. 4 (Migne a. a. ©. LXII 616 f). 


Die KHriftich-lateinifche Literatur im oftgotifchen Reiche. 209 


bei Hofe zu verdächtigen. Als fein freund, der Konjular Albinus, von 
dem Referendar Cyprian wegen hochverräteriiher Beziehungen zum byzan- 
tiniſchen Hofe angellagt wurde, trat er mit feiner gewohnten Offenheit für 
ihn ein und erflärte rund Heraus: wenn Albinus eine Schuld treffe, fo 
treffe fie gemeinfam auch ihn und den Senat. Er murde jebt ftaats- 
berräterijcher Umtriebe und des Sakrilegiums angeflagt, feftgenommen und 
in Pavia eingeferfert. Dort ward ihm noch Muße beſchieden, das be- 
rühmtefte feiner Werke, die fünf Bücher „Vom Trofte der Philofophie” zu 
ihreiben. Dann ließ ihn Theodorich ohne Prozeß und Verteidigung in agro 
Calventiano (524 oder 525) mit Anwendung von Folterqualen hinrichten!. 

Diefe Ihroffe Wandlung des Oftgotenkönigs wird hauptſächlich darauf 
zurüdgeführt, daß ihn die Verfolgung der Nrianer zu Byzanz aufs tieffte 
erbitterte. Im Jahre 523 erließ nämlich Kaifer Juftin auf Betreiben jeines 
Neffen Juftinian ein Dekret, welches alle Kirchen der Arianer den Katholiken 
übergab und fie aufforderte, zur katholiſchen Kirche überzutreten. Von feinen 
verfolgten Glaubensgenoffen zu Hilfe gerufen, forderte Theodorih den Papft 
Johannes auf, felbft nah Konftantinopel zu reifen und die Zurüdnahme 
jenes Ediftes zu erwirfen. Da der Papft diefe Zurüdnahme nicht er- 
wirkte, erzürnte der König und war nun leicht den Einflüfterungen zu— 
gänglih, daß fih in Rom ſelbſt eine Verfhmwörung gebildet habe, um mit 
Hilfe des Kaiſers das Jod der Goten abzufchütteln. So wurde der Papft 
eingeferfert und ftarb 526 im Gefängnis. Boöthius und Symmachus 
wurden hingerichtet. Das Boll von Pavia verehrte den gelehrten Konful 
al3 Heiligen und Märtyrer. 

Wie die Bildung, jo war aud) die jchriftftelleriiche Tätigkeit des Boöthius 
eine jehr univerjelle?. Als Staatsmann beſaß er jene rhetorifchen und juri: 
ſtiſchen Kenntniffe, welche für diefe Laufbahn unerläßlich waren. Er intereffierte 
fih aber ſchon in feinen jüngeren Jahren auch fehr für Theologie und war 
im ftande, über bie ſchwierigſten Fragen auf diefem Gebiet Abhandlungen 
zu jchreiben, welche ihm die Ehre verfchafften, neben Auguftin und Thomas 
von Aguin genannt zu werden. Denn fein tieffinniger Geift verſenkte fich 
in die fubtiljten Begriffsbeftimmungen, welche die Lehre über die Menſch— 
werbung hervorgerufen hatte. 


! Gervais, Histoire de Bo&ce, senateur romain, avec l’analyse de tous 
ses ouvrages (Migne a. a. ©. LXIV 1411—1600). — Suttner, Bosthius, ber 
legte Römer, Eichſtätt 1852. — 9. Uſener, Anecdoton Holderi, Leipzig 1877. — 
A. Hilbebrand, Bosſthius und feine Stellung zum Chriftentume, Negensburg 1885. 

® Gejamtausgaben feiner Werke Editio princeps, Venedig 1491/92; von 
Glarean, Bajel 1546 1570; Migne a. a. ©. LXII LXIV. 

® Das Zeugnis des Gaffiodor (enthalten in dem fog. Anecdoton Holderi, in 
Monum. Germ. Hist. Auctores antiquissimi XII v—vıı) verbürgt die Schriften: 

Baumgartner, Weltliteratur. IV. 8. u. 4. Aufl. 14 


210 Dierzehntes Kapitel, 


Mit nit geringerem Eifer warf fi Boöthius auf die mathematiſchen 
Fächer des jog. Quadriviums, bearbeitete die Arithmetik hauptſächlich nad 
Nilomachos, ſchrieb fünf Bücher über die Mufil, worin er die Theorien der 
Pothagoreer und Ariftoreneer, bejonderd des Claudius Ptolemäus, des Niko» 
machos und anderer Griechen mit größtem Fleiß zufammenftellte und ver: 
arbeitete, verfaßte eine Geometrie nah Euklid und eine Aftronomie nad 
Ptolemäus!., Am meiften fühlte fih indes der römiſche Staatsmann von 
jeinem eigenen jpefulativen Talent wie vielleicht auch durch die Erinnerung 
an Gicero und Seneca zur Philoſophie Hingezogen, und da feinen am chriſt— 
fihen Dogma gejhärften Geift weder die Stoa noch die Lehre der Atademie 
befriedigen fonnte, griff er unmillfürlih auf die zwei größten Denfer von 
Hellas, auf Platon und Ariftoteles, zurück und faßte den Plan, deren Werke 
neu zu überjegen und zu erflären und deren Syſteme durch jelbjtändige 
Spekulation auszugleichen und zu ergänzen, eine Arbeit, welche jeitdem die 
chriſtliche Philoſophie in mannigfachfter Weiſe befhäftigt hat?. Diejer Plan 
allein, mitten in der politiichen und allgemeinen Verwirrung jener Zeit ges 
faßt und zum Teil aud durchgeführt, könnte genügen, dem großen Römer 
einen Ehrenplaß in der Geſchichte der Wiſſenſchaften zu fihern. Durch ihn 
ift ein Zeil der logiſchen Schriften des Ariftoteles dem Mittelalter ſchon er: 


De Trinitate; Utrum Pater et Filius et Spiritus Sanctus de Divinitate sub- 
stantialiter praedicentur; Quomodo substantiae in eo quod sint bonae sint, cum 
non sint substantialia bona; Liber contra Eutychen et Nestorium. — Im Mittel: 
alter wurbe ihm auch noch eine Schrift De fide catholica zugefhrieben. Abgeftritten 
wurden ihm diefe Schriften namentlih von F. Nitzſch (Das Syftem bes Bosthius 
und die ihm zugefchriebenen theologiichen Schriften, Berlin 1860, und Art. „Bosthius“ 
in Herzogs Real-Encyklopäbie IIL® [1897] 277 278); ebenjo von €, K. Rand, 
(Jahrbuch für klaſſ. Philologie XXVI, Supplementbd, Zeipzig 1901), mit dem aus 
Arnolds „Kirchen: und Sekerhiftorien“ fi herleitenden Beftreben, Boëthius 
möglihft zum Heiden zu ftenpeln. Ihre Aufitellungen treffend widerlegt von 
F. X. v. Funk (Art. „Bosthius" in Wetzer und Weltes Kirdenleriton IL? [1883] 
967-—972) und N. Sheid 8. J., Die Weltanfhauung des Bosthius und jein 
„Zroftbuh* (Stimmen aus Maria-faah XXXIX [1890] 374—392). 

! Die Bücher De arithmetica, De musica, Euclidis geometria bei Migne, 
Patr. lat. LXUI 1075—1364; neue Ausgabe von ©. Friedlein, Leipzig 1867. 
— Bol. M. Cantor, Mathematifche Beiträge zum Kulturleben der Bölter, Halle 
1863; Vorlejungen über Geihichte der Diathematif I 485 ff. — O. Paul, Boethius 
und bie griehifche Harmonik, Leipzig 1872, 

® Boötii Commentarii in librum Aristotelis /lsp! &punveias, rec. Meiser, 
Lips. 1877—1880. — Wenn Prantl (Geſchichte der Logik im Abendlande I 679 
bis 722) Bosthius „neben Marcianus Eapella und Gaffiodorus als die hauptſäch— 
lichſte Brüde zu dem Unverftande der mittelalterlihen Logik“ bezeichnet, dad Motiv 
der „Dreſſur“ als das „bei ihm weit überwiegende” angibt ufw., To wird jeder, ber 
etwas von mittelalterliher Scholaftif verfteht, willen, wie ſolche Liebenswürdigkeiten 
ins Deutſche zu überjeken find. 


Die chriſtlich-lateiniſche Literatur im oftgotifchen Reiche. >11 


ſchloſſen worden, ehe durch die Araber auch feine übrigen Werfe zur Kenntnis 
des Abendlandes famen; durch ihn wurde jo die erfte Grundlage der mittel: 
alterlihen Scholaftif gelegt. 

Dem noch in antifen Erinnerungen aufgewachſenen Konſul, der die 
Zerftörung des römischen Reiches und die Herrſchaft der Barbaren ſchmerzlich 
empfand, mußte es eine jeltene Befriedigung gewähren, in folden Studien 
gleichſam die höchſten wiſſenſchaftlichen Triumphe helleniſch-römiſchen Geiftes 
durchzukoſten und ſich dabei der eigenen Überlegenheit über die brutale Gewalt 
der Goten bewußt zu werden. Es begreift ſich jedenfalls, daß ein folder 
Mann, als fein weitausfhauender Plan plöglih durch arianiſchen Fanatis— 
mus und gehäfjige Höflingsintriguen durchkreuzt ward, feinen Troft nicht 
in theologischen Studien ſuchen mochte, die ihn faft notwendig in heraus: 
fordernden Gegenjat zu jeinen Anklägern gebradt hätten, fondern in der 
Philofophie, welche bis dahin jein bevorzugtes Studium gewejen und deren 
völlig neutraler Charakter jede Herausforderung ausſchloß, deren ernfte, 
leidenſchaftsloſe Pflege am eheſten noch die Gegner zu beſchwichtigen geeignet 
war. So hat der merkwürdige Mann mährend der harten Monate der 
Gefangenſchaft feinen Zroft wirklich bei der Philofophie geſucht, aber nicht 
bei jenem Stoizismus, der in herbem Fatalismus nicht vor dem Selbft: 
mord zurüdichredte, jondern bei jener hriftlihen Philofopie, welche jelbft in 
den herbiten Prüfungen des Lebens eine liebevolle Fügung der göttlichen 
Borjehung erblidt. Unter anſcheinend völlig antifen Formen ift jein Troft 
ein weſentlich chriſtlicher. 

Obwohl fein „Troſtbuch“! ſeinem weſentlichen Kerne nach eine philo— 
ſophiſche Schrift iſt, gehört es einigermaßen auch der poetiſchen Literatur 
an; denn es iſt in Form einer Menippeiſchen Satire gehalten, in welcher 
Proſa und Verſe abwechſeln. Der Anfang mag davon am beſten eine 
Vorſtellung geben. An eine kurze Elegie ſchließt ſich in Proſa eine Art 
Viſion, welche den Rahmen des Ganzen bildet: 

„Ich, der in freudiger Luft einſt blühende Lieder geſungen, 
Muß anſtimmen jetzt ſchmerzlichen Trauergeſang. 


! De consolatione philosophiae libri V lat. et germ. cum apparatu et ex- 
positione Thomas de Aquino, Norimb, 1475 1476 ete. A. Koburger. Andere Wus» 
gaben: Padua 1744; Glasgow 1751; Leipzig 1753; Paris 1788; Parma 1798; 
von Th. Obbarius, Jena 1843; danach bei Migne (mit ben Prolegomena des 
Glarean und ben Kommentaren des Murmellius und Rub. Agricola) 
a. a. ©. LXIU 579—1074; von R. Peiper, Leipzig 1871. — Die althochdeutſche 
Überjegung Notkers des Deutihen (Labeo; geft. 1022) herausgeg. von P. Piper, 
Die Schriften Notkers und jeine Schule I, Freiburg und Tübingen 1882, 1—363. 
— Vgl. %. Kelle, Geſchichte ber deutſchen Literatur I, Berlin 1892, 243 ff 250 ff. 
— über die anderweitigen Überjegungen und Spezialihriften fiehe A. Potthast, 
Bibliotheca historica Medii Aevi I?, Berol, 1896, 161 162, 

14* 


212 Vierzehntes Kapitel. 


Klagen nur geben mir ein in zerrifi'nem Gewand die Kamönen, 
Und es begleiten im Ernft ftrömende Tränen ihr Lieb. 
Sie hat wenigftens no fein Schreden vermodt, zu verfagen 
Mir in der Stunde der Not treuliches Freunbesgeleit. 
Sie, einft Ruhm und Bier der freubeftrogenden Jugend, 
Tröften im bdrüdenden Leid freundlich den trauernden Greis. 
Denn längft, eh’ ich's geglaubt, hat mich überfallen das Alter, 
Mich ſchnell alternder Schmerz plöglih zum Greiſe gemadıt. 
Bange vor ber Zeit find mir die Haare erblichen, 
Zittert, der Kräfte beraubt, mir ſchon die runzlige Haut. 
Selig preif’ ih den Zod, ber nicht bie glüdlihen Jahre 
Störet, fondern im Leid öfters willtommen ſich zeigt. 
Dem Unglüdliden, ad! will fein Gehör er gewähren, 
Will nicht ſchließen das Aug’, das ihn mit Tränen erjehnt. 
Als noch das treulofe Glüd mich mit flühtigen Gütern erfreute, 
Hätte mein Leben beinah’ jählings der Tob mir gefnidt; 
Sept wo bie Miene fi dreht der unftet jagenden Wolken, 
Zieht fi über die Zeit herzlos mein Beben hinaus. 
Freunde! Was habt ihr jo oft mich einftens jelig gepriefen. 
Traun, das gefuntene Glüd ruhte auf Shwantendem Grund. 
„Während ich dies ſchweigend bei mir überdachte und meine tränen- 
volle lage mit dem Griffel niederjchrieb, glaubte ich über meinem Haupte 
eine Frau zu ſchauen von gar ehrwürdigem Ausjehen. Ihre Augen glühten 
und übertrafen an Schärfe die gewöhnliche menjchlihe Energie, fie waren 
von lebhafter und unverfiegter Kraft, obgleich fie jo alt war, daß fie nicht 
dem jet lebenden Geflecht angehören konnte. Ihr Wuchs ließ ſich nicht 
feft bejtimmen. Denn bald ſchrumpfte fie auf das gewöhnlide Durchſchnitts— 
maß zufammen, bald jhien fie mit der Spitze des Sceitels an den Himmel 
zu ftoßen: ja, wenn fie ihr Haupt noch mehr erhob, drang fie in den 
Himmel hinein und entzog ed den menſchlichen Bliden. Ihre Gewande 
waren mit feiner Kunſt aus den zarteften Fäden eines unzerreißbaren Stoffes 
berfertigt: fie hatte diejelben, wie fie mir jpäter verriet, mit eigenen Händen 
gewoben. Ihren Glanz hatte, wie bei rauchgeſchwärzten Bildern, Alter und 
Vernadläffigung dunkel abgetönt. Am unterften Rande war denfelben ein 
IT eingewoben, am oberften ein 9. Zwiſchen beiden Buchftaben waren in 
Form einer Leiter Stufen eingezeichnet, welche von unten nad) oben führten, 
Gewalttätige Hände hatten indes das Gewand zerriffen, und jeder hatte 
die Fetzen fortgenommen, deren er ſich hatte bemächtigen können. In ihrer 
Rechten trug fie ihre Bücher, in der Linfen ein Scepter. Als fie die 
poetijchen Mufen an meinem Lager ſah, wie fie mir Slagelieder diktierten, 
ſprach fie, etwas erregt und mit zornfunfelnden Bliden: ‚Wer Hat diefen 
Theaterdirnchen erlaubt, zu diefem Kranken hinzuzutreten, die feinen Schmerz 
nicht nur duch Fein Heilmittel lindern können, jondern ihn noch zudem mit 
füßem Gifte nähren werden? Das find fie, die mit den unfrudhtbaren 


Die Kriftlichelateinifche Literatur im oftgotifchen Reiche. 213 


Dornen des Gefühl: die fruchtreihe Saat des Verftandes töten, die Seele 
des Menihen an die Krankheit gewöhnen, nicht davon befreien. Wenn 
eure Schmeicheleien allenfalls einen profanen Menjchen, wie das auch üblich, 
berüdten, jo möchte ic) das noch eher erträglich finden; denn in einem ſolchen 
würden unjere Rechte nicht verlegt. Diefen Mann aber, an eleatiihen und 
akademiſchen Studien gebildet? Aber padt euch lieber, ihr bis zum Tode 
jüßen Sirenen, und überlaßt den Kranken meinen Mufen zur Kur und 
Heilung! So angefahren, ſenkte jene Schar den Blid zu Boden, geitand 
errötend ihre Beihämung und verließ traurig das Zimmer. ch aber, 
deffen Blid das Weinen getrübt hatte, jo daß ich nicht unterjcheiden konnte, 
wer dieſe Frau von jo gebieteriichem Anjehen wäre, ftaunte und begann, mit 
geienkten Augen jchtweigend abzuwarten, was fie weiteres tun würde. Da 
trat fie näher heran, fette fih am Ende meines Bettes nieder, ſchaute in 
mein trauernd ernftes und von Hummer niedergebeugtes Antlit und beklagte 
fih in folgenden Verſen über die Aufregung meiner Seele.“ 

Die Philoſophie zieht einen Vergleich zwiſchen jeiner früheren geiftigen 
Geſundheit und feiner jeigen Schwäche, übernimmt die Rolle des Arztes, 
unterfucht ihn und fragt ihn über fein Befinden aus. Da er nit ant- 
wortet, hält fie ihn für lethargish und berührt jeine Augen mit ihrem Ge- 
wand. Da erhält er die frühere Klarheit wieder, erkennt fie als feine Mutter 
und erfährt von ihr, daß die Liebhaber der Weisheit allzeit von den Un— 
wilfenden und Böſen verfolgt worden feien. In Verſen befingt fie aber, 
wie der wahre Weile unentwegt und glorreih über allen Schidjalsihlägen 
fteht. Dann foriht fie Bosthius weiter aus und gibt ihm jo Gelegenheit, 
die Urjahen jeiner Verbannung zu erzählen. Daran knüpft ſich eine er- 
greifende Klage (in Verſen) über die MWechjelfälle des Lebens mit einem 
jehnenden Wunſch nad Erlöfung. Die Philofophie tadelt ihn zum Zeil 
wegen der düftern Auffaffung feines Lofes und wegen jeiner lagen, lobt 
ihn aber auch wieder, daß er ſich jo offen ausgefproden. Sie gefteht, daß 
er noch nicht reif ift, auf einmal geheilt zu werden; aber eine beifere Er: 
fenntnis ift angebahnt, und es bedarf jebt hauptjählih nur der Beruhigung, 
um dem Kranken zum ganzen und vollen Troſt zu verhelfen. 

Sp ift im erften Buche der Rahmen geihaffen, der die eigentliche philo- 
jophiiche Abhandlung, wie in den Dialogen Platon oder Ciceros, dramatiſch 
beiebt. Das Troſtgeſpräch jelbft dreht ſich hauptjählih um zwei Punlte: 
die wahre Glüdjeligteit des Menſchen und die Vorjehung Gottes. Im 
zweiten und in der erften Hälfte des dritten Buches zeigt die Philofophie 
ihrem Schüler zunächſt, worin die Glüdjeligfeit nicht beſteht — nicht in 
Maht und Ruhm, nit in NReihtum und finnlihen Genüffen. In der 
zweiten Hälfte des dritten Buches geht fie dann zu dem Beweije über, daß 
Gott in fi die weſenhafte Glüdjeligkeit ift, umd daß deshalb der Menſch 


214 Vierzehntes Kapitel. 


nur duch Teilnahme am göttlihen Leben wahrhaft glüdfih werden kann. 
Schon hier entfaltet Boöthius neben einer tiefen Welt: und Menjchentenntnis 
jeinen ebenfo tiefen ſpekulativen Geift und einen poetischen Schwung, der 
vielfah an Dante erinnert. So ſchließt das zweite Buch mit folgendem Liede 
auf die ewige Liebe: 


Was den bunten Wechjel ber Welt 

Liebli zügelnd im Einklang hält, 

Ningende Kräfte im Erdenrund 

Bindet zum ewigen Friedensbund, 

Was die Sonne im rofigen Lauf 

Leitet zu goldenen Höh'n hinauf, 

Was den Abend führet herein, 

Leihet der Nacht den Silberfchein, 

Was des Meeres gierigen Schaum 

Hält mit fefter Gewalt im Zaum, 

Daß es nit in ftürmendem Braus 

Meiter dehne die Grenzen aus, 

Was ber Weſen zahllofe Reih'n 

Ordnet zum herrlichen Ganzen ein, 

Himmel und Land und Meer regiert, 

Es ift Die ewige Liebe. 

Fällt ihr Zügel, dann wird fogleidh 

Sid auflöfen das Friedensreich, 

Was fich liebte, entbrennen in Streit, 

Was fi vereint in harmoniſcher Pracht, 

Stürzen zurüd in des Chaos Nacht. 

Einzig wieder die Liebe nur 

Bindet die Völker dur heiligen Schwur, 

Flicht das Band, das heilig und rein 

Weiher die Ehe für immer ein, 

Teffelt den Freund auch täglich aufs neu’ 

An den Freund in beftändiger Treu. 

Selig, ſelig, o Menſchengeſchlecht, 

Lenkt dich des Himmels mächtigſtes Recht: 
Sie, die ewige Liebe!. 


Mit Recht berühmt iſt das prachtvolle Gebet, das den zweiten Teil 
des dritten Buches einleitet und zur Schilderung der göttlichen Glüchſelig— 
feit überführt. 


Der du nad ew'gem Geſetz den Lauf ber Welten beherrfceft, 
Erb’ und Himmel fhufft, die Zeiten lenkteft von Anfang, 
Selbſt unwandelbar, gabft allen Weſen Bewegung, 

Den nichts außer fi vermögen konnte, des Stoffes 
Flüchtiges Werk zu ſchaffen, die Maht nur eigener Güte, 
Angeboren dir, neiblos: du haft nad Herrlichftem Vorbild 





! Migne, Patr. lat. LXIII 718, überjeßt vom Verfaffer. 


Die Hriftlich-lateinifhe Literatur im oftgotifhhen Reiche. 215 


Alles gemadt. Die Schöne Welt, jelbft ſchöner als alles, 

Trugſt du im Geifte und haft fie nach ähnlichem Bilde geftaltet. 
Haft im einzelnen fie, haft fie im ganzen vollendet. 

Du haft alles gezählt und gewogen, dab Hitze und Kälte, 

Teftes und Flüffiges ftimmt, das reine Feuer emporftrebt 
Himmelan, dad Gewicht die Erbe ziehet zur Tiefe. 


— — ——— — —— A — — — — — 


Bater, laſſe du mich zu den lichten Höh'n gelangen, 

Sättigen mi am Quell des Guten und, fommend zum Lichte, 
Ewig richten auf dich bes Geiftes befeligtes Schauen, 

Näume die Nebel hinweg und die Wucht des irdiſchen Stoffes, 
Zeige mir deinen Glanz. Denn bu nur bieteft den Frommen 
Helle, friedliche Raſt. Di ſchaun ift Anfang und Ende, 

Du bift Führer und Kraft und Pfad und jeliger Zielpuntt !. 


Ron diefem erhabenen Standpunkt aus gewinnt das jcheinbare Glüd 
der Böſen, das Unglüf der Guten hienieden ein völlig anderes Anjehen. 
Alle Klagen müſſen verftummen vor dem großen Gefamtplan der göttlichen 
Vorſehung, in welchen die Schidjale des Einzelnen eingegliedert find. Die 
vermeintlichen Diffonanzen löjen fi in der Harmonie der göttlichen Welt: 
ordnung auf. Ammer Höheren Flug nehmen hier die Betradhtungen des 
ernften Denker, immer heller, freundlicher wird die Luft, immer jchöner 
und freudiger geftalten fih feine Gedanken. Die lebte große Frage ift 
diejelbe, welche noch jahrhundertelang die ſchärfſten ſpekulativen Geifter be- 
ihäftigen jollte, wie ſich die ewige Vorausſicht alles Künftigen von jeiten 
Gottes mit der menjchlihen Freiheit in Einklang bringen läßt. Schon 
Boethius löſt fie, joweit das möglich, in jehr befriedigender Weile aus der 
einfahen unendlihen Ertenntnisfraft der göttlichen Natur, die allem Seienden, 
allen Wandlungen der Geihöpfe, in einem unteilbaren Blid (uno ictu) 
vorauseilt, gegenwärtig ift umd bleibt. „Denn indem diefe Wiffenäfraft in 
ihrem bdarftellenden Erkenntnisbilde alles umfaßt, fest fie allen Dingen 
Schranken, ift aber von nichts Späterem abhängig. Da dem jo ijt, bleibt 
der freie Willensentjheid des Menſchen unangefohten. Und da die Willen 
von aller Notwendigkeit entbunden find, wird nicht nach ungerechten Geſetzen 
Lohn und Strafe verhängt. Denn der vormwiffende Gott bleibt von oben 
Zuschauer von allem, und feines Schauens allzeit gegenwärtige Ewigkeit 
wirft mit der künftigen Beihaffenheit unjerer Handlungen zujammen, den 
Guten Lohn, den Böſen Strafe zumweifend. Und nicht vergebli richten wir 
auf Gott unſere Hoffnungen und Gebete; wenn fie recht find, können fie 
nicht unwirkſam bleiben. Meidet alfo die Lafter, pfleget die Tugenden, er: 
hebt die Seele zu den richtigen Hoffnungen, richtet demütige Gebete zu den 


Ebd. LXIU 758. Nach der Überfegung von I. Jungmann S. J., Afthetit 
13, Freiburg 1886, 212 213. 


216 Nierzehntes Kapitel. 


Höhen. Gemwaltig ift euch die Notwendigkeit der Rechtſchaffenheit nahe ger 
rüdt, wenn ihr es euch nicht verhehlen wollt, da ihr vor den Augen eines 
alljehenden Richters handelt.“ ! 

So ſchließt das merkwürdige Werk, das in der Geſchichte der Wiſſen— 
ihaft wie der Literatur tiefe Furchen ziehen ſollte. 

„Den Spuren de3 ‚lebten Römers‘ begegnen wir im Mittelalter auf 
Schritt und Zritt; fein ‚Troſt der Philojophie‘ insbeſondere gehört zu 
denjenigen Büchern, an denen viele Generationen des Mittelalters fih auf: 
erbaut, fih im philofophifhen Denken geübt, woran die mittelalterlichen 
Sprachen zum Ausdrud abftrakter Gedanken ſich herangebildet haben. Eines 
jo ehrenvollen Loſes war das Werk nicht unwert, Auf ihm ruht ein letzter 
Glanz des klaſſiſchen Altertums: jowohl auf dem Inhalt, in dem der reinfte 
ethiſche Gehalt aus den Lehren der alten Philoſophenſchulen — in&bejondere 
der Neuplatonifer und Stoiler — mit dem Geifte römiſcher Mannestugend 
ih verbunden zeigt, wie auf der Form, insbefondere auf den poetijchen 
Zeilen, welde die erörternde und argumentierende Proja in wohltuender 
Weife unterbreen. Aber mit jenem leten Glanze des entſchwundenen 
Zages vermählt fi ſchon das Morgenrot eines neuen Tages, des Chriſten— 
tums, deſſen Geift; obwohl er nirgends zum fonfejfionellen Ausdrud gelangt, 
dod das Ganze durchdringt und den Ideen der göttlihen Vorjehung und 
der Liebe ihre eigentümliche Geftaltung gibt. Dazu nun nod der Vorzug 
einer edel populären Darftellung in dialogiſcher Form, der Reiz der Situation, 
die uns den Senator Boethius im Kerker vorführt, wo er — der Zögling 
der Philoſophie — von jeiner Pflegemutter getröftet wird.“ ? 

Das Werk verbreitete ſich in feinem lateinischen Text bald über das 
ganze mittelalterlihe Europa. König Alfred d. Gr. übertrug es ſchon gegen 
Ende des 9. Jahrhunderts ins Angelſächſiſche. Notler Labeo überjegte e3 
um das Jahr 1000 ins Deutjche, Jean de Meung (1280-1318) ins Fran: 
zöfiiche, Marimus Planudes (1260— 1310) ins Griechiſche. Der Hl. Thomas 


! Haec enim scientiae vis praesentaria notione cuncta complectens, rebus 
omnibus modum ipsa constituit, nihil vero posterioribus debet. Quae cum ita 
sint, manet intemerata mortalibus arbitrii libertas. Nec iniquae leges, solutis 
omni necessitate voluntatibus, praemia poenssque proponunt. Manet etiam spec- 
tator desuper cunetorum praesecius Deus, visionisque eius praesens semper 
aeternitas cum nostrorum actuum futura qualitate concurrit, bonis praemia, malis 
supplicia dispensans. Nec frustra sunt in Deo positae spes precesque; quae 
cum rectae sunt, inefficaces esse non possunt. Aversamini igitur vitia, colite 
virtutes, ad rectas spes animum sublevate, humiles preces in excelsa porrigite, 
Magna vobis est, si dissimulare non vultis, necessitas indieta probitatis, cum 
ante oculos agitis iudieis cuncta cernentis (De consol. phil. lib. V, 6; Migne, 
Patr. lat. LXIII 862). 

29. ten Brint, Geſchichte der englifchen Literatur I, Berlin 1877, 98 99. 


Die chriſtlich-lateiniſche Literatur im oſtgotiſchen Reiche. 217 


von Aquin Hat ihm die berühmte Definition der „Ewigkeit“ 1 und mand 
andere wichtige Ideen entnommen, faft die ganze mittelalterlihe Scholaftif 
dat daraus geihöpft. Dante nennt ihn 


L’anima santa, ch’ il mondo fallace 
Fa manifesto a chi di lei ben ode; 


er Spriht von jeinem Martyrium und verjeßt ihn unter die größten 
Leuchten der mittelalterlihen Wiffenihaft: Ihomas von Aquin, Albertus 
Magnus, Petrus Lombardus uſw. Auch Laurentius Balla, Angelo Boli- 
ziano und die übrigen Führer der Nenaiffance hielten Boethius hoch in 
Ehren, und jelbft die Magdeburger Genturiatoren konnten feiner Gelehr- 
ſamkeit ihre Anerkennung nicht verfagen. Noch 1665 hat Efleban Ma- 
nuel de Villegas, um fich ſelbſt in mannigfahem SHerzeleid zu tröften, das 
„Troſtbuch“ in klaſſiſches Spanish überſetzt. Erſt durch den Brud der 
Neuzeit mit der ſcholaſtiſchen Philofophie ift Boöthius mehr und mehr 
in den Schatten getreten; doch find der nahezu klaſſiſchen Formſchönheit 
jeiner Proja wie feiner Verſe auch mande neuere Beurteiler einigermaßen 
gerecht geworden. 

Die eingeitreuten Gedichte find jo gedanfenreih und tief, vielfadh jo 
tief empfunden und im Zujammenhang de3 Ganzen fo ergreifend, zugleich 
bon folder Formvollendung, dab man verſucht fein dürfte, Boethius nicht 
nur als den größten philofophiihen Genius, jondern auch al& den be- 
deutenditen Dichter feiner Zeit zu bezeichnen. 

Eine unhaltbare Überlieferung des Mittelalters gibt dem Boöthius vor 
Rufticiana eine andere Gattin, Elpis oder Helpis aus Sizilien? hr 
wurde (ebenfall® ohne ein hinreichendes Zeugnis) der ſchöne Hymnus auf 
die zwei Apoftelfürften zugejchrieben, der, in drei Abfchnitte geteilt, noch 
heute an deren Feſt im Römiſchen Brevier gebetet wird: Decora lux 
aeternitatis auream | Diem beatis irrigavit ignibus. 


Das Licht, des Lichtes Urquell, das glänzt von Ewigfeit, 
Hat heil mit jel’gen Strahlen den Feſttag eingeweiht, 
Den den Apoftelfürjten zu Ehren wir begehn, 

Der reu’gen Sündern öffnet die Bahn zu Himmelshöh'n. 


Lehrer der Welt, Bejchlieher des Himmels, Ehr' und Preis 
Euch, Vätern Roms, zu Richtern beftellt dem Erdenkreis: 


! Interminabilis vitae tota simul et perfecta possessio (De consol. V, 
prosa 6 Migne, Patr. lat. LXIII 858), erflärt vom bl. Thomas (Summa theol. 1, 
q. 8, a. 1). 

® Migne a. a. ©. LXII 537. — Mone, Hymnen II 63 91. — Über „die 
Elpisinjrift" im Atrium von St Peter fiehe H. Grisar, Analecta Romana ], 
Roma 1899, 105. 


218 Vierzehntes Kapitel. 


Durchs Schwert ſank hin der eine, durchs Kreuz der andere Held, 
Als Sieger herrſcht ihr beide im jel’gen Himmelszelt. 


O Petrus, heil’ger Hirte, nimm gütig auf mit Huld 
Der Gläub’gen Flehn und löſe die Bande unfrer Schuld. 
Du, welden Macht gegeben der Serr, der dich ertor, 
Zu öffnen und zu ſchließen das heil’ge Himmelstor, 


Erhabner Lehrer, Paulus, erleucht uns Herz und Sinn, 
Zieh unsre Herzen aufwärts mit dir gen Himmel bin, 
Wo Glauben fi in Schauen verflärt und, Sonnen gleich), 
Nur fel’ge Liebe waltet in Gottes ew'gem Reid. 


O Rom, du hocbeglüdtes, das beider Fürften Hut 
Dertraut ift und geweihet durch ihr ruhmwürd'ges Blut, 
Das purpurrot erprangend, dir ſolchen Glanz verleiht, 
Daß du all andern Städten vorragft an Würbigfeit !, 


O Roma felix, quae duorum principum 
Es consecrata glorioso sanguine, 
Horum cruore purpurata ceteras 
Excellis orbis una pulchritudines. 


Über andere Namen können wir fürzer hinweggehen, da feiner derjelben 
bedeutendere Wellenkreiſe in der Literaturgefchichte gezogen. Der Grammatifer 
Priscianus in Konftantinopel verfaßte (zwiſchen 500 und 512) ein Lob» 
gediht auf den Kaiſer Anaftafius und eine lateiniſche Bearbeitung der 
poetiſchen Weltreife des Dionyfius?. Der Afritaner Luxorius ahmte in 
zahfreihen, darunter recht derben Epigrammen, Martial nah?. Ein an- 
onymes Gedicht an den Afritaner Ylavius Felix, ebenfalls einen Epigram— 
matifer, befingt die „Auferfiehung der Toten“ *. Bon Rufticius Helpidius, 
den man früher für den gleihnamigen Freund des Ennodius und Leibarzt 
des Königs ITheodorich hielt, der aber wahrfcheinlicher ein ehemaliger Konful 


ı Überfeßt von F. 9. Schloffer, Die Kirche in ihren Liedern 12 104 105. 

® Prisciani grammatici de laude imp. Anastasii, herausgeg. von St. L. Enb- 
liher, Wien 1828 und I. Bekker (Corp. Hist. Byzant. I) Bonn 1829; Peri- 
egesis e Dionysio, Jtovvaiou nepenyyars olxouueung bei Wernsdorf (Poetae latini 
minores V), Bernhard y (Geogr. graeci min. I) und C. Müller (Geogr. graeci 
min. II). 

’ Bei Riefe (Anthologia latina 287—875) und Bährens (Poetae latini 
minores IV 441—529). — Schubert, Quaestiones de anthologia codieis Sal- 
masiani. Pars I: De Luxorio, Weimar 1875. — Klapp, De Anthologiae latinae 
carminibus nonnullis, Wandsbek 1875. 

* Unter bem Titel De iudicio Domini hat es fi in die Werfe Tertullians 
(ed. Oehler II 776—781) wie unter bie Werfe des bl. Eyprian (ed. Hartel 
III 308—325) verirrt; Hartel bemerkt dazu: Quisquis vero auctor est, Musis 


iratis hoc carmen panxit (Praef. ıxvıır). \ 


Die Kriftlich-Tateinifhe Literatur im oftgotifhen Reiche. 919 


und Gefinnungsgenoffe des Boöthius war, ift ein größeres Gedicht „Über 
die Wohltaten ChHrifti Jeju“ t erhalten, dazu 24 Tetraftichen, wie jene des 
Prudentius als Inſchriften zu Bildern beftimmt. Unter den Korrefpondenten 
des Ennodius taucht eim jüngerer Dichter Arator auf, der, mit deſſen 
Neffen Parthenius befreundet, ſich erſt an antik-mythologiſchen Stoffen ver: 
ſuchte, von Parthenius aber für eine chriftlich-poetiiche Richtung gewonnen 
ward, als Yurift zu hohen Würden und zum Rang eines Gomes empor- 
ftieg, Ichließlih aber der Welt entjagte und in den geiftlihen Stand 
trat. AS Diakon zu Rom bearbeitete er die Apoftelgefhichte epiih in 
zwei Büchern, mit ziemlihem Formgeſchick und wirklicher Begeifterung für 
feine Sade?. Unter PBapft Vigilius war ihm vergönnt, die erbauliche 
Dihtung ſelbſt öffentlih vorzulefen, wozu bier Tage angejegt werben 
mußten, da die Hörer öfterd „da capo“ riefen. In der Behandlung des 
heiligen Tertes folgte er mehr der freieren Art des Sedulius als der 
ftrengeren des Juvencus. 

Diel wichtiger für die MWeiterentwidlung der abendländijchen Geiftes- 
bildung als alle diefe Dichter ift Caffiodorusd — mit vollem Namen: Ylavius 
Magnus Aurelius Gajfiodorus Senator —, der no unter Odovalar (um 
485) geboren, Theodorih d. Gr. und fein Oftgotenreih und die lange Re- 
gierung des Kaiſers Juftinian überlebte und erft um 578 ftarb. Er ftammte 
aus einem vornehmen Geſchlecht aus Skyllaceum (heute Squillace) in Brut- 
tium, wurde früh Quäftor, Patricius, Konful (514), bekleidete die wichtigiten 
Ämter am Hofe Theodorih® und feiner Nachfolger (jeit 526 magister 
officiorum, ſeit 533 praefeetus praetorio) und zog ſich erjt nad) vierzig: 
jährigem Staatsdienft ins Privatleben zurüd, um den Reft feiner Tage der 


! Serauögeg. von Migne, Patr. lat. LXII 545—548; 9. Müller, Göt— 
tingen 1868 und W. Brandes, Braunfhweig 1890. 

® De actibus apostolorum libri II (Migne a. a. ©. LXVIII 63—246). Epi- 
stola ad Parthenium (ebd. LXVIII 245— 252). — Neu herauögeg. von U. Hübner, 
Neifie 1850. — Vgl. E.2.Seimbad, Über den Dichter Arator, in Theol. Studien 
und Kritifen XLVI (1878) 226—270. 

: Sn Th. Mommſenz; andere ſchreiben mit Maffei „Eaffiodorius*. Sein 
Geburts» und Sterbejahr find unbekannt, befannt nur, daß er 93 Jahre alt geworden. 
Mommſen ſetzt fein Geburtsjahr um 490 oder etwas früher an; andere bebeutend 
früher, doch nicht vor 470. Im Anecdoton Holderi madt Eaffiodor über fi felbft 
folgende Angaben: Cassiodorus Senator vir eruditissimus et multis dignitatibus 
pollens. Iuvenis adeo, dum patris Cassiodori patricii et praefecti praetorio con- 
siliarius fieret et laudes Theodorici regis Gothorum facundissime recitasset, ab 
eo quaestor est factus, patricius et consul ordinarius, postmodum dehinc magister 
officiorum et praefectus praetorio. Suggessit formulas dietionum, quas in duo- 
decim libris ordinavit et Variarum titulam superposuit. Scripsit praecipiente 
Theodorico rege historiam Gothicam originem eorum et loca mores in libris 
enuntians. 


220 Dierzehntes Kapitel. 


Frömmigkeit und der Wiflenihaft zu widmen! In der Nähe feiner Heimat 
baute er das Kloſter Bivarium, anmutig gelegen, von ſchönen Gärten und 
Fiſchteichen (vivarıa) umgeben, aber noch reichlicher mit allen Hilfsmitteln 
zum Studium audgeftattet. Der vielbelejene und vielerfahrene Staatämann, 
der als Geheimjchreiber und vertrautefter Rat des Königs für die Angelegen- 
heiten des ganzen Reiches gejorgt, organijierte hier jelbit den Unterricht in 
allen Fächern, von der Grammatik bis hinauf in die Schrifterflärung, vers 
faßte für alle kurze, praftiiche Handbücher, unterrichtete perſönlich und arbeitete 
ipäter als Schriftfteller unermüdlicd bis zum Tode. Als Greis von dreiund- 
neunzig Jahren verfaßte er noch eine Abhandlung über die Orthographie 
zur Ergänzung feiner Grammatik?. 

Er war weder body jpefulativ noch poetiſch veranlagt wie Boöthius, 
aber mit jenem ſcharfen Gedächtnis, praktiihen Verftand, geduldigen Fleiß 
und unermüdlihen Sammelgeifte ausgeftattet, den ein ausgebreitetes hiſto— 
riſches, enchklopädiſches Willen verlangt. Noch während die Sorgen und 
Mühen der ausgedehnten Reichsberwaltung auf ihm laſteten, verfaßte er, 
auf Anregung Eurichs, des Gemahls der Amalaſuntha, eine allgemeine 
Chronik, die fih zum Teil auf die Euſebius-Bearbeitung des Hieronymus, 
Livius und Baffus ſtützt und die nod erhalten iftd. Auf Wunſch Theodorichs 
jelbit jchrieb er eine Geſchichte der Goten, von den ältejten Zeiten bis zur 
Gegenwart, bon der aber nur noch die Auszüge des Jordanes vorhanden 
find ®. Unter dem Zitel Variae (epistolae et formulae) gab er (zwijchen 
534 und 538) eine Sammlung von etwa 400 Aktenftüden und Briefen 
heraus, die, teils in jeinem teils in des Königs Namen verfaßt, eine überaus 
wichtige Quelle der damaligen Zeitgefhichte bildend. Ein Grundzug diefer 
Schriften wie jeiner ftaatsmännifchen Tätigkeit liegt in dem Bemühen, 

ı P.P.M. Alberdingk Thijm, lets over M. A. Cassiodorus Senator en 
ziine eeuw, Amsterdam 1857, 21858. — 4. Thorbede, Eajfiodorus Senator. 
Ein Beitrag zur Geihichte der Völkerwanderung, Heidelberg 1867. — U. Franz, 
M. A. Eaffiodorus Senator. Ein Beitrag zur Gefhichte der theologiichen Literatur, 
Breslau 1872. — J. Ciampi, I Cassiodori nel V. e nel VI. secolo, Imola 1876. 

? Gejamtausgaben feiner Werke: Paris 1579, Genf 1656 1663, von dem Mau— 
riner I. Garet (Rouen 1679, Venedig 1729); abgedrudt und vermehrt bei Migne, 
Patr, lat. LXIX LXX. 

’ Herausgeg. don Mommfen (Chronica minora saec. IV V VI VII. 2b 2. 
Monum, Germ. Hist. Auctores antiquissimi XI 109—161), Berlin 1894; Migne 
a. a. ©. LXIX 1218—1248, 

* Herausgeg. von Mommjen (Iordanis Romana et Getica. Monum. Germ. 
Hist. Auctores antiquissimi V 1), Berlin 1882; Migne.a.a. O. LXIX 1251 
bis 1296, 

° Herauögeg. von Mommjen (Variae. Monum. Germ. Hist. Auetores anti- 
quissimi XII), Berlin 1894; Migne a. a. ©. LXIX 501— 880. — Engliſche liber- 
fegung von Th. Hodgkin, London 1886. 





Die Hriftlichelateinifche Literatur im oſtgotiſchen Reiche. 991 


die Intereſſen der fiegreichen Oftgoten mit jenen der befiegten Römer aus— 
zugleihen, diefe durh Schonung und gerechte Behandlung für die fremden 
Gemalthaber zu gewinnen, jene durch römische Bildung zu heben und politiſch 
zu erziehen und jo Germanen und Romanen, gotifhe Voltskraft und römijche 
Kultur auf dem Boden hriftlicher Gefittung zu verföhnen: das große Problem 
jener Zeit, das wichtigſte und fruchtreichfte, das fi ein Staatsmann ftellen 
fonnte, und das unter Theodorich bereits einer günftigen Löſung entgegen: 
zugehen ſchien. Als indes unter feinen Nachfolgern Leidenſchaft und Barbarei 
die Ausfihten immer mehr herabftimmten und faft alle erreichten Erfolge 
durchkreuzten und zerftörten, flüchtete der große Staatsmann feine Lebens: 
gedanken gewiffermaßen von dem Gebiete der Politit auf das der Kirche, 
bon der Staatskanzlei ins Klofter. 

Auch in der Einfamfeit von Vivarium, melde der Staatsmann von 
Ravenna als ein Sechziger auffuchte, ift er micht als eigentlicher Bahn- 
bredher aufgetreten. Er hat in keiner Wiſſenſchaft neue Pfade eröffnet; aber 
er hat in einer Zeit, wo die Barbarei die ganze antite und römiſch-chriſtliche 
Bildung zu dverihlingen drohte, ihr ferne von den Heerftraßen der Legionen 
ein friedlich ftilles Aſyl geihaffen, wo fie vorläufig ungeftört mweiterblühen 
fonnte. Die Aufnahme in jein Klofter war an die Bedingung geknüpft, 
fih nicht bloß der Frömmigkeit, jondern auch der Pflege der Wiſſenſchaft 
zu widmen, Nur joweit nötig ließ er Brüder zu, melde Feld und Garten 
beftellen und jo den übrigen den nötigen Unterhalt beſchaffen follten. Auch 
dieje follten fennen lernen, was Golumella, Gargilius Martialis, Nemilianus 
und andere der Alten über Feldbau, Gartenwirtihaft uſw. gejchrieben. In 
jeinen zwei Werten De artibus ac disciplinis liberalium litterarum ! 
und De institutione divinarum litterarum ? hat er dann gleichſam das 
Facit der bisher vorhandenen Geiftesentwidlung gezogen und daraus einen 
Grundplan entworfen, nah welchem ſich die Studien der Seinigen in 
rationeller Unterordnung weiter entfalten follten. Den Unterbau bilden die 
fieben freien Künſte in der hergebrachten Reihenfolge: Grammatik, Rhetorik 3, 
Dialektik, Arithmetif, Mufil, Geometrie, Aftronomie. Die Philojophie hat 
fih noch nicht zum eigentlihen Wiffenszweig geftaltet. Die logiſchen und 
ertenntnistheoretiihen Unterfuhungen find der Dialektik zugeteilt, alles übrige 
den „göttlihen Wiſſenſchaften“, d. 5. der Theologie. Die Theologie jelbft 
bat noch feine eigentlih wiljenjchaftlihe Gliederung erhalten. Gajfiodor 
führt in feinem Abriß erft die einzelnen Bücher der Heiligen Schrift 
auf, dann die vier Konzilien, die verſchiedene Einteilung der heiligen 





! Migne.a.a. ©. LXX 1149—1220. ® Ebb. LXX 1105—1150. 
s Ebd. LXX 1219—1270. — Die Rhetorik herausgeg. von C. Halm, Rhe- 
tores latini minores, Lips. 1868. 


222 Vierzehntes Kapitel. 


Schriften, die hiſtoriſchen Kirchenſchriftſteller, die hauptſächlichſten lateinischen 
Kirchenväter (Hilarius, Cyprian, Ambroſius, Auguſtinus, Hieronymus), 
eine Anweiſung über das Leſen der heiligen Schriften und das Studium der 
Hilfswiſſenſchaften, wie der Kosmographie u. dgl., endlich allgemeine Vor: 
jhriften über Studium und Ordenäleben überhaupt. In Eleineren Einzel- 
ſchriften hat Caſſiodor noh zum Teil die Grammatif und Orthographie 
behandelt. Ein Opusculum „Über die Seele” (in 12 Kapiteln) ftreift vom 
philoſophiſchen Gebiete ftark ins astetiiche hinüber!. Das umfangreichite Wert 
Caſſiodors aus feiner Höfterliden Zeit ift eine Erklärung der Davidiſchen 
Pjalmen?, welche durchweg auf derjenigen des Hl. Auguftinus fußt. Sehr 
fur; dagegen find jene Erllärungen zu den Apoftelbriefen, der Apoitel- 
geihichte und der Apokalypſe. Die Kirchengeſchichte förderte er dadurd, daß 
er duch feinen Freund, den Scholaftifus Epiphanius, die kirchengeſchichtlichen 
Werke des Sokrates, Sozomenus und Theodoret überſetzen ließ und dieſe 
Überfegungen dann jelbft nad} jeiner Auswahl zufammenftellte und verſchmolz. 
Mit diefer Historia ecclesiastica tripartita® übermachte er dem Mittelalter 
einen reihen Schatz kirchengeſchichtlicher Kenntniffe in gedrängter, praftiicher 
Form, wenn die moderne Gejchichtskritit Hier auch vieles auszujegen hat. 
Sie reiht von Konflantin d. Gr. bis auf den jüngeren Theodofius und 
ſchließt fih fomit als Fortſetzung an die von Hieronymus bearbeitete Kirchen: 
geihichte des Eufebius. 

Die Stellungnahme Gaffiodors zur Poeſie zeichnet fih am beiten in 
der Einleitung zu feinem Pjalmenlommentar. Auch ihm galt fie als eine 
Tröfterin in den Bedrängniffen der Zeit. Aber während Boöthius als 
Dichter-Philofoph die ſchönſten Gedanken hriftliher Ethik in die Kunftformen 
antifer Lyrik kleidete, ſuchte Gaffiodor, der gelehrte Sammler, feinen Troft 
bei den Pſalmen. „Nachdem ih die Sorgen meiner hohen Stellung in 
Ravenna und die weltlihen Geſchäfte mit ihrem ſchädlichen Beigeihmad 
abgeichüttelt und den geifligen Honig des himmlischen Pſalmenbuchs verfoftet 
hatte, verjenkte ih mich, wie das lebhafte Verlangen zu bewirken pflegt, ala 
eifriger Forſcher in dasſelbe, um nad fo viel bittern Erlebniffen die ſüßen 
Morte behaglich einzufchlürfen.” Als Anfänger hatte er aber mit Schwierig- 
feiten zu ringen, um zum vollen Verſtändnis zu gelangen; er ftudierte darum 
die Enarrationes des hl. Auguftin und ward aus einem Lejer jelbft Kom— 
mentator, aber mehr ein myſtiſcher als ein philoſophiſch-exegetiſcher. Alle 
andere Poeſie verblaßte in feinen Augen vor diefem einen Bud. 

„Ein wahrhaft ftrahlendes Bud, eine leuchtende Nede, ein Labjal für 
das wunde Herz, ein Honigkuchen für den inneren Menjchen, ein Feſtmahl 





! Migne, Patr. lat. LXX 1279—1308, 
® Ebd. LXX 10—1056. » Ebd. LXIX 879—1214. 


Die chriſtlich-lateiniſche Literatur im oftgotifhen Reiche. 293 


für geiftliche Perſonen, eine Zunge voll geheimer Kräfte, welche die Stolzen 
vor den Demütigen beugt, die Könige den Bettlern unterwirft, liebreih die 
Kleinen nährt. Denn fo groß ift die Schönheit der Empfindungen und die 
Heilkraft der darin quillenden Worte, dab man darauf mit Recht die Worte 
Salomons im Hohen Liede beziehen darf: ‚Ein verfchloffener Garten und ein 
verfiegelter Quell, ein Fruchtgarten voll von allen Früchten‘ (HI 4, 12). 
Denn bald neigen die einen der Pjalmen, nad göttlihem Ratſchlag verfaßt, 
die erregte ſtürmiſche Seele zum lauterften, ruhigften Leben; bald fündigen 
fie Gott an, wie er zum Heile der Gläubigen fihtbarer Menſch werden und 
zum Weltgerihte kommen wird; bald nahen fie, mit Tränen die Sünden 
abzuwaſchen, mit Almojen die Schuld loszukaufen; bald laufchen fie in 
ehrerbietigem Staunen auf heilige Reden; bald leiht das hebräifche Alphabet 
ihnen tiefere Bedeutung; bald verkünden fie heilſam das Leiden und die Auf: 
eritehung des Herrn; bald beweinen fie in liebendem Mitleid die Trauernden; 
bald erſchließen fie dur Wiederholung heilige Dinge; bald find fie durch 
die Stufengefänge bewundernäwert; endlich verweilen fie glüdlich in göttlicher 
Lobpreiſung, in feliger Fülle, unbeſchreiblicher Sehnſucht, wunderfamer Tiefe. 
Nie wird das gläubige Gemüt völlig geftillt, das fi daran zu jättigen 
begonnen. Die Pjalmen find es endlih, welche unjere Nachtwachen ver— 
Ihönern, wenn mitten im Schweigen der Nacht die menſchliche Stimme in 
plallierenden Chören fih zum Gejange erhebt und in melodifch modulierten 
Morten uns zu jenem zurüdführt, von weldhem zum Seile des Menjchen- 
geichlehts das göttliche Wort einft ausgegangen.“ ! 

Zurüdblidend auf das Treiben in der Welt, fand der Mönd von 
Bivarium, der einft jo mädtige Staotsmann von Ravenna, daß die Böen 
jelbit in ſcheinbarem Glüd feine rechte Freude genießen: 

„Dei aller körperlichen Anmut ift das Antlitz der Böſen wolfenumflort ; 
ſelbſt wenn fie ſich freudig gebärden, find fie traurig, da fie bald bereuen, 
vom Anſturm der Leidenjchaft verlaffen, plöblih in Trauer verfinfen; ihre 
Augen bewegen fi mehr als nötig ift; Hin und her denfend brüten fie, 
unfiher, unjtet, ſchwankend, vor allem bang, vom Willen aller abhängig, in 
ängftliher Sorge, von Verdacht geplagt; das Urteil anderer prüfen fie ängſtlich, 
weil fie das eigene törichterweije verloren: indem fie daS weltliche Leben 
ſuchen, gehen fie dem Unglüd des ewigen Todes entgegen, und während fie 
gierig nad zeitlihem Lichte ringen, erwerben fie fih die Finſternis ber 
ewigen Nacht.” 2 

Ganz anders ift es mit dem Guten, der fi zum Glauben an die 
heilige Dreifaltigfeit befennt und fein Leben nad der Lehre der Apoftel 
einrichtet. 


! Ebd. LXX 10. 2 Ebb. LXX 1298 1299. 


224 Vierzehntes Kapitel. 


„Immer ift fein Antlig froh und ruhig, hager aber kräftig, bleich 
aber ſchön, trotz befländiger Tränen freudig, ehrwürdig durch den langen 
Bart, ohne allen Shmud dod rei geziert. So werden die Menſchen durch 
die Gerechtigkeit Schöner, indem dieſe die Gegenjäße ausgleiht: die Augen 
fröhlih und voll unfhuldigen Liebreizes, die Nede wahr und der Guten 
Herz treffend, begierig, alle für die Liebe Gottes zu gewinnen, von der er 
ſelbſt erfüllt ift; die Stimme gemäßigt, weder halbem Schweigen nod 
gewaltigem Gejchrei ſich nähernd; Strengheit bricht jeine Kraft nicht; bon 
freudigen Creigniffen läßt er fich nicht erregen: ein Heiliger Tempel, eine 
Wohnftätte der Tugenden; feine Züge verändern fi nicht, weil fie an 
Beharrlichkeit gewohnt find. Sein Schritt ift weder ſchleppend noch eilig; 
er jieht feinen um feiner jelbft willen an, er ſchont feinen wegen eines 
andern. Er empfiehlt das Rechte und Gute, lehrt ohne Anmaßung, ift 
demütig und frei, fireng und voller Liebe, jo daß es ſchwer ift, ihm zu 
berlafjen, wie man das Leben jelbft nur widermwillig verläßt.“ ! 

Diefe Schilderung ift nicht nur dadurch bemerkenswert, dab fie in an: 
ſchaulicher Weife den Unterſchied der chriſtlichen Lebensanſchauung und Jdeale 
von jenen des heidniichen Altertums fennzeichnet?, ſondern noch mehr dadurch, 
dab fie auf den Kern und die Seele jener fittlihen Kraft hinweiſt, durch 
welde das Mönchtum zum Retter der abendländiichen Kultur geworden ift: 
die lauterfte Gotted: und Menjchenliebe. 

Miffenihaft und Kunſt ericheinen Hier allerdings nicht als unabhängiges 
Selbftziel, wie fie es in der objektiven Ordnung der Dinge auch nicht find 
noch fein können. Die wiſſenſchaftliche Bildung ordnet ſich der religiös— 
fittlihen unter, das profane Wiffen dem theologifchen ; aber wie das Ordens: 
leben als ausnahmsweiſe Lebensform das Weltleben nicht ausſchließt, ſondern 
vorausſetzt, jo ift dem profanen Willen innerhalb jener philoſophiſch be- 
gründeten Ordnung die freiefte Spannweite gegeben. Die theologiſch-hiſtoriſche 
Richtung des Caſſiodor ſchließt die philofophiich-humaniftifche des Boethius 
feineswegs aus. Jene übermachte dem Mittelalter die bibliſche und theo- 
logische Wiſſenſchaft der patriftiihen Zeit, diefe die wichtigften Ergebniſſe 
antifer Philofophie und das Intereſſe für die alten Klaſſiker. Die innige 
Begeifterung des Caſſiodor für die Liturgie und das Pjalterium Hinderte 
ihn nit, den umfangreidhften geichichtlihen Arbeiten, dem Studium der 
Geographie, ja felbft dem allergewöhnlichſten praktiſchen Realwiffen feine 
Sorge zuzuwenden®. Er forderte feine Mönche nicht nur zu unermüdlicher 


ı Migne, Patr. lat. LXX 1300 1301. 
® Das hebt Ebert (Geſchichte der Literatur des Mittelalters I®, 518) hervor. 
* Katalog ber Bibliothek des Kloſters Bivarium, zufammengeftellt von A. Franz, 
M. Aurelius Caffiodorus Senator, Breslau 1872, 80—92. 


Die chriſtlich-lateiniſche Literatur im oftgotifhen Reiche. 2935 


Vervielfältigung der Handfhriften auf, welche nod für Jahrhunderte den 
Drud erjegen mußte, er empfahl ebenjo angelegentlih das Studium der 
Orthographie, von welchem die Brauchbarkeit der Codices bedingt war, der 
Kalligraphie, der Initialenmalerei, und jelbft der Buchbinderei, der nächtlichen 
Beleuhtungsmittel und der Uhrenmacherei hat er nicht vergefien. Die Waſſer— 
uhr jollte der Sonnenuhr nahhelfen, damit durch genaue Zeiteinteilung 
die wiſſenſchaftliche Arbeit gefördert würde!. Wohlgeregelte Lampen mit 
praftiihen Mechanismus jollten auch die nächtlichen Stunden der Arbeit 
fihern. Die jhönen Büchereinbände aber vergleicht er geradezu mit dem 
hochzeitlichen Kleide, welches vorab die heiligen Schriften verdienen ?. 


ı A, Olleris, Cassiodore, conservateur des livres de l’antiquite latine, 
Paris 1841. 
® Migne, Patr. lat. LXX 1144—1146. 





Baumgartner, Weltliteratur, IV. 8. u. 4. Aufl. 15 


Zweites Bıd. 


Die lateinifhe Literatur des Mittelalters. 


Erſtes Kapitel. 


Die Erhaltung des Sateins als lebendiger Sprache der 
Kirche, des Rechts und der Wilfenfhaft. 


Der Sturz des weſtrömiſchen Kaifertums gilt mit Recht al3 die Scheide- 
linie zwiſchen Altertum und Mittelalter. Mit Romulus Auguftulus erliſcht 
die Reihe der römischen Gäfaren, die ftolze Weltherrſchaft des römiſchen 
Senats und Volkes, die letzte Widerſtandskraft der einft unbefiegliden, 
mwelterobernden Zegionen, der letzte Machtreft der antiten Götter, des griechiſch— 
römischen Heidentums, der von ihm beherrſchten Kultur, Literatur und Kunſt. 
Wie das römische Weltreih alle früheren Weltreihe an Machtfülle und Glanz 
übertroffen hatte, jo hat aud jein Sturz die Welt in ein Chaos gerifien, 
wie feine Ummälzung zuvor. Diejes Chaos hat allerdings nicht erſt mit dem 
Jahre 476 begonnen; die vernichtenden Wellenſchläge der Völkerwanderung 
erhoben ſich ſchon ein Jahrhundert früher; die innere Zerſetzung des riefigen 
Staatzfoloffes reiht in noch frühere Zeit zurüd; von innen und außen 
haben dann die zerjtörenden Kräfte zujammengewirtt, bis feine Staatskunft 
mehr das unterwühlte Gefüge zu retten vermochte, aud das Ehriftentum 
dem finfenden Reihe keine Hilfe mehr bieten konnte, weil dasjelbe zu lange 
in hartnädigem Stolze gegen die Botihaft des Heiles angelämpft, fie nur 
halb und widerftrebend angenommen, fie durch ketzeriſches Seltentreiben und 
heidniſche Üppigkeit unaufhörlich in ihrer Wirkjamteit gehemmt Hatte. 

Die furchtbaren Schidjalsihläge, welde vom Anfang des 5. Jahr: 
hundert3 an über das römiſche Reich hereinbradhen und dasjelbe endlich 
jertrümmerten, find bereit3 von den Zeitgenoffen als ein Gottesgericht be- 
trachtet worden, das die römische Welt dur ihre blinde Anhänglidkeit an 
da3 Heidentum, durch ihren ungemefjenen Stolz, ihre grenzenlofe Habjucht, 
Genußſucht und Entfittlihung auf fi) herniederbeſchwor. Steiner hat diejes 
weltgejhichtlihe Strafgericht gewaltiger und ergreifender beſchrieben als Sal: 
vianus, ein Gallier, vermutlih aus der Gegend von Trier oder Köln 
gebürtig, der nach kurzem Leben in der Welt um das Jahr 430 der Hlofter: 
gemeinde von Lerin beitrat und ſpäter al3 Priefter in Marfeille wirkte. 

Er Hatte mit eigenen Augen die jchredlichen Verheerungen gejhaut, 
melde die Züge der Barbaren im nördliden und füdlihen Gallien wie in 


230 Erftes Kapitel. 


Afrika angerichtet Hatten. Als Antwort auf die Klagen derjenigen, melde 
über dem Elende der Zeit den Glauben an eine göttliche Vorfehung und 
an Gott jelbit verzweifelnd über Bord werfen wollten, jchrieb er feine acht 
Bücher „Über die Weltregierung Gottes“ oder, wie Gennadius fie fpäter 
überjchrieb: „Bon dem gegenwärtigen Strafgeriht“ 1 — ein düfteres, aber 
völlig aus der Wirklichfeit gegriffenes Kulturbild jener grauenvollen Zeit, 
welche den längft vollzogenen inneren Bankrott der antik-heidniſchen Bildung 
zu feinem legten offenen Abſchluß brachte. Das Wert, ala Geſchichtsquelle 
vom höchſten Werte, ift „in einem faft an Lactanz und Hilarius erinnernden 
Stil” gehalten, „an dem das genaue Studium Giceros unverkennbar ift“ ?, 
zugleich mit einem erhabenen Schwung, der an die altteftamentlihen Propheten 
gemahnt. Mitten in dem Schreden der Bölferwanderung findet er noch 
das Heidentum mit feiner entnervenden Unſittlichkeit in voller Blüte, 


„In den Gymnafien wird nod Minerva, in ben Theatern Venus, in dem 
Zirkus Neptun, auf den Fehtböden Mars, auf den Ringpläken Merkur angebetet 
und verehrt, und jo waltet noch allenthalben, je nad der Verſchiedenheit der Ber: 
anftalter, ber alte Gößendienft. Jede Art von Unzucht wird in ben Theatern be— 
gangen, jede Art von Ausfhweifung auf ben Ringpläßen, jedwede Ausgelafienheit 
im Zirkus, jedwede Tollbeit in den Schaufpielhöhlen. Dort herrſcht die Unzucht, 
anderwärts bie Sittenlofigfeit, hier die Völlerei, dort die Raferei, Überall der Dämon; 
ja in all ben Bergnügungslofalen zufammen haufen alle Ausgeburten der Hölle; 
denn von ben ihrer Verehrung geweihten Pläken herab führen fie allenihalben 
ben Borfiß®. 

„Italien wurde ſchon durch jo viele Kriegszüge verheert; haben Die Jtaler 
endlich von ihrem Lafterleben abgelaffien? Rom wurde belagert und eingenommen ; 
haben bie Römer endlich aufgehört, Gottesläfterer und Tollköpfe zu fein? Die 
Barbarenvölfer haben die gallifhen Provinzen überflutet; ftedlen die Gallier, was 
Eittenverderbiheit anbelangt, nicht noch in ihren früheren Verbrechen? Die Bandalen 
find hinüber nad) Spanien gezogen: fo hat ſich die Lage der Spanier verändert, 
aber nicht ihre Bafterhaftigkeit. Damit endlich kein Teil der Welt frei von töblichem 
Verderben bliebe, warf fid) der Krieg auch auf die Meeresfluten; jo wurben die vom 
Meere umſchloſſenen Städte, jo wurden Sardinien und Sizilien, die Kornlammern 
bes Fistus, verheert und zerftört, fo wurden uns bie Lebensadern abgeſchnitten und 
Afrika jelbft, ber Lebenshort der Nepublit, in Fefleln gelegt. Und nun? Nachdem 
die Barbaren in jene Länder eingebrungen, bat dort wenigitens aus Furcht das 
Lafterleben aufgehört? Oder hat, wie ſich zeitweilig auch die nichtsnutzigſten Sklaven 





! Gefamtausgaben der Werte Salvians von P. Pithoeus, Paris 1580; 
C. Nittershufius, Nürnberg 1611 1623; St. Baluze, Paris 1663 1669 
1684; Migne (nad Baluze), Patr. lat. LI; €. Halm, Berlin 1877 (Monum. 
Germ. Hist. Auctores antiquissimi I 1); Fr. Pauly, Wien 1883 (Corpus script. 
eccl, lat. VIII). — Deutſche Überfegung von A. Helf, Kempten 1877. — Bal. 
W. Zihimmer, Galvianus, der Presbyter von Maffilia und feine Schriften, 
Halle 1875. — U. Hämmerle, Studien zu Salvian, Landshut 1893, 

* 9. Norden, Die antike Kunftprofa II, Leipzig 1898, 585. 

® De gubernat. Dei VI 11 (ed. Halm a. a. ©. 77, 8 60). 


Batein ald Sprade der Kirche, bes Rechts und ber Wiſſenſchaft. 231 


zurechtweiſen laffen, der Schreden wenigftens einige Beiheidenheit und Zucht ab» 
gepreßt? Wer könnte die Größe des libels meflen? Während die Waffen ber 
Barbaren um bie Mauern von Eirta und Karthago Elirrten, jauchzten die Einwohner 
von Karthago im Zirkus und jchwelgten in den Theatern. Während die einen vor 
ben Zoren hingeſchlachtet wurden, trieben bie drinnen noch Unzudt. Während ein 
Teil des Volkes draußen don den Feinden gefangen wurde, war ber andere drinnen 
eine Beute bes Lafters. ... Es miſchte fih Tozufagen das Kampfgeichrei vor ben 
Mauern und das Freudengeſchrei innerhalb der Diauern, das Röcheln der Sterbenden 
und das Gejauchze der Bakchanten, und faum zu unterſcheiden war mehr ber Schmerzen 
ruf der im Kampf Gefallenen und ber Yubelruf der im Zirfus Schreienben. Und 
was tat diejes Volk mit ſolchem Zreiben anders, ala dab es, da Gott es vielleicht 
noch nicht verderben wollte, jelbft feinen Untergang herbeiforberte ? 

„Doch was rede ih von Dingen, die in weiter fyerne und gleihjam in einem 
andern Erbteil geichehen find, dba ich doch weiß, dab in meiner Heimat und in ben 
Städten Galliens faft alle Bornehmeren durch ihr Unglüd nur noch ſchlechter ge— 
worben find?! 

Ich Telber jah zu Trier Männer von hohem Amt und Adel, von ben Bar- 
baren ſchon ausgeraubt und arm geworben, ärmer noch an Ehre und Sittlichkeit, 
ein ſchandvolles Leben führen, Greife, beim bevorftehenden Untergang ber Stabt der 
Böllerei, der Trunkſucht und ber Unzucht ſich ergeben; felbit die Spiken der Stabt- 
bevölferung jchrieen, vom Weine beraufcht, wie Rajende, wüteten wie Bakchanten, 
gebärbeten fi wie Tollfinnige. Auch in Köln ließen die Vornehmiften jelbft dann 
von ihren Freß- und Zrinfgelagen nit ab, als der Feind ſchon in die Stadt ein- 
30g, To daß fie bas, was ihnen ben Untergang bereitete, auch dann noch trieben, als 
fie zu Grunde gingen. Und wir wollen uns wundern, daß fie alles verloren haben, 
nachdem fie ihre Tugend verloren? Was foll ih von den übrigen Städten Galliens 
fagen? Auch fie find durch ähnliche Sünden ihrer Bewohner gefallen. Als bie 
Heere der Barbaren ſchon anrüdten, wurde weder für die Verteidigung der Stäbte 
noch für den Schuß ihrer Bewohner Fürforge getroffen; von Trunfenheit unb Sorg- 
Iofigfeit waren alle wie betäubt. Viermal wurde die reichjte Stadt Galliens, Trier, 
zerjtört, und nach jeder Zerftörung nahm das fittliche Verberben zu. Der Untergang 
dieſer Stadt zog ben Ruin ber andern nah fi. Vor meinen Augen mußte id) 
Leichen jehen beiderlei Geſchlechts, nadt, zerrifien, von Vögeln und wilden Tieren 
angefrefien; der Geſtank der Toten wurde zur Peſt für die Lebenden, und der Tod 
baudte aus den Toten ben Tob aus. Und die wenigen vom Adel, die dem Tod 
entronnen waren, verlangten nad jolhem Greuel der VBerwüftung von den Kaiſern 
— Birfusfpiele und Theaterftüde, und dies verlangten fie, nachdem fie geplündert 
und bejiegt waren, nach ihren Niederlagen, nad all dem vergofienen Blut, nad 
Ion eingetretener Unterwerfung. Wo follten dieſe Schaufpiele abgehalten werben? 
Über den Grabmälern und Aſchenkrügen, über den Haufen von Totengebeinen, über 
den Blutladhen ber Erjchlagenen ?** 


Mit derjelben Wucht der Beredfamteit ftellt Salvian der unglaublichen 
Entartung der Römer die natürliche Frömmigkeit, Einfachheit und Sitten: 


! De gubernat. Dei VI 12 (ed. Halm a. a. D. 78, & 67). 

® Ebd. VI 13 (ed. Halm a. a. ©. 79, $$ 72 ff). Kürzer zufammengedrängt 
bei C. J. Greith, Geſchichte der altiriichen Kirche, Freiburg 1867, 10 11. — Ral. 
9. Grifar, Gejhichte Roms und der Päpfte im Mittelalter I 55—57. 





232 Erftes Kapitel. 


reinheit der germanischen Bölfer gegenüber, welche von. den Laſtern der 
Überkultur noch nichts kannten und der frechen, öffentlichen Sittenlofigfeit, 
bejonders in Afrika, durch firenge Maßregeln ein Ziel jegten: 


„Erröten wir“, ruft er aus, „ich bitte euch, ſchämen wir uns! Ber den Goten 
gibt es feine Ungfichtigen als eben die Römer, bei den Vandalen wieder nur Römer, 
fo weit hat es bei ihnen bie Liebe zur Keufchheit, die Strenge ber Zucht gebracht, 
daß fie nicht nur jelbft feufch find, jondern daß fie, um etwas ganz Neues, Unglaub- 
liches, Unerhörtes zu fagen, felbft die Römer teufh gemacht haben, Wenn es Die 
menihlihe Schwäche erlaubte, möchte ic; mit übermenſchlicher Kraft rufen, dab es 
über ben ganzen Erbfreis hin widerhallte: ‚Schämt euch, ihr römischen Völker, ſchämt 
euch eures Lebens! Kaum eine Stabt ift von Borbellen, feine von Unzudt frei außer 
denjenigen, in welden die Barbaren ihren Sit aufgeihlagen haben.‘ Und wir, die 
wir jo unlauter find, wundern uns, wenn wir im Elend find; wir, die wir an 
Tugend zurüd find, wundern uns, wenn wir durch die Kraft ber Feinde befiegt 
werden; wir wundern uns, daß jene unfere Güter befigen, die unſere Lafter verab- 
jheuen. Nicht natürliche Körperkraft führt fie zum Siege, nicht natürliche Schwäde 
bereitet uns Niederlagen. Keiner made ſich eine andere Überzeugung, feiner eine 
andere Auffaffung zurecht: einzig und allein die Verrottung unferer Sitten hat ung 
baniebergeftredt,” ! 


Zu weit geht Salvian unzweifelhaft, wenn er einen Sokrates und 
Gato zu Propheten der „freien Liebe“ macht; aber feinem ſcharfen Ausfall 
auf die helleniſch-römiſche Philofophie liegt der durchaus richtige Gedante 
zu Grunde, daß die größten Philofophen des Altertums nicht zu einer 
wahrhaft menjhenwürdigen Auffafjung der Ehe durdgedrungen find, dab 
fie (jelbft ein Sokrates und Plato) den Ausſchweifungen der Sinnlichkeit 
feinen feften Damm entgegenzuftellen wußten und daß ihre praftijche Lebens— 
pHilofophie nicht im ftande war, die Lüfternheit der erotiſchen Dichter und 
die von aller Moral losgebundene Kunſt daran zu Hindern, „die ganze Welt 
zur Lafterhöhle zu machen“ 2, 

Mögen die Schilderungen Salvians auch jonjt mitunter an ſtark rheto- 
rifcher Färbung leiden, weder jein Lob der Germanen noch jeine Verurteilung 
der Römer in ihrem ganzen Umfang gerechtfertigt fein, darüber kann doch 
fein Zweifel walten, daß er in der furchtbaren Entfittlihung den wunden 
Punkt berührte, an welchem die gejamte römische Welt frankte und welcher 
ihren Untergang berbeiführte. Der ftetige Fortjchritt der Kirche in Rom 
wie in den Provinzen, die wahrhaft großartige Weile, in welcher fie die 
Sorge für Arme, Kranke und Notleidende, die Löfung der jozialen Frage 
überhaupt auf fih nahm, die Lehrtätigfeit der Päpfte, welche in die dog— 


! Salvian., De gubernat. Dei VII 23 (ed. Halm. Monum. Germ. Hist. 
Auctores antiquissimi I 103, 88 107 ff). 

® Quantum ad doctrinam suam pertinet, lupanar fecit e mundo (ebd. VII 23 
[ed. Halm a. a. ©. 102, 88 101 ff}). 


Zatein ald Sprade der Kirche, bes Rechts und der Willenichaft. 233 


matiihen Wirren des Morgen: wie des Abendlandes entjcheidend eingriff, 
der politiihe Einfluß der Päpfte, wie eines Leo d. Gr., der wiederholt die 
ihlimmften Kataftrophen von Rom und Italien abwendete, die große Zahl 
der firhlihen Schriftfteller, die prachtvollen kirchlichen Bauten, welche in 
Rom und anderwärts erflanden: all das bürgt jedoch dafür, daß ein recht 
anfehnlicher Zeil der römischen Welt das Chriftentum mit ganzer Seele in 
ſich aufgenommen Hatte und religiössfittliche Kraft wie geiftige Bildung 
genug befaß, um das Werk der riftlihen Zivilifation in allen Ländern 
des einftigen Weltreihs erfolgreich durchzuführen. Chriſtliche Römer find 
die Lehrer und Erzieher der germanischen Völker geworden und haben die 
Grundlagen des Kriftlihen Mittelalterö gelegt. 

Als um die Mitte des 6. Jahrhunderts auch das Reich der Oftgoten in 
Italien zufammenbrad, das der Langobarden an feiner Stelle emportaudte 
und faft das ganze Exarchat an fi riß, meue jchredliche Kriege die ſchon 
längit erjhöpfte Halbinjel verwüfteten, jchien freilich die chriftlihde Bildung 
des Abendlandes und was fie an Trümmern antifer Bildung gerettet, von 
neuem mit dem Untergang bedroht. Die germanijchen Völler, welche ſich 
in die Erbihaft Weftroms geteilt, beſaßen zwar in ihrer jugendlichen Voll: 
fraft reiche, vielberſprechende Eigenſchaften. Das günftige Zeugnis, das ſchon 
Tacitus ihrer Sittenreinheit ausgeitellt, wird auch von Salvian und andern 
jpäteren Schriftftellern beftätigt. König Genſerich belämpfte in dem von ihm 
eroberten Afrifa die Sittenlofigkeit durch die ftrengften Geſetze, ſchloß die 
Laſterhöhlen, verbannte die Päderaften in die Wüfte, zwang die Dirnen zur 
Ehe und bedrohte ihren Rüdfall mit den ftrengften Strafen. Allein diefe 
Sittenftrenge hielt nicht an. Bald erlagen die vandalifhen Eroberer dem 
verführerifchen Einfluß der verrotteten liberkultur, welche fie in’ Afrika vor: 
fanden. „Die Vandalen“, berichtet Prokopius, der Geheimfchreiber Beliſars, 
„nd das üppigfte unter allen Völtern, die wir fennen. Seitdem fie Afrika 
gewannen, genofjen fie täglich des Bades und der erlefenften Tafelfreuden. 
In reihftem Schmud, in feidenen Gewändern verbrachten fie den Tag in 
den Theatern, den Rennbahnen und andern Luftbarkeiten, zumal aber auf 
Jagden. Zänzer, Gaufler und Mimen, Mufit und was nur Aug und Ohr 
erfreut, verwandten fie zu ihrer Ergößung. Viele wohnten in Villen mit 
Gärten und Hainen, reih an Brunnen und Bäumen. Unabläffig hielten 
fie Trinfgelage, und mit großer Leidenjchaft ergaben fie fih den Werfen 
der Aphrodite.“ ? Wie Genferih, jo wüteten auch die Könige Hunnerich 
und Thrafamund als fanatiche Arianer mit allen Mitteln der Berfolgung 


1 F. Dahn, Urgeſchichte der germanifhen und romaniſchen Völker I, Berlin 
881, 213. 
® Procopius, De bello Vandalico II 6. 


234 Erites Kapitel. 


gegen die Katholiken, und wenn es ihnen aud nicht gelang, den katholiſchen 
Glauben in Nordafrila auszurotten, wurde die Blüte der Kriftlichen Kultur 
dafelbft doch für immer gefnicdt, auch die materielle Kultur in einer Weile 
geihädigt, von der fie ſich nimmer erholen jollte!, 

Auch die übrigen germanischen Völterftämme waren ſchließlich Barbaren. 
Sie vergeudeten ihre Kraft in unaufhörlihem Kampfe; fie zerftörten, ohne 
aufzubauen. Spanien, Gallien und Jtalien wurden durch ftetige Kriege 
erihöpft, die geiftige Entwidlung durd die Mifhung der Spraden und 
Völker wie durch Jammer und Elend gehemmt. Das eigentlihe Erbübel 
aber, an welchem die neuen germaniihen Staaten nad kurzer Gewalt: 
herrihaft zu Grunde gingen, war der Arianismus, den fie bon Byzanz her 
wieder ind Abendland gejchleppt hatten, nachdem er hier, jobald der welt— 
lihe Arm ihm verfagte, nur mehr ein kümmerliches Dafein friftete. Ein 
Ghriftentum ohne Gottheit Chriftt, ein Kirchentum ohne Verband mit der 
von Chriſtus geftifteten Weltkirche, zugejchnitten auf weltlich-nationale Inter: 
effen, auf Fürſtenwillkür und die Herrſchſucht ſchmeichleriſcher Hofbifchöfe, ohne 
theologische Überlieferung und Wiſſenſchaft, one Kraft und Saft wie ohne 
Liebe und Barmherzigkeit, konnte die widerſpruchsvolle alexandriniſche Irr— 
lehre den germanischen Völkern feinen Erſatz für daß ganze und volle 
Chriſtentum bieten. Sie war mit Lahmheit und Unfruchtbarkeit geichlagen. 
Nur im Verfolgen war fie ftarf, und fo hat fie denn überall, wo fie hin— 
drang, Hab, Zwift und Verwirrung hervorgerufen, die faum gegründeten 
Staaten in inneren und äußeren Hader gezerrt und ihre joziale wie politifche 
Entwidlung gehindert. Der brutalen Gewalt legte fie feinen Zügel an, der 
Willkür der Herrſchenden jehte fie feine Schranken. Das Fauftreht ward 
zum einzigen Recht und verihlang der Reihe nad die von ihm erhobenen 
Könige und ihre Reihe. So ift ſelbſt der tüchtige und edel angelegte 
Theodorih zum blutigen Tyrann geworden; jo Hat Gelimer jeine Ber: 
folgungswut als Siegesbeute des triumphierenden Beliſar büßen müſſen; 
jo ſtürmten Alarich II., Totila, Teja in wilden Kämpfen ihrem Untergange 
zu, Rom wechjelte innerhalb jehzehn Jahren fünfmal feinen Herrſcher und 
wurde in der furchtbarſten Weije verheert. Italien, von den fremden Sriegs- 
iharen ausgeſogen und niedergetreten, fiel der Verwüflung und namenlojem 
Elend anheim. Aber aud die neugegründeten Reiche hatten weder Beftand 
noch Segen. Wie Pilze ſchoſſen fie auf, wie Pilze verſchwanden fie wieder: 
die rohen Stantsverbände der Alanen, Sueven, Heruler und Gepiden tie 
die Reiche der Weftgoten in Aquitanien, das der Oftgoten in Italien, das 
Reih der Burgunder und das der Bandalen in Afrika — das 7. Jah: 





!ı Victor. Vitensis, Hist. persecutionis Africanae sub Genserico et 
Hunnerico Vandalorum regibus (Migne, Patr. lat. LVIIT). — L. Marcus, Hist. 
des Vandales®, Paris 1838, 


Latein ald Sprache ber Kirche, des Rechts und ber Wiſſenſchaft. 235 


hundert ſah fie nicht mehr. Wie die Wellen des Bufento über Alarichs Grab, 
jo fluteten die Wogen der Zeitgeihichte über ihre verfuntenen Trümmer !, 

Don unberehenbarem Nuben für die Bildung des Abendlandes war 
es, dab in dieſer traurigen Zeit der Gärung und Berwirrung das groß: 
artige Beifpiel Caſſiodors nicht vereinzelt blieb, jondern in der Gründung 
des Benediktinerordens einen mweltgej&hichtlihen Umfang gewann. Um 480 
geboren, fam Benedikt von Nurfia jhon als Knabe nad Rom, ward 
durch den Abſcheu, den das fittenloje Treiben dajelbft in ihm ermwedte, in 
die Einöde getrieben, lebte als Einfiedler erft in der Höhle von Subiaco, 
gründete von hier aus zwölf Klöſter, ließ fih, von Feindfeligfeiten vertrieben, 
in Monte Gajffino nieder und verfaßte hier jeine berühmte Ordensregel, 
durch die er der Patriarch der Mönde des Abendlandes werden jollte?, 
Schon 534 verpflanzte jein Schüler Placidus den kaum gegründeten Orden 
nah Sizilien, andere Schüler bald darauf nah Gallien?®. Im Jahr 540 
fiftete Gaffiodor das Kloſter Vivarium, defien Beziehung zum hl. Benedikt 
nit völlig aufgehellt ift, deſſen Einrichtung aber auf die weitere wiflen- 
ihaftlihe Tätigkeit des Ordens jedenfalls mächtig einwirkte. 

Einen gewaltigen Aufihwung verdankt der Orden dem Sprößling einer 
römiſchen Patrizierfamilie, Gregorius, der, 540 geboren, jhon 573 Prätor 
von Rom war, bald aber, nad dem Tode feines Waters, in den Orden 
trat, mit jeinem großen Reichtum ſechs Klöſter in Sizilien und eines auf 
dem Mons Cölius in’ Rom gründete, zeitweilig als Nuntius (Apokrifiarius) 
des Papftes in Konftantinopel wirkte, dann Abt des von ihm gegründeten 
Klofters wurde und endlich ala Papft Gregor I. von 590 bis 604 die ganze 
Kirche regierte, einer der größten Päpſte aller Zeiten *. 

Er war weder ein fo genialer Denker wie Auguftin noch ein fo viel: 
jeitiger Gelehrter wie Hieronymus, aber nicht minder ein Heiliger, ein von 


’G. Kurth, Les origines de la civilisation moderne II?, Paris 1888, 
363— 374. 

® 8, P. Benedicti Regula eum commentariis, bei Migne a. a. O. LXVI 
215—932; neue Ausgabe von E. Schmidt O. 8. B., Regensburg 1880; Hand» 
ausgabe von dbemjs. (ebd. 1892) und beutjche Überfegung (ebd. 1891). — Vgl. von 
demſ.: Über bie wiflenfhaftliche Bildung des hl. Venedilt, in Studien und Mit: 
teilungen aus dem Benediktinerorden IX (1888) 57—73 234— 251 361—382 553 —573 ; 
War ber hl. Benedikt Priefter? (ebd. XXIL [1901] 3—22). — T. W. Allies, The 
monastie life, London 1896, 134—173. 

Über die Sendung des hl. Maurus nad Gallien vgl. Malnory, Quid 
Luxorienses monachi discipuli sancti Columbani ad regulam monasteriorum ete. 
eontulerint, Paris 1894; Revue Bönddictine XII (1895) 326 327. 

* Gejamtausgaben feiner Werke von P. Toffianenfis, Rom 1538—1593 ; 
P. Guffanpilläus, Paris 1675; Sammarthbanus (Mauriner), Paris 1705; 
I. 8. Gallicioli, Venedig 1768—1776; Migne a. a. O. LXIXV—LXKIX. 


236 Erftes Kapitel. 


Gottes Geift erfüllter Seelenhirte, ein Mann von großartigftem Herricher: 
talent. Ihm gelang es in der verhältnismäßig furzen Zeit feines Ponti: 
fifats, die Kirche in Italien und Gallien neu zu beleben, die bis dahin 
arianiſchen Weftgoten in Spanien für fie zu gewinnen, die Angelfachjen zum 
Ehriftentum zu befehren und jo zwiſchen allen Zeilen des einftigen tmeit- 
römijhen Reiches wenigftens wieder die religiössfirhliche Einheit herzuftellen, 
das innerlichlice Leben von den vorhandenen Schäden zu befreien und zu 
fräftigen, und dur Reform des Ordenslebens, im Sinne des hi. Benedikt, 
der weiteren Ausbreitung des Chriftentums wie der Pflege religiöfer, geiftiger 
und materieller Kultur den fruchtbarften und ſegensreichſten Stützpunkt zu 
ihaffen. Die Weitergeftaltung der bereits politiich getrennten, ſprachlich 
verichiedenen Völler zu völlig neuen Reihen zu verhindern, lag weder in 
der Aufgabe noch Abfiht und Macht des großen Papftes. Uber dem 
gänzlihen Untergang der bisherigen abendländifchen Bildung war ſchon 
dadurch gefteuert, daß die innerlich erneuerte und gefräftigte Kirche an ihren 
wejentlihen Grundlagen fefthielt und für ihre Weitervererbung ſorgte. 

Ein mächtige Mittel der Einigung für die getrennten neuen Völfer 
blieb zunächſt die Einheit der Kirchenſprache!. 

Noch bevor das Ehriftentum aus dem Dunkel der Katakomben hervor- 
ftieg und die römiſchen Bafiliten in chriſtliche Kirchen verwandelte, hatte 
die griechiſche Sprache ihre weite Verbreitung im Abendlande eingebüft, die 
lateinische ihre Erbſchaft angetreten. In lateinischer Sprache wurden die 
heiligen Geheimnifje gefeiert und die heiligen Sakramente ausgejpendet, ges 
meinſam gebetet und gejungen, gepredigt und religiöfer Unterricht erteilt. 
Das Lateiniſche wurde vorab die Sprade des Kultus und der Liturgie. 
Die erhabenften Geheimnifje des Chriftentums mit der ſchönen Kunſt auf eine 
Linie zu ftellen, würde Profanation fein. Bei aller Ehrfurdt indes, welche 
das Opfer des Neuen Bundes und das feierliche Gebet der Kirche verdient, 
fann weder die Kunſtgeſchichte noch die Literaturgefchichte von den erhabenen 
fünftleriishen Formen abjehen, in welchen fich beide verförpert und ſichtbar 
ausgeftaltet haben, und welde die Zentraljonne, ja die Seele des gejamten 
mittelalterlihen Sunftlebens bilden. Wie die mittelalterlihe Architektur, 
Skulptur und Malerei, jo ift auch die mittelalterlihe Poefie und Literatur 
unverfländlih, wenn man die zentrale Stellung mißlennt, welde das 
euchariftiiche Opfer und das öffentlihe Stundengebet darin einnehmen. 

Bor allem hat ſich die Liturgie der heiligen Meſſe jhon im Laufe der 
erften Jahrhunderte zu einem wirklichen Kunſtwerk ausgebildet, das, völlig 
verftanden und liebevoll gewürdigt, jeden zur Bewunderung Hinreigen muß. 


ı N. Gihr, Das heilige Meßopfer, dogmatiſch, liturgiſch und astetifch erklärt ®, 
Freiburg 1902, 236—295. 


Batein ald Sprade ber Kirche, des Rechts und ber Wiflenfchaft. 237 


Zunächſt um die eigentlihe Opferhandlung reiht fih ein Franz von Ge: 
beten, von denen viele in das frühefte hriftliche Altertum hinaufreihen!, Ihre 
ſchlichte Einfachheit reiht fih würdig an die bibliichen Worte, durch melde 
fih das Geheimnis felbft vollzieht. Um diejen feiten Kern, den jog. Kanon, 
der jpäter nur wenige Zuſätze erhielt und dann unveränderlich blieb, reihte 
fih ein zweiter Kranz bon Gebeten und Lejungen, der je nad) den ber- 
fchiedenen Feſten und Feſtzeiten beweglich ift, aber für jedes einzelne Fyeft 
eine fünftlerifche Einheit des Gedanfen®, der Stimmung und der fyorm be: 
fit. Jeden Tag bringen darum die Mehgebete unverändert biejelben er- 
babenen Gedanken, Worte und Bitten wieder, um welde fi, wie um un: 
verrüdbare Pole, die gejamte Offenbarung und das Heilsleben des Einzelnen 
dreht, jeden Tag bringen fie aber auch wieder etwas Neues, was im Laufe 
des Kirchenjahres die ganze Gejhichte der Erlöjung und ihres Fortwirkens 
lebendig vor Augen führt. Keine Dichtung hat die Geheimniffe der Menſch— 
mwerdung, der Auferftehung, der Sendung des Heiligen Geijtes ergreifender 
zum Ausdrud gebracht als die Meßgebete auf Weihnachten, Oftern und 
Pfingften. Durch die Verteilung der bibliichen Erzählung und der auf fie 
bezüglihen Pjalmen und Prophetien auf die einzelnen Tage des Jahres ift 
ein bibliſcher Cyklus entitanden, welcher zugleih die wunderbare Typik des 
Alten Bundes umfakt und fo den gejamten Stoff der Offenbarung Jahr 
für Jahr, mit dramatifcher Friſche und Schönheit neu aufleben läßt, während 
das größte aller Geheimniffe fih auf dem Altare erneuert. Den eigentlichen 
Feſtgedanken faſſen in epigrammatifcher Kürze drei Gebete zufammen, die 
eigentlihe Dration des Tages, die Sefreta und die Poftlommunion. 

Die ältefte Geftaltung der heiligen Meſſe läßt fih aus dem fog. Sacra- 
mentarium Leoninum (d. 5. Leos I.) und dem Sacramentarium Gela- 
sianum (des Papſtes Gelafius) erjehen. Zu einem gewiſſen Abſchluß ge: 
langte die römiſche Liturgie dur) Gregor d. Gr. in dem nad) ihm benannten 
Sacramentarium Gregorianum, nad) weldhem das mwejentlihe Mekformular 
nur mehr unerheblihe Veränderungen erhielt ?, 

Ein ähnliches Kunſtwerk ftellt das Firdhlihe Stundengebet dar, das 
in jeinen Anfängen ebenfall® aus der riftlihen Urzeit herrührt, durch die 


: 5. Probſt, Liturgie der drei erſten hriftlihen Jahrhunderte, Tübingen 
1870. — Derf., Liturgie des 4. Jahrhunderts und deren Reform, Münfter i. W. 
1893. — Derf., Die abendländifche Meſſe vom 5. bis zum 8. Jahrhundert, 
ebd. 1896. 

2 I. Duchesne, Origines du culte chretien. Etude sur la liturgie latine 
avant Charlemagne, Paris 1889. — F. Probft, Die älteften römischen Saframen- 
tarien und Orbines erflärt, Münfter 1892. — H. A. Wilson, A comparative 
index to the Leonine, Gelasian and Gregorian Sacramentaries, according to the 
text of Muratori, Cambridge 1892; The Gelasian Sacramentary, Oxford 1894. 
— Sacramentarium Gelasianum bei Migne, Pair. lat. LXXIV 1055—1244. 


238 Erſtes Kapitel, 


beihaulihen Möndsorden weiter ausgebildet und endlih, von der Kirche 
reguliert, als Breviergebet jedem Priefter zur Pflicht gemadt wurde. Es 
liegt ihm der Gedanke zu Grunde, den ganzen Tag, joweit ald nur möglid, 
dem Lobe Gottes zu weihen. Den Grundftod bildet hier das Pſalmenbuch 
des Alten Bundes, auf die verjchiedenen Tage der Wodhe und an jedem 
Tage auf fieben Gebetsftunden: Matutin und Laudes, Prim, Terz, Sert, 
Ron, Beipern und Komplet verteilt. Auch hier erjcheint der Fyeitgedante 
eines jeden Tages am fürzeften in der jog. Oration ausgedrüdt. Demjelben 
entſprechend find die Pjalmen ausgewählt. Bor und nad jedem Pjalm 
bringen die jog. Antiphonen denſelben wieder mannigfaltig zum Wusdrud, 
ebenjo der Hymnus, der in den ſog. Heinen Horen den Palmen vorausgeht, 
in den übrigen ihnen folgt und duch kurze Wechſelverſe (Verſikel) zum 
Gebete des Tages übergeleitet wird. Während in den Pjalmen die Lob— 
gejänge des Alten Teftamentes weiterflangen dur alle Jahrhunderte, war 
in den Hymnen den Dichtern Gelegenheit geboten, Neues zu jhaffen, jo daß 
das jeßige Brevier hymnologiſche Beitandteile aus den verſchiedenſten Perioden , 
der chriſtlichen Literaturgefhichte enthält. 

In Bezug auf die Aufnahme folder neuen Beftandteile in die firchliche 
Liturgie herrſchte allerdings anfänglich ei gewiſſes Schwanfen. Die zweite 
Synode von Braga (563) verfügte in ihrem 12. Kanon: „Außer den 
Plalmen und Hymnen der Bibel des Alten und Neuen Teftaments joll nichts 
Poetifches in der Kirche gefungen werben, wie die Heiligen Kanones vor: 
ſchreiben.“ Die vierte Synode von Toledo (633) hob indes dieſes Berbot 
in feiner Allgemeinheit auf und erklärte es für „unrecht, alle von Hilarius 
und Ambrofius verfaßten Hymnen zu berwerfen“. Die Synode von Tours 
(567) aber verfügte: „Außer den Ambrofianishen Hymnen, welche wir im 
Kanon haben, können aud) andere, die deifen würdig find, gejungen werden, 
wenn ihre Verfaffer genannt find“ (Kanon 23). Dagegen ließ die Synode 
von Narbonne (589) bei Leichenbegängniffen nur die bibliichen Pjalmen, 
mit ausdrücklichem Verbot „bejonderer Leihengedichte” (Kanon 22), Mehrere 
Spnoden aber (Nurerre 585, Narbonne 589, Chalond 644, aud die 
Synodalftatuten des Hl. Bonifatius um 747) wehrten unpaffende Gejänge 
und Chöre von den kirchlichen Feſten ab!. 

Inwieweit unter Gregor I. aud das kirchliche Stundengebet zu einem 
gewiffen Abſchluß kam, ift noch eine ftrittige Frage; gewiß ift aber, dab er 
und die älteften Söhne des hi. Benedilt einen großen Anteil an der Ge- 
ftaltung und Verbreitung desielben hatten?, 


ı Hefele, Konziliengeſchichte III?, Freiburg i. B. 1877, 19 81 26 53 43 585. 
2 P, Batiffol, Histoire du Breviaire Romain, Paris 1893. — ©. Bäumer, 
Geihichte bes Breviers, Freiburg 1895. 


Latein ald Sprache ber Kirche, des Rechts und der Wiſſenſchaft. 239 


Außerhalb der katholiſchen Kirche nimmt die äußere Gottesperehrung 
im modernen Leben meift einen fo verſchwindend geringen Raum ein, dab 
mande kaum die Bevorzugung zu würdigen wiſſen, welche der hi. Benedikt 
und feine Söhne dem Opus Dei, dem feierlichen Gottesdienfte, beimaßen, 
vielmehr geneigt find, die bejhaulide Seite des Mönchslebens als eitel 
Müßiggang und Tagdieberei aufzufaffen und höchſtens die Verbienfte der 
Mönde um Wiffenihaft und materielle Kultur gelten zu laffen. Es kann 
indes fein Zweifel jein, daß das Lob Gottes, Kultus und Liturgie die 
eigentliche Seele ihrer unermüdlichen, opferfreudigen Kulturtätigfeit nad 
allen Seiten hin gewefen. Der heilige Opferdienft des Neuen Bundes hat 
die zahllojen Dome, Kirchen und Klöfter gebaut, welche während des Mittel- 
alter3 von der Südfüfte Siziliens bis hinauf in die Orfneyinfeln und nad 
Island den Kern ftädtifcher Niederlaffungen und die Ausgangspunfte der 
Zivilifation bildeten. Die Pfalmodie war der Drpheusgefang, der die 
Germanen angezogen, gebändigt und in die Kirche geführt hat. Ohne 
jenen glühenden Eifer für das Lob Gottes, ohne jenen wunderbaren Troft, 
den fie im Gebete und Gottesdienfte fanden, wären die Mönche des Abend: 
landes nie im ſtande geweſen, all jenen Gefahren, Entfagungen, Leiden und 
Mühen zu trogen, mit welden ihr Apoftolat und ihre allgemeine Kultur— 
aufgabe verfnüpft waren. 

Wie das Lateinische die überlieferte Spradhe des Kultus und der 
Liturgie blieb, jo blieb e8 naturgemäß aud die Sprache des religiöfen 
Unterrichts, der Predigt und der Wiſſenſchaft überhaupt. Für die romaniſchen 
Völker und die Romanen war dies jelbftverftändlih. Nur langſam trennte 
fih ihre Sprade von der lateiniſchen ab: fie konnten noch lange mit 
Leichtigkeit einem lateiniſchen Vortrag folgen. Den Germanen mußte der 
erſte religiöfe Unterricht natürlih in ihrer Sprache geboten werden. Schon 
dies erheifchte viele Mühe und Anftrengung. Für höhere Bildung konnten 
die nötigen Lehrmittel unmöglich gleich geſchaffen werden: der einfachfte Weg 
war, fie im Lateinifchen zu unterrichten und ihnen damit den gejamten 
Schatz religiöjer und profaner Literatur zu erſchließen, der in diefer Sprache 
vorhanden war. 

Tritt au die Liebe und die Begeifterung für antiles Denken, für 
antife Form- und Sprachſchönheit bei manchen der führenden Geifter, wie 
3. B. bei Gregorius d. Gr.! nicht jo lebendig hervor, wie etwa bei Boethius, 


ı Johannes Diafonus (Vita 8. Greg. M. lib. 2, n. 13 [Migne, Patr. 
lat. LXXV 92]) jagt zwar: „Tune rerum Sapientia Romae sibi templum visibiliter 
quodammodo fabricabat, et septemplicibus artibus, veluti columnis nobilissimorum 
totidem lapidum, apostolicae sedis atrium fulciebat. Nullus pontifici famulantium, 
a minimo usque ad maximum, barbarum quodlibet in sermone vel habitu prae- 
ferebat, sed togata, Quiritum more, seu trabeata Latinitas suum Latium in ipso 


240 Erſtes Rapitel, 


jo wurde doch das Studium der altrömischen Literatur wenigftens innerhalb 
gewiſſer Grenzen ein unerläßliches Hilfsmittel, um eine größere Gemwandtheit 
in der lateiniſchen Sprade zu erlangen, und jo erhielt fi in den Klofter: 
ſchulen aud das Studium der Alten, wenn auch durch die religiöä-theo- 
logiſche Grundrichtung überwogen und zurüdgedrängt. Als Behilel des 
Unterriht ward das Lateiniſche auch die Sprache alles höheren geiftigen 
Verkehrs. Dazu gejellten fih nod die mächtigen Spuren, welche die lange 
Herrihaft der Römer in der Verwaltung wie in allen Rechtsverhältniffen 
zurüdgelafien hatte. Das Lateiniiche blieb die Sprache des kirchlichen Rechts, 
in weiten Umfang aud die Sprade des meltlihen Rechts und des diplo— 
matishen Verkehrs, wie in den Alten und Briefen Gafliodors. 

Bereit3 umter den erſten Genoffen des HI. Benedikt fand ſich ein Dichter, 
Marcus von Monte Gaffino, der feinen Ordenspatriardhen nad) deſſen Hin- 
gang in ſchönen Diftichen verherrlichte. Er beichreibt darin, wie Benedikt 
auf den Höhen von Monte Gaffino noch einen Göbentempel vorfand, der 
dem Juppiter geweiht war, wie er die Gößenbilder zerftörte und die „Burg 
der Hölle und des Todes“ in eine „Burg des Lebens“ verwandelte, wie 
Chriſtus felbft feine Schritte dahin lenkte, manderlei Wunder jein Wirken 
dajelbft begleiteten, die öde Felſenwüſte duch ihn zum blühenden Garten ward. 

Wieder zurüd gibt dir der Berg die empfangenen Ehren, 
Den geehrt, geihmücdt du mit jo reichlicher Zier, 
Deſſen nadten Feld bu befleidet mit ladhenben Gärten, 

Defien ödes Geflein prangt nun von Früchten und Grün. 
Staunend bewundert der Fels das Obft, nicht feines zu nennen; 
Schimmernd aus wallendem Laub bliken bie Äpfel hervor. 

Alto befruchteft du auch des Menſchen Sinnen und Streben, 
Nekeit mit himmliihem Tau fegnend das flarrende Herz. 

Wandle, ich flehe did an, die Dornen in blühende Zweige, 
Welche in meiner Bruft wuchern als ſpitzes Geftrüpp!! 


Dem heiligen Bapft Gregor d. Gr. werden mehrere Hymmen zugejchrieben, 
welche Aufnahme in das Brevier gefunden haben, jo das jhöne Sonntags: 
lied Primo dierum omnium, die Tyaftenlieder Clarum decus ieiunii und 
Audi, benigne conditor, alle in der Art der ambrofianiihen Hymnen ge- 
halten, aber auch zwei furze Lieder in ſapphiſchem Versmaß, das Morgen: 
lied Ecce iam noctis tenuatur umbra und das „Mettenlied“ : 

Nocte surgentes vigilemus omnes, 
Semper in psalmis meditemur atque 


Voce concordi domino canamus 
Duleiter hymnos. 





Latiali palatio singulariter obtinebat. Refloruerant ibi diversarum artium studia, 
et qui, vel sanctimonia, vel prudentia forte carebat, suo ipsius iudicio subsistendi 
coram pontifice fiduciam non habebat. ı Migne, Patr, lat. LAXX 183— 186. 


Latein ald Sprade ber Kirche, bes Rechts und der Wiſſenſchaft. 241 


Ut pio regi pariter canentes, 
Cum suis sanctis mereamur aulam 
Ingredi caeli, simul et perennem 
Ducere vitam. 
Praestet hoc nobis deitas beata 
Patris ac Nati pariterque Sancti 
Spiritus, cuius resonet per omnem 
Gloria mundum. 
Nachts uns erhebend, Takt uns waden alle, 
Daß ftetes Loblied Gott dem Herrn erjdhalle, 
Und wir einftimmig feinen Namen preifen 
An fühen Weifen. 
Daß ums, die wir lobfingend ihn verehren, 
Er einft voll Huld mit feiner Engel Ehören, 
Moll’ in jein Reich erhöhn und Wonn’ uns geben 
Und em’ges Leben. 
Schenk', ew’ge Gottheit, aus des Himmels Höhen, 
Gewährung, o Dreieiniger, unfrem Flehen, 
Defi’ Ehre preifen mit vereinten Schalle 
Die Welten alle‘. 


Ob Gregor d. Gr. diefe Hymnen wirklich verfaßt Hat, ift nicht ficher. 
Iſidor, Ildephons und Honorius von Autun erwähnen nod feine Hymnen 
von ihm. Jedenfalls fpricht die Überlieferung dafür, daß er als Freund, 
Gönner und Förderer der Hymmendichtung betrachtet wurde. Der Schwer- 
punft jeiner literariihen Tätigkeit lag jedod in feinen theologiſchen Proſa— 
jhriften, feinen „Dialogen“ ? (Bon dem Leben und den Wundern der italifchen 
Väter; Von der ewigen Dauer der Seelen), in feinen jog. Moralia (eine 
praktiſch⸗asletiſche Erklärung des Buches Job) und feiner Regula pastoralis 
(einem meifterhaften Lehrbuch der Seeljorge, voll praftiicher Weisheit und 
religiöfer Salbung). Seine Homilien befißen nicht dieſelbe künſtleriſche Ab— 
rundung tie diejenigen Leos I., aber fie find einfah, Mar, zum Herzen 
ſprechend, voll natürlicher Beredſamkeit und erheben ſich gelegentlih, tim 
Anſchluß an bibliſche Terte, befonders der Propheten, zu erhabenem Schwung. 
Seine Briefe umfpannen von höchſter Warte aus die gefamte Zeitgejchichte, 
zeichnen aber den Mann, dem es nicht um jchöne Worte und harmonischen 
Sapfall, jondern um praktiſche Ziele zu tun iſts. 


ı Shlofjer, Die Kirche in ihren Liedern 1? 116. 

: 2. Wieſe, Die Sprade ber Dialoge des Papftes Gregor, Halle a. ©. 1900. 

’ Neu berausgeg. von P. Ewald und 8. M. Hartmann, Berlin 1891 
1893. Monum. Germ. Hist. Epist. I II. — Bgl. 3. Blößer S. J., Das Rund: 
Ihreiben Pius’ X. zur Gentenarfeier Gregors d. Gr., in Stimmen aus Maria-Laach 
LXVI (1904) 485505. 





Baumgartner, Weltliteratur. IV. 3. u. 4. Aufl. 16 


2423 Zweites Kapitel. 


Zweite Kapitel. 


Tateiniſche HSchriftfieller in Nordafrika und im 
weflgotifhen Spanien. 


In Afrika, welches der Kirche den großen hl. Auguftinus gejchentt, 
fand die Yehre der Kirche an Fulgentius, Biſchof von Rufpe (geb. 468, 
geit. 533), im Kampfe gegen den Arianismus der Vandalen noch einmal 
einen gewaltigen Verteidiger; allein zweimal ward er dafür nad Sardinien 
verbannt; erft die legten zehn Jahre feines Lebens konnte er wieder in der 
Heimat wirfen!. Die Hilfe fam zu jpät. Im Laufe des 6. Jahrhunderts 
verfiegten Bildung und Literatur nahezu vollftändig. Die Herrſchaft der 
Bandalen hatte alles zertreten. Die byzantiniſche Eroberung vermochte feine 
Rettung mehr zu Schaffen. Um 549 oder 550 ſchilderte der Grammatiter 
Flavius Cresconius Corippus einen Krieg, welden ein gewiſſer Johannes 
(faijerliher Gouverneur oder Obergeneral) gegen die Mauren führte, in acht 
Büchern, Kronifartig, mit der Korrektheit eines Schulgedichts, mitunter auch 
mit anſchaulicher Beſchreibung und Erzählung? Der Dichter fiedelte indes 
nad Konftantinopel über und befang etwa um 567, ſchon als älterer Mann, 
in einem bombaftiichen Lobgedicht (in vier Büchern) den Kaiſer Juftinus 
jo breitipurig, daß die erjten drei Bücher nur die erften acht Tage jeiner 
Regierung umfaſſen. Während e3 hier fehr an Poeſie fehlt, mangelt es 
dem Gedichte des Verecundus, Biſchofs von Byzacene, „Über die Buße“s, 
zwar jehr an Richtigkeit der Sprache und des Metrums, aber nicht an Poefie. 
Der Ausdrud jeiner Zerknirſchung, beſonders aber die Schilderung des Welt 
brandes und des jüngften Gerichts it bon einem Schwung getragen, der 
an die Palmen erinnert. Auch Verecundus ſchloß aber feine Tage nicht 
in Afrika; als Berteidiger des Konzils don Ghalcedon im Dreikapitelftreit 
wurde er nah Konftantinopel zur Verantwortung geladen und ftarb (552) 
auf der Flucht in Ghalcedon. 

Ebenfalls zu Konftantinopel ftarb der Ereget Junilius, der eme 
Schrift des Perjerd Paul zu Nifibis lateinisch bearbeitetet, und B. Lici- 
nianus, Biihof von Karthago Spartoria, Verfaffer dogmatiſcher Briefe?. 
Bon dem Diaton Yulgentius Ferrandus von Karthago find nod 





ı Gefamtausgaben von W. Pirfheimer und J. Cochläus, Hagenau 
1520; 2. Mangeant, Paris 1684; Migne, Patr. lat. LXV. 

2? Herausgeg. von J. Partſch, Berlin 1886 (Monum. Germ. Hist. Auctores 
antiquissimi III 2). 

® Serausgeg. von Pitra, Spicileg. Solesmense IV 138, 

* Migne, Patr. lat. LXVIII 15—42. s Ebd. LXXI 689—700. 


Lateiniſche Schriftfieller in Nordafrita und im weftgotifchen Spanien. 243 


fanoniftiiche Schriften vorhanden, die aus der Zeit von 540 ftammen!. Mit 
diefen Namen entihwindet Nordafrifa aus der Literaturgejchichte. 

Im Reiche der Weftgoten in Spanien bewegte ſich dagegen die Ent: 
widlung in auffteigender Linie?. Nachdem Hermenegild für den katholiſchen 
Glauben geftorben, fein Bruder Reccared mit dem ganzen Bolfe zu dem: 
jelben übergetreten war (587), vollzog fih auch ein reger Anſchluß an die 
römische Bildung. Mehrere Könige jelbft nahmen Anteil daran, Bon König 
Sifebut find zwei ganz artige Gedichte in forreten Herametern und 
mehrere Briefe? vorhanden, von König Ehintila einige Diftiha*, von König 
Reccesvinth ein paar Infriftend, von König Wamba jogar mehrere 
Anichriften®. Das größte Verdienft um die Ausbildung der Goten erwarben 
ih die großen Biſchöfe jener Zeit: Severus von Gartagena, Marimus 
von Saragoija, Iſidor von Sevilla, Braulio und Tajo von Saragofla, 
Eugenius IL, Ildephons und Julianus von Toledo, Fructuojus von Braga. 
Ihr Einfluß ſchuf ein heilſames Gegengewicht gegen die Willtür der Könige 
und Richter, die Herrfchjucht der Großen und die Raufluft des Volkes. 
Durch fie geftalteten fi die kirchlichen Synoden zugleih zu allgemeinen 
Reihstagen, auf‘ welden das Verhältnis zwiſchen Kirche und Staat aufs 
befriedigendfte geordnet wurde. Durch den friedlichen Ausgleih zwiſchen ger: 
maniſcher Kraft und romaniiher Bildung gelangte das Reich zu einer hohen 
geijtigen wie materiellen Blüte. König Sifebut jelbft jchreibt diefe haupt: 
ſächlich der Überwindung des Arianismus zu. 

„Es war, es war ehedem“, jagt er in einem Briefe an den Langobarden— 
fünig Adalwald und feine Gemahlin Theodelinde, „dieſe ſchädliche Peſt all: 
gemein verbreitet, welche unfichtbar die Seelen der Ungläubigen den hölliſchen 
Mohnfigen zugejellte und mit verlodender Süßigfeit gewürzt den Becher des 
Todes darreihte. Ungeheure Schidjalsihläge und mannigfaltigftes Elend, 
Mangel an Korn und peftartige Krankheiten, häufige Tchredlichite Kriege 
und täglicher Jammer haben uns damals, in jener hinter uns liegenden Zeit, 
in maßlojefter Weife bedrängt. Seitdem der himmlische Glanz den Herzen 
der Gläubigen erftrahlt und der wahre Glaube den verbiendeten Geiftern 
aufgegangen ift, die Katholifen den Frieden erlangt haben, blüht, durch 
Gottes Fügung, der Goten Reid.“ Ein volles Jahrhundert dauerte dieje 


ı Ebd. LXVII 887—962. 

® Bol. N. Antonius, Bibliotbeca Hispana Vetus I, Matriti 1788, 306—436. 
— P. P. Gams, Die Kirhengeihihte von Spanien II, Regensburg 1874. 

> Florez, Espaüa sagrada VII 320. — Migne a, a. ©. LXXX 372, — 
Bährens, Poetae latini minores V 357. 

* Riese, Anthologia latina 494, — Bährens a. a. ©. V 363. 

5 Migne a. a. D. LXXXVII 402, ® Ebd. LXXXVIL 401. 

? Sisebuti Gothorum regis Epist. VIII (Migne a. a. ©. LXXX 373. 

16* 


244 Zweites Kapitel. 


Blüte, eine wahre Dafe im kriegeriſchen Gewirre jener Zeit, und fie hätle 
wohl noch länger gewährt und hätte fi dem Islam gegenüber widerftands- 
fähiger ertwiefen, wenn die Könige der gemeinfam mit der Kirche geichaffenen 
Rechtsordnung treu geblieben wären. 

Bon den Schriften der meiften diefer Biſchöfe, melde den Weftgoten 
die chriftlih Lateinische Bildung vermittelten, it verhältnismäßig weniges 
erhalten; von Severus von Gartagena und Marimus von Saragofia 
gar nichts, don dem gelehrten Bishof Braulio von Saragofja nur eine 
mäßige Brieffammlung und ein Hymnus auf den hl. Nemilian; doch geht aus 
feinen Briefen hervor, daß er Horaz, Vergil, Ovid, Terenz, Quintilian und 
die Fabeln Aefops kannte!. Tajo von Saragoffa hat nur ein Gedicht, eine 
Midmung zu feinen weitſchichtigen theologiſchen Sententiae, hinterlaflen ?. 
Bon Julian von Toledo find mehrere wertvolle theologische und apologetijche 
Abhandlungen, eine Ars grammatica, ſowie ein die Regierungszeit des 
Königs Wamba betreffendes Geihichtäwert vorhanden, das in Sprade, Stil 
und Darftellung eine tüchtige Kenntnis der Alten verrät, aber jeine Gedichte 
find verloren. Drei Gedichte werden in älteren Sammlungen dem Bifchofe 
Aructuofus von Braga zugefhrieben. Der Hl. Ildephons von Toledo 
zeichnete fih hauptſächlich als geiftliher Redner aus?. in ihm fälſchlich 
zugejchriebenes Epigramm feiert die Überwinder des Arianismus, die Biſchöfe 
Leander von Sevilla und Maffona von Merida, folgendermaßen : 


Leander pater excellens, quem suscipit aether 
Laudibus ornatum, conspieuum titulis, 

Ineus Arianae gentis, medicator et idem 
Doctor Isidori, quem generat Domino; 

Tu quoque ter felix Meritensis gloria gentis 
Massona consilio, pectore, note fide, 

Ambo pares animis, pietate et laudibus ambo, 
Inque domo magni murus uterque Dei. 

Vieistis tolerando minas animumque rebellem 
Regis, eum sceleris paenituisse ferunt. 

Vos soboli regis biforem reserastis Olympum; 
Per vos alter enim martyr ad astra volat: 

Alter et ad roseas emergit luminis auras, 
Et qua luce caret, tunc iubar eius habet. 

Vos memorant genti Gothae tribuisse salutem, 
Linquit cum invisum dogma, piumque tenet. 

Vos merito vietrix laurus, sequiturque perennis 
Gloria, tot meritis debita magnificis. 


:S. Braulionis Caesaraugustani episcopi Epistulae bei Florez, Espaüa 
sagrada XXX, danad bei Migne, Patr. lat. LXXX 649— 700, 

®: Taionis Caesaraugustani episcopi Sententiarum libri V (Migne a. a. O. 
LXXX 727-992). 

® Seine Werle bei Migne a. a. DO. XCVI 427—816. 


Lateinische Schriftfteller in Nordafrifa und im weftgotifhen Spanien. 245 


Semper vester honos, atque inelyta fama manebit, 
Vosque canent populi, sed magis astra canunt, 

Estis enim aeterna praecincti tempora fronde 
Inter doctores splendidiore loco '. 


Ein eigentliher Dichter war der unmittelbare Vorgänger des hi. Ilde— 
phons, der hl. Eugenius II. (nad anderer Zählung ILL), der von 646 
bis 657 den erzbiihöflihen Stuhl von Toledo innehatte. Auf den Wunſch 
des Königs Chindaſvinth gab er die Satisfactio des Dracontius neu heraus 
und bearbeitete aus deſſen Laudes Dei jenen Zeil, der die Schöpfungs- 
geihichte behandelte und der unter dem Titel Hexaemeron weitere Ber: 
breitung erlangt hatte, ließ manches als irrig oder unjchön weg, änderte 
anderes und fügte einige Verſe über den fiebten Tag bei?. Die eigenen 
Gedichte des Eugenius find vorwiegend religiös, doch nad Inhalt wie Form 
ziemlih mannigfaltig. Am häufigften find Herameter und Diftichen, aber 
gelegentlich erjcheinen auch jambiſche Senare, katalettifche trochäiſche Tetrameter 
und jogar japphiihe Strophen. Die allgemeinere Sammlung hebt mit 
einem Gebet an Gott an, dann folgen Gedichte über die Kürze des Menjchen: 
lebens, über die Unbeftändigfeit der menſchlichen Dinge, Strafpredigten gegen 
Trunfenheit und Völlerei, Lobgedichte auf verfchiedene Märtyrer. Eine Reihe 
mehr perjönlicher Gedichte beginnt mit einem Stüd, worin Eugenius ſich 
über jeine Kränklichkeit beflagt, und einem andern, worin er die Gebrechen 
des Alters betrauert, ſich dabei im religiöfer Weile zu tröften ſucht. Mit 
Profodie und Metrik iſt es mitunter übel beftellt, und ſtrenge Formkritiler 
werden Sirmonds Anficht teilen, „daß die Gedichte der Politur entbehren 
und aus groben und diden Fäden gewoben jeien“, aber faum mit ihm 
zugeftehen, dab dabei der geiftreihe Gedante nur um jo mehr herborglänze, 
„wie ein Edelftein aus zerriffenen Lappen“; den wirklichen Poeten wird 
man in ihm indes faum verfennen können, jei es, daß er das Lieb ber 
Nadtigall befingt oder die vielen Plagen der Sommerhige bejchreibt, oder 
wie Uhland von gaftliher Ruhe unter einem jchattigen Baume erzählt, einem 
lieben Freunde Lebewohl jagt oder die verjchiedentlichften Einfälle in ein 
Epigramm zufpigt, dem König Chindafvinth eine ſcharfe Generalbeidhte auf 
den Grabftein jet oder den vorüberziehfenden Wanderer um ein frommes 
Memento für die Königin Reciberg anfleht, über die Untreue eines Freundes 
Hagt, den er geliebt wie Nifus den Euryalus, oder ſich jelbft eine ernit 
asletiſche Grabichrift widmet. Er ift ein mwarmfühlender, liebenswürdiger 
Menſch, mit dichteriihem Formgefühl begabt, der aber der Überlieferung 
und Übung der altklaffiihen Mufter ſchon zu ferne flieht, um ihrer Form: 

' Migne, Patr. lat. LXXX 161 162. 


2 Seine Werfe ebd. XCVI 16—324; die ihm zugefchriebenen Gedichte ebd, 
XCVI 322—330, die indes N. Antonius bis auf drei für unecht hält. 


246 Zweites Kapitel. 


ſchönheit nadeifern zu können, für feine Zeit aber nod einen achtenswerten 
Reſt davon beſitzt. Daß anderthalb Jahrhunderte nad) der weſtgotiſchen 
Groberung, ein halbes vor der mohammedaniſchen noch fo viel Kriftlich 
römische Bildung in Spanien lebte, ift eher zu berwundern als zu belächeln. 

Wie es niht an Fleiß und Eifer fehlte, das Gerettete zu bewahren 
und zum Ausbau einer neuen Bildung zu verwerten, zeigt am beiten der 
gelehrtefte und gefeiertfte Spanische Schriftfteller diefer Zeit, Iſidor, der 
nahezu vierzig Jahre (599 —636) den erzbiihöflichen Stuhl von Sevilla 
innehatte, 633 auf dem vierten Nationaltonzil von Toledo den Vorſitz 
führte. Der von ihm verfaßten Schrift „Von den berühmten Männern“ 
fügte ein jpäterer Herausgeber (Perez) eine Notiz über ihn Hinzu, worin 
ihn der ihm befreundete Biſchof Braulio von Saragofja als den Mann 
bezeichnet, „den Gott nad) jo vielen Verluften Spaniens diejen lebten Zeiten 
erwedt bat, wie ich glaube, um die Monumente des Altertums wieder 
herzuftellen, und als Stütze Hinftellte, damit wir nicht völlig verbauerten 
und veralteten“ 1. 

Dur feinen älteren Bruder Leander, welder an der Belehrung Her: 
menegildS beteiligt war und fpäter noch die Ausſöhnung Reccareds und des 
ganzen Volfes mit der Kirche vollzog, ſtand er den wichtigſten Zeitereignifien 
in nächſter Nähe; nach defjen Tod zu feinem Nachfolger augerjehen, ward 
er felbft der einflußreichfte Bifhof und Führer der ſpaniſchen Kirche und 
vollendete das große Werk des Übertritts durch Belehrung, Organifation 
und Erneuerung des gefamten Volkslebens nad allen Seiten hin. Inmitten 
diefer riefigen praktiſchen Tätigkeit hatte Iſidor noch die Spannkraft, fi 
in allen Wiffenszweigen eine Gelehrjamteit zu erwerben, die jemer Zeit 
geradezu phänomenal erſchien, das ganze Mittelalter hindurch angeftaunt 
und benutzt wurde und die, nad dem Mapftab der damaligen Berhältnifie 
beurteilt, noch heute Ehrfurcht gebietet?. 

Als Theologe ſchrieb er eine Geſchichte der hervorragenditen Perſönlich— 
feiten des Alten und Neuen Teftaments, über perſönliche allegoriihe Typen 
des Alten Bundes, über die myſtiſche Bedeutung der bibliihen Zahlen, Ein- 
leitungen und Abhandlungen zu beiden ZTeftamenten und den einzelnen 
Büchern derfelben, eine apologetiſch-polemiſche Schrift vom katholiſchen Glauben 


ı8. Braulionis Caesaraugustani episcopi Praenotatio librorum D. Isidori 
(Migne, Patr. lat. LXXXI 16 17). 

2 Gejamtausgaben von Marguerin be la Bigne, Paris 1580; Perez 
und Grial, Madrid 1599 1778; 3. du Breul, Paris 1601, Köln 1617; 
F. Arevalo, Rom 1797—1803; letztere abgedrudt bei Migne, Patr. lat. LXXXI 
bis LXXXIV. — 2gl. N. Antonius, Bibliotheca Hispana. Vetus I, Matriti 
1788, 821—868. — P. P. Sams, Die Kirchengeſchichte von Spanien II, Regens⸗ 
burg 1874, 102—113. 


Lateiniſche Schriftiteller in Nordafrika und im weftgotiihen Spanien. 247 


gegen die Juden (feiner Schweiter Florentina gewidmet), ein Handbuch der 
Dogmatit und Moral (Libri tres sententiarum), zwei Bücher über die 
Prlihten des geiltlihen Standes und eine Mönchsregel. 

Als Hiftorifer verfaßte er eine kurze Weltchronik, eine Geſchichte der 
Goten, Bandalen und Sueven und eine fichlihe Literaturgeſchichte (De viris 
illustribus) !. 

Als Polyhiſtor ftellte er auf Wunſch des Königs Sifebut in einem 
Handbuh das damalige Naturwiffen (De natura rerum) zufammen, ver: 
faßte die dialeftiihen Schriften: Libri duo differentiarum, d. h. ein 
Synonymwörterbuch (De differentiiss verborum), ein Lexikon der theo- 
logifhen Begriffe (De differentiis rerum) und zwei Bücher Synonyma. 

Sein Hauptwert aber find die Etymologiae oder Origines, eine 
Art allgemeiner Encyklopädie oder Konverjationsleriton, das er erft kurz vor 
jeinem Tode vollendete und das fein Freund Braulio, Biſchof von Saragofia, 
in zwanzig Bücher geteilt, herausgab?. 

Es umfaßt: 1. Grammatil, 2. Rhetorik und Dialeftif. 3. Die vier mathe: 
matifchen Disziplinen (Arithmetif, Geometrie, Mufit, Aftronomie). 4. Mebizin. 
5. Recht und Geſchichte (einichlieglih einer kurzen Weltchronik). 6. Kirchenrecht. 
7. Die Lehre von Gott, den Engeln und Ständen der Menſchen. 8. Die Lehre 
von der Fire und ben Sekten. 9. Die Lehre von ben Spraden, Völkern, Reichen, 
ber Kriegstunft, den bürgerlihen Berhältniffen und Verwandtihaftsgraden. 10. Wort: 
ableitungen. 11. Anthropologie (auch von fabelhaften Wunderweien). 12. Zoologie, 
13. Kosmographie. 14. Geographie. 15. Baufunft und Lehre vom Feldbau. 16. Geo» 
logie und Metallurgie. 17. Botanik und Gartenbau. 18. Lehre vom Krieg und ben 
öffentlichen Spielen. 19. Schiffsbaufunft, Gebäubeeinrihtung und Kleidertradt. 
20. Hauswirtichaft, häusliche und ländliche Technologie. 


Bei allem geht Iſidor von den Namen aus, deren etymologiſche Er- 
flärung oft jeher wunderlich ift, aber doch jchließlid darauf führt, die Grund- 
begriffe und Ausdrücke der einzelnen Wiſſenszweige zu erklären und jo ein 
Glementarbuch derjelben herzuſtellen. Wie ſich von jelbit verſteht, war es 
dabei nicht auf neue Forfhungen und Rejultate abgejehen, jondern darauf, 
das Notwendigfte und Wiſſenswürdigſte aus allen Gebieten zu ſammeln. 

Nah manden Seiten hin mußte Iſidor weit hinter dem Umfang von 
Kenntniffen zurüdbleiben, welden die alerandriniihe Gelehrſamkeit und 


’ Die Geihichtöwerfe neu herauägeg. von Th. Mommsen, Chronica minora 
saec. IV V VI VII, 2b 2, Berol. 1894 (Monum. Germ. Hist. Auctores anti- 
quissimi XI 241—506). — ®ie Historia de regibus Gothorum etc. deutſch von 
D. Coſte, Leipzig 1887, — G. Dzialowski, Iſidor und Jldefons als Literatur: 
hiftorifer, Münfter 1898 (Kirchengeſchichtl. Stubien IV, Heft 2). 

? Einzelauögaben von B. Bulcanius, Baſel 1577 und F. W. Otto bei 
Lindemann (Corpus Gramm. lat. III), Leipzig 1833, doch befier ſchon bei Are: 
valo (II u IV) und Migne.a. a. ©. LXXXI. 


248 Zweites Kapitel. 


Varro in ihren encpllopädiihen Werfen aufgeipeihert hatten, da ihm jene 
griechiſchen Werke nicht unmittelbar zugänglih waren, die Spezialitäten des 
römischen Sammlers vielfach von jeinem Ziele ablagen. Dafür fiand ihm aber 
zu Gebot, was die hriftliche Wiſſenſchaft in ihren erften ſechs Jahrhunderten 
geleiftet Hatte, umd hier hat er denn aud mit riefigem Bienenfleiße alles ihm 
Erreihbare durchgeſtöbert und erzerpiert, mit der denkbar größten Univerjalität. 
Keinen Zweig der Naturwiſſenſchaft no des untergeordnetften Realwiſſens hat 
er unbeadhtet gelafjen. Die Allgemeinheit feines Intereſſes entipricht ganz der 
des Nriftoteled. Das verdient, mweitverbreiteten Vorurteilen gegenüber, um 
jo mehr hervorgehoben zu werden, als Iſidor einer der angejehenften und 
fichlichften Kirchenfürſten feiner Zeit war, der unbedingte Vertrauengmann 
Gregors des Großen — wir würden heute jagen: ein Ulttamontaner vom 
reinften Waſſer —, Förderer und Gönner des zeitgenöjfiihen Mönchtums, 
jelber Asket, als Heiliger und Kirchenlehrer verehrt. Diefer Mann, die 
Säule des orthodoren Glaubens in Spanien, hat dem Studium den dent: 
bar weiteiten Rahmen gezogen und dem Mittelalter die Umriſſe einer Ency- 
Hopädie hinterlaffen, welche zu den Fächern des Triviums und Duadriviums 
nit etwa bloß diejenigen der Theologie gejellt, jondern alle Zweige der 
naturwiſſenſchaftlichen, medizinischen, juriftifchen, hiftorifchen und ökonomiſchen 
Disziplinen umfaßt. Seine Anregungen hätten, fonjequent durchgeführt, 
nit nur zur vieljeitigiten Univerfitätsbildung, ſondern aud zur Errichtung 
polytehnischer Inftitute, botanifher Gärten, anatomiſcher und chemiſcher 
Laboratorien, möglichft allfeitiger Bibliotheten und wiſſenſchaftlicher Samm: 
lungen führen müffen. Es war alſo nicht die Kirche noch der kirchliche 
Geift, der dieje Entwidlung, des menjhlihen Wiffens um Jahrhunderte aufs 
gehalten hat, jondern politiiche und joziale Hinderniffe der verfchiedenften Art. 

Eine die Literatur berührende Schwierigkeit mag hier Erwähnung finden. 
Das Theater ftand noch zur Zeit Jfidors auf einer jo niedrigen Stufe und 
in jo ſchimpflichem Ruf, daß er es nit nur unter die gemeinften öffentlichen 
Beluftigungen einreihen, jondern geradezu auf eine Linie mit den Häufern der 
Schande ftellen zu müffen glaubte. Tragoedi sunt, qui antiqua gesta 
atque facinora sceleratorum regum, luctuoso carmine, spectante 
populo, concinebant. Comoedi sunt, qui privatorum hominum acta 
dietis atque gestu cantabant, atque stupra virginum et amores 
meretricum in suis fabulis exprimebant. . . . Idem vero theatrum, 
idem et prostibulum, eo quod post ludos exactos meretrices ibi 
prostarent!. Die Gönner und Schußherren der ſceniſchen Künſte find 
Bachus und Venus. Der wiffensdurftige Gelehrte, der jonft feinen Notizen 
faum je eine Zenjur beifügt, fieht fich hier zu der Warnungstafel genötigt: 


! Etym. lib, 18, c. 42 45 46 51 (Migne, Patr, lat. LXXXII 657--659). 


Lateiniſche Schriftfteller in Nordbafrifa und im weitgotiihen Spanien. 249 


„Diefes Schauſpiel, o Chrift, mußt du haflen, wie du feine Urheber hafjeft.“ 
Infolge davon hat die dramatiiche Poefie au in feiner Poetil feinen Platz 
gefunden !. : 

Niemand kann den ehrwürdigen Sirhenfürften tadeln, daß er die 
zur Kirche übergetretenen Weſtgoten vor jener ſittlichen Fäulnis bewahren 
wollte, mit welcher das Theater im Verein mit den übrigen öffentlichen 
Schauftellungen die römiſche Welt verpeftet hatte. Ein neues Drama zu 
Ihaffen, war aber die Zeit noch nicht gefommen, wo es galt, die Wet: 
goten erft in die Elemente hriftlich-römijcher Bildung einzuführen, Ja noch 
tief ins Mittelalter hinein nahm die religiös-fittlihe Bildung der Völker 
die Kräfte des Klerus vor allem in Anjprud. In der Schulung des 
Klerus behauptete die Theologie jelbfiverftändlih den erften Pla, und die 
Begeifterung für bibliſche und chriſtliche Poeſie verdrängte bei vielen jogar 
das Intereſſe, das harmloſe antife Dichter, wie Vergil und Horaz, hätten 
beanſpruchen fünnen. 

In einem Gediht, das dem hi. Iſidor zugejhrieben wurde und das 
fih auf deſſen Bibliothek beziehen joll, vielleicht wirflih von ihm ſelbſt her— 
rührt, wird die altklaſſiſche Poeſie ganz deutlich beifeite gehoben ?, 

Geiftliches findet du hier und Weltliches, beides in Fülle: 
Mas dir von Dichtern gefällt, nimm dir beliebig und lies. 


Wieſen voll Dornengeftrüpp fiehft du und Blütengefilde; 
Wilfft du meiden den Dorn, wähle bie Rojen dir aus. 


Ih, Origenes, einft ber Wahrheit lauterfter Lehrer, 
Ward unzeitig, ah! Ihäblihen Zungen zum Raub. 
Sp viel Tauſende wohl ber Bücher gedacht’ ich zu Ichreiben, 
Als eine Legion führet an Männern zum Kampf. 
Nie hat Läfterung mir im geringften berühret die Seele, 
Immer wahend und Flug, troßte ich feindlicher Macht. 
Einzig hat mich gebradt zu Fall das Buch Periarchon, 
Zraf den verwundbaren fFled, itellte den Pfeilen mich bloß. 


Gallien hat mich erzeugt, gab mich den Pictavern zum Lehrer, 
Hilarius, den Sohn, freudig mit bonnerndem Mund. 


’ Etym. lib. 1, ec. 89 (Migne a. a. ©. LXXXII 117—121). 

? Das Gedidt Versus in bibliotheca wird weder von Ildephons noch don 
Braulio erwähnt, es fteht indes in mehreren ber älteften Codices (Mediol. Ambros. 
und Matrit.); Verſe daraus werden ſchon von Julian von Zolebo, Beda und Notker 
zitiert. Nah Manitius (Gejhicdhte der hriftlich-Tateiniichen Poefie 414) „ſtammt 
es unzweifelhaft von Aibor*, Arevalo (Isidoriana II, e. 81, bei Migne 
a, a. O. LÄXXI 575) hält es für jehr alt: An autem Isidorus auctor sit, non 
perinde certum. ebenfalls drüdt es im wejentlichen feinen wiffenihaftlid-litera= 
riſchen Stanbpunft aus. 


250 


Zweites Kapitel, 


Ambrofius, duch Zeichen berühmt und durch Lieder, der Lehrer, 
Glänzet durch Titel allbier, glänzt burd fein mädhtiges Wort. 


Zraun, es lügt, wer ganz dich behauptet geleien zu haben: 
Denn wer hätt’ im Beſitz alles, was jemals bu jchriebft ? 

Zaufend Bände ja find’s, die, Auguftinus, di künden, 
Und fie bezeugen es jelbft, was ich verſichert von dir. 

Mögen viele dir aud mit ihren Büchern gefallen: 
Auguftinus allein gilt für der übrigen Schar. 


Hieronymus bu, Dolmetfh und Kenner der Spraden, 
Bethlehem feiert dich, es preifet Dich ftaunend der Erbfreis; 
Unfere Bibliothet auch ehrt in den Werfen den Autor. 


Johannes bin ih, Chryſoſtomus, alfo geheiken, 
Weil die Rede mir fließt Lieblih in goldenen Strom. 
Konitantinopel erhielt einft Glanz durch meine Belehrung, 
Aber dur Bücher erft überall Lehrer ih ward, 
Pflegte Sitten und Recht, beihhrieb die Kämpfe der Tugend, 
Lehrte den Sünder die Schuld büßen in läuterndem Schmerz. 


Wer könnt’, Eyprian, dich befiegen als Meifter der Rebe, 
Der du als Lehrer zuerft, dann aud als Märtyrer ftrahlft ? 


Menn du Perfius ſchauſt, den Maro, den Flaccus und Nafo, 
Papinianus dir nicht, minder Lucanus noch ſchmechkt: 
Siehe, ebenjo ſüß Prudentius mobelt die Verſe; 
Mannigfaltiger Sarg machte ihn weithin berühmt. 
Lies das Funftvolle Lieb des wohlberedten Apitus, 
Sieh, Juvencus fteht, Sedulius dir bereit; 
Beiden fliehet das Wort in lieblichen Verſen vom Munde, 
Beide in köſtlichem Kelch bieten dir biblifchen Trank. 
Bleibe länger nicht Sklav' der alten Heibenpoeten, 
Bettle die Mufen nicht an, reih wie an Gutem bu bift!! 


Dank dem Einfluß der Kirche blieb in jener Zeit auch der fernite 


Meften Europas von der Kriftlih-römishen Bildung nit unberührt. 


Dumio, in der Nähe von Bracara, dem damaligen Site des Suevenreiches 
(dem heutigen Braga in Portugal), ließ ih um die Mitte des 6. Jahr: 
Hundert3 ein Pannonier nieder, der fürder Martinus von Bracara oder 
Martinus Dumienjis genannt wurde. 
Orient, wo er ſowohl mit griechiſcher Sprade und Bildung als mit dem 
Mönchsleben in Ägypten bekannt geworden war. Er gründete ein Klofter 
in Dumio, ward deffen Abt, gewann viele der arianiſchen Sueven für die 


t Migne, Patr. lat. LXXXIII 1107—1111. 


Er fam zu Schiff aus dem 


Drittes Kapitel.” Literar. Beben in Gallien. Gregor von Tours. 951 


Kirche, ward erft Biihof von Dumio, dann Erzbiihof von Bracara und 
führte al3 folder den Vorfi auf einer Metropolitanionode von Bracara 
(572). Außer mehreren moraliihen Schriften „Vom Zorne“, „Formel 
eines fittlihen Lebens“, „Zur Abwehr der Prahlerei”, „Vom Stolze“, 
„Ermahnung zur Demut“, „Sprüche der ägyptiſchen Väter“, „Worte der 
Alten“, hat er auch einige Verſe Hinterlaffen: eine Aufjchrift für eine dem 
hl. Martin geweihte Bafilifa, eine andere für einen Speijefaal und ein 
Epitaph für ſich jelbft!. Daß es aber für einen Biſchof viel Wichtigeres zu 
tun gab, al3 an alten Dichtern Proſodie und Metrik zu ftudieren, zeigt 
feine Predigt „Über die Zurechtweifung der Bauern“, in welder er noch das 
kraſſeſte antike Heidentum zu bekämpfen hatte, darunter 3. B. einen eigenen 
Helttag für die Motten und Mäuſe (dies tinearum et murium), an 
welchen: diefen Tieren Opfer von Kleiderftoffen und Brot ausgeſetzt wurden, 
um fie fir das übrige Jahr gnädig und nahfihtig zu fHimmen?. So war 
es noch mit dem tiefen Naturgefühl und dem hellen Geifte diefer Germanen 
beichaffen ! 
„Junge Bären: Niefenarbeit war's, fie bildend zu beleden.* 


Drittes Kapitel. 


Fiterarifhes Leben in Gallien. Gregor von Tours. 
Benantins Fortunatus. 


Das reiche, hocdhentwidelte Gallien, das zeitweilig an literariiher Reg- 
ſamkeit Jtalien weit überflügelt hatte, fiel beim Zufammenbrud des welt: 
römischen Reiches zum Zeil den Weftgoten, zum Zeil den Burgundern und 
Franken anheim und blieb geraume Zeit ein Zankapfel der neuen ringenden 
Mächte. Die größten Hoffnungen fnüpften fi daran, dak Chlodwig (Chlodo: 
weh), der Merowinger, nachdem er alle Franken unter feinem Scepter ver: 
einigt hatte, fih 496 mit feinem Volke von dem hl. Remigius zu Reims 

! Von jeinen Werfen finden fi Formula vitae honestae, Libellus de 
moribus, Pro repellenda jactantia, De superbia, Exhortatio humilitatis, De ira 
(Erzerpt aus Seneca), De pascha und drei Gedichtchen bei Gallandi (Bibl. vet. 
Patr. XII) und danad bei Migne a.a. ©. LXXI 21—52; Verba seniorum und 
Aegyptiorum patrum sententiae (zwei Sprudfammlungen aus bem Griedhifchen) bei 
Migne a. a. ©. LXXIII 1025--1062; LXXIV 381—894, bie Capitula Martini 
(eine Ranonesfammlung) bei Migne a. a. ©. LXXXIV 574—586; CXXX 575 
bis 588. — Die Schrift De correctione rusticorum trefffih ediert von C. P. Ca— 
fpari, Ehriftiania 1883, 

? De correctione rasticorum, c. 11. 


252 Drittes Kapitel. s 


taufen ließ. Es war die erfte große Mafjenbetehrung eines germanifchen 
Stammes zum fatholijchen Glauben. Das neue Franfenreih, das bald von 
der Schelde bis an die Pyrenäen reichte, ward dadurd ein riftliches. Mit 
dem Empfang der Taufe war indes nur der erfte Schritt zur chriftlichen 
Zivilifation getan. Die bisherige Roheit und Barbarei war nicht über: 
wunden. Äußere wie innere Kriege ließen die blühenden Länder des einftigen 
Gallien während des ganzen 6. und 7. Jahrhunderts nicht zur Ruhe fommen 
und führten fiet3 neue Verwilderung herbei, wo faum die hriftlihe Kultur 
fefteren Fuß gefaßt zu haben ſchien. . 

Nah dem Tode Chlodwigs (511) ward das Reih unter feine vier 
Söhne geteilt. Theuderih ſchlug feinen Sig in Meb auf, Ehlodomer in 
Orléans, Childebert zu Paris, Chlotar I. zu Soiffons. Die Erbidaft 
Ghlodomers, der ſchon 524 ftarb, fiel teild an Childebert teild an Chlotar. 
Die drei Brüder waren nun hauptfählih darauf bedacht, ihre Reihe durd 
neue Croberungen zu vergrößern. Theuderich unterwarf fih (531) das 
Reich der Thüringer, Chlotar und Ghildebert eroberten (532) vereint das 
Reich der Burgunder, in das fie fih mit Theudebert, dem Sohne des in- 
zwiſchen geftorbenen Theuderich, teilten. Die Franken befamen jebt jogar 
Luſt nah Italien und ſetzten fih zeitweilig in Ligurien und Venetien feit, 
wurden aber durch Narjes daraus vertrieben. Da Theudeberts einziger 
Sohn Früh ftarb, Ehildebert keinen Erben Hinterließ, vereinigte Chlotar 1. 
(558) wieder die ganze Monarchie feines Vaters, bedeutend erweitert, aber 
nur auf kurze Zeit, indem er ſchon 561 flarb!. 

Es erfolgte nun eine neue Teilung unter Chlotars vier Söhne, Sigi: 
bert I. erhielt Auftrafien mit der Hauptjtadt Reims und vorzugsweiſe 
germaniſcher Benölterung, Guntram Burgund mit der Hauptftadt Orleans, 
Chilperich Neuftrien mit der Hauptitadt Soiſſons, beide mit vorwiegend 
romaniſcher Bevölkerung. Gharibert, dem Paris zugeteilt war, ftarb bald 
(567), und die andern drei Brüder erhielten nun an feinem Erbe gleihmäßigen 
Anteil. Die Eroberungen nah außen hörten jet auf; aber um jo jchred- 
ficher geftaltete fi der Hader, der nunmehr in dem fränkiſchen Königshaufe 
ausbrad. Denn Sigibert allein madte nod einigermaßen dem Chriſten— 
namen Ehre. Guntram war zwar gutmütig, aber wollüftig und fittenlos, 
Chilperich ein ebenſo graufamer als wollüftiger Tyrann, der ſich von den 
Zeitgenoſſen mit vollem Recht den Namen eines fränkiſchen Nero verdiente. 
„Er war dem Trunk ergeben, und der Bauch war ſein Gott; an Ver— 





Gregorii Turonensis Historia Francorum, ed. W. Arndt (Monum. 
Germ. Hist. Script, rerum Meroving. I, Hannov. 1884/85). — Ozanam, La 
eivilisation chretienne chez les Frances, Paris 1849. — Junghans, Geihichte 
der fränkiſchen Könige ChHilderih und Chlodwig, Göttingen 1857. — Bornhak, 
Geihichte ber Franken unter den Dlerovingern, Greifswald 1863. 


Literar. Leben in Gallien. Gregor von Tours. Benantius Fortunatus. 253 


heerungen vieler Gegenden hatte er eine Freude wie einſt Nero, als er beim 
Brande Roms Lieder fang. Niemand hielt er für flüger als ſich jelbit; 
die Sorge für die Armen war ihm läftig, am liebften verjpottete er im 
vertrauten Kreiſe die Biihöfe und nichts haßte er mehr al& die Kirchen. 
Man kann ſich keine Luft oder Ausſchweifung erdenten, die er nicht wirklich 
verübt hätte. Gr erfann immer neue Martern, um das Volk zu peinigen. 
Seine Erlaffe jhloffen mit den Worten: ‚Wer unfere Befehle mißachten 
follte, dem follen zur Strafe die Augen auögeriffen werden.‘ Gewiß, unter 
diefem jchredlichen Geſchlecht war er einer der Entjeglichften.“ t Zu mehreren 
Gemahlinnen hielt er noch Kebsweiber, und jo iam es, daß eine gewöhnliche 
Magd, Fredegunde, von ihm zur Hauptlönigin erhoben, eine Furie von faft 
beijpiellofer Entartung, durch unerhörte Frevel in die Schidjale des Franken— 
reiches eingreifen konnte. 

Als ESigibert (566), voll Beratung über das unmürdige Treiben 
jeiner Brüder, die ebenjo ſchöne als Huge Brunhilde, die Tochter des 
Weitgotentönigs Athanagild, heimgeführt hatte, lüftete zeitweilig auch Chil- 
perih nad einer ähnlichen föniglihen Verbindung, und er warb um 
Brunhilds Schweiter Galefvinta. Kaum hatte er indes die edle Fürften- 
to‘hter zur Gemahlin erlangt, jo ward er berjelben wieder überbrüffig, 
wandte jeine Gumft abermals der Magd Fredegunde zu, melde Galejvintha 
heimlich erdrofieln ließ, der erfte Mord in einer Reihe von Verrätereien, 
Schändlichkeiten und Bluttaten, welche die nächſten dreißig Jahre Fränkifcher 
Geſchichte zu einem der ſchauerlichſten Kapitel der Weltgeichichte geftalteten. 

Das einzige Licht, das diejes traurige Schauergemälde einigermaßen 
mildert und erträglih macht, geht von der Kirche aus, und zwar haupt: 
jählih von den Gräbern zweier Heiligen, des hl. Hilarius don Poitierd 
und des hl. Martin von Tours. An den gotterfüllten Schriften des erfteren 
bildete und ftärkte fich ein glaubensfefter Epiftopat und Klerus, der mit 
unbefieglicher Geduld an der Zivilifation des Frankenvolles weiter arbeitete. 
Die Grabftätte des andern, durch zahllofe Wunder verherrliht, ward zu 
einer Zufluchtsftätte, wo das Volk ſelbſt mit ebenjo unverjieglicheın Ver: 
trauen Rat und Hilfe in den erdrüdenden Nöten und Unglüdsfällen der 
böjen Zeit juchte. 

Was immer fih aud im Laufe der Zeit Mißbräuchliches, Schiefes oder 
Lächerlihes an den Wunderglauben des Mittelalters, jeine Heiligen» und 
Reliquienverehrung angefruftet haben mag, der eigentliche Kern war gut, rein, 
jegensvoll; er Hat der geiftig fittlihen Kultur der Völker unberechenbare 
Dienfte geleiftet?. Einer entarteten, twildkriegerifhen, aus den Fugen ge 





! Greg. Turon. a. a. ©. lib. 9, c. 9. 
? St. Beiffel 8. J., Die Verehrung der Heiligen und ihrer Neliguien in 
Deutihland bis zum Beginne des 13. Jahrhunderts, Freiburg 1890, 11—48. 


254 Drittes Kapitel. 


ratenen Zeit, in welder das Recht des Stärferen herzlos den Schwachen 
miedertrat, fonnte das Gebot der chriſtlichen Gharitas nicht ſchöner, nicht 
eindringliher vorgehalten werden als in der Geftalt des HI. Martinus, 
der noch als Katechumene und einfacher Legionsfoldat im Heere Julian 
des Apoftaten einem nadten Bettler die Hälfte feines Kriegsmantels zum 
Almofen gab, und dem dann Chriftus in der Nacht, mit jenem Mantel 
umhüllt, erihien und mit den Worten dankte: „Martin, der Satechumene, 
hat mich mit diefem Gewand bekleidet.” Wenn dann bderfelbe chriftliche 
Krieger als Mönch und Biſchof Taufende aus Irrwahn und Lafter zum 
Dienfte Chrifti Heranzog, wenn wunderbare Gebet3erhörungen noch jein Grab 
berherrlihten, was Wunder, daß jein Beijpiel aud nad jeinem Tode noch 
weiter wirkte, dab jein Grab ein Segensquell der Kriftlihen Charitas, der 
Heilige jelbft der Liebling des Volkes, der Lieblingsheld der Literatur, der 
Legende, der Poefie, Tours aber der Mittelpunkt des religiöfen Lebens in 
Gallien, der Gallia christiana, geworden ift!. 

Daß die Kirche troß aller Schwierigkeiten unaufhaltſame TFortichritte 
machte, bezeugen die vielen Bilhofsftühle, die von 505—597 neu errichtet 
wurden (Never, Aire, Rodez, Aorandhes, Seez, Coutanced, Boulogne, 
Perpignan, Garcaffonne, Montpellier), die vielen Klöſter, welche in derjelben 
Zeit entitanden, die zahlreichen Konzilien und Shnoden, welche in ben ver: 
ihiedenen Teilen des Frankenreiches abgehalten und immer zahlreicher be- 
ſucht wurden, ja jelbft zur Zeit der furdtbarjten inneren Wirren nicht auf: 
hörten und einen raftlofen Kampf gegen alle auftauchenden Irrlehren und 
Mißbräuche bedeuten. Dabei waren die Bilhofsftühle durchweg mit aus- 
gezeichneten Hirten bejebt, jo daß es jeit dem erften Jahrhundert wohl zu 
feiner Zeit eine jo große Anzahl von Heiligen gab wie damals ?. 

Wenn aud die Merowinger nit ganz gleihgültig gegen die Volle: 
bildung waren, jondern mandes taten, um die vorhandenen Schulen zu 
erhalten und zu heben, jo war Wiſſenſchaft und höhere Bildung doch ganz 
an die Sorge des Klerus gewielen, der aber viel zu jehr von den aller: 
dringendften Bedürfniffen des Hirtenamtes in Aniprud genommen war, um 





! Sulpicius Severus, Vita 8. Martini, berausgeg. (mit befjen übrigen 
Schriften) von B. Gijelinus, Antwerpen 1574; 9. de Prato, Berona 1741 
bis 1754; banad) bei Migne, Patr. lat. XX 95—244 und LXXIV 671—674; 
€. Halm, Wien 1866 (Corpus script. ecel. lat. I). Zur literarifhen Würdigung 
des Sulp. Severus vgl. I. Bernays, Über die Chronik des Sulpicius Geverus, 
Breslau 1861; abgebrudt in deſſen gejamten Abhandlungen II (berausgeg. von 
9. Ujener, Berlin 1885) 81—200; €. Norden, Die antife Kunftproja II 583. 
— Ein anihaulides Bild von der fulturgefhichtliden Bedeutung des hl. Martin 
wie von feiner Verherrlihung durch die Kunſt gibt das quellenmäßig gearbeitete 
Pradtwerf von A, Lecoy de la Marche, Saint Martin, Tours 1881. 

2 Wattenbad, Deutihe Geſchichtsquellen II®, Berlin 1885, 89 90. 


Literar. Leben in Gallien. Gregor von Tours. Venantius Fortunatus. 255 


fih in größerem Umfang den gelehrten Studien zu widmen. Als eigentlich 
bedeutend fann man nur den Geichichtichreiber Gregor von Tours und den 
Dichter Benantius Fortunatus bezeichnen. 

Die Ummälzungen, durch welche das einft römische Gallien zum größten 
Teil in ein Reich der Franlen verwandelt wurde, hat Gregor von Tours 
gegen Ende des 6. Jahrhunderts in feiner Historia Francorum beidhrieben. 
Er hieß eigentlih Georgius Florentius und nahm erft jpäter nach feinem 
Urgroßdater, dem hl. Gregor, Biſchof von Langres, den Namen Gregorius 
an. Aus einer Senatorenfamilie von Arvernä (Glermontsfferrand) 538 ge 
boren und früh zum Dienfte der Kirche beftimmt, hatte er erft feinen Oheim 
Gallus, Biſchof von Arvernä, dann den Dichter und Biſchof Avitus zu 
Lehrern. Er tat fi im dem kirchlichen Disziplinen jo hervor, daß er ſchon 
mit etwa fünfunddreißig Jahren auf den Herborragendften Biſchofsſitz von 
Gallien, zum Metropoliten von Tours, erhoben wurde. Als foldher wirkte 
er in jegensreichfier Weile, erwies ſich befonders als tapfern Verteidiger der 
Kirche gegen den tyranniſchen Chilperich, als Heilfamen Berater der Könige 
Sigibert und Ehildebert und ftarb, angejehen und gefeiert in ganz Gallien, 
im Jahre 594. Mitten in den Kämpfen der Zeit ftehend, mit den be- 
deutendften Männern perfönlic befannt, war er vorzüglich dafür ausgerüftet, 
der Herodot der Franken zu werden, 

Das erſte Buch feines Geſchichtswerles faßt einleitend die gefamte Welt: 
geihichte von Adam bis auf den Tod des hl. Martin, des Hauptbegründers 
der hriftlihen Kultur in Gallien (um 400), zufammen, meift nad Hierony— 
mus (Eujebius) und Orofius, mit Benußung der heiligen Schriften, des 
Sulpicius Severud und Rufin. Im zweiten Buche werden ſchon ausführ- 
licher die Anfänge des Frankenreichs bi zum Tode Chlodwigs erzählt. Vom 
dritten bis zum legten (zehnten) Buche erweitert fi die Darftellung zur 
einläßlichſten Zeitgeihichte, die beſonders in den letzten fünf Büchern eine 
memoirenartige Friſche und Lebendigkeit beit. Seinen Standpunft jegt er 
folgendermaßen auseinander : 


„Da ich die Kämpfe der Könige mit den feindlichen Völkern, ber Märtyrer 
mit den Heiden, ber Kirche mit ben Ketzern bejchreiben will, will ich zuerft mit 
meinem Glauben herausrüden, auf daß fein Lejer bezweifeln möge, daß ich Katholik 
fei. Wegen derjenigen, welche ſchon wegen des nahenden Weltendes verzweifeln, hielt 
ih es auch für rätlih, einen Abriß aus den Ehronifen und früheren Geſchichts— 


’ Gejamtausgabe feiner Werke von Th. Ruinart, Paris 1699; abgedrudt 
bei Migne a. a. O. LXXI; neue Eritifhe von W. Arndt und B. Kruſch 
(Monum. Germ. Hist. Script. rer. Meroving, I), Hannover 1884/85. — Tert ber 
Historia Franc. nad) dem Manuffript von Corvey von 9. Omont, Paris 1887, 
nah dem Manuſtkript von Brüffel von G. Eoflon, Paris 1893; deutſche Uber» 
fegung von W. Gieſebrecht, Berlin 1851; 2. Aufl. Leipzig 1878. 


256 Drittes Kapitel. 


werfen zujammenzuftellen, bamit Har wird, wie viele Jahre vom Anbeginn ber 
Welt verfloffen find. Zuvor jeboch bitte ich ben Lefer um Verzeihung, wenn ich mid 
in Buchftaben oder Silben an der Kunft der Grammatik verfündige, die ih mir nicht 
ganz vollitändig angeeignet habe. Dahin nur geht mein Streben, was die Kirche 
zu glauben vorftellt, ohne Schminke und Herzensſchwanken feftzuhalten, weil ich weiß, 
daß ber jünbige Menſch durch lautere Gläubigkeit bei unferem lieben Herrn Ber: 
zeihung erlangen kann.“! 


Das Wert, nah Giefebreht „eines der wichtigsten Erzeugniſſe der 
gefamten gejhichtlihen Literatur“, jchmedt weder nah Salluft noch nad 
Livius und Tacitus, obſchon aus einigen Stellen erfihtlid ift, daß Gregor 
den eriteren gefannt hat, daß ihm Vergil geläufig war, daß er vielleicht auch 
Plinius und Gellius fannte, dazu Prudentius, Sidonius und andere hriftliche 
Schriftſteller?. Er pragmatifierte nicht viel, noch hat er fih um funftvolle 
Gruppierung bemüht. Ausdrud und Spradhe erweden bei dem. Verehrer 
klaſſiſcher Satinität oft großes Ärgernis. Doch die chriſtliche Weltauffafjung 
gibt dem Ganzen eine feite Einheit; das rohe Walten barbariſcher Leiden- 
ihaft und das ftille, aufbauende Wirken der Kirche find einander, ohne 
EffettHajcherei, in ihren wirklichen SKontraften gruppenmeife jehr ſprechend 
gegenübergeftellt. Die Erzählung jchreitet ar, bejonnen und verſtändlich 
voran. Die Darftellung hat die anſchaulichſte individuelle Färbung. Die 
Sprade, die da und dort ſchon zum Altfranzöfiihen Hinüberneigt, ift feine 
tote oder künftlih angequälte, fondern eine durchaus lebendige >, 

Dem Nachfolger des Hl. Martinus war jelbftverjtändlich weder die alt: 
klaſſiſche Bildung die Hauptſache nod die politiihe Zeitgeſchichte, jondern 
die Kirche und das Firhlidhe Leben, auf welchem weſentlich die Hoffnung 
der Zukunft beruhtet. Außer feiner Chronik hat er deshalb fonft lauter 
religiöje Werke gejchrieben: „Bier Bücher über die Wunder des hl. Martinus“, 
welden Papft Gregor d. Gr. jelbft als Apoftel Gallien: mit dem Welt: 
apoftel verglichen Hatte, dann „Über den Ruhm der Märtyrer”, „Über den 
Ruhm der Belenner”, „Leben der Väter“, „Über Leiden, Tugenden und 
Ruhm des Heiligen Märtyrers Julian“. Überaus lebendig tritt darin der 





! Migne, Patr. lat. LXXI 461. 

?2 G. Kurth, Saint Gregoire de Tours et les &tudes classiques au VI* siöcle 
(Revue des Quest. Hist. XXIV [1878] 586—593). 

s „Die kunftlofe, einfache Sprache Gregors, feine behaglide memoirenartige 
Erzählung, welde Geſchichten aller Art, die größten Staatöbegebenheiten und un— 
bebeutende Vorfälle bes gewöhnlichen Lebens bunt durcheinander miſcht, das iſt es 
eben, was feinem Werke einen jo großen Reiz verleiht und es zu einem treuen Spiegel 
feiner Zeit macht, daß ihm in biefer Hinficht fein zweites zu vergleichen ift* (Watten- 
bad, Deutſche Gefchichtsquellen 1° 96). 

* Dagegen richtet ſich hauptfählich die ungünftige Beurteilung Nantes (Welt: 
geſchichte IV! 2, 328-868). 


Literar. Beben in Gallien. Gregor von Tours. Venantius Fortunatus. 257 


fulturgeihichtlihe Einfluß zu Tage, den die Verehrung der Heiligen und 
ihrer Reliquien auf die Kriftli gewordenen Völler ausübte: fie jchlang 
ein fihtbares und greifbares Band, welches die Gegenwart mit Chriſtus 
und jeinen Heiligen verfnüpfte, die Kirchen und Städte des Abendlandes 
feierlich und meihevoll in ihren Beſitz fiellte, den Pulsfchlag des über: 
natürlichen Lebens beftändig erneuerte. 

Ganz don demjelben Geift finden wir Benantius Fortunatus 
bejeelt, den Herborragendften Dichter diefer Zeit. Sein voller Name it 
Venantius Honorius Clementianus Yortunatus. Er wurde in der Nähe 
von Treviſo (in Oberitalien) etwa um 530 geboren und erhielt jeine Aus— 
bildung zu Ravenna, der Hauptitadt des Oſtgotenreiches und des Exarchats. 
Außer Grammatit und Rhetorik trieb er hauptfählih Jurisprudenz und 
Poefie, doch beziehen ſich die früheften feiner erhaltenen Gedichte ſchon auf 
religiöje Stoffe, die Kirchen und Heiligtümer Ravennas. Bon einem ſchweren 
Augenleiden betroffen, wandte er ſich vertrauengvoll an den Hl. Martinus 
bon Tours und fchrieb die glüdlich erfolgte Heilung deffen Yürbitte zu. Um 
ihm zu danken, unternahm er eine Bilgerfahrt an fein Grab (jedenfalls vor 
dem Nahre 566), machte aber den weiten Umweg über die Noriſchen Alpen, 
den Inn, den Lech, die Donau und den Rhein und verweilte längere Zeit am 
Hofe Sigiberts J., Königs von Auftrafien, in Met. Seine Ankunft traf 
gerade in die Zeit der glänzenden Hochzeit SigibertS mit Brumhilde, der 
weſtgotiſchen Königstochter, und jo feierte er Ddiejes Feſt in einem pomp- 
haften Epithalamium, das, wie jenes des Sidonius Apollinaris, hriftlich 
gedacht, aber in antilsmythologiiche Formen gekleidet if. Venus lobpreift 
die Braut, Gupido den Bräutigam; in einem bejondern Gedicht gratuliert 
aber der Dichter dem Bräutigam, dat Chriftus die arianische Braut dem 
wahren Glauben gewonnen und ihm zur Gemahlin gegeben habe: 


Catholico eultu decorata est optima coniux, 
Ecclesiae crevit, te faciente, domus. 

Reginam meritis Brunichildem Christus amore 
Tune sibi eoniunxit, hanc tibi quando dedit. 


An der tiefreligiöfen wie kirchlichen Gefinnung Fortunats ift ſonach 
nit im mindejten zu zweifeln, wenn er aud in dem mehr weltlich ge: 
baltenen Hochzeitägediht dem Gejhmad der romaniſchen Hofleute entgegen- 
fam, als Dichter fi) zeitweilig in deren Beifall ſonnte und noch mande 
Städte und Burgen bejuchte, um, wie ein Borläufer der Troubadours, die 
Gaftfreundichaft der Vornehmen zu genießen und fie in zierlichen Diftichen 
zu befingen. Ebenſo häufig und gern ließ er fih aber aud bei Bilchöfen 
und in Klöftern nieder und ftellte fein Talent in den Dienft der Kirche, fo 


daß nicht eben eine bejondere Belehrung angenommen zu werden braucht, 
Baumgartner, Weltliteratur. IV. 3. u. 4. Aufl. 17 


258 Drittes Kapitel. 


wenn er, nachdem er endlich jeine Wallfahrt in Tours gehalten, ſich bleibend 
in Poitiers niederließ und der Kloſtergeiſtliche der einftigen Königin Rabe: 
gunde wurde!. 

Radegunde, als Heilige no heute verehrt, ift eine der freundlichſten 
Eriheinungen jener Zeit, daS verjöhnende Gegenbild zu der verbrecherijchen 
Fredegunde und ihrer rachſüchtigen Gegnerin Brunhilde, gewiffermaßen eine 
Borläuferin der Hl. Elifabeth von Thüringen, ein Engel der Frömmigkeit 
und Buße, der Mildtätigkeit und Barmherzigkeit wie diefe, aber wohl noch 
härter und ſchwerer geprüft als fie. 

Sie war nod ein Kind, als ihr Vater, König Berthar von Thüringen, 
bon feinem eigenen Bruder Hermanfried meuchlings ermordet wurde. ALS 
dann (532) Chlotar und Ehildebert vereint Reih und Macht der Thüringer 
bernichteten, der Brudermörder Hermanfried jelber durch Meuchelmord endete, 
fiel fie, das dreizehnjährige Mädchen, den zwei Franfenkönigen ala Sieges- 
beute anheim. Chlotar gewann es durch das Los und ließ es zur künftigen 
Königin aufziehen. Nur gezwungen ging fie die Ehe ein. Schon jetzt mit 
den höchſten weiblichen Tugenden geihmüdt, flößte fie dem rohen König 
abwehjelnd Liebe und Haß ein, Liebe durd ihre Schönheit und Herzens- 
güte, Haß durch ihre ernfte Frömmigkeit und Lebensſtrenge. Seine Brutalität 
machte ihr das Leben zur Qual, fie litt und duldete indes in wunderbarer 
Geduld. Erft als Chlotar ihren jüngeren Bruder ruchlos hinmorden lieh, 
entfloh fie nad Noyon und verlangte von Biſchof Medardus den Schleier. 
Nur nad längerem Bedenken willfahrte dieſer ihren Bitten. Vergeblich fuchte 
fie jeßt der König zurüdzugewinnen und folgte ihr erft nah Tours, dann 
nad Poitiers, in deſſen Nähe fie fich niederließ und ein Kloſter nad der 
Regel des Hl. Cäſarius gründete. Alle feine Bemühungen waren indes 
vergeblih, und der Hl. Germanus vermochte ihn endlih, von meiteren Ver: 
ſuchen abzuftehen und Nadegunde fogar bei der Gründung ihres Klofters 
fürftlih zu unterftügen. Äbtiſſin wurde ihre frühere Dienerin Agnes, die 
fie wie eine Pflegetocdhter aufgezogen hatte; die ehemalige Königin jelbft 
lebte als einfache Nonne, mit etwa zweihundert andern Jungfrauen, melde 
ih dem Kloſter angejchloffen hatten. Den vorzüglichſten Schatz ihres ftillen 
Heiligtums bildete eine anjehnliche Reliquie des Heiligen Kreuzes, welche fie 


ı Th. Bormann, Über das Leben des lateinischen Dichters V. H. El. VBenan- 
tius Fortunatus, Fulda 1848. — F. Hamelin, De vita et moribus V. H. Cl. For- 
tunati, Redonibus 1873. — A. Schneider, Lefefrücdte aus Venantius Fortunatus, 
Innsbrud 1882. — F. Leo, Benantius Fortunatus, der Iekte römiſche Dichter 
(Deutfhe Rundihau XXXI, Berlin 1882, 414—426). — L. Caron, Le poete 
Fortunat et son temps, Amiens 1884. — D. Leroux, Le poete S. V. Fortunat, 
Paris 1885. — Ch. Nisard, Le poöte Fortunat, Paris 1890. — W. Meyer, 
Der Gelegenheitsdihter Venantius Fortunatus, Berlin 1901. 


Literar. Leben in Gallien. Gregor von Tours. Venantius Fortunatus. 259 


auf ihre Bitten von Kaifer Juftinus in Konftantinopel erhalten hatte und 
nad) welcher ihre Genofjenihaft jelbft den Namen „vom heiligen Kreuze” 
führte. Aus der Betradhtung des Kreuzes und des Gekreuzigten ſchöpfte 
die thüringiſche Fürftentochter, die einftige Königin der Franken, jenen 
Heroismus, der fie zur Mutter der Armen, zur Pflegerin der Kranken und 
Ausfägigen, zu einer Helferin aller Notleidenden machte. Durch die Buß— 
firenge und Entjagung, welche fie in ihrer Höfterlihen Stille übte, ward fie 
aber teineswegs gleihgültig für die feinere Geiftesbildung, welche fie mit 
ind Kloſter gebradt. Wie fie der Zier des Gotteshaufes und des Gottes— 
dienjtes die liebevollfte Sorge zumandte, pflegte fie mit ihren Schweftern, 
bejonderö der begabten Agnes, auch die religiöfe Literatur und Boefie. 
Und jo fand der hochbegabte Fortunatus in Poitierd an Radegunde eine 
„Mutter“, an Agnes eine „Schweiter“, die jein Talent zu ſchätzen und 
auf die würdigſten Aufgaben zu lenken wußten. 

Sie vermodten ihn, in Poitiers zu bleiben, Priefter zu werden und jeine 
Tätigkeit den religiöfen wie gejchäftlihen Bedürfniffen des Kloſters zu 
widmen. Die Freundſchaft, welche ihn mit den beiden Ordensſchweſtern 
verband, blieb eine durchaus reine und ideale, wenn aud das eine oder 
‘andere jeiner Gelegenheitägedichte in zartem Zone gehalten ift oder wenn 
er fröhlich über die eßbaren Geſchenke jcherzt, welde ihm die ftrengen 
Fafterinnen zulommen liefen. Wahrſcheinlich im Intereffe des Kloſters 
mußte er mande Reifen duch das ganze Frankenreich machen und teils 
früher gefnüpfte Beziehungen zu einflußreichen Perfönlichkeiten aufrecht er: 
halten, teild neue anfnüpfen. Im Namen Radegundes wandte er fi in 
Berjen jogar an Kaiſer Yuftinus und deffen Gattin Sophia. 

Nahdem Radegunde (587) geftorben war, ſchrieb er ihr Leben, aber 
niht ala Dichter, in dem Heitern Ton, den er fi zur Erfriichung mit: 
unter in feinen Gelegenheitsverfen bergönnt, ſondern mit jenem asletiſchen 
Ernite, wie e8 dem Andenfen einer Heiligen, zumal der vielgeprüften Dulderin, 
der praftiichen Verehrerin des Kreuzes, gebührte. In dieſe jpätere Zeit 
fallen wohl aud die andern Heiligenbiographien, die er in Profa geſchrieben 
hat: des Hl. Hilarius, des hi. Germanus von Paris, des hl. Albin, des 
Hl. Paternus, des hl. Amantius, des HI. Remigius, des HI. Medardus, 
de3 Hl. Marcellus von Paris, des Hi. Leobin von Ghartres, des hl. Maus 
ritins und der heiligen Märtyrer Dionyfius, Nufticus und Eleutherius. Er 
felbft, der Biograph jo vieler Heiligen Biſchöfe Galliens, wurde gegen Ende des 
Jahrhunderts auf den verwaiften Biſchofsſtuhl von Poitierd erhoben, jcheint 
demjelben aber jhon nad etwa einem Jahr (um 600) entrijfen worden zu fein. 

Naht Prudentius und Sidonius Apollinaris ift Yortunatus wohl der 
fruchtbarfte, vielfeitigfte und formgewandtefte der älteren hriftlich-lateinijchen 
Dichter. Es find noch etwa zweihundertfünfzig größere und kleinere Gedichte 

17* 


260 Drittes Kapitel. 


von ihm vorhanden, darunter ein Leben des hi. Martinus, das allein 
2243 Herameter umfaßt, während mande feiner Gelegenheitägedidhte und 
Elegien Hundert und jelbft mehrere Hunderte von Berjen zählen. Da er 
aber faſt ausschließlich Gelegenheitsdihter war, iſt auch die Stoffwahl eine 
überaus mannigfaltige !. 

Das „Leben des Hl. Martinus“ ift, wie Prolog und Epilog bejagen, 
ein Botivgedicht, durch welches Fortunatus ſich jeinem himmlischen Patron 
für die ihm gewordene Heilung dankbar erweiſen wollte. Den erften zwei 
Büchern hat er die Martinus-Biographie des Sulpicius Severus, den zwei 
folgenden deifen „Dialoge“ zu Grunde gelegt. Wie er jelbit gefteht, hat 
er auf die Arbeit nur etwa ein halbes Jahr verwandt und biejelbe ohne 
große Anforderungen an fih ausgeführt?. Eine jelbftändige epiihe Durch— 
dringung und Neugeftaltung ift nicht vorhanden, und manden wird die 
klaſſiſch-angehauchte Profadarftellung des Sulpicius Severus vielleicht mehr 
anjprechen als Fortunats gewandte Verſifikation. Doch zeigt ſich in dieſer 
unzweifelhaft eine ſehr große ſprachliche wie poetiſche Begabung, eine Leichtig— 
feit, die unwillkürlich an Ovid erinnert. 

No weit mehr tritt diefe ftaunenswerte Formgewandtheit in den „Ver: 
mijchten Gedichten“ hervor, von melden Fortunatus die meiften auf An— 
regung jeined Freundes Gregor von Tours jammelte und in elf Büchern 
verteilte. Der Gruppierung liegt leider weder ein chronologiſches noch ein 
ſachliches oder formell poetiiches Einteilungsprinzip zu Grunde, was teilweiſe 
den Genuß ftört, noch mehr aber die Überſicht über die Entwicklung und 
Tätigkeit des Dichters erihwert. Wir müſſen uns begnügen, einige Haupt: 
momente hervorzuheben. 

Vor allem Hat fi Fortunatus durch zwei Hymnen auf das heilige 
Kreuz neben Ambrofius einen der ehremvollftien Plätze unter den älteren 
Hymnendichtern der Kirche verdient. Diejelben haben ihn ſchon über drei- 
zehn Jahrhunderte überlebt und werden noch heute in der Paſſions- und 
Karwoche wie an den Feſten der Auffindung und Erhöhung des Kreuzes 
gebetet. Den einen könnte man als das Bannerlied des Kreuzes und des— 
halb auch des Chriftentums bezeichnen : 


Vexilla regis prodeunt, Doran des Königs Banner ziehn, 
Fulget erucis mysterium, Des Kreuzes Wunder ftrahlend glühn, 
Qua vita mortem pertulit An dem den Tod das Beben litt 

Et morte vitam protulit. Und fterbend Leben ſich erftritt; 


! Ausgaben von Chr. Brower, Mainz 1603 1617; M. U. Luch i, Rom 
1786; abgebrudt bei Migne, Patr. lat. LXXXVIII 1—596; Fr. Leo und 
B. Kruſch, Berlin 18831—1885 (Monum. Germ. Hist,. Auct. antiquissimi IV). 

? Audax magis quam loquax, nec efficax, cursim et impolite inter frivolas 
occupationes (Migne a. a. ©. LXXXVII 3864). 


Literar. Leben in Gallien. Gregor von Zours. Benantius Fortunatus. 261 


(Quae vulnerata lanceae 
Mucrone diro, criminum 
Ut nos lavaret sordibus, 
Manavit unda et sanguine. 


Impleta sunt quae eoncinit 
David fideli carmine 
Dicendo nationibus: 
Regnavit a ligno Deus. 


Arbor decora et fulgida 
ÖOrnata regis purpura, 

Eleeta digno stipite 

Tam sancta membra tangere. 


Beata cuius brachiis 
Pretium pependit saeculi, 
Statera facta corporis, 
Tulitque praedam tartari. 


O crux, ave spes unica 
Hoc passionis tempore, 
Piis adauge gratiam 
Reisque dele crimina. 


Te fons salutis, Trinitas, 
Collaudet omnis spiritus, 
Quibus erucis vietoriam 

Largiris, adde praemium. 


Das von der Lanze fharfem Stich 
Graufam verwundet, mildiglich, 

Bon uns zu waſchen unfre Schuld, 
Strömt Blut und Wafler aus voll Hulb. 


Erfüllt ift, was voll heil’gem Drang 
In treuem Liebe David fang, 

Als er den Völkern Kunde gab: 

Es herrſchte Gott vom Holz herab! 


Baum, Ihöngeihmüdt, in heller Glut 
Mit königlihem Purpurblut, 
Ermwählt, der heil’gen Glieder Laſt 
An jeinem Stamm zu bieten Raft. 


Heil dir, des Arm umſchlungen hält 
Den Löfepreiö der fünd’gen Welt, 
An bem ber heil’ge Leib fi wiegt, 
Der Tob und Hölle obgefiegt. 


Kreuz, einz’ge Hoffnung uns bereit, 
Willlommen in bes Leibens Zeit; 
Bermehr’ der fyrommen Gnab’ und Hulbd, 
Zu nichte mad ber Sünder Schuld. 


Dih Duell des Heils, Dreieinigfeit, 
Lob’ alles Leben weit und breit. 
Zum Sieg bes Kreuzes jende du 
Uns, Herr, ben ew’gen Bohn Hinzu !, 


Der zweite diefer Hymnen ftellt in ergreifendfter Weiſe den verhängnis: 
vollen Baum des Paradiefes dem Lebensbaum des Kreuzes gegenüber und 
berfnüpft damit in wenigen Strophen ein Gejamtbild des Erlöſungswerkes, 
wie e3 Schöner, reicher, poetifcher faum ein anderer Hymnus zufammendrängt : 


Pange, lingua, gloriosi lauream certaminis, 
Et super erucis trophaeo die triamphum nobilem, 
Qualiter redemptor orbis immolatus vicerit. 


De parentis protoplasti fraude factor condolens, 
Quando pomi noxialis in necem morsu ruit, 
Ipse lignum tunc notavit, damna ligni ut solveret. 


Hoc opus nostrae salutis ordo depoposcerat, 
Multiformis proditoris ars ut artem falleret, 
Et medelam ferret inde hostis unde laeserat. 


! Carm. lib. II, 6 (Mon. Germ. Hist. Auct. antiquissimi IV 34 35). Wir 


geben den Hymnus aber in der Faſſung, in welder er fi) durch die kirchliche Liturgie 
allgemein eingebürgert hat. Benutzt find die Überfegungen von Fortlage (Gefänge 
chriſtlicher Vorzeit 111 112); Schloffer (Die Kirche in ihren Liedern 106 107); 
G. M. Pahtler (Die Hymnen der katholiſchen Kirche, Mainz 1858, 98 94). 


Drittes Kapitel, 


Quando venit ergo sacri plenitudo temporis, 
Missus est ab arce patris natus orbis conditor, 
Atque ventre virginali carne amictus prodiit. 


Vagit infans inter arcta conditus praesepia, 
Membra pannis involuta virgo mater alligat, 
Et Dei manus pedesque strieta cingit fascia. 


Lustra sex qui iam peregit, tempus implens corporis, 
Sponte libera redemptor passioni deditus, 
Agnus in crucis levatur immolandus stipite. 


Felle potus ecce languet: spina, clavi, lancea 
Mite corpus perforarunt, unda manat et cruor: 
Terra, pontus, astra, mundus, quo lavantur flumine, 


Crux fidelis, inter omnes arbor una nobilis, 
Silva talem nulla profert fronde, flore, germine: 
Dulce ferrum, dulce lignum, dulce pondus sustinent. 


Flecte ramos arbor alta, tensa laxa viscera, 
Et rigor lentescat ille, quem dedit nativitas, 
Et superni membra regis tende miti stipite. 


Sola digna tu fuisti ferre mundi victimam, 
Atque portum praeparare arca mundo naufrago, 
(uem sacer cruor perunxit fusus agni corpore. 


Sempiterna sit beatae Trinitati gloria 
Aequa Patri Filioque, par decus Paraclito; 
Unius Trinique nomen laudet universitas. 


Bon dem lorbeerreihen Streite töne meiner Stimme Stlang, 
Auf des Kreuzes Siegeszeihen finge fie Triumphgeiang, 
Wie ber Weltheiland fi opfert und als Lamm den Tod bezwang. 


Trauernd ob des eriten Menſchen Überliftung hatte Gott, 
Als der Biß des Sündenapfels uns geftürzt in Todesnot, 
Schon den Baum gezeigt, der Sühnung für des Baumes Schulden bot. 


In dem Werk der Dienfchenreitung tat die Weisheit jenen Zug, 
Daß bie Kunft verdarb die Künſte bes Verführers voller Trug, 
Und von daher Heilung brachte, wo ber Feind uns Wunden fhlug. 


Als ber Zeiten heil’ge Fülle endlich angebroden war, 
Shidte Gott ben Weltenſchöpfer, jeinen Sohn, vom Himmel dar, 
Den, mit unfrem Fleiſch umhüllet, einer Jungfrau Schoß gebar. 


In ber Krippe engem Raume wimmernb liegt das Sindelein, 
Seine Glieder hüllt in Windeln ihm die Mutter keuſch und rein, 
Gottes Hände, Gottes Füße ſchließen feit die Binden ein. 


Und nachdem er auf der Erbe war gewandelt breikig Jahr’, 
Sieh, da gibt er als Erlöfer willig fi zum Opfer bar, 
Und das Gotteslamm als Opfer wird erhöht am Kreuzaliar. 


Literar. Beben in Gallien. Gregor von Tours. Venantius Fortunatus. 263 


Er erihlafft vom Gallentrante; durch ben zarten Leib mit Wut 
Bohrt man Dornen, Nägel, Lanze; Wafler fließt heraus und Blut; 
Erbe, Meere, Sterne, Welten waſchen fi in biefer Flut. 


Treues Kreuz, vor allen Bäumen einzig hehr und fegensreich! 
Nein, an Zweigen, Blüten, Früchten ift im Wald bir feiner gleid). 
Sühes Holz! o fühes Eifen! Süße Laft befchweret euch! 


Neige, hoher Baum, die Afte, beine Faſern beug’ erichlafft, 
Deine Härte foll entſchwinden, die dein Urfprung dir verihafft, 
Deines hohen Königs Glieder jpanne aus auf zartem Schaft. 


Du allein warft auserfehen zu des Lammes Schladtaltar, 
Zu der Arche, die entriffen uns des Untergangs Gefahr, 
Zu dem Pfoiten, ber vom Blute heil’gen Lamms bezeichnet war. 


Ewig fei dir Ruhm und Ehre, heiligfte Dreifaltigkeit! 
Gleih dem Bater, gleich dem Sohne, gleich dem Heil’gen Geiſt geweiht. 
Einen in den drei Perfonen lobe alle Welt und Zeit! ! 


Nächſt diefen Hymnen fanden einige Elegien das meiſte Lob, melde 
Yortunatus den tragiſchen Familienſchickſalen Radegundes widmete und von 
melden die eine „Über den Untergang Thüringens“ überſchrieben ift?. Der 
Stoff ift aber nicht epiich behandelt, fondern in Form einer Epiftel, die 
Radegunde an Amalafried, den Sohn Hermanfrieds, den legten Sproffen 
ihres Geſchlechtes, richtet, welcher nah Byzanz geflüchtet war und dort im 
Heere des Kaiſers diente. So ganz hat ſich der Dichter in die ſchmerzlichen 
Erinnerungen der thüringifchen Fürftentochter Hineingelebt, daß man das 
Gediht jogar ihr ſelbſt Hat zufchreiben wollen. Der Anfang jeildert in 
einigen ergreifenden Zügen den Sturz ihres Königshauſes: 

Hammer bereitet der Krieg, rafch wirft er bie tüdifchen Lofe, 
Reißt in Vernichtung jäh glänzende Throne dahin. 
Mächtig in Reih'n aufragten die herrlih prangenden Türme, 
Bis ber entjehlihe Sturz alles in Flammen begrub. 
Fürſtliche Pracht umblühte den ftolgen Bau bes Palaftes: 
Seht ftatt der Wölbung Zier deckt ihn der trauernde Schutt. 
Weithin leuchteten einft, mit rötlichem Erze gefchmüdet, 
Ragende Dächer: in Grau hüllet die Aſche fie ein. 
Unter bes Feindes Gewalt hinwandern gefangene Fürſten, 
Tief aus der Höhe des Ruhms ftürzend in ſchmähliches Los. 
Meines Alters Genofjen, die lieblihe Schar der Geipielen 
Ungewartet im Staub liegt fie, des Tages beraubt, 





! Carm. lib, II 2 (Monum. Germ, Hist. Auct. antiquissimi IV 27 28), über- 
fegt von Pachtler, Die Hymnen der Tatholifhen Kirche 95— 98; nur bie fünfte 
Strophe ift abgeändert. 

? De exeidio Thoringiae (Monum. Germ. Hist. a, a. ©. 271—279; Migne, 
Patr. lat. LXXXVIII 427—436). 


264 Drittes Kapitel. 


Aus diefer furdtbaren Kataftrophe blickt Radegunde dann noch weiter 
in die Vergangenheit zurüd, in die Zeit, wo Berthar, ihr Vater, erfchlagen 
worden war, wie fie damals, das arme Waifenfind, an Amalafried einen 
Freund und Beichüger fand: 


Dente bob, Amalafried, wie einft als lieblicher Knabe 
Dort, mein Vetter, fo treu du Radegunde geliebt. 

Du, ber Berwaiften warft du an Vaters Statt, des erichlagnen, 
Mutter ſah' ih in bir, Bruder und Schwefter in bir. 

Nahmft in den Arm mich ſchmeichelnd, ich hing am Kufſe des Bruders, 
Und bein koſendes Wort rührte mein kindiſches Herz. 

Kaum ein Weilhen verging, ein Stündchen, du fehrteft mir wieder: 
Sept erhoff’ ih umfonft Worte von Jahre zu Jahr. 

Langſam ſchalt' ich dich oft, obwohl du eilteft: es hielten 
Bater und Mutter, ed hielt fürſtliche Pflicht dich zurüd. 

Ab, mir war e8 ein Zeichen: bald jollt’ ich, Teurer, dich miſſen; 
Liebe jo grenzenlos leidet ja raſchen Verluft. 


Jetzt harrt fie umfonft auf ein Wort von ihm. Sie weih nit einmal, 
wo er meilt. 


Wüßt' ih den Ort nur! Umſonſt die jäufelnden Lüfte befrag’ ich, 
Frage das leichte Gewölf, fährt es am Himmel baber. 
Warb fih Byzanz dein Schwert? ber tapfere Perſer? befichlft du 
In Aleranders Stadt? Liegft vor Jeruſalems Burg? 
Hielten mid) nicht in Banden bes Kloſters heilige Mauern, 
Glaube mir, wo bu auch weilft, plößlich erſchien' ih vor dir. 
Raid in der Winde Gebraus durchſchifft' ich die brandenden Fluten, 
Schaufelte fröhlih im Sturm Wogen hinauf und hinab; 
Wenn die Wellen fich türmten, ich ſchwebte beherzt in ben Lüften, 
Und vor bes Seemanns Furcht bangte ber Liebenden nicht; 
Löfte die Fugen bes Schiffs der tobende Regen, ich griffe 
Nah den Planfen, und fo trüge das Meer mich zu bir. 
Wenn ich did, Teurer, erblidte, vergäß’ ich die Fährden bes Weges, 
Über des Schiffbruchs Not hülfe dein Troft mir hinweg. 
Oder wenn bann ber Tod das traurige Leben mir raubte, 
Würfft den Hügel du do über bem Grabe mir auf. 
Vor bie vertrauten Augen, von Licht und Leben gejchieden, 
Ließ ih mich tragen: ber Tod rührte doc endlich dein Herz; 
Da bu ber Lebenden Klage nicht hörft, du weinteft am Grabe, 
Der du mir Worte verfagft, Tränen erhielt ih gewiß. 


Abermals blidt fie dann auf die Drangjale, welde über fie herein- 
gebrochen, und nun folgt die ergreifendfte Epijode, die Ermordung ihres 
jüngeren Bruders — auf Befehl ihres königlichen Gemahls: 

Heimlich erſchlagen ward im zarten Flaume ber Jüngling; 

Werne war ich, ich ſah nicht den entſetzlichen Mord; 
Nicht verlor ih ihn nur: id) durft' ihm die Augen nicht ſchließen, 
Nicht, auf die Leiche geftredt, einmal noch reden zu ihm, 


Literar. Leben in Gallien. Gregor von Tours. Venantius Fortunatus. 265 


Nicht mit den brennenden Tränen die falten Glieder erwärmen, 
Durfte zum Abſchied nicht küſſen dem ſchweigenden Mund. 
Einjt der Heimat entführt, jet war ich boppelt gefangen, 
Sah bei des Bruders Tod wieder im Feinde den Feind, 
Wieder erſchienen die Bilder ber Lieben mir, wieder beweint' ich, 
Dater, Mutter und Ohm, unfer begrab'nes Geſchlecht!. 


Anftatt einer Antwort auf dieſe in ihrem Namen verfaßte Epiftel er- 
hielt Radegunde aus Konftantinopel die Nachricht von dem Zode Amala: 
frieds. In einem andern Gedicht wendet jih Fortunatug — abermals in 
ihrem Namen — an ihren Neffen Atardis und fügt der Totenllage um 
den Dahingejhiedenen den Wunſch bei, er möge nun in treuer Liebe an des 
Berftorbenen Stelle treten, fie in ihrem Kloſter recht oft mit Nachricht er: 
freuen und vereint mit feiner Mutter ihre Kloftergründung unterftügen, auf 
dat Gott ihm einft auf dem Sternenthrone ewigen Ruhm gewähren möge. 

Über die größere Epiftel jagt Ebert?: „Mit einem Gruß an die Schweftern 
des Vetters jchlieht das Gedicht, in dem bie Heimatd-, Stammes- und Verwandten: 
liebe, wie fie nur das Herz eines deutſchen Weibes empfinden kann, die Sprade 
welicher Rhetorik fiegreich durchdringt, den Dichter über fich ſelbſt erhebend.“ Leo 
aber jagt: „Man mu notwendig auf die Perfon der Erzählerin die Hauptvorzüge 
des Gedichtes zurüdführen, muß annehmen, daß die unwibderftehliche Gewalt der Dar- 
ftellung, der Anblicd ber friſchaufbrechenden Wunden, die Teilnahme an dem ver- 
zehrenden Schmerz ber Freundin dieſer ſchwungloſen Feber ungewohnte poetifche 
Wallungen mitteilten; benn das Gedicht hat Stellen von einer jo unmittelbaren 
Kraft des Gefühle, daß es ſich nit nur hoch über die übrigen Leiftungen besjelben 
Poeten hinaushebt, fondern auch von allen faft allein über das hiſtoriſche und jpracd- 
fie Intereſſe hinaus einen Pla in der Literatur beanfpruden darf. Es ift das 
lete hervorragende Erzeugnis der römischen Elegie, auch in der yorm.“ ? 


Schon der Schluß des Gedichtes, mehr aber noch das Leben und der 
ganze Charakter Radegundens weijen darauf hin, daß fie zwar zu biejen 
Gedihten die Anregung gegeben, den Schmerz über ihre früheren Scidfale 
aber längft überwunden und in Heiliger Kreuzesliebe verflärt Hatte. Wie 
die meilterlihe Handhabung der elegiſchen Yorm, jo ift darum auch die er: 
greifende Stimmung und Durhführung ſicher das Verdienft des Dichters, 
der jih mit innigftem Mitgefühl in die Situation Hineinzudenfen und ihr 
den richtigen Ausdrud zu geben wußte. Ganz diejelbe Tiefe der Empfindung 
atmet auch das jhöne Gedicht, in welchem er den Abſchied der weftgotiichen 
Königstohter Galſpintha von den Ihrigen jchildert, ein Gedicht, das ganz 
unabhängig von Rabegunde, aus eigenem Antrieb des Dichters entfland, als 





ı Überjeßt von Friedrich Leo, Venantius Fortunatus, der letzte römiſche 
Dichter (Deutſche Rundſchau XXXII [1882] 424—426). 

2 Geſchichte der Literatur des Mittelalters I? 533. 

:s4. a DO. XXXII 424. 


266 Drittes Kapitel. 


er der Prinzejfin auf ihrem Brautzuge in Tours begegnete. Ebenfowenig 
it das tiefe Naturgefühl, das fi z. B. in mehreren Ofterliedern und in 
jeiner „Moſelfahrt“ fundgibt, aus „germanischen“ pder „weiblichen“ Ein: 
flüffen herzuleiten. Noch viel ungerechter wäre es, feine herrlichen Gedichte 
auf die ſeligſte Jungfrau, auf die Jungfräulichkeit, auf verſchiedene Heilige, 
noch feine innig-herzlichen Gelegenheitägedihte an Radegunde und Agnes, 
an Gregor von Tours und andere Biſchöfe jamt und jonders für „meliche 
Rhetorik“ zu erklären. Die friſche, Iebendige Geftaltung derjelben ift nicht 
die Wirkung eines bloßen Formtalents, jondern eigentlich poetifcher Ber 
geifterung und Stimmung. Seine Begeifterung gilt aber in hervorragendfter 
Weiſe dem Leben und den Anſchauungen der Kirche, und man darf Diele 
nicht ohne weiteres ablehnen oder mißgünftig beurteilen, wenn man Fortunatus 
richtig auffaffen und würdigen will. 

Die unleugbaren Schwächen Fortunats hängen teil$ mit jeinen guten 
perſönlichen Eigenſchaften, teil mit feiner eigenen Tage und den allgemeinen 
Zeitverhältniffen zufammen. Ein feingebildeter, künſtleriſch angelegter, per- 
jönlid ungemein liebenswürdiger Mann, aber wie es jcheint, ganz mittellos 
und ohne fefte Qebensftellung, geriet er durch feine Wallfahrt in die Fremde 
und wurde durch die langobardiihe Invafion in Oberitalien von jeiner 
Yamilie und feiner Heimat völlig abgeichnitten, jo daß neun Jahre lang 
nicht einmal eine Nachricht von den Seinigen zu ihm drang. So war er 
darauf angewieſen, fi unter den „Barbaren“ Freunde zu maden, und da 
ein Dichter damals der jeltenjte Bogel war, jo fand er unter den Romanen 
wie unter den Germanen, unter den Biſchöfen wie unter den weltlichen 
Großen raſch eine Menge Berehrer. Alle Welt wollte Verſe von ihm haben, 
bon ihm bejungen und gelobt jein. Das drängte ihn zu einer mafjenweijen 
Gelegenheitsdidhtung, der weder Kriecherei oder Schmeichelei, jondern lediglich 
aufrihtige Gemütlichkeit und Dankbarkeit zu Grunde lag. Diejelbe erhebt 
fi durchweg nicht jehr Hoch, ſetzt aber bei feinen Leſern doch einen weit 
höheren Bildungdgrad voraus, al$ man nad) den Kulturfchilderungen Gregors 
bon Tours erwarten würde, Geradezu betwundernswert ift die Fertigkeit, mit 
welcher Fortunatus den gewöhnlidften Ereigniffen einen poetiſchen Anhauch, 
den alltäglihen Höflichkeitsformeln eine fünftleriich-anmutige Wendung zu 
geben weiß. Ob er für einen Brief oder für geliehene Bücher, für eme 
Mahlzeit oder für ein paar Früchte dankt, ob er einen Bittfteller empfiehlt 
oder jelbft um einen Brief bittet, jede Stleinigfeit wird unter feiner Hand 
wirflih zu einem Gediht. Darüber zu jpötteln würde leichter jein, als es 
ihm nachzutun. 

Weitaus die größte Zahl der Gelegenheitägedichte find übrigens nicht 
bloße Spielereien, fondern haben einen ernfteren, vorwiegend religiöjen Ge: 
halt, und der ſtark laudatoriſche Charakter, der bei manchen abitoßend wirkt, 


Literar. Leben in Gallien. Gregor von Tours. VBenantius Fortunatus., 267 


mildert ji bedeutend, wenn man Perfonen, Zeit und Gelegenheit genauer 
mit in Rechnung zieht. So hat es auf den erften Blid etwas Verletzendes, 
wenn er den gewalttätigen Chilperih und die jchredliche Fredegunde faft 
mit ebenjo volltönendem Lob überhäuft wie zuvor den edeln Sigibert, feinen 
MWohltäter, und deſſen Gemahlin Brunhilde. Dieje Lobjprüche werden indes 
begreifli, wenn man in Betracht zieht, daß er in diefem Gedicht ala Spreder 
einer ganzen Synode auftrat, welche zujammenberufen war, um über ver: 
leumderifche Anklagen zu richten, welche gegen feinen Freund Gregorius von 
Tours erhoben morden waren, und welde bezwedten, ihn von feinem 
Biihofsfise zu verdrängen. Es galt hier, den gegen Gregor eingenommenen 
König zu befhmwichtigen, und bei einem jo rohen Gejellen mußte das Lob 
Ihon etwas flarf aufgetragen werden, wenn es wirken jollte. Ein ſolches 
Lob war eigentlich fat die einzige Form, in mwelder ein priefterlicher Dichter 
dem König vorhalten fonnte, was von ihm zu erwarten geweſen wäre. 
In einem würdigen Trauergedichte über die verftorbenen Söhne Chilperichs 
mahnte Fortunat zudem das ruchloſe Fürftenpaar in einfchneidender Weiſe 
an Tod und Ewigkeit und hatte darum bei feinem Lobe nur die reinfte 
und edelfte Abſicht, beide auf beffere Bahnen zu lenken. 

Freilich zeigt fih der Dichter au hier wieder als ein gemütlicher 
Optimiſt, der dem Schlimmiten noch eine freundlihe Seite abzugewinnen 
weiß. Die düftern Ereigniffe der Zeitgefchichte, welche jein Freund Gregorius 
von Tours in jo padender Einfalt und Größe erzählt, werfen ihre Schatten 
taum in die ftilfe Welt des Dichterd hinein. Von der Ermordung Sigiberts 
und Chilperichs, von dem furchtbaren Haß der Königinnen Fredegunde und 
Brunhilde ift nicht die Rede. Wie ein Kind freut ji Fortunat, wenn 
Radegunde den Altar ihrer Kirche mit neuen Blumen ſchmückt; ſchmerzlich 
empfindet er es, wenn fie fi für längere Zeit völlig in die Einjamteit 
zurüdzieht; jubelnd begrüßt er den Oftertag, wo fie in bejcheidenem Maße 
wieder an Unterhaltung und literariihem Leben teilnimmt. Mitten in der 
grauenvollen Zeit „haben wir hier doch ein TFledchen Erde und ein paar 
Menjhen, unter denen Frieden und Genügen herrſcht. Das Bild, das fie 
bieten, ift nicht ohne Bedeutung und in gewiſſer Weile eine Verheißung für 
folgende Zeiten. Dort die thüringifche Königstochter, ihrer Heimat entführt 
und zur fränkiſchen Königin in romaniſcher Bildung erzogen, eine Heilige 
der Fire; hier der italiiche Gelehrte und Dichter, ein frommer Priefter, 
auf den von Franken eroberten galliihen Boden verſchlagen: jo finden wir 
die Überreſte der verfunfenen Jahrhunderte mit ihren aus der Fäulnis mächtig 
fortwirfenden Keimen und die friſchen Kräfte, denen die Zukunft gehört, jene 
bon diejen, diefe von jenen bereits beeinflußt und umgeftaltet beieinander“ 1. 


3 Leo, Venantius Fortunatus, der letzte römische Dichter (Deutſche Rundſchau 
XXXII) 426. 


268 Viertes Kapitel. 


Mag der Sänger der thüringishen Elegien allenfall® in Bezug auf die 
Form den römischen Elegifern beigezählt werden, der Dichter des Vexilla 
regis trägt ſchon dem Mittelalter das Banner des Kreuzes boran. 


VBiertes Kapitel, 


Die Slucht der lateinifden Bildung nad den 
britifhen Infeln. 


Eine Zufludtsftätte fand die chriſtlich-lateiniſche Bildung zunädft in 
Irland. Hier hatte Batricius, der Sohn eines in Schottland ftehenden 
römischen Decurio, in Aurerre und Lerin gebildet, in Rom jelbft mit Miffionge 
vollmachten verjehen, nad Überwindung unfägliher Schwierigkeiten 445 den 
Metropolitanfig Armagh gegründet und nah und nad die ganze Inſel 
auf frievlihen Wege für das Chriftentum gewonnen. Als er 493, im 
Alter von 120 Jahren, ftarb, verehrte ihn das ganze Volt als feinen 
Bater und Apoftel; die einheimiſche Gejeggebung war mit den Forderungen 
der Kirche in Einklang gebradt; bald erftanden auch Klöſter, welche von 
Irland aus den Glauben und die hriftliche Zivilifation nad andern Ländern 
verbreiten jollten !. 

Ein Gedihtfragment von 31 Herametern, welches dem hl. Patrid zu: 
gejhrieben wird, erinnert daran, daß der ehrwürdige, durch viele Wunder 
ausgezeichnete Glaubensbote mit der frohen Botihaft aud die Kenntnis 
lateinijcher Literatur in Jrland eingebürgert hat. Seine Confessio ſowie 
jeine Epistola ad Caroticum, früher angefochten, gelten heute ala echt und 
find grundlegende Quellen für jeine Lebensgeſchichte. 

Ein Gedicht, das fein großartiges apoftoliiches Wirken in 23 trochäiſchen 
Strophen (92 katalektiſchen trochäiſchen ZTetrametern) feiert, wird feinem 
Schüler, Biihof Secundinus (Sehnall), zugejhrieben?. Da heißt es: 
Dominus illum elegit, ut doceret barbaras 

Nationes, et piscaret per doctrinse retia, 


Et de saeculo credentes traheret ad gratiam, 
Dominumque sequeretur sedem ad aetheream. 





wA. Bellesheim, Geihichte ber Fatholiihen Kirche in Irland I, Mainz 
1890, 1—68. — Whitley Stokes, The tripartite life of Patrick, London 
1887. — Die bem hl. Patrid zugeichriebenen Werke bei Migne, Patr. lat. LIII 801 
bis 840; W. Stofesa. a. O. II 269489; G. T. Stofes und Eh. 9. H. Wright 
(The writings of St. Patrick) Yondon 1889. 

? Bei Muratori (Anecdota lat. IV 156f) und Migne, Pair. lat. LIU 
837-— 840. 


Die Flucht der lateinifhen Bildung nad den britiſchen Inſeln. 269 


Eleeta Christi talenta vendit evangelica, 

Quae Hibernas inter gentes cum usura exigit, 
Navigii huius laboris, tum operae pretium, 

Cum Christo regni caelestis possessurus gaudium '. 


Die Profodie ift darin gänzlich vernachläſſigt, der Reim nur gelegentlich 
angewandt; aber die Begeifterung für den Heiligen jowie bibliſche Anklänge 
geben dem Lobgedichte doch einigen Schwung. Wo Secundinus Biſchof 
gewejen, ift nicht feſtgeſtellt. 

Die berühmtefte Pflanzfiätte des religiöfen Lebens wie der kirchlichen 
Studien wurde das Klofter Bangor in der Provinz Ulſter, welches der 
hl. Comgall um das Jahr 550 ftiftete?. 

Bon Irland aus z0g im Jahre 563 Columba (auch Eolumbfille 
genannt) mit zwölf Schülern hinüber an das unmirtliche Felsgeſtade der 
Hebriden und gründete auf einer diefer Inſeln, Jona oder Hy, ein Slofter, 
das jih bald zur Pflanzihule des Ghriftentums für ganz Galedonien ent: 
widelte. Faſt Jahr für Jahr wurden von hier aus neue Kirchen und 
Klöfter erſt an der jchottiichen Weſtküſte, dann im Innern geftiftet. Bon 
Sugend auf bis ins höchſte Alter widmete er der Berpielfältigung der 
heiligen Schriften einen unermüdlichen Fleiß. Er foll mit eigener Hand 
dreihundert Evangelienhandjchriften angefertigt haben und leitete dazu aud, 
gleih Caſſiodor, jeine Schüler an. Er jelbft beſaß tüchtige poetiihe Anlagen, 
verwertete diefelben aber nur in feltiichen Liedern. Sein großes zivilifatorifches 
Werk dauerte indes auch nad) jeinem Tode (597) weiter. Obwohl die Schüler 
Golumbas einer faft übergroßen astetifchen Strenge Huldigten, führte auch 
unter ihnen das Studium der heiligen Schriften zur Pflege der lateiniſchen 
Spradhe und anderweitiger Wiſſenszweige. Auch auf den öden Hebriden 
wurden bereits im 7. Jahrhundert die beliebteren lateinischen Klaſſiker gelejen. 
Adamnan, Abt von Hy von etwa 664 bis zu feinem Tode 704, jchrieb 
in ſehr anziehender Yorm das ſowohl an Wundern als an jchlidhten, er: 
baulihen Fügen reiche Leben des großen nordiihen Mönchspatriarchen. 
Mande Stellen, bejonders der Tod des Heiligen, find von ergreifender 
poetiiher Schönheit?,. Nicht weniger Intereffe bietet der Reijeberiht „Yon 
der Lage des heiligen Landes“ +, welchen Adamnan nad den Mitteilungen 





! Migne a. a. ©. LIII 89. 

? Bellesheim a. a. ©. I 84 85 101—112. — €. 3. Greith, Geſchichte 
ber altiriſchen Kirche, Freiburg 1867, 179. 

» Vita 8. Columbae abbatis Hyensis, in Acta SS. Bolland. (9. Iun. II 197 
ad 256), bei Migne, Patr. lat. LXXXVIU 725—776; W. Reeves (Life of 
St. Columba), Dublin 1857. — Vgl. A. Baumgartner, Reifebilder aus Schott= 
land ?, Freiburg 1895, 132—134. 

* Herausgeg. von J. Gretier, Ingolſtadt 1619; Mabillon (Acta 58. 
0. S. Benedieti III 2, 502—522); Migne a. a. DO. LXXXVII 779—814; 


270 Viertes Kapitel. 


— 


des galliſchen Biſchofs Arculph niederſchrieb, der, von einer Reiſe nach 
Konſtantinopel und Jeruſalem zurückkehrend, durch Sturm und Unwetter 
an die Inſel Jona verſchlagen ward und, von den Mönchen daſelbſt gaſtlich 
aufgenommen, ihm ſeine Erlebniſſe und Beobachtungen in die Feder diltierte!. 
Mit Glück hat Adamnan in der einen Schrift den Sulpicius Severus, in 
der andern Hegeſippus und Hieronymus nachgeahmt. So waren die Mönche 
vom ferniten Nordweſten Europas bis nad Afien hinüber die Träger des 
internationalen Verkehrs und der allgemeinen Bildung. 

Was Adamnan vergeblich angeftrebt hatte, die Mönde von Hy zur 
Annahme der römischen Ofterrehnung und Tonfur zu bewegen und jo den 
rituellen (nicht dogmatiichen) Zwieſpalt zu löfen, in welchem fie ji mit Rom 
und der ganzen übrigen katholiſchen Welt befanden, gelang 716 den ein- 
dringlihen Ermahnungen des dur Heiligleit wie Gelehrſamkeit herbor: 
ragenden englifchen Prieſters Egbert? Diejer jandte aud die erften 
Glaubensboten an die riefen aus, erft den hl. Wigbert, dann den hi. Willi: 
brord mit elf Gefährten. Der lehtere ward 695 in Rom zum Biſchof ge: 
weiht, gründete 698 das Kloſter Echternach und mit Hilfe Karl Martells 
das Bistum Utrecht, als deſſen eriter Biſchof er 738 ftarb. 

Ein anderes Klofter mit dem Namen Bangor beftand ſchon zu Anfang 
de3 5. Jahrhunderts in Wales, in der Nähe von Chefter. Dasfelbe hatte nad 
Bedas Bericht zu Ende des 6. Jahrhunderts einen ähnlichen Zulauf wie einft 
die Hlöfter der Thebais. Die Zahl der Mönde war jo groß, daß fie in 
fieben Kommunitäten geteilt werden mußten, von denen feine unter dreihundert 
Mitglieder umfaßte, die fämtlich von Handarbeit lebten. Aus diejem Klofter 
joll Pelagius, der Begründer des Pelagianismus, hervorgegangen fein; aber 
auch viele rechtgläubige Männer und Stüben der älteften britiſchen Kirche, 
wie Jltud, David von Menevia, Dubricius von Gaerleon und Gildas, ftanden 
mit demjelben in Beziehung. 

Gildas (nad alten Chroniken ein „Ire“, wahrjheinlider ein Romano: 
Brite), Schon von Beda und Alkuin mit dem Beinamen des „Weijen“ 
(Sapiens) ausgezeichnet und als Heiliger verehrt, wurde im Jahre 504 
geboren, ftudierte unter dem britiſchen Abte Jltud, der ein Schüler des 
hl. Germanus von Aurerre war, und in mehreren iriihen Klöftern, kam 


PB. Geyer (Itinera Hierosolymitana saeculi IV—VII. Corpus seript. ecel. lat. 
XXXIX 217—297), Leipzig 1899. — Bgl. P. Geyer, Adamnanus, Abt von Jona, 
Augsburg 1895. 

! Qui haec de sanctis experimenta locis eorum frequentater libentissime 
nobis dietavit. Quae et ego quamlibet inter laboriosas et prope insustentabiles 
tota die undique conglobatas ecclesiasticae sollieitudinis occupationes constitutus 
vili quamvis sermone discribens declaravi (De locis sanctis 1. 3, c. 6; Migne, 
Patr. lat. LXXXVII 844; bei Geyer a. a. O. XXXIX 296 297), 

® Bellesheim, Geihichte ber katholiſchen Kirche in Irland I 190. 


Die Flucht der lateiniihen Bildung nah den britifchen Inſeln. 971 


nad verichiedenen Reifen und Pilgerfahrten wieder nah Britannien zurüd 
und verfaßte hier um 547 fein Wert De excidio Britanniae! und andere 
Heine Schriften. Er ftarb 569. Die Schrift beginnt, wie ein hiftorisches 
Werk, mit einer orientierenden kurzen Bejchreibung Britanniend. Schon im 
zweiten Kapitel geht fie indes ganz unmißverſtändlich in eine hochpathetiſche 
Strafrede über, welche der ftrenge Aslet an jeine Zeitgenoffen hält. Mas 
er von geihichtlihem Stoff Heranzieht, fol nicht Hiftorifscher Belehrung, ſondern 
nur dazu dienen, die Schidjalsfchläge, welde Britannien trafen und noch 
treffen, als wohlverdiente göttlihe Strafgerichte darzuftellen. Nach diejem 
allgemeinen Ausblick wendet fih das zürnende Wort des mutigen Warner 
an die tyranniſchen Kleinkönige Konftantin (in Cornwall und Devon), 
Aurelius (2), DVortiporius (in Pembroke), Euneglaffus (?), Maglocunus 
(auf Anglefey) und endlih an den Klerus in feiner Geſamtheit. Das 
Sittengemälde ift von hinreißender Heftigkeit und Wucht und erinnert 
an die Schilderung, welde Mojes von Chorene von dem Untergange 
Armeniens entwirft ?: 


„Könige hat Britannien, aber Tyrannen; Richter hat es, aber gottlofe, häufig 
räuberifhe, welche breinfhlagen, aber auf die Unſchuldigen; welche rächen und 
ſchützen, aber nur bie Schuldigen und bie Diebe. Sie haben viele Weiber, treiben 
aber dazu no Hurerei und Ehebrud. Sie ſchwören viel, aber Mleineide. Sie ge— 
loben viel und lügen faft beftänbig. Sie find flets im Kampf, aber es gilt nur 
bürgerlihe und ungerechte Kriege. Im Land herum jpüren fie gar ſehr den Dieben 
nad; die Räuber aber, bie mit ihnen zu Tiſche fißen, lieben fie und geben ihnen 
Geſchenke. Sie jpenden reichlich Almoien, aber häufen dafür einen Berg von Ver— 
breden auf. Sie ſetzen fih auf den Stuhl des Gerihts, aber jelten fuchen fie Die 
Richtichnur des rechten Urteils. Die Unfchuldigen und Niedrigen verachten fie; bie 
Stolzen, die Batermörder, die Diebsgejfellen, die Ehebrecher, die fyeinde Gottes, die 
man, wenn es fozufagen die Gelegenheit böte, mitfamt ihren Namen um bie Wette 
ausrotten müßte, erheben fie, foweit fie fünnen, zu den Sternen. Sie halten viele 
in den Kerfern gefangen, welche fie mehr aus eigener Lift ald aus jener Schuld zu 
Boden treten und mit Ketten belaften. Sie verweilen mit ihren Eidſchwüren lange 
zwiihen ben Altären und veradhten dann biefelben gleih danach wie ſchmutzige 
Steine. Nicht unvertraut mit dieſem ſchändlichen Frevel ift der umreinen Löwin 
Damnonia Junges, der tyranniſche Konftantin.” ® 

„Priejter hat Britannien, aber törichte; eine Menge Kirchendiener, aber un: 
fluge; Kleriter, aber hinterliftige Räuber; Hirten, wie fie fi nennen lafjen, aber 
zum Mord ber Seelen bereite Wölfe. Denn fie jorgen nicht für den Borteil bes 


! Herauögeg. von Polydorus Vergilius, London 1525; J. Joscel- 
linus, London 1568; €. Bertramus, Kopenhagen 1757; 3. Stevenjon, 
London 1838; danah bei Migne a. a. ©. LXIX 329-392; San Marte 
(A. Schulz), Berlin 184; Th. Mommfen, Berlin 1898 (Monum. Germ. Hist. 
Auctores antiquissimi XIII). — Die wenigen fihern Lebensangaben über Gildas 
bei Mommſen (Prolegomena 4—10). 

2 Bol. diefes Wert I* 251 252. 

5 Migne a. a. ©. LXIX 3847 348 (bei Mommijen a. a. ©. 41). 


272 Viertes Kapitel. 


Volles, jondern ſuchen nur ihren eigenen Bauch zu füllen. Sie haben bie Kirche 
zur Wohnung, aber fie gehen nur ſchimpflichen Gewinns halber hinein. Sie lehren das 
Volk, aber nur Lafter und ſchlimme Sitten, indem fie das jchlechtefte Beiſpiel geben. 
Sie bringen jelten das Opfer dar und ftehen nie reinen Herzens am Altare. Sie 
tadeln das Volk wegen feiner Sünden nit, weil fie das gleiche tun. Die Gebote 
Eprifti verachten fie und fuchen ihren Gelüften in jeglicher Weile zu frönen. Den 
Sitz bes Apoftels Petrus nehmen fie mit unreinen Füßen ein, finfen aber, dant 
ihrer Geldgier, auf den verpefteten Platz des Verräter Judas herab. Die Wahrheit 
haſſen fie wie einen Feind, und die Lügen hegen fie wie ihre liebften Brüder. Die 
armen Gerechten jehen fie wie jchredliche Schlangen mit grimmigen Mienen an, und 
bie verbreherifchen Reihen verehren fie ohne Spur von Scham wie Engel bes 
Dimmels. Mit erhobenen Lippen predigen fie, dab man den Armen Almoſen fpenden 
müſſe, fie felbft aber geben feinen Heller her. über die ſchändlichen Frevel bes 
Volkes ſchweigen fie und die ihnen angetanen Unbilden bauſchen fie auf, als wären 
fie Ehriftus angetan. Eine allenfalls fromme Mutter oder Schweftern jagen fie aus 
dem Haufe, und fremde Weiber erheben fie ungebührlicherweife zu ihrem vertrauten 
häuslihen Dienfte oder erniebrigen fie vielmehr, wenn ich die Wahrheit fagen barf, 
die zwar nicht mir, aber jenen, Die foldhes tun, unpaffend erfcheinen mag.“ ! 


Das grell aufgetragene Sittengemälde hat nicht bloß großes kultur— 
geichichtliches Intereffe, die darin gegebene Charakteriftif der britiichen Könige 
macht es ziemlich ficher, dak mande Züge der Artusfage (bejonders das 
wilde, ausjchweifende Treiben, die Lügenhaftigkeit und Wolluft der Sagen- 
fönige) auf geihichtlihen Anhaltspunkten beruhen. Die markige Bereb- 
ſamkeit des Gildas hat oft wirklich poetiihen Schwung. Er ift in den 
Propheten wie in den Evangelien wohl zu Haufe, kennt außer der Bibel: 
überjegung des Hieronymus nod) eine ältere, ift mit Bergil, Perfius, Martial 
und Glaudian befannt, auch mit Philo, mit Rufinus, Orofius und mit 
dem Wert des Hieronymus „Über die kirchlichen Schriftfteller“. Seine 
Sprade tft reich und kraftvoll, und wenn er auch den Haffiihen Periodenbau 
nicht zu treffen verfteht, jondern in längeren Sabgefügen plump und ſchwülſtig 
wird, handhabt er einfachere Konftruftionen, Aufzählungen, Antithejen u. dgl. 
mit jchmeidiger Gewandtheit. Aus dem Ganzen fpricht der fittlihe Ernſt 
eines gotthegeiiterten Priefters, der von der Welt nichts zu hoffen und nichts 
zu fürdten hat, und darum die Mächtigen der Erde wie den von jeinem 
Ziele abgewichenen Klerus im Geifte der Propheten an ihre Pflicht zu 
mahnen wagt?. 

Durch die heidniſchen Angelfachjen, welche die bereits chriſtlichen Briten 
im Kampfe gegen die Pilten und Skoten zu Hilfe gerufen, wurden die 
Briten jelbft in den Weiten, nad Wales und Cornwallis zurüdgedrängt, 
und wo fie nicht zurüdwichen, überwunden und al3 Sklaven behandelt. 


! Migne, Patr. lat. LXIX 367 368 (bi Mommſen a. a. D. 62). 
® Migne a.a. ©. LXIX 8329. — Ebert, Gejhicdhte ber Literatur des Mittel: 
alters I 565. 


Die Flucht der lateiniſchen Bildung nah ben britiſchen Inſeln. 273 


Die britiſche Geiftlichkeit, welche fich für die Belehrung der Angelſachſen nicht 
rührte, fiel felbit jener Entartung anheim, welche Gildas befämpfte, und fo 
mußte der Süden und Often der Inſel, das eigentliche England, ein zweites 
Mal für das Ehriftentum und die hriftlich-Tateinifche Bildung erobert werden. 

Diefe zweite friedliche Eroberung vollzog fih unmittelbar von Rom 
aus. Angeregt durch die Schönheit angeljähliiher Sklaven, weldhe auf dem 
Markte zum Berfauf ausgeboten wurden, entjandte Papſt Gregor d. Gr. 
im Jahre 596 den. Hl. Auguftin an der Spige von vierzig Mönchen nad) 
England, um den Angeljahjen das Evangelium zu predigen. Das große 
Werk gelang mit wunderbarer Schnelligkeit. Schon an Pfingften 597 Eonnte 
Auguftin den König Ethelbert von Kent mit 10000 jeiner Untertanen 
taufen. Im Jahre 604 wurde Effer Hriltlih, 631 Oftanglien, 634 Weiler, 
635 Mercia und 678 Suſſex. Mit der Belehrung brad für Land und 
Volk eine der glüdlihften und glanzvollften Zeiten an. 

Bon dem reichen Liederſchatz des poetischen Volkes haben fi das 
„Beowulfslied“, die „Schlacht bei Finsbury“ und zwei Brucjftüde des 
„Waldere” ! im die hriftlihe Epoche hinübergerettet, melde alsbald eine 
chriſtlich- angelſächſiſche Poeſie ſchuf — die herrliche Erftlingsblüte der 
Dichtung unter den germaniſchen Völkern. Das Angelſächſiſche ward natür- 
lich aud die Sprache der Predigt und des religiöfen Unterrichts für das 
Volk. Wie bei den Weftgoten und Franken blieb das Lateinische auch hier 
die Sprache der Kirche, des Gottesdienftes, der Wiſſenſchaft, der höheren 
Bildung. Den erften Glaubensboten, welche den hi. Auguftinus begleitet 
und mit dem gregorianischen Chorgefang auch die Pflege der kirchlich— 
lateiniſchen Dichtung über den Kanal gebradt Hatten, folgten noch viele 
andere Vertreter der bisherigen abendländiihen Bildung. Im 7. Jahr: 
hundert beftieg jogar ein Mönd aus Tharſus, Theodor, der gleich feinem 
Begleiter Hadrian, einem Afrikaner, völlig mit dem Griechiſchen vertraut 
war, den Erzſtuhl von Ganterbury. Sie bildeten eine ganze Anzahl von 
Mönden in der Kenntnis diefer Sprade heran. Zahlreiche angelſächſiſche 
Mönde und Geiftlihe, nicht minder wanderluftig als die keltiſchen, zogen 
nah dem Frankenland und über die Alpen, um fi weiter in den kirch— 
lien und profanen Wiſſenſchaften auszubilden. Eine Menge Bücher wurden 
aus den romaniſchen Ländern in England eingeführt, füllten die Biblio- 
thefen der dortigen Klöſter und wurden mit Eifer vervielfältigt, gelefen und 
fommentiett. Es konnte nicht ausbleiben, daß nun aud England feine 
jelbftändigen lateiniſchen Schriftiteller erhielt. Die zwei bedeutendften find 
der hi. Aldhelm und Beda der Ehrwürdige, jener vorwiegend Dichter, dieſer 
Geihichtihreiber und Polyhiſtor. 


ı DB. ten Brink, Gefhihte der englifhen Literatur I, Berlin 1877, 30 -40. 
Baumgartner, Weltliteratur. IV. 8. u. 4, Aufl. 18 


274 Viertes Kapitel. 


Der HI. Aldhelm (geb. um 650) ftammte aus dem Königshaufe 
von Wefjer, lernte bei dem Abte Hadrian in Kent Latein und Griechiſch, 
begründete mit dem jchottiihen Einfiedler Maildulf das Kloſter Malmes— 
bury (etwa 40 engliſche Meilen meftlih von Orford), hob dasjelbe als 
Abt aus unſcheinbaren Anfängen zu glänzendfter Entfaltung und bejuchte 
690 Rom auf bejondere Einladung des Papftes Sergius; als 705 das 
Bistum Sherborne (jpäter nah Salisbury transferiert) von dem Bistum 
Weiler abgezweigt wurde, erhielt er als erfter Biſchof den neuen Biſchofs— 
fig, blieb aber zugleih aud Abt von Malmesburyg. Er ftarb bald darauf 
(709); Malmesbury blieb indes bis ins jpäte Mittelalter hinein ein Haupt: 
fig gelehrter Studien und höherer Bildung. Wie die Briefe und Aktenftüde 
des ehrwürdigen Abtes ausweilen, war derjelbe in erfter Linie ein eifriger 
Asket und treffliher Organijator!. Ein kurzer Traltat „über die Sieben: 
zahl, die Versmaße, die Rätſel und die Proſodie“ läßt ihn aber aud als 
Gelehrten und eifrigen Schulmann erfennen, der feine Bildung bon den 
Elementen auf weiter auszubreiten beftrebt war?, 

Die Schrift ift an den König Aldfrid von Northumberland (ad 
regem Acircium) gerichtet, feinen „geiftlihen Sohn“, als freundliches 
Erinnerungzeihen, zugleih aber aud mit der Bitte um Schub gegen bös- 
artige Neider und Schwäßer und um Anerkennung jeiner mühjamen Arbeit. 
Diefe Gegengabe glaubt er um jo eher beanfpruchen zu dürfen, „als feft- 
fteht, dab dor unjerer geringen Perfon nod feiner, aus unjerem Stamme 
hervorgegangen und in der Wiege des germanischen Volkes aufgezogen, ſich 
auf diefem Gebiete jo jehr betätigt? und felbftändige Erzeugniffe nad) den 
Regeln der metriſchen Kunſt in literarijchem Text herausgegeben hat, zumal 
feiner, der mitten im lärmenden Getöfe jo vieler weltlichen Geſchäfte ftand 
und dabei noch von kirchlicher Hirtenforge niedergedrüdt wurde, durch welche 
ein furdtiames und ängftlihes Gemüt wie dur die drüdendften Bande 
eingefhnürt zu werden pflegt“. Er redet dem König jehr zu Herzen, 
menigftens die geringe Mühe auf ſich zu nehmen, das Buch zu lejen, nach— 
dem er die tweit größere nicht geſcheut, es zu ſchreiben. Er hält ihm dabei 
das Beifpiel des Kaiſers Theodofius vor, der es, mitten in den Sorgen für 
fein Weltreich, nicht gejcheut Habe, die 18 Bände Priscians abzuſchreiben 
und jo als Schreiber jein tägliches Brot zu verdienen. 


1 Acta SS. Bolland. Mai. VI 79. — Montalembert, Les moines d’Oc- 
eident V, Paris 1867, 26—52; beutih von 8. Brandes V, Regensburg 1868, 
28-54. 

2 Seine Werke herausgeg. von A. Mai (Classici Seriptores V [1833] 501 f); 
% U. Giles, Orforb 1844; banad bei Migne, Patr. lat. LXXXIX 63—314). 

® Quantum constat neminem nostrae stirpis prosapia genitum, et Germanicae 
gentis cunabulis confotum, in huiuscemodi negotio ante nostram mediocritatem 
tantopere desudasse etc. (Migne a. a. ©. LXXXIX 236). 


Die Flucht der lateiniihen Bildung nah den britifchen Injeln. 275 


In der Einleitung (De septenario) verfolgt Aldhelm die heilige 
Siebenzahl durch alle Reihe und Beziehungen der fihtbaren und unficht- 
baren Welt, eine Zahlenjpielerei, wie fie ſchon die älteren Kirchenväter 
fiebten und welcher das ganze Mittelalter treu geblieben ift, welche ala 
mnemoniſches Hilfsmittel auch nicht ganz unpraktiſch fein mochte, noch halb— 
rohen Neubetehrten die hauptſächlichſten Glaubenslehren in Erinnerung zu 
bringen. Den Kern der Schrift bildet aber eine gedrängte Metrit und 
Projodif!, zwiſchen welchen als praktiſcher Leſe- und Übungsftoff eine Samm— 
lung von Hundert Rätjeln eingeichoben ift?, 

Anregung und Mufter fand Aldhelm in den hundert Rätjeln des Sym— 
phofius (jpäter Sympofius gejchrieben), den einige ins 4. oder 5., andere 
ihon ins 2. oder 3. Jahrhundert verfegen, und der kaum Ghrift geweſen 
zu fein jcheint. Die Rätjel des Symphofius zählen jeweils nur drei Verſe. 
Aldhelm ahmte dies nicht nad, ſondern dehnte jeine Rätjel von vier bis zu 
ſechzehn und mehr Berjen aus, jo dab fie zum Zeil, wie die Rätſel 
Schillers, ihren epigrammatiihen Charakter einbüßen und zu bejchreibenden 
Gedihthen auswachſen. Die Stoffe find vorzugsweile dem Naturleben 
entnommen. 


So bie tetraftihiichen Rätjel: 1. Die Erde. 2. Der Wind. 3, Die Wolke, 
4. Die Natur. 5. Der Regenbogen. 6. Der Mond. 7. Fatum und Schöpfung. 
8. Das Salz. 9. Die Sonnenwende. 10. Die Zwillingsmutter. 11. Der Diamant. 
12. Der Jagdhund (Molossus). 13. Der Blajebalg. 14. Die Spinnen. 15. Die 
Orgel. 16. Der Pfau. 17. Der Salamander. 18. Der Zintenfifh. 19. Die Muſchel. 

Die pentaftihifhen: 1. Die Plejaden. 2. Der Ameijenlöwe. 3. Die Biene. 
4. Die Feile. 5. Die Nachtigall. 6. Die Wage. 7. Die Wafferfchlange. 8. Der 
Magnet. 9. Der Hahn. 10. Der Probierftein. 11. Der Mlinotaurus. 12, Der 
Topf. 13. Das Taufendblatt. 14. Der Bücherſchrank. 15. Die Neflel. 


Dann und wann taucht auch ein Gegenjtand aus dem Alltagsleben, 
aus der Mythologie auf; man denkt unmwilllürlih an eine Lejefibel oder 
einen Orbis pietus. Für ein erftes Leſebuch ift die Auswahl vorzüglich 
getroffen, da der vorhandene Wortihat ein überaus reihhaltiger ift und 





ı Neben Berjen des Vergilius, Ovidius, Lucanus, Juvenalis und Perfius 
werden Verje aus Ambrofius, Juvencus, Arator, Profper, Sebulius u. a. angeführt 
als Belege, und jelbit proſaiſche Schriftfteller wie Gicero, der ältere Plinius, Seneca, 
Solinus u. a. zitiert. So erſcheint das Ganze als eine für die Zwecke bes höheren 
Unterrihts beitimmte Schrift, welche ein vorteilhaftes Zeugnis abgibt für die Pflege 
der lateiniſchen Poefie in England zu jener Zeit, und die Bemühungen, biefelbe zu 
erhalten und zu fördern" (Bähr, Geihichte der römischen Literatur IV ?, Karls» 
ruhe 1872, 1, 171). 

? (Juamobrem nostrae exereitationis sollicitudo ... . decies denas, id est 
centenas quinas aenigmatum propositiones componere nitebatur, et velut in 
quodam gymnasio, prima ingenioli rudimenta exercitare cupiens etc. (Migne 
a. a. DO. LXXXIX 170). 

18* 


276 Viertes Kapitel. 


die anmutigen Rätjel, gleih forgfältigen Miniaturbildchen, das Gedächtnis 
unterftügen. Der gelehrte Mönch fpielt mit dem Latein wie mit feiner 
angeljähfiihen Mutterſprache; er weiß alles darin auszudrüden und den 
Schüler zu feſſeln. Ein prädtiges Gejamtbild der Schöpfung leitet am 
Schluß ins religiöje Gebiet über. 

So laffen uns die artigen Gedichtchen, in welchen ſich nicht nur ge— 
mütliches Naturgefühl und mannigfaltiges Willen, fondern auch poetiſcher 
Geift zeigt, einen Blid in das Treiben der damaligen Klofterfchule werfen 
und erflären uns einigermaßen die hohe Bildung und das wiſſenſchaftliche 
Streben, da3 zwei Jahrhunderte fpäter in König Alfred dem Großen jo 
leuchtend herbortritt. 

Noch formgewandter als in feinen Rätfeln zeigt fi Aldhelm in feinem 
größeren Gedichte „Vom Lobe der Jungfrauen“ (De laudibus virginum)!, 
der metrifchen Bearbeitung einer Lobrede in Proja? über denjelben Gegen- 
ftand. Wie Gregor don Nazianz wird auch er denjenigen gerecht, welche 
in unentweihter Ehe leben oder, nachdem fie Gott in diefem Stande ge: 
dient, der Welt entjagen, preift dann aber, gemäß der Lehre der Kirche, 
jenes Leben als das glüdlichfte, welches in völliger Enthaltjamteit ganz 
demjenigen der Engel ähnlich zu werden ſucht. Nach einem begeifterten 
allgemeinen Lobeshymnus auf die Jungfräulichkeit geht das Gediht dann 
mehr ins Epifche über, indem es in einer Doppelreihfe von Männern und 
Frauen die ſchönſten Bilder der Jungfräulichkeit aufführt: hier Elias, Henoch, 
Eliſäus, Jeremias, Daniel, die drei Jünglinge im Feuerofen, Johannes den 
Täufer, Johannes den Evangeliften, den Völferapoftel Paulus, Lukas, die 
Väpfte Klemens und Sylveſter, Ambrofius und Martin von Tours, Gregor 
von Nazianz und Balilius, die Einftedler Antonius, Paulus, Hilarion und 
Johannes, Benedilt von Nurfia, Gervafius und Protafius, Narciffus, Atha- 
nafius, Babylad, Kosmas und Damian, Chryſanthus und Daria, Julian, 
die Ägypter Amos und Apollonius und endlich den hl. Hieronymus, 

qui fuit interpres et custos virgo pudoris, 
Hebraea Romanis vertens oracula verbis; 


dort die allerjeligfte Jungfrau Maria und ihr glänzendes Gefolge: Cäcilia, 
Agatha, Lucia, Juſtina, Eugenia, Agnes, Thella, Eulalia, Scholaftita, 
Konftantina, Euftohium, Demetriad, Anaftafia, Rufina, Anatolia und 
Viktoria. Im zweiten Teil, welchen man jpäter irrigerweije für ein jelb- 
ftändiges Gedicht, De octo principalibus vitüs, nahm, entwidelt Aldhelm 
dann, daß die Jungfräulichkeit nicht beftehen Fönne, wenn die Jungfrau 


ı 2904 Herameter (Migne, Patr. lat. LXXXIX 257—290). — R. Ehmwalb, 
Aldhelms Gedicht De virginitate, Gotha 1904. 
® Migne.a.a. DO. LXXXIX 108—162. 


Die Flut der lateiniſchen Bildung nad ben britifchen Inſeln. 277 


nicht auch Heldenmütig den Kampf gegen die verjchiedenen Hauptlafter führe, 
die, wie in der Pſychomachie des Prudentius, als feindliche Feldherren ge— 
dacht find. Zum Schluffe empfiehlt er den Heiligen nicht bloß feine inneren 
Seelenangelegenheiten, jondern ruft fie auch gegen die böswilligen Kritiker 
zu Hilfe, denen an der Verbolllommnung feiner Berje nichts gelegen ift, die 
aber wie zottige Böde an allem herumzupfen: 


Nec tamen emendant titubantis gramma poetae, 
Sed semper cupiunt scriptorum carpere chartas, 
Ut caper hirsutus rodit cum dente racemos. 


Wie es jcheint, Haben die „zottigen Böcke“ jelbft nichts geleiftet ; 
wenigftens ift nicht3 don ihnen befannt. Aldhelms Gedicht aber gelangte 
zu großem Anjehen und behielt dasfelbe geraume Zeit. Zu feiner Eigen- 
art gehört es, daß er gerne in griechiichen Wörtern jeine Kenntnis dieſer 
Sprache verrät, anderſeits als gewandter Dichter in angeljähfiiher Sprache 
auch im Lateinischen Häufig fih der Allitteration bedient. Projodie und 
Metrik laffen tro feines theoretiihen Eifers zu wünſchen übrig. 

In Herametern bejang er ebenfall3 eine von der Prinzeffin Bugge 
erbaute Kirche im allgemeinen und dann die einzelnen, der Gottesmutter 
und den Apoſteln geweihten Altäre. Er verjuchte fi aber auch in acht— 
filbigen rhythmiſchen Verſen, die zwar nicht zu Strophen gegliedert find, 
aber faft immer reimen, und zwar jo, daß fi der Reim mitunter auf bier 
bis fünf Verſe erftredt — im Grunde aljo eine Art Snittelverje, die in 
größerer Zahl ſehr eintönig lauten. In zweihundert jolchen Verjen ſchildert 
Aldhelm launig die Rückkehr von einem Beſuche in Cornwallis, unter einem 
gräßlichen Regenfturm, der das Haus zerftörte, in welchem er zuerft Zuflucht 
geſucht, aus welchem er aber noch glüdlih vor deſſen Fall wieder entrann. 
Ein anderes derartiges Gedicht befchreibt eine Pilgerfahtt nah Rom; ein 
drittes ift eim Gebet, ein viertes ein Lobgedicht auf König Aethelwold. 

Die angelfähfiichen Gedichte Aldhelms find leider verloren. Dod wird 
berichtet, daß dieſelben fich großer Volfstümlichkeit erfreuten. Die Pflege 
des Lateinischen war aljo durdaus fein Hindernis für die Nationalliteratur, 
vielmehr ift fie ald ein Gewinn für diefe zu betrachten. Dies gilt gleicher— 
maßen von Aldhelms berühmterem Zeitgenoffen Beda. 

Wie Malmesburyg im füdlihen England, jo ward aud das Slofter 
Wearmouth (d. h. an der Mündung des Wear) in Northumbrien, unfern 
von Durham, eine Pflegeftätte höherer Bildung, welche nicht nur für Nord» 
england, fondern für das gejamte Europa Bedeutung erlangen follte. Der 
Gründer desjelben, Biscop, mit dem Beinamen Benediltus, war aus vor: 
nehmem Gejchleht, Beamter des Königs Oswin und reihbegütert, vertaufchte 
aber jhon mit fünfundzwanzig Jahren die weltliche Laufbahn mit der geift: 
lien, machte eine Wallfahrt nad) Rom und predigte dann in feiner Heimat, 


278 Vierte Kapitel. 


bejuchte auf einer zweiten Romfahrt das Kloſier Lerin und machte fi da— 
jelbft in zweijährigem Aufenthalt vollftändig mit dem Mönchsleben vertraut, 
fam abermal3 nach Rom und begleitete von dort den griechiſchen Mönch 
Theodor, der Erzbiihof von Canterbury werden jollte, und den Abt Hadrian 
nah England und übernahm jelbft für einige Zeit die Leitung des Petrus: 
Hofterd zu Canterbury, worin ihm Hadrian als Abt folgte. Darauf zog 
er nohmald nah Rom und gründete dann das Kloſter Wearmouth, dem 
er jechzehn Jahre bis zu feinem Tode (690) vorftand. Zum Bau der 
Kirche holte er fachkundige Werkleute aus Gallien herbei, beſchaffte auch 
Glasmaler und den reichſten Kirchenſchmuck. Nicht weniger als fünfmal 
in feinem Leben beſuchte er Rom und brachte jedesmal die reichiten Bücher— 
Ihäße aus allen Zweigen der Literatur mit!, koſtbare Reliquien, tüchtige 
Sangesmeifter, reihlihe Privilegien und die ſchönſten kirchlichen Kunft- 
gegenflände der verjchiedenften Art. Was nur die Klöſter Italiens und 
Galliens bis dahin an Literatur und Kunſt aufzumweifen hatten, das ward 
gleihjam Hoch oben im Norden, an der fchottiihen Grenze, geborgen und 
blühte hier in neuem Flore auf ?. 

Auf dem anjehnlichen Gebiete, das König Echert dem Stlofter vergabte, 
wurde ſchon dor defjen Gründung (674) der Mann geboren, der ihm Welt: 
ruf verleihen follte: Beda der Ehrmwürdige?. Bereits im Alter von 
fieben Jahren wurde er den Mönden zur Erziehung übergeben, mit neun: 
zehn Jahren empfing er die Diafonatsweihe, mit dreißig ward er Priefter 
und zugleich Lehrer an der Schule, der er fein ganzes Willen verdankte 
und an der er fi, immer weiter forichend, in unermübdlichem Fleiße zum 
größten Gelehrten jeiner Zeit meiterbildete!. Das Klofter war und blieb 





' Innumerabilem librorum omnis generis copiam apportavit (Beda, Vita 
SS. Abbat, Monasterii in Wiramutha; Migne, Patr. lat. XCIV 717). 

® Auch fein Nachfolger Geolfrid reifte wiederholt nah Rom und bradte von 
ba neue Bücherſchätze nah Haufe, unter andern eine Bibel mit dem Text bes 
bl. Hieronymus. Bon dieſer lieh er drei koftbare Abfchriften anfertigen, eine für 
Mearmouth, eine für Darrow, die dritte nahm er mit nad Rom, um fie als Weihe: 
gabe an der Confessio des hl. Petrus niederzulegen. Da er unterwegs ftarb, brachten 
feine Gefährten die Bibelhandihrift nah Nom. Es ift Dies bie noch erhaltene 
Biblia Amiatina, die fi gegenwärtig in der Laurentianiihen Bibliothek zu Florenz 
befindet, der ältefte vollſtändige Lateinifche VBibelcoder, die Hauptgrundlage des neuen 
Bulgatatertes. — Bol. 3. Hilgers, Bibliothek und Archiv der römifchen Kirche 
im 1. Nabrtaufend, in Stimmen aus Maria-Laach LVII (1899) 410-412. 

_K.Merner, Beda der Ehrwürbige und feine Zeit, Wien 1875. — Monta- 
lembert, Les moines d’Oceident V, Paris 1868, 60—105 ; deutſch von H. Brandes 
V, Regensburg 1868, 63—108. 

* Bgl. feine Charakteriftif durch Alkuin (Versus de Sanctis Euboricensis 
Ecclesiae ®. 1287—1324), bei Dümmler (Poetae Latini aevi Carolini I, pars I 
198), Berlin 1880. 


Die Flucht der lateiniſchen Bildung nad ben britifhen Inſeln. 279 


jeine Welt bis zu feinem Tode (735); aber die reichen wiſſenſchaftlichen 
Mittel, welche es bot, machten es ihm möglich, nächſt Iſidor von Sevilla 
der einflußreichfte Lehrer des gefamten Mittelalters zu werden. 

Wie Iſidor, hat auch Beda das ganze Trivium und Quadrivium, 
d. h. die ganze ihm zugängliche profane Gelehrſamkeit ala Grundlage und 
Hilfsmittel zum Studium der Theologie und dann dieje jelbft in umfaſſendſter 
Weiſe durdgearbeitet, doch nicht in weitem enchklopädiſchen Rahmen, jondern 
in gelonderten Einzeljchriften. Aus jeinen grammatiſchen und literariſchen 
Studien find Abhandlungen über Rechtſchreibung und Metrif, ein Bud 
Hymnen und ein Buch Epigramme hervorgegangen, aus feinen naturwiflen- 
ihaftlihen Studien eine allgemeine Kosmographie und Geographie unter 
dem Zitel De natura rerum, aus jeiner prieiterfihen Tätigkeit das durch 
jeine jhlihte Einfachheit und Salbung jo anjpredende Homilienbud, eine 
Lieblingsichrift des Mittelalters, aus feinen theologiſchen Forſchungen Kom: 
mentare zu falt allen Büchern der Heiligen Schrift ſowie wertvolle Mono: 
graphien über einzelne bibliiche Fragen und Stellen. Er war recht eigent: 
li der erfte, der die Schriftauslegung nad Art und Weile der griechifchen 
und römischen Kirchenväter unter die germanijchen Völker verpflanzte, umd 
bildet fo den Übergang zur mittelalterlihen Theologie. Es fehlt ihm weder 
die ſcholaſtiſche Schärfe in Behandlung ſpekulativer Fragen noch auch die 
Luft an allegoriſch-myſtiſcher Deutung der Schrift, welche mehr oder weniger 
das Mittelalter beherrſcht; der eigentliche Grundzug feines Genius geht ent- 
ſchieden zum Hiſtoriſchen, und als Gejchichtjchreiber ift er auch jenen der 
„Ehrwürdige“ geblieben, welche jeine religiöjen Verdienfte nicht zu ſchätzen 
wiſſen. Seine hiltoriichen Arbeiten erftreden fi von dem engften häuslichen 
Kreife bis am die Peripherie der allgemeinen Weltepochen. In beiwunderns- 
werter Einfachheit und Klarheit, mit jener nüchternen, jeder Überſchwenglich⸗ 
keit abholden Frömmigkeit, wie fie dem germaniſchen Geiſte am meiſten 
zuſagt, hat er die Hausgeſchichte ſeines Kloſters geſchrieben. Ganz in der— 
ſelben Art iſt feine engliſche Kirchengeſchichte (Historia ecclesiastica gentis 
Britonum), von den erſten Anfängen bis zum Jahre 731, gehalten, das 
älteſte und ehrwürdigſte Werk germaniſcher Hiſtoriographie. Durchaus nicht 
als Gegenſatz zu dieſer Richtung iſt das Leben des hl. Cuthbert, Biſchofs 
von Lindisfarn, zu betrachten, das Beda ſowohl in Verſen als in Proſa 
geſchrieben hat, wenn auch hier das Wunderbare eine größere Rolle ſpielt 
und Beda ſelbſt dem Heiligen die Befreiung von einem ſchweren Zungen— 
leiden zuſchreibt. Im Gegenteil mahnt das beſonnene, redliche Weſen des 
emſigen Forſchers, ſein Zeugnis nicht nach rationaliſtiſchen Vorurteilen ab— 
zumeſſen. Denn niemand wird den realiſtiſchen Wiſſenstrieb eines modernen 
Forſchers in dem angelſächſiſchen Mönche verkennen können, der, vom kirch— 
lichen und klöſterlichen Feſtkalender ausgehend, ſich nicht nur um das all— 


280 Viertes Kapitel. 


gemeine und angeljähiiihe Martyrologium verdient machte, jondern die da= 
mal3 noch vielumftrittene Ofterberehnung zum Ausgangspunft für allgemein 
wiſſenſchaftliche Chronologie nahm, jelbftändig die umfafjendften Unterfuchungen 
darüber anjtellte und Hinmieder durch chronologiſche Zeittafeln, Gruppierung 
der Weltperioden die Weltgeihichte vom allgemeinften Stanbpunft aus zu 
fördern ſuchte!. 

Inwieweit Beda auch poetiſch veranlagt war, läßt ſich nicht apodiktiſch 
aburteilen, da feine angeljähfiichen Gedichte verloren ?, jeine lateinischen nur 
zum Teil erhalten find®, Jedenfalls war er mehr Gelehrter als Dichter. 
Dabei trug die Behandlung desjelben Stoffes in Profa und Berjen dazu 
bei, dab der Unterſchied zwiſchen beiden lediglich äußerlih und techniſch auf: 
gefabt wurde, der innere, wejentliche Unterſchied fi mehr und mehr ver— 
wiſchte. So hat aud Beda den hl. Euthbert ſowohl in Proja als in Berjen 
(976 Herameter) * verherrliht. In Bezug auf Projodie und Sprade find 
jeine Verſe durchweg beffer als diejenigen Aldhelms. Auf eine epiſche Einheit 
zielt das Gedicht nicht hin: der Dichter will lediglich feinen Heiligen ver— 
derrlihen und rüdt darum die Wunder in den Vordergrund, welde ihn 
duch alle Lebensſtufen begleiten. Dabei fehlen aber doch auch nicht die 
irdiſchen, realiftiihen Züge, und mit Glüd ift dabei die poetijche Seite auf: 
gegriffen und verwertet. Das freundichaftliche Verhältnis des Heiligen zu 
den Zieren und zur leblojen Natur ift nicht erft ein Zug der Franziskaner— 
fegende; mir treffen ihn ſchon hier bei Euthbert, verbunden mit dem ans 
ziehenden Kulturbild des Mönches, der jelbft feine der beitellt und den 
Urwald lite. So erzählt Beda von ihm gar gemütlich): 

Da mit eigenem Arm er wollte die Seinen ernähren, 

Grübt den Boden er um, den braden, mit emfigem Spaten, 
In den bezwungenen Grund ftreut er die Hoffnung des Jahres. 
Spärli die Ausfaat war, doch reichlich ſproßte bie Saat auf. 


Als zur Ernte es Zeit, da kamen diebijche Vögel, 
Fraßen dem Greife hinweg die golden ftrahlenden Ähren. 


Sanft und ruhig indes ſprach er zu den graufamen Räubern: 
„Wie gegen Recht und Fug wagt ihr meine Ernte zu plündern, 
Die ihr die Furche nicht zogt im Felde mit euerer Arbeit? 
Seid ihr ärmer als ich, ich bitt' euch, dab ihr die Sichel 
! Ausgaben feiner fämtlihen Werke: Paris 1521 1544 1554; Baſel 1563; 
Köln 1601 1612 1688; Cambridge 1722 1777; neuere Ausgaben von J. A. Giles, 
Zonbon 1843; Migne, Patr. lat. XC—XCV. — Die hiſtoriſchen Werke herausgeg. 
von J. Stevenfon, London 1841; R. Huſſey, Orford 1846. — C. Plummer, 
Bedae Ven. hist. ecel. gen. Anglor. I, Oxf. 1896, 
? Mit Ausnahme von ein paar Zeilen, die er auf feinem Sterbelager bichtete, 
Bei Zupitza, Alt: und Mittelenglifches Übungsbud (1882) 2. 
® Migne, Patr,. lat. XCIV 575—638. * Ebd. XCIV 575—596, 


Die Flucht der lateinifchen Bildung nad den britiſchen Infeln. 281 


Schwingen bürftet vielleiht in biefem golbnen Meere? 
Wäre es, ba euch Gott zu rauben bier hätte verftattet, 
Wohl, dann wehr' ich es nicht; jonft weichet auf eure Grenzen.” 


Sprach's. Die geflügelte Schar wich gleich und wagte nicht fürber 
Anzutaften das Recht, das dem Kämpfer Gottes zu teil warb, 
Vielmehr Lebte fortan fie mit ihm in frieblidem Bündnis 

Und erwibderte treu die Lieb’, die den Ihren er fchenfte. 

Denn er warb ihnen hold, wie zarten Lämmern ber Hirte!. 


Weniger poetiiden Sinn verrät es wohl, wenn Beda au alle Zahlen 
und Zahlverhältniffe des Kirchenkalenders in Herameter gebracht hat. Doc 
bricht auch Hier ein finniges Naturgefühl und wirklich poetifche Stimmung 
fih gelegentlih Bahn, wie in der folgenden Zeichnung der vier Jahreszeiten. 


Frühling heißt der Beginn des Yahrs, ber Beginn dann der Welt aud). 
Samen von jeglicher Art läht num erſprießen ber Frühling, 

Kleidet mit Blättern den Baum und ſchmückt mit Blumen bie Erbe; 
Fröhlich fhwillet am Zweig ber knoſpenden Rebe das Auge. 

Fröhlich grafet das Vieh und fucht fi fpielend zur Paarung. 

Alſo befahl es ber Herr, ber Schöpfer, zu unferem Dienite. 

Dienen möge dafür dem Schöpfer voll Liebe der Knecht auch, 

Deifen auf ewigen Au'n noch harren die himmliſchen Gaben. 


Mächtig erreget das Volk, zum Kriege hept es ber Sommer. 

Daß er werde gedämpft, wir ruhig bes Friedens genießen, 

Freier und ungeftört bem Dienfte Gottes uns wibmen, 

Das erflehet zum Wohl der Kinder emfig die Kirche. 

Doh auch die Wollen verjcheucht, die Welt erheitert der Sommer, 
Schneibet das Gras und erntet das Korn und füllet die Scheunen; 
Dafür dürfen wir Gott benn auch aufs herzlichfte danken, 


Siehe, die Hügel umkränzt der Herbft mit Tieblihen Trauben, 
Freundlich zu jhauen dem Blick, noch füher dem Gaumen zu foften, 
Unter ber Kelter eniftrömt den Beeren ber labende Tropfen. 
Früchte au fammelt der Herbft und legt fie in Zellen zufammen, 
Früchte, ber Erbe entftammt, doch auf des Schöpfers Befehle. 

Sie, die nit an Gott, noch des fünftigen Lebens gedenken, 

Die kein Hoffen erhebt Hoch über bie fliehenden Wollen, 

Mögen mit üppigem Schmaus die Därme praffend ſich füllen, 
Und als höchſtes Gefchent Die Freude der Tafel betrachten; 
Ehriften dagegen geziemt’s, ein beſcheidenes Mahl nur zu halten, 
Aber in frommem Gebet und langanhaltendem Flehen 

Sich demütig empor zu dem himmlischen Vater zu wenden, 

Daß uns bie Speife nicht Lohn, nur Labſal bes Wanderers werde, 
Daß er jpende uns hier, was wir zum Leben bebürfen, 

Aber im Himmel uns erjt die völlige Wonne gewähre. 


' Cap. 18 (Migne a. a. DO. XCIV 584). 


282 Biertes Kapitel. 


Winter wird es zulegt; vom Froſte ftarret die Erbe, 

Don den Früdten erichöpft, noch nicht zum Graben geeignet. 
Ruhmlos trauert die Flur, ber Blumen Pradt ift entſchwunden. 
Fröſtelnd ladet uns jet ber Winter zum gaftlidhen Feuer, 
Lodt uns, träge die Zeit in Luft und Schmaus zu verprafien. 
Da muß wieder Gebet, Maßhalten, heiliges Faſten 

Zügeln ber Lodung Gewalt und bes Leibes niebre Begierden!. 


Von dem poetiichen Geifte Bedas und feiner Liebe zur Poefie zeugt 
auch fein Bericht über den angelſächſiſchen Dichter Kädmon im vierten Buch 
feiner Kirchengeſchichte?. 


„Im Kloſter diefer Abtiffin (Hilda) war ein durch göttliche Gnadenerweiſe be 
fonders ausgezeichneter Bruder, der treffliche religiöfe und Fromme Gedichte zu machen 
pflegte; was er aus den göttlichen Schriften durch Dolmetſcher lernte, das gab er 
bald in poetifhen Worten, in anmutiger und ergreifender Weiſe in feiner, b. b. ber 
angeljähfiihen Sprade wieder. Durch feine Gedichte wurden oftmals viele mit Ber- 
achtung der Welt und mit Verlangen nad dem himmliſchen Leben erfüllt. Auch 
andere aus dem Volke der Angelſachſen haben nad ihm religiöfe Gedichte zu machen 
verſucht; aber feiner iſt ihm barin gleihgefommen. Denn er hat nit von Menſchen 
ober durch menſchlichen Unterricht die Sangeskunft erlernt, jondern durch göttlichen 
Beiftand hat er mühelos die Gabe bes Liedes empfangen. Er lonnte darum nie ein 
leichtfertiges ober überflüffiges Gedicht verfaffen, fondern feiner Zunge ftand nur 
das an, was fi auf das Religiöfe bezog. Bis im ein ziemlich vorgerücktes Alter 
war er in ber Welt geblieben und hatte nie fingen gelernt. Wenn darum bei einem 
Gaftmahl zur Erhöhung ber Freude ber Neihe nad jeder fingen mußte und bie 
Zither bald an ihn fam, erhob er fi mitten von der Mahlzeit, ging hinaus und 
begab fi nad Haufe. 

„Als er dies wieder einmal tat und aus der Speifehalle zu ben Biehftällen 
gegangen war, beren Sorge ihm für jene Nacht übergeben war, und als er ba zur 
geeigneten Stunde fih dem Schlafe überlaffen hatte, ſtand plöglid einer im Traume 
vor ihm, grüßte ihn und rief ihn bei feinem Namen: ‚Käbmon, finge mir etwas.‘ 
Jener aber antwortete: ‚Ih kann nicht fingen; gerade beshalb bin id von bem 
Gaftmahl weggegangen, weil ih nicht fingen fann.‘ Da fprad der andere, ber ihn 
angerebet hatte: ‚Und do, bu mußt mir fingen‘ ‚Mas foll ich fingen?‘ ſprach 
jener. ‚Singe mir‘, erwiderte biejer, ‚den Anbeginn ber Schöpfung.‘ Auf dieſe 
Antwort fing jener jofort zum Lobe Gottes bes Schöpfers Verſe zu fingen an, bie 
er niemals gehört hatte und deren Sinn biefer ift: ‚Nun follen wir loben den Ur— 
heber des himmlischen Reiches, die Macht des Schöpfers und feinen Rat, die Zaten 
des Glorienvaters, wie er, der ewige Gott, aller Wunder Urheber ift, der zuerft den 
Menichentindern den Himmel zum Dache gab; darauf ſchuf der Fürft des Menfchen- 
geichlechts, der Allmächtige Die Erde.‘ Das ift der Sinn, aber nit die Reihenfolge 
der Worte, die er im Schlummer fang; denn aud bie beftangelegten Gedidhte können 
ohne Einbuße ihrer Schönheit nicht wörtlich in eine andere Sprache überjekt werden. 








’ Hymnus II. De celebritate quattuor temporum- (Migne, Patr. lat. 
XCIV 608). 
® Histor. Ecel. 1. 4, ec. 24 (Migne a. a. ©. XCV 212-215). 


Die Flucht der Tateinifhen Bildung nad den britifhen Inſeln. 283 


Bom Schlafe aber erwacht, behielt er alles, was er ſchlummernd gefungen, im Ge- 
dächtnis und fügte bemfelben in gleicher Art noch viele Worte zu einem gottes- 
würdigen Gedichte hinzu. 

„Am Morgen fam er zu dem Verwalter, ber ihm vorftand, erzählte ihm von 
ber Gabe, bie ihm zu teil geworben, warb zu ber Abtiffin geführt und erhielt von 
ihr den Befehl, in Gegenwart vieler gelehrien Männer feinen Traum zu erzählen 
und das Gebicht herzufagen, damit durch das Urteil aller geprüft würbe, was und 
woher das wäre, was er erzählte. Und es erichien allen, e8 jei ihm vom Herrn eine 
bimmliihe Gnade verliehen worden. Und fie legten ihm einen längeren Abſchnitt 
aus der heiligen Geſchichte oder Lehre vor und geboten ihm, benfelben, wenn er 
fönnte, in poetifdhe Form zu bringen. Er nahm die Aufgabe auf ih, fam bes 
Morgens wieber und bradte das jhönfte Gedicht, wie ihm aufgetragen, vollendet mit 
fih. Die Äbtiſſin, die Gottes Gnade in dem Mann erkannte, riet ihm bald, das 
weltlihe Gewand abzulegen und den Möndshabit anzuziehen, und befahl, ihm bie 
ganze biblifche Gefchichte ber Reihe nach beizubringen. Er aber wiederholte ſich alles, 
was er durch das Gehör lernen konnte, käute es wieder wie ein reines Tier und ver- 
wandelte es in das fühefte Gedicht; und indem er es noch fehöner vortrug, machte 
er feine Lehrer hinwieder zu feinen Zuhörern. Er fang aber von der Schöpfung ber 
Welt und von bem Anfang bes Menſchengeſchlechts und der ganzen Geſchichte ber 
Genefis; vom Auszug Israels aus Ägypten und von feinem Einzug in das Land 
ber Verheißung, von vielen andern Geihidhten der Heiligen Schrift, von der Menſch— 
werbung bes Herrn, feinem Leiden, feiner Auferftehung und Himmelfahrt, von ber 
Ankunft des Heiligen Geiftes und von der Lehre ber Apoftel. Ebenfo verfahte er 
viele Gedichte von den Schreden bes fünftigen Gerihis und von ben Schreden ber 
Höllenftrafe und von ber Süßigkeit des Himmelveihes, auch viele andere von ben 
göttlihen Wohltaten und Strafgeriten, worin er alle Menſchen von der Liebe zur 
Sünde abzuziehen, dagegen zur Liebe und zum Eifer, Gutes zu tun, anzufpornen 
fudte. Denn er war ein jehr religiöier Mann und ber religiöfen Zudt demütig 
ergeben; gegen diejenigen aber, welche anbers handeln wollten, war er von großem 
Eifer erfült; daher ſchloß er auch fein Leben mit einem gar jhönen Ende, 

„Denn als die Zeit feines Hinſcheidens herannahte, warb er vierzehn Tage 
zuvor von leiblicher Krankheit bedrängt, doch in jo mäßiger Weife, daß er zu jener 
Zeit reden und umbergehen fonnte. Es war aber in der Nähe ein Haus, in welches 
man bie Kränfliciten und die dem Tode Nahen zu bringen pflegte. Er fagte aljo 
feinem Diener beim Anbruch des Abends, vor der Naht, wo er dieſe Welt ver- 
lafien jollte, daß er ihm in demjelben fein Lager bereiten follte. Diejer wunderte 
fi über die Bitte, da er dem Tode nod gar nicht nahe zu fein ſchien, tat indes, 
was er gefagt hatte. Und als fie, dort gelagert, abwechſelnd und vereint mit ben 
andern, die fi dort befanden, einige frohe Worte getaufcht und gefcherzt hatten und 
die Mitternacht bereits vorüber war, fragte er, ob fie die Euchariſtie drinnen hätten. 
Sie erwiberten: ‚Was bedarf es ber Euchariftie? Denn bu brauchſt noch nicht zu 
fterben, der du jo fröhlich wie ein Gefunder mit uns redeſt.“ Er aber jagte: ‚Und 
doch, bringt mir die Eudariftie.‘ Und als er fie in bie Hand genommen, fragte er, 
ob fie ihm alfe freundlich gefinnt wären, ohne irgend einen Hader oder Groll. Sie 
erwibderten, daß fie ihm alle freundlich gefinnt wären, weit entfernt von jebem Zorn, 
und fie baten ihn, jeinerfeits auch ihnen freundlich gefinnt zu fein. Er antwortete 
alsbald: ‚Ic bin allen Dienern Gottes freundlich gefinnt.‘ Und fo ftärfte er fid 
mit der himmlischen Wegzehrung und bereitete fih zum Eintritt in das andere 
Beben; und er fragte, wie nahe die Stunde wäre, wo die Brüder geweckt werben 


284 Fünftes Kapitel. 


follten, um Gott bie nädtlihen Lobpfalmen zu beten. Sie antworteten: ‚Nicht mehr 
weit.‘ Da antwortete er: ‚Gut, warten wir auf dieſe Stunde.‘ Und indem er fi 
mit dem Zeichen bes heiligen Kreuzes bezeichnete, legte er fein Haupt auf das Kiffen, 
ichlummerte ein wenig ein und ſchloß fo geräufchlos fein Leben. Und fo geihah es, 
daB, wie er Gott mit einfacher, reiner Seele und ruhiger Frömmigkeit gedient hatte, 
jo auch in ruhigem Zobe die Welt verließ und zu feiner Anſchauung gelangte, und 
daß die Zunge, die fo viel heilfame Worte zum Lobe des Schöpfers gebichtet Hatte, 
auch bie lekten Worte mit feinem Lobe ſchloß, indem er fich befreuzte und feinen 
Geift in feine Hände empfahl. Aus dem Erzählten fcheint aud; hervorzugehen, daß 
er feinen Tod zum voraus wußte.“ 


Fünftes Kapitel. 


Die Pioniere der Hrifflid-Lateinifhen Bildung 
in Deutſchland. 


In demfelden Jahre, in welchem Beda der Ehrmürdige flarb, wurde 
Altuin geboren, der Lehrer Karls des Großen. Es brach ſchon die Zeit an, 
in welcher das heilige römische Reich deutjcher Nation begründet werden, 
da3 gemeinfame Band der Kriftli-fateiniihen Bildung auch politiih wieder 
eine fefle Unterlage erhalten jollte. Dank der mächtigen Lebenskraft der 
Kirche dauerte die Flucht lateinischer Wiſſenſchaft und Poeſie in den britiſchen 
Norden nit einmal jo lang. 

Bereit3 früh im 7. Jahrhundert entjandte Irland Glaubensboten in 
die noch heidniſchen Zeile des eigentlichen Germanien, im Anfange des 
nächſten folgte denfelben Bonifatius, der große Apoftel der Deutſchen, und 
gründete in Mainz den Primatialfit des künftigen chriftlich-germaniichen 
Reiches. Gehören dieſe Pioniere der Hriftlihen Zivilifation aud zunächſt der 
Kirchengeſchichte an, jo hat ihnen doch auch die Literaturgefhichte Wichtiges 
zu danfen. Sie haben mit dem Wiffen und der Sprade der patrijtiichen 
Zeit wenigſtens teilmeife auch die Erbſchaft des klaſſiſchen Altertums an die 
germaniſchen Völker vermittelt und den Grund gelegt, auf weldem eine 
jpätere Zeit diefelbe wiffenfhaftlih neu aufleben laffen konnte. 

Unter den irifhen Glaubensboten ragen Golumbanus und fein Schüler 
Gallus duch ihre literarifche Bedeutung hervor. Jener war 543 aus 
edlem Geſchlecht in Leinfter geboren, ward Mönd in Bangor und z0g 590 
mit zwölf Schülern hinüber nah Gallien. Er lieh fich zuerft in Annegray 
(Burgund), dann in Luxeuil nieder und gründete dann das dritte Klofter 
zu Fontaine. Beiſpiel und Wort der feeleneifrigen Mönche übten einen 
zündenden Einfluß aus. Bolt wie Klerus wurden aus ihrer Gleidhgültigfeit 
und fittlihen Verlommenheit mächtig aufgerüttelt. Als die furdtlofen Buß— 


Die Pioniere der hriftlich-lateinifhen Bildung in Deutſchland. 985 


prediger aber aud) die Könige und Großen nicht jchonten, erhob ſich Feind— 
jeligkeit und Verfolgung wider fie. Golumban mußte feinen Wanderftab 
weiterjegen. Das Gute, das er gepflanzt, blühte indes fort. Die wichtigften 
Biſchofsſtühle des Frankenreichs erhielten Oberhirten aus Luxeuil. Schotten- 
Höfter entftanden in Corbie, Bejfancon, Römiremont, Ebersmünfter, Straß- 
burg, Hohenau, Hohenburg, Mainz. Columban zog den Rhein hinauf in 
die heidniihe Schweiz, an den Zürichſee und an den Bodenjee, um die 
noch heidniihen Bewohner Alemanniens zu befehren. Zu Bregenz er: 
frantte jein Gefährte Gallus und blieb gegen jeinen Willen zurüd; als er 
dann wieder genejen, gründete er in einer Walbeinjamfeit an dem Eleinen 
Flüßchen Steinah das nah ihm benannte Klofter St Gallen. Fat 
hundertjährig ftarb er daſelbſt am 16. Dftober 646. Golumban aber 
wanderte weiter nah Norditalien und gründete das nicht minder berühmte 
Klofter Bobbio, wo er jhon am 23. November 616 das Zeitliche fegnete. 
Beide Hlöfler wurden zu unermeßlich fruchtreihen Pflanzjtätten hriftlicher 
Kultur, St Gallen für das gefamte ſüdliche Deutſchland, Bobbio für 
Norditalien. 

Die Möndsregeln und Bußbeſtimmungen des hl. Golumban zeichnen 
den fittlihen Ernft und die Lebensftrenge, welche diefe Boten des Evangeliums 
beherrichte und ihre Wirken befruchtete!. Derjelbe Ernft bejeelt die klöſter— 
lichen Borträge des ehrwürdigen Abtes, die fih duch Kraft und feurige 
Berediamkeit auszeihnen. Da und dort tritt begeifterter Schwung zu Tage. 
So jagt er 3. B. von dem irdiſchen Leben: 


„DO du Leben! Wie viele haft du getäufcht, wie viele verführt, wie viele ver- 
blendet! Während du fliehft, bift du nichts; während du fcheineft, bift du mur ein 
Schatten; während du dich erhebt, bift du ein Rauch; täglich Fliehft du und täglich 
fommft du wieder; kommend fliehft und fliehend fommft bu wieder; gar verſchieden 
im Ende, glei im Beginne; verſchieden im Güterverteilen, gleih im Dahineilen; 
füß den Zörichten, bitter ben Weifen. Die dich lieben, bie fennen dich nit, und 
die dich verachten, die durchſchauen did. Du bift alfo nit wahrhaft, ſondern 
trügeriſch; du zeigft dich ala wahr und erweijeit dich als falſch. Was alfo bift du, 
Menſchenleben? Ein Weg bift du für bie Sterbliden und nicht ein Leben; von 
ber Sünde beginnend bis zum Tode führend. Wahr wäreft du, wenn dich die Sünde 
ber erften menfchlichen Gejehesübertretung nicht unterbrochen hätte, und da bift bu 
nichtig und fterblich geworben, als bu alle beine Wanderer bem Tode überantwortet 
haft. Ein Weg zum Leben alfo bift du, umd nicht ein Leben; denn du bift nicht 
wahr. Ein Weg bift bu, aber fein ebener; für die einen lang, für die andern kurz, 
für die einen breit, für die andern eng, für die einen frob, für die andern traurig, 
für alfe gleich raſch dahineilend und unwiderruflich!" ? 


I Berzeihnis feiner Schriften bei U. Bellesheim, Geſchichte der Fatholifchen 
Kirche in Irland I, Mainz 1890, 157—159. 
® Instructiones variae V (Migne, Patr. lat. LXXX 240). 





286 Fünftes Kapitel. 


Auch aus den Briefen! Golumbans, jelbft jenen, welche an die Päpfte 
Gregor d. Gr., Sabinian und Bonifaz IV. gerichtet find, ſpricht eine Feuer— 
jeele voll fürmijcher Gewalt und kraftvoller Eigenart?. Nur mit Mühe 
hält die Ehrfurdt vor dem oberften Hirten der Ehriftenheit den furchtloſen 
Trutz danieder, mit welchem der Heilige gewohnt war, wie ein Prophet des 
Alten Bundes die Mächtigen diefer Erde anzudonnern. Gleich vielen andern 
Iren hielt er mit übertriebenem Starrfinn an der alten Ojfterrehnung der 
Orientalen feſt; doch vermochte ihn die ftärfere kirchliche Gefinnung endlich, 
fein Haupt zu beugen. 

Ein paar Gedichte?, welde unter Golumbans Namen überliefert find, 
wurden ihm ziemlich Teichtfertig abgejtritten *, gelten aber heute als echt. Zwei 
davon behandeln das asketiſche Yieblingsthema von der Unbeftändigfeit aller 
irdischen Dinge, das dritte gibt in einer langen Reihe ſpruchartiger Verſe 
allgemeine Lebensregeln; das zweite ift vielfah aus Stellen von Horaz, 
Juvenal und Glaudian zufammengeitellt, das dritte lehnt fi an die ſog. 
Sprüche des Cato. Noch merkwürdiger ift das aus 159 adoniſchen Verjen 
befiehende vierte Gediht an einen Freund Fedolius. Er bittet darin um 
häufigere Briefe, nicht um Gold, da das Gold fo viele übel herbeigeführt 
habe. Er erinnere nur an das goldene Vlies, den Erisapfel, an Pogmalion 
und Polydor. So oft habe das Gold auch Frauen vom reiten Wege ab- 
gebracht, wie Danae und die Frau des Amphiaraus. Darum ermahnt er 
den Freund, die irdifchen Dinge fahren zu laffen und jeinen Sinn auf das 
Ewige zu rihten. Am Schluffe erklärt er das Versmaß, deſſen fi ſchon 
Sappho bedient habe, und vermeldet, daß er 72 Jahre zähle und die Laft 
derjelben ſchwer empfinde. Sollte Solumban fih nicht fiher als Verfaſſer 
des Gedichtes nachweiſen laffen, jo jpricht die Überlieferung dod dafür, daß 
unter feinen Mönden die Klaſſiker gelefen und ftudiert wurden. 





ı Bei BP. Fleming (Collectanea sacra, Lugduni 1667); Migne (Patr. lat. 
LXXX 259—233); W. Gundlad, Berlin 1891 (Monum. Germ. Hist. Epist. III, 
156—186). e 

? Ein Brief an Papft Bonifay IV. trägt folgende Überſchrift: Pulcherrimo 
omnium totius Europae ecclesiarum capiti, papae praedulei, praecelso praesuli, 
pastorum Pastori, reverendissimo speculatori; humillimus celsissimo, minimus 
maximo, agrestis urbano, micrologus eloquentissimo, extremus primo, peregrinus 
indigenae, pauperculus praepotenti (mirum dietu! nova res, rara avis!), scribere 
audet Bonifacio Patri Palumbus (Epist. 5; Monum. Germ. Hist. Epist. III, 170; 
Migne a. a. O. LXXX 274). — Bgl. Bellesheim, Geſchichte der katholiſchen 
Kirche in Irland I 153—156. 

’ Bei Goldaft (Paraeneticorum veterum pars I [1604] 47 48 52 146); 
Migne a. a. ©. LXXX 285— 24. 

Bon ©. Hertel in Zeitjchrift für hiſtor. Theologie XLV 396 f, widerlegt 
von W. Gundlach, Neues Ardhiv XV. 

» Mignea.a. O. LXXX 280-296; Goldasti Notae ebd. LXXX 295— 322. 


Die Pioniere der KHriftlich-lateinishen Bildung in Deutſchland. 287 


Der Hl. Gallus erſcheint in den gejchichtlichen Nachrichten etwas 
milder als jein ſtrenger Meifter, im übrigen von demjelben Geifte erfüllt 1. 
Von ihm ift eine Predigt erhalten, die er (614 oder 615) vor den Biſchöfen 
von Auguftodunum und Speier und dem geſamten alemannijchen Klerus 
hielt, der in Konſtanz zur Wahl eines neuen Bifhof3 verjammelt war. Er 
lehnte die Wahl von fih ab, empfahl aber feinen Schüler Johannes, der 
denn aud zum Biſchof erforen wurde. Die Predigt entwirft in chlichter 
und doch geradezu erhabener Sprache ohne geſuchten Redeprunf ein gedrängtes 
Bild der gejamten Heilsgeſchichte — gewiſſermaßen einen Abrik der frohen 
Botihaft, die er den Völkern Mlemanniens gebraht — und mahnt dann 
Klerus und Volk zur Vollendung der großen Aufgabe, die er als Glaubens: 
prediger begonnen: 


„Unterbefjen, während jenes alles geihah, ließ der Herr die Völker alle ihre 
eigenen Wege gehen und ſich ihren Geiit mit den mannigfadhften Irrtümern erfüllen, 
fo daß die einen Sonne, Mond und Sterne, zum Nuben des Menſchen beftimmte 
dienende Wejen, mit göttlichen Ehren verherrlichten, andere aber, von noch größerer 
Zorheit befangen, nicht nur Gold und Silber, jondern Holz und Stein, vierfüßige 
und friechende Tiere, Vögel und felbft Pflanzen an Stelle Gottes bes Schöpfers ver⸗ 
ehrten. Als wir über umjere Truggebilde und unfer ſchlechtes Treiben endlich Efel 
und Reue empfinden mußten, da alſo jandte ber liebreihe Schöpfer aller feine 
Apoftel zu uns, die uns lehren jollten, uns von jenen Wahngebilden zum lebendigen 
und wahren Gott zu befehren und jeinen Sohn von ben Himmeln zu erwarten, 
und auf dad wir glaubten, im Empfang des Heiligen Geiftes, den wir in Ehrifto 
wiebergeboren erhielten, Nachlaß der Sünden zu erlangen. Seid alfo bedacht, jo 
zu leben, wie ihr wiſſet, daß es fi für Kinder Gottes ziemet, meibend die Gier 
der Böllerei und den Wahnfinn der Trunfenheit, den Schmuß ber Unzucht, ben 
Gößendienft des Geizes, des Zornes Tollheit, der Traurigkeit büftern Nebel, bes 
Widerwillens Groll, des Neides Roft, aufgeblajenen Sinnes Nichtigkeit, des Stolzes 
Ball, und keiner vermeſſe fih an irgend einem Ehriften Diebftahl oder Mord oder 
Läfterung zu begehen oder ihn durch falfches Zeugnis irgend eines Werbrechens zu 
brandmarfen; fondern feid gütig und vergebt einander, wie Gott euch eure Sünden 
vergeben hat.“ ? 


Bei aller priefterlihen Bildung, die Gallus und feine Schüler bejaßen, 
mußte vorerft der Urwald gelichtet, das Heidentum verdrängt und die Grund» 





! Vita S. Galli, auctore anonymo (Wettino), herauögeg. von J. v. Arx 
(Monum. Germ. 88. [Pertz] II 5—21); 6. Meyer v. Knonau, St Gallen 
1870; deutſch von A. Potthaſt, Berlin 1857; 2. Aufl. von Wattenbad, Leipzig 
1888. — Vita 8. Galli, auctore Walafrido Strabone, bei Migne a. a. O. 
CXIV 975—1030. — €. 3. Greith, Der hl. Gallus, der Apoftel Alemanniens, 
St Gallen 1845 1865. — Über Fragmente einer Vita S. Galli von Notter dem 
Stammler vgl. J. Shwalm und P.v. Winterfeld, Zu Notker dem Stammler, 
in Neues Archiv XXVII (1901) 740—751; P. v. Winterfeld, Nochmals Notlers 
Vita 8. Galli, ebd. XXVIII (1902) 6176. 

® Sancti Galli Sermo 22 23 (Migne a. a. ©. LXXXVII 25 26). 


288 Fünftes Kapitel. 


lagen religiössfittliher Kultur gelegt werden, ehe jeine Gründung aud) die 
wiffenihaftlihe und literariihe Schulung in Angriff nehmen fonnte. 

Das war aud der Schwerpunkt der Tätigkeit des HI. Bonifatius, des 
größten der deutſchen Miffionäre, den man mit vollftem Recht den Apoftel 
Deutihlands genannt hat. 

Winfried (um 686 geboren) erhielt zu Exeter (Adescancastre) 
feinen erften Unterriht und trat dann in die Abtei Nhutfcelle (in Southamp— 
tonfhire); 716 ſetzte er zum erftenmal nad Friesland über, mit dem großen 
Plan, das noch heidnijche Germanien für Chriftus zu gewinnen. Das Mip- 
lingen des erften Verſuchs entmutigte ihn nit. Obwohl zur Rückehr ge: 
nötigt und Abt feines Kloſters geworden, hielt er an feinem Plane feft und 
begab fi ſchon 718 nah Rom, um fein Werk unmittelbar dem Bapfte 
Gregor II. zu unterftellen, Als Bonifatius (das war fein Ordensname), 
mit dem Segen und den Vollmachten des Papftes verjehen, ging er dann 
an jeine Riefenarbeit und durchpilgerte zuerft Bayern, Thüringen, Friesland, 
den Lahngau. In einem Miffionsleben von 37 Jahren vollbradhte er unter 
unfägliden Mühen und Beihwerden die große Aufgabe, die ihm zu teil 
geworden, befehrte Heſſen, Thüringen und andere Gebiete zum chriftlichen 
Glauben, erneuerte in den bereits chriftlichen Landftrihen das religiöfe und 
tirhlihe Leben, gab Deutihland im Auftrage des Papftes jeine erfte fird;- 
lihe Organifation und ftarb endlich des glorreihen Martertodes, indem er, 
obwohl Erzbiihof von Mainz und Primas von Deutihland, wie ein einfacher 
Milfionspriefter wieder zu den Frieſen ging, denen feine erſte Tätigkeit ge: 
golten; 755 wurde er am Fluſſe Borne bei Dodum erfchlagen !. 

Bei aller Strenge des Mönchslebens, an weldhem der Heilige zeitlebens 
fefthielt, bei all feinen Gebeten, Entbehrungen und Nachtwachen, bei feinen 
zahllofen Wanderungen und Reifen, bei all jeinen Hirtenforgen, feinen 
apoftoliichen Arbeiten, den neuen Gründungen und Organifationsbemühungen, 
die ſich beftändig drängten, kurz, neben der großartigen Tätigkeit, von welcher 
jein umfangreicher Briefwechjel? und feine Predigten Zeugnis geben, fand 
Bonifatius no Zeit, unmittelbar fich mit der Literatur zu befhäftigen. Wie 
Beda verfaßte aud er zum Zmede des Unterrichts eine lateinische Grammatik 





ı Die älteften Vitae von Willibald (Monum. Germ. SS. II 831 f); Jaffé 
(Bibl, rer. Germ. III 422 f); von einem Utredter Anonymus (Bolland. Iun. I 
477); von Otloh (ebd. 1473; Jaffe, Bibl. III 471 f). — Neuere Biographien 
von Seiters, Mainz 1845; Reinerbing, Würzburg 1855; Pfahler, Regens— 
burg 1879; Buß (herausgeg. von R.v. Scherer), Graz 1880. — Weitere Literatur 
bei €. Will (F. Böhmer, Regesta archiepisc. Mogunt. I, Oeniponte 1877, 
xı—xıy) und Botthaft (Bibl. Medi Aevi II? [1896] 1217—1220). 

® Bei Jaffé (Bibl, rerum Germ. III 8—35) und € Dümmler, Berlin 
1892 (Monum. Germ. Hist. Epist. III, 2831—431). 


Die Pioniere der Kriftlichelateinifhen Bildung in Deutichland. 289 


und Metrit, wie Aldhelm jchrieb auch er eine Rätjelfammlung und andere 
religiöfe Gedichte!. 

Die Rätjel verdienen diefen Namen wohl nur in einem etwas freieren 
Sinne Denn viel zu raten ift nicht daran. Es find eine Reihe von 
zwanzig religiöfen Gedichten, in welden die zehn Haupttugenden und ebenfo 
die zehn Hauptlafter (zufammen in 388 Herametern) charakterifiert werden. 
Der Prolog ift an feine „Schwefter“ gerichtet. 

Zehn goldftrahlende Äpfel Hab’ ich geſendet ber Schweiter, 
Die in blühendem Flor am Baume bes Lebens gewachſen, 
Hingen voll ſüßen Gefhmads an feinen Heiligen Zweigen, 
Als bes Lebens Holz einft hing am Baume des Todes. 
Spielend damit wirft du die Freuden bes Lebens verftehen, 
Und erfüllen bein Herz mit der Süße bes künftigen Lebens. 
Speifend wirft bu nod mehr des Nektars Labung verkoften 
Und ihr lieblicher Duft dir mächtig erquiden bie Seele. 
Magſt die Äpfel aud) wohl bem künftigen Reiche vergleichen : 
Denn fo füß wird einft dich himmliſche Wonne beglüden. 
Doch don anderem Holz gibt's and’re, gar ſauere Äpfel, 
Die am verpefteten Baum bes bittern Todes ergrünen, 
Davon Adam ak und ward mit dem Tode betroffen. 

Diefe, vom fhäblihen Hauch und der Viperngalle der alten 
Schlange verderblich erfaßt und ihrem verrät'rifhen Gifte, 
Soll mit ihrem Arm niemals berühren die Jungfrau. 

Sie zu eflen, ift Sünde, und fie zu fojten, Entweihung, 
Knirichend ſchwärzen fi, von ihnen verpeftet, bie Zähne. 
Solcher Äpfel Genuß zerreißt bas heilige Bündnis 

Und gibt preis den Lohn bes ew’gen, himmliſchen Reiches. 


Die zehn goldenen Apfel find: die Charitas, der katholiſche Glaube, 
die Hoffnung, die Gerechtigkeit, die Wahrheit, die Barmherzigkeit, die 
Geduld, der wahre hriftliche Friede, die hriftlihe Demut, die Jungfräu— 
lichkeit. Die Früchte vom Baume des PVerderbens find: die Begierlichkeit, 
der Stolz, die Völlerei, die Trunkſucht, die Unzucht, der Neid, die Un: 
wiſſenheit, die eitle Ehrbegierde, die Trägheit, der Zorn. In der Ausführung 
verſchmelzen bibliiche Gedanken und antike Reminiscenzen mitunter jehr har: 
moniſch und poetijch. 


Die Geredtigfeit fpridt: 


Juppiter heißt's, ſei Vater mir, der bliesgewalt’ge, 
Jungfrau fei ich felbft, jo meldet das törichte Märchen, 
übermaß von Schuld Hab’ mich verdrängt von der Erde, 
Und nur felten ſei mein Gefiht den Sterblichen fidhtbar. 





! Incipiunt aenigmata Bonifatii Ep. quae misit sorori suae (Dümmler, 
Poetae latini aevi Carolini I 1 [Mon. Germ., Berol. 1880], 3—15). — Migne, 
Patr, lat. LXXXIX 887—892 (unvollftändig). 

Baumgartner, Weltliteratur. IV. 3. u. 4. Auf. 19 


290 Fünftes Rapitel. 


Da ih wirklich war die Tochter des himmlischen Königs 
Und nad bes Vaters Gejek den Erbfreis friedlich beherrichte, 
Weilend im Vaterſchoß und feines Kuſſes mich freuend, 
Hätte das Menſchengeſchlecht ftet? goldene Zeiten genofjen, 
Wenn es bie heilige Norm ber hehren Jungfrau beachtet. 
Doch man veradhtete mich, ımd alfe Übel auf einmal 

Zrafen jene, die Chriſti Gebot verhöhnten, des Gottes, 

Und fie wanderten hin zu bes Erebus jchwarzer Behaufung, 
Jammernd im Tartarus nun, in Plutos flammendem Reiche. 


Der Titel der Gedichte oder die Löjung der Rätfel ift in den Anfangs- 
buchftaben der Verſe gegeben, wenn man fie vertifal herunterlieft. Dieje 
Künftlichfeit der Alcoftihen, die jchon lange in den Klöftern Liebhaberei 
geworden zu jein jcheint, fommt der Poefie nicht eben jehr zu gut, hindert 
aber dod au nicht, daß die frommen Gedanfen vielfah einen wirklich 
poetiihen Ausdrud gewinnen. 

In dem Briefwechjel des Heiligen finden fi mehrfach kleine Gedichte 
oder wenigſtens einige Verſe dem Briefe angehängt oder in benjelben ein- 
gewoben!, Seinen erften Brief an Papft Zacharias (742) ſchließt Bonifatius 
jelbft mit einem Glückwunſch in ſechs Herametern: 

Te Deus altithronus sancta conservet in aede, 
Sedis apostolicae rectorem, tempora longa, 
Melliflua gratum populis doctrina per orbem, 
Perficiatque Deo dignum pia gratia Christi. 
Splendida percipiat florens sua gaudia mater, 
Atque domus Domini laetetur prole fecunda ?. 


Ein viel früherer Brief an feinen Freund Nidhard (etwa von 720) 
läuft in vierzehn Paare achtſilbiger, rhythmiſcher Verje aus, die ſich jeweilen 
reimen. Ein Brief an die Abtiffin Eadburga (um 725) endet mit den 
alliterierenden Verſen: 


Vale verae virgo vitae, ut et vivas angelice, 
recto rite et rumore regnes semper in aethere, 


Das mag als bloße Spielerei erſcheinen; aber bei der wichtigen Rolle, 
welche die Alliteration in der angelſächſiſchen, überhaupt der altgermanifchen 
Literatur ſpielt, deutet fie doch auf das Intereſſe hin, das Bonifatius ſolchen 
formellen Dingen zumandte. So wagt es aud) die junge Nonne Leobgitha 
(Liobgyth), die Tochter eines Freundes Namens Tinne, ſich in einem lateinischen 
Brief an den vielbeihäftigten Miffionsbiihof zu wenden, ihn nit nur um 
fein Gebet, ſondern auch um Korrektur ihres Briefes zu bitten und den 





! Bol. Dümmler, Poetae Latini Aevi Carolini I 18—20. — Andere Rätſel, 
mehr in der Art Albhelms, vgl. ebd. I 20—28. 
® Ep. 40 (Migne, Patr. lat. LXXXIX 748; Dümmler a. a. ©. I 189). 


Die Pioniere ber Hriftlich-lateinifchen Bildung in Deutjchland. 29] 


Brief mit vier Herametern zu fchließen, mit der Bemerkung: „Die unten: 
ftehenden Verschen habe ich gemäß den Regeln der poetifchen Überlieferung 
abzufaffen verfucdht, nicht aus übermütigem Selbfivertrauen, fondern um mein 
feines, ſchmächtiges Genie als Anfängerin zu üben und gar jehr deiner Hilfe 
bedürftig. Ich Habe diefe Kunſt dur den Unterricht Eadburgas gelernt, 
welche unermüdlih und unaufhörlih das göttliche Geſetz erforſcht.“ Die 
Berje der mwißbegierigen jungen Slofterfrau lauten: 

Arbiter omnipotens, solus qui cuncta creavit, 

In regno Patris semper qui lumine fulget, 

(ua iugiter flagrans, sic regnet gloria Christi, 

lllaesum servet semper te iure perenni?, 


Die angeljähfiihen Nonnen lernten aber nicht nur ein leidliches Latein 
Ihreiben, fie unterftügten auch das Miffionsmwerf in Deutſchland mit ihrem 
Gebete, mit ihrem Almofen, mit zierlihen Paramenten und auch als fundige 
Abjchreiberinnen. So beftellt ſich Bonifatius z. B. bei Eadburga einen mit 
goldenen Buchftaben ausgeführten Goder der Briefe des Hl. Petrus, deffen 
er ih, als Zeihen größerer Ehrfurdt vor den heiligen Schriften, beim 
Predigen bedienen mollte®. 

Aus dem Kreife diejer engliihen Klöfter, in welchen die Kenntnis des 
Latein eine für jene Zeit hohe und vielfeitige Bildung eröffnete, ftrömten 
dem Apojtel Deutſchlands die tüchtigſten Hilfskräfte zu, wie Burdard und 
Lullus, die Brüder Willibald und Wunibald, Witta, Chunihild und ihre 
Tochter Berathgide, Chunitrud, Thekla, Lioba (die erwähnte Liobgyth) und 
Walpurgis. So wurde es ihm möglich, die hervorragenden Miffionsitationen, 
Bishofsfige und Klöfter nicht nur zu Pflanzftätten des Chriftentums, fondern 
auch höherer Bildung zu geftalten. Chunihild mit ihrer Tochter wurden 
Lehrerinnen in Thüringen, Thella ward Abtiffin des Kloſters Kitzingen, 
Lioba in Biihofsheim, Walpurgis in Heidenheim. Lullus ward jpäter 
Erzbiſchof von Mainz, Willibald Biihof von Eichſtält, Burdard in Würz- 
burg, Witta in Buraburg. Zum Mittelpunft des weiteren Apoftolates erjah 
Bonifatius das Kloſter Fulda, wo fein Schüler Sturmius 744 zuerft in 
der Silva Buchonia das Kreuz aufpflanzte, und. das für Mitteldeutichland 
eine Ähnliche Bedeutung erlangte wie St Gallen für den Süden. 


! Bon Ähnlihem literarifhen Eifer zeugt der Brief einer wahrfheinlih gal« 
liihen Nonne aus dem 7. Jahrhundert, der in einem St Galler Eoder (190, ©. 50 
bis 55) erhalten ijt; veröffentliht von E. Caſpari (Briefe, Abhandlungen und 
Predigten aus ben zwei lekten Jahrhunderten des kirchlichen Altertums und dem 
Unfang des Mittelalters, Chriftiania 1890, 178—182) und W. Gundlad, Berlin 
1892 (Monum. Germ. Hist.. Epist. III 716—718). 

®2 Migne, Patr. lat. LXXXIX 720 721. s &bb. LXXXIX 712. 


19* 


292 Sechſtes Kapitel. 


Sechſtes Kapitel. 
Die fiterarifhe Tafelrunde Karls des Großen. 


Mas Bonifatius gejät, gepflanzt und geordnet, erhielt nad mancher 
Seite hin feine Vollendung durch den großen Monarden, der, dreizehn Jahre 
dor dem Martertod des Heiligen geboren, dreizehn Jahre nad) demjelben zum 
König von Auftrafien gefalbt ward, nad Karlmanns Tode das ganze Franken— 
reich unter ſich vereinigte, 774 die Alpen überſchritt und die langobardiſche 
Krone auf fein Haupt jehte, 778 auch über die Pyrenäen zog und die 
Macht der Araber für immer auf den Ebro zurüddrängte, nad langem 
Kampfe 785 auch die Macht der heidniſchen Sachſen brach, fein Reich auch 
nah Oſten und Südoſten erweiterte und dur ſog. Marken ſchirmte und 
ih endlid am Weihnadtstage 800 von Leo III. in Rom zum Saifer 
frönen lieh. y 

Diefer Tag war einer der folgenſchwerſten der Weltgefchichte. Über 
ein Jahrtaufend Hat er die Schidjale Europas beherriht oder wenigſtens 
wejentlih beeinflußt. Die Gründung des römijhen Kaifertums deutjcher 
Nation, d. h. die Erneuerung des alten Jmperatorentitel® mit völlig neuer 
Bedeutung, als Schutzherrſchaft der Kirche auf Grund einer germanijchen 
Staatsverfaffung, mußte jhon durch ihre politiihen Wirkungen von höchſter 
Bedeutung aud für die Literatur fein. Sie verſchaffte ihr eine Zeit ruhiger 
Entwidlung, fie feftigte ihren religiöä-chriftlichen Charakter, fie verftärkte den 
Einfluß der antifen Bildungselemente, ordnete fie aber der hriftlihen Melt: 
anihauung und germaniſchen Recdtsverhältniffen unter. 

Der Einfluß der neuen politiihen Sage und der neuen Inftitutionen 
wuchs durch den perfönliden Anteil, welhen Karl d. Gr. an der Literatur 
wie an der geiftigen Bildung überhaupt nahm. Die erften Erfolge dantte 
er jeinem Schwert und jeiner Willensenergie, feiner hohen Eriegerifchen und 
politiihen Begabung ; aber er hatte feine höhere Bildung erhalten, und fein 
Gefichtöfreis ging deshalb nur wenig über den jeiner Vorfahren hinaus. 
Erit während des Langobardenkrieges, unter den alten Denfmälern Italiens, 
im Verkehr mit den Langobarden und Italienern wurde er fidh der geiftigen 
Macht und Überlegenheit bewußt, welche eine Jahrtaufende alte Kultur ver: 
leiht und welche bloße Naturanlagen eines noch fo fräftigen, aber rohen 
Volkes aufzumiegen nicht im ftande find. Er lernte Wiſſenſchaft, Literatur und 
Kunft ſchätzen, und der ſchon in feiner äußeren Geftalt riefenhafte Franten- 
fönig erſchwang fih zu dem Entſchluß, ſelbſt Schüler zu werden, um feinen 
Bölfern jene höheren geifligen Güter vermitteln zu fönnen !, 





! Einhardus, Vita Karoli Magni imperatoris, bei Perf (Monum. Germ. 
SS. II 443—463); Migne, Patr. lat. XCVII 9—26; beutfö von O. Abel, 


Die literarifche Tafelrunde Karls des Großen. 293 


Im Jahre 780 midmete ihm Adam, Abt von Masmünfter, eine 
Abihrift des Grammatikers Diomedes „Von der Rede und ihren Teilen“. 
Das Jahr darauf begann Godesſkalk jenes pradtvolle Evangeliarium, 
welches Karl zur Erinnerung an die Taufe feines Sohnes Pippin durch 
Papit Hadrian in Rom (am Ofterfefte 781) anfertigen ließ, welches ganz 
in Gold: und Silberbuchſtaben auf Purpurgrund geſchrieben ift, und auf 
welchem der Kalligraph den Kaiſer mit den Verſen verherrliht: Providens 
ac sapiens, studiosus in arte librorum. Noch im jelben Jahre traf 
Karl in Parma mit dem gelehrten Angeljahien Alkuin zujammen und 
lud ihn an feinen Hof ein. Aus Italien folgten ihm bei jeiner Heimkehr 
der gelehrte Diafon Paulus und der Grammatiter Beter von Pila, 

Aus Spanien fand fih an dem königlichen Hofe ein vertriebener Weſt— 
gote ein, Theodulf mit Namen, ein fenntnisreiher Mann, gewandt in 
Proja wie in Verſen, der jpäter als Biſchof von Orleans großen Einfluß 
gewann. Auch drei gelehrte irifch-fchottiiche Mönde, Dungal, Yojeph 
und Dicuil, jcheinen fich zeitweilig in Karls Nähe befunden zu haben. 
Den fremden Lehrern jchloffen ſich alsbald talentvolle junge Franken an, 
unter welden Angilbert und Einhard fih am meiften auszeichneten 
und das Vertrauen Karls genofien. 

So bildete fih am Hofe Karls jener zugleich gelehrte und intime 
Kreis, den man feinen gelehrten Hofftaat und auch wohl feine Hofſchule 
genannt hat, deffen Mitgliedern Alkuin ſelbſt gelegentlih den Namen von 
Alademikern gab. Diefe Alademie hatte aber gar nichts Offizielles; im 
Gegenteil herrſchte darin die höchſte Vertraulichkeit. Im literariihen Verkehr 
mußte die Etikette der Gemütlichkeit meiden, und um hierin nicht be— 
hindert zu werden, wurde jedem fein eigener Klubname zugeteilt, nad) einer 
Sitte, die Altuin wahrjheinlihd aus England mitgebradt hatte. Der 
Kaifer ſelbſt hieß David, Alluin Flaccus, Einhard Beſeleel, Angilbert 
Homer, Wizo Candidus, Arno Aquila, die Abtiffin Gijela, Karla Schwefter, 
wurde zur Lucia, feine Baſe Gundrad zur Eulalia und feine Tochter 
Rotruda zur Golumba !, 

Der Verkehr der gelehrten Hofgefellihaft knüpfte fih zunächſt an die 
Geſpräche bei Tafel und dann an die weitere Unterhaltung, welche auf 
diejelbe folgte. Es wurden da Rätſel aufgegeben, Anefvoten erzählt, ge: 


Leipzig 1880. — DO. Abel, Jahrbücher bes fränkfifchen Reiches unter Karl d. Gr. 
(fortgejeht von B. Simfon), Berlin 1866 1884. — Monnier, Alcuin et Charle- 
magne®, Paris 1864. — Alberdingk-Thijm, Karel de Groote (deutſch von 
Zroft), Münfter 1865 1868. — J. Janfjen, Karl db. Gr. (Drei gejchichtliche 
Vorträge) *, Frankfurt 1891. 

"Adolf Ebert, Die literarifche Bewegung zur Zeit Karls d. Gr. (Deutſche 
Rundſchau XI, Berlin 1877, 398—410). 


294 Sechſtes Kapitel. 


fungen und mufiziert, Gedichte vorgelefen und beſprochen, aber aud wifjen- 
ihaftlihe Fragen erörtert und Stüde aus ernfteren Werfen vorgelejen, 
literariihe Pläne und wichtigere Aufgaben in Erwägung gezogen. 

Die Seele dieſes Kreifes war Altuin!, Er war 735 zu Vorf ge 
boren, fieben Jahre älter als Karl. Gleih Beda fam er fhon ala Kind 
an die klöſterliche Domſchule von York und begleitete nod als Schüler 
feinen Magifter Aelbert auf deſſen gelehrten Studienreifen bis nah Rom. 
Als Aelbert, von 766 an Erzbiſchof, zwölf Jahre fpäter refignierte, teilte 
er jeine Amter an feine zwei Lieblingsfhüler: Eanwald erhielt das Erz 
bistum, Alkuin Schule und Bibliothel zur Verwaltung. Den reihen Bücher: 
Ihaß, der jo in jeine Hände fam, hat er begeiftert in einem feiner Gedichte 
beſchrieben. Da fanden fid) die Kirchendäter und Kirchenſchriftſteller Hie— 
ronymus, Ambrofius, Hilarius, Auguftinus, Athanafius, Orofius, Gregorius 
d. Gr., Leo d. Gr., Baſilius, Fulgentius, Gajfiodor, Johannes Chryſoſtomus, 
dann Aldhelm, Beda, PBictorinus, Boethius, die alten Gejdhichtjchreiber, 
Pompejus, Plinius, Ariftoteles, Cicero, die hriftlihen Dichter Sedulius, 
Alcimus, Clemens, Projper, Baulinus, Arator, Fortunat, Yactantius, die 
antifen Dichter Vergil, Statius, Lucanus und eine ganze Schar von 
Grammatifern?. Kurz: 

Illie invenies veterum vestigia patrum, 
Quidquid habet pro se Latio Romanus in orbe, 


Graecia vel quidquid transmisit clara Latinis, 
Hebraicus vel quod populus bibit imbre superno. 


Im Jahre 780 machte Alkuin eine zweite Romfahrt, um für jeinen 
Freund Canwald das Pallium zu holen. Auf diefer Fahrt lud ihn Karl 
ein, die Leitung der Studien im ganzen Franfenreihe zu übernehmen. Er 
fam im Jahre 782 mit feinen vier Schülern Wizo, Fredegis, Sigulf und 
Oſulf und blieb bis 789. Auf dringende Bitten Karls kehrte er 793 
ein zweites Mal ins Frankenreich zurüd und wurde diesmal (796) Abt 


’ Gefamtausgaben feiner Werke von Frobenius (Abt Froben Yorfter zu 
St Emmeram, Regensburg 1777); banad von Migne, Patr. lat. C CI — Die 
Briefe und hiftorifhen Schriften bei Jaffe, Bibl. reram Germ. VI (berausgeg. 
von Dümmler und Wattenbad, Berlin 1873). — Die Briefe allein herausgeg. 
von Dümmler, Berlin 1895 (Monum. Germ. Hist. Epist. IV). — Die Gedidte 
berausgeg. von dem ſ., Berlin 1880 (Monum. Germ. Hist. Poetae latini aevi Ca- 
rolini 11 2). — 8. Lorentz, Altuins Leben, Halle 1829. — K. Werner, Alcuin 
und fein Jahrhundert. Paderborn 1876. — J. Bass-Mullinger, The schools 
of Charles the Great, London 1877. — A. F. Thery, L’Ecole et l’Academie 
Palatines. Alcuin, Amiens 1878. — Dümmler, Art. „Altuin‘, in der Allgem. 
deutſch. Biographie I 343— 348. 

2 Versus de Sanctis Euboricensis ecclesiae ®. 1535—1561, bei Dümmler, 
Poetae latini aevi Carolini I 208 204. 


Die literariſche Tafelrunde Karla des Großen. 295 


des Martinsklofters zu Tours und bildete hier den gelehrten Abt von Fulda, 
Hrabanus Mautus, den primus praeceptor Germaniae, heran. Hier 
ſtarb er 804. 

Seine Schriften umfaffen alle Gebiete der damaligen Eirhlich-Hlöfterlichen 
Gelehriamteit, von den geringfügigften grammatiiden Regeln bis hinauf in 
die höchften Spekulationen der Metaphyfit und der Trinitätslehre. Überall 
war er mit faunenswerter Schmiegjamfeit des Geiftes und umfaflender 
Belejenheit zu Haufe. Wie bei den Kirchenvätern ericheinen bei ihm Humanis- 
mus und Theologie nod nicht ala getrennte Richtungen. Die gejchichtliche 
Kontinuität der Bildung ift noch ungeftört. Die alten Klaſſiker find in 
den Dienit der chriſtlichen Literatur und Wiſſenſchaft genommen, aber ohne 
eine privilegierte Stellung; die altchriftlihen Dichter, die jih an ihnen ge 
ihult, werden ebenjo hoch gehalten. Das Lateinifche ift nicht eine Zier- 
pflanze, die fünftlich gezüchtet wird, fondern die allgemeine, alltäglihe Sprache 
der Wiſſenſchaft, der Literatur und des literarischen Verkehrs, der täglichen 
Lektüre, der Unterhaltung. 

Das hatte feine nit zu unterfchäßenden Vorteile. Der Angelſachſe, 
der Weſtgote, der Langobarde, der Italiener, der re und Schotte, der 
Franke und Alemanne brauchten nicht verjchiedene Spraden zu lernen: fie 
fonnten ſich alle im derjelben verftändigen. Die Kenntnis diefer Sprache 
eröffnete ihnen die altlateinische Literatur und alles, was von der griechiſchen 
in dieſelbe übergegangen, die bibliſche und patriftiiche Literatur und mas 
bis jetzt an chriftlicher Poefie geleiftet worden war. Sie ermöglichte es, 
jowohl alle antiten Versmaße der Griehen nadzubilden, als nad dem Bei- 
jpiele der romanischen und germaniſchen Volksdichtung den Gedanten in 
rhythmiſche Form zu Heiden, mit Alliteration, Affonanz und Reim. Wie 
die Architeltur und die übrigen bildenden Künſte ſich indes vorläufig noch 
nad) dem Vorbilde der Alten richteten, jo gaben die poetifhen Talente un: 
willtürlih no den antifen Formen der Poefie den Vorzug und wandten 
fie faft ausfhließlih an, doch vielfach mit jener Freiheit, welche ſich die 
borausgegangenen hriftlihen Dichter bereits verftattet hatten. 

Alkuin war vorab ein ausgezeichneter Lehrer. Das zeigen die kleinen 
Schulbücher über Grammatik, Rechtſchreibung, Rhetorik und Dialektik, welche 
bon ihm nod) erhalten find. Drei davon find dialogiſch-katechetiſch gehalten. 
Die Grammatik läßt er durch einen fünfzehnjährigen Sadjenfnaben einem 
etwas jüngeren Franken erklären. In der Rhetorik und Dialektif find Karl 
und Alkuin ſelbſt die Perjonen des Schuldialogs, der ſchon dadurd zu den 
merfmwürdigften Alten der Pädagogit und Kulturgefhichte gehört. Am 
mwißigiten und munterften aber zeigt ſich Alkuin in einem kurzen Dialog 
zwiichen ihm und dem feinen Pippin, dem Sohne des Kaiſers. An die 
bejondere Liebhaberei des Kaiſers für die Aftronomie erinnert das Schriftchen 


296 Sechſtes Kapitel. 


De cursu et saltu lunae ac bissexto jowie mehrere auf Kalender— 
rechnung bezüglihe Briefe. Die großen, allgemeinen Gefichtspunfte der 
Pädagogik zeichnet die Einleitung in die Grammatik, wo die fieben freien 
Künfte mit den fieben Säulen verglichen werden, die das Haus der Weisheit 
tragen, d. h. die Theologie, welche letztes Ziel und Krone alles Willens if. 

Wie Alkuin mit den Kindern Kind zu werden wußte und den Ab- 
ſchreibern jeden einzelnen Buchftaben bis ins Heinfte erklärte, jo griff er 
auch als mohlgeihulter Theologe in die wichtigften theologischen Fragen 
feiner Zeit ein, in den Streit über den Abdoptianigmus und über bie 
Bilderverehrung ; er jhrieb Kommentare zu verſchiedenen Büchern der Heiligen 
Schrift, ein dem Kaiſer gewidmetes Wert über die Trinität, eine Ethik, 
welche bejonders die Verwaltung des Nichteramtes ins Auge fakt, eine 
Pſychologie, die ftark in die Askeſe Hinüberftreift, Er verfaßte auch mehrere 
Heiligenleben in Proſa, mie jenes des hl. Richerius, des hl. Vedaſtus, des 
bi. Willibrord. 

Am liebenswürdigften jpiegelt ſich ſein Charakter, am glänzendften zus 
gleih jeine vielfeitige Tätigkeit in den von ihm erhaltenen Briefen, von 
melden indes die meilten erft im die letzte Periode feines Lebens fallen. 
Boll Eifer für Religion und Kirche, für Schule und Wiſſenſchaft, ebenjo 
anjpruchslos und liebreih als gelehrt und geiftreih, ift er ein unermüd— 
licher Lehrer, Tröfter und Helfer aller, die fih an ihn wenden, der treueite 
Freumd feiner alten Belannten in England, der allzeit heitere Genoſſe der 
Gelehrten an Karls Hofe, der forglide Water des Slofters von Tours, 
ein wirklicher Diener aller von einzelnen Laien und Prieftern hinauf bis 
zu den einflußreichften Biihöfen und Prälaten, den Prinzen und Prinzeſß— 
finnen des Kaiferhaufes und zum Kaifer, feinem geliebten „David“ ſelbſt. 
Welch einen Jubel atmet der Brief, im welchem er den 801 von der 
Krönung heimfehrenden Karl begrüßt: 

„Gepriejen ſei Gott ber Herr und gepriefen jeine beftändige Barmherzigkeit 
über feine Diener: zu deren Wohl und Heil er Euch, jühefter David, glüdlih und 
friedlich heimgeführt, erhalten, geehrt und erhöht hat... . Selig das Volk, dem 
bie göttlihe Milde einen fo frommen und klugen Herrſcher gegeben! Glücklich das 
Volt, das von einem weifen und frommen Fürften regiert wird, wie es in jenem 
platonifhen Spruche heißt, wo gejagt wird: glüdlich jeien die Reiche, wenn Philo- 
jophen, d. h. Liebhaber der Weisheit herrſchten oder bie Könige fi ber Philojophie 
widmeten, weil nichts in der Welt mit der Weisheit verglichen werden fan. Denn 
fie ift es, die den Niebrigen erhöht und dem Mächtigen Ruhm verleiht und an 
jedermann lobwürbig ift. Im ihr liegt die Zier und Schönheit des gegenwärtigen 
Lebens und ber Ruhm der ewigen Seligfeit; denn mur jene Weisheit ift die wahre, 
welche jelige und ewige Tage gewährt.“ ! 


’ Alcuini Epist. 229 (Monum. Germ. Hist. Epist. IV 372 373); bei Migne, 
Patr. lat. C 364—366. 


Die literariſche Tafelrunde Karls des Großen. 297 


Adlersflügel wünſcht er fih, um dem Kaiſer entgegenzueilen. Doch das 
Fieber Hält ihn zurüd. Seine Tage find gezählt. Er wünſcht fih nur noch 
das eine, friedlich im Kloſter des Hl. Martin jeine Tage beſchließen zu dürfen. 

So ift das Verhältnis zwiſchen Karl und Alkuin bei weiten idealer 
als jenes zwiſchen Auguftus und den großen Dihtern, die jein Zeitalter 
verherrlihten. Man darf nicht davon abjehen, wenn man feinen dichte: 
riſchen Leiftungen gerecht werden will. Denn wenn uns aud ein paar 
Hundert Gedichte von ihm erhalten find, jo hat er dod die Poefie nur 
nebenher als Gelegenheitsdichtung, ala freundliche Zufpeife zu feinem ernften 
Schul: und Gelehrtenleben betrieben. 

Auch in feinen größeren Dichtungen hat er wohl faum Hohe Kunft: 
forderungen an ſich geftellt. Im der einen hat er daS bereits in Proſa 
geichriebene Leben des Hi. Willibrord in Herametern verfifiziert; in der andern 
hat er die Geſchichte feiner Heimat York in 1657 Hexametern erzählt: 


Patriae quoniam mens dicere laudes, 
Et veteres cunas properat proferre parumper 
Euboricae gratis praeclarae versibus urbis. 


Die eine ift ganz im Stil der mittelalterlihen Heiligenlegenden ge: 
halten, in welchen die Wunder meift alles übrige zurüddrängen; die andere 
hat ſchon ungefähr die Anlage der jpäteren Reimchroniten. An Bergil, 
Prudentius und andern gebildet, führt aber Alkuin feine Erzählung doch 
mit der Gewandtheit, Anmut und gewählten Sprache eines tüchtigen Epilers 
aus. In beiden Gedichten, beſonders aber in dem Hiftoriichen Lobgedicht 
auf York, pulfiert innige Liebe zur Kirche wie zur Heimat, die, einmal 
Hriftianifiert, auch zur Leuchte für andere Völfer geworden ift. 

Die Gründung Yorks dur die Römer, das Treiben der Briten und 
ihre Verdrängung durch die Angelfahien, die Kämpfe des Königs Edwin 
und jeine Befehrung durch Paulinus, die Stiftung des Erzbistums, die 
Kriegstaten des Königs Oswald, die Schidfale der Könige Egfrid und 
Aldfrid, wunderbare Gnadenerweiſungen des heiligen Kreuzes, die merf: 
würdige Viſion des Drithelm von Melroje, das Wirken der Hl. Guthbert, 
Willibrord und Beda, die Entwidlung der Domſchule unter dem Erzbiſchof 
Egbert: all das ift teils nah Beda teils nah andern Überlieferungen und 
eigener Kundſchaft überaus lebendig erzählt, ein KHulturbild, das zugleich) 
Hiftorifchen und literariichen Wert hat. Schon mehr astetifch gefärbt ift die 
Elegie auf die Verwüſtung des Klofterd Lindisfarne dur die Dänen (De 
elade Lindisfarnensis monasteri) in 120 Diftihen; ziemlich nüchtern und 
hausbaden find die 205 Spruchverſe, welche fi unter dem Titel Praecepta 
vivendi, quae monastica dieuntur vereinigt finden, jehr munter dagegen 
die Epiſtel, in welcher er alle jeine Freunde von Utrecht bis gen Mainz grüßt. 


298 Sechſtes Kapitel, 


Alle feine übrigen Gedichte find Gelegenheitägedihte, Epifteln, Epi— 
taphien und Epigramme!, Mande Hocdpathetiihe Glüdwünjhe find an 
Kaifer und Papft gerichtet und werden in Gedanlen und Form der hohen, 
mweltgefhichtlichen Bedeutung beider gerecht. So ruft er dem Kaiſer ſchon 
bor feiner Krönung (800) die Worte zu: 

Ipsa caput mundi spectat te Roma patronum, 
Cum Patre et populo, pacis amore pio, 

Quos revocare quidem studeat tua sancta voluntas 
Ad pacis donum, per pia verba Dei. 

Erige subiectos et iam depone superbos, 
Ut pax et pietas regnet ubique sacra?, 


In ähnlichen Weiheaktorden Huldigt er auch dem Papfte Leo IIL in 
mehreren Gedichten. Gegenüber dem Kaiſer ſchlägt er aber aud gemüt- 
(ihere Töne an gemäß der Vertraulichkeit, die in dem gelehrten Hofkreiſe 
herrſchte. Da beginnt er: 


O dilecte Deo, David dulcissime Flacco, 


und dann erkundigt er fi gemütlich ſcherzend nach allen ſeinen früheren 
Genoſſen, nach den Prieſtern und nad) den Arzten, nach dem kunſtfertigen 
Bejeleel (Einhard), nad dem Kleinen Schreibmeifter Zahäus, nad dem Leſe— 
meifter Sulpicius und dem Gejanglehrer Idithun, nach der für Aſtronomie 
ihwärmenden Prinzeſſin, nad Angilbert und jogar nad dem Mundſchenk 
Nemias und dem Küchenmeifter Menalcas. Alter Humor Klingt noch, etwas 
melancholiſch angehaucht, durch die Elegie an den Kudud (Cuculus), wie 
ein jüngeres Genie des Kreiſes genannt wurde, das fich leider durch Trunk— 
jucht verdarb und unglüdlid machte. Man hat in ihm einen gewifjen 
Dodo vermutet, an den ein Projabrief Alktuins gerichtet ift, und ihm das 
merkwürdige Gedicht vom Kudud oder Confictus veris et hiemis zu— 
gejchrieben, das unter Altuins Gedichte Aufnahme gefunden hat und wohl 
aud von diefem gedichtet jein fann. Die Form ift Vergils Eklogen ent: 
lehnt, aber das innige Naturgefügl darin ift echt germaniſch: es fledt ein 
richtiger deutſcher Frühlingsgruß darin. 
Raſch verfammelten fi von den hohen Bergen ber Alpen 


In des Lenzes Beginn der Rinder gemütliche Hirten 
Unter ſchattigem Baum, die fröhlichen Mufen zu fingen. 





ı Nicht alle ftammen von Alkuin ſelbſt; mande find nur Abſchriften von 
metriihen Infchriften aus Rom. So ift 3. B. das Gebiht Nr 3 bei Dümmler 
(Poetae latini aevi Carolini I 345) eine Inſchrift auf der Kirche S. Pietro in vin- 
eoli, die von Arator herrührt. — ®al.H. Grisar, Analeeta Romana I, Roma 
1899, 68. 

» Dümmler (a. a. ©. 1257 ff). — Migne, Patr. lat. CI 784. 


Die literarifhe Tafelrunde Karla des Großen. 


Dafnis auch fand fi ein und der würbige greife Palämon. 
Alle bereiteten fi, das Lob des Kuckucks zu feiern. 

Aber es fam auch der Lenz, gefhmüct mit blühenden Kränzen, 
Und mit ftarrendem Haar der eifige, grimmige Winter, 


Und es entjpann fi ein Kampf, ein gewaltiger, über den Kudud. 


Erjt hub an der Lenz und fang melodifch drei Verſe. 


Der Lenz. 


ſtäme der Kudud doch, der allerliebfte der Vögel! 
Allen im Haus ift er wie feiner der Gäfte willfommen, 
Der fein köſtliches Lied mit glänzendem Schnabel geftaltet. 


Der Winter. 


Drauf in geftrengerem Ton erwibert der eifige Winter: 
Bleibe der Kudud ung fern und ſchlummre in nädtliher Höhle! 
Quälenden Hunger nur pflegt er uns als Gabe zu bringen. 


Der Lenz. 


Käme der Kudud do, mein Liebling, mit fröhlichen Keinen, 
Und vertriebe den Froft, des Phöbus Genoſſe von jeher, 
Phöbus im wachſenden Licht, im hellen, Tiebet den Kudud. 


Der Winter. 


Bleibe der Kudud uns fern! Gr bringt nur Mühen unb Arbeit, 
Er verdoppelt den Kampf, ſcheucht von uns behagliche Ruhe, 
Alles wirbelt er auf, bringt Land und Meer burdeinander. 


Der Lenz. 


Fauler Winter du! Was fingft du Läft’rung dem Kudud? 
Der du träge verſchnarchſt die Zeit in finftern Höhlen, 
Nachdem du ber Benus gefröhnt und dem törichten Bacchus. 


Der Winter. 


Auch ich fühle mich reich, ich gönne mir luſtige Schmäufe, 
Feire in füher Ruh’, beim warmen feuer am Herde. 
Davon weiß der Kuckuck nichts; es quält fich der Arge. 


Der Benz. 


Blumen bringt uns herbei der Kudud, labt und mit Honig, 
Baut uns Scheunen und Haus und führt auf friedlichen Wegen, 
Zeugt lebendige Brut und Hleidet mit Jubel die Auen, 


Der Winter. 


Feindſchaft dräuet mir, was du zur freude bir rechneft. 
Ich aber zähle mit Luft in meinen Truhen die Schäße, 
Praſſe am leckern Mahl und genieße beftändiger Ruhe. 


299 


300 Sechſtes Kapitel. 


Der Lenz. 


Wer aber fpeichert dir auf, du fauler, jchläfriger Winter, 
Schäthze und füllet mit Pradt bie leeren Truhen im Haufe, 
Wenn fi zuvor nicht der Lenz und der Sommer fleißig bemühten? 


Der Winter. 


Wahr ſprichſt du, und barum act’ ich auch jene als Knechte, 
Die nur Schaffen für mid und meinem Gebote fi duden: 
Alles gehöret bem Herrn, was jene fih mühſam erquälen. 


Der Len;. 


Nein, du bift nicht ihre Herr, nur ein ftolzer, erbärmlicher Bettler. 
Könnteft dich kümmerlich nicht aus eigenen Mitteln ernähren, 
Brächte dir Speife und Trank nit der Kuckuck, den wir erwarten. 


Palämon. 


Da, von erhabenem Sik hub an der würb’ge Palämon, 

Dafnis, ber Jüngling zugleid und die Schar der waderen Hirten: 
‚Schweige, Winter, nunmehr, du grämlidher, grimmer Verſchwender, 
Und e8 fomme herbei ber Freund der Hirten, ber Kudud. 
Fröhlich auf Hügeln und Höh’n mög’ jegliche Anofpe fih öffnen, 
Frei auf den Wieſen das Vieh fih Weide ſuchen und ruhen, 
Grünenb wieder der Wald den Mübden öffnen fein Laubbadh, 
Strogenden Euterd zum Eimer des Senns die Ziegen fi drängen, 
Zaufendftimmigen Sangs die Vögel den Morgen begrüßen. 
Darum fomm nur fehnell, o Kudud, ſäume nicht Länger! 

Liebling aller, o fomm, als Gaft uns allen willfommen ! 

Alles harret auf dich, das Meer und die Erb’ und ber Himmel. 
Willomm, fühefter Freund, für immer willlommen, o Kudud!! 


Perjönlichkeiten wie Karl d. Gr. wirken erbrüdend auf den zeitgenöf- 
fiihen Epifer. Erft in einiger Ferne, wenn die Sage ihr Spiel beginnen 
fann, mag er e3 verjudhen, eine jo gigantijche Geftalt im Hohlſpiegel der 
Didtung aufzufangen. Gleich Alerander mag indes aud Karl fi einen 
Homer gewünſcht haben, und da Angilbert! im traulien Hofkreife dieſen 
Namen führte, ift die Vermutung nicht unbegründet, daß er fi mit dem 
Plane eines karolingiſchen Epos trug?. Bon vornehmen fränkischen Geſchlecht, 
war er zugleih der Liebling des Kaiſers und feiner bevorzugten Tochter 
und ward deren Gemahl in clandeftiner Ehe und Vater zweier Söhne, deren 
einer der jpätere Geſchichtſchreiber Nithard war. Später ſcheint ſich Angilbert 





! Conflictus veris et hiemis bei Dümmfler (Poetae latini aevi Carolini I 
270— 272). 

? Wattenbadh, Deutfhlands Gefhichtsquellen I 162—169. 

®’ Angilberti Carmina, bei Dümmler (a. a. ©. 1355—881) und Migne, 
Patr, lat. XCIX 849-854. 


Die literarifche Zafelrunde Karls des Großen. 301 


indes von der Welt zurüdgezogen zu haben, ward Abt von St-Riquier und 
wurde wie Kaiſer Karl jelbft in weiten Kreifen als Heiliger verehrt. Er galt 
nicht bloß als ein ausgezeichneter Diplomat, dem Karl verjchiedene wichtige 
Sendungen anvertraute, jondern auch als tücdhtiger Poet. Ein paar gemüt- 
volle Gedichte rechtfertigen dieje günftige Meinung und maden es nidht uns 
wahriheinlih, dab auch das Bruchſtück eines größeren epifchen Geſanges, 
Carolus magnus et Leo III, von ihm herrührt!. In der Art Vergils, 
recht Friih, lebendig und maleriſch jchildert er den Bau von Aachen, des 
neuen Roms, dann Wald und Park bei der Stadt, eine große Jagd, an 
der der Kaiſer mit feiner ganzen Familie fi) beteiligt, darauf den Traum 
Karls über die jchredliche Lage des Papſtes, die Entfendung einer Gejandt- 
ihaft an den Papft, dad Zufammentreffen von Papft und Kaiſer bei 
Paderborn. 


Laut jchallen die Trompeten. Es drängt ih Schar an Schar, 
Am Sonnenfheine funfeln die Helme wunberbar, 

Die Waffen fröhlih bliken, die Banner Iuftig wehn, 

Stolz von den hohen Roſſen bie jungen Reiter fehn. 

Bon Kraft und Kampfmut ftrogend ftehn fie in langen Reihn, 
Es glüht in ihren Adern: fie ſchlügen gerne drein. 

Hoch über alle raget in voller Waffenpradt, 

Geihmücdt mit gold’nem Helme bes Kaiſers heil'ge Madht. 

In Gold und Scharlach prunket fein Schlachtroß mächtig ſchwer, 
Sein Blick, ber gleitet lächelnd hin auf fein zahllos Heer. 


Dorn an ber Front, der langen, ftehn feftlich in brei Reih'n 
Die Bifhöfe und Priefter, geteilt in Chöre ein, 

In wallenden Gewanben — hoch weht das Kreuzpanier, 
Und um fie barrt des Papftes das Volk in Freudenzier. 


Der Kaijer fieht von ferne Pippin, den Sohn, fi nahn, 
Da teilet er die Scharen, zu öffnen freie Bahn, 

Läßt Heer und Bolt ſich ftellen in weiten, offnem Streis. 
Er jelbft harrt in der Mitte fromm auf ben Prieftergreis, 
Um Haupteslänge ragend ob feinem fFeftgeleit: 

Der herrlicfte und größte im Bolfe weit und breit. — 


Lebt naht der Papft. — Boll Staunen tritt in ben Kreis er ein, 
Schaut alle Stämme, Bölfer, in friedlihem Verein, 

In Kleidung und in Sprade, in Waffen und Geftalt 

So wunderſam verſchieden, jo bunt, fo mannigfalt. 


Verehrend vor ihm nieder ber große Kaiſer fällt, 

Doch aldbald in den Armen ber Priefterfürft ihn hält; 
Sie ſchütteln fi die Rechte, fie taufhen Kuß und Gruß, 
Sie wechſeln traute Reden auf holdem Freundesfuß. 





' Bei Dümmler (a. a. ©. I 366-381). 


302 Schftes Kapitel. 


Dreimal finft mit dem Volfe das Heer auf feine Knie, 
Des Papites Vaterſegen erflehen dreimal fie: 

Dreimal der Hohepriefter blickt betend himmelan 

Und fpendet feinen Segen voll Liebe jedermann. 

In trautem Zwiegeſpräche ftehn dann fich zugefellt 
Europas Hort, der ſtaiſer — Leo, ber Hirt der Welt '. 


Trotz der Hajfiihen Reminiscenzen atmet die Ausführung ſchon ganz 
den Geift mittelalterliher Romantik. 

Nächſt Alkuin hat fein Mitglied der Tafelrunde fo viele Gedichte hinter: 
lafjen ala der Gote Theodulf, jeit 788 Biſchof von Orleans, 798 aud 
mit der Würde eines Missus dominicus befleidet?. Auch bei Ludwig dem 
Frommen ftand er anfänglih in Gunft, wurde aber, der Teilnahme an der 
Verſchwörung Bernard3 von Jtalien angellagt, 818 aller feiner Würden 
entjeßt und farb 821 im Gefängnis. Gleih Alkuin griff auch Theodulf 
durch theologiihe Schriften (De Spiritu Sancto; De ordine baptismi) 
in die obwaltenden Zeitfragen ein, war überaus tätig für Verbreitung 
und Organijation der höheren wie niederen Schulbildung und genoß in 
politiihen wie firhlihen Fragen Karla Vertrauen. Aud er trieb die Poeſie 
nur nebenher, entwidelte aber in Sprade, Ausdrud und Berfifitation mehr 
Gewandtheit als jeine übrigen Kollegen, Alluin nit ausgenommen. Seine 
Diftihen fließen jo glatt dahin wie diejenigen des Venantius Yortunatus, 
ja, man darf wohl jagen, faft wie diejenigen Ovids. Noch wibiger und 
heiterer ala Alkuin und Angilbert hat er die Ffarolingiiche Tafelrunde be- 
ihrieben*. An Belejenheit jheint er Altuin kaum nachgeftanden zu haben. 





8. 475—505, überjeßt vom Berfaffer. — „Niemand*, jagt Wattenbad 
(Deutihlands Geſchichtsquellen 1° 169), „wird Diejes Fragment aus der Hand legen, 
ohne zu bedauern, daß uns von diefem Werke nicht mehr erhalten ift; es weht uns 
barin gleihfam bie friſche Luft jenes kraftvollen Lebens an, und wir fühlen uns 
auf einen Augenblick entrücdt aus der einfürmigen Atmoſphäre der geiftlichen Ehroniften, 
ja ſelbſt der feelenlofen Schulpoefie." Auh Ebert (Deutihe Rundſchau XI 408) 
fpricht ſich ſehr günftig Über das Gedicht aus: „Der Verfafler jenes epiſchen Gejanges 
beſaß wahres poetifches Talent, einen reichen Sinn für das Maleriſche der Schilderung 
fowie für die Mufit bes Verſes. Die finnlihe Kraft und die ganz weltliche Rich— 
tung, welche dieſes Poem, ebenjo wie bie Efloge des Najo, auszeichnen, künden 
ſchon eine neue Literatur der Zufunft in dem neuen Imperium an, bie allerdings 
erft viel jpäter zu einer wahren und vollen Entwidlung reifen follte.“ 

? Seine Werle herausgeg. von Y. SirmondS.J., Paris 1646 und in beffen 
Geiammelten Werfen Il, Paris 1696; Migne, Patr. lat. CV 187—380. — 
Seine Gedichte bei Dümmler (Poetae latini aevi Carolini I 437—581). — 
Haurdau, Singularitös historiques et litt6raires, Paris 1861. — Rzehulka, 
Theodulf, Biihof von Orlians, Breslau 1875. — Cuissard, Theodulfe, Eväque 
d’Orleans, Paris 1892. ® Migne.a. a. DO. CV 191-282, 

* XXV. Ad Carolum regem (122 Diftihen), bei Dümmler (a. a. O. I 
483—489). 


Die literarifhe Zafelrunde Karls bes Großen, 303 


In einem Gedicht, worin er feine Lieblingsautoren aufzählt, entwidelt er 
zugleich, wie die antifen Mythen allegoriſch gedeutet und jo für die hriftliche 
Bildung nutzbar gemacht werden fünnen!. Im Anjhluß an ein Gemälde 
zeichnet er jehr jchön feine Auffaffung der fieben freien Künfte, d. h. der 
ganzen damaligen Bildung. Nachdem er Biſchof geworden, drängten natürlich 
wichtigere Geſchäfte das Dichten zurüd: 


Non amor ipse meus, Christus mes carmina quaeret, 
Sed mage commissi grandia lucra gregis?, 


Sein umfangreihftes Gedicht, Versus contra Iudices, ein ernftes 
Mahnwort über Gebrauh und Mißbrauch der richterlihen Gewalt (in 
478 Difiihen), Hat er indes mahrjdeinlihd al® Missus dominicus ver— 
faßt. Auch aus der Zeit feiner Gefangenihaft find noch einige ſehr ſchöne 
Gedichte vorhanden. In dem einen, an Biſchof Aiulf von Bourges, beteuert 
er feierlich feine Unſchuld. 


Non regi aut proli, non eius, erede, iugali 
Peccavi, ut meritis haec mala tanta veham. 
Crede meis verbis, frater sanctissime, erede: 
Me obiecti haudquaquam criminis esse reum. 
Perderet ut sceptrum, vitam propriumque nepotem, 
Haec tria sum numquam consiliatus ego. 


Sp hat die Poeſie diefen Dichter durch alle Wechjelfälle bi$ zum Tode 
begleitet. In der römiſchen Liturgie lebt nod ein Gedicht von ihm fort, 
das er für den Palmjonntag verfaßte: 


Gloria, laus et honor tibi sit, rex Christe redemptor, 
Cui puerile decus prompsit osanna pium. 
Israhel es tu rex, Davidis et inelita proles, 
Nomine qui in domini, rex benedicte, venis. 
Coetus in excelsis te laudat caelicus omnis, 
Et mortalis homo et cuncta creata simul. 
Plebs Hebraea tibi cum palmis obvia venit, 
Cum prece, voto, hymnis adsumus ecce tibi®. 


Lob ſei und Glorie und Ehre dir, König Ehriftus Erlöfer, 
Welchem ber findlihen Schar frommes Hoſanna ertönt. 
Israels König bift du und Davids herrlicher Sprößling, 
Der bu im Namen bed Herrn, König, gejegnet dich nahſt. 
Did, Herr, preifen entzüdt in der Höhe die himmliſchen Scharen, 
Did der fterblihe Menſch, alles Geſchaff'ne zumal. 
Dir zog einft das hebräifche Wolf mit Palmen entgegen: 
Wir mit Gebet und Gelübd’ nahn und mit Hymnen uns bir. 





ı XLV. De libris quos legere solebam et qualiter fabulae poetarum a philo- 
sophis mystice pertraetentur, bei Dümmler (a. a. O. I 543—544). 

® XLIV. Car modo carmina non scribat, bei Dümmler (a. a. ©. I 542). 
® LXIX, bei Dümmler (a. a. ©. I 558—559). 


304 Sechſtes Kapitel. 


Bon Paulinus, Biſchof von Aquileja, einem ſehr vertrauten Freunde 
Altuins, find nur wenige religiöje Gedichte erhalten: eine Regula fidei, 
ein Gedicht auf Lazarus, eine Elegie auf die Zerftörung von Aquileja, ein 
Rhythmus auf Ehrifti Geburt und fleinere Hymnen!. Der Schotte Joſeph 
(Joſephus Scottus), der jhon in England Alkuins Schüler war, hat fidh 
nur durch die künſtlichſten afroftihiichen Figurengedichte verewigt?. Unter dem 
Namen „Naſo“ verftedte ſich wahrfheinlih ein anderer Schüler Alkuins, 
Mundvin, der den Kaiſer in einer artigen Efloge verherrlihte?. Auch der 
Abt Fardulf*, ein Langobarde, ein gewiffer Bernomwind, und ein „Iriſcher 
Verbannter“ (den mande für identiih mit dem Mönde Dungal halten) 
feierten Karl in einigen fürzeren Gedichten. 

Intereffanter find die poetiichen Epifteln, welde Beter von Pija 
im Auftrage Karls und in feinem eigenen Namen an den Langobarden 
Paulus Diakonus richtete, und die Antworten, welche diefer darauf 
gab®, In Ernft und Scherz zeichnet ji Hier das jchöne, gemütliche Ver: 
hältnis, in weldem die beiden Gelehrten zu dem gewaltigen Herrſcher 
ftanden. Die meiften find in Herametern und Diſtichen, ein paar joviale 
Ergüffe heiterer Laune aber auch in rhythmiſchen Verſen abgefaht. So 
erhebt 3. B. einmal Petrus den Paulus in hochtrabendem Lobeserguß als 
einen neuen Homer, Bergil, Philo, Tertullus, Flaccus und Tibullus. 
Paulus aber erwidert darauf: 

Dicor similis Homero, Flacco et Vergilio, 
similor Tertullo sive Philoni Memphitico, 
tibi quogue, Veronensis o Tibulle, conferor. 


Peream, si quemquam horum imitari cupio, 
avia qui sunt secuti pergentes per invium, 
potius sed istos ego comparabo canibus. 


Graiam nescio loquelam, ignoro Hebraicam: 
tres aut quattuor in scholis quas didici syllabas, 
ex his mihi est ferendus maniplus ad aream. 


Gleichen ſoll ih dem Homerus, dem Horaz und dem Bergil, 
Dem Tertullus, ja dem Philo fern zu Memphis an dem Nil, 
Dem Zibull auch von Berona ähneln ſoll mein Saitenfpiel. 


Hol’ der Kudud mich, wenn einer diefer mir als Vorbild galt, 
Die auf unwegſamen Pfaden haften eitle Spufgeftalt; 
Eher werb’ ich fie vergleihen Hunden wohl jung oder alt! 


ı Dümmler (Poetae latini aevi Carolini I 123—148). 

® Ebd. I 149—159. s Ebd. I 382-392. 

* Ebd. I 352— 854. ® Ebd. I 413—425. 

° Pauli et Petri diaconorum carmina, bei Dümmler (a.a.D©.127—86). 
— Bol. Wattenbah, Deutihlands Geſchichtsquellen I 155—162. 


Die literariihe Zafelrunde Karls des Großen. 305 


Griechiſch ift mir wie Hebräiſch, beides völlig unbelannt; 
Mit ein paar latein’schen Broden, die ih in ber Schule fand, 
Komm’ ih, mit gar leichter Garbe, zu der Tenne hergerannt! 


Dies ift natürlich Scherz. Paulus verftand das Griechiſche und gab 
darin Unterricht am Hofe. Lehnte er auch mit Recht das übertriebene Lob 
von fih ab, fo beſaß er doch wirkliche poetiiche Begabung. Tief ergreifend 
ift die Elegie auf den Gemahl jeiner Schülerin, der Prinzeſſin Adelperga, 
den Herzog Arichis, ſehr ſchön fein Gedicht auf den Comerſee, feine Grab: 
Ihrift für Königin Hildegard und mehrere feiner Epifteln an Karl und an 
Peter von Piſa. Auch jein größeres Gediht auf den hi. Benedikt verdient 
alle Anertennung. Paulus war übrigens nur furze Zeit am Hofe Karla. 
Aus vornehmer Familie in Friaul entftammt, Hatte er eine treffliche Aus— 
bildung in Pavia genoffen, wurde Lehrer der Mdelperga, einer Tochter des 
Königs Defiderius, für welche er feine „Römische Geſchichte“, eine Fort— 
fegung des Eutropius, ſchrieb, begleitete diefe bei ihrer Verheiratung nad 
Benevent, trat aber bald in das Kloſter Monte Caſſino. Im Jahre 782 
folgte er Karl nah Deutihland, auf defien Wunſch er eine Sammlung 
treffliher Homilien verfaßte, kehrte jedoch ſchon 787 in fein Kloſter zurüd, 
wo er fein berühmteftes Wert, feine „Geſchichte der Langobarden“ !, und 
eine Erklärung der Benediktinerregel vollendete. 

Der Geſchichtſchreiber Karls ward zunädft Einhard, der, um 770 
im Maingau geboren, fi) ala Schüler in Fulda auszeichnete und deshalb 
don Abt Baugolf an den Hof gejandt wurde. Wegen feiner künſtleriſchen 
Anlagen und Leitungen erhielt er dort den Namen „Bejeleel” , hieß aber 
auch „Nardus“ oder „Nardulus“, ward wegen feiner kleinen Statur viel 
gehänjelt, aber wegen feines reihen Wiſſens jehr hoch geihäßt und vom 
Kaifer bald als vertrautefter Rat zu allen wichtigen Gejchäften herbei: 
gezogen. 

Danf und Liebe trieben ihn, nad dem Zode des Kaiſers kurz deſſen 
Lebensbild zu entwerfen, weil feiner ihm jo nahe geftanden, feiner fo genau 
in jeine Angelegenheiten eingeweiht war. Er hatte klaſſiſche Bildung und 
kritiihen Vlid genug, um fi nicht ſchon beim erften Verſuch felbft für 
einen Slajfifer zu halten; aber indem er fih Sueton zum Vorbild nahın, 
hat er ein umgemein treffendes und wirkungsvolle Portrait des Kaiſers ent: 





: Ausgaben von W. Parpus, Paris 1514; E. Peutinger, Augsburg 
1515; Lindenbrog, Leiden 1595; Gruterus, Hanau 1611; 9. Grotius, 
Amfterdam 1655; Migne, Patr. lat. XCV 458—672; 8. Bethmann und 
6. Wait, Hannover 1878 (Monum. Germ. Hist. Seript. rer. Langob. 25—187). 
— Deutſch von K.v. Spruner, Hamburg 1838; R. Jacobi, Leipzig 1878. — 
Die übrigen Schriften bei Migne a. a. DO. XCV. — Val. Wattenbach a. a. O. 
1° 155—182, 

Baumgartner, Weltliteratur. IV, 8. u. 4. Aufl. 20 


306 Siebtes Kapitel. 


worfen, das deffen geihichtlicher Stellung entſpricht. Wie Karl ein weſent— 
lich neues Imperium gründete, nur mit Überreften altrömifcher Formen und 
Erinnerung, jo ift die Lebensbeſchreibung Karls von Einhard ein mittel 
alterlich gedachtes Eharafterbild in Stil und Yorm der Alten !, 


Siebte3 Kapitel, 


Die Fiteratur an den Kloſterſchulen: Fulda, Reichenau, 
St Gallen. 


Aachen wurde kein zweites Rom, wie fi Angilbert und andere Poeten ge 
träumt haben mochten. Den Einheitspunft des neuen Reiches bildete vorläufig 
nur die gewaltige Perjönlichkeit des Kaiferd, dann die Würde, die er jeinen 
Erben hinterließ. Aber einen feften lofalen Mittelpunkt ſchuf er nit. Seine 
Nachfolger teilten nicht diefelbe Vorliebe für Nahen; fie ſchlugen bald hier 
bald dort ihre Pfalz auf. Schon lange vor Karls Tod hatten ſich jeine 
literariihden PBaladine wieder nad verſchiedenen Seiten zerjtreut. Zur Grün: 
dung einer rein weltlihen Schule war es nicht gelommen, da die begabteften 
weltlichen Räte des Kaiſers, wie Angilbert und Einhard, fih ſchließlich 
ganz dem Dienfte der Kirche widmeten. Mit ihnen zog ſich die weltliche 
Bildung nah dem furzen höfiſchen Jugendfrühling gleihfam wieder ins 
Klofter zurüd, nicht weil Papft oder Mönche dies angeftrebt hätten, jondern 
weil die freien Germanen, die weltlid gefinnt waren, fih gar nidt um 
Wiſſenſchaft und Literatur kümmerten?, jene, die daran Gefallen hatten, 
fih der Eirhlihen Laufbahn zumandten. 


ı Mit dem ungünftigen Urteil Rankes (Zur Kritil fränkifchebeuticher Reichs» 
annaliften 416) vgl. bad gerechtere Wattenbachs (Deutichlands Geſchichtsquellen 
1° 175 ff), ber von Einhard mit Recht jagt: „Auch dankt er, und wir mit ihm, dem 
Sueton mehr als nur die Ausbrüde. Keine Biographie des Mittelalters ftellt uns 
ihren Helden jo volljtändig und plaftiih nad allen Seiten feines Wefens dar, Das 
ift die Frucht ber Kategorien, welche Einharb bei feinem Vorbild fand.“ 

2 Wipo erteilte im Jahre 1041 Kaiſer Heinrich III. den Rat, nad italieniſchem 
Mufter den Schulunterridt für bie ritterliche Jugend bes Reiches anzuordnen: 

Tune fac edietum per terram Teutonicorum, 
Quilibet ut dives sibi natos instruat omnes 
Litterulis, legemque suam persuadeat illis, 

Ut, cum prineipibus placitandi venerit usus, 
Quisque suis libris exemplum proferat illis. 
Moribus his dudum vivebat Roma decenter, 
His studiis tantos potuit vineire tyrannos: 


Die Literatur an den Kloſterſchulen: Fulda, Reichenau, St Gallen. 307 


Sp wenig die Kirche einen Prudentius oder Venantius Fortunatus, 
einen Boöthius oder Gaffiodorus Hinderte, fi nad jeder Richtung auszu— 
bilden, jo wenig hätte fie den weltlichen Großen der farolingifchen Zeit irgend 
eine Schwierigkeit im dieſer Hinficht bereitet. Noch ungerechtfertigter ift die 
Borftellung, „dur die fremde, römische Kirche“ wäre die reim deutſche, 
ureigene Entwidlung der germanischen Bölter, bejonders der Deutfchen, zum 
Schaden berjelben erdrüdt worden. Abgeſehen von all den hohen Gütern, 
welche ihnen die hriftlihe Zivilifation gebradht hat, gilt Hier die wohl— 
begründete Mahnung: „Doch ift es fraglih, ob wir überhaupt berechtigt 
find, Hier von einer Entwidlung zu ſprechen; folange wir von den Deutjchen 
Nachricht Haben, ijt eine ſolche, wo fie unberührt blieben, kaum mahrzu: 
nehmen, und gerade das am jpätejten unterworfene ſächſiſche Heidentum ift 
völlig ſtarr und jeder Veränderung widerftrebend; das waren Zuftände, die 
ungeftört viele Jahrhunderte ohme merkliche Entwidlung fortbeftehen fonnten.” ? 

Der Kirche danken aljo die deutjchen Völker jo gut wie die übrigen 
Nationen Europas den beiten Teil ihrer natürlihen Entwidlung und die 
hriftlihe Kultur dazu. Der Kirche dankt Karl d. Gr. die beften Hilfs: 
fräfte, die ihm nad der Gründung des Reiches bei feiner großen Kultur- 
arbeit zur Seite fanden. Der Kirche ift es zu danken, daß diefes, fein 
größtes und jegensreichftes Werk, nicht unterging, fondern daß die hriftliche 
Zivilifation faft ebenſo viele Pflanzitätten fand, als es Biſchofsſitze, Domitifte 
und Klöſter im dem weiten Reihe gab. 

Noch für lange galt es zunächſt, durch religiös-fittlihe und materielle 
Kultur die Grundbedingungen einer höheren Geiftesbildung zu legen, und dies 
ift der Hauptgrund, weshalb die allgemeine Kulturgeſchichte der nächſten zwei 
Jahrhunderte weit reicher und bedeutender ift als die Literaturgefchichte. 
63 koftete der Kirche ſchon außerordentlihe Mühe, nur die nötigen Kräfte 
für ihre gewöhnliche Seelforge und das Kriftlihe Apoftolat heranzubilden 
und den Höfterlihen Unterricht auf jener Höhe zu halten, wie ihn die angel: 
ſächſiſchen und irif hen Glaubensboten über das Meer gebracht Hatten. Dabei 
war der eigentlich religiöfe Teil der großen Aufgabe weit mehr durch praftijche 
hriftliche Erziehung bedingt als durch Wiſſenſchaft und Kunſt. Die religiöfe, 
astetijche Literatur drängte deshalb die wiſſenſchaftliche und ſchöngeiſtige weit 
zurüd oder gab auch dieſer eine klöſterliche Färbung. 


Hoc servant Itali post prima crepundia cuncti, 
Et sudare scholis mandatur tota iuventus. 
Solis Teutonieis vacuum vel turpe videtur, 
Ut doceant aliquem, nisi clerieus aceipiatur. 
(Wiponis Tetralogus ®. 190—200 Monum. Germ. Hist. SS. XI 251].) 
ı Wattenbad, Deutſchlands Geihichtsauellen im Mittelalter I’, Berlin 
1885, 208. 
20* 


308 Siebtes Kapitel. 


Die Überlieferung des hl. Bonifatius erhielt fih am lebendigiten an 
deffen Grabe, dem Klofter Fulda, wo dem erfien Abt Sturmi (742—779) 
zunächſt der gelehrte Baugulph (780-802), dann Ratger (8302—817), 
Eigil (817— 822), Sturms Biograph, und endlih Hrabanus Maurus 
folgte, der 842 der Abtswürde entjagte, fünf Jahre jpäter aber zum 
Erzbiſchof von Mainz erhoben wurde und als folder 356 ftarb. In ihm 
verband ſich die Überlieferung des Apoftels der Deutſchen gewiſſermaßen 
mit der literariichen des Alkuin, da er nod zeitweilig deſſen Schüler in 
Tours war. Sein vielfeitiges Wifjen, fein Eifer für Schule und Unterricht 
haben ihm den Namen eine primus praeceptor Germaniae verſchafft; 
feine formell gewandte, aber allzufehr zur Künftlichfeit neigende Gelegen- 
heitsdichtung bewegt ſich jo ziemlid in den Geleifen Fortunats und Alkuins !. 

Weit poetifcher angelegt als Hraban war jein Schüler, der Alemanne 
Walafrid Strabo (um 809 geboren). Derjelbe ftudierte erft in Reichenau 
unter den gelehrten Äbten Haito und Erlebald, den Mönden Wettin und 
Tatto und fam dann erft nah Fulda, um für einige Zeit Hrabans Unter: 
richt zu genieken. Von dem Erzkanzler Hilduin empfohlen, fand er zeit 
weilig Anftellung an dem Hofe Ludwigs des Frommen, deſſen Gemahlin 
Judith ihn begünftigt zu Haben jcheint. Im Jahre 338 wurde er Abt 
von Reihenau und bekleidete dieje Würde nad kurzer Unterbredung wieder 
von 842 bis zu feinem Tode 8492, 

Seine „Bifionen des Wettin“ (De visionibus Wettini, gegen taujend 
Herameter), die er, anlehnend an eine Profajhrift des Abtes Haito, ſchon 
mit achtzehn Jahren verfahte, find gewiſſermaßen ein Präludium zu Dantes 
„Böttlicher Komödie”. Denn fie ſchildern nicht nur eine Fahrt durch Hölle, 
Himmel und Tyegfeuer, jondern haben jchon in der Geitalt des Führers 
(ductor), in der Beichreibung der Sündenftrafen, in der Auffafjung des 
Fegfeuers ala eines Berges, in der Verwendung perſönlicher umd zeitgenöſſiſcher 
Momente, in der Anordnung des Paradiejes zahlreiche Anklänge an das 
jpätere Weltgediht aufzumeifen. Die jchlechten Priefter und Mönche werden 
dabei jcharf mitgenommen. Auch Karl d. Gr. entgeht den Strafen des 
Fegfeuers nicht, weil er, bei allen feinen jonftigen Verdienſten, ſich von 
Sinnenluft beftriden ließ ®. 


I Seine Werke biöher nur zum Zeil ediert von Golvenerius, Köln 1627; 
bana bei Migne, Patr. lat. CVII-CXU. — Die Gebidte herausgeg. von 
E. Dümmler, Berlin 1884 (Monum. Germ. Hist. Poetae latini aevi Carolini 
II 150— 258). — KRunftmann, Hrabanus Magnentius Maurus, Mainz 1841. — 
Köhler, Hrabanus Maurus und die Schule in Fulda, Leipzig 1870. 

? Seine Werle bei Migne a. a. O. CXIII CXIV, — Die Gedite ebd. CXIV 
1043—1130, neu herausgeg. von Dümmler (a. a. O. II 259—473). 

® Migne.a.a. ©. CXIV 1075. 


Die Literatur an den Alofterfchulen: Fulda, Reichenau, St Gallen. 809 


Bon jeinem Klofter jagt Walafrid in der Einleitung: 


Wo von ben Alpen herab fih ergießendb ber herrliche Rheinſtrom 
MWeftwärts wenbet ben Lauf, wird er zum ftattlidhen Meere. 
Mitten darin erhebt fi) eine gewaltige Infel, 

Augia wird fie genannt: rundum ift Deutichland gelagert. 

Aus ihr gingen hervor viel Scharen trefiliher Mönde, 


Sehr ſchön geihrieben find die von Walafrid in Proſa verfaßten Leben 
des hl. Gallus und des hl. Othmar, die fi auf ältere, no unbeholfene 
Darjtellungen ftügten. Ex wollte das Leben des hi. Gallus aud in Hexa— 
metern bearbeiten, fam indes nicht dazu. Dagegen verherrlichte er in kurzer 
epiſcher Biographie den hl. Blaitmaicus, Abt des Klofters Jona, der bei 
einem ilberfall der Dänen (um 793%) den Martertod erlitt, und den kappa— 
dociihen Märtyrer Mammas aus Cäſarea, der ſchon als Kind den Tieren 
des Waldes predigte. 

Geſchichtlich wie literarifch merkwürdig find feine Verje auf eine Reiter: 
ftatue Theodorihs, die Karl d. Gr. aus Ravenna entführt und vor der 
Raiferpfalz in Aachen hatte aufftellen lajfen (Versus de imagine tetrici). 
Malafrid faßt ihn als Verkörperung eines grimmigen gott: und menſchen— 
feindlihen Tyrannen auf und benußt dann den ſtark aufgetragenen Schatten- 
grund, um Ludwig den Frommen und die kunftliebende Kaiferin Judith zu 
verherrlihen. Das feine, höfiſche Lob ift dabei in einen Dialog gekleidet, 
den der Dichter (Strabus) mit feinem poetiſchen Genius (Seintilla) hält!. 

In einem andern größeren Gedicht Hortulus ſchildert Walafrid jeinem 
Freund und ehemaligen Lehrer Grimald, jetzt Abt von St Gallen, feinen 
Kloftergarten und deffen Gewächſe: Salbei, Raute, Stabwurz, Gurfe, Melone, 
Wermut, Andorn, Fendel, Schwertlilie, Liebitödel, Kälberkropf, Lilie, 
Mohn, Sclarea, Minze, Polei, Sellerie, Betonica, Adermennig, Meer- 
traubchen, Melifje, Rettich und Rofe, jedes in einem eigenen artigen, dMrdh- 
weg recht poetiichen Gedichtchen. Schöner ift wohl kaum je 5. B. die Melone 
beichrieben worden: 

Ebenſo ftrebend empor aus winzigem Kern die Melone 

Hebt fih und bildet ein Dach aus den Schilden gewaltiger Blätter 
Schattenreih und Hammert fih an mit zahllojen Zweigen. 

Und wie die Ulme umgarnt, die ragendbe, laubig ber Efeu 

Und mit ſchmiegendem Arm fie umfaßt vom Bufen ber Erbe 

Bis hinauf in des Stamms hochragenden Wipfel ihr folgend 

Und mit grünenbem Kleid verbirgt die runzlige Rinde, 


9. Grimm, Das Reiterftanbbild des Theodorich zu Aachen und bas Gedicht 
des Walafrid Strabus darauf, Berlin 1869. — €. P. Bod, Die Reiterftatue bes 
Dftgotenfönigs Theodorich vor dem Palafte Karls d. Gr. zu Aachen, in Jahrb. bes 
Vereins von Altertumsfreunden im Rheinland V, Bonn 1844, 1—160. 


310 


Siebtes Kapitel. 


Ober wie au an beliebigem Baum bie Fletternde Rebe 

Üppig wuchert hinauf und die ragenden Zweige mit Büfcheln 
Kleibet und weit in bie Höhe aus eigenen Kräften emporfteigt, 
Daß an fremdem Stod die rötlihen Trauben zu hängen 
Scheinen und Bachus ſchwer die grünenden Äſte belaftet: 

Alfo aus ſchwächlichem Reis empor fih rankt die Melone, 
Stredet bie Gäbelchen aus und mwinbet an ihnen ſich weiter, 
Faßt mit jpigigem Zahn umarmenb die Zweige ber Erle, 

Und daß nicht fie los mehr reike der rafende Sturmwind, 
Schürzt fie ein Hammerndes Band nietfeft an jenlihem Knoten, 
Und ba jebem entfprieht ein zäher, boppelter Faden, 

Faſſen von reits und von links gleichzeitig beide die Stütze. 
Und wie Mäbcdhen beim Nähn die weichen Gewebe durchkreuzen 
Und mit beweglidem Arm gewaltige Bogen bejchreibend 
Orbnen in zierlihem Kreis gleihförmig die Reihen der Fäden, 
Alſo verbinden die Schößlinge dann fi zu Ketten und Leitern 
Und ummweben im Nu von allen Seiten die Zweige, 

Und erheben mit frember Gewalt fi über der Tore 

Bogen ſchwebend empor und fluten fühn in die Höhe. 

Und wer fünnte genug die Früchte bewundern, bie hängen 

Da und dort vom Aft, kunſtreich gefurdt und gerundet, 

Und geglättet dabei, gleichwie das Holz auf der Drehbant. 

An dem zierlihen Stiel dehnt erft gewaltig der Hals fid 

Und dann wächft der Leib fofort zum riefigen Bauch an. 
Nichts als Wanft und Bauch — und in dem Kerker der Höhlen 
Sitzen in Reih und Glied viel eine, lebendige Kerne, 

Deren jeber bir fann verſprechen ähnliche Ernte. 

Ya folange bie Frucht fih in zarterem Alter befindet, 

Ehe im Innern der Saft bei bem Nahen bes jpäteren Herbftes 
Abnimmt und die Haut rundum verholzt und es hindert, 

Mag fie, wir ſehen es oft, verwendet auch werden als Speife; 
Schlürft fie reihlih das Fett am Herd in der bampfenden Pfanıte, 
Schmeden nicht übel fürwahr die wohlbereiteten Stüde, 
Können in häufigem Fall dem Mahle zur Würze gereichen. 


Läßt man aber die Frucht an des Sommers Gluten verborren - 


Mit der Mutter zugleich und fchneidet man fie mit der Sichel, 
Mag als Gefäß alsdann fie dienen zu ftetem Gebraude. 

Bald ift ber ftattliche Bauch gefäubert und innen geglättet. 
Oft ein halbes Quart geht in die gewaltige Höhlung, 

Oder ber befiere Zeil bes vollen Maßes hat Pla drin. 

Und verpihft du den Krug mit Leim forgfältig am Munde, 
Hält er unverfehrt dir lang die köſtliche Gabe!. 


Im Lateinischen ift diefe Kleinmalerei viel feiner durchgeführt, als es 


die Überfegung wiedergeben fann. Vergil ift darin ziemlich erreicht, und 


es wäre völlig ungerecht, Walafrid nur als feinen Nachtreter zu betrachten. 


! De eultu hortorum ®. 99—151, bei Dümmfler (Poetae latini aevi Ca- 


rolini II 339 340). 


Die Literatur an ben Klofterfchulen: Fulda, Reigenau, St Gallen. 311 


Denn was dieſer von feinem Borbilde gelernt, das hat er fi jelbftändig 
zu eigen gemadt; er ſchaltet damit frei wie ein echter Künſtler. Der 
Hortulus ift denn auch nit ein aus dem alten Latium entlehntes Produkt, 
es ift der echte mittelalterliche Kloftergarten, dem Deutſchland und die Länder 
des Nordens bis nah Skandinavien und Island hinauf zu jo großem 
Dank verpflichtet find. Auch in den Heineren Gedichten Walafrids jpiegelt 
fih ein frijches und finniges Dichtergemüt, dem die lateinische Sprade und 
Form feine läftige, fremde Zwangsjade ift, fondern das natürlichjte Mittel, 
feine poetifhen Jdeen und Stimmungen auszudrüden. Die altgermanijchen 
Namen kamen ihm fo roh und ungeſchlacht vor, daB er ſich ſchämte, die— 
jelben in der Bearbeitung der St Gallus-Legende beizubehalten, obwohl er 
jelbft ein Alemanne und aus dem niedern Volle war. 

In die Zeit Walafrids fallen noch etlihe Dichter, die zwar gleich 
ihm feine hervorragende Rolle in der Weltliteratur jpielten, aber doch als 
Träger und Vermittler literariſcher Bildung um die jpäteren Bolfsliteraturen 
fih mannigfache Verdienſte erworben haben. 

Ermoldus Nigellus, ein aquitaniſcher Mönch, Erzieher und ſpäter 
Kanzler Pippins, des Sohnes Ludwigs des Frommen, von letzterem aus 
politiſchen Gründen nach Straßburg verbannt, dichtete hier eine bemerkens— 
werte Epopöe in vier Büchern, welche die Kriegstaten Ludwigs des Frommen 
zur Darſtellung bringt und ſich durch friſche Erzählung, ſchöne Natur: 
ſchilderung und gute epiſche Vergleiche auszeichnet. Auch die zwei Elegien 
Ermolds verraten poetiſche Anlage!. Weniger läßt ſich das von Ermenrich 
bon Ellwangen, einem Schüler Walafrids, ſagen, der zuletzt (865—874) 
Biſchof von Paffau war. Seine Epiftel an Abt Grimald von St Gallen 
it mehr eine barode Schauftellung der damaligen Schulgelehrtheit als eine 
poetiihe Schöpfung?. Sehr poetiſch ift Dagegen ein bufolifches Kalendergedicht 
des Abtes Wandelbert von Prüm, um 848 verfaßt, das ganz an den 
Hortulus Walafrids erinnert, oft noch friiher und anfchaulicher ift?, Als ein 
echter Poet it auh Sedulius Scottus zu betradten, ein eingewanderter 
Ste, Lehrer an der Domſchule St Lambert in Lüttih, der etwa zwiſchen 
840— 868 dichtete. Außer etwa neunzig Gedichten ift don ihm ein Fürſten— 
jpiegel (De rectoribus christianis) vorhanden, der wie das Troftbüchlein 
des Boethius in Proja abgefakt ift, in dem aber jedes Kapitel mit einem 
Gedichte Tchlieht *. 





! Ermoldi Nigelli Carmina, bei Dümmler (a. a. ©. II 1—93). 

? Monum, Germ. Hist. SS. II 31—33. 

s Wandalberti Prumensis Carmina, bei Dümmler (a a. DU 
567-622). 

* Sedulii Scotti Carmina (rec. L. Traube, Berol. 18396. Monum. Germ. 
Hist. Poetae latini aevi Carolini III 151— 240). 


312 Siebtes Kapitel. 


Mit welchen Schwierigfeiten die Vertreter der religiöjen wie der wiljen- 
Ihaftlihen Bildung nad dem Tode Ludwigs des Frommen zu ringen hatten, 
ſchildert die ergreifende Elegie des Florus, Diaconus und Magifter an der 
Schule zu yon: Querela de divisione imperii post mortem Ludoviei 
pi!, Da heißt es: 

Montes et colles silvaeque et flumina, fontes, 
Praeruptaeque rupes, pariter vallesque profundae, 


Francorum lugete genus; quod munere Christi 
Imperio celsum, iacet ecce in pulvere mersum. 


Trauert, ihr Berge und Hügel, ihr Wälder, Ströme und Quellen, 
Felfen, jo mädtig getürmt, und ihr tiefen Schludten und Zäler, 
Weint um der Franken Geſchlecht, dem EChriftus erhabene Herrſchaft 
Hatte verliehn, das jet im Staube ſchmachtet begraben ! 


Bon dem dreigeteilten Reihe jagt er: 


Pro rege est regulus, pro regno fragmina regni. 


Statt bes Königs wir haben ein Königlein, 
Statt des Reiches gebrodene Trümmer. 


Troß aller Nöten der Zeit hat Florus indes noch eine Anzahl recht 
guter religiöjer Gedichte zu jtande gebradt. Zwei größere Gedichte leiftete 
Andradus, Mobdicus zubenannt, von 843—849 Chorbiſchof von Sens; 
das eine ift eine merkwürdige Allegorie über den „Quell des Lebens“ (De 
fonte vitae; 404 Herameter), das andere erzählt in 1200 Verſen (teils 
Diftihen teild Herameter) die „Paſſion des Hl. Julian und feiner Gefährten“ ?, 
Milo, Mönd des Klofters Elnon bei Tournai (geft. 872), verfahte das 
Leben des hl. Amand, Stifters der Abtei, in vier Büchern (1800 Hera: 
meter), und ein didaktiſches Gediht „Von der Mäßigkeit“ (2078 Bere). 
Heiric, Mönd von Aurerre (geft. 877), behandelte das Leben des hi. Ger: 
manus in ſechs Büchern! Das Lob des hi. Adelhard von Gorbie findet 
ih zur Abmwehjlung in der Form der Efloge (Ecloga duarum sancti- 
monialium) bejungen. 

Als ein wahres „Kleinod aus den Schaklammern der Monumente“ 
bezeichnet Friedrich Rückert die Elegie, welche der Benediktiner Agius, 
„durch Chriſti Gnade Priefter” (mie er ſich jelbft nennt), auf Hathumod, 
die erfte Abtiffin von Gandersheim (geft. 874), verfaßte, eine ebenjo edle und 


' Flori, Diaconi Lugdunensis, opera, bei Migne, Patr. lat. CXIX. 

® Andradi Modici Carmina (bei Traube [Monum. Germ. Hist. Poetae 
latini aevi Carolini III 67—121)). 

® Milonis Carmina (ebd. III 557—684). 

‘ Heirici Carmina (ebd. III 421—517). 


Die Literatur an den Klofterfhulen: Fulda, Reichenau, St Gallen. 313 


milde als heiligmäßige Frauengeftalt, welche dem Ahnenkreiſe des ſfächſiſchen 
Königshaufes angehört. Ihr Bild ift in dem Gedichte mit „jeltenfter Un— 
mittelbarfeit, mit brennenden Farben gemalt, aber harmonisch, ſtimmungsvoll 
und lebenswarm“. Agius jelbft aber legt in der Ausführung nit nur 
eine für jene Zeit außerordentliche Bildung an den Tag (er kennt Vergil, 
Horaz, Ovid, Tacitus, Plinius, Sueton, Venantius, Sulpicius Severus, 
Boethius, Gregor d. Gr., Aldhelm, Alkuin, Einhard u. a.), ſondern er erweiſt 
fih auch ala „ein Mann von Harem Berftande und reihem Gemüte, hochſinnig, 
treuherzig und von fernhafter Frömmigkeit, ein Schriftfteller voll Geftaltungs- 
fraft, Takt und Feuer, ein rechter Sachſe und ein wahrer Poet”!. Nach den 
Unterfuhungen ©. Hüffers ift faum ein Zweifel darüber möglid, daß ber: 
ſelbe Agius, Mönd zu Korvey, aud das Gedicht „Von der Übertragung 
des hi. Liborius“ und die poetijche Lebensbeſchreibung Karla d. Gr. verfaßt 
dat, welche bis dahin nur allgemein einem „ſächſiſchen Dichter“ (Poeta 
Saxo) zugejchrieben wurden?. Auch in diefen Gedichten zeigen fich diejelben 
Eigenfhaften: eine an denſelben Schriftftelleen gejchulte, feine Form⸗ und 
Sprachgewandtheit, dasfelbe tiefe und innige Naturgefühl, diefelbe herzliche 
und fernige Frömmigkeit, dasjelbe ausgeprägt ſächſiſche Stammesgefühl, ge 
hoben und verklärt von echt kirchlichem Geifte. Er fieht in Karl nicht den 
erbarmungslojen Herrfcher, der den trogigen Naden feines Volkes gebrochen, 
fondern den Gottgefandten, der es zu Chriſtus geführt: 

„Er muß in Wahrheit unfer Apoftel heißen: wie mit Eifenzungen hat er ge- 
predigt, uns bie Pforten des Glaubens aufzutun. Ehrifto dem Herrn hat er viel 
Tauſende befehrter Sachſen aus der Knechtſchaft des Teufels zugeführt. So gebe 


ihm Gott ald Dimmelslohn den Umgang ber Apoftel, beren Amt er auf Erben ver- 
fehen hat!“ 


Die bedeutendften Kräfte wandten fih auch jetzt den theologifchen, 
politiichen und kirchlichen ragen der Zeit zu: jo der gewaltige Erzbiſchof 
Hinkmar von Reims, Erzbifhof Agobard von yon, Biſchof Claudius 
von Turin und fein Gegner, Biihof Jonas von Orleans, ſowie die ges 
lehrten Mönde Pashajius Radbertus und Ratramnus von Corbie. 
Heftige Kämpfe führte vor allem die häretifche Prädeftinationglehre des 
Möndes Gottſchalk herbei, welcher, obwohl bereit3 von einer Synode zu 


! Dialogus Agii (ebd. III 369— 388), überfegt von Friedr. NRüdert, Das 
Leben ber Habumod, Stuttgart 1845. — Unter bem Titel „Leben bes Abtes Eigil von 
Fulda und der Äbtiffin Hathumoda von Gandersheim“ überjegt von. Granbauer, 
Leipzig 1888 1890. — G. Hüffer, Korveyer Stubien, Münfter 1898, 17—71. 

2 Poetae Saxonis Annalium de gestis Caroli Magni Imperatoris libri quinque 
rec. P.de Winterfeld, Berol. 1899 (Monum. Germ. Hist. Postae latini medii 
aevi IV 1). — Die Vita et Translatio S. Liborii in den Acta SS, Bolland, Iulii 
V 409—424. 


314 Siebtes Kapitel, 


Mainz 848 verurteilt und von dem gejamten Epijfopat befämpft, hals- 
ftarrig bis zum Tode an feinen Jrrtümern fefthielt. Eine große Vertrautheit 
mit den alten Klaſſikern, bejonders Gicero, Vergil, Horaz, fogar Zerenz, 
befundet fih in den Schriften des Pashafius Radbertus. Als den fein: 
gebildetften Humaniften diejer Zeit darf man aber wohl Servatus Lupus 
bezeichnen, der, aus Sens gebürtig, Abt von Ferrieres wurde, ala Ge: 
lehrter wie als firhlicher Diplomat hohen Anjehens genof, noch mit Einhard 
und Hrabanus in literarifhen Verkehr ftand und zeitlebens nicht aufhörte, 
altklaſſiſche Schriftfteller zu fammeln und zu ftudieren. Wie er felbft nad 
Fulda reifte, um Bücher zu lefen und abzujchreiben (ad oblivionis re- 
medium et eruditionis augmentum), jo wandte er fi an andere deutſche 
und franzöfiiche Klöfter, ja an den Papft jelbft, um alter Klaffiter habhaft 
zu werden. Er kennt denn aud (wie aus feinen Briefen hervorgeht) nicht 
nur die landläufigen Autoren: Donat, Priscian, Vergil und Boöthius, 
jondern die verjchiedenften Schriften Giceros, dann Cäſar, Salluft, Livius, 
Duintilian, Sueton, Gellius, Macrobius. — Aus alten Handſchriftenkatalogen 
geht hervor, dab die franzöfifhen Klöſter diefer Zeit überhaupt reicher an 
Klaffiterhandichriften waren als die deutjchen !. 

Bon Italien wurde um dieſe Zeit wenig zur allgemeinen Literatur 
beigefteuert ; vereinzelt fteht das Lobgedicht des Bertharius, Abtes von 
Monte Caſſino (856— 883), auf den hi. Beneditt?. Das von den Arabern 
eroberte Spanien erlebte damals eine neue Märtyrerzeit, und wenn darum 
auh Eulogius, Priefter von Gorduba, von feinen gelehrten Streifzügen 
in verjchiedenen Klöftern nicht nur geiftlihe Hymnen und Schriften des 
Hl. Auguftin heimbrachte, fondern auch die Neneis, die Satiren des Horaz 
und des Yupenal, die Fabeln des Avienus, die Bildergedichte des Por— 
phyrius und die Nätjel Aldhelms, fo fam er jelbft nicht einmal dazu, diefe 
zu verwerten, da er 850 in den Kerker geworfen, und weil er jeine Ans 
griffe gegen den Islam fortjeßte, 859 enthauptet wurde. Sein „Ge 
denfbud der Märtyrer” gibt ein Bild diefer blutigen Heroenzeit. Sein 
Leben jchrieb fein Freund Albarus, ein angejehener Laie bon jüdiſcher 
Herkunft. 

Unter den Klöftern, melde der allgemeinen Bildung mährend des 
9. Jahrhunderts den ficherften Rüdhalt gewährten, nimmt St Gallen 


ı € Norden, Die antife Kunftprofa II, Leipzig 1898, 699—705. 

? Herauögeg. von P. Martinengius (Pia quaedam poemata, Romae 
1590) und Mabillon (Acta SS. ord. Bened. I 29 f). 

®8. Eulogii opera, bei Migne, Patr. lat. CXV. — Alvari Cordu- 
bensis opera, in Florez, Espaüa sagrada XI, Madrid 1753. — Bgl. v. Baus 
diſſin, Eulogius und Alvar, ein Abſchnitt ſpaniſcher Kirchengefchichte aus der Zeit 
der Maurenherridaft, Leipzig 1872. 


Die Literatur an ben Kloſterſchulen: Fulda, Reichenau, St Gallen. 315 


wohl die hervorragendite Stelle ein!. Dem Beftreben, die deutſchen Schüler 
in die chriſtlich-lateiniſche Literatur einzuführen, gehen hier auch die erften - 
Anſätze zu einer deutſchen Literatur zur Seite. Schon aus dem 8. Jahr: 
hundert find Wörterbücher, Gloffen und nterlinearverfionen vorhanden, 
welche beiden Zwecken dienten. Dagegen liegt das ältefte „Leben“ des 
hl. Gallus erft in einer Faſſung vor, die aus dem Anfang des 9. Jahr: 
dundert3 ftammt. Bis in die legten Jahre Karla d. Gr. blieb indes, wie 
der „Mönd von St Gallen” erzählt, „die Galluszelle das ärmfte und 
engite Klofter in dem ganzen weitläufigen Reiche“. Die Klofterbrüder mußten 
fih zu viel mit Gartenbau, Feldbau und Handarbeit beihäftigen, als daß 
viele Zeit zum Abjchreiben von Büchern übrig geblieben wäre?. Erft unter 
Abt Gozbert (816—836) erholte fi die Abtei von den Nachteilen und 
Beihwerden, welche ihr die herrſchſüchtige Einmiſchung der Biſchöfe von 
Konftanz und andere äußere Wechielfälle bereitet hatten; das Kloſter jelbft 
ward nah dem Plane eines kaiſerlichen Baumeifterd zu einem wahren 
Muftertiofter umgebaut und die Bibliothek zu einer wirklich anjehnlichen 
erweitert. Unter den Abten Grimald (841—872), der, jelbft ein Gelehrter, 
als Erzlanzler Ludwigs des Deutſchen mächtigen Einfluß befaß, und Hart- 
mut (872—883) geftaltete fih das Kloſter danı einigermaßen zu einer 
Art Akademie und einer der erften Schulen des Reiches. 

Das ältefte Bücherverzeichnis der Bibliothef, etwa um 850 abgefat, 
zählt allerdings nur ungefähr 400 Bände und trägt einen faſt ausfchließ- 
lich monaſtiſch-theologiſchen Charakter, Bon Dichtern find darin nur Die 
hriftlihen vertreten: Juvencus, Sedulius, Prudentius, Arator, Alcimus 
Avitus, Aldhelm, eine metriihe Vita S. Galli, von römischen Schriftftellern 
nur Catos Epigramme, Donat, Priscian und andere Grammatifer, ein 
Kommentar zu Bergil, ein Auszug des Yuftinus aus Pompejus (Trogus). 
Aud unter den Schenkungen Hartmut3 und Grimalds finden fi feine 
Codices bedeutender alter SKlafliter erwähnt. Dagegen führt das Bücher: 
bzw. Handjchriftenverzeihnis von 1461 Werke von Statius, Martial, Lu— 
canus, Perfius, Ovid an und aliqui alii, quos circa illos invenies*. 


ı Casus 8. Galli, ed. Ild. v. Arx (Monum. Germ. Hist. SS. II 59—188); 
danah bei Migne a. a. DO. CXXVI 1055—1080. — 6. Meyer v. Knonau, 
St Galliſche Geſchichtsquellen, St Gallen 1870—1881. — Epigrammata seu hymni 
sacri antiquorum Patrum monasterii 8. Galli (Migne a. a. ©. LXXXVI 25—72). 

2 Monachi 8. Galli gestorum Caroli M. lib. 2, e. 12. — Weidmann, Ge 
Ihichte der Bibliothek von St Gallen, St Gallen 1841, 3. 

’ Weidmann a. a. D. 360396. 

4 Verzeichnis der Bücher, die Hartmut der Bibliothek jhhenkte, bei Ratperti 
Casus S. Galli n. 9 (Migne a. a. DO. CXXVI 1072); Verzeichnis ber Bücher, bie 
Srimald der Bibliothek Hinterließ, ebd. (Migne a. a. ©. CXXVI 1075) und bei 
Weidmanna. a. DO. 396-400. 


316 Siebtes Kapitel. 


Den eigentlihen Reihtum der Bibliothek bildeten die heiligen Schriften und 
deren beite Kommentare, die Schriften der Kirchenväter und der übrigen 
riftlihen Autoren bis herab auf jene Zeit. 

Als Hauptvertreter der Studien während der erflen Blütezeit des 
Klofters wird der Mönch Iſo genannt, welcher die äußere Stiftsſchule 
leitete, umd der Schotte Moengal, Marcellus zubenannt, welcher die jungen 
Novizen des Kloſters unterrichtete. Die berühmteften Schüler der beiden 
waren Notfer der Stammler (840—912), der kunftreihe Tutilo 
und Ratpert, aus Zürich gebürtig, der bis gegen das Ende des Jahr: 
hunderts lebte. Alle drei machten ſich vorzüglich als Schulmänner verdient, 
haben aber auch, jeder in feiner Art, Kunſt und Literatur gefördert. 

Ekkehard IV. gibt von den drei Männern folgende Charakteriftit: 


„Obwohl die drei einmütig dasfelbe Ziel anftrebten, waren fie Doc, wie eö zu 
gehen pflegt, von verichiebener Natur. Notker ſchmächtigen Leibes, aber nicht Geiftes, 
ftotternd mit der Zunge, aber nicht mit dem Geijte, in göttlihen Dingen jtramm 
und kühn emporftrebend, in Widerwärtigleiten gebuldig, in allem mild, ftreng in 
Bezug auf die Forderungen unferer Ordenszucht, war er ängſtlich bei plöhlichen und 
unerwarteten Ereigniffen, außer bei Pladereien ber Teufel, denen er mutig entgegen- 
zutreten pflegte. Er war unermüdlich im Beten, Leſen und Diftieren. Und um alle 
Gaben jeiner Heiligkeit furz zufammenzufaffen, er war ein Gefäh des Heiligen Geiftes, 
wie eö damals in gleicher Fülle kein anderes gab. 

„Zutilo aber war in ganz anderer Weife qut und nützlich. Er war ein Dann 
mit Armen und fonftigem Gliederbau, wie ihn Favius von den Athleten fordert; 
er war beredbt, von heller Stimme, ein feiner, funftreiher Bildner und Dialer, ein 
Mufiter wie feine Gefährten, aber in jeber Art von Saiten und Blasinftrumenten 
ihnen weit voraus. Er Iehrie auch die Söhne der Abeligen an einem vom Abt be: 
ftimmten Orte das Saitenjpiel. In die Nähe wie in die Ferne war er ein gejchidter 
Bote; in feinen Bauten und andern Runftleiftungen tücdhtig, zu Vorträgen in beiben 
Spraden von Natur glüdlih angelegt und gewandt, in Ernjt und Scherz immer 
munter, jo daß unfer Karl einft demjenigen fluchte, der einen jo begabten Menſchen 
zum Mönch gemacht habe; vor allem aber war er wader im Chor, in ber Einſam— 
feit zu Tränen geneigt, frudtbar in ber Erfindung von Verfen und Melodien; keuſch 
wie jein Lehrer Marcellus, der vor Weibern die Augen ſchloß. 

„Ratpert aber ging zwijchen ben beiden Genannten in der Mitte einher. Bon 
Jugend auf Schulmeifter, ein fchlichter und wohlwollender Lehrer, aber gegen bie 
Schüler etwas fireng, felten den Fuß aus dem Klofter ſetzend, jo daß er num zwei 
paar Schuhe im Jahr brauchte, das Ausgehen töblich haßte, ben wanderluftigen Zutilo 
umarmte unb bejhwor, dab er fi doch in adht nehmen möchte. In der Schule 
fleißig, vernadläffigte er oft den Befuch der Horen und ber Meffe ‚Wir hören bie 
Meſſe gut‘, ſagte er, ‚wenn wir lehren, wie man fie lefen muß.‘ Obwohl er bie 
Straflofigkeit als den ſchlimmſten Fehler eines Klofters bezeichnete, fam er doch nur 
zum Stapitel, wenn man ihn rief und wenn ihm das hochwichtige Amt bes Kapitel« 
haltens und Strafens, wie er fagte, übertragen wurde.“ ! 


— — 


Eecehardi IV, Casus S. Galli c. 8 (Monum. Germ. Hist. SS. [Pertz] 
U 94 95. 


Die Literatur an den Klofterfchulen: Fulda, Reihenau, St Gallen. 317 


Iſt auch diefe Charakteriftif erft fünfzig oder mehr Jahre nad dem 
Tode der drei Männer entworfen, fo gibt fie doch die Überlieferung wieder, 
welche ihr Andenken im Kloſter lebendig erhielt, und den gemütlihen Bund, 
den das Möndtum mit Wiffenihaft und Kunft geichloffen hatte. 

Notkers literariihe BVerdienfte hängen mit dem Kirchengeſang zu: 
jammen, den er um eine neue Spezialität bereichert hat!. An das Graduale 
reihten fi nämlich fehr lange Tonfiguren, die auf die Silben des Alleluja 
gejungen murden, aber ſchließlich ſehr ſchwer zu behalten waren. Man 
nannte fie Sequenzen. Schon in feiner Yugend kam Notker auf den Ge: 
danken, diefen fünftlihen Melodien einen Zert zu unterlegen, mittel3 deſſen 
fie fi leichter im Gedächtnis einprägten. Er wagte fi indeflen nit an 
eine ſolche Neuerung, bis ein durchreifender fränkiſcher Priefter nach feinem 
Antiphonarium jolhe Sequenzen mit Terten den Mönden vortrug. Da 
diefe Texte jehr unbefriedigend waren, verjuchte es Notker nun, beflere zu 
liefern, und dies gelang ihm in hohem Grade. Er wurde ald Sequenzen- 
dichter für alle Zeiten berühmt, Stoff und dee der Sequenz war natürlich 
mit dem jeweiligen Feltoffizium gegeben; doc war in der Ausführung wie 
in der rhythmiſchen Modulation immerhin eine nicht bloß technifche, ſondern 
auch poetiſche Aufgabe zu löſen. Ziefe Religiofität, theologifhe Bildung 
und poetiſches Talent vereinten fih in Notfer, um diefer Aufgabe gerecht 
zu werden, während mufifaliiche Anlage und Bildung ihn befähigten, den 
Tert nit nur trefflid der Melodie anzupafien, fondern auch neue Melodien 
zu ſchaffen?. Schubiger führt jehzig Sequenzen auf, die nad vorhandenen 
Zeugniffen Notker zum Urheber haben, und nod achtzehn weitere, die ihm 
mit einiger Wahrſcheinlichkeit zugejchrieben werden können. 

Der Schluß einer feiner Ofterfequenzen (Laudes salvatoris) lautet alfo: 
Er hat es nicht verihmäht, dab man ans Kreuzesholz ihn ſchlug; 

Allein die Sonne blickte nicht herab auf feinen Tod — 

Es leuchtete der Tag, ben einſt der Herr gefchaffen; 

Er hat den Tod befiegt, und lebend zeigt er fi als Sieger feinen Treuen, 

Zuerft Marien, dann aud) den Apofteln, und erflärt die Schrift, das Innerſte des Herzens 
Eröffnet er, daß ihnen alles deutlich wurde, was von ihm noch dunkel war. 

Nun jubelt alles froh dem Auferftandenen entgegen; 

Das Saatenfeld erblüht von neubelebter Frucht, 

Und lieblich tönt ber Vogel Sarg, ba nun das Eis, bas traurige, verſchwand, 

Es leuchtet Helfer Sonn’ und Mond, die Ehrifti Tod vordem betrauerten; 


! Seine Schriften bei Migne, Patr. lat. CXXXI 983—1178; einige Gedichte 
ebd. LXXXVII 40-48. 

2 P. Anſelm Shubiger, Die Sängerſchule St Gallens vom 8. bis 
12. Jahrhundert, Einfiebeln 1858, 45 46. — Bol. W. Bäumker, Art. „Notfer 
Balbulus*, in der Allgem. Deutihen Biographie und in Weker und Weltes 
Kirchenlerifon IX? 531. 


318 Siebtes Kapitel. 


Die Erbe grünt frohlodend dem erftandenen Erlöfer, 

Die, als er ftarb, erbebend ihren Einfturz drohte. 

Drum labt uns jubeln all an dieſem Tag, an weldem Chriftus 
Durch feine Auferftehung uns bes Lebens Weg eröffnet. 

Es ftimme Himmel, Erde und dad Meer in frohem Jubel ein, 
Und alfe Geifterhöre follen den Dreieinigen im Simmel Toben !, 


Macht fi in diefem Ofterjubel gar jhön das Naturgefühl des Sängers 
geltend, jo verrät er in der Sequenz auf den hl. Gallus gar gemütlich fein 
biederes ſchwäbiſches Nationalgefühl: 


O Gall, von Gott geliebt, bem Ewigen, 

Don Menſchen wie von Engelſcharen, 

Der du, ben ftrengen Rat des Herrn befolgend, 

Die Güter deines Vaters wie der Mutter Liebe, 

Der Gattin Sorge wie die Baterfreude 

Verachteteft: du folgteft arm dem armen Herrn und Meiſter 
Und zogft das Kreuz der trügerijchen Freube dor. 

Doch Chriſtus hat fie dir mit hundertfahen Lohn erſetzt, 
Wie diefer Tag bezeugt, der alle uns 

In füher Freude dir als Söhne unterwirft; 

Der Schwaben dir, o Gall, zum teuren Baterlande jchenkte 
Und bi, mit Richtermadht verjehn, im Himmel dem Apoſtelchor vereinte. 
Nun rufen wir zu dir, o Gall, aus tiefftem Herzensgrunde, 
Erwirb bu uns die Gnade Jeſu Ehrifti, 

Erfüll’ die Ruheſtätte feines Leibes mit Frieden, 

Erfreu’ die Deinen, die da flehn, mit fteter Ruhe, 

Damit fie jederzeit gewürdigt werben, 

Dir froh die ſchuldige Verehrung zu erweifen ?, 


Die übrigen Gedichte Notkers, einige Hymnen und Gelegenheitägedichte, 
bieten faum etwas Neues. In der Sequenzendichtung fand er einen Mit: 
bewerber an Waldram, während Zutilo ähnliche, bis jet textloſe Melodien 
im Introitus ebenfall3 mit Texten verfah und jo die jog. Tropen aus— 
bildete. Bon Waldram find aud einige nette Gelegenheitägedidhte an Kaiſer 
Karl II. und an Biſchof Salomo III. (890— 920) von Konftanz erhalten, 
der als Lieblingsfchüler Notkers gleichfalls die Poefie pflegte. Eine längere 
Elegie von 343 Verſen an Biihof Dodo von Verdun ſcheint von Waldram 
in Salomos Auftrag verfaßt zu fein; fie jhildert das Unglüd Deutſchlands, 
das ein Kind zum König hat und deffen Gaue, von unglüdjeliger Zwie— 
tracht zerriffen, ungehindert von fremden Horden, wie den „Ungarn“, ber: 
beert werden. St Gallen wurde von dem allgemeinen Unheil aud mit- 
betroffen, erholte ſich aber wieder davon und erfreute ſich bi$ ins 11. Jahr: 





ı Schubiger, Die Sängerfhule Et Galfens vom 8. bis 12. Jahrhundert 
48 49. 
®: Shubiger.a. a. ©. 50 51. 


Die Literatur an den Klofterfhulen: Fulda, Reihenau, St Gallen. 319 


Hundert hinein gedeihlicher Blüte. Als Dichter betätigten fi außer dem 
bereit3 genannten Ratpert au Sintram, der Seelenführer der Einfleblerin 
Wiborada, und Abt Hartmann, der Nadfolger Salomos in der Leitung 
des Klofters, als Projaiker die Mönde Adelhard, Viktor, Gerold, 
Notfer der Arzt (physicus; piperis granum), endlich Notker der 
Groflefzige (Labeo), der durd feine Überfegungen der erfle Begründer 
einer deutſchen wiſſenſchaftlichen Literatur geworden ift!; er farb 1022. 
Ein vierter Notfer, zeitweilig Propſt in St Gallen, dann Biſchof von 
Lüttich (geft. 1008), jchrieb das Leben des hl. Remaclus. 

Den bier Notkern ftehen fünf nicht minder berühmte Effeharde gegenüber ?, 

Ekkehard J., einer edeln Familie im Toggenburg entſtammt, Mit: 
ſchüler der heiligen Bifhöfe Ulrih von Augsburg und Konrad von Konftanz, 
erhielt um 930 von feinem Lehrer Gerold die Aufgabe, eine Anzahl alt: 
deutſcher Heldengefänge in lateinische Berje zu bringen, und fo entitand 
das lateinische Kunftepos „Walther mit der ftarten Hand“ (Waltharius 
manufortis), die ältefte ung erhaltene Faſſung der deutſchen Heldenjage. 
Später verfaßte er auch zwei Gedichte, die ſich mit der Farolingifchen Sage 
beihäftigten, die aber verloren find, dann auch zahlreiche Hymnen, Sequenzen 
und Gelegenheitägedichte. Als Dekan erwarb er ji das Vertrauen und 
die Yiebe aller, gelangte auch auf einer Romreife zu großem Anjehen bei 
Papft Johann XI. und ftarb 973 als Dekan, da er wegen eines Fuß— 
übeld hinfte und deshalb nicht Abt werden fonnte. 

Eftehard II. (Palatinus), fein Neffe, ein ebenſo ftattliher Mann 
al3 waderer Mönd, von dem Kaiſer Otto II. meinte, feinem ſei je die 
Benediltinerfutte beſſer angeſtanden, leitete mit hohem Ruhme die äußere 
und innere Klofterjchule, mußte zeitweilig auch der verwitweten Herzogin 
Hedwig bon Schwaben auf Hohentwiel als Lehrer und Hausgeiftlicher dienen 
und wurde endlich Dompropft in Mainz, wo er 990 ftarb. Der Auf: 
enthalt in Hohentwiel war für ihn nicht? weniger als romantiſch, jondern 
eine wahre Plage ®. 

Ettehard IIL, gleich dem vorigen ein Neffe Effehards I., hielt fi) 
ebenfalls einige Zeit bei der Herzogin Hedwig auf und mußte deren Hof: 
faplänen Unterricht erteilen. Er ftarb jung. 

Eftehard IV. (wie der vorige ebenfalls iunior genannt), um 980 
geboren, fam ſchon als Knabe ins Klofter, genoß hier den Unterricht Notker 
Labeos und gelangte jelbft zu jo hohem Anſehen, daß ihn Erzbiſchof Aribo 


ı®B, Pieper, Die Schriften Notkers und feiner Schule, Freiburg 1882 1888. 
— J. Kelle, Geihicdhte der deutichen Xiteratur I, Berlin 1892, 232-274 393 
bis 413, 

26. Meyer v. Knonau, Die Efkeharde von St Ballen, Bajel 1874. 

» J. v. Arx, Geihichte des Kantons St Gallen I, St Gallen 1810, 273—275. 


320 Achtes Kapitel. 


als Lehrer an die Domſchule von Mainz berief!. Seine bedeutendſte Leiſtung 
ift die Fortfegung der von Ratpert begonnenen Kloſtergeſchichte von St Gallen 
unter dem Titel Casus S. Galli; daneben vereinigte er in feinem Liber 
Benedictionum eine Menge Benediltionen, Inſchriften und Gedichte, darunter 
die Neubearbeitung eines Gedichtes auf den bl. Gallus, das Ratpert verfaßt 
hatte. Auf Wunſch des Erzbiſchofs Aribo überarbeitete er auch das Walthari- 
Lied? Effehards I., das nod von deutjchen Barbarismen wimmelte. Er 
ftarb im Jahre 1060. 

Ekkehard V. jchrieb viel fpäter (um 1210) ein Leben des hi. Notter, 
in welchem die erften drei Notfere in bevenkliher Weiſe als eine Perſon 
behandelt werden, während der Verfaſſer dagegen fih als fundiger Liebhaber 
des Kirchengeſanges bewährt. 





Achtes Kapitel. 
Das Walthariunslied. 


Das Walthariuslied kündigt die Zeit an, wo neben der gelehrten 
fateinifchen Literatur allmählich jelbftändige Literaturen der romaniſchen mie 
germanifchen Völker erftehen follten. Es hatte lange gebraudt. Über ein 
Jahrtaufend feit Chriſti Geburt war dahingegangen, ehe Eklehard IV. das 
Schulpenſum feines erften St Galliihen Namensvetters korrigierte, und noch 
gab es kaum Anfänge einer deutſchen Literatur. Der Domſcholaſtikus von 
Mainz hielt das Deutſche und alles, was daran erinnerte, noch für barbariſch. 
Eigentlihen literarischen Wert hatte in feinen Augen nur die lateiniſch ge- 
dachte Gelegenheitspoefie feines Vorgängers, und aus dem, was er bon 
Ekkehard II. meldet, erfieht man, welche Ehrfurdt er unmilllürlih vor dem 


ı Dümmler, Ekkehard IV. von St Gallen, in Zeitſchrift für deutſches Alter⸗ 
tum XIV 1—73. 

? Seripsit et in scholis metrice magistro, vacillanter quidem, quia in affectione 
non in habitu erat puer, vitam Waltharii manu fortis, quam Magontiae positi, 
Aribone archiepiscopo iubente, pro posse et nosse nostro correximus; barbaries 
enim et idiomata eius Teutonem adhuc affectantem repente latinum fieri non 
patiuntur. Unde male docere solent diseipulos semimagistri dicentes: Videte, 
quomodo disertissime coram Teutone aliquo proloqui deceat, et eadem serie in 
latinum verba vertite. Quae deceptio Ekkehardum in opere illo adhuc puerum 
fefellit; sed postea non sic; ut in lidio Charromannico, „Mole ut vincendi. Ipse 
quoque opponam* (Eccehardi Casus S. Galli c. 9 (Monum. Germ. Hist. SS. 
[Pertz] II 118). — Mit lidium Charromannicum ift ein „Lieb auf Karlmann“ 
gemeint, deſſen Namen jo gejchrieben wurde; Mole ut vincendi und Ipse quoque 
opponam find die Anfänge zweier verlorener Gedichte. 


Das Walthariuslied. 321 


Griechiſchen hegte und vor der Herzogin Hedwig, welche die Pſalmen griechiich 
herſagen konnte. Er hatte feine Ahnung, dab man ihm nad Jahrhunderten 
vielleicht danken würde, wenn er das MWalthariuslied Effehards I. unver: 
ändert gelaffen hätte, und dak man es jogar vorgezogen hätte, wenn dasjelbe 
in deutichen Verſen oder deuticher Proja aufgezeichnet worden wäre. Aber 
auch fo, mie es liegt, ift es eine nicht bloß intereffante, ſondern jchöne 
Dichtung. Es ift Schon bei weiten romantiicher ala das Karlslied Angilberts, 
und umfaßt in feinen 1456 Herametern einen verhältnismäßig reihen Stoff!. 

Seit den Tagen Attilas waren nahezu fünf Jahrhunderte verfloſſen, 
die Ereigniſſe der Völterwanderung längft in dämmernde Ferne gerüdt, als 
der jugendliche Poet fih in jene Zeit zurüdverjegte. Erſt wenige Jahre 
zuvor (926) hatten räuberiihe Schwärme von Ungarn die ganze Gegend 
am Bodenjee mit Schreden erfüllt, St Gallen verbeert und die Fromme 
Rekluſe Wiborada Hingemordet. So begreift es fih, dab Ekkehard die 
Hunnen für Ungarn oder Pannonier anſah und feine Epopde alfo anhub: 


Einen ber drei MWeltteil’, ihr Brüder, nennt man Europa. 
Mamnigfach find feine Völfer in Sprach' und Sitten und Namen, 
Nah ihrer Lebensart unterfchieden und nad ihrem Glauben. 

Unter biefen verdient beionders das Volk der Pannonier 

Seinen Plab, das zumeift doch auch Hunnen wir pflegen zu nennen. 
Mächtig war bies tapfere Volk duch Waffen und Mannskraft, 
Nicht allein die umber gelegenen Land’ unterjochend, 

Sondern e8 überichritt auch des Ozeans Küften uud ſchenkte 
Bündnis den Flehenden, wie's die Widerfadher zerftäubte. 


Das ift alles noch recht ſchulmäßig, und aud andere Züge erinnern 
daran, dab dem jungen Poeten fein Vergil jehr lebhaft vor Augen jchwebte. 
Sobald er indes mehr zur Sache fommt, wird er entichieden poetiſcher. 


! Ausgaben von F. Eh. J. Fiſcher (De prima expeditione Attilae. Carmen 
epicum saec, VI, Lips. 1780); 5. Molter (J. 6. Meujels Hiftor. Literatur 
für das Jahr 1782, 870—374, und Beiträge zur Geihichte und Literatur, Frank— 
furt 1798); 3. Grimm (Gedidte bes 10. und 11. Jahrhunderts, herausgeg. von 
J. Grimm und U. Shmeller, Göttingen 1838, 1—126 383 —385); Edéle— 
ftand Dumeril (Poésies latines anterieures au 12=® siöcle, Paris 1843, 313 
bis 377); 8. ©. Provana (Monum. hist. patriae. Script. III, Aug. Taurin. 
1848, 133—166); R. Peiper, Berlin 1873; 3. Viktor v. Scheffel und 
A. Holder (Waltharius, Tateinifches Gedicht des 10. Jahrhunderts, mit deutſcher 
Übertragung, Stuttgart 1874); H. Althof (Waltharii Poesis. Das Waltarilied 
Ekkehards I. von St Gallen nad) der Geroldushandichrift, 1. TI, Leipzig 1899). — 
Deutiche Überjeßungen von F. Molter, Karlsruhe 1732; ©. F. Klemm, Wien 
1829; San Marte, Magdeburg 1858; 3.2. v. Sheffel (a. a O. und im 
„Ekkehard“, Kap. 24, Frankfurt 1855); Linnig, Paderborn 1884; 3. Aufl. ebd. 
1901; 9. Altbof, Leipzig 1902. — Anbderweitige Literatur bei Potthast, 
Bibliotheca Medii Aevi I? 398 399. 

Baumgartner, Weltliteratur. IV, 3. u. 4. Aufl. 21 


322 Achtes Kapitel. 


Die eigentlihe Erzählung beginnt mit einem Eroberungszug, den Attila 
nad dem Welten hin unternimmt. Die Könige, melde er bedroht, wagen 
feinen mannhaften Widerftand, jondern juchen fi mit Geſchenken und Geifeln 
abzufinden. Der Frankenlönig Gibih übergibt ihm als Geifel den jungen 
Hagen, bon edler trojanischer Ablunft, der Burgunderklönig Herrich jein 
einziges Kind, das jchöne Töchterchen Hiltgund, der Gotenkönig Alphere von 
Aquitanien endlich feinen Sohn Waltharius, weldem bereits Hiltgund ver- 
lobt ift. Dazu jpendete jeder der Fürften noch reihe Schäße, und fo ziehen 
die Hunnen vergnügt in ihr Land zurüd, Attila benimmt fi aud in der 
Behandlung der Geijeln ritterlih. Er läßt Waltharius und Hagen in feiner 
nächſten Nähe, wie jeine eigenen Kinder, zu tapfern Kriegern aufziehen ; 
Hiltgund aber übergibt er feiner Gemahlin Ospirin (der „göttlichen Bärin“), 
welche jich derjelben mütterlih annimmt und ihr bald die Sorge für die 
königliche Schatzlammer übergibt. So geht alles feinen friedlichen Weg. 

Nun geihieht es aber, dab der Frantenkönig Gibih ſtirbt. Sein 
Nachfolger Gunther verweigert den Tribut. Hagen, defjen Lage dadurch 
bedenflid geworden, entflieht. Dieje Flucht macht die Königin bejorgt, daß 
auch die andern zwei Königstinder feinem Beifpiele folgen möchten, und 
fie rät darum, Waltharius bald mit einer hunnifchen Prinzeſſin zu ver: 
heiraten, um ihn dauernd an Attila zu feſſeln. Waltharius weigert ſich 
aber unter dem Vorwande, Attila als Junggejelle viel freier und wirkſamer 
dienen zu können. Attila glaubt ihm und übergibt ihm die Führung feiner 
Leute in einem Streifzug gegen ein aufrühreriihes Land. 

Sieggefrönt fommt der junge Held nad Haufe und genießt nun ſolches 
Anjehen, daß er einen Fluchtplan wagen zu fünnen glaubt. Da er Hiltgund 
allein im Königsfaale trifft, jo ſäumt er nicht, ihr diefen Plan zu eröffnen. 

Hiltgund traf er alleine, da füht’ er fie und ſprach: 
„Beihaff mir einen Trunf, das war ein heißer Tag.” 
Da füllte fie den Becher, er trank ben fFirnewein, 

Jach wie den Waflertropfen einfaugt der glühe Stein, 
Dann ſchloß er in die feine der Jungfrau weiße Hand, 
Beib’ wuhten, daß von alters verlobt fie ſei'n einand. 


Errötend ftand umd ſchwieg fie. Da fprad er zu ber Maid: 
„Schon lange tragen wir ber Fremde herbes Leid, 

Und follten doch nad) Rechten einander fein zu eigen: 

Ih Hab’ das Wort geſprochen! Nicht länger mag ich's ſchweigen.“ 


Die Aungfrau fand betrüblich, als wär's nur Spott und Hohn; 
Aufflammt ihr blaues Auge, fie jprad mit herbem Ton: 

„Was heuchelt deine Zunge, was nie bein Gerz begehrt? 

Viel befferer Verlobten bältft, Schlauer, du dich wert.” 


Da blidte treu und minnig, da ſprach der tapfre Mann: 
„gern ſei, was du gebenfeft! O Hör’ mich huldvoll an! 


Das Walthariuslied, 323 


In meines Herzens Grunde hauft weder Falſch noch Arg, 
Niemals ih mit dem Munde den wahren Sinn verbarg. 
Kein Späher weilt im Saale, nur wir zwei beib’ allein, 
Ih wüßt' ein jüh Geheimnis, wollt'ſt du verſchwiegen fein.” 
Da ftürzte ihm zu Füßen Hiltgund und weint’ und ſprach: 
„Wohin du mich berufeft, o Herr, ich folg’ dir nad.” 

Er hob fie auf mild tröftend: „Ich bin ber Fremde müb, 
Ein jühes Heimatjehnen die Seele mir durchglüht; 

Dod ohne Hiltgund nimmer fteht mir zur Flucht mein Sinn, 
So du zurüde biiebit, des ſchöpft' ich Ungewinn.“ 

Da lacht' fie in die Tränen: „DO Herr, bu fprichft mit Fug 
Das Wort, das ich jeit Jahren geheim im Bujen trug. 
Gebiete denn die Flucht, mit dir will ich fie wagen, 

Dur Not und Fährlichkeit muB uns die Liebe tragen.“ ! 


Darauf wird dann Hiltgund mit den nötigen Vorbereitungen betraut. 
Sie ſoll aus dem Schafe des Königs Helm, Leibrod und Panzer nehmen, 
dazu zwei Schreine voll goldener Spangen, aud Angelhaten bereiten Lafjen, 
um unterwegs Fiſche und Vögel fangen zu können. Nach fieben Tagen ift 
ein glänzendes Feſt, bei welchem die Hunnen aljo ſchmauſen und trinten, 
dag alle ſchließlich in tiefften Schlaf verfallen. Da bejteigen die zwei Ver: 
lobten das Pierd des Waltharius, „Löwe“ genannt, das aud die beiden 
Schreine tragen muß. Hiltgund führt die Zügel und die Angelruten, da 
Waltharius mit den Waffen belaftet ift. Alfo reiten fie vierzig Nächte lang 
und verbergen fi tagsüber im Walde. Die Hunnen ſetzen ihnen zu jpät 
nad. Glücklich erreichen die Flüchtlinge bei Worms den Rhein und bezahlen 
den Fährmann mit den Fiſchen, die fie in fremden Wafjern gefangen. 

Das ift ihr Unheil. Der Fährmann verfauft die Fiſche an den Hof 
des Königs Gunther, wo fie Auffehen erregen. Man zieht Erkundigungen 
ein, und auf den Bericht des Fährmanns zweifelt Hagen nicht, daß der 
Flüchtling Waltharius ei, der von den Hunnen zurüdlehre. König Gunther 
ift hocherfreut, jo wieder den Schab zu erbeuten, den ihm die Hunnen ent- 
wendet, und rültet alöbald zwölf feiner beften Mannen aus, darunter Hagen, 
um Walthariuß zu verfolgen. 

Diefer hat unterdeffen den Wasgenwald (die Vogeſen) erreicht und ruht 
an einer Felſenhöhle, zu der nur ein enger Weg führt, zwiſchen zwei hohen 
Bergen. Hiltgund hält für ihn Wade und mwedt ihn, da die Franken auf 
jeine Fährte gefommen und Gunther einen Boten an ihn abgeordnet hat. 
In der erften Aufwallung droht Waltharius allen fed Tod und Verderben, 
bereut aber alsbald die Rede und bittet Gott um Verzeihung dafür. Die 
Jungfrau und das Roß auszuliefern, verweigert er, bietet aber Hundert 
Goldipangen an, um den König zu ehren. Hagen, den jeinerjeits Waltharius 





ı Überfeßt von Scheffel. 
21* 


324 Achtes Kapitel. 
allein jcheut, rät dem König, das Anerbieten anzunehmen, und begründet 
dies mit einem jchredhaften Traume, in welchem er jah, wie ein Bär Gunther 
das Bein zerfleifchte und ihm felbft ein Auge ausriß. Gunther jpottet aber 
jeiner Furcht, und Hagen zieht fich beleidigt zurüd. 

Da der Abgejandte Gamelo ein zweites Mal alles herausfordert, bietet 
Waltharius zweihundert goldene Spangen an, wird aber abgemwiefen, und 
nun beginnt fjofort der Kampf mit den Mannen Gunther, die einzeln 
Maltharius angreifen. Diefe elf Einzellämpfe find fehr lebhaft, anſchaulich, 
mit feſſelndem Wechſel beichrieben. Waffen, Stimmung, Art des Kampfes 
find immer etwas anders. Seinen Schwefterfohn Patafrid fuht Hagen 
duch Bitten und Tränen vom Kampfe abzuhalten, aber vergeblih. Nach— 
dem ſchon fieben Helden gefallen, zaudern die übrigen vier, und Gunther 
muß fie zum Zorn und zur Blutrade aufftaheln, um ihre Bedenken zu 
überwinden. In der kurzen Baufe legt Waltharius den Helm ab, um etwas 
aufzuatmen, und fann fi kaum mit feinem Schilde wehren, al3 unverjehens 
der Kampf erneuert wird. 

Die legten drei Kämpfer vereinigen fich zu gemeinfamen Angriff, werfen 
einen Dreizad an dreifahem Seile nad Waltharius’ Schilde und ſuchen ihn 
jo zu Fall zu bringen oder wenigftens jchußlos zu machen. Aber er troßt 
ihrer vereinten Kraft, läßt ſchließlich von felbit den Schild fahren, ftürzt 
auf die einzelnen lo& und haut einen nad dem andern nieder, Gunther 
jelbit, der ihnen beigeftanden, muß fliehen. Es ift ihm jet nur noch eine 
Hoffnung übrig: der gewaltige, riefenhafte Hagen. Allein diefer will nicht 
die dem jungen Freunde gelobte Treue breden. Erft da Gunther in flehent- 
lichften Bitten ihn, den Vajallen, um Hilfe fleht, erwacht fein Ehrgefühl, 
und er berfpriht dem König, gegen Waltgarius zu kämpfen, doch nicht 
jebt, fondern erft am folgenden Tage. 

Während die beiden ſich in einen Hinterhalt zurüdziehen, fperrt Wal- 
tharius den Kampfplatz mit einem Verhau, legt zu jedem Rumpfe der über: 
wundenen Gegner das zugehörige Haupt, das er jeweilen nad dem Siege 
abgehauen, kniet dann, das entblößte Schwert in der Hand, nad Often ge: 
wandt nieder, dankt Gott für feinen Sieg und betet für die Seelen der getöteten 
Yeinde. Dann genießt er kurze Raft auf feinem Schilde, von Hiltgund behütet : 

Gefunfen war die Sonne. Einbrach die dunkle Nacht. 
Der müde Held Walthari ftand prüfend und bedadt’: 
Ob er in fihrer Felsburg ſchweigſam verweilen möge, 
Ob er durch öde Wildnis verfuche neue Wege. 

Er ſcheute bloß den Hagen und ahnte böje Lift, 

Daß ihn der König dort umarmet und gefüßt. 

Das fürchte ih, jo dacht' er, daß fie zur Stadt entreiten 


Und morgen früh den Kampf erneun mit frifchen Leuten, 
Wofern fie nicht ſchon jekt im Hinterhalte Tauern. — 


Dad Walthariuslied, 325 


Auch ſchuf der wilde Wald ihm ein gelindes Schauern, 
Als dräut’ es drin ringsum von Dorm und wilden Tieren, 
Daß er bort hilflos irrend die Jungfrau möcht’ verlieren. 
Dies alles wohlgepräft und wohlerwogen fprady er: 

„Wie es auch geh’, bis morgen behalt ich hier mein Lager, 
Daß nit der König prahle, ich fei dem Diebe gleich 
Entflohn bei Naht und Nebel aus dem Frankenreich.“ 

Er ſprach's und Dorn und Straudwerf hieb er fi rings vom Hag 
Und ſchloß den engen Pfad mit ftahlichtem VBerhad. 

Mit bitterm Seufzen wandt' er fih zu den Leihen dann, 
Jedwedem Rumpfe fügte fein Haupt er wieder an; 

Gen Sonnenaufgang warf er knieend fi zur Erbe 

Und iprad das Sühngebet mit ſcharfentblößtem Schwerte: 


„O Schöpfer biefer Welt, der alles lenkt und richtet, 

Gen deſſen hohen Willen fi nichts hienieden ſchlichtet, 

Hab’ Dank, dab Heute ich mit deinem Schuß bezwungen 

Der ungerechten Feind Geſchoß und böje Zungen! 

O Herr, der bu die Sünde austilgft mit ftarfen Armen, 
Doch nit den Sünder jelbft — dich fleh’ ih um Erbarmen: 
Lab biefe Toten hier zu deinem Reich eingehn, 

Daß ih am Himmelsfige fie möge wiederjehn !” 


So betete Walthari. Dann trieb er alſogleich 

Der Zoten Noffe ein und band fie mit Gezweig. 

Noch ſechſe waren übrig. Zwei waren umgefommen, 
Drei hatte König Gunther mit auf die Flucht genommen. 


Dann löft’ er feine Rüftung. Das war dem Hih’gen gut, 

Mit frohem Zufpruch ſchöpft' er der Jungfrau Troft und Mut. 
Mit Speife und mit Trank Iabt’ er die müben Glieder, 

Und auf den Schild gelagert, warf er zum Schlaf fich nieder. 
Den erften Schlummer jollte Hiltgunde ihm behüten, 

Denn allzujehr nach Ruhe gelüftet's den Vielmüden. 

Er jelbit behielt fih vor die Wacht am frühen Morgen, 

Er wußt', da drohten ihm erneuten Kampfes Sorgen. 

Zu Haupt’ ihm fißend wachte Hiltgund die Nadt entlang 

Und ſcheuchte von den Augen den Schlaf fih mit Gefang. 
Bald Hub Walthari fi und brad des Schlummers Reft 

Und hieß die Jungfrau ruhen und griff zum Speere feſt 

Und wandelt’ ab und auf. Bald ſchaut er nad den Roffen, 
Bald lauft’ er an dem Walle. So war bie Naht umfloffen '. 


2 Ad cuius caput illa sedens subito vigilavit, 
Et dormitantes cantu patefecit ocellos. 
Ast ubi vir primum iam expergiscendo soporem 
Ruperat, absque mora surgens, dormire puellam 
lussit et arreeta se fuleit impiger hasta. 
Sie reliquum noctis duxit, modo quippe caballos 
Circuit, interdum auscultans vallo propiavit, 
Exoptans orbi species ac lumina reddi. 


326 Achtes Kapitel. 


In der Morgendämmerung bepadt Waltharius vier Pferde mit den 
Waffen und dem Schmude der befiegten Feinde, Hilft Hiltgund auf das 
fünfte Roß und befteigt jelbft ein jechftes, das zugleih die Goldichreine 
trägt. Kaum find fie etwa taufend Schritte gezogen, da nahen Gunther 
und Hagen. Noch ift eben Zeit, dab die Jungfrau mit den bepadten 
Pferden fi in einem Walde bergen fann — dann fteht Waltharius ſchon 
den zwei Feinden gegenüber. Er flieht nicht, fondern reitet ihnen mutig 
entgegen, beihmwört aber Hagen bei feiner alten FFreundestreue, vom Kampfe 
abzuftehen.. Hagen erflärt jedoch, Waltharius habe längft die Freundſchaft 
gebroden, indem er jeinen Neffen, die zarte Blume, gemäht Habe. Und 
nun jpringt Hagen vom Pferde. Er und Gunther jchleudern ihre Speere, 
die jedodh von dem Schilde Waltharius’ abprallen, welcher ſich mit feinem 
langen Speere der ihn nur mit lürzeren Schwertern Angreifenden ermwehrt. 
Doch er fürchtet damit nicht lange ausdauern zu fönnen, wirft darum den 
Speer gegen Hagen, flürzt fofort mit dem Schwerte auf Gunther los und 
haut ihm das eine Bein bis an den Schenkel ab. Einen zweiten tödlichen 
Streih wehrt nur Hagen mit feinem Helme von dem König ab, indem er 
fi über denfelben beugt. Das Schwert Waltharius’ zerfpringt an dem 
Helme, und während er den unnüß gewordenen Griff der Klinge nachwirft, 
haut ihm Hagen die rechte Hand ab. Dod mit der Linken greift Wal- 
tharius zu dem Halbſchwert, das er nad) Hunmenfitte bei fich trägt, und 
Ihlägt Hagen ein Auge und ſechs Zähne aus. 

So ward der Kampf gejchlichtet — wohl durften beide ruhn. 
Laut mahnten Durft und Wunden, die Waffen abzutun. 
Da ſchieden hochgemut die Helden aus dem Streit, 
An Kraft ber Arme gleih und glei an Tapferkeit. 
Wahrzeichen ließ jedweber zurüd von dem Gefechte, 
Hier lag des Königs Fuß — dort lag Waltharis Rechte, 
Dort zudte Hagend Aug’: jo hob an jenem Platz 
Sich jeder feinen Zeil vom großen Hunnenihab. 

Die beiden jehten fih. Der dritte lag am Grunde. 
Mit Blumen ftillten fie den Blutftrom aus der Wunde. 
Diltgund, der zagen Maid, laut rief Walthari dann. 
Die fam und legte guten Verband den Reden an. 
Walthari drauf befahl: „Jetzt miſch' uns einen Wein, 
Wir haben ihn verdient, er ſoll uns beilfam fein. 
Es ſei der erjte Trunf dem Hagen zugebradt, 
Der war dem König treu und tapfer in ber Schladt. 
Danı rei’ ihn mir, ba ich das Schwerfte hab’ erlitten, 
Zulegt mag Gunther trinken, der läjfig nur geftritten.“ 
Die Jungfrau folgt dem Winke und bradt’s dem Hagen bar. 
Da ſprach ber Held, wie ſehr er vom Durft gequält auch war: 
„Walthari, beinem Seren, fei erft der Trunk gereicht, 
Bräver als ih und alfe hat der fich heit erzeigt!” 


r Das Walthariuslied. 327 


Zwar müd, doch frifchen Geiſts ſaß itzt beim Wein geeint 
Hagen, ber Dornige, mit feinem alten Freund, 

Nah Lärm und Kampfgetös, Schildflang und ſchweren Hieben 
Zum Becher bort bie zwei viel Scherz und Kurzweil trieben. 
„Zulünftig”, ſprach der Franfe, „magft bu den Hirſch erjagen, 
D Freund! und von dem Fell ben Leberhandihuh tragen, 
Und fo bu bir mit Wolfe ausftopfefl beine Rechte, 

So meint doch mander Mann, bie Hand jei eine echte. 

O weh! auch mußt fortan du allem Brauch entgegen 

Um beine rechte Hüfte das breite Schlachtſchwert legen, 

Und will Hiltgunde einft dir in die Arme finten, 

Sp mußt du fie verfehrt umarmen mit ber Linten. 

Und alles, was du tuft, muß ſchief und linkiſch fein... .“ 
Walthari ihm erwidert': „O Einaug, halte ein! 

Noch werd’ ih manden Hirſch als Linker nieberftreden, 
Do dir wirb nimmermehr des Ebers Braten fchmeden. 
Schon ſeh' ich aueren Auges dich mit den Dienern fchelten 
Und tapfrer Helden Gruß mit jcheelem Blick entgelten, 

Doch alter Treu gedenkend ſchöpf' ich dir guten Rat: 

Bift bu ber Heimat erft und deinem Herb genaht, 

Dann laß von Mehl und Mil den Kindleinbrei dir kochen, 
Der ſchmeckt zahnlofem Dann und ftärkt ihm feine Knochen.“ 


So ward der alte Treubund erneut mit Glimpf und Scherz, 
Dann trugen fie den König, dem ſchuf die Wunde Schmerz, 
Und huben fänftlih ihn aufs Roß und ritten aus; 

Nah Worms die Franken zogen, Walthari ritt nah Haus. 
Da ward mit hohen Ehren begrüßt ber junge Held, 

Und bald ward auch Hiltgundbe dem Treuen anvermähßlt. 
Nah feines Waters Tode tat er ber Herrſchaft pflegen 

Und führte dreißig Jahre fein Bolt mit Glüd und Segen; 
Noch in mand ſchwerem Kampfe gewann er Sieg und Ruhm. 
Do ftumpf ift meine Feder, und billig ſchweig' ih drum. 
Hochweiſer Lejer du, fchent meinem Werfe Gnabe! 

Wohl gleicht mein rauher Reim dem Sang nur ber Cikade, 
Doch für das Höchſte ift mein junger Sinn erglüht. 

Gelobt jei Jeſus Ehrift! — So flieht Waltharis Lied !, 


Haec quicumque legis stridenti ignosce cicadae, 
Raucellam nec adhuc vocem perpende, sed aevum, 
Utpote quae nidis nondum petit alta relictis. 
Haec est Waltherii poesis; nos salvet lesus?. 


Da Effehard IV. feine feilende Nahhilfe auf Sprache und Ausdrud 
beihränfte, die alte Sage aber ſich fonft nirgends in diefer Faſſung wieder: 
findet, jo fönnen wir die Ausführung jelbft wohl ziemlich ficher als das 
jugendliche Werk Eftehards I. betrachten. An die erhabene Einfachheit und 


überſetzt von Scheffel. 29. 1458 - 1457. 


328 Neuntes Kapitel, 


großartige Tragif des Nibelungenliedes reicht diejelbe nicht entfernt hinan. 
Die Verftümmelung der drei Haupthelden hat faſt einen etwas komiſchen 
Beigeſchmack, den der Dichter am Schluß mit naivem Humor ausgebeutet 
hat. Dafür aber find die Kampfihilderungen voll feſſelnder Lebendigkeit 
und Mannigfaltigfeit. Überhaupt verhindern es die nach Vergils Vorbilde 
angewandten Mittel der Kunftpoefie durchaus nit, daß der nationale Gehalt 
der Sage in et epiiher Objektivität und Kraft zur Darftellung gelangt !. 
Mit Recht jagt darum Sceffel?: „Noch heute erquidt den Lejer der warfen: 
tlirrende Nahhall germanifcher Urzeit, der harakteriftiiche Schmelz, der aus 
Bindung zweier jo ungleiher Elemente, wie vergiliſcher Form und nibelun- 
gischen Inhalts, entjtehen muß, die Einfachheit einer dennoch reihen Er: 
findung, das ruhige Gleichmaß im Fortjchritt der Erzählung, die empfindende 
Märme und epiiche Kraft des Dichters.“ 


Neuntes Kapitel, 


Der Auodlieb. 


Nicht viel jpäter als um die Zeit, da das Walthariuslied durch Elke— 
hard IV. die uns erhaltene Faflung gewann, ift aud eine andere kleine 
Epopöe entftanden, von der aber bis jetzt nur lüdenhafte Bruchftüde wieder 
aufgefunden worden find. Das ift der „Ruodlieb“. Wie jenes ein Stüd 
altgermanijcher Heldenjage, jo bannt diefer einen kleinen mittelalterlichen 
Nitterroman in die Form des lateinischen Herameterd. Die größeren Brud: 
ftüde ftammen aus einer Handſchrift des Kloſters Tegernfee; die vierunddreißig 
Blätter derfelben werden noch durch ein paar andere ergänzt, die ſich in 
St Florian fanden. Bon B. J. Docen aufgefunden, wurden fie 1838 und 
1840 von A. Schmeller veröffentliht. Innere Gründe weiſen auf einen 
Geiftlihen in der erften Hälfte des 11. Jahrhunderts als Berfaffer Hin. 
Schmeller ſchrieb es dem Mönd Froumund von Tegernfee zu, der nod 





’ „Diktion und Vers zeigen den Schüler Vergils, der es felbft nicht verihmäht 
hat, hie und da einmal einen ganzen Vers feines Meifters feiner Darftellung ein- 
zumweben: im ganzen aber beherricht er die durch Vergil geichaffene Ausdrucksweiſe 
des römischen Epos mit vollfter Freiheit; fein Stil ift feineswegs ein künſtlich ge— 
machtes Moſaik aus antiten Reminiszenzen. Das römiihe Gewand ſchmiegt fi dem 
beutjchnationalen Inhalt jo vollkommen an, dab es oft als fein aus ber Fremde er» 
borgtes mehr erfcheint, zumal ber Dichter auch mitunter ſich nicht enthält, eine deutſche 
Redewendung wörtlih in das Lateinische zu übertragen und gegen die Grammatif 
desjelben als Deutſcher fi zu verfündigen* (A. Ebert, Geſchichte der Literatur 
des Mittelalters III, Leipzig 1887, 275). 

? ©. 112 feiner Ausgabe, 


Der Ruodlieb. 329 


nad 1017 unter Abt Ellinger lebte; Berjchiedenheiten in Stil, Sprade und 
Reim mahen es jedoch mwahrjcheinlicher, daß der Berfaffer des „Ruodlieb“ 
etwas jpäter, zwiſchen 1023 und 1030, lebte. 

Ein tüchtiger, junger Ritter, namens Ruodlieb, hat in feiner Heimat 
mehreren Herren treu und hingebend gedient, aber wenig Dank geerntet, 
fih nur Feindfchaften zugezogen. Er übergibt daher die Sorge für feinen 
Familienſitz der noch rüftigen, wadern Mutter und zieht in die Fremde, nur 
mit feinem Pferde, einem Knappen und einem trefflihen Spürhunde. Trüb 
und traurig in die Zukunft ſchauend, trifft er unterwegs mit dem Jäger 
des Königs zujammen, der das bereits betretene Grenzland beherricht, erregt 
zuerft Verdacht, gewinnt aber bald deſſen Vertrauen, wird von ihm bei 
jeinem König eingeführt und tritt in deffen Dienfte. Mittels allerlei kunſt— 
reiher und wunderfamer Jagdſtückchen erlangt er große Beliebtheit. Der 
Friede, deſſen fi das Land erfreut, wird aber durch den böfen Feind ge- 
flört, der bei Anlaß eines Marktes einen großen Streit erregt, bei dem 
viele Menſchen ums Leben fommen. Es bricht Krieg aus. Ein Grenzgraf 
des Nahbarreiches bricht zuerft in das Neich des Königs ein, dem Ruodlieb 
dient, ſengt und brennt und macht viele Gefangene, wird aber jchließlich 
überwunden und jelbft gefangen mit all jeinen Leuten vor den König ge: 
führt, gegen welchen der Zug gerichtet war. Diefer behandelt den liber- 
wundenen mit nahezu wunderbarem Edelmut und jhidt ihn dann nebft 
Ruodlieb an feinen Heren, den „Eeineren“ König, zurüd, mit dem Antrag, 
auf taufend Jahre Frieden und Freundſchaft zu ſchließen. Die Gejandt: 
ihaft ift mit dem beſten Erfolg gekrönt. Es wird eine Zufammenfunft der 
beiden Könige verabredet und bald darauf gehalten, wobei der Heinere König 
die Leute des größeren aufs reichlichfte beichenkt ; diefer erlaubt indes nur 
den Geiftlihen, die Gefchente anzunehmen. 

Ruodlieb, defien Name jebt zum erftenmal genannt wird, fehrt mit 
dem größeren König an deffen Hof zurüd und findet hier einen Boten mit 
Briefen aus der Heimat. Seine früheren Herren und feing Mutter wünſchen 
ihn ſchleunigſt zurück. Der König ift einverftanden und entläßt ihn aufs 
Huldreichfte. Als Andenten gibt er ihm zwei Silbergefäße in der Geftalt 
bon Broten, das eine mit byzantinischen Goldmünzen, das andere mit Münzen 
und koſtbarſtem Schmud gefüllt: das fleinere Brot foll er in Gegenwart 
jeiner Mutter, das andere größere aber erſt bei feiner Verheiratung vor feiner 
Ermwählten anfchneiden. Beim Abjhied läßt der König ihm die Wahl, ob 


’ Bateinifche Gebihte des 10. und 11. Jahrhunderts, von $. Grimm und 
A. Schmeller, Göttingen 1838. — Ruodlieb, Der ältefte Roman bes Mittel» 
alters. Nebft Epigrammen. Mit Einleitung, Anmerkungen und Gloffar herausgeg. 
von Friedrich Seiler, Halle a. ©. 1882, 160-171. — Rudlieb, Übertragung 
des älteften deutſchen Heldenromans, von Di. Heyne, Leipzig 1897. 


330 Neuntes Kapitel. 


er mit Gold oder mit Weisheit belohnt fein wolle. Da Ruodlieb die Weisheit 
vorzieht, erteilt ihm der König zmölf weile Räte: 


1. Zraue feinem Rotkopf; denn das find jähzornige und ſchlechte Menſchen. — 
2. Verla nie den ſchmutzigen Dorfweg, um durch die Saaten zu reiten; jonft wirb 
man dich ſchelten, und bu wirft zum Born Hingeriffen werben. — 3. Kehre nie ein, 
wo ber Dann alt und bie Frau jung ift, fondern wo umgekehrt ber Mann jung und 
bie rau alt ift. — 4. Verleihe nie eine trächtige Stute zum Eggen, ſonſt geht das 
Junge zu Grunde. — 5. Beſuche aud einen lieben Freund nicht zu oft; font ver- 
liert der Beſuch an feinem Wert. — 6. Behanble nie eine Magb vertraulich wie 
eine Gattin, fonft wird fie übermütig. — 7. Sude dir eine Gattin nad dem Rat 
der Mutter, behandle fie gut, bleibe aber ihr Meifter und vertraue ihr nicht alle 
beine Geheimniffe an, damit fie bir nicht bei etwaigem Streite verlekende Vorwürfe 
machen kann. — 8. Beherrfhe den Zorn und ſchiebe die Rache wenigſtens zum 
folgenden Tag auf. — 9. La dich nicht in Streit mit deinem Herrn ein, und wenn 
er etwas von bir leihen will, fo jchent es ihm. — 10. Wo bu eine Kirche fiehft, 
empfiehl dich ben Heiligen. Wo geläutet oder gefungen wird, gehe hin und halte 
die Andacht mit; das verlängert die Neife nicht, fondern verfürzt fie. — 11. Wenn 
dich jemand auffordert, um Ehrifti willen das Faſten zu breden, jo weigere Dich 
nicht; dadurch bridft bu nicht fein Gebot, fonbern erfülft es. — 12. Haft bu Ader- 
land an ber Straße, fo ziehe feine Gräben, um bie Leute von den Saaten fern zu 
halten; fonft umgehen fie die Gräben, und du haft den doppelten Schaden. 


10) Et numquam sit iter quoquam tibi tam properanter, 
Ut praetermittas, quin, ecclesias ubi cernas, 
Sanctis committas illis te vel benedicas. 
Sieubi pulsetur aut si quo missa canatur, 
Descendas ab equo currens velocius illo, 
Catholicae paci quo possis participari, 
Hoc iter haud longat, penitus tibi quin breviabit 
Tutius et vadis hostem minus atque timebis, 


11 


— 


Ahnuito numquam, si te cogens homo quisquam 
Oret amore pii ieiunia frangere Christi, 
Non ea nam frangis sua sed mandata replebis. 


12 


— 


Si tibi sint segetes prope plateas generales, 
Non facias fossas, progressus ulteriores 

In sata ne fiant; nam fossas circueundo 

Strata fit utrimque per siccum gente meante; 
Si non fodisses, damnum minus hine habuisses. 


An dieſe Weisheitsſprüche knüpft fih zum Zeil der weitere Verlauf 
der Geſchichte. Nachdem NRuodlieb von dem Freunde fich verabjchiedet, der 
ihn noch drei Tagereifen begleitet hat, drängt ſich ihm richtig ſchon ein Rot— 
fopf auf, deflen Begleitfchaft er umfonft abzuſchütteln verfudt und der ihm 
gleich bei der erften Furt feinen Mantelſack ſtiehlt. Ruodlieb ehrt bei einem 
jungen Bauern ein, der eine alte Frau hat, und findet die befte Aufnahme, 
Der Rote aber zieht zu einem alten Bauern mit einer jungen rau, ber: 


Der Ruodlieb. 331 


führt dieſe zum Ehebruch, erfchlägt den Mann, wird aber gepadt und hin: 
gerichtet. Ruodlieb dagegen trifft mit einem jungen Neffen zufammen und 
fehrt mit ihm bei einer Gevatterin von Ruodliebs Mutter ein, die eine jehr 
ihöne Tochter hat. Ruodlieb bezaubert alle mit feinem Harfenfpiel, dann 
unterhält er die Tochter mit Würfeljpiel, und fie verlieren gegenjeitig ihre 
Ringe aneinander. Nur Rüdfiht auf den guten Ruf verhindert die jungen 
Leutchen, daß fie nicht allzumeit gehen. Durd die Gevatterin wird Ruodlieb 
an die Sehnfucht jeiner Mutter nah ihm gemahnt und reift weiter. Ab— 
gejandte der Mutter fommen ihm entgegen. Eine Dohle, die jpredden kann, 
verfündet feine unmittelbar bevorſtehende Rückkehr. Das freudige Wieder- 
jehen wird mit einem Feſtmahl gefeiert, zu dem Ruodlieb und der Neffe 
jorgfältigit Toilette maden. Dann hält er Zwieſprache mit der Mutter allein 
und fchneidet vor ihr das Hleinere der Silberbrote an, und dann in feinem 
Subel auch noch das andere, ohne auf die Anweifung des Königs zu achten. 
Die Brote werden hier als afritanifche bezeichnet (factos apud Afros). 

Ruodlieb begleitet nun zumächft feinen Neffen auf die Brautfahrt. Er 
unterhält die Burgfrauen, Mutter und Tochter mit feiner Gewandtheit im 
Kahnfahren und Fiſchen, fowie mit den Hunftjtüden feines mohldrejfierten 
Hundes. Zur Heirat fommen eine Menge Verwandte herbei. Ruodlieb 
empfiehlt die Partie hauptjählich damit, dab es gelte, den Bräutigam dem 
Netze einer ſchändlichen Buhlerin zu entreißen. Dieſer gefteht jeine Schwäde 
teuevoll ein und wird von den Anweſenden in Gnaden aufgenommen. Auch 
das Fräulein gibt fein Jawort. Wie er fie aber auf feinen Schwertfnauf 
zu ewiger Treue verpflichten will, lieſt fie ihm gehörig den Text und ver- 
bittet fi von feiner Seite weitere Buhlereien. Nun legt er Hein bei und 
verſpricht ihr vollftändige Befferung, worauf dann die Verlobung und Über: 
reihung der Hochzeitsgeſchenke richtig von ftatten geht. 

Jetzt dringt Ruodlieb3 Mutter darauf, daß auch er fich vereheliche, um 
die Fortdauer der Familie und ihres Beſitzes zu fihern. Er erklärt ſich 
bereit. Anftatt fi aber, nad) dem weiſen Nat des Königs, aud) bei der 
Brautwahl an die Mutter zu halten, wendet er fih an eine der andern 
Berwandten und wird damit wirklich in die Jrre geführt. Die ihm empfohlene 
Schöne ift eine leihtfinnige Kokette, die ſich bereit mit einem Kleriker ein: 
gelafjen hat. Zum Glüd erfährt er nicht nur redhtzeitig ihre Unzuverläfligkeit, 
jondern fann ihr diefelbe auch ſehr jchlagend beweilen. Die Frömmigkeit 
und Wohltätigleit der Mutter verdient aber Gottes Hilfe und Schub, daß 
er do zu einer guten Frau fommt. 

Sed Rödlieb mater, quodeumque potest, operatur 
In Christi miseros, viduas, orbos, peregrinos. 
Inde merebatur, quod Rödlieb valde beatur !, 





ı VII 85—87. 


332 NReunies Kapitel. 


In frohen Träumen wird der Mutter erſt diejes künftige Glück gezeigt. 
Sie fieht, mie zwei Eher mit einer ganzen Schar Säue auf ihren Sohn 
eindringen, diefer aber die Tiere erlegt; dann fieht fie ihn auf einem Ruhe: 
bette im Wipfel einer hohen Linde ruhen, eine weiße Taube trägt eine foft 
bare Krone herbei und jegt ſich lieblojend auf jeine Hand. 

Die Träume verwirklihen fih denn auch. In einer Falle nimmt 
Ruodlieb einen Zwerg gefangen, der ihm um Leben und Freiheit verjpricht, 
den Schaf zweier Könige zu zeigen, des Immunch und jeines Sohnes 
Hartund. Dieje werde er bejiegen und erihlagen; dann könne er aud des 
Königs Tochter Hariburg gewinnen, wenn das aud großes Blutvergießen 
foften werde. Als Geijel bietet er Ruodlieb feine eigene niedliche Zwerg: 
gemahlin an, die auf jeinen Ruf alsbald erjcheint: 


Parva, nimis pulchra sed et auro vesteque compta, 
Quae ruit ante pedes Rödlieb fundendo querelas: 
„Optime cunctorum, vinclis mihi solve maritum 
Meque tene pro se, donec persolverit omne.* 


Damit bricht das lebte Fragment (XVII) ab. F. Seiler, der kri— 
tiihe Herausgeber der Dichtung, ſchlägt das Verdienſt derjelben ziemlich 
hoch an: 

„Den abjoluten Maßſtab Höchfter poetiicher Vollendung dürfen mir 
natürlich nit an das Gedicht anlegen, vor dem relativen aber befteht es 
glänzend. Es feiftet mehr, al3 man für jene Zeit erwarten und verlangen 
kann. — Das Gediht atmet Leben, nicht Schule. Es ift nit dur 
irgendwelchen Zwed eingegeben, fondern, wie jedes echte Kunſtwerk, um jeiner 
jelbft willen da; es will genoffen, nicht genußt jein. Der Dichter ift ein 
Mann von gereifter Zebenserfahrung und mildem Charakter, von frommen, 
aber nicht zelotiſchem und noch weniger weltabgewandtem Sinne. Er ver: 
bindet mit realiftiicher Beobachtungsſchärfe ein glüdliches Darftellungstalent 
und ein freundliches Gemüt, das ihn zu den Menjhen wie zur Natur umd 
ihren Geſchöpfen gleihmäßig hinzieht. An Originalität und freiheit des 
Geiſtes, an Selbftändigfeit in Wahl und Verarbeitung des Stoffe, an 
plaftifcher Geftaltungsfraft, mit einem Worte an dichterifcher Begabung über: 
ragt er alle feine Zeit: und Zunftgenofjen durchaus. Daher läßt fi feinem 
Werte fein poetifches Erzeugnis in lateinischer Sprade von Waltharius bis 
zum Iſengrimus, d. 5. vom 10. bis 12. Jahrhundert, auch nur annähernd 
an die Seite ftellen; es ift eben ein ‚literariiches Wunder‘ (E. PVoigt).“ ! 

Diejes Urteil dürfte doch ftarker Einſchränkung bedürfen. Gerade jehr 
ſpannend ift die Verwidlung nicht zu nennen; die Gharakteriftif ift weder 


’ Seiler, Ruoblieb 199 200. 


Zehntes Kapitel. Das lateiniſche Tierepos. 333 


ſehr mannigfaltig nod immer ſcharf, treffend und feflelnd; Sprade, Bers 
und die Form überhaupt find jo Holperig und ungeſchlacht, daß ein eigent- 
liher Genuß faum möglich ift. 


Zehntes Kapitel, 
Das lateinifhe Vierepos. 


Ungefähr im diejelbe Zeit wie die erite lateiniiche Bearbeitung der 
Nibelungenfage fällt auch das frühefte lateinische Tierepos, der Vorläufer der 
vielen jpäteren Bearbeitungen des Reinele Fuchs. Der Titel lautet: Ecbasis 
cuiusdam captivi per tropologiam. Das Gedicht enthält 1175 Hexa— 
meter, meijt leoninifch gereimt!. Der Name des Berfafjers ift unbelannt. 
Er war Mönd des Kloſters St Evre in Toul, als dasjelbe 936 nad 
längerem Berfall dur eine Heilfame Reform mieder auf beffere Wege ge: 
bracht wurde. Wie er im Prolog befennt, hatte er ſchon als Kloſterſchüler 
die Studien vernadhläfjigt, feine Zeit mit Poffen verloren und ſich durch 
jeine fraulheit den Namen „Ejel“ erworben, war dann dem Kloſter entlaufen, 
aber wieder aufgefangen und in Haft genommen worden. Da rafite er 
ih auf und gab fih ans Dichten, und da er ſich Hohen und erhabenen 
Stoffen nicht gewachſen glaubte, verſuchte er feine Schidjale unter dem 
Namen und Bilde eines Kalbes zu erzählen. 

Um Oftern, da die Hirten im Wasgau ihre Herden auf die Weiden 
trieben, macht fi ein im Stall zurüdgebliebenes Kalb los und läuft Iuftig 
auf die Wieſen. Wie es dann aber in den anitoßenden Wald kommt, 
begegnet e& dem Wolf in Geftalt eines Förfters, der es freundlich begrüßt, 
mit in feine Höhle nimmt und ihm Gaſtfreundſchaft zujagt, aber zugleich 
auch ankündigt, es müffe ihm morgen zum Oftermahl dienen. Gegen Mitter- 
nacht treffen die zwei Dienftleute des Wolfes, die Otter und der gel, mit 
neuen Vorräten in der Höhle ein und vernehmen, was ihr Herr mit dem 
Kalbe vorhat. Der gel fingt feinen Herrn mit Zitherjpiel in den Schlummer, 
aus dem ihn ein jchredhafter Traum aufſcheucht. Der Igel rät darauf, 
da3 Kalb am Leben zu laffen. Auch die Otter mahnt den Wolf von dem 





ı Serausgeg. von Y. Grimm und U. Schmeller (Lateinifhe Gedichte des 
10. und 11. Jahrhunderts, Göttingen 1838); E. Voigt (Ecbasis captivi, das 
ältefte Tierepos des Mittelalters, Straßburg 1875, in Quellen und Forſchungen VII). 
— Metriſch überjegt von Meiste, Halle 1858. — J. Kelle, Geſchichte ber beutfchen 
Literatur I, Berlin 1892, 209—216. — U. Ebert, Geſchichte der Literatur des 
Mittelalters I 276285. 


334 Zehntes Kapitel. 


Frevel ab, er werde jonft nad dem kanoniſchen Recht ald Räuber fterben. Doc 
der Wolf befteht darauf, daß das Kalb gegen 6 Uhr geichlachtet werden folle. 

Inzwiſchen ift aber der Berluft des Kalbes bei der Herde bemerft 
worden. Der Hund führt die Herde vor die Höhle des Wolfes; das Brüllen 
des Stierd wedt diefen vom Schlummer auf. Der Wolf fordert Otter und 
Igel auf, für ihn zu kämpfen: er fürchtet niemand als den Fuchs, den 
er unter den Angreifenden nicht zu bemerfen glaubt. Otter und gel wollen 
aber nicht eher kämpfen, bis fie wilfen, wie es mit feinen Beziehungen zum 
Fuchs fteht. Und nun jchiebt fi in die NRahmenerzählung „vom Wolf und 
Kalb“ eine weit längere „vom kranken Löwen und vom gejhundenen Wolf“ 1 
ein, worin der Fuchs jchon jo ziemlih die Hauptrofle ſpielt. 

Der Löwe liegt nierentrant in feiner Höhle. Durd feinen Kämmerer, 
den Wolf, läßt er alle Tiere des Waldes vor fi laden, um ihm ein Heil 
mittel anzugeben. Alle fommen, nur der Fuchs nidt. Der Löwe grollt 
und befiehlt, duch den Wolf noch mehr aufgereizt, ihn in Stüde zu reihen. 
Der Pardel nimmt fi indeffen des Fuchſes an, der nun zu Hofe fommt 
und fih duch Entihuldigungen zu retten jucht. Nur aus Sorge für den 
Löwen hat er fich fo verfpätet; denn bis zum See Genefareth ift er ge 
pilgert; da hat ihm das Kluge Wafferhuhn das geheime Mittel angegeben, 
das allein den König retten fann, und ihm aud den nächſten Weg an 
den Hof bezeichnet, über Rom nah Bordeaur. Der Storh, den er in 
Pavia traf, habe dasjelbe Mittel angegeben. 

Der Löwe traut der Sade nit; da aber alle Tiere Iniefällig für 
den Fuchs einftehen, gibt er nah und erlaubt dem Fuchs, als Zeichen 
jeiner Gnade, fein Königsſcepter berühren zu dürfen." Unter vielem Sträuben 
rüdt dann endlich der Fuchs mit dem Geheimnis heraus: dem Wolfe müſſe 
das Fell ausgezogen, der König in dasjelbe gewidelt werden, nachdem ihm 
erft Lenden und Rüden mit dem Fiſchgehirn eingefalbt wären, das der 
Fuchs aus Indien mitgebradht. Zwei Luchſe und der Bär ziehen nun dem 
Molfe das Fell ab bis auf Kopf und Füße. Der Fuchs aber, zum Pfalz: 
grafen ernannt, jpielt mit großer Würde den Arzt weiter, verordnet ihm 
die richtige Mönchskoſt und führt ihn im Garten jpazieren. Die Tiere, 
welche drei Tage gefaftet, erhalten auf Vorſchlag des Leopards ein reichliches 
Mahl; dann werden die Amter und Gejchäfte bei Hofe unter fie verteilt. 

Die Bären müffen das Holz herbeifhleppen, die Kamele die Teppiche, 
"die Ottern und Biber das Waller. Der Tiger hat die Bäderei zu bejorgen, 








ı Schon in Diftichen bearbeitet von Paulus Diaconus (Poetae latini aevi 
Carolini rec. E. Dümmler I, Berol. 1880, 62—64). — Die „Fabel vom Löwen 
und Hirſch“ findet fih in Fredegars Chronik (lib. 2, 57. Script. rer. Merowing. 
II 81), ebenfo in ber Klloftergefchichte von Tegernſee (B. Pez, Thesauri anecdot. 
nov. III 1, 493 f), aber aus dem Löwen ift bajelbft ein Bär geworben. 


Das lateiniſche Tierepos. 335 


der Elefant die Küche. Der Hirſch wird zum Mundſchenk ernannt, der 
Leopard zum Truchſeß, der Eber zum Türhüter. Luchſe und Gemjen jollen 
die Leibwache bilden, die Meerkatzen das Bett bereiten, die Affen für das 
Licht jorgen. Dem Igel wird aufgetragen, Apfel und Mandeln zu bringen; 
da er aber aus Adelsſtolz ſich defjen weigert, wird er in die Küche verwieſen, 
wo er den Bratipieß zu drehen hat und das Spülwaſſer zu trinken befommt. 

Der Pardel fehlt noch. Der Fuchs geht ihn holen, während der Leopard 
ihn dermaßen preift, daß der König ihn zu feinem Nachfolger an Sohnes 
Statt ernennt. Auf die Frage, weshalb er jo lange gefäumt, erklärt er, 
er habe dem König ein Schlafmittel verihaffen wollen, und führt als joldhes 
Amſel und Nachtigall vor. 

Das Mahl hat inzwijchen längft begonnen, und die zwei Sänger fingen 
rührende Lieder vom Leiden Chrifli. Der Pardel will aber ein Iuftiges Lied 
haben. Die beiden tränenbeneßten und ajchebededten Sänger baden ſich 
darum in der Gironde und vereinigen fi dann, wohlaufgepußt, mit dem 
Sittih und dem Schwan, um ein Ofterlied zu fingen. Alles ift nun luſtig 
und voller Freude. Nur der Fuchs jcheint nicht recht zufrieden, und da 
der König fragt, was ihm fehle, gefteht er, daß ihm zu feinem Glüde noch 
eine gewiſſe Höhle auf dem Berge fehle — die Höhle, welche der Wolf bewohnt. 

Der König entläßt nun die Tiere. Die Nachtigall fingt ihn in den 
Schlaf. Nachdem er drei Tage und Nächte geichlafen, zieht der Löwe in 
den Schwarzwald. Amfel und Nachtigall gehen in den Welten, der Schwan 
zu den Normannen und der Sittih nah Indien. Der Fuchs aber madt 
eine Spott-Grabinfhrift auf den Wolf und läßt fi dann von dem Leopard 
in die ihm zugeteilte Burg inftallieren. 

So weit die lange Zwiſchengeſchichte. Die Otter dankt dem Wolfe für 
ſeine ſchätzbaren Mitteilungen und fteigt dann auf den Hügel über der Höhle, 
um Ausihau zu halten. Da fieht fie die Feinde allefamt zum Angriff 
bereit, an ihrer Spite den Fuchs mit der Belehnungsurkunde, “die ihm die 
Höhle zuteilt. Erjchroden dringt die Otter in den Wolf, er jolle das 
Kalb freigeben. Da er fich weigert, flieht die Otter dur einen Sprung 
in den Fluß, der Igel macht fih in den Felſen unfihtbar. Die Burg 
wird geftürmt; der Wolf, durch Schmeichelreden des Fuchſes aus feiner Höhle 
hervorgelodt, wird vom Stier an einen Baum gejpießt. Der Fuchs widmet 
ihm aud hier eine Spottinfohrift und nimmt von der Burg Beſitz. Das 
gerettete Kalb aber geht mit jeiner Mutter nah Haufe und erzählt ihr 
unterwegs, was es ausgeftanden. 

Mande Züge diefes Tierepos entftammen den äſopiſchen Fabeln, andere 
dem viel verbreiteten „Phyſiologus“. In Bezug auf die Yorm hat der 
Dichter vieles (etwa ein Fünftel der Verſe) aus Horaz (Epifteln und 
Satiren) herübergenommen, vieles auch aus Prudentius (Hamartigenia) 


336 Zehntes Kapitel. 


und andern driftlihen Dichtern!. Die Tiere find durchweg als Mönche 
geichildert, werden auch ala Fratres und Gonfratres angeredet, der Löwe 
als „Abt“ und „Vater“; doch jpielen einzelne Züge aud ins Weltleben 
hinüber. Die fatirifshen Anjpielungen, an denen das Gedicht reich jein 
dürfte, laffen fi natürlih nur vermuten, feinestwegs nachweiſen; aber die 
drollige Erzählung wirkt ſchon für fi ergöglic genug. 

Die in die Vergangenheit zurüdgreifende Zwiſchengeſchichte erwähnt 
König Konrad I., die Haupterzählung König Heinrich 1. 

Die Tierfage mit den bereits in der Echasis vorhandenen Hauptgeftalten 
behielt in Nordfrantreih und den angrenzenden Niederlanden ihre Volks: 
tümlichfeit und fand ſchon in der nädften Zeit noch mehrfache lateinische 
Bearbeitung. 

Eine kürzere — der Isengrimus — (in 344 Diftihen), das Wert 
eines jüdflandrifhen Dichters, mag etwa aus dem Anfang des 12. Jahr: 
hunderts ftammen?, Sie umfaßt nur zwei Abenteuer: die Krankheit des 
Löwen und die Wallfahrt der Gemſe. Das erfte dedt ſich ziemlich mit 
der Darftellung in der Ecbasis; das zweite erzählt Renard, um dem König 
während deſſen Retonvaleszenz die Zeit zu lürzen. Bertiliana, die Gemie, 
unternimmt eine Wallfahrt, erſt allein, dann mit fieben Gefährten, welche 
fih ihr anſchließen. Die Hornbewaffneten, Hirſch, Widder und Bod, bilden 
den Bortrab. Renarbus ift Neifemarihall, der Efel Laftträger und Tür: 
hüter, die Gemje Wächter und der Hahn Stundenfager. Iſengrim, zivar 
bollgefrefjen, aber doch ſchon wieder beutegierig, hat die Pilger bemerkt und 
ichleiht fih an die Herberge im Walde, wo fie ſich für die Nacht Unterkunft 
juchen. Renardus hat ihn aber ebenfall® beobadhtet und finnt nun auf 
eine Lift, ihm zu verſcheuchen. Glücklich trifft er unterwegs einen toten Wolf, 
an einem Baume aufgehängt: dieſem jchneidet er den Kopf ab und nimmt 
ihn in die Herberge mit. Wie nun Yiengrim erjheint, um mitzufpeifen, 
wird ihm der Wolfskopf vorgejegt mit der Bemerfung, dab nichts vor: 
rätig ſei als fieben Wolfsföpfe. Da der Wolf ftußt, wird der Wolfe: 
topf abgetragen, aber bald als ein zweiter wieder gebradt und jo als 
dritter, mit einem Holzftüd gejperrt. Dem Iſengrim wird es nun immer 
unheimlicher, und troß der wiederholten ſpöttiſchen Einladungen ſchleicht er 
erihroden davon. 


ı Die Gejhichte vom Franken Löwen findet fi bereits im Pantſchatantra (T 11) 
und ift aus biefem in deſſen vielfache orientalifhe und occidentaliſche Nachkommen⸗ 
ihaft von Fabelbüchern übergegangen. Die Stelle des Fuchſes nimmt aber der Schafal 
ein, die bes Wolfes das Kamel, das durch die Lift des Schafals dahin gebradht wird, 
daß es ſich felbft dem Franken und bungrigen König zur Speife anbietet (Benfey, 
Pantichatantra I, Leipzig 1859, 230— 234; II 80—85). 

2 Bei Jakob Grimm, Reinhart Fuchs, Berlin 1834, 1—24. Kurze Über- 
fit ebd. zıx—ıeuı. 


Das lateiniſche Tierepos. 337 


„Die Dichtung iſt mit Geſchick und ſogar mit Gewandtheit behandelt; 
gleich im Eingang, aber auch an andern Orten (z. B. V. 503—514) zeigt 
die Darftellung Friſche und Leben, das Geſpräch fügt ſich meiftenteils in 
angemefjener Bewegung. Es mangelt nicht an Bildern und Bergleihungen... .. 
Der Dichter ſcheint unter den Klaſſiklern vorzüglih Ovid gelefen zu haben.“ 

Weit umfangreicher ift die andere Bearbeitung Reinhardus Vulpes, 
in 6596 Berjen, von dem flandriihen Magifter Nivardus um die Mitte 
des 12, Jahrhunderts verfaßt!., Zu den zwei Abenteuern des Iſengrimus 
gejellen fich hier noch zehn andere und bieten ihnen einen höchſt ergößlichen 
Rahmen. 

1. Ylengrim, längft über Reinhard erboft, trifft ifn im Walde und will 
ihm ans Leben; Reinhard rettet fih nur damit, daß er einem vorbeiziehenden 
Bauern jein geichlachtetes Schwein abjagt und dem gefräkigen Wolfe über: 
läßt. 2, Um fi zu rächen, prahlt er bei ihm über feine Methode zu fiſchen, 
die darin beftehe, den Schwanz ins Waſſer zu halten, der die Fiſche anzöge, 
und, wenn genug Fiſche angebiffen, fih dann aufs Trodene zurüdzuziehen. 
Der gierige Iſengrim verſucht das, bis der Schwanz ihm einfriert. Reinhard 
aber ftiehlt unterdeffen dem Frühmeſſer Bovo feinen Hahn und lodt bie 
Leute nah dem Weiher, wo die Bäuerin Aldrade dem Wolfe den Schwanz 
abfappt. 3. Reinhard tröftet ihn und’ ladet ihn ein, als Feldmeſſer einen 
Rechtsſtreit zu jhlichten, den vier Widder über ein Grundftüd führen. Auf 
Reinhards Nat ftellt er fih in die Mitte. Denn wo fie zufammentreffen, 
da ſoll die Grenze fein. Die Folge davon ift, daß fie ihm jämmerlich zer 
ftoßen, jo daß er faft des Todes ift. 

Es folgt nun (4. und 5.), wie im Isengrimus, die Geſchichte vom 
kranken Löwen und von der Wallfahrt der Gemje Bertiliana. Nachdem aber 
Iſengrim dor dem ihm aufgetiihten Wolfstopfe zurückgewichen, Hat e8 damit 
nicht fein Beenden; er ruft no in der Nacht jeine gefamte Wolfsfippe 
zufammen und belagert mit ihr die Herberge im Walde. Die Pilger find 
indes aufs Dad geftiegen und machen von hier aus einen jolhen Lärm, daß 
die Wölfe eingefhüchtert die Flucht ergreifen. 6. Obwohl dur Reinhardus 
gerettet, trauen Gerhard, der Gänferih, und Sprotin, der Hahn, ihm nicht 
und geben deshalb die Wallfahrt auf. Vergeblich ſucht Reinhard wenigſtens 
den Hahn für die Fortſetzung derjelben zu gewinnen. Dagegen weiß er 
den Hahn vorübergehend durch das Lob feines Gejanges zu berüden; doch 
wird der Hahn in äußerfter Gefahr no von dem Jäger und feinen Hunden 
gerettet. 7. Mittels Krapfen, die er von einem Kloſterkoch erhalten, gewinnt 
Reinhard den Wolf für den Gedanken, ins Klofter zu gehen, macht ihm 


ı Heranägeg. von Done (Reinardus Vulpes), Stuttgart 1832, und E. Voigt 
‘(Diengrimus, herausgeg. und erklärt), Halle 1384. 
Baumgartner, Weltliteratur. IV. 3, u. 4. Aufl. 22 


338 Zehntes Kapitel. 


jelbit eine Tonfur umd führt ihn ins Klofter Blandinium. Nachdem er ihn 
hier untergebracht, fchleicht er in Jfengrims Haus und entehrt in ſchimpflichſter 
Weiſe deifen Weib und Kinder. Iſengrim führt fih im Kloſter über alle 
Maßen dumm und täppiih auf, zieht im Seller den Fäſſern die Zapfen 
aus und richtet alles mögliche Unheil an. Die Mönche bearbeiten ihn der: 
maßen mit Schlägen und Stöhen, daß er fih aus dem Staube macht und 
nad Haufe eilt. Da findet er jein Weib in einer Schlucht hängend, reitet fie 
und bernimmt von ihr Reinhards Untaten. Er ſchwört ihm ewige Rache. 

8. Die Erzählung greift nun zu der früheren Epijode zurüd, wo der 
Molf gejhunden den Hof des Königs verläßt. In feiner erbärmlichen Nadt- 
heit trifft er mit dem Pferde Corvigar zufammen, das eben ein Stord aus 
dem Schilfgras vertrieben hat. Er verlangt von Eorvigar defjen Haut; der 
verjpottet ihn exit, ftellt fih daun reuig und fleht um Verzeihung; mie aber 
Iſengrim den ihm dargebotenen Fuß faflen will, ſchlägt er ihm jo ins Antlik, 
daß er zu Boden ftürzt. 9. Auf fein Gefchrei kommt Reinhardus herbei, 
tut jehr teilmehmend und ſchiebt die Schuld, dak der König Iſengrim ent- 
bäuten ließ, auf den Widder Joſeph. Zu diefem führt er jeinen Oheim und 
jorgt dafür, daß derfelbe abermal3 geprellt wird. Auf Iſengrims Forderung 
erbietet der Widder für die Feldmeſſung zwölffahen Zins und dazu nod, 
jelbft in den Rachen des Wolfes zu jpringen. Diejer reißt den Rachen 
auf, jomweil er fann. Der Widder ftößt ihn mit feinen Hörnern zu Boden 
und bringt ihm neue Wunden bei. 10. Neinhardus führt den Löwen als 
Gaft zu Iſengrim; fie erjagen zufammen ein Halb; der Wolf joll e& teilen, 
und dieſer jpricht jedem ein Drittel des Kalbes zu. Dafür reißt ihm der 
Löwe ein Drittel feiner Haut von der Schulter bis zum Schwanz herunter. 
Nun joll Reinhardus die Teilung vornehmen. Diefer weiſt ein Drittel dem 
Löwen, ein zweites der Löwin und ein drittes dem jungen Löwen zu; ob 
er jelbft einen Fuß des Kalbes erhalten joll, überläßt er der Grokmut des 
Löwen. Wie ihn diefer fragt, von wen er teilen gelernt, jagt er: „Von 
meinem Oheim!“ 11. Reinhardus rät Iſengrim, von dem Eſel Carcophas, 
dem Sohne Balduins, eine Haut zu verlangen, die diefer feinem Vater ſchuldig 
geworden jei. Garcophas verlangt Zeugeneid und führt Iſengrim zu einer 
Falle, al3 dem Heiligtum, bei dem er ſchwören fol. Das Eijen padt al&- 
bald des meineidigen Wolfes Pfote, und er kann fi nur dadurch retten, 
daß er fich jelbit die Pfote abbeikt. 12. Im Walde trifft Iſengrim die alte 
Sau Salaura, die mehr als fünfzehn Eicheln gefreffen hat. Er jchmeidhelt 
ihr. Sie verlangt, er foll ihr das Ohr drüden, wenn fie jet ihren Gejang 
anftimmen werde. Ihr Geſchrei ruft die ganze Herde herbei, die fih auf 
den armen Iſengrim ftürzt und ihm zerfleifcht. Während er unter Ber: 
wünſchungen ftirbt, kommt Reinhardus herbei und führt mit ihr allerlei 
heuchleriihe Reden über den Lauf der Welt. Salaura jhimpit namentlid 


Elftes Kapitel. Hroswitha von Gandersheim. 339 


über den Papſt, worauf Reinharbus jagt: „Lebte mein Oheim no, er 
würde jo vermefjene Worte nicht dulden, ſondern den ſchuldloſen Papſt rächen.“ 

Die Dihtung Hat jehr verſchiedene Beurteilung gefunden. J. Grimm 
findet die Darftellung „minder gedrängt und gehalten“ al$ die des Isen- 
grimus, aber „immer noch belebt, verftändig und erfinderifch, was ſich be— 
jonders in Führung der Gejpräche zeigt” 1; „feine Arbeit zeugt von Verftand, 
Talent und vielfeitiger Ausbildung; ich denke nicht, daß ihm die Gaben eines 
der ausgezeichneteren lateiniichen Dichter des 12. Jahrhunderts den Rang 
ftreitig machen, weder des Hildebert von Mans (F 1133) noch des Matthäus 
bon Vendöme, des Ägidius von Gorbeil, des Henricus von Septimello, welche 
etwas jpäter, gegen den Schluß des Jahrhunderts, blühten”?. Gerbinus 
dagegen nennt das Werk „ein recht eigentlich umleidliches Gedicht“, und 
ſucht diejes Urteil dann im einzelnen zu begründen. In der Tat ift das 
Tierepos zu ftarf zur gehäffigen Satire geworden, vieles zu roh und ſchmutzig, 
zu frech und ausgelafien, als daß der Eindrud ein günftiger fein könnte. 
„Der Spott ift oft jo frech, mie er jelbfi im Mittelalter jelten jonft ge 
funden wird.” ® 


Elftes Kapitel. 
Hroswitha von Gandersheim. 


Nachdem bereits Heinrich I. (919—936) dem deutſchen Königtum wieder 
Anjehen und Macht verichafft hatte, erlangte das Imperium Karla d. Gr. 
dur Otto d. Gr. (936— 973) eine glorreihe Erneuerung, welche ebenfalls 
der Literatur zu gute kam. Ähnlich wie Karl ſuchte Otto die ihm mangelnde 
Schulbildung dadurd zu erjegen, daß er in vorgerüdten Jahren noch Latein 
fernte und Grammatifer, wie Gunzo und Stephan, nad Deutjhland berief. 
Seine Mutter Mathilde, feine zweite Gattin Adelheid und fein jüngfter 
Bruder Bruno ftehen nicht nur im Heiligenkalender, ſondern zeichneten ſich 
auch durch ihre feinere Bildung aus, bejonders Bruno, der fih mit großem 
Ernft und Eifer ſowohl dem Studium der Alten als der hriftlihen Dichter 
widmete, als Reichsfanzler und Erzbiſchof von Köln (950—965) eine Haupt: 
ftüße des lirchlichen Lebens wie der kirhlihen Studien wurde. Sammelte 
Otto auch feine ſo glänzende Tafelrunde um fi wie Karl, jo bejuchte doch 
mander gelehrte Fremde feinen Hof, wie der Italiener Liutprand, der Ire 
Israel, der Lothringer Ratherius und gelehrte Griechen, die geradezu als 





ı Yatob Grimm, Kurze Überfiht uxxvan. ® Ebd. cı. 
» Geihichte der poetifchen Nationalliteratur der Deutjchen I, 3. Ausgabe, Leipzig 
1846, 140—143, 
22* 


340 Elites Kapitel, 


feine Lehrer bezeichnet werden. Noch lebhafter erwachte das Intereſſe für 
griechiſche Literatur und Bildung, als Otto II. (972) jih mit der griechiſchen 
Kaiſertochter Theophano vermählte. Einer Tochter Ottos, Mathilde, Abtiffin 
von Quedlinburg, widmete Widukind feine ſächſiſche Geſchichte; Gerberga, 
die Nichte des Kaifers, Abtiffin von Gandersheim, galt als eine überaus 
vielfeitig gebildete Frau. 

Die glänzendfte Vertreterin der Literatur in diefer Zeit ward indes 
eine fchlichte Nonne, Schülerin der Faiferlihen Nichte Gerberga, Hrosmitha 
(Roswitha, eigentlih Hrötsvith oder Hrotfuitha) von Gandersheim !. 

Über ihre Perfonalien weiß man faft gar nichts — weder Geburts: 
no Sterbejahr, weder Familiennamen nod Herkunft und weitere Lebens: 
ſchickſale. Aus ihren Werten erhellt nur, daß fie etwas älter als Gerberga 
tvar, dem bon dieſer geleiteten Klofter Gandersheim angehörte, da fie durch 
innere Neigung fi zur Poefie wie zu den Studien hingezogen fühlte, im 
ftillen und autodidattiich zu dichten verfuchte, zuerft an der älteren Nonne 
Rikkardis und andern Schweitern, dann an Gerberga treffliche und vieljeitige 


' Ihre verichollenen Werke wurden um 1492 (ober 1493) in bem Benebiktiner- 
ftift St Emmeram zu Regensburg von bem Humaniften Konrab Geltes wieder auf: 
gefunden und unter dem Titel Opera Hrosvite illustris virginis et monialis ger- 
mane, gente saxonica orte, nuper a Conrado Celte inventa zu Nürnberg 1501 
herausgegeben. — Neuausgaben: K. U. Barad, Die Werle der Hrosvitha, Nürn— 
berg 1858; J. Bendixen, Hrotsvithae Gandersh. Comoedias VI. ad fidem cod. 
Emmeramensis ed. Lübeck 1857 ; Hrotsvithae opera rec. et emend. P.de Winter- 
feld, Berol. 1902. — Das Gedicht De gestis Oddonis I, abgedrudt bei Pertz, 
Monum. Germ. Hist. SS. IV 317 ff; De primordiis eoenobii Gandersheimensis 
(ebd. IV 306). — Sämtliche Werke herausgeg. von H. L. Schurzfleiſch, Witten- 
berg 1707; Migne, Patr. lat. CXXXVII 989—1196. — Die Echtheit ihrer 
Schriften angefohten von J. Aſchbach, Roswitha und Konrad Eeltes (Sitzungs— 
berite der Afabemie), Wien 1367; 2. Aufl. ebd. 1868; fiegreidh verteidigt von 
N. Köpfe, Zur Literaturgefhichte des 10. Yahrhunderts, 2. TI: Hrotjuit von 
Gandersheim, Berlin 1869. — Mit Redt führt E. Bernheim (Lehrbuch der hiſto— 
riſchen Methobe®, Leipzig 1894, 289) Aſchbachs Verſuch als ein abjchredendes Bei- 
ipiel von Hyperkritik an. — Bol. F. Löher, Hrotsvitha und ihre Zeit (Wiflen- 
Tchaftlihe Vorträge), Münden 1858. — €. Dorer, Roswitha, die Nonne von 
Gandersheim, Aarau 1857. — G. Freytag, De Rosuitha poetria. (Difiert.) 
Breslau 1839. — A. H. Hoffmann v. Fallersleben, De Roswithae vita et 
seriptis. (Differt.) Breslau 1839, — 9.0. Walbdberdorff, Hrotfuit von Ganders- 
beim (Berhandl. des hHiftor. Vereins für Oberpfalz und Regensburg XXIX). — 
Ch. Magnin, Hrosvitha, de la comedie au X"* siècle (Revue des Deux Mondes 
XX [1839] 441—480); Ph. Chasles, Hrosvita et ses contemporains (ebd. XI 
[1845] 707—731). — W. H. Hudson, Hrosvitha of Gandersheim (The Engl. 
Historical Review III, London 1838, 431—457). — DO. Grashof, Das Benedik— 
tinerinnenftift Ganberöheim und SHrotiuitha, die „Zierbe des Benebiktinerordens* 
(Studien und Mitteilungen aus dem Benediktinerorden V—VII [1884-—1886]). — 
K. Streder (Neue Jahrb. f. d. Hafj. Altertum, 15. Sept. u. 15. Ott. 1908). 





Hroswitha von Gandersheim. 341 


Lehrerinnen fand, auf Anregung der lekteren aud ein größeres Gedicht auf 
Otto I. verfaßte, das bis zur Krönung Ottos II. in Rom (973) reicht. 
Sie mochte alfo wohl etwa um 930 geboren fein und nod über 973 hinaus 
gelebt haben. Ihre innige Vertraulichkeit mit Gerberga legt die Annahme 
nahe, daß fie aus vornehmer Familie ftammte. Sicher ift dies indes nid. 
Kein Zweifel kann aber darüber herrichen, daß fie ein großes poetiiches Talent 
mit einer für jene Zeit bewundernswerten Gelehrjamfeit und Bildung ver: 
einigte, und zwar in liebenswürdigfter Weile. Nirgends eine Spur bon 
eitler Selbflüberhebung, fondern eine mädchenhafte Schüchternheit, Anſpruchs- 
lofigteit und Naivetät, verflärt von inniger Yrömmigfeit. 

In ſchlichteſter Offenheit erklärt fie die Nöten, die ihr die Poefie bereitet, 
welche Hilfe fie dabei gefunden, wie bejcheidene Ziele fie ihrem winzigen 
Genie (ingeniolum) ftedt, da3 fie doch nicht verroften laffen will. Und da 
ihr anderweitige, mehrverjprechende Tätigkeit verſagt ift, hofft fie wenigſtens, 
mit ihren Verslein etwas zum Lobe Gottes beizutragen!. Wie ein Kind 
ihaut fie zu dem gelehrten Kölner Erzbiihof und Reichskanzler Bruno, dem 
heim ihrer eigenen jugendlichen Lehrerin, empor: 


At Christus, Patris sapientia vera perennis, 
Tironem refovendo suum clementius istum 
Ipsi dona dedit tantae praeclara sophiae, 
Quod non est illo penitus sapientior ullus 
Inter mortales fragilis mundi sapientes, 


Neigung wie Studium führten Hroswitha zunächſt der Epif zu. Sie 
fand eine lateinifche Bearbeitung des apofryphen Jatobus-Evangeliums; die 
Legenden jpradhen fie an, und fie verfaßte danah ein Marienleben (in 


' Unde, elam cunetis et quasi furtim, nunc in componendis sola desudando, 
nunc male composita destruendo, satagebam iuxta meum posse, licet minime 
necessarium, aliquem tamen conficere textum ex sententiis Scripturarum, quas 
intra aream nostri Gandersheimensis collegeram coenobii. Primo sapientissimae 
atque benignissimae Rikkardis, magistrae, aliarumque suae vicis instruente 
magisterio, deinde prona favente clementia regiae indolis Gerbergae, cuius nunc 
subdor dominio abbatiae, quae aetate minor, sed, ut imperialem decebat neptem, 
scientia provectior, aliquot auctores, quos ipsa prior a sapientissimis didieit, me 
admodum pie erudivit. Quamvis etiam metrica modulatio femineae fragilitati 
difficilis videatur et ardua, sola tamen semper miserentis supernae gratiae auxilio, 
non propriis viribus confisa, huius carmina opuseuli dactylicis modulis succinere 
apposui, ne creditum talentum ingenioli, sub obscuro torpens pectoris rubigine, 
neglegentia exterminaretur, sed sedulae malleo devotionis percussum, aliquantulis 
divinae laudationis referret tinnitum, quo si occasio non daretur negotiando aliud 
lucrari, ipsum tamen in aliquod saltem extremae utilitatis transformaretur instru- 
mentum (Hrotsuithae in Opera sua metrice conscripta Praefatio; Migne, 
Patr. lat. CXXXVII 1063 1064). 


342 Elftes Kapitel. 


859 Herametern) unter dem Titel: Historia nativitatis laudabilisque 
conversationis intactae Dei Genetrieis, quam scriptam reperi sub 
nomine Sancti Jacobi fratris Domini. Sie war nod ganz jung, ala 
fie diefen erften poetischen Verfuh unternahm, und mußte nichts Näheres 
über die Apolryphen und deren Wert. Als fie darüber aufgeflärt wurde, 
wollte fie da3 angefangene Gedicht nicht verderben, weil fie meinte, was 
man für falſch gehalten, könnte fi ja noch als wahr herausftellen. Dies 
war nun freilih nicht der Fall. Wohl aber war die Gefahr teilweiſe 
entihwunden, welche die Apofryphen in den erften Zeiten boten. Als Poefie 
aufgefaßt, flößten die darin enthaltenen Marienlegenden keine Bedenken mehr 
ein, und die junge Dichterin von Gandersheim ftieß damit nicht bloß auf 
feinen Widerſpruch, ſondern fand eine Menge Nahahmer durdy alle folgenden 
Jahrhunderte. Hrosmwitha hat aljo hier für eine ganze Art von Poefie Bahn 
gebrochen, und zwar unftreitig mit Glüd. Ihre Darftellung ift von einem 
lebendigen Geifte inniger Beihaulichleit getragen, ſowohl da, wo fie den Text 
des evangeliichen Berichtes in ſchlichten, ungekünftelten Verfen wiedergibt, als 
auch wo fie der Legende folgt und fich eine freiere und reichere Ausführung 
gejtatten kann. in ſchönes Beifpiel für das erftere ift ihre Erzählung von 
Chriſti Geburt, für das letztere die Flucht nach Ägypten. Allerliebft beſchreibt 
fie da, wie die heilige Yamilie in einer Höhle unterwegs raften will, furdtbare 
Schlangen aus derjelben hervorkriehen, aber vor dem Ehriftfinde ohnmächtig 
ih im Staube ringeln, wie das Gottesfind dann felbft feine Mutter und 
jeinen Pflegevater beruhigt, wie Tiger und Pardel aus der Wüſte herbei: 
fommen und der heiligen Familie das Geleit geben, eine riefige Palme auf 
des Kindes Wink ihre Krone herniederfentt, damit die müden Pilger fich 
an ihren Früchten laben können, die Palme aber für ihre Bereitwilligteit 
für immer zum Zeichen des himmlischen Triumphes erhoben wird. Dabei 
wird das Jeſukind wiederholt redend eingeführt, und die Erzählung erhält 
dadurch dramatiſche Lebendigfeit. 


Siehe! das liebliche Kind an der Bruſt der erhabenen Mutter 
Neigte ſich ſanft und ſprach zur Palme mit frohem Gemüte: 
„Palmbaum, neige die Wipfel und beuge die ſtolzen Gezweige, 
Daß von den Früchten die Mutter nad ihrem Gefallen ſich pflücke!“ 
Alſo ſprach es gebietend; es neigte der ftolzefte Baum ſich, 
Beugte fih willig und lag zu den Füßen der göttlichen Mutter. 
Als der reihliden Frucht die gehorfame Palme beraubt war, 
Blieb fie zur Erde gebeugt und wagte ſich micht zu erheben, 
Sondern erwartete no den Wink des gebietenden Knaben. 

Jeſus fprah zu dem Baum: „Jetzt, Palme, erhebe dich wieder, 
Denn du mwurbeft erwählt zum Genofjen ber feligen Bäume, 
Welche des Emwigen Hand in den Gärten von Eden gepflanzt hat. 
Glänzender Ruhm fei dir für künftige Zeiten beſchieden; 

Palme, du glänzeft dereinft ala Zeichen des herrlichften Sieges! 


Hroswitha von Gandersheim. 343 


Seht ergieße fogleih an beiner gejegneten Wurzel 

Mit Harftrömender Flut ſich eine verborgene Quelle!” 

Hurtiger warb das Gebot erfüllt, als der Herr es geiproden; 
Und die Begleiter bes Knaben erhoben mit freudigem Dank ihn, 
Als fie des friſch entipringenden Quells heilfließende Wellen 
Schauten, fie ftillten den Durft am lauteren, lieblihen Borne!. 


Denjelben Zug treffen wir in einem zweiten Gedicht, das Hroswitha 
nad einer urfprünglich griechiſchen, aber bereit3 von einem Biſchof Johannes 
lateinisch überjegten Vorlage verfaßt hat und das die „Himmelfahrt Chriſti“ 
(in 150 Herametern) feiert. Die Abjhiedsworte Chrifti und jeine Begrüßung 
im Himmel durd die Chöre der Engel nehmen einen breiten Raum ein. 

An diefe zwei Epopden, die man noch bibliih nennen kann, reihen fi 
jeh8 Legenden aus dem Leben der Heiligen: das Martyrium des hl. Gangolf 
(582 Berje); das Mariyrium des hi. Pelagius, „des köftlichften Märtyrers, 
der zu umjern Zeiten zu Cordova mit dem Martyrium gekrönt wurde“ 
(414 Berje); der Fall und die Belehrung des Vicedominus Theophilus 
(455 Berje); die Belehrung eines gewiffen verzweifelten Jünglings durch 
den hl. Bafilius (259 Berje); das Martyrium des HI. Dionyfius (266 Berje) ; 
dad Martyrium der Hl. Agnes (459 Berje). 

Wie in ihrem „Marienleben”, Hält ſich die Dichterin auch in dieſen 
Legenden mit großer Pietät an die ihr vorliegende Überlieferung, jo daß 
ih ihre künftleriiche Tätigkeit nahezu ganz auf die formelle Geftaltung be: 
ihräntt. Darunter ift aber keineswegs die bloße Verſifikation zu verfiehen. 
Mit dichterifcher Vorliebe und Begeifterung hat fie fich die jeweiligen Stoffe 
ausgewählt, welche teils den Heroismus des hriftliden Martyriums, teils 
die Jungfräulichkeit, teils den Triumph der Gnade über Sünde und menſch— 
lihe Schwäche verherrliden. Und folgt fie num auch im wejentlichen den 
gegebenen Vorlagen und nimmt mitunter fogar deren Ausdrud in ihre Dar: 
ftellung herüber, fo behält fie fih doch eine fünftleriishe Wahl und Verwendung 
vor, fürzt oder erweitert, übergeht einen oder den andern Zug, fügt aud) da 
und dort Hinzu, um die Erzählung befler zu begründen und zu verbinden, 
beichreibt eingehender, dramatifiert, haucht dem Bericht mehr poetiſche 
Stimmung ein und bringt endlich alles in leichtfließende, oft auch melodijche 
Verſe, welche zwar den funftvollen Bau der großen antiten Klaſſiker nicht 
erreihen, aber über die Durchſchnittsleiſtungen des Mittelalters doch ent: 
ſchieden herborragen. 

Es liegen fi Hier intereffante Parallelen ziehen, 3. B. zwiſchen ihrer 
Behandlung der St Agnes:Legende und dem ſchönen Hymnus des hl. Ambrofius 
wie mit deſſen Profaerzählung vom Martyrium der Hl. Agnes, dann dem 


ı fÜberjegt von E. Dorer. 





344 Elftes Kapitel. 


alten Feltoffizium der Heiligen und dem Gedichte des Prubentius. Ihre 
Erzählung faßt alles Schöne zufammen, was die früheren Bearbeitungen 
enthalten, und kann ſich jedenfalls neben denjelben jehen laffen, wenn aud) 
andere aus ſprachlichen, ftiliftiichen oder äfthetiihen Gründen dieſe oder jene 
andern vorziehen mögen. 

Dem jugendliden Sohne des Stabtpräfeften von Rom, der Agnes 
feine Liebe gefteht und um ihre Hand wirbt, hält die zarte Jungfrau in 
den folgenden Worten ihre bräutliche Liebe zu ChHriftus entgegen: 


Glaubt ihr wohl, ihr fönntet das Herz, das geweihte, verführen, 
Welches mit füher Gewalt die Liebe zum Ewigen feifelt ? 


Siehe! es fchmücdet mein Haupt das gefegnete Zeichen der Treue! 
Ehriftus hat mich erwählt; er hat mich feit ihm verbunden ! 

Ihn allein, den Geliebten, verlangt mein Geiſt zu erfaflen, 
Nimmer begehrt mein Herz nad fremden Genofjen und freunden! 
Beiftige Kraft und jeglider Shmud umftrahlen ben Hehren! 
Alles verbunfelt fein Ruhm auf Erden und droben im Himmel! 
Vor der Zeiten Beginn erzeugte der ewige Gott ihn, 

Gleich an göttliher Macht und glei an Heiliger Würbe! 

Ohne Erzeuger empfing und gebar ihn die ebelfte Mutter, 

Nährte den eigenen Gott, als Menſch in ben Zeiten erfchienen. 


Göttlihe Schönheitsfüle bewundern ftaunend der Sonne 
Flammende Glut und das mildere Licht des beleuchteten Mondes. 


Sonne und Mond verherrliden ihn. Nach feinem Gebote 
Dienen dem höhern Lichte die raftlos wandelnden Sterne! 


Ihn umraufcht das erhabene Lied Tobfingender Engel. 
Machtvoll ift mein Herr und reih an Güte und Mitleid! 


Herrlich leuchtet mein Freund, mein Gott und Einziggeliebter! 
Ihn nur liebet mein Geift, und er erwäßlte zur Braut mid). 


Siehe! es jchmückte der Freunb mein Haupt mit fhimmernder Krone, 
Und er bejchentte die Braut mit firahlendem edlem Gefchmeibe! 


Süße entquillt den Lippen bes Freundes, die Worte des Gottes 
Laben wie Süße der Milh und ftärfen wie lieblicher Honig. 


Lichtreich ſtrahlt das Gemach von Gold und bunten Juwelen, 
Und er bereitet es einſt der Braut zu ewiger Wonne. 


Jubelgeſang erſchallt in den Hallen der bräutlichen Kammer, 
Freudig vernimmt bie Erwählte das dauernde Lob bes Geliebten!. 


In der Schilderung und Ausmalung der Martyrien iſt Hroswitha bei 
weitem maßvoller und zarter als z. B. Prudentius, ohne daß dabe der 
Hochfinn der Glaubenshelden ſchwächer hervorträte. 


Überfegt von E. Dorer. 








Hroswitha von Gandersheim. 345 


Literarifch bemerkenswert ift vor allem die Theophilus-Legende und die 
ihr ähnliche Legende von dem verzweifelten Jüngling, der durch den Hl. Bafilius 
befehrt wird, da namentlid die erftere als Grundlage und Borläuferin der 
Fauftjage gilt. Die Belehrung und Buße des Theophilus von Adana fällt 
in das Jahr 538; der erfte Bericht darüber von einem gewiſſen Eutyhianos | 
ift jedenfalls jhon vor dem Jahre 572 abgefakt; Paulus, Diakon von 
Neapel, überjegte ihn ins Lateiniihe und widmete ihn „König Karl“ !. 
Auf diefer Überjegung fußt Hroswithas Gedicht. Die dramatiſche Lebhaftigfeit 
der Erzählung hat fie ſchon aus derjelben herübergenommen, die Reden aber 
mit feinem Geſchmack ſelbſtändig geftaltet. 

In der andern Legende verjchreibt fich der Sklave eines gewiffen Proterius 
dem Teufel, um die Liebe und Hand feiner Tochter zu erhalten; das gelingt 
ihm denn auch; aber die Ehe fällt unglüdlih aus, er bereut fein furchtbares 
Bündnis und wird dur die Vermittlung des Hl. Bafilius von demjelben 
befreit. Die Erzählung ſtammt aus einer Lebensbeſchreibung des Heiligen, 
weldhe dem Hi. Amphilohus zugejchrieben wurde und ſchon im 9. Jahr: 
hundert an dem römiſchen Subdiafon Urfus einen Überſetzer fand. 

Das Leben des Hl. Gangolf gehörte einer von der Dichterin noch nicht 
jo entfernten Zeit an. Denn derjelbe war ein Bajall des Königs Pippin, 
Baterd Karl d. Gr., ein tüchtiger Jäger und Krieger, aber aud ein 
biederer, frommer und wohltätiger Mann. Nur auf Bitten feiner Freunde 
vermählt er fich, wird aber von feiner Frau bald ſchmählich betrogen. Eine 
wunderbare Quelle bringt ihre Schuld an den Tag. Sie geht aber feines: 
wegs in fi, jondern tötet Gangolf mit Hilfe ihres ehebrecherifchen Buhlen. 
Wunder geichehen an jeinem Grabe, und da fie deijen jpottet, wird fie jelbft 
in bärtefter und jchimpflichfter Weile von Gott geftraft. 

Der Hl. Pelagius war ein Zeitgenoffe der Dichterin; die Nachricht von 
jeinem Martyrium erhielt fie von einem Augenzeugen, wahrſcheinlich einem 
Mitgliede der Geſandtſchaften, die Abd ur Rahman III. in den Jahren 950 
und 955 an Dtto d. Gr. ſandte. Er war ein Knabe von dreizehn bis 
vierzehn Jahren, der ala Geifel in die Hände des Kalifen fiel, durch jeine 
Schönheit die fündige Lüfternheit desfelben erwedte und, da er diejen helden= 
mütig zurücdwies, erjt gemartert und dann enthauptet wurde. Die Erzählung 
ift überaus lebendig und ergreifend durchgeführt. 

In der Paifion des Hl. Dionyftus folgt Hroswitha der von Hilduin 
in Proſa gejchriebenen Vita desjelben. 

Weit berühmter als durch ihre poetiſchen Erzählungen ift Hroswitha 
duch die ſechs Dramen geworden, welche fie, nad dem Vorbilde des Terenz 


Nah den Bollandiften wahriheinlih Karl der Kahle (Act. SS, Fehr. 
1488); nah Ebert eher Karl der Dicke (Geſch. ber Lit. des Mittelalters III 295). 





346 Elftes Kapitel. 


und um benjelben zu verdrängen, geichrieben hat. Es find die erſten 
lateiniſchen Dramen, die uns feit Seneca begegnen, die erften Verſuche 
einer hriftlihen Dramatik in lateinifher Sprache. Merfwürdig genug, dab 
fait ein Jahrtaufend verfloffen ift, bevor in der chriftlihen Welt das erfte 
Drama auftaudte, umd daß abermals mehrere Jahrhunderte dahingingen, 
ehe fih die Bühne, erft die geiftlihe, dann auch die weltliche, zu einer 
bleibenden Inftitution der Völker Europas entwidelte. Die Berantwort: 
lichkeit dafür trifft, wie wir ſchon gejehen, die Haarfträubende Entfittlihung, 
welcher die öffentlihen Schaufpiele überhaupt bei den Römern, bejonders 
während der Kaijerzeit, anheimgefallen waren. Das Theater war für alle, 
die es ernft mit dem Ghriftentum nahmen, zum Gegenftand des Abicheus 
geworden. Ohne Theater aber hatte natürlih aud die dramatiiche Poefie 
einen großen Zeil ihres Reizes verloren. 

Jener Abſcheu tritt auch bei Hroswitha noch deutlih zu Tage. Sie 
beablichtigte keineswegs, demfelben entgegenzutreten. Was fie veranlaßte, 
Dramen zu fchreiben, war die Wahrnehmung, daß in Katholifchen Kreiſen 
Stüde des Terenz gelefen wurden, eine Lektüre, die fie für unwürdig, ge: 
fährlih und ſchädlich hielt. Sie wollte etwas Befferes an, deren Stelle 
jeßen. Sie jagt ganz offen: 


„Es gibt manche Katholiten — eine Tatſache, von ber wir uns nicht ganz 
reinwaſchen können —, welche, um ber feineren Vollendung der Sprade willen, die 
Eitelkeit ber heidnifchen Bücher dem Nuten der heiligen Schriften vorziehen. Es 
gibt auch anbere, weldhe, den heiligen Blättern noch anhänglich, zwar bie Schriften 
anderer Heiden verſchmähen, dennoch aber die Phantafiegebilde des Terentius öfters 
lefen und, indem fie an der Süßigkeit der Sprache ihre Freude haben, ſich mit ber 
Kenntnis nichtswürdiger Dinge bejubeln. Deshalb habe ih, ‚die fräftige Stimme 
von Ganderöheim‘ (Clamor validus Gandersheimensis), es nit verfhmäht, den- 
jenigen durch Diktion nadzuahmen, den andere durch Leſen verehren; damit in der— 
felben Art der Darftellung, in welcher die ſchmählichen Schandtaten wollüftiger Weiber 
beflamiert wurden, nad Vermögen meiner geringen Anlagen, die lobwürdige Keuſch-— 
heit heiliger Jungfrauen gefeiert würbe, freilich befhämt es mich öfters und macht 
mich fehr erröten, daß ich durch eine ſolche Art der Darftellung gezwungen bin, die 
verabfheuungswürdige Torheit unerlaubter Liebe und die verfängliden Zwiegeſpräche 
fiber Dinge, denen wir fein Ohr ſchenken follten, zu behandeln, fie im Geifte durch— 
arbeiten und ftiliftifh ausführen muß. Wenn ich dies indes aus Scham vernach— 
läffigte, fo würbe ih mein Vorhaben nicht erreichen, noch bas Lob der Unſchuldigen 
nad meinen Kräften zur Darftellung bringen; denn je verlodender die Schmeidel- 
fünfte der Liebenden fich zeigen, deſto erhabener tritt auch der Ruhm bes höheren 
Gnabenbeiftandes hervor, und befto glorreicher bewährt fi) ber Sieg der Triumpbieren- 
ben, zumal wo weibliche Gebrechlichkeit fiegt und Mannestraft befhämt wird.“ 


In dieſer Abfiht und don dieſem Standpunkte aus Hat Hrosmwitha 
ihren Dramen, mit Ausnahme eines einzigen, das Thema der Liebe als 
Knoten der Verwidlung zu Grunde gelegt, ohne ſich dabei vor heiffen oder 


Hroswitha von Gandersheim. 347 


verfänglihen Situationen zu jcheuen!. Im „Gallicanus* wird die Liebe 
des gleichnamigen Feldherrn Konſtantins d. Gr. zu deffen Tochter Konftantia 
zum Anlaß, daß die zwei chriftlichen Primicerii Johannes und Paulus in 
jeine Umgebung fommen und feine Belehrung zum Chriftentum einleiten, 
welche dann wirklich erfolge. Nun entjagt er der Hand der Sonftantia, 
die fih längft Gott geweiht; aud feine Töchter werden Nonnen, und er 
flirbt mit Johannes und Paulus unter Julian den Martertod, Das zweite 
Stüd „Dulcitius“ ift dadurd merkwürdig, dab in demjelben, ganz ab- 
weihend von den Grundjäßen der antiten Dramatit, welche das Tragiſche 
und Komiſche völlig ſchied, die ernfte Handlung durch einige hochkomiſche 
Scenen unterbrohen wird. Die drei edlen riftlichen Jungfrauen Agape, 
Chionia und Irene werden von Kaiſer Diocletian dem Präfekten Dulcitius 
übergeben, weil fie ſich weigerten, fi mit den erſten Würbenträgern des 
Hofes zu vermählen. Dulcitius läßt fie in einen Küchenraum einfperren 
und jchleiht fih nachts im denjelben; infolge einer plößlichen Geiſtes— 
umnadtung aber merft er nicht, daß fich die drei Gefangenen hinter eine 
Wand geflüchtet haben, und liebkoſt an ihrer Stelle die Töpfe und Pfannen 
des Küchenraumes. | 
Scena III. 
Duleitius. Quid agunt captivae sub hoc noetis tempore ? 
Milites. Vacant hymnis. 
Duleitias. Accedamus propius, 
Milites. Tinnulae sonitum vocis a longe audiemus. 
Dulcitius. Observate pro foribus cum lucernis; ego autem intrabo et vel 


optatis amplexibus me saturabo. 
Milites. Intra, praestolabimur. 


Seena IV. 


Agape. (Quid strepit prae foribus? 
Irena. Infelix Duleitius ingreditur. 
Chionia. Deus nos tueatur! 
Agape. Amen. 
Chionia. Quid sibi vult collisio ollarum, cacaborum et sartaginum ? 
Irena. Lustrabo. Accedite, quaeso, per rimulas perspieite. 
Agape. Quid est? 
Irena. Ecce, iste stultus, mente alienatus aestimat se nostris uti am- 
plexibus. 
Agape. Quid facit? 
Irena. Nune ollas molli fovet gremio, nunc sartagines et cacabos am- 
plectitur mitia libans oscula. 


— 


. ı Die ſechs Dramen bei Migne, Patr. lat. CXXXVII 975 —1062. Deutſche 
Überjegung von J. Bendiren (Das ältefte Drama in Deutſchland), Altona 1850; 
franzöfifche Überfekung von Ch. Magnin (Theätre de Hrotsvitha), Paris 1845. 
— Bol. 3. 8. Klein, Gefhichte bes Dramas III, Leipzig 1874, 648—754. — 
U. Ebert, Geſchichte der Literatur des Mittelalters III 314329. 


348 Elftes Kapitel. 


Chionia. Ridiculum! 
Irena, Nam facies, manus ac vestimenta, adeo sordida, adeo coinquinata, 
ut nigredo quae inhaesit similitudinem Aethiopis exprimat. 
Agape. Decet ut talis appareat corpore, qualis a diabolo possidetur in 
mente. 
Irena. En, parat egredi. Intendamus quid illo egrediente agant milites 
pro foribus exspectantes. 


Scena V. 


Milites. Quis hic egreditur daemoniacus, velmagis ipse diabolus? Fugiamus, 
Duleitius. Milites, quo fugitis? State, exspectate, ducite me cum lucernis 
ad cubile. 
Milites. Vox senioris nostri, sed imago diaboli. Non subsistamus, sed 
fugam maturemus; phantasma vult nos pessumdare. 
Duleitius. Ad palatium ibo, et quam abiectionem patior, principibus vulgabo. 


Scena VI. 


Duleitius. Ostiarii, introducite me in palatium, quia ad imperatorem habeo 
secretum. 

Ostiarii. Quid hoc vile ac detestabile monstrum, seissis et nigellis panni- 
eulis obsitum? Pugnis tundamus, de gradu praecipitemus, nec 
ultra huc detur liber accessus, 

Dulecitius, Vae, vae! Quid contigit? Nonne splendidissimis vestibus indutus, 
totoque corpore videor nitidus, et quicumque me aspieit velut 
horribile monstrum fastidit? Ad coniugem revertar, quo ab illa 
quid erga me actum sit experiar. En, solutis crinibus egreditur, 
omnisque domus lacrymis prosequitur. 


Schwarz wie ein Mohr enteilt Dulcitius dem Küchenraum. Seine 
eigenen Soldaten halten ihn für ein Geipenft und ergreifen vor ihm die 
Flucht. Höchlich erzürnt rennt er ſelbſt zum Kaiferpalaft, um Diocletian 
jein Leid zu Magen. Doch die Palaftdiener erkennen ihn nicht, jondern 
prügeln das Ungetüm mit Fauftichlägen zum Tor hinaus und werfen e3 
die Treppen des Palaftes hinunter, Erft zu Haufe, bei feiner rau, kommt 
er endli wieder zu ſich und ſchwört den drei Chriftinnen jchrediihe Race. 
Doch wunderbare Hilfe von oben vereitelt die Schmach, die er ihnen zu— 
gedadht. Agape und Chionia fterben den Martertod in den Flammen, 
ohne daß ihre Kleider von diejen verlegt werden. Irene, die jüngfte, wird 
von Engeln auf den Gipfel eines Berges entrüdt, zu weldem die ber- 
folgenden Soldaten vergeblih emporzuflimmen ſuchen, bis endlih dem 
Comes Sifinnius der Faden der Geduld reift und er die Jungfrau durd 
einen Pfeilfhuß töten läßt. 

Der Held des drilten Stüdes heißt Calimahus. Er liebt die jchöne 
Drufiana, die Gemahlin des Andronicus zu Ephefus, eine Chriftin, die mit 
ihrem Manne in jungfräulicher Ehe lebt. Sie weiſt die Bewerbung mit 
aller Entſchiedenheit ab; um aber allen weiteren Verwicklungen zu entgehen, 


Hroswitha von Gandersheim. 349 


bittet fie um einen baldigen Tod und mwird erhört. Calimachus beftiht nun 
den Wächter des Grabes, Fortunat, um die Leiche zu fehen, und will ihr 
Gewalt antun; aber eine furdhtbare Schlange tötet die beiden. Dagegen 
erfcheint Chriftus dem Johannes und Andronicus, die am Grabe Drufianas 
beten, und fündet ein Wunder an. In feinem Namen erwedt der Apoftel 
Johannes erft den Galimahus, der ſich befehrt, und dann Drufiana, die 
aud) die Wiedererwedung des Yortunat wünjht. Da diefer aber die Gnade 
der Drufiana und des Galimahus beneidet, ftirbt er wieder und wird jeht 
zur Hölle verdammt. 

Schon diejes Stüd hat einige ziemlich gewagte Situationen, von denen 
eine an Goethes „Braut von Korinth“ erinnert. Noch Heiklere bietet das 
vierte Stüd, „Abraham“, benannt nad einem Eremiten, der ein verwaiſtes 
Kind, namen: Maria, ebenfalld in meltfremder Einfiedelei zum Dienfte 
Gottes aufgezogen hat. Doch zur Jungfrau emporgeblüht, wird Maria 
bon einem Mönche verführt, verzweifelt an Buße und Belehrung und wird 
Hetäre. Der greife Pflegevater ſucht fie nun in dem Schlupfwinkel ihres 
Lafterlebens auf, verlangt eine geheime Zufammentunft, gibt fih ihr zu 
erkennen, bewegt fie zur Reue und Buße und erlangt, daß fie ſich als 
heldenmütige Büßerin von ihrem tiefen Falle erhebt. Tief ergreifend ift vorab 
die Stelle, wo er fi ihr zu erkennen gibt. 


Abraham. Jetgzt ift es Zeit, die Hülle abzuftreifen, 
Die mich verbirgt. Geliebte Tochter mein, 
Maria, Herzenäfind! Erfennft bu mid, 
Den Greis, ber väterlich dich auferzog, 
Der did dem Himmelskönig angetraut? 
Maria Weh mir! Das ift mein Vater, Lehrer, Abraham! 
Abraham Was ift dir, Tochter? 

Maria. O, wel Jammerlos! 
Abraham Mer hat getäufcht dich? wer hat dich verführt? 
Maria. Der Feind, der unfre Stammeseltern ftürzte. 

Abraham. Wo ift der engelgleidhe Lebenswanbdel, 
Den du geführt? — 
Maria. Zerſtört, vernichtet. 
Abrafam Wo ift der Jungfrau heil’ge Zucht und Scheu, 
Ein Wunder einft? — 
Maria. Ach, alles ift verloren! 
Abraham. Was fanır dir jegt dein Faſten, Beten helfen, 
Dein Waden, alles Ringen, alles Mühn, 
Kehrft du nicht um, aus lichten Himmelshöhen 
Geſunken in der Hölle tiefen Schlund? 
Maria Weh! Wehe! 
Abraham. Meshalb Haft du mid veradhtet ? 


Verlaffen mih? Verhehlt mir beinen Fall? 
Ich hätte firenge Buße übernommen 
Für di, mit Ephrem, meinem lieben Freund. 


350 Elftes Kapitel. 


Maria. Nachdem dem Lafter ih anheimgefallen, 
Wagt’ ih es nimmermehr, mich bir zu mahı, 
Die Sünderin dem Heil’gen. 
Abraham. Wer ift frei 
Bon Sünde, als der Yungfrau Sohn allein? 
Maria, Ad, feiner! 
Abraham. Sünbigen iſt menihlid, in der Sünbe 
Verharren teufliih. Strenges Urteil trifft 
Nicht dem, der plötlich fällt, nein ben, ber ſäumt, 
Don feinem Falle raſch fi zu erheben. 
Maria. Weh mir Elenden! 
Abraham. Warum fintft bu Hin 
Und bleibt dahingeftredt am Boden liegen ? 
Erhebe dich und höre, was ich jage. 
Maria. Entſetzen faßte mid, drum ſank ih hin. 
Ih kann des Baters Mahnwort nit ertragen. 
Abraham. Schau nur auf meine Liebe. Fürchte nicht! 
Maria. Ich kann nid. 
Abraham. Hab’ id nicht um beinetwillen 
Derlaffen meiner Zelle ftillen Frieden, 
Die Zucht der Ordensregel abgeftreift, 
Mit frechen Schlemmern mich zu Tiſch gefekt, 
Mit loſem Scherz vertaufcht das lange Schweigen, 
Damit ih unerkannt dir könnte nahen ? 
Warum jentft beinen Blid zu Boden bu? 
Warum gönnft du mir feine Antwort mehr? 
Maria Ad, meiner Schuld Bewußtfein drüdt mich nieder. 
Wie darf den Blick zum Himmel ich erheben? 
Wie mit dir reben ? 
Abraham. Kind, verzage nicht, 
Derzweille nit. Aus hoffnungslojer Tiefe 
Erhebe dich und je auf Bott dein Hoffen! 
Maria. Zu ungeheuerlid find meine Sünden, 
Sie warfen mid in der Verzweiflung Abgrund. 
Abraham Schwer ift die Schuld; doc göttlihes Erbarmen 
Reicht über das Geſchaff'ne weit hinaus. 
Drum brid des Schmerzes Feſſeln, nübe raid 
Der Buße FFrift, laß fie nicht träg veritreichen. 
Wo ſchmählich überquoll der Sünde Greuel, 
Soll überftrömen jet der Gnade Heil. 
Maria. Könnt’ ich Verzeihung hoffen, o wie gern 
Wollt’ ih der Buße Strenge auf mid nehmen! 
Abraham. Eırbarm dich meiner, der um beinetwillen 
Sich müde ging. Laß die Verzweiflung fahren, 
Don allen Sünden die entjetzlichfte. 
Unrettbar fündigt, wer daran verzweifelt, 
Daß Gott bes Sünders fi erbarmen will. 
So wenig als ein Feuerfunke kann 
Das weite Weltmeer je in Flammen jegen: 


Maria. 


Abraham, 


Maria. 
Abraham. 
Maria. 
Abraham. 
Maria. 
Abraham. 
Maria, 


Abraham. 
Maria, 


Abraham. 


Maria. 


Abraham. 


Maria. 


Abraham, 
Maria. 


Abraham, 
Maria. 


Hroswitha von Gandersheim. 


Sp wenig fann der Sünde Pitterfeit 
Die fühe Huld bes Herrn jemals verwandeln. 
Nicht leugn' ich die erhab'ne Herrlichkeit 
Des göttlihen Erbarmens, aber meine Schuld, 
Sie ift zu ſchrecklich maßlos — nimmer kann 
Ih je genugtun, je fie würdig büßen. 
Ich nehme fie auf mid. Nur ehr zurüd 
Zur heil’gen Stätte, die du haft verlaffen, 
Und fang ein zweites Dial das Leben an, 
Dem du entflohn. 
Ih will nit widerſprechen. 
Was dur gebeutjt, will ich gehorſam tun. 
Nun wahrlid, bift du wiederum mein Kind! 
Bor allen andern follft du Liebe finden! 
Mit meinem Gold und Puß, was ſoll geichehen ? 
Berfüg’ darüber als mein Herr und Bater. 
Was du als Sündenlohn gewannft, wirf weg 
Mit deinen Sünden. 
Kann ich's ſchenken nicht 
Den Armen oder einer Kirde ftiften? 
Nein. 
Das ift fein gottgefällig Opfer, was mit Sünde 
Man fi) erwarb. 
Dann fort mit aller Sorge! 


Der Dlorgen naht. Es dämmert, Lab uns gehn! 


O lieber Vater! Geh du mir voran 
Als guter Hirt, ich folge als dein Schäflein 
Mit gleihem Schritt. 


Nicht jo, Ich geh’ zu Fuße; 


Dich jeh’ ich auf mein Pferd. Der rauhe Pfad 
Soll deine zarten Füße nicht verwunden. 

Wie ſoll ich's dir gedenten, wie vergelien, 

Daß du mich, des Erbarmens jo Unmwürb’ge, 


351 


Nicht ſchreckſt noch drängit, vielmehr jo mild und liebreich 


Zur Buße mahnit. 


Nur eine wünſch' und hoff’ ich, 


Daß fürder Gott du dienft in fteter Treue. 
Don ganzem Herzen, ja mit allen Kräften 
Will ih e8 tun; und wenn die Kraft verfiegt, 
An meinem treuen Willen foll’s nicht fehlen. 
So eifrig du ber Eitelkeit gedient, 
So eifrig ſollſt du Gottes Willen jegt erfüllen. 
O dab durch dein Verbienft fi Gottes Wille 
An mir erfüle! 

So lab heim uns fehren! 
Ya heim! Es ſchmerzt mich jede Zögerung. — 


Dasjelde Motiv kehrt im „Paphnutius“ wieder, indem der Einfiedler 


Paphnutius, tiefbetrübt über das Unheil, das die Hetäre Thais anrichtet, 


352 Elftes Kapitel. 


fie aufſucht, befehrt und zur firengften Buße bewegt, durch melde fie ſich 
eines heiligmäßigen Todes und ewiger Glorie würdig macht. Die ver: 
fänglihen Scenen find hier etwas matter, der Gegenjaß reicher und lebendiger 
ausgeführt. Das ſechſte Stüd endlid behandelt das Martyrium der drei 
Schmeitern Fides, Spes und Charitas, der Töchter der Sapientia, melde 
unter Kaiſer Hadrian nah Rom kamen, um das Chriftentum zu verbreiten. 
Sie werden einzeln, in drei ziemlich ähnlichen Scenen, vor den Präfekten 
Amphilochus berufen, zum Abſchwören des Glaubens aufgefordert, von der 
Mutter zur Standhaftigkeit aufgemuntert, beharren treu und werden ent: 
hauptet. Die Mutter jelbft beftattet fie und erfleht fih an ihrem Grabe 
einen baldigen Tod, der ihr aud gewährt wird. 

In Bezug auf die Ausführung der ſechs Stüde läßt ſich Hroswitha 
taum mit Terentius vergleichen, den fie wohl verdrängen, aber nicht eigentlich 
nachahmen wollte. Sie verzichtete ſchon von vornherein auf die Teilung 
in Akte, auf eine gleihmäßige Behandlung der Scenen, auf eine Gruppierung, 
welche dramatiſche Täufhung und Aufführung ermöglichte, ja jogar auf 
den hergebrachten dramatiihen Vers. Ihre Stüde find ſämtlich in einer Art 
rhythmiſcher Proja gefchrieben, aber nicht in eigentlihen Verſen; fie find 
mehr dramatiſche Skizzen, in welden einige Scenen leicht ausgeführt, andere 
nur faft angedeutet find, als forgfältig durdhgearbeitete Dramen. Ya fie jind 
eigentlih mehr epiſch als dramatifch angelegt und haben viel Verwandtes 
mit ihren epifchen Legenden. Eine funftvolle Charakteriftit findet ſich ebenjo- 
wenig als eine jpannende Verwidlung. Alles ift überaus primitiv und naiv, 
und dennoch beweijen dieje leicht hingeworfenen Skizzen ein wirkliches drama- 
tiſches Talent, Geihid für die dialogiſche Form, Intereſſe für die tiefften, 
ergreifendften Probleme des Seelenlebens, eine frische realiftiihe Beobachtungs— 
gabe und zugleich Begeifterung für die höchſten fittlichen Ideale. 

In geradezu wunderbarer Fülle bieten ihre wenigen Stüde ſchon die 
Keime der meiften Motive, VBerwidlungen, Charaktere, welche jpäter das 
ſpaniſche Legendendrama jo Herrlich entfaltet hat. Noch mehr Bewunderung 
verdient die reine, feufche Energie, mit welcher die Nonne von Ganderäheim 
alle Anflüge von Prüderie überwunden und die verfänglichſten Situationen 
jo geftaltet hat, dak dem Verfänglichen völlig die Spite abgebrochen ift, 
und daß es im Zufammenhang des Ganzen nur der reinen und edeln 
Abfiht zum Triumphe verhilft. 

Ihren Hauptzwed hat Hroswitha wohl nur in geringem Umfang er: 
reiht. Ihre Dramen haben weder eine höfiiche Dramatik begründet noch 
auf das mittelalterliche Mofteriendrama eingewirkt. Die weltlich gefinnten 
Verehrer des Terenz fonnten leicht wahrnehmen, da ihre dramatiſche Sprade 
und Kunft formell den antiten Meifter nicht erreichte, Strengeren asketiſch 
'gefinnten Gemütern aber war das ſchon viel zu viel, was ſie an erotijhen 


Zwölftes Kapitel. Chroniften und Geſchichtſchreiber. 353 


Motiven in die religiöfe Legende hineinzog, und fie wandten ſich ſcheu von 
diefen erften Blütenknoſpen einer riftlihen Dramatik ab. 

Hroswitha felbft wurde von ihrer Kaijerlichen Freundin Gerberga an— 
gegangen, in einem größeren epifchen Gedichte Otto I. zu befingen. Sie 
verjuchte ed, war fi aber far darüber, daß ein Epos im großen Stile 
über ihre Kräfte ging. Dagegen ift ihr ein ſchönes epiſches Familiengemälde 
des ottonishen Kaijerhaufes in hohem Grade gelungen, aus welchem Die 
weltgeſchichtliche Geftalt Ottos I. majeftätvoll hervorragt. 


Zwölftes Kapitel. 
Chroniſten und Geſchichtſchreiber. 


Unter den kirchenpolitiſchen Kämpfen, welche das 11. Jahrhundert be— 
wegten, unter der mächtigen Erregung, welche die Kreuzzüge vom Ende des 
11. Jahrhunderts bis zum Ende des 13. hervorriefen, ging wie unter ge— 
waltigen Frühlingsſtürmen allmählich die Saat auf, welche die Verbindung 
des germaniſchen und romaniſchen Volkstums mit der chriſtlich-lateiniſchen 
Bildung verbreitet und langſam gezeitigt hatte: in den verſchiedenen neuen 
Völkern Europas entfalteten ſich nacheinander eigene, getrennte Literaturen, 
eine engliſche, altnordiſche, deutſche, franzöſiſche, provençaliſche, ſpaniſche, 
portugieſiſche, italieniſche. Die Literatur trat mehr und mehr aus den Kloſter— 
ſchulen heraus ins öffentliche Leben. Die Laien beteiligten ſich daran, und 
die größten poetiſchen Talente wandten fi der Pflege ihrer mütterlichen 
Bollsiprahe zu. Das Latein blieb indes Sprade der Kirche, des Rechts 
und des diplomatijhen Verkehrs. Während der Kreuzzüge war es ein ge 
meinſames Band, das die verjhiedenen Völker zufammenhielt und ihren 
gegenfeitigen Austauſch erleichtert. Es blieb aud die Sprache der Willen: 
ihaft an den Univerſitäten, welde im Laufe des 12,, 13. und 14. Yahr: 
hundert3 erftanden, zu Bologna, Salerno, Padua, Paris, Orford, Cambridge, 
Prag, Wien, Heidelberg, Köln und Erfurt !. 


ı ‚Bon ben Feſſeln der Schule macht man fich jeßt frei; die lateinifhe Sprache 
ift nicht mehr eine fremde, mühjam erlernte, in welder man bie vorliegenden Mufter 
ängftlih nahahmt, ſondern fie ift bie gewöhnliche Sprache aller geſchäftlichen Ber« 
handlungen, aller Wiffenfhaft und Kunft, die Sprache bes feineren gefelligen Verkehrs. 
Es bildet fi eine eigene, den Bebürfniffen und Zuftänden ber Zeit angemefjene 
Ausdrucksweiſe, in ber man fi mit Leichtigkeit bewegt. Einen jehr bedeutenden 
Einfluß auf diefe Sprade übt natürlich der kirchliche Gebrauch; nicht nur finden wir 
überall die Ausdrüde ber Bibel und ber Kirchenväter angewandt, ſondern man er« 
fennt auch nicht felten den Ehorgefang wieder in bem rhythmifchen Alang ber Profa; 

Baumgartner, Weltliteratur. IV, 8. m. 4. Aufl. 23 


354 Zwölftes Kapitel. 


Lateinisch blieb vor allem die reiche Geſchichtsliteratur, wie fie ih an 
den Fürjtenhöfen, den Dom- und Klofterjchulen bis dahin entwidelt Hatte. 
Es iſt unmöglich, ihren unabjehbaren Reichtum in einem gebrängten Bilde 
borzuführen, noch weniger tunlih, ihre einzelnen Erſcheinungen eingehender 
zu würdigen. Die großen Sammelmwerfe mittelalterliher Geſchichte, wie die 
Monumenta Germaniae, die Sceriptores rerum Italicarum von Muratori, 
die franzöſiſche Quellenfammlung Bouquets, die einschlägigen Teile der Bol: 
landijten und der Mignefhen PBatrologie, die englifchen Urkundenſamm— 
lungen ufw., find weder völlig abgejchloffen noch erſchöpfend. Was allein 
Deutihland aufzumweifen hat, it aus den ſummariſchen Darftellungen von 
Wattenbah und Lorenz nur annähernd zu erſehen. Die Forfhung fördert 
noch bejtändig neues Material oder bedeutende Ergänzungen zu Tage!. 

Eine ganz hervorragende Stelle nehmen in der älteren Geſchichtsliteratur 
die Lebensbilder der Heiligen (Vitae Sanctorum) ein, durch welche 
die neueren Länder Europas mit dem Ehriftentum zugleih die hriftliche Ge- 
fittung erhielten. Sie bilden gewiffermaßen den erllärenden Text zu den 
Domen, Stiften und Hlöftern, Altären und Heiligenfohreinen, Statuen und 
Gemälden, Werfen der Kleinkunſt und Miniatur, welche das Andenken jener 
Heiligen in religiöjfer und fünftlerifcher Weife verewigten und e3 fihtbar und 
handgreifli bezeugen, daß unfere moderne Zivilifation ihre tiefften Grund» 
lagen und Wurzeln der Kirche dankt?. 

Des Hl. Bonifatius, Golumban, Gallus und anderer ruhmreicher 
Bahnbrecher der Kriftlihen Zivilifation haben wir ſchon gedadt. Eie 
wie ihre Biographen fanden Nachfolger und Nadeiferer in den ver— 
ſchiedenſten Gauen. 

So ſchrieb der Frieſe Liudger das Leben feines Lehrer, des hi. Gre— 
gorius von Utrecht, welcher in großer Anzahl Miffionäre für die Sadjen 
heranbildete; Altfrid jchilderte dann Liudgers großartige Miffionstätigfeit, 
welche in der Gründung von Münfter (Mimigarbefort) ihren Abſchluß fand, 
Weitere Nachrichten über die Sachſen und deren Belehrung bietet das bon 
Hukbald geſchriebene Leben des hi. Lebuin (Liafwin). Einen viel weiteren 
Ausblid auf die Chriftianifierung des Nordens eröffnet Rimberts Leben des 


häufig find fogar die Sakteife mit unvollfommenen Endreimen verjehen, eine Ente 
artung, die fhon im vorigen Zeitraum hin umd wieder fi zeigt" (Wattenbad, 
Deutihlands Geihichtsquellen im Mittelalter II® 5 6). 

ı jiberfiht bei A. Potthast, Bibliotheca Medii Aevi I*, Berlin 1896. 
Sammel» und Miszellenwerfe ber Gefchichtichreiber des Mittelalterd m—coxLvın 
W. Wattenbah, Deutihlands Geſchichtsquellen im Mittelalter bis zur Mitte des 
13. Jahrhunderts, Berlin 1885; 6. Aufl. ebd. 1893/94. — O. Lorenz, Deutſch⸗ 
lands Geihichtsquellen im Mittelalter feit der Mitte des 13. Jahrhunderts?, Berlin 
1876, — Histoire littéraire de la France, 32 ®be, Paris 1738 -18898. 

® Uberfiht bei A. Potthast a. a. O. II? 1131—1646. 


Ehroniften und Geſchichtſchreiber. 355 


hl. Ansgar, der jeinerjeit3 daS Leben feines Vorgängers, des hi. Willehad, 
eriten Biſchofs von Bremen, jehrieb. Der HI. Adalhard, ein Enkel Karl 
Martells, begründete von Gorbie aus das Kloſter Gorvey, eine Leuchte der 
jähfiihen Lande, der hl. Meinulf das Nonnenklofter Böddeken. Wandal- 
bert zu Prüm bejchrieb das wunderbare Leben, das der Hl. Goar am Rhein 
führte, ein unbekannter Verfaſſer das erſte Leben des Hl. Lambert, des 
Patron: don Züttih. Der Hl. Rupert führt uns nad Salzburg, der 
hl. Bernward nad Hildesheim, der Hl. Adalbert nach Prag, der Hl. Ulrich nad 
Augsburg, der Hl. Wolfgang nad Regensburg. Es gibt feine bedeutendere 
Stadt, feine Kultusftätte, welche nicht durch das Andenken eines Heiligen 
geweiht und mit deſſen Lebensgefhichte, Wundern und Gnadenerweifungen 
aufs innigſte verwachjen wär. Man mag an diefen alten Heiligenleben 
vielfah den Mangel an nüchterner Tatſächlichkeit, panegyriſtiſche Breite, 
Wunderſucht, ſtiliſtiſche Fehler der verichiedenften Art tadeln, in ihrer 
Gejamtheit ftellen fie doch eine große Summe bedeutfamer geſchichtlicher Tat- 
jahen dar und haben diefelben mit einem Zauber religiöjer Poefie umgeben, 
welcher Kunſt, Literatur und Leben zugleich gehoben hat. 

In innigften Zufammenhang mit den Heiligen und ihren Biographen 
ftehen vielfadh die Annalen und Chroniken der Klöſter, Bistümer und 
Stifter. Sp reihen fih 3. B. an die Lebensgejhichte der hll. Gallus und 
Othmar die Casus $. Galli, eine Klofterhronif, welche mit geringer Unter— 
bredung (883—890) bis zum Jahre 1233 reiht, — an die Lebensgeſchichte 
der HI. Bonifatius und Sturmius die für die gefamte Reichsgeſchichte be: 
deutenden Annalen von Fulda, die bis 901 reichen, eine Gefchichte 
der Übte von Fulda und verſchiedene Einzelfchriften. Won weiterer Be— 
deutung find au die Annalen von Hersfeld, die Chronik des 
Regino (die fi zu einer Art Weltgejchichte erweitert), die Annalen von 
Kanten, die Bistumsgefhichte von Verdun, die Annalen des Prudentius, 
fortgejegt dur Hinkmar von Reims, die Annalen von Saint-Baaft, das 
Buch Abbos von der Belagerung von Paris (776—805), die Geſchichte der 
Bistümer Aurerre und Le Mans, die Chronit von Monte Gaffino, Erchem— 
pert3 Gefchichte der Langobardenfürften zu Benevent, die von Agnellus ver— 
faßte Gejchichte des Bistums Ravenna. In der DOttonenzeit mehren ſich 
dann die Aufzeichnungen derart, daß man faft alle Klöfter und Biſchofs— 
fige aufzählen müßte, um die Menge der Chroniken, Annalen und kleineren 
Geſchichtsquellen zu verzeihnen. Walteten im ganzen auc) lediglich praftifche 
Zwede vor, und fahen es die Chroniften nicht auf eine funftvolle Darftellung 
ab, fo find doch viele diefer Aufzeihnungen ganz gut und oft fefjelnd ge 
ſchrieben und bringen in ihrer eigenartigen Darftellungsweije den urwüchſigen 
poetijchen Geift des Volkes und der Zeit zum Ausdrud. In manden tritt 
eine reiche, vieljeitige Bildung, in andern fogar gezwungener Schwulft und 

23* 


356 Zwölftes Kapitel. 


Bombaſt zu Tage. Eine kurze Gejamtcharakteriftif ift deshalb nicht möglich. 
Wir begegnen allen Tonarten des Stils und der Sprache. 

Eine ſehr mannigfaltige Gelehrjamteit legt 3. B. Heinrid von 
Aurerre an den Tag, der in tironifhen Noten Erklärungen zu den 
aſtronomiſch⸗chronologiſchen Werfen des Beda jchrieb und zum Lobe des 
hl. Germanus jogar Verſe aus Petronius verwendete. Eine noch viel größere 
Belejenheit (Horaz, Vergil, Terenz, Ovid, Juvenal, Cicero) zeigt Liud— 
prand, Kanzler des Königs Berengar und 949 deffen Gefandter in 
Konftantinopel, fpäter als Flüchtling Gaft am Hofe Ottos und von ihm 
zum Biſchof von Gremona erhoben, 968 von ihm als Brautwerber für 
Dtto II. abermald3 nah Konftantinopel entjandt. Seine Antapodofis (Bud 
der Vergeltung), eine Geſchichte feiner Zeit, welche aber bis in die Zeit 
Karla II. (des Diden) zurüdgreift, entjpricht zwar nicht allerwegs den 
Forderungen höherer Geſchichtſchreibung, bietet indes in ihrer „behaglichen, 
memoirenartigen Art zu erzählen einen Einblid in die Sitten, Zuftände und 
Dentweije der Zeit, der von höchſtem Wert ift“ 1, 

Lange nicht jo viel Gelehrtheit befigt Widufind, der Mönd von 
Gorvey, welcher es in der Ölanzzeit Ditos I. (967) unternahm, die Ge: 
schichte der Sachſen zu ſchreiben; es wird ihm oft ſchwer, feine Gedanken 
in die Sprade Sallufts zu drängen; über mandes war er aud nicht 
unterrichtet genug; doc die Liebe zu feinem Volke gibt feiner Auffaffung 
eine lebenswarme Einheit und Kraft, welche nicht nur jehr anziehend poetiſch 
wirkt, jondern aud treu das Denken, Sinnen und Leben feiner Sadjen 
jpiegelt. Begeiftert fieht er in Ottos Siegen über die Slaven, Ungarn und 
Weftfranten den Triumph feines Stammes, den Gott und St Veit an die 
Spitze der Chriſtenheit geitellt haben. 

Ein anderer Sadfe, Thietmar, von 1009 bis 1019 Biſchof von 
Merjeburg, beihrieb die Errichtung diejes Biſchofsſitzes dur Otto I., deffen 
Zerftörung durch den zweiten Biſchof Gifiler und die Wiederherftellung des— 
jelben nad Gifilers Tode, miſchte der Erzählung aber alles mögliche bei, 
was ihn gerade interejfierte, jomohl was er in andern Büchern gelejen, als 
was er felbjt erlebt, jo daß fein Buch nicht den einheitlihen Guß bat, 
der die Chronik Widukinds auszeichnet, aber als Geſchichtsquelle großen 
Wert beſitzt. 

Hermann der Lahme (Contractus), ein Sohn des ſchwäbiſchen 
Grafen Wolverad, ſchon mit ſieben Jahren der Kloſterſchule von Reichenau 
übergeben, zeitlebens durch Gichtbrüchigkeit an den Krankenſtuhl gebannt, 
aber ſonſt lebhaften, tüchtigen Geiftes, erwarb fich bei all jeinen Leiden ein 
hohes Maß von Kenntniffen und verfaßte neben wertvollen Dichtungen aud) 





mWattenbach, Deutihlands Geſchichtsquellen im Mittelalter I 898. 


Ehroniften und Geſchichtſchreiber. 357 


eine Weltchronit, die von Chrifti Geburt bis auf fein Todesjahr 1054 herab» 
reicht, viel vollftändiger als alle biäherigen Verſuche, die in diefer Richtung 
angeftellt worden, und durchweg mit berftändiger Stoffwahl, wenn aud) 
eine pragmatifche Durchdringung des gejamten Stoffes noch fehlt. 

Der ſkandinaviſche Norden fand feinen erften Hiftoriographen an dem 
Magifter Adam, der 1069 urfundlih als Domſcholaſter von Bremen 
erwähnt wird, und mit Vergil, Horaz, Lucan wie mit der kirchlichen 
Literatur vertraut, ih als Hiftoriter beſonders Salluft zum Vorbild erfor. 
Er jah ſich perfönlih am Hofe des Dänenkönigs Spen Eftrithfon um Auf: 
ihlüffe um, vermertete forgfältig die Urkunden der Hamburgifch-bremiichen 
Kirche, zog auch emfig Material aus bereits vorhandenen Werten herbei und 
verarbeitete e3 in mwohlgruppierter überfihtliher Darftellung. 

Als Bermittler zwiihen der griehiichen Welt und dem Abendlande ift 
Anaftafius bemerkenswert, von 867—879 Bibliothefar der römischen 
Kirche. Lange iſt ihm der jog. Liber Pontificalis zugejhrieben worden, 
ein chroniſtiſches Werk über die römiſchen Päpfte, daS von Petrus bis in 
das Pontifikat Hadrians IL, aljo in die Zeit des Nnaftafius, reicht, jpäter 
nod weitergeführt wurde. Diejes bedeutjame Werk, zum Zeil ein Quellen: 
werf eriten Ranges, hat aber nicht ihm zum Verfaffer, fondern ift vom 
6. Jahrhundert an gruppenweife entftanden. Dagegen hat Anaftafius viele 
griehiihe Schriften, darunter die Akten des fiebenten allgemeinen Konzils, 
ins Lateiniſche übertragen. Von hervorragender Bedeutung ift auch jeine 
Überfegung der vereinten Geſchichtswerle des Theophanes, Nicephorus und 
Georg Syneellus, wenn aud die umfaffendere Kirchengefhichte, welcher dieſe 
Überfegung einverleibt werden ſollte, nicht zur Vollendung gelangte und 
jein Latein ſchwerfällig, oft ziemlih barbariih ift. Einige Jahrhunderte 
weiter reicht die KHirchengeichichte, welche Ordericus Bitalis, Abt in der 
Normandie, um 1140 in dreizehn Büchern vollendete. Noch umfangreicher 
ift diejenige des Dominitanerd Bartholomäus von Lucca, auch Ptolemäus 
de Fiadonibus genannt, welche jih in vierundzwanzig Büchern bis zum 
Jahre 1312 erfiredt. 

Einen trefflihen Gejhichtichreiber erhielt die fränkiſche Kirche an 
Flodoard, der, um 893 geboren, 936 Nom bejuchte, 948 der Synode 
von Ingelheim beiwohnte, 952 zum Biſchof von Tournay gewählt wurde, 
aber an der Befigergreifung feines Bistums gewaltjam verhindert, feine 
Tage 966 als Abt zu Reims beſchloß. Seine „Geihichte der Kirche von 
Reims“ (die in vier Büchern von den ältejten Zeiten bis 948 reicht) ſowie 
jeine „Annalen“ zeichnen fih durch jorgfältigfte Kenntnis alles archivaliſchen 
Material3, Genauigkeit, Treue und Zuverläffigkeit aus und find für die 
Staats-, Kirchen und Literaturgeihichte Frankreichs von herborragendfter 
Bedeutung. 


858 Zwölftes Kapitel. 


Der große Kampf zwifhen Papfttum und Kaiſertum um die kirchliche 
Freiheit und Selbftändigfeit, weldde mit den Fragen über Laieninveftitur 
und Gölibat untrennbar zufammenhing, beſchäftigte viele Schriftfteller. Der 
herborragendfte derjelben ift Lambert von Hersfeld, ein Thüringer, 
der erjt als gereifter Mann (1058) ins Klofter trat, kaum aufgenommen 
ohne Erlaubnis des Abtes eine Pilgerfahrt nad Ierufalem unternahm, dann 
aber reuig ins Stlofter zurüdkehrte und fürder treu zur Kirche hielt. Bis - 
zum Jahre 1040 find feine Angaben ziemlih fpärlih, dann werden fie 
immer reihhaltiger und entwideln fih 1073 bis 1077 zur umfafjendften 
Erzählung. Über die Verhältniffe durchweg wohl unterrichtet, den berechtigten 
Forderungen des Kaiſertums nicht abgeneigt, aber fie nad) ftreng objektiven 
Normen bemejjend, maßvoll in feinem Urteil und in feiner Darftellung, 
läßt er die Vertrautheit mit Salluft und andern Slaffitern durchblicken, 
ohne fie mühſam nachzuahmen, in Sade wie Form ein tüchtiger, felbftändiger 
Hiftorifer. Merlwürdig ift die Nachricht, Lambert habe in jungen Jahren 
denjelben Zeitraum zuerft in einem Epos behandelt, dieje Form aber auf: 
gegeben, weil ihm Mangel an Wahrheit vorgeworfen worden ſei. Es dürfte 
wohl hiermit ein allgemeiner Grund angedeutet fein, weshalb bei jo über: 
reihem epiſchen Stoff die kräftigſten Talente fi eher dem praftijchen Leben 
oder der Gejchihtihreibung zumandten, indem die merkwürdigſten Ereigniffe 
nod zu nahe lagen, als daß die Zeitgenoffen eine freie poetifche Behandlung 
derjelben ertragen hätten, das Öffentliche Leben aber jelbft zu bewegt war, 
als daß die Verherrlihung älterer Zeiten viel Eindrud Hätte machen können. 

Der Belgier Sigebert, Mönd zu Gemblour, war weniger mit der 
Politit Gregor VII. einverftanden als Qambert, im ganzen aber doch kirchlich 
gefinnt. Er gab fid) große Mühe, die legendarifchen Überlieferungen der Kirchen: 
geihichte mit der Chronologie in Einklang zu bringen, und jo erwuchs feine 
anjehnliche Chronik, welche fih mit dem Jahre 381 an Eufebiug-Hieronymus 
anſchließt und bis 1111 reicht. Andere ſetzten fie dann bis 1148 weiter. 

Die umfaffendfte Weltchronit aber jchrieb Ekkehard, Mönd in dem 
Klofter Aura (bei Kiffingen), der 1101 eine Pilgerfahrt nah Jeruſalem 
machte, 1106 dem Konzil von Guaftalla beimohnte und 1108—1125 das 
Klofter Aura leitete, wieder ein viel gereifter und viel ftudierter Mann. Mit 
ausdauerndftem Fleiße hat er manche Zeile wiederholt neu durdhgearbeitet. 
Reihhaltigkeit und gute, überfichtliche Anordnung, gefundes Urteil und Hare, 
gefällige Sprache machen das Werk zu dem beiten dieſer Art. 

Auf ide fußen zum Teil die Chronif und andere Hiftorifche Arbeiten 
des gelehrten Biſchofs Otto don Freifing!, Halbbruders des Königs 





I! Seine Werke herausgeg. von R. Wilmans in ben Monum. Germ. SS. 
XX 83—496. Literariihe Charakteriftif ebd. XX 93—100. 


Ehroniften und Gefhichtfchreiber. 359 


Konrad und Oheims Friedrichs I. Barbaroffa, der, in Paris gebildet, ſich 
erft dem Eiftercienferorden anſchloß und Abt des Kloſters Morimund tward, 
bald aber, zum Biſchof von Freifing erwählt, in die Neihe der einflußreichften 
Kirhenfürften trat. Die fieben erften Bücher feiner Chronik find annaliſtiſch 
gehalten; doch zeigt fih da und dort eine geihichtsphilofophiiche Auffafjung, 
weldhe im achten Bud dann vollftändig in den Bordergrund tritt und nad) 
dem Vorbilde des Hl. Augufiin in feinem Werfe De civitate Dei die 
Shidjale der Welt in die erhabenfte religiöfe Beleuchtung rüdt. Weit 
reicher an geihichtlichen Einzelheiten find feine (fpäter von Ragewin fortgefegten) 
„Zaten des Kaifers Friedrich“. In beiden Werken hat der ausgezeichnete, 
in der Theologie wie in den Faiferlihen Archiven wohlbewanderte Kirchenfürft 
aud der Darftellung große Sorgfalt zugewandt und dürfte den Klaſſikern 
des Mittelalterd beigezählt werden, wenn diefe Ausdrudsmeile üblich wäre. 

Denjelben Namen verdiente für die Zeit der Sreuzzüge Wilhelm von 
Tyrus. Er wurde um 1130 in Syrien oder Paläftina geboren, machte 
aber feine Studien im Abendlande, wahriheinlih zu Paris, warb 1167 
Arhidiafonus in Tyrus, im folgenden Jahre Gefandter in Konftantinopel, 
1170 Erzieher des Prinzen Balduin und, als diejer als Balduin IV. (1170) 
König wurde, defien Kanzler und 1175 Erzbiihof von Tyrus. Im Jahre 
1178 wohnte er dem Laterankonzil bei, um 1185 ift er geftorben. Er hat 
zwei größere Geſchichtswerke Hinterlaffen. Das erfte behandelte die Geſchichte 
des Orients bon Mohammed bis herab auf feine Zeit. Es fußte ganz auf 
arabiihen Quellen, bejonder8 dem Geſchichtswerke des Patriarchen Eutychius 
(Said:ibn:Batrif) von Alerandrien. Es ift leider verloren. Das andere 
behandelt die Geſchichte der Kreuzzüge und des Königreichs Jerufalem von 
1095—1184 in 23 Büchern. Das lebte vermochte Wilhelm indes, über: 
wältigt von Schmerz über das namenloje Unglüd des Heiligen Landes, 
jeiner Heimat, nicht mehr zu vollenden, 


„Es läßt feine ber Forderungen, die man an einen großen Geidhichtichreiber 
macht, ganz unbefriebigt. Er war in der Lage, fich ben reichlichſten Stoff verſchaffen 
zu fönnen; bie Gejundheit bes Urteils, bie überall das Wahre herauszufinden weiß, 
bie Unbeftechlichfeit eines hohen Sinnes, die ben Beruf bes Geſchichtſchreibers in 
feiner ganzen Größe auffaßt, zeigt fih auf jeder Seite. Dazu befißt er in hödhfter 
Ausbildung jene Eigenjchaften, welche der Geſchichtſchreiber mit dem Dichter gemein 
haben muß, vor allem die Gabe ber anjhaulihen Darftellung. Wer ein lebendiges 
Bild von jener Zeit befommen will, wird es nur durch dieſen Geſchichtſchreiber 
erhalten, ber jein Werk in berjelben Begeifterung niederſchrieb, welche bie Kreuzzüge 
hervorrief, und ber felber einer ber größten Charaktere jener Periode war, beren ge— 
lehrte, kirchliche und politifche Bildung er in ſich vereinigte,“ ? 

€ u. R. Kaudler, Geſchichte der Kreuzzüge und bes Königreichs Jeru— 
falem, aus dem Lateinifchen des Erzbifhofs Wilhelm von Tyrus?, Stuttgart 1844, 
Vorwort ıv. 





360 Zwölftes Kapitel. 


In ungünftigem Gegenjab zu Otto von Freifing und feinen Fortſetzern 
Ragemwin (Rahevin) und Otto von St Blafien (der die Chronik bis 
1209 weiterführte) fieht Gottfried von Viterbo, deifen Ablunft und 
Nationalität nicht fiher bekannt if. Er war lange Jahre hindurch Hof: 
faplan König Konrads und dann Friedrich Barbaroffas, in deren Dienften 
er bon Deutihland aus vierzigmal nah Rom kam und noch viele andere 
Sendungen nah Sizilien, Franfreihd und Spanien übernahm. In feinen 
Mupeftunden dichtete er zuerft für den jungen König Heinrih VI. den 
„Königsipiegel“ (Speculum Regum), worin die Franken von den Römern 
abgeleitet und beide Völker zugleih in Karl d. Gr. verherrliht wurden, 
dann eine Fortſetzung dazu, welche die Taten Friedrichs I. feierte, flocht 
dann beide Gedichte in eine Art Weltchronif ein, die er zuerft Memoria 
Saeculorum, dann nad mehrfahen Umarbeitungen (1186 bis 1191) das 
„Bantheon“ nannte, ein wunderliches Gemengjel von Geſchichte und Sagen 
und Fabeln aller Art, von Proja und Verſen!. Dabei führte er die Neuerung 
ein, die metrifchen Partien nicht in Diftichen oder Herametern abzufafen, 
jondern je zwei Hexameter mit einem Pentameter zu unterbreden, — ein 
nicht bloß ungemwohntes, jondern auch in ſich unharmoniſches Gefüge. Stoff: 
ich schließt das Pantheon eine Menge poetifher Sagen und Fabeln ein 
und zeugt darum von einer gewiſſen poetifhen Veranlagung des Verfaſſers. 
Das meunzehnte Buch 3. B. enthält eine finnige Auslegung des Taijerlichen 
Krönungsfhmudes. Im achtzehnten Buch findet fi neben andern englifchen 
Stoffen auch ſchon ein Teil der Merlin: und Artusjage in der eben ans 
gegebenen Weiſe verfifiziert. Die künftige Geburt des Königs Arthur ver— 
fündet der „Prophet“ Merlin folgendermaßen: 

Hic erit Arturus rex summus in orbe futurus, 


Proelia gesturus, loca Gallica rex habiturus, 
Nomine magnus erit, vulneribusque perit. 


Nec perit omnino, maris observabitur imo. 
Vivere perpetuo poterit ex ordine primo: 
Ista tibi refero, cetera claudo sinu. 


Arturi qui tantus erat, si bella requiris, 
Omne solum variis potuit devincere miris, 
Viribus et gladiis praefuit ipse viris?, 


Ein ſolches maffenhaftes Hineintragen von Sagenftoffen und jagenhafter 
Ausihmüdung in die Gefhichte konnte auf die Geſchichtſchreibung natürlich 





! Godefridi Viterbensis Pantheon seu Memoria Saeculorum, herauägeg. 
von Muratori (Script. rer, Italic. VIII) und Migne, Patr. lat. OXCVII 871 
bis 1044. 


® Migne a. a. D. CXCVIII 1008. 


Chroniften und Geſchichtſchreiber. | 361 


nit günftig wirken. Nimmt darum aud bon dem 13, Jahrhundert an 
die Zahl geſchichtlicher Schriften zu, fo ift in der Geſchichtſchreibung jelbft 
ein deutlicher Verfall bemerkbar. Hochſtehende Männer, Reihsfürften, Kirchen: 
fürften nehmen ſich derjelben kaum mehr an; fie gerät zufehends in bie 
Hände der Bürgerlihen, zeriplittert ih mehr und mehr ins Lofale. Die 
Bettelorden widmeten ſich vorzugsweiſe der Predigt, den theologiſchen und 
philoſophiſchen Studien, der Asleſe. Auf praktiſche Ziele in diefem Sinne 
find die Sammelwerke berechnet, die uns nun begegnen, wie die „Goldene 
Legende“ (Legenda Aurea) des Yacobus a Voragine, eined Dominifaners, 
der 1292—1298 Erzbifhof von Genua war; das große Legenden- und 
Evangelienbuh de3 Thomas don Chantimpré (Cantipratensis) und 
die Wundergefprädhe des Eiftercienfers Gäfarius von Heilterbad, 
ausgezeichnet durch die jhlichte, Fromme Anmut der darin gebotenen Er: 
zählungen, die für die KHulturgefhichte jener Zeit überaus reichhaltig find. 
Eine Schatzkammer der mertwürdigften Sagenpoefie für den ſtandinaviſchen 
Norden bildet die (bis 1168 reichende) „Dänische Geſchichte“ des ſeeländiſchen 
Ritters Saro Grammaticud, aus welder Shafefpeare die Geftalt feines 
Hamlet erhalten hat. 

Die „Goldene Legende” !, deren urfprünglicher Zitel einfach „Legende 
der Heiligen“ lautete, erlangte in den nächſten zwei Jahrhunderten eine 
Verbreitung, wie jie nur wenigen Schriften des Mittelalters zu teil ward. 
Die Handidriften find faft unzählbar; bis 1500 einihließlih zählt man 
über fiebzig lateiniſche Drude derfelben, dazu dreizehn niederdeutiche, acht 
italienijche, fünf franzöfifche, je drei englifhe und böhmiſche Druckausgaben. 
Schon von den Humaniften wurde fie ſowohl wegen des Inhalts als wegen 
der Form ftark angefochten. 

„Wie unmwürdig ber Heiligen und aller Chriſtenmenſchen“, jchreibt ſogar Ludwig 
Vives, „ift jene Geſchichte der Heiligen, welche die ‚Goldene Legende‘ genannt wird. 
Ih weiß nicht, warum man fie bie goldene nennt. Ein Dann mit eifernem Mund 
und bleiernem Herzen Hat fie gefchrieben. Was kann man Häßlicheres nennen als 
dieſes Buh? Was ift es für uns Chriften eine Schmach, daß bie auögezeichnetften 
Zaten unferer Heiligen nicht richtiger und forgfältiger aufgezeichnet find, fowohl für 
die Kenntnis ala Nahahmung fo großer Tugend!“ 


Johannes Bolland, der Begründer des großen Bollandiſtenwerles, mweift 
diejen Ausfall als ungerecht umd übertrieben zurüd und fchreibt ihn dem 
Einfluffe des Erasmus zu, deſſen fede Kritik nichts unangefodten ließ und 


ı Neuere Ausgaben von G. Brunet (franzöfiih), Paris 1848; Th. Gräffe, 
Dresden und Leipzig 1846; 2. Aufl. 1850. — Kiteraturangaben bei Chevalier, 
Röpertoire, col. 1150 2666. — Bgl. R. v. Noftiß-Riened, Art. „Jacob be 
Boragine‘, in Wetzer und Weltes Kircdhenlerifon VI? 1178—1182. 

® De caussis corruptarum artium c. 2, 


362 Zwölftes Kapitel. 


vieles verurteilte, was er jelbft nicht genügend kannte. Er hält Jatob 
de Voragine deshalb für entjchieden glaubmwürdiger, wenn er auch zugibt, 
daß eine forgfältigere Aufzeihnung der Taten der Heiligen wünſchenswert 
gewejen wäre. 

Wie die zahllofen Einzellegenden jener Zeit war aud die Sammlung 
der ſog. „Goldenen Legende“ nicht auf ein fireng geſchichtliches Werl, jondern 
auf ein vollstümliches Erbauungsbud berechnet, welches den Geift und die 
Macht der Heiligen zum Ausdruck bringen, zu ihrer Nahabmung und An- 
rufung anregen follte, Über den tindlihen Glauben an das Wunderbare, 
der darin hervortritt, gilt die Bemerkung Friedrichs von Hurter: 

„Haft alle Schriftfteller diefes Zeitalter (12. und 13. Jahrhundert) 
berühren dergleihen außerordentliche Greigniffe, einige haben jogar Samm— 
lungen derjelben angelegt: insgefamt Beweife, wie allverbreitet, wie in das 
Leben eingegangen der Glaube an Wunder gewejen ſei. Manchen berjelben 
fieht man mohl das Märdenhafte an; andere dürften durch den Schmud, 
womit Tatſachen allmählich umgeben wurden, diefe Geftalt gewonnen haben; 
bei einzelnen möchte die Kritik, injofern fie mit bloßem Berneinen ſich 
nicht gleichftellen will, ihre Unzulänglichkeit erklären. Wofür man fi 
auch entjcheiden möge, eine Wahrheit liegt unverlennbar in diefer Wunder: 
fülfe, daß diejelbe auf den Wandel von Taufenden und Zaujenden ohne 
Einfluß nicht bleiben fonnte. Es muß doch dadurch manches Chriſtenherz 
geweckt, es muß doch dadurch mancher Chriſtenwille gelenlt, es muß doch 
dadurch manches Chriſtenleben bewahrt worden ſein. Man mag unbe— 
denklich viele dieſer Wunder kindiſch, ungereimt nennen, dennoch blickt durch 
dieſe Schlade das Gold der Anerkennung einer alles erfüllenden, in allem 
waltenden, allenthalben gegenwärtigen, die Frommen väterlich beſchirmenden, 
die Wankenden erjhütternd mahnenden, die Frebler oft furdtbar zermal: 
menden höheren Macht.“ * 

Das wachſende Intereffe für das Mittelalter und deſſen bunte Lebens 
erjcheinungen hat übrigens die gute Yolge gehabt, daß auch dieſe mittel- 
alterlihen Legendenfchriftfteller und Legendenfammler richtiger aufgefaßt, ge: 
rechter gewürdigt und liebevoller aufgenommen worden find, als e& in den 
Zeiten des Humanismus und der Glaubenstrennung möglih war. 

„Gäfarius von Heiſterbach, der einft jo verjpottete Typus mittelalter: 
licher Dumpfeit, gilt jetzt als einer der intereffanteften Autoren des 12. und 
13. Jahrhunderts, als eine Hauptfundgrube für Kulturgefhichte, Mythologie 
und Sagenfunde, als gejhäßter Biograph und gelehrter Theologe, bejonders 


! Acta SS. Bolland. lanuar. I xıx f. 

? $r. dv. Hurter, Innocenz II. IV 537. — Bgl. St. Beiffel, Die Ver— 
ehrung ber Heiligen und ihrer Reliquien in Deutfchland während der zweiten Hälfte 
des Mittelalters, Freiburg 1892, 106—111. 


Ehroniften und Geſchichtſchreiber. 363 


auf dem Gebiete der Moral und Homileti. Man rühmt ihn endlich als 
gewandten Erzähler und Darfteller, der in zwei novelliftiihen Werfen 
Ernftes und Erjchütterndes wie Anmutiges und Launiges zu ſchildern ver: 
fanden Hat.“ ! 

Wie in diefen geiftlihen Legendenbüchern ji ein feſter gefchichtlicher 
Kern vielfach mit dichterifhen Ausihmüdungen und fogar freien Erfindungen 
verbindet, jo hatte ſchon lange aud auf profanem Gebiete die Geſchichte 
der Sage die Hand gereicht. Das ſchönſte und einflußreichfte Werk dieſer 
Art find „die Taten Karls des Großen“ beidhrieben von dem „Mönche von 
St Gallen“, der Kürze halber wohl aud) einfad Monachus Sangal- 
lensis genannt?. Es wurde in den Jahren 884—887 niedergejchrieben, 
auf Wunſch Karla des Diden, der im Dezember 883 einige Zeit im Kloſter 
verweilte. In einem Kranz der gemütlichften Anekdoten und Erzählungen 
tritt hier die Geftalt des großen Kaiſers vor uns, wie fie in der Erinnerung 
der Mönche, der Krieger, des Volkes weiterlebte, verflärt von der lebendigen 
Glaubensinnigfeit, die in ihm hauptfählih den Schutzherrn der Kirche und 
der höchſten geiftigen Güter erblidte. Der erfte Teil beihäftigt ſich denn 
auch zunächft mit der Frömmigkeit Karls und mit feiner Sorge für die 
firhlichen Angelegenheiten, der zweite erft mit feinen Sriegsfahrten; ein 
dritter Zeil hätte wahrſcheinlich noch das häusliche Leben des Kaiſers 
ſchildern ſollen, ſchon der zweite aber bricht beim 31. Kapitelchen unvoll: 
endet ab. Man kennt nicht einmal den Namen des alten Möndes, der 
die bunten Geichichten gefammelt hat, in St Gallen jelbft hat fich feine 
Handichrift derfelben erhalten; aber auswärts wurden fie mit Einhards 
Geſchichtswerk vervielfältigt und haben viele jpätere Poeten mit Stoff ber: 
jorgt. Die kurze Einleitung rüdt das anziehende Bild in die erhabenfte, 
weltgeſchichtliche Beleuchtung. 

Wie wunderlich aber die Karlsſage ſich ſpäter weiter entwickelte, davon 
geben die Gesta Caroli Magni der Regensburger Schottenlegende ein höchſt 
merkwürdiges Zeugnis 3, 





ı %. Raufmann, Wunberbare und denkwürdige Geſchichten aus ben Werten 
bes Gäfarius von Heifterbah 1. ZI (Annalen bes hiftor. Vereins für den Nieder: 
rhein XLVII, Köln 1888, 2). Vgl. die ebenjo trefflihe Monographie besjelben Ber: 
fafiers, nach deſſen Tode von H. Cardauns herausgegeben, über ben Gäfarius 
geiftesverwandten „Thomas von Ehantimpre*, Köln 1899. — A. Meifter, Die 
Fragmente der Libri VIII Miraculorum bes Cäſarius von Heifterbah, Rom 1901. 

® SHerauögeg. bon Pert (Monum. Germ. Hist. SS. II 726—763); Jaffé 
(Bibliotheca IV 619—700); Migne (Patr, lat. XCVIII 1369—1410); überjegt 
von W, Wattenbad, Berlin 1850; 2. Aufl. 1877, 

s A. Dürrwädter, Die Gesta Caroli Magni der Regensburger Schotten« 
legende zum erftenmal ebiert, Bonn 1897. 





364 Dreizehntes Kapitel. 


Dreizehntes Kapitel. 


Epiſche Berfude und hiſtoriſche Zeitgedichte. 


Zahlloſe Scharen ſpäterer Dichter haben aus den Chroniken und 
Legendenſammlungen des Mittelalters Stoff und Anregung geſchöpft; das 
Mittelalter ſelbſt aber iſt zu keinem weiteren lateiniſchen Epos gelangt, 
das gleich den Epopöen des Altertums die kommenden Jahrhunderte über— 
dauert hätte. 

Eine bevorzugte Stelle nimmt in der Epik des Mittelalters, wie ſchon 
früher, die Heiligenlegende ein. Wohl fein Dichter ſeit Prudentius hat fie 
aber in jo umfafjender Weiſe bearbeitet, ihr Weſen und ihre Bedeutung jo 
tief und großartig erfaßt als der bereit3 erwähnte Flodoard, der Geſchicht— 
ihreiber von Reims, in einem Werke, da3 er (etwa um das Jahr 938) 
dem gelehrten Erzbiihof Rotbert von Trier mwidmete!. In drei Büchern 
bat er die Heiligen Paläftinas, in zwei andern diejenigen von Antiochien, 
endlih im vierzehn Diejenigen Italiens bejungen, jo daß jeine Legende 
Morgenland und Abendland, ja in ihren Hauptumriffen nahezu die ganze 
Kirchengeſchichte des erften hrijtlihen Jahrtaujends umſpannt. Den einheit- 
lichen Grundgedanfen, welcher die bunte Geftaltenfülle zufammenfaßt, drüdt 
der Zitel aus: „Von den Triumphen Chriſti und feiner Heiligen“ oder, noch 
genauer gefaßt, „Von den Triumphen Chrifti in feinen Heiligen“. Die 
„Anrufung” an der Spite des Gedichtes reiht die Legende, unter einem 
nod weiteren Nusblid, der geſamten Weltordnung ein und erklärt aufs 
befriedigendfte die hohe Wertſchätzung, melde die Legende der Heiligen im 
Leben und in der Poefie des Mittelalter wie der katholiſchen Völker durch 
alle folgenden Jahrhunderte gefunden hat. | 

Gott! unendliches Licht! der du ftrahlend erhelleft das Weltall, 

Der du mit ewigem Glanz den Äther lieblich durchfluteſt, 

Der bu den Himmel geſchmückt mit zahllos funfelnden Sternen, 

Der bu vom Meere bas Land mit göttlihem Machtſpruch geſchieden, 
Babft den Beihwingten bie Luft, den Schwimmern die Wogengefilde, 
Statteteft aus mit Gräfern und Wald die grünenden Fluren, 

Füllteft fie an mit unenblien Reihen ber lebenden Wefen, 

Hoc über alle beftellteft den Menihen zum König der Schöpfung, 
Der du nad) göttlihem Bild haft feine Züge geftaltet, 

Ihm die Seele verliehn, geformt nad himmlischen Gleichnis, 


! Flodoardi Canonici Remensis Opuscula metrica. De triumphis Christi 
Sanctorumque Palaestinae libri tres (Migne, Patr. lat. OXXXV 491—550); De 
triamphis Christi Antiochiae gestis libri duo (ebd. CXXXV 549—596); De 
triamphis Christi apud Italiam libri XIV (ebd. CXXXV 595-886). — Bgl. 
Histoire littöraire de la France VI 318— 8329. — Bähr, Geſchichte der röm. Literatur 
im Raroling. Zeitalter 274. 


Epifche Verſuche und Hiftorijche Zeitgebichte. 365 


Und, mit dem ftrahlenden Kranz erhabenen Lichtes gefrönet, 
Glorreih über die Schar ihn ber Übrigen Weſen erhoben. 

Als er durch finftre Gewalt fich trennte vom ewigen Lichte, 
Und in die Tiefe verſank, verdammt zum nädtlihen Abgrund, 
Sandteft zum Lehrer bu ihm das Licht, das ftrahlende, felber, 
Niefeft ihn wieder zu bir und fhidteft ihm himmlische Führer, 
Daß bie göttlide Macht fi zeigte im höchſten Triumphe. 


Du, erleuchte mein Gerz, du Lit vom ewigen Lichte, 

Du, erfülle den Geift, auf dab bie erhabenen Siege 

Feiern möge mein Lied, mit denen bu Fröneft die Deinen ! 

Laſſe die göttliche Kraft durchdringen mein Sinnen und Fühlen, 
Daß mein Singen und Flehn verherrliche beine Triumphe 

In den Yüngern, die bu im Himmel befrönft und auf Erben. 
Denn auf ben Schwingen der Tugend fie fireben empor zu ben Sternen 
Und bes Abgrunds Ziefen mit himmliſchem Licht fie durchdringen, 
Goldene Blüten und felige Frucht fie dankend dir tragen; 

Über die Reiche der Welt erhebt fie ihr Glauben und Hoffen 
Siegreih empor und madet fie würdig des himmlischen Thrones, 
Wo fie in feliger Luft am Quell des Lichtes ſich Taben 

Und erhellen die Welt mit ihren Taten und Worten !. 


Das ift der Standpunkt des Dichters. Don einer Vergötterung oder 
Anbetung der Heiligen, wie im Heroenkult der Alten, ift nicht die leiſeſte 
Spur. Alfe ihre Vorzüge und Berdienfte, all ihre Glorie im Jenſeits und 
hienieden gehen von Gott aus und werden auf ihn zurüdbezogen. Die 
Triumphe der Heiligen find nur Triumphe Chrifti und die Siege des 
Menihenfohnes nur Erweiſe feiner göttlihen Madt. Alle Schönheit und 
Herrlichleit der fihtbaren Schöpfung wird anerlannt, mit tieferem Gefühl, 
als e8 bei den Alten der Fall war. Der Menſch erſcheint als die Krone 
der Schöpfung, aber nicht wie ein Juppiter oder Apollo ſelbſt zum Gott 
erhöht, ſondern als Werk des ewigen, unendlichen, unfihtbaren Gottes. Über 
der fichtbaren Welt tut ſich eine viel erhabenere, unfichtbare, geiftige Welt 
auf, welche aber durch die Menfchwerdung des Sohnes Gottes in die fihtbare 
Schöpfung herniederfteigt und den Menſchen zu einem neuen, höheren Dafein 
erhebt. Das ift das Reich der Gnade, das nunmehr die fihtbare Schöpfung 
verffärt und das kurze Leben hienieden mit dem ewigen Leben der Glorie 
verbindet. Wie Gott die Fülle feines Seins in den zahllojen Reihen der 
natürlihen Weſen fpiegelt, jo offenbart ſich feine fittlihe Schönheit und 
Bolltommenheit in der unabjehbaren Mannigfaltigfeit der Heiligen, die vereint 
in der Liebe und Nachfolge Ehrifti, jeder wieder in verſchiedener, individueller 
Weiſe feine Gefinnung zum Ausdrud bringt. In der Kirche hat dieſe 
erhabene Ordnung der Gnade, welche die ganze Menſchheit vereint, auch 


! Migne, Patr. lat. CXXXV 491 492, überjfegt vom Berfafjer. 


366 Dreizehntes Kapitel. 


fihtbare joziale Geftalt hienieden gewonnen. Ihre Geſchicke find nur ein 
Fortleben Ehrifti in der Menjchheit, ihre Heiligen die Blüten der von Chriftus 
erlöften, jet noch von ihm geleiteten und begnadigten Menjchheit. 

So fahte das Mittelalter die Legende auf. Sie ift im Grunde nur 
der jchlichte, epijche Ausdrud für die Lehre von der Gemeinschaft der Heiligen, 
wie fie ſchon das Apoftoliiche Glaubensbelenntnis enthält und wie fie jeder 
Chriſt nicht ala etwas Fremdes, Außergemöhnliches, jondern als eigenfte, 
religiöje Familienbeziehung betradtet. Wir find Söhne und Brüder der 
Heiligen. Den Heiligen dankt nicht nur Deutjchland und Italien, jondern 
das ganze Abend» und Morgenland jeine hriftlihe Kultur. 

Das alles tritt nun in Flodoards Legende gar ſchön und anmutig zu 
Tage. Anfnüpfend an die Heiligen Stätten Paläftinas läßt er zuerft das 
ganze Leben Chrifti an unjerem Blid vorübergleiten. Dann zeichnet er uns 
in furzen Zügen die Apoftel und vorzüglidften Jünger des Herrn. Durd) 
längere Schilderung ift Stephanus, der erfte der Märtyrer, ausgezeichnet. 
Ein großes Gedicht bejchreibt darauf in gewaltigen Zügen die Zerftörung 
Jeruſalems, als das furdtbare Gottesgeriht, das die Synagoge durch die 
Verwerfung des Meſſias auf ſich herabgezogen, ein fürzeres Gedicht den Verſuch 
Julians, die Weisfagung Chrifti Lügen zu trafen. Dann führt uns der 
Dichter die Heiligen vor, welche an den Stätten der Erlöjung lebten und 
wirkten, im ausführlicher Darftellung den gelehrten Hieronymus und jeine 
Schülerin, die fromme Pilgerin Paula. Im ganzen umfakt der erſte Zeil 
49 Gedichte. 

In Antiohien wurden die Anhänger Jeſu zuerft Chriſten genannt; 
die Stadt blieb lange ein Mittelpunkt für die Ausbreitung des Chriftentums 
im Morgenlande. Ihre Heiligen feiert der zweite Teil der Legende in 
zwei Büchern mit 27 Gedichten. Am reichlichſten find Hier der Hl. Julian 
und die hl. Baftliffa, der Hl. Heiychius, der hi. Simeon der Säulenfteher 
und die heilige Büherin Pelagia bedacht. 

Weit umfangreicher ift der dritte Teil ausgefallen, der in feinen vierzehn 
Büchern 229 größere und fleinere Gedichte zählt und außer den Heiligen 
Italiens auch viele andere Heiligen des Abendlandes behandelt. Zu an— 
jehnlicheren Epyllien find die folgenden Stoffe erweitert: 


Der Streit bes HI. Petrus mit Simon Magus. — Das Martyrium ber 
hi. Apoftel Petrus und Paulus. — Die Schüler der Apoftel umd ber HL. Apoflinaris. 
— St Clemens. — St Mlerander und jeine Gefährten. — Papft Zephyrin und 
der hi. Kalixtus. — St Urban und Eäcilia. — St Lucius und Stephanus. — Die 
hl. Eugenia. — St Sixtus und Laurentius. — Chryjanthus und Daria. — Die 
hi. Marcellian, Marcus und Sebaftian. — Chryjogonus und Anaftafia. — Der 
hl. Marcellus. — St Sylvefter. — Gregorius d. Gr. — Gregorius II. und ber 
bi. Bonifatius. — Papft Stephanus II. — Papft Habdrian. — Leo III. (und Karl 
db. Gr.). — Leo IV. — Translation des hl. Kalirtus, 


Epiſche Verſuche und Hiftorifche Zeitgedichte. 367 


Am Schluffe des zwölften Buches erzählt Flodoard, wie er auf feiner 
Pilgerfahrt nah Rom von Papſt Leo VII. überaus gütig aufgenommen, 
geiftig und leiblich gefpeift, reich beſchenkt und mit liebevollem Segen in 
jeine Heimat entlaffen wurde. 

In den folgenden zwei Büchern werden zahlreiche Heilige nachgetragen, 
welche zubor übergangen worden. Am glänzendften werden die hl. Ambrofius, 
Beneditt von Nurfia und Columban gefeiert. 

Die Ausführung ift jehr ungleichartig. Wo der Stoff jelbft und frühere 
poetiiche Bearbeitungen es ermöglichen, läßt Flodoard der Erzählung freien 
Lauf und erhebt ſich nicht felten zu wirklich poetifcher Darftellung; mo ber 
Stoff dürftig, begnügt er fi mit wenigen Berjen, die ſich mitunter nur 
durch das Metrum von Proja unterfcheiden. Weitaus die meiften Legenden 
find in Herametern abgefaßt, nur wenige in Senaren. Dem erften Teil 
geht die mitgeteilte „Anrufung“ in Herametern voraus, dem zweiten ein 
Gediht in fapphiichen Strophen, dem dritten eine Vorrede in Asklepiadeen. 
Die Verſe find zum Zeil recht gut gebaut, die Sprade ift rei, wenn 
auch nicht von Haffischer Reinheit. Flodoard verfieht es, nicht bloß feſſelnd 
zu erzählen, fondern auch meifterhaft zu ſchildern, wie dies z. B. in dem 
Gediht von der Zerftörung Jerufalems zu Tage tritt. 


AU die zahlreichen metrifchen Legenden bes Mtittelalters hier einzeln aufzuführen, 
liegt über den Rahmen unferer Aufgabe hinaus. Als bebeutfamer in literarifcher 
Hinfiht mögen erwähnt werben: Die Lebensbeichreibungen bes hl. Suitbert ' umb 
bes bi. Rebuin? (verfaßt von Ratbod, ber 917 als Erzbiichof von Utrecht ftarb), 
bie „Paffion des hl. Mauritius und ber thebäiſchen Legion” (gedidhtet von Sige— 
bert von Gemblour zwiiden 1074 und 1078®), die ‚Metriſche Theophil— 
Geihichte‘, das „Gedicht von ben fieben Makkabäiſchen Brüdern”, die „Verſe vom 
bl. Laurentius“, die „Paſſion des heiligen Märtyrers Bictor“, die „Paſſion bes 
bl. Mauritius und feiner Gefährten“, das „Leben ber hl. Thais" (nad griedhifcher 
Vorlage), die „Paffion der heiligen Märtyrer Felix und Adauctus*, das „Leben bes 
jeligen Belenners und Biſchofs Maurilius“ (ſämtlich Marbod zugeichrieben, der 
1123 als Biſchof von Rouen ftarb) ®. 


Für Kunſt- und Literaturgefchichte zugleich bedeutſam ift „Das Leben und 
Leiden des Heiligen Märtyrer Chriftophorus“, die ältefte lateiniiche Bearbeitung 


! Acta SS. Bolland. Mart. I 84—86. 

® Migne, Patr. lat. OXXXII 5538—558. 

® Passio 5. Mauritii ete, auctore Sigeberto Gemblacensi, herauögeg. 
von E. Dümmler (Philof. und Hiftor. Abhandlungen der f. Akademie d. Wiſſenſch., 
Berlin 1898, 44—125). 

* Migne a. a. ©. CLXXI 1593— 1604. — Sechs kleinere Gedichte über ben 
hl. Martin veröffentlihte E. Dümmler (Neues Arhiv für ältere deutſche Geſchichte 
XI [1886] 460—466) ; acht Gedichte über denfelben Heiligen H. Delehaye S. J. 
(Analecta Bolland. VII [1888] 307—820). 


368 Dreizehntes Kapitel. 


der in Deutjhland jo volkstümlichen St Chriftophslegende, als Schulübung 
verfaßt von Walter von Speier!. Derjelbe ftudierte unter Biſchof 
Balderih von Speier (970— 987) an der Domſchule dafelbft, wurde Magifter 
an bderjelben, jpäter ſelbſt Biihof von Speier (von 1004—1031). Auf 
den Wunſch Biſchof Balderihs verfaßte er als Subdialon das Leben des 
hl. Chriſtophorus ſowohl in Proja, wobei er Gicero nachahmen follte, ala 
in Berjen, wobei er ſich Vergil zum Vorbild nahın. 

Im erften Buche feines Gedichtes bejchreibt er den Studiengang, den 
er bis dahin durchgemacht und der ihm zu feiner Aufgabe vorgebildet hatte. 
Die erften zwei Jahre waren dem Unterricht im Lejen, Schreiben und 
Ehorgejang gewidmet, Im dritten folgten dann Grammatif und etwas 
Mythologie, woran der angehende Poet ſich fehr ergößte. Gelefen wurden 
der lateinische Homer, Martianus Gapella, Horaz, Perfius, Juvenal, Bosthius, 
Statius, Lucan, vor allem aber Bergil. Zur Einführung in die Dialektit 
diente die „Einleitung“ des Porphyrius in der Überfeßung des Boöthius, 
die Rhetorit wurde nach Cicero, die Nrithmetif und Mufit nad) Boöthius, 
die Geometrie nah Martian Capella erklärt ?, 

In den übrigen fünf Büchern erzählt Walter dann feine Legende. 
Ghriftophorus ift darin ein Kananäer, ift von riefiger Geftalt und hat 
den Kopf eines Kynocephalen. Er heißt urſprünglich Reprobus, führt aber 
ſchon vor der Taufe ein chriftliches Leben und wandert von feiner Heimat 
aus, um einen Führer zum mahren Glauben zu fuchen. An der Grenze 
von Syrien erfcheint ihm ein Engel, unterrichtet ihn, tauft ihn und gibt 
ihm den Namen Chriftophorus. Nun zieht er weiter gen Samon, die 
Hauptjtadt von Syrien, wo der Kriftenfeindlihe König Dagnus herrſcht. 
Durch Predigt und Wunder befehrt er viele Einwohner. Zweihundert Mann, 
welche der König gegen ihn ausfendet, fönnen feinen Bid nicht aushalten, 
fondern kehren umverrichteter Sadhe heim. Zweihundert andere werden nun 
ausgeihidt, denen er freiwillig folgt. Vor dem Glanz feiner Augen ftürzt 
der König jelbft zu Boden, bedroht aber den Heiligen mit dem Tode und 
läßt ihn ins Gefängnis werfen. Allein die vierhundert Mann, die gegen 
ihn ausgefandt worden waren, befehren fih und fterben ala Märtyrer. 
Ebenjo befehren fi die zwei Buhlerinnen Nicäa und Aquilina, welde der 
König zu ihm in den Kerker ſchickt, um ihn zu verführen. Auch fie erleiden 
heldenmülig den Martertod. Nun wird Ghriftophorus ſelbſt mit Ruten 


! Vita et passio 8. Christophori martyris, auctore Walthero Spirensi 
subdiacono, libri sex, metrice, herausgeg. von Pez (Thesaurus anecd. II 3, 27—97) 
und W. Harfter, Münden 1878. — Bol. W. Harfter, Walther von Speier, 
ein Dichter des 10, Jahrhunderts, Speier 1877. 

Mol. F. A. Specht, Gefhihte bes Unterrichtswefens in Deutihland von 
ben älteften Zeiten bis zur Mitte des 13, Jahrhunderts, Stuttgart 1885, 114. 


Epiſche Verſuche und hiſtoriſche Zeitgedichte. 369 


geſtrichen, ihm ein glühender Helm aufgeſetzt. Drei Hofleute, die den König 
wegen ſeiner Grauſamkeit tadeln, werden mit dem Tode beſtraft und ſterben 
als Märtyrer. Der Heilige wird nun auf einen glühenden Roſt gelegt; 
aber während dieſer von der Glut verzehrt wird, bleibt Chriſtophorus un— 
verletzt. Jetzt läßt der König mit Pfeilen auf ihn ſchießen; doch keiner 
der Pfeile trifft. Als der König ſelbſt zu ſchießen verſucht, verletzt er ſich 
dad Auge und erblindet. Chriſtophorus verkündet ihm, er ſelbſt werde 
morgen die Märtprerfrone erwerben, der König aber mit feinem Blute ſich 
die Stirne beftreihen und wieder fehend werden. So gejchieht es. Der 
Heilige wird enthauptet. Der König, dur fein Blut geheilt, nimmt das 
EhHriftentum an und läßt es in feinem ganzen Reiche verfündigen. 

Die Erzählung ift lebendig ausgeführt, die Verſe find gut gebaut, 

die Sprade zwar von Bergil beeinflußt, aber doch mit Wahrung einer 
gewifien Selbftändigkeit, melde der Schule Walter alle Ehre macht. 
. Der großen Sagenftoffe. bemädtigten ſich jetzt weltliche, ritterliche 
Dichter und führten fie im ihren Nationalfpradien aus. Die geiftlichen 
Dichter wandten fih mit Vorliebe der religiöfen Lyrik, der philofophifchen 
Didaktil und einer halb epiihen Halb Iyrifchen Gelegenheitspoefie zu. In 
reicher Menge wurden zeitgenöffiiche Erlebniffe in Lobgedichten, Feftgefängen, 
Zrauerliedern behandelt, bibliihe und antike Stoffe in größeren Epen aus: 
geführt, auch Ereigniffe der Gegenwart und der jüngften Vergangenheit in 
der hergebradten Schulform des Kunſtepos bejungen; doch ein höherer 
Kunftwert läßt ſich den meiften diefer Erzeugniffe nicht beilegen, wenn 
auch einige derfelben zeitweilig Hohe Bewunderung fanden, gelejen, ftudiert, 
wiederholt vervielfältigt wurden und darum. einen gewiſſen Iiterarifchen 
Einfluß erlangten. 

Stleinere Zeitgedichte, in melden fih das epische Element meiſtens mit 
dem lyriſchen miſcht, begleiten gleichſam die ganze Geſchichte, jpärlih von 
der Völferwanderung, häufiger von Karl d. Gr. an, und bilden einen nicht 
ganz unerheblichen Zeil der Geihichtsquellen mancher Perioden !, 

So begegnen uns Lieder auf die Zerftörung von Aquileja (in ſapphiſchen 
Strophen), auf den Sieg Chlotars über die Sachſen, auf den Tod Erichs, 
Grafen von Friaul, auf den Tod Karla d. Gr., auf die Thronbefteigung 
Karls des Kahlen, auf die Schlaht von Fontenay (25. Juni 841), auf 
die Thronbefteigung Lothars. 

Andere Lieder befingen einen Abt Hugo (?), den eben verftorbenen 
Fulko, Erzbifhof von Reims, den Sieg von Brunauborf (936 oder 937), 


ı Edelestand du Me6ril, Po6sies populaires latines anterieures au 
12° siöcle, Paris 1848, 284—294. — Monum. Germ. Hist, Poetae latini aevi 
Carolini I—IV, Berolini 1881— 1899. 

Baumgartner, Weltliteratur. IV, 8. n. 4. Aufl. 24 


370 Dreigehntes Kapitel. 


die Niederlage des Königs Albert, den Tod Heriberts, Erzbiſchofs von Köln, 
den Tod des Konftantius, Schulvorſtehers des Kloſters Lurenil. 

Weiter treffen wir Geſänge auf den Tod Heinrichs IL, auf die Krönung 
Konrads des Salierd, auf den Tod des Schulmeifters Hubert in Orleans, 
auf den Tod Wilhelms des Eroberers. | 

Ein noch aus dem 9. Jahrhundert ftammendes Gedicht feiert in ſapphiſchen 
Strophen das Lob des Biihofs Adalhard von Berona (876—914), ein 
längeres Gedicht in gutgebauten Herametern den „Kaiſer“ Berengar, d. h. 
den italienifhen König Berengar, den Papſt Johann X. 916 zum Kaifer 
feönte. Mehr als anderswo erhielt fih in Italien durch Schulüberlieferung 
ein gewiffer Reit guten Geihmads und techniſcher Gewandtheit in der Hand: 
habung der lateiniſchen Sprade und Metrif. Faſt überall fonft ward die 
Reinheit der antifen Form kaum beachtet, der Herameter mit Vorliebe gereimt 
und mit den vertradteften Künfteleien mißgeftaltet. In ſolchen gereimten Hera: 
metern fahte Wipo, der Kaplan Konrads IL, den „Zetralogus“ ab, welchen 
er an Weihnachten 1041 dem König Heinrid III. überreichte und worin 
er mit taftvollem Lob allerlei gute Räte und Ermahnungen verband. In 
gereimten, rhythmiſchen Verſen it das herzliche Trauerlied abgefaßt, das er 
dem verftorbenen Konrad II. widmete: 


Qui vocem habet serenam, hanc proferat cantilenam 
De anno lamentabili et damno ineffabili, 

Luget omnis homo, forinsecus et in domo, 

Suspirat populus dominum, vigilando per somnum, 
Rex Deus, vivos tuere et defunctis miserere. 


‘ Anno quoque millesimo nono et trigesimo 
A Christi nativitate nobilitas ruit late, 
Et Caesar caput mundi, et cum illo plures summi, 
Oceubuit Imperator Cunradus legis amator. 
Rex Deus, vivos tuere et defunctis miserere !, 


Don guter Haffiicher Bildung zeugt das „Epos vom Sadjen: 
friege“ (Gesta Heinriei imperatoris metrice), in weldem ein un: 
befannter Sänger nah dem Siege Heinrihs IV. über die Sadfen bei 
Homburg (9. Juni 1075) den ganzen Krieg von feinen Anfängen an in 
begeifterter Teilnahme für den fiegreichen König feiert. Die Hriegsereigniffe, 
befonders die Belagerung und die Verteidigung der Burgen, find darin ſehr 
anſchaulich geſchildert. Die Verje fliegen oft jehr gut und im leivlich reiner 
Sprache, doch find fie oft wieder leoninifch gereimt und durd die allgemein 
verbreiteten Freiheiten und Nachläſſigkeiten entftellt?, Eine „Elegie auf 


 Schubiger, Die Sängerfäule von St Gallen 91. 
: Wattenbad, Deutichlands Geſchichtsquellen II 80—82. 


Epifche Verſuche und hiftorifche Zeitgebichte. 871 


den Tod Heinrihs IV.“ verfaßte der Flanderer Blittero, bon der 
aber nur bekannt ift, daß fie, anfnüpfend an den Tod des Kaiſers, das 
Elend der Welt beflagte. Dagegen wimmelt die Lobjhrift, welche Biſchof 
Benzo von Alba in gereimter und rhythmiſcher Profa auf denjelben 
Kaifer fchrieb, von unwürdigen Schmeidheleien jowie von den gemeinften 
Shimpfreden auf jeinen gewaltigen Gegner Gregor VII. und deſſen An- 
hänger!, 

In alphabetiihen Rhythmen harakterifierte Adelmann, Lehrer zu 
Lüttich, jpäter (um 1048) Biſchof von Brescia, die Männer feiner Zeit, 
welde aus der Lüttiher Schule hervorgingen, ein überaus anziehendes 
Kleinbild der Gemütlichkeit und des literarifchen Intereſſes, das an jener 
Schule unter der Leitung Fulberts und Adelmanns herrfchte, und des 
Einfluffes, den fie bis nah Paris und Tours, nah Burgund und ins 
Land der Allobroger, nah Verdun und Köln, ja bis nad Italien hinüber 
ausübte ?, 

Andere Zeitgedichte befchäftigen fi mit dem Siege der Pijaner über 
die Sarazenen (1088), mit der Belagerung und Eroberung der Stadt Como, 
mit. den Waffentaten der Einwohner von Perugia (Historia metrica de 
rebus a Perusinis gestis), mit dem Lobe der Stadt Bergamo. Ascellin 
Adalbero, Biihof von Laon (977—1030), richtete an Robert „den Großen“ 
ein jatirifches Gediht. Abbo behandelte in einem größeren Gedichte die 
Belagerung von Paris, Wilhelm von Apulien die Taten der Normannen, 
der Biihof Donizo das Leben der Marfgräfin Mathilde. Wohl noch 
aus dem Anfang des 12. Jahrhunderts ftammt das ältefte lateiniſche Gedicht 
auf den Eid Gampeador in japphiichen Strophen. 

Zahlreihe Gedichte riefen natürlich die Kreuzzüge hervor, bejonders 
der Kampf um Yerufalem. Das Lied Ierusalem mirabilis enthält eine 
allgemeine Aufforderung zum Sreuzzug, das Lied Nomen a sollemnibus 
einen Jubelgeſang auf die Eroberung von Jeruſalem. Andere Gedichte 
behandeln die Niederlage der Kreuzfahrer durch Emad-eddin Zenfi (1146), 
den Feldzug Amalrichs nad Ügypten (1168), den Fall von Jeruſalem 
(1187) und den darauffolgenden Kreuzzug, den Krieg mit Saladin und 
den Fall von Accon (1291)3, 

Don dem Solymarius, einem größeren Gedicht, das die Taten der 
eriten Sreuzfahrer feierte, find bis jegt nur einzelne Fragmente aufgefunden 








ı Ebd. II® 202. 
®? Adelmanni Rhythmi alphabetici (Migne, Patr. lat. CXLIII 1295 
bis 1298). 
> da Me&ril, Poesies populaires latines anterieures au 12° siöcle (1843) 
297 ff; Po6sies populaires latines du moyen-äge (1847) 2355 ff. — Wattenbad 
a. a. O. II® 437. 
24* 


372 Dreizehntes Kapitel, 


worden!. Der Berfaffer, der dasſelbe felbft als Jugendarbeit bezeichnet, 
widmete in xeiferen Jahren dem Kaiſer Friedrich I. Rotbart ein jorgfältig 
durchgearbeitetes Epos in zehn Gejängen (6576 Berjen), welches die Taten 
diejes Kaiſers bis zum Jahr 1160 unter dem Titel Ligurinus befingt. 
Es ſticht duch feine Abrundung wie durch befjere Sprade und Versbau 
vor allen Erzeugniffen diefer Zeit hervor. Dod war e3 völlig verſchollen, 
bis Konrad Geltes eine Handſchrift desfelben in dem fränfifchen Kloſter 
Ebrach fand und e& 1507 druden ließ. Später (1737) von Sendenberg 
als Fälſchung erklärt, ift e& von neueren Fordern, A. Pannenborg und 
Gafton Paris, wieder als echt verteidigt worden ?. 

Gunther, der Verfaſſer der zwei Gedichte, unterjchreibt fi) bei dem 
einen derjelben als „Scholaſtikus“. Den Solymarius widmete er Konrad, 
dem vierten Sohne des Kaiſers, den er jeinen Zögling nennt; er ift aljo 
jein Erzieher gewejen. Später ift er in das Eiftercienjerklofter Päris (oder 
Pairis) bei Urbeis im Elſaß eingetreten und deffen Prior geworden. Ein 
asketiſcher Zraktat über Gebet, Falten und Almoſen läßt ihn als einen 
Theologen von gediegenfter Bildung und reicher Belefenheit, zugleich als 
einen Meifter lateiniſchen Projaftils erkennen. Eine andere von ihm ver: 
faßte Schrift über die Eroberung Konftantinopel3 durch die Sreuzfahrer, 
melde auf Mitteilungen feines Abtes Martin von Päris fußt, gehört zu 
den mwertvollften Quellen, welche über den vierten Kreuzzug vorhanden find. 
Über Friedrih I. war er nit bloß dur das Wert Ottos von Freifing 
und ſeines Fortſetzers Rahewin fehr genau unterrichtet, jondern aud mit 
anderweitigen Berichten über feine Zeit vertraut. 

Indem er nun die nächftliegende Zeitgefhichte zum Vorwurf feiner 
Didtung nahm, mußte er natürlih auf die dankbarfte Aufgabe des Epilers, 
die eigentliche Fiktion, die freie Geftaltung eines gleihfam flüjfigen Sagen: 
ftoffes, verzichten. Friedrich der Notbart war für ihn noch nicht der ehr: 
würdige Bewohner des Kyffhäuſers, ſondern der waftengewaltige Hohenftaufe, 


! Serauögeg. von Wattenbach, Archives de l’Orient Latin I (1881); 
551—561. Mi; 

® Guntheri poetae Ligurinus sive de rebus gestis Imp. Caes. Friderici 
Aug. cognomento Aenobarbi libri docem: Augsburg 1507; Straßburg 1531 ufw. 
C. 6. Dümgé, Heidelberg 1812; abgedbrudt bei Migne, Patr. lat. CCXII 327 
bis 476. Deutfh von Theod. Bulpinus, Der Ligurinus Gunther von Pairis 
im Elfaß, Straßburg 1889. — A. Bannenborg, Über ben Ligurinus und andere 
Abhandlungen, in Forfhungen zur deutſchen Geſchichte XI (Göttingen) 163 fi; 
XI 227 ff; XIV 185 ff; XIX 611 ff. — Derf., Der BVerfaffer des Ligurinus. 
Programm des Gymnafiums Göttingen (1883). — Gast. Paris, Dissertation 
eritique sur le po&me latin du Ligurinus, attribu& a Gunther, Paris 1872. — 
E Michael, Gefhichte des deutſchen Volfes vom 13. Jahrhundert bis zum Aus— 
gang bes Mittelalters III, Freiburg i. B. 1908, 297—302. 


Epifche Verſuche und hiſtoriſche Zeitgedichte. 973 


der gegen den Papſt und gegen die Welfen zu Felde zog, der größte Herrſcher, 
den ſeit Auguſtus und Karl dem Großen die Welt gejehen. Er mußte ſich 
darauf beſchränken, die allgemein befannten politifhen und kriegeriſchen Nach— 
richten im Berje zu bringen. Soweit ſich darin poetiſche Begabung entfalten 
fonnte, zeigt fie ji in ungewöhnlichem Make. Das Latein ift ihm durchaus 
feine ungewohnte, mühjam angequälte Waffenrüftung; er beherricht es völlig 
als natürliches, wie angegoffenes Gewand; er weiß darin in lebhafteiter, 
natürlichſter Darftellung zu erzählen, zu zeichnen, zu dharakterifieren, zu reden, 
zu fefleln, hinzureißen. 

So ſchildert er 3.8.1 in wahrhaft ergreifender Weife, wie Papft Hadrian 
dem herannahenden Kaijer entgegenzieht, gleich einem greifen Vater, der dem 
nad langer Abweſenheit zurücklehrenden Sohne fein Leid klagt, wobei freilich 
gegen alles kanoniſche Recht dem faiferlihen Sohne alle Herrſchaft und 
Gewalt im Haufe zugeteilt wird. Meifterlich wird dann der Haupturheber 
der Wirren, Arnold von Brescia, gezeichnet: 


Der Stifter all des Unheils, all bes Gewirres war 

Arnold, den zum Verderben uns Brescia einjt gebar; 

Mit großen Koften hat ihn Frankreich bei fi ernährt, 

In Schranken ihn gehalten, ihm gaftlih Dach gewährt, 
Bis er zum Heimatlande dann endlich wieder fam 

Und mit hochweiſen Reden das Volk gefangen nahm, 

Die KHlerifei verfolgte mit grimmen Spott und Haß, 

Den Mönchen Feindſchaft fäte und Streit ohn’ Unterlaß, 
Um feiles Lob ben Pöhel mit Schmeichelei betrog, 

Bon Prieftern, ſelbſt vom Papfte die ſchlimmſten Mären log, 
Und aller Ohren füllte mit ketzeriſchem Rat, 

Mit unerhörter Lehren verweg’ner Dradenjaat: 

Nicht Geld, nit Grund und Boden ber Kirche ſei gewährt, 
Derluftig aller Güter jei Mönch und Pfaff erklärt, 

Kein Abt fteh’ etwas höher als Bürger oder Knecht, 

Kein Biſchof könne geben Geſetz und ſchaffen Redt. 


Nahdem der Dichter dann auch mande Mikftände jener Zeit erwähnt, 
bemerkt er jehr richtig, daß Arnold fie ausgebeutet Habe, um das Bolt 
zu täujchen. 


Mandy gute Mahnung gab er, die konnte heilfam fein, 
Ward fie befolgt; doch miſchte er immer Faljches drein. 
Fürwahr, die Kunft zu täuſchen er fäuberlich veritand, 
Indem er Falfches, Wahres in einen Anäuel wand. 

Das Falſche Tiebt ja keiner: nur durch ber Wahrheit Schein 
Schleiht wie ein Dieb der Irrtum fih in bie Seelen ein. 
So ging auch mit dem Glauben er gar betrüglid um; 





I Lib. 8, ®. 242 fi. 


374 Dreizehntes Kapitel. 


Nicht wahre Ehrfurdt hegt’ er vor Gott und Heiligtum, 
Nicht feſt an Überlieferung hielt er und Gottes Schrift; 
In Fromme Honigworte mifht’ ruchlos er fein Gift. 


Ein moderner Zeitungsfchreiber möchte den gewandten Ghibellinen um 
den fein ftilifierten Brief beneiden, melden diefer durch den Erzbifhof Rainald 
bon Daffel gegen die zeitliche Gewalt des Papftes und den Beſitz des Kirchen: 
ftaates jchreiben läßt!. Dieſe ghibellinifche Begeifterung läßt es erflärlich 
erjheinen, dat das Gedicht, lange nachdem das Papfttum fiegreih aus dem 
Kampfe gegen die Hohenftaufen hervorgegangen war, noch auf den Inder 
gejeßt wurde. Doch formell hat e& zweifelsohne Hohe Vorzüge — und auch 
andere von der Politit unberührte Stellen, wie die verjchiedenen Kampfes: 
fhilderungen, bejonders die Erzählung vom alle Mailand, der Schluß— 
fataftrophe des Ganzen, verraten ein glänzendes poetiſches Talent?. So 
kann nur ein wirkliher Dichter erzählen und ſchildern. 

Einen durchſchlagenden Erfolg hatte von den epifchen Verſuchen diefer 
Zeit nur die Alerandreis des Walter von Chätillon, etwa um 
das Jahr 1180 nah fünfjähriger Arbeit vollendet und dem Erzbiſchof 
Wilhelm II. gewidmet, der von 1176 bis 1201 die Diözefe Reims regierte. 
Der Dichter ftammte eigentlih aus Lille; doch blieb ihm der Name von 
Chaͤtillon hängen, wo er feine Jugend verbradte. Er wurde ſpäter Propft 
der Stiftsherren von Tournai. Das Gediht, das 5464 Herameter in 
zehn Büchern umfaßt, fennt noch nicht die Aleranderfage, wie fie der Orient 
in buntefter Fülle ausgeftaltet hatte, der Geift der Kreuzzüge dann mit 
ritterlihen Anfhauungen durchwob. Walter folgt einfah dem Bericht des 
Duintus Eurtius und jpinnt deffen Erzählung etwas weiter aus, in einer 
Sprade und Darftellung, welche, wie jene des Ligurinus, eine gründliche 
Schulung an Vergil und den jpäteren lateinifchen Epikern verrät, aber die: 
jelben keineswegs ſtlaviſch nachahmt, fondern mit dem ertvorbenen Sprad: 
ihab frei jhaltet und waltet, allerdings im Rahmen eines würdevoll ab: 
gemefjenen Schulgefhmads, ernft und pathetiſch, aber ohne tiefe, mächtige 
Leidenihaft und ohne Fühlung mit dem Volksleben jener Zeit. Eine gewiſſe 
Einheit erhalten die verſchiedenen Kriegsabentener nicht nur in der Perſon 
und dem Charakter des macedoniſchen Eroberer, ſondern aud in der tief 
tragischen, zugleich ernft religiöfen Auffaffung des Dichters, der in dem ber: 
frühten Zujammenbrud der macedonishen Weltherrſchaft das allgemeine 
Gefe der irdiſchen Vergänglickeit, eine verdiente Strafe ftolzen Übermutes, 
das Walten einer höheren Vorjehung betrachtet. 

Am vollſten klingt diefe Betrachtung in der ergreifenden Schlußpara- 
baje aus: 





! Lib. 4, ®. 567 fi. ® Lib. 10, ®. 820 ff. 


Epifche Verſuche und hiftorifche Zeitgebichte. 375 


Gluͤcklich der Menſchen Geflecht, wenn ſtets es bie ewigen Güter 
Hätte vor Augen und ftets im Bangen harrte des Endes, 

Das dem Hohen der Welt fo gut wie bem armen Plebejer 
Unverjehens fi) naht, indes er mit großer Gefährbe 

Ninget nad) Gut und nad Geld, und bie blöden fterblihen Augen 
Flüchtig umflattert ber Ruhm mit feinen trüg’riihen Schwingen. 
Während nad käuflichen Ehren wir frucdtlos Hafen und jagen, 
Pflügen bie Fluten bes Meers, und überbrüffig bes Lebens, 
Haupt und Waren zugleich den ſchäumenden Wellen vertrauen, 
Während wir troßen dem Froſt ber Alpen und drohenden Räubern, 
Um nur bes geizigen Roms Schußwälle und Binnen zu ſchauen, 
Und vom gewonnenen Ziel vielleiht auf glüdlihen Pfaden 
Heimwärts lenken den Schritt zu dem Lande, das und geboren, 
Siehe, da faht uns im Nu ein winziges Fieber und ſchleudert 
Alles in Trümmer, was wir in langem Leben gefammelt. 
Alerander, dem nicht genügten die Grenzen bed Erbballs, 

Schau’, ihm genügt jegt ein Grab, aus Marmorfeljen gehauen, — 
Fünf Fuß mißt der Palaft — da ruht bie Leiche bes Helden, 
Spärlih mit Erbe bedeckt — fein Reid, bis dab Ptolemäus, 

Der Ägypten von ihm als König geerbt, die verehrten 

Überrefte, voll Scheu von dem ganzen Erdkreis betradptet, 

Führt in bie herrliche Stabt, die bes Fürften Namen verewigt !. 


Das find nicht mur ſchöne, kunſtvolle Verje, das ift mirkliche Poefie. 
Sole Stellen find aber nicht nur vereinzelt und kümmerlich vorhanden; 
die ganze Dichtung ift reich an jhönen Zügen, treffenden Schilderungen und 
gehaltreihen Sprüden, die fih dem Gedächtnis einprägen. 

Frei bon erotiſchem Beifab, war das Gedicht wie gemacht zur Jugend: 
und Schullektüre. Es ift darum nicht zu verwundern, dab es ſchon ein 
Jahrhundert fpäter, zur Zeit des Heinrich von Gent (1280), in den Gram— 
matikſchulen jo ſehr geſchätzt wurde, daß die Lejung der lateinischen Klaſſiker 
darüber zurüdtreten mußte. Auh an Widerſpruch fehlte es zwar nidt. 
Des Dichters Zeitgenofje und Landsmann Alanus von Lille nannte ihn einen 
„Mävius“, d. h. ſchlechten Dichter und brannte ihm folgende Kritik auf: 

—— Nlie 

Maevius, in caelos audens os ponere mutum, 
Gesta ducis Macedum tenebrosi carminis umbra 
Pingere dum tentat, in primo limine fessus 
Haeret et ignavam queritur torpescere musam, 


Dies tat indes dem Gedichte feinen Eintrag. Andere Dichter, wie 
Wilhelm Brito, legten die größte Wertfhäkung dafür an den Tag. Es 
hielt fich vielfah in den Schulen, wurde von 1513 an häufig neu gedrudt? 


! Migne, Patr. lat. CCIX 572. 
® Alexandreis sive gesta Alexandri Magni libris X comprehensa auctore 
Gualtero de Castellione: Straßburg 1518; Ingolftadt 1541; Lyon 1558; 


376 Dreizehntes Kapitel. 


und noch 1693 von dem Benediktiner P. Athanafius Gugger in St Gallen 
wieder herausgegeben. Seine Wirkſamkeit hat ſich alfo bis ins 18. Jahr- 
hundert Hinein erftredt. 

Neben andern Schwächen künſtlicher Schulpoefie leidet die Alerandreis 
auch an der Neigung zur Allegorie, wo ſolche feineswegd in der Sadıe 
begründet ift, jondern in froftiger Weiſe an die Stelle des Wirklichen und 
Konfreten tritt. So wird 3. B. im zehnten Buche der frühe Tod Aleranders 
nicht durch menſchliche oder einfach religiöfe Elemente motiviert, jondern durch 
allegorifche Figuren, welche jenen des Martianus Gapella nachgebildet find. 
Ganz erboft darüber, daß Alerander den Erbfreis für feinen Ehrgeiz zu enge 
fand, fteigt die „Natur“ im die Unterwelt hinab, wo in dem von taujend 
Kaminen (mille caminis) brodelnden Höllenfeuer die Superbia, die Libido, 
die Ebrietas, die Gula, die Ira, die Proditio, die Detractio, der Livor und 
die Hypokriſis gequält werden, und Hagt ihnen ihren Verdruß, worauf fi 
die Proditio erhebt und raſche Hilfe verjpricht, indem fie dafür ſorgen will, 
dat Antipater den König vergiftet. Auch diefe Stelle ift an ſich gut aus: 
geführt, in lebhafter Charakteriftit und treffendem Ausdrud; aber all das 
vermag eben die abftraften Lafterbegriffe nicht zu fonfreten, lebensvollen 
Geftalten umzuwandeln. 

Faſt ohne poetiſchen Wert ift das epifch-didaktiiche Boem vom „Machomet“ 
(Otia Walterii de Machomete lege) in 544 Diftihen!. Walter fügt 
feine Erzählung auf den Bericht feines Abtes Warnerius, diefer hinwieder 
auf einen wadern Kleriker an der Fire von Send, namens Paganus 
(cui nomen erat Paganus, honestus, clericus et Senonum magnus 
in ecclesia), und diefer endlid auf die Nachricht eines befehrten Arabers, 
der bon Nugend auf in der Lehre Mohammeds unterrichtet und, obwohl 
Sklave, in allen freien Künften wohl bewandert war, und den er zeitweilig 
bei fih Hatte. Das ältefte Manuffript ift vom 15. Juli 1199 datiert. 
Du Meril vermutete als Verfaffer einen Gualterus von Gompiögne, der Mönch 
zu Marmoutierd war, wo 1170 ein Warnerius als Abt genannt wird. 

Ein anderes Gedicht über Mohammed (über 1100 Verſe) verfaßte 
Hildebert (Historia Mahumetis). — An die lateinifhen Gedichte lehnt 
ih der altfranzöfiihe Roman Mahomet von Alerander du Pont. 

Bei Walter jagt der Einfiedler (Bohaira ou Bahira) dem Mohammed 
alfo voraus: 


— no 





Um 1559; St Gallen 1659 1693; nad ber St Galler Ausgabe von 1659 abgedruckt 
bei Migne, Patr. lat, CCIX 463—574. — Neuausgabe von Müldener, Leipzig 
1863. — Ein noch unediertes Gedicht Walters herausgeg. von Fr. Novati (M&- 
langes Paul Fabre, Paris 1902, 265—278). 

ı E. du Me&ril, Poesies populaires latines du moyen-äge (1847) 379 
bis 415. 


Epiſche Verſuche und Hiftorifche Zeitgedichte. 377 


Wahrlich, fag’ ich dir, dur bift in des Teufels Krallen: 
Glauben und Religion wird vor bir zerfallen; 

Ehe wirft und Jungfrauſchaft du zugleich vernichten, 
Keuichheit wirft als Ehebrud du verdammend richten, 
Willkür wird mit ſchnöder Macht heil'ges Recht erdrüden, 
Gottentfremdbung wird im Keim Frömmigkeit erſticken; 
Fleiſchliche Beſchneidung wirft bu ftatt der der Seelen, 
Statt der Taufe heil'gem Bad, aller Welt befehlen; 

Kurz den alten Adam wirft wieder du erweden, 

Sitten aber und Geſetz ganz zu Boden fireden!. 


Gegen Ende der Regierung Heinrich IT. von England (1154—1189) 
widmete Joſeph von Ereter (Iseanus) dem Erzbiihof Baldwin von Ganter: 
bury ein epifches Gedicht über dem trojanifchen SKrieg in jechs Büchern. Er 
ſchrieb auch eine Antioheis, im welcher er die Kreuzfahrt des Richard 
Löwenherz verherrlichte, von welcher aber nur ein Bruchſtück erhalten ift?. 
Der bereit3 erwähnte Wilhelm Brito, um 1150 in der Bretagne geboren, 
Hofkaplan des Königs Philipp Auguft von Frankreich, befang diefen König in 
feiner Philippis (9201 Herameter in zwölf Büchern) zwiſchen den Jahren 
1214 und 12243. Ein ähnliches epifches Lobgediht widmete Nikolaus 
de Braja dem König Ludwig VIII. (Gesta Ludovici VII.) um 1226, 
Theodorus Balliscolor dem 1265 verftorbenen Papfte Urban IV. Einen 
nicht geringen Ruf ala Dichter erwarb fich Peter (von) Riga, Stiftäherr zu 
Reims, mit feiner Aurora, worin er in mehr als 15000 Verſen das Alte 
und Neue Zeftament, vorzugsweiſe nach der beliebten allegoriftiichen Seite 
hin bearbeitetet. Aegidius von Paris, der auch ein größeres Werk über 
Karl d. Gr. (Carolinus) verfaßte, ergänzte das unvollendete Werk, und 
Guido von Vicenza, Biſchof von Ferrara, ahmte es ein Jahrhundert fpäter 
in feiner Margarita Biblica nad. ine Fortfegung der Aurora ift auch 
der Hortus deliciarum des Hermann, Kuſtos zu Verden. 

In 500 Diftihen verberrlichte der Magifter und Schulmeifter Juftinus 
zu Lippftadt (zwiſchen 1259 und 1264) den Stammheren Bernhard von 
Lippe, von deffen elf Kindern drei Söhne Bilhöfe wurden und der jelbft 
noch Mönd und Abt wurde und endblih al3 Milfionär dem Biſchof Albert 


ı 9. 57—66. 

2 H. Morley, English Literature 65 66. 

* Herauägeg. von J. Dreyer, Antwerpen 1534; P. Pithou, Frankfurt 1596; 
Barth, Beipzig 1657. 

+ Das Merk erfreute fich der größten Beliebtheit. Ungewöhnlic viele Hand— 
ihriften besjelben find darum erhalten; die königliche Bibliothet zu Paris allein 
bejaß deren fünfzehn. Ganz gebrucdt wurde es indes nie, Proben bei P. Leyser, 
Historia poetarum medii aevi, Magdeburgi 1721, 692 f; Migne a. a. ©. 
CCXII 17—42; Histoire litteraire de la France XVII, Paris 1832, 26-35. — 
®gl. Migne a. a. DO. COXII 41-46. — Hist. litt. de la France XVII 86—69. 


378 Dierzehntes Kapitel. 


von Riga nad Livland folgte. Der flandrifhe Mönch Walther de Muda 
befang (um 1284) den Biſchof Trophimus in Norwegen, Heinrih Rosla 
aus Niemburg den Kampf, der 1287 von Heinrih dem Wunderbaren, 
Herzog bon Braunfchweig, um die Feſte Herlingdberg geführt ward. Franz 
de Keyſere (der fih Cäſar nannte) ſchrieb um 1293 ein verfifiziertes Leben 
des hl. Bernhard. 

Die meiften diefer epiſchen Verſuche haben geringen poetifchen Wert, 
bezeugen aber immerhin, daß die antifen lateiniſchen Dichter eifrig gelefen 
wurden und dab ein reges literariiches Streben vorhanden war. 


Vierzehntes Kapitel. 


Die Humaniften und die Schulpoefie des 12. und 
13. Zahrhunderts. 


Aus der borangegangenen Darftellung erhellt zur Genüge, dab das 
Studium und die Kenntnis der altklaſſiſchen Literatur, beſonders der latei- 
nifhen, nie ganz untergegangen, fondern bald in größerem, bald in ge 
ringerem Umfang die Grundlage der literariſchen Bildung geblieben ift. 
Meder Theologie und Philojophie noch Geſchichtſchreibung und Poefie ver: 
mochten fi davon freizumaden und haben dies im Grunde aud nicht 
angejtrebt. Neben einer Latinität, melde fi fait mur um den neueren 
chriſtlichen Gehalt fümmert und daher die altllaffiihe Schönheit von Form 
und Sprade völlig vernadhläffigt, finden wir faft durch alle Jahrhunderte 
Verſuche, auch den antifen Gefhmad und Yormfinn wieder zu erneuern. 
Bon Minucius Felix läßt fi dieſes Streben nad einer Renaiffance an einer 
langen Reihe von Namen bis in die Nähe Dantes verfolgen, der gewöhnlich 
als der erfte Vorläufer der „Renaiffance“ und des „neueren Humanismus“ 
gepriefen zu werben pflegt. Ambrofius, Prudentius, Priscian, Sedulius, 
Ennodius, Boöthius, Gaffiodor, Venantius Fortunatus, Aldhelm, Beda, 
Bonifatius, Alluin, Hroswitha, Hildebert von Tours, Johann von Salisbury, 
Aanus ab Inſulis, Peter von Blois bezeichnen die Bauptringe einer Über: 
lieferung, die nie völlig unterbrochen worden ift. 

Daß in der Wertihäbung des Mittelalters die Theologie den erjten 
Rang einnahm, die Philofophie den zweiten, die übrigen Wiffenfchaften und 
die Literatur erft an dritter Stelle famen, rührt keineswegs von ehrgeizigen 
oder herrſchſüchtigen Beftrebungen der Kirche Her, ſondern liegt in der Natur 
der Sache jelbft begründet. Selbft bei den Hellenen wurde die Poeſie durch 
Politit und Rhetorik, diefe durch die PHilofophie und ſchließlich auch dieſe 
durch die encyhklopädiſche Gelehrſamkeit der Alerandriner zurlidgedrängt, und 


Die Humaniften und bie Schulpoefie des 12. und 13. Jahrhunderts. 79 


auch bei den Römern hat die forenfiihe und philoſophiſche Bildung vor der 
bloß poetiſchen und literariihen faft beftändig den Vorrang behauptet. Man 
kann darum auch der mittelalterlihen Scholaftit faum einen Vorwurf daraus 
machen, wenn fie zeitweilig das Intereſſe für die literarifchen und Hiftorifchen 
Studien zurüdgedrängt hat. Die größten Theologen des Mittelalters, wie 
Thomas von Aquin und Bonaventura, huldigten übrigens durchaus feiner 
jolhen Einfeitigkeit. Diefelbe zeigt fi erft feit dem Auffommen der Uni: 
verfitäten und ift lediglih der Konkurrenz, der Disputierfudht und dem 
Strebertum zuzujchreiben, das fih an denſelben entwidelte. Es fehlte auch 
nit an Männern, welche den Wert der humaniſtiſchen Studien wohl zu 
würdigen berftanden und nachdrücklich für fie eintraten. 

In die Zeit der erften Salier hinein reiht Marbod, etwa um 1034 
in der Bretagne geboren, von 1067—1081 Scholaſtikus an der Domjdule 
bon Angers, dann zum Biſchof von Rennes erhoben!. Nah achtundzwanzig— 
jähriger Verwaltung des Bistums zog er ſich ala ſchlichter Benediktinermönd 
in das Slofter des HI. Albinus zu Angers zurüd und ftarb hier 1123. 
Er hat die Poefie eigentlih ſchulmäßig betrieben und darum eine beträdht- 
liche Anzahl Heiner Werke in Verſen Hinterlaffen: ein „Büchlein von den drei 
Feinden“ (den Weibern, dem Geiz und der Ehrſucht), die bereits erwähnten 
Legendendichtungen über Theophilus, die malfabäifchen Brüder, den hl. Lau— 
rentius, das Martyrium des Hl. Viltor, des Hl. Mauritius und feiner Ge: 
noffen, der Hl. Felir und Adauctus, den Heiligen Biſchof und Belenner 
Maurilius. Daran reiht fih eine Sammlung Heinerer Gedichte, eine 
Sammlung didaktiſcher Sprüde über die „Redefiguren“ (De ornamentis 
verborum) und ein größeres didaktiſches Gedicht (Liber decem capitu- 
lorum)?. Nahezu alles ift in leoniniſchen, d. h. gereimten Herametern 
oder Diftihen abgefaßt, in welchen Marbod nicht geringe Gewandtheit ent: 
widelt. Er ſcheint fi dabei mehr der allgemeinen Mode unterworfen zu 
haben, als jeinem eigenen Gejhmad gefolgt zu fein. Das „Bud von den 
zehn Kapiteln“ wenigſtens, das er erft in feinem fiebenundjechzigiten Jahre 
ſchrieb, ift in gewöhnlichen (nicht gereimten) Herametern abgefakt, die im 
ganzen gut fließen und feineres Formgefühl verraten als viele der leo: 
niniſchen Neimereiend. Das merkwürdige Gedicht, wohl von Prudentius 
angeregt, beginnt mit einer Art Widerruf feiner jugendlichen Gedichte, die 
er ungeziemender Leichtfertigkeit anflagt. Er will es nun befjer machen, 





! L. Ernault, Marbode öv&que de Rennes; sa vie et ses euvres (1085 
a 1123), Rennes 1890. 

2 Ausgaben: Edit. princeps, Paris 1531; Köln 1539; Bafel 1555; Göttingen 
1799; von Beaugenbdbre, Paris 1708; danach bei Miene, Patr. lat. CLXXI 
1457— 1784. 

> Migne a. a. ©. CLXXI 1694—1716. 


380 Vierzehntes Kapitel. 


ftellt Normen für eine ernitere, würdigere Schriftftellerei auf, ſchildert dann 
den mannigfadhen Jammer der verjchiedenen Lebensalter in jehr trübjeligen 
Farben, und behandelt in den weiteren Kapiteln das verhängnisvolle Treiben 
ſchlechter Weiber, das jegensvolle Wirken braver Frauen, Laften und Freuden 
des Greifenalters, die Torheiten des Fatalismus und der Aftrologie, die 
Falſchheit des Epifureismus, das Glück wahrer Freundichaft, den Nuten 
und die Vorteile des Todes und endlich die Auferftehung der Leiber!. Weit 
mehr Anklang als diejes ernfte Mahn- und Troftbüchlein des greifen Biſchofs 
fand jein „Bud von den Steinen“, eine Beihreibung der Eigenjchaften und 
Kräfte, welche der damalige Volksglaube den einzelnen Edelfteinen und Steinen 
zufchrieb?. Es wurde wohl jhon gleichzeitig ins Altfranzöfifche überſetzt. 
Mehr poetiihen Wert haben einige von Marbods Hleineren religiöjen Ge— 
dichten, die in zwei Gruppen gefammelt find. 

Marbods Gedichte find zuerft als Beigabe zu den Werten des Hilde 
bert von Tours gedrudt worden, eines etwas jüngeren Zeitgenoffen, der 
aber als Dichter ihn weit überragt und neben Adam von St Victor den 
größten Hymmendichtern des Mittelalters beizuzählen ift. Hildebert wurde 
1056 ala Sohn eines Verwalters auf dem Schloffe Lavardin (bei Montoire) 
geboren und erhielt eine jorgfältige Ausbildung; wo, ift ungewiß. Biſchof 
Hoel von Le Mans übertrug ihm die Leitung jeiner Domſchule und ernannte 
ihn (1091) zum Ardidiafonus. Nah dem Tode des Biſchofs (1096) wurde 
Hildebert felbft zu deffen Nachfolger erwählt. Als Biſchof erwarb er fi) 
mitten in ſchwierigen Zeitläufen um die Kirche die vieljeitigften Verdienſte, 
nahm 1119 Anteil an dem Konzil, das Papſt Galirtus IL in Reims 
hielt, und wurde 1125 auf den ehrwürdigen Metropolitanfig von Tours 
erhoben. Als Erzbiſchof entfaltete er eine ebenſo ſegensreiche Tätigkeit bis 
zu feinem Zode (1133). Seine ausgebreiteten klaſſiſchen Studien und 
poetiihen Werte fallen Hauptfählih in die Zeit jeiner Wirkſamkeit ala 
Domfholafter zu Le Mans; er ſcheint der Poefie auch nachher nicht ganz 
untreu geworden zu fein, aber fie war für ihn nicht eigentlicher Zebensinhalt 
und Hauptftreben, jondern nur eine freundliche Zufpeije des Lebens. Dennoch 
hat er ziemlich viele Gedichte Hinterlaffen, und im mehreren berjelben zeigt 
ih ungewöhnliche Begabung ?. 


! Oratio ad Dominum, bei Trench, Sacred Latin Poetry* 280 281. — 
Gebet an Gott ben Vater Universae Creaturae bei Fortlage, Gefänge ber dhrift- 
lihen Vorzeit 275. — Bußlied Cum recordor, quanta cura ebd. 273. 

? Carmina varia bet Migne, Patr. lat. CLXXI 1647—1685 1718—1736. 

> Venerabilis Hildeberti opp. tam edita quam inedita edd. An- 
tonius Beaugendre, Parisiis 1708. — Migne a. a. ©. CLXXI 1—1458. 
Deservilliers, Un &väque du douzi&me siecle, Hildebert et son temps, 
Paris 1876. — Höbert-Duperron, De venerabilis Hildeberti vita et scriptis, 


Die Humaniften und die Schulpoeſie des 12. und 13. Jahrhunderts. 381 


Umfangreichere Gedichte behandeln: „Die Heilige Meſſe“, „Die heilige 
Euchariſtie“, „Das Sechstagewerk“, „Die Weltordnung“, „Den Schmud 
der Welt“, ausgewählte Stellen aus den „Büchern der Könige”, „Die Ge- 
ſchichte der Suſanna“, „Die Makfabäer“, „Den hi. Vincentius“, „Das 
Martyrium der Hl. Agnes”, „Die Auffindung des heiligen Kreuzes“, „Das 
Leben der Hl. Maria von Ägypten“. Daran reihen ſich zwei Sammlungen 
Heinerer Gedichte: eine von moraliiden Sprüden aus dem Alten Teftament, 
die andere bon chriſtlichen Inſchriften. Wieder ein längeres Gedicht Führt 
und die Tiergeflalten des Phyſiologus in Herametern vor, mwährend ein 
anderes (in leoninischen Diftichen, in jechzehn Gefänge geteilt) das Leben des 
Pieudopropheten Mohammed in überaus merfwürdiger Faſſung erzählt, ein 
noch unvollendetes (in fünfzehn Gejängen — Liber dietus mathematicus) 
gegen die Aftrologie gerichtet ift. Eine erfie Sammlung „Bermifchter Ge: 
dichte” umfaßt hundertvierzig Nummern, eine zweite fiebzehn, ein Supplement 
noch neun weitere!, Iſt aud unter der kritiſchen Forſchung neuerer Zeit die 
Zahl der Gedichte, die ganz unzweifelhaft von Hildebert herrühren, ziemlich 
zufammengejchmolzen, jo behalten erftlich doch alle nahezu ausnahmslos ihren 
Wert als Erzeugniffe diefer Periode, und für Hildebert ſelbſt bleiben ihrer 
genug gerettet, um feine herborragende literariihe Bedeutung, feine viel: 
jeitige Bildung, jeine Formgewandtheit, fein wirklich poetiſches Genie ſicher— 
zujtellen 2, 

Am meisten Anklang von feinen Gedichten fanden bei den Zeitgenoffen 
zwei „Römiſche Elegien“. Die erftere erwähnen nicht nur Helinand und 
Vincenz von Beauvais, Wilhelm von Malmesbury nahm fie unter dem 
Namen des Verfaſſers ganz in feine Chronik „Won den Taten der Eng: 
liſchen Könige“ auf, obwohl fie faum in den Tert paßte. Die zwei Ge: 
dichte verdienten die Aufmerkſamkeit. Sie jpiegeln den lebendigen Eindrud, 
den die Trümmer des antifen Rom, wie die Leiden des päpftlichen Rom 





Bajocis 1855. — Haurdau, Meölanges poétiques d’Hildebert de Lavardin, 
Paris 1882, — Dieudonne, Hildebert de Lavardin, Evöque du Mans, Archeve- 
que de Tours. Sa vie, ses lettres, Paris 1898. 

ı Haureau.a..a. O. 217 218. 

? Sicher von Hilbebert flammen Die Versus de Sacrificio Missae, De operibus 
sex dierum, Inscriptionum christianarum libellus, Vita Mariae Aegyptiacae; von 
ben Carmina miscellanea Nr 40 43 50—54 58 63 64 71 75 79 106 110 112 
127 130 140; von ben Carmina indifferentia Nr 2 4 14. Wahriheinlih von ihm 
ift Die Historia de Mahomete, ebenſo zahlreihe der Carmina miscellanea et in- 
differentia. — Strengerer Unterfuhung barren no: De ordine mundi, Carmen in 
libros regum, Versus de 8. Vincentio, De inventione S. Crucis, Lamentatio pec- 
catrieis animae. — Die Bearbeitung des Physiologus wird von Hauréau Tibald 
zugeichrieben, der Liber mathematicus Bernhard von Ehartres (Sylvefter), die Passio 
S. Agnetis bem Petrus von Riga. 


382 Vierzehntes Kapitel. 


unter Paschalis IT. auf den ebenjo kirchlich gejinnten als humaniſtiſch ges 
bildeten Biſchof machten!. 


Nichts wiegt, Rom, dich auf, ob auch du beinah' in Ruinen; 
Wie gewaltig du warſt, laſſen die Trümmer noch ſehn. 
Alter zerſtörte die Pracht und die ſtolzen Bogen der Kaiſer, 
Götter und Tempelgepräng liegen begraben im Sumpf. 
AL die errungene Macht ſtürzt, die ber grimme Araxes 
Fürchtete, da fie ftand, da fie geſunken, beflagt; 
Welche ber Könige Schwert, des Senates jorgliche Weisheit, 
Welche die höchſte Gewalt jelber zum Haupte erſehn; 
Melde lieber allein, mit Verbrechen beladen fi wählte 
Gäfar, als daß er fie fromm hätte mit andern geteilt. 
Alles beuget jein Stolz ins Jod, Freund, Feinde, Berbreden, 
Zwingt mit Geſetzen das Recht, fauft fi) mit Geldern bas Bolt, 
Alles förderte einft ber Weltmacht Werden, ber Ahnen 
Sorge, das gaftlihe Recht, Freundihaft und Waffer und Land. 
Steine und Kräfte zum Bau, Geld fandte der Norb unb der Süden, 
Und zur gewaltigen Burg behnten die Hügel fi aus. 
Schätze jpendeten dann die Fürſten umb Segen das Schidjal, 
Künftler beharrlichen Fleiß, einige Hilfe die Welt. 
Dennoch fiel bie Stabt: was läßt fih Würbdiges jagen 
Als nur das eine von ihr: Nom war, — das einzige — Rom! 
Nicht die Länge ber Zeit indes, nit Flamme, nit Eifen 
Konnte raffen dahin alle die ſchimmernde Pradt. 
Menihliher Kunft gelang’s, jo groß dies Rom zu gejtalten, 
Daß zu zerftören e8 ganz nimmer den Göttern gelang. 
Möchten vereinen fih auch zum Neubau Marmor und Schäße, 
Neue fürftliche Gunft, treffliher Künſtler Geſchich, 
Nimmer zur Dauer empor wird rüden body die Maſchine, 
Noch aus den Trümmern heraus wieder ſich heben ber Bau. 
So viel bleibt noch beftehn, fo viel finkt, daß nie das Neue 
Würdig das Alte erſetzt noch das Zerftörte ergänzt. 
Götter bewundern bier ſelbſt die hehren Göttergeftalten, 
Und dem erbichteten Bilb möchten fie gleihen gar gern; 
Nimmer vermochte Natur den Göttern ein Antlif zu formen, 
Mie es menſchliche Kunft ftraßlend von Schönheit erſchuf. 
Was zu Göttern fie macht, das ift ihr Antlig; Verehrung 
Finden fie nicht durch fi, nur durch die Wunder der Kunft. 
Glückliche Stadt, wärft du nur endlich) der Herrfcher entlebigt 
Ober für Glauben und Recht hätten die Herrſcher Gefühl! 


! Datur in praedam civitas Romanorum et apostolici sedes fastigii cruentis 
Saxonum direptionibus profanatur, Adducitur papa captivus et iniquorum pedibus 
pontificalis infula conculcatur. Desolata moeret cathedra sanctitatis, et, cui 
omnes tribus et linguae servierant, Roma redigitur sub tributo. Polluerunt 
-Ecelesiam Dei canes immundi et Germanorum cruda barbaries divinae legis 
iugulat filios et captivat ministroes (Hildeberti Epistolae lib. 2, ep. 21; 
Migne, Patr. lat. CLXXI 232). — Die zwei Elegien (Carmina miscellanea 
n. LXIII LXIV) bei Migne a. a. ©. CLXXI 1409 1410, überjeßt vom Berfaffer. 


Die Humaniften und die Schulpoefie des 12. und 13. Jahrhunderts. 383 


Mit den „Herrſchern“ können nur die Ghibellinen gemeint fein, melde 
damals in jhlimmfter Weife die firchliche Freiheit mit Füßen traten. 

Den Gegenjah des chriftlihen zum antiten Rom zeichnet der Dichter 
in der folgenden Elegie, indem er diejelbe der Stadt jelbft in den Mund legt: 


Als no der alte Olymp mir, bie leeren Götzen behagten, 
Ragten mir herrſchend empor Krieger und Mauern und Volk. 
Aber jeitdem ich geftürzt die falſchen Altäre und Bilder, 
Und mid zum Dienfte verfprad) ewig bem einzigen Gott, 
Sind die Burgen geftürzt, gefunten ber Götter Paläfte, 
Ward zum Sflaven- das Volk, ward aud ber Ritter zum Knecht, 
Weiß ih faum, wer ich bin, hat Rom fich felber vergeffen, 
Gönnet mein Fall mir faum, da man noch meiner gedentt. 
Doch willlommener ift ber Verluft mir als das Berlorne, 
Größer bin ih im Fall, reicher, von allem enterbt. 
Mehr als ber Adler gilt mir das Kreuz, mehr Petrus als Cäſar, 
Mehr als der Feldherren Schwarm bot mir das wehrloje Volf. 
Ragend einft zwang ich die Welt, zerftört bekämpf' ich die Hölle, 
Ragend gebot ich bem Leib, miebergeichmettert dem Geift. 
Damals zagenber Plebs, den Fürften der Nacht jept gebiet’ ich; 
Städte waren damals, jetzo der Himmel mein Reid). 
Daß es nicht fhiene, ih dankt’ es ben Waffen oder Cäſaren, 
Daß nicht täufhender Glanz mid und die Meinen umfing, 
Sant mein friegerifcher Ruhm und der Schimmer bes hehren Senates, 
Stürzten die Tempel bahin, fielen Theater in Staub, 
Stehen die Roftra Leer, nicht gibt's mehr Edifte noch Kriegslohn, 
Bauern fehlen bem Feld, Recht und Gerichte der Plebs. 
Träge ber Adel erjchlafft, der Richter läßt fich beſtechen, 
Und der freiheit entwöhnt, ſchmiegt fi dem Joche das Volk, 
AL das lieget im Staub, daß nicht meine Bürger ihr Hoffen 
Setzen daran und das Kreuz drüber verlöre den Wert. 
Andere Tempel verheikt und andere Ehren das Kreuz ung, 
Seinem Waffengefolg ſpendend ein ewiges Neid). 
Unterm Kreuze dient ber König als freier, bie Krone 
Löfet ihn nicht vom Geſetz, Liebe veredelt die Furcht. 
Reichlich der Geizige gibt und gewinnt und ſammelt fih Zinfen; 
Sicher bemwahret fein Gut, wer ob den Sternen e3 birgt. 
Welches Cäſarenſchwert, welch’ fonjularifche Klugheit, 
Welche Rhetorenfunft, welches bewährtefte Heer 
Hat mir fo Großes verſchafft? Ihr Eifer hat mir erÖbert 
Länber; doch nur bas Kreuz hat mir den Himmel gebradt. 


Die Überfegung vermag die Haffiihe Abrundung und Schönheit der 
beiden Elegien nicht wiederzugeben. „Wir nehmen an”, jagt Haurdau, „daß 
Hildebert dieje beiden Stüde nad feiner langen Reife durch Italien ver— 
faßte. Ein feinfühliger, empfänglicher und wiſſenſchaftlich gebildeter Mann 
wie er, der fi durch bejtändiges Studium des Vergil und Horaz faft zu 
deren Landsmann, wenn nicht Zeitgenofjen gemadt hatte, ein ebenfo leiden- 


384 Vierzehntes Kapitel. 


ſchaftlicher Verehrer aller lateiniſchen Herrlichkeiten, fonnte durch den Anblid 
der römischen Ruinen nur aufs tieffte ergriffen werden. Diefe Ergriffenheit 
diftierte ihm das erſte Gedicht, weitere Betrachtung das zweite.“ 

Dieſelbe Haffishe Formvollendung zeigt fi in andern, mehr weltlichen 
wie religiöjen Gedichten. Sie hat unzweifelhaft mit beigetragen, daß Hildebert 
aud in rein rhythmiſchen Gedichten eine ungewöhnliche Schönheit und Fülle 
der Yorm entfalten konnte, 

Bon einer auferordentlihen metrifhen Fertigkeit, klaſſiſcher Schulung, 
poetifcher Erfindungsgabe und Darftellungstunft zeugt das erwähnte Fragment, 
das den Titel Liber mathematicus? trägt, das man aber am beften wohl 
„Das Horoſtop“ überjchreiben fönnte. Den Vorwurf der breit angelegten, 
in fünfzehn Kapitel geteilten Erzählung bilden die tragiſchen VBerwidlungen, 
welche die abergläubijche Furt vor einem ſchreckhaften Horojtop hervorruft. 
Mag das Gediht nun don Hildebert herrühten, wie Beaugendre meinte, 
oder von dem Philojophen Bernhard von Chartres (Sylvefter), welchem 
Haurdau es zujchreibt, jedenfalls gehört es bderjelben Zeit und durchaus 
derjelben humaniftiichen Richtung an. Dem Dichter war es fihtlih darum 
zu tun, dem Glauben an Nftrologie, der damals noch lebhaft in vielen 
Gemütern fpufte, ein Schnippchen zu ſchlagen; doch drängt ſich dieſe Tendenz 
nirgends unmittelbar auf; fie liegt einfadh in dem Stoffe, den der Dichter, 
ohne zu moralifieren, dichteriih ausführt und objektiv wirken läßt. Die 
Handlung ift in das alte Rom verfegt und trägt vorwiegend antikes Kolorit, 
aber dod) öfter recht naiv mit mittelalterlihen Anſchauungen vermifcht; die 
Berwidlung erinnert in ihren Hauptumriffen an die Dedipusfage, die Aus: 
führung aber, bejonders die leicht dahinfließenden, wohllautenden Diftichen, 
an die Fasti und Elegien des Opid. 

Niemand ift hienieden vollkommen glücklich; e& fehlt immer an irgend 
einem Punkte — das bringt das menſchliche Dafein mit fih. So fängt 
die Geſchichte an. Ein reicher, vornehmer, mit Kriegsruhm geſchmückter 
Römer lebt in glüdlichfter Ehe mit feiner durch alle nur erdenklichen Bor- 
züge ausgeftatteten Frau. Nur eines mangelt zu ihrem Glüde: Kinder 
jegen. Der Mann altert ſchon zujehends; die Hoffnung auf Nachkommen— 
Ihaft nimmt immer mehr ab. Da wendet ſich die Frau an einen Sterndeuter 
und läßt fi das Horojfop ftellen. Es wird ihr ein Sohn verheißen, und 








! Seine Legende ber „bl. Maria von Ägypten”, ſchließt fi, abweidhenb von 
ber lateinifchen Bearbeitung des Paulus Diaconus, jo genau der urfprünglich griehifchen 
Faſſung an, dab die Bollandiften fogar die Vermutung ausfpraden, er hätte dieſelbe 
nah ber griehiihen Vorlage ausgeführt, alfo griehijh verftanden. Seine Briefe 
beuten freilich auf keine nähere Belanntihaft mit dem Griehifhen hin, wohl aber 
auf große Bertrautheit mit Ovid, Vergil, Horaz, Terenz, Seneca und Bosthius. 

®? Migne, Patr. lat. CLXXI 1365— 1830. 


Die Humaniften und die Schulpoefie des 12. und 13. Jahrhunderts. 385 


zwar einer, der zugleih Paris, Achilleus, Kröjus und Ulyſſes in deren 
Einzelvorzügen übertreffen, die Herrſchaft über Rom erhalten, aber — das 
ift ebenjo gewiß — ſchließlich ſeinen Bater umbringen ſoll. Mehr ängftlich 
und jorgenvoll als hoffnungsfroh kehrt fie nah Haufe zurüd und, von 
ihrem Gemahl um ihren Summer befragt, eröffnet fie ihm die erhaltene 
Meisfagung. Dem Manne tut e& leid, daß Juppiter ihm nur unter jo 
ihredliher Bedingung einen Sohn gewähren will; aber als rauher Soldat 
tritt er dem drohenden Unheil mit graufamer Entjhloffenheit entgegen und 
nimmt feiner Frau da3 Verſprechen ab, falls fie einen Knaben zur Welt 
bringe, denjelben fofort zu töten (Cantus I und ID). Die rau verjpricht 
dag, Wie fie aber eines allerliebften Knäbleins geneft, bringt fie e& nicht 
übers Herz, das fchredliche Verſprechen zu halten, fondern übergibt das 
arme Kindlein insgeheim fremden Leuten, um es aufzuziehen. Es erhält 
den Namen Patricida, damit es ſchon von Kindheit an abgejchredt würde, je 
das Verbrechen zu begehen, das die Sterne von ihm verfündigten. Das Kind 
wählt zum ſchönſten, talentvollften Knaben heran und erhält nun die aus— 
erlejenfte Erziehung. Der Dichter läßt fidh die Gelegenheit nicht entgehen, bei 
diejer Gelegenheit die Studien des Triviums und Quadriviums in eleganten 
Verſen zu harakterifieren. Nachdem die Studienlaufbahn vollendet, tritt 
der wadere Jüngling alsbald ins Heer, um allen Gefahren eines untätigen 
Schlaraffenlebens zu entgehen. Raſch fteigt er zum höchſten Kriegsruhm 
empor und wird „Bannerträger des Auſoniſchen Reiches“ (IT). 

Nun bricht Krieg zwiſchen Rom und Karthago aus, aber nicht der 
mweltbefannte Puniſche Krieg; Rom hat einen König. Bon Hannibal und 
einem Alpenübergang ift nicht die Rede. Zur See bringen die Karthager 
plöglih ein riefiges Heer nad Italien, das Rom mit dem Außerften be: 
droht. Der König und die höchſten Heerführer werden gefangen. Rom 
wäre verloren, wenn ihm in dieſem kritiſchen Augenblid nicht der jugendliche 
PBatricida zu Hilfe käme. Mit jeinen Scharen durchbricht er die Reihen 
der Punier und gewinnt einen vollftändigen Sieg (IV). Der befreite König 
meldet den Triumph nah Rom und bewirbt fih um den Lorbeer. Der 
Senat antwortet zweideutig, dem Sieger folle der verdiente Lorbeer zu teil 
werden. Da iſt der König denn doch ehrlih und Hug genug, den wirt 
lihen Sieger anzuerkennen. Im einer prächtigen Rede legt er jeine Würde 
nieder und übergibt Scepter und Reich dem tapfern Patricida. Diejer 
wird gekrönt und auf jchneeweißen Pferden, umjubelt von Senat und Bolt, 
zue Juppiterftatue auf dem SKapitol geführt (V). 

Eine unermeßliche Freude überftrömt die Mutter, welche insgeheim dem 
Schickſale ihres geretteten Sohnes gefolgt ift. Aber die Macht, melde nun 
in jeinen Händen ruht, die bisher wörtlicde Erfüllung alles deſſen, was 


der Sterndeuter ihm verheißen bat, läßt den lebten Teil der Weisſagung 
Baumgartner, Weltliteratur. IV. 8. u. 4. Aufl, 25 


386 Vierzehntes Kapitel. 


jet doppelt bedrohlich eriheinen. In ihrem Herzen entipinnt fi ein furdht- 
barer Kampf zwiſchen Mutterliebe und Gattenliebe. hr Kummer ift dem 
Gatten unbegreiflih. Zuletzt fann fie das fchredliche Geheimnis nicht mehr 
bei ji behalten (VI). 


Ehlihe Treue und Recht verpflichteten fie zu geftehen, 
Was mit befj'rem Erfolg wäre geblieben verhehlt. 

„Heil'ge Natur“, ſprach fie, „ich könnte bei bir mich beklagen, 
Die du niemals ans Werk legſt die vollendende Hand! 

Haft du auch viel mir gewährt, du Tießeft zum Weibe mich werben, 
Und dies eine fhon hat wichtige Gunft mir verjagt. 

Denn jo ift mein Geihleht — es haffet nun einmal die Tugend, 
Iſt zu allem geneigt, was es an Frevel nur gibt. 

Könnten bie Himmlifchen nur ausrotten für immer der Weiber 
Boſes Geihleht, dem Mann wäre gefichert die Welt. 

Peftluft, Schlachtengewühl und Dieeresftürme verderben 
Nicht der Männer fo viel, ald das gefühlloie Weib. 

Für Jahrhunderte hegt der Baum und die Pflanze fih Samen 
Und erhalten am Blühn aljo ihr eignes Geſchlecht: 

So auch heget das Weib in fi die Wurzeln bes Frevels, 
Nähret ben treibenden Keim ſtets fich erneuernder Schuld. 

Kim’ auch zurüd uns die Zeit der alten Einfalt und Güte, 
Schwände der findige Geift überverfeinter Kultur, 

Wäre das Weib jhon im ftand zu erneuern die ſchädlichen Künfte 
Und zu erfinden dazu nod ein verberbliches Werk. 

Grimmige Löwen vermag bie Zeit, bie mächt'ge, zu zähmen, 
Tiger und Bärinnen kann bändigen ihre Gewalt; 

Einzig das Weib beharrt bei feiner Bosheit und ändert 
Niemals im Laufe der Zeit feine verdbrehte Natur. 

Hätte ein Weib jein Geſchlecht jemals von Grund aus verleugnet, 
Wären ein Wunber nit mehr Raben von blendendem Weiß. 

Doch, wozu der Natur, wozu den herrſchenden Sitten 
Schreibe, Verwegene ich, eigenen Frevel zur Laſt? 

Wenn ich ſchändlich und ſchlecht, graufam, nichtswürdig gehandelt, 
Warum laff’ ih mit Shmad haften dafür mein Gejchledht? 

Ach, es findet fidh nichts, was färben fünnte mein Unrecht, 
Noch, was ich frevelnd beging, fünnte entziehen dem Blick! 

O mein Gemahl! fo lang Hintergangen — bu haft eine Gattin, 
Melde nit Gattin für did), nein, eine Feindin dir war. 

Vielleicht haft du gewähnt, mit taufend Erweiſen der Liebe, 
Zaufend Dienften der Huld dir zu erobern mein Herz: 

Denn bein einz’ger Gebanfe war ih von ber erften Begegnung, 
Einziges Sehnen und Biel, einzige Sorge für Did). 

Ad, dein Lieben, es ward dir nicht gebührend erwibert, 
Was bu Gutes mir tatft, ward dir unwürdig gelohnt: 

Liebe vergolten mit Hab, Wohltat mit ſchmählichem Undant, 
Freundliches Lob mit Schmach, Treue mit ſchwarzem Verrat! 

Sinne, mein Gatte, darum auf neue, ſchreckliche Strafe, 
Reihe mein Herz aus dem Leib, jpanne die Glieder aufs Rab! 


Die Humaniften und die Schulpoefie des 12. und 15. Jahrhunderts. 387 


Reichlich Hab’ ich verdient, was nah Rhabamantifhem Spruche 
Duldet der fündige Schwarm drunten im Tartarusſchlund. — — 


Doch du zweifelft und ftarrft, weißt nicht, wa8 bie Worte bedeuten — 
Nun, wohlan, jo vernimm, was meine Nede bezmwedt. 
Einft, du erinnerft dich noch, gebar id) den Sohn, dem die Sterne 
Numas heil’ge Gewalt, Scepter verhiegen und Thron. 
Doch fie verhiegen zugleih — ab, Tränen find befjer als Worte! — 
Wehe! der jhredlihe Sohn brädte den Vater ins Grab. — 
Schaubernd vor dem Bericht haft du bie Mutter gewaffnet 
Wider ihr eigenes Kind, haft es zum Tode verdammt, 
Aber mächtiger war die Natur ald Mahnung und Drohung, 
Hat ihr eigenes Gebot jonder Bebenfen erfüllt. 
Meiner Lüge du glaubft, du wähnft das Kindlein getötet, 
Uber es lebt und gedeiht, ſorglich von andern gepflegt. 
Magit du Sünde es nun, magſt du Verbrechen es nennen, 
Freudig ladet dem Kind auch noch der heutige Tag. 
Jener, der ift dein Sohn, den bu fo oft ſchon bewundert, 
Defien Reden und Tat du jhon fo häufig belobt. 
Jener, der ift bein Sohn, ben in fieben Gürteln ber Erbe 
MWeithin alles Wolf kennet und ftaunend verehrt. 
Jener, ber ift bein Sohn, von dem zu lügen fein Neiber, 
Nicht der erbittertfte Feind, jelber die Fama nicht wagt. 
Jener, der ift dein Sohn, von dem überwunden Karthago, 
Wenn ed auch Hannibals denkt, nimmer erniedrigt fi fühlt. 
Jener, der ift dein Sohn, der thronet auf fürftlihem Site, 
Siehe, voll ftrahlenden Ruhms führet das Ecepter der Welt! 
Alles hat ſich erfüllt, was der Deuter der Sterne verheiken, 
Übrig bleibet nur eins: das, was dein Schickſal betrifft. 
Aber es ziehen dahin die Sterne nah ew’gem Verhängnis: 
Zeigen muß es fi bald, was dir das Fatum bejchied.“ ! 


Sprachlos ftarrt der Vater über die unerwartete Hunde. Dod er ift 
feine jähzornige, leidenjhaftliche Natur. Er ſchwankt lange zwijchen Freude 
und Furt; aber ftill wägt er die Ehre und das Glüd, das ihm in feinem 
Sohne zu teil geworden, gegen die Gefahr, die ihm zufolge des Horojlops 
von demjelben Sohne droht, und je länger er überlegt, defto mehr fiegt die 
Vaterliebe über jedes Bangen. Er tröjtet jeine Gattin, er dankt ihr, er 
wünſcht ihr Glüd, er fieht in dem Ruhm des Sohnes nur mehr jeinen 
eigenen. Einmal muß man ja doc fterben. Was kann es Beſſeres geben, 
al3 in einem ſolchen Sohne fortzuleben? Er will fi gerne in das ge: 
weisſagte Todeslos ergeben, wenn es ihm nur vergönnt ijt, den herrlichen 
Sprößling liebend in feine Arme zu jchließen (VIII). 

So ziehen denn Vater und Mutter zum Sapitol. Patricida Führt 
eben den Vorſitz in der Senatsfigung. Den Vater fennt er nit; aber 





t Migne, Patr. lat. CLXXI 1371 1372, überfeßt vom Verfaſſer. 
25* 


388 Vierzehntes Kapitel. 


die Mutter erfennt er alsbald, erhebt ſich, fteigt von feinem Throne nieder 
und geht ihr entgegen. Sie bittet ihn um eine geheime Unterredung (IX). 
Ihre Bitte wird aldbald gewährt. Vater, Mutter und Sohn meilen nun 
zum erftenmal beifammen. In langer Rede ergießt die Mutter ihre Herzens: 
freude und ftellt endlih den Sohn dem gerührten Vater vor (X). Die erfte 
Seligfeit des Zufammenfindens wird dur feinen Schatten getrübt; dann 
aber greift der Vater zum Wort, um den Sohn mit dem Horoſkop, mit 
feinem eigenen Blutbefehl, mit der düſtern Ausſicht in die Zukunft bekannt 
zu machen. Zum voraus wälzt er alle Schuld des künftigen Vatermordes 
von dem Sohne ab. In jchneidender Schärfe harafterifiert er die ſchauder— 
vollen Folgen des Fatalismus. Tief ergreifend ift die Liebe gezeichnet, mit 
welder, troß der entſetzlichen Weisſagung, Sohn und Eltern aneinander 
hängen (XT). Der folgende Geſang meldet die Betrachtungen, welche Patri- 
cida bei ſich anftellt: der Höhepunkt des Glüds ift für ihn ein Yall ins 
tieffte Unglüd geworden (XII). Er ruft Senat und Volk zufammen, hält 
ihnen jeine bisherigen Verdienfte vor und bittet fie, ihm eine Gunft zu 
gewähren (XII). Was er immer nur wünſchen mag, wird ihm zugeltanden. 
Er bittet fie num um die Gnade, flerben zu dürfen, und ſetzt ihnen zur 
Begründung diefer Bitte die Vorausſagung des Sterndeuterd auseinander 
(XIV). Verſchiedene Redner ſuchen ihn umzuftimmen, aber alles prallt an 
jeinem feſten Entihluß ab. Er beruft ſich auf die ihm bereits zugeftandene 
Gunft, und um frei zu werden, legt er Krone und Scepter nieder. Hier 
briht das Fragment ab (XV). 

Die häufigen Laffiihen Neminiscenzen, die breiten Reden und ihre 
thetorijche Ausführung, ſowie manches andere verraten das Heine Werf als 
Schuldichtung. Die feine pſychologiſche Behandlung der drei Hauptcharaltere, 
die dramatiiche Lebendigkeit der Erzählung, die Wahrheit und Friſche des 
Affeltes und vorab die ſchönen Verje bezeugen aber doch aud wieder die 
Tatſache, dab Schule und Dichtung fih durchaus nicht immer gegenfeitig 
ausſchließen. Wie wenig aber der Dichter die Rhetorik überſchätzte, beweijen 
die feinen Diftichen, mit welchen Patricida im legten Gejang des Fragments 
die funftvollen Einreden der römiſchen Rhetoren zurüdweift: 


Eloquitur, vultumque sui sermonis inaurat 
Pollio, facundi pectoris arma movet. 

Suadet, adornat, agit, oratoremque colorat, 
Alterat arte modos, alterat arte vires. 

Non ea depictae venus est aut gratia vocis, 
Quae mea pervertat vota meumque mori. 

Agrestis tam voce fuit quam veste Camillus, 
Gratus apud superos rusticitate sua. 

Non pietis nugis rigidi placuere Catones, 
Sermo patens illis et sine veste fait. 


Die Humaniften und die Schulpoefie des 12. und 13. Jahrhunderts. 389 


Agresti Latio monstravit Graecia blandum, 
Graecia perplexum, Graecia grande loqui. 

O gravis illa dies, qua simplex et rude verum 
Sorduit et pieti plus placuere soni! 

Aequor inaccessas utinam fecisset Athenas, 
Non foret eloquii Roma nitore nocens. 


Ländlih war wie das Kleid jo die Rebe des wadern Camillus, 

_ Grabe fo bäuerlih jhliht war er ben Göttern genehm. 

Nicht dur Fünftlihen Tand gefielen die ftrengen Gatonen, 
Unbemäntelt und Far lautet ihr offenes Wort. 

Hellas erjt lehrte zu Rom die Kunft, einſchmeichelnd zu reden, 
Hellad verwidelten Kniff, Hellas erhabenen Stil. 

Unglüd bradte der Tag, an welchem die jhhlichte und rechte 
Wahrheit nimmer gefiel, nur mehr gefünftelter Schmud. 

Hätte das Meer doch Athen uns unzugänglich geftaltet, 
Nimmer duch ſchädliche Kunft, hätteft du, Roma, geglängt! 


Wie ji feine humaniftiihe Bildung mit der innigften religiöfen und 
fichlihen Lyrik vertrug, davon ift Hildebert von Tours wohl das glänzendfte 
Beijpiel!, Aber auch die mittelalterlihe Scholaftif ftand der humaniftiichen 
Bildung gar nicht jo wildfremd und gegenſätzlich gegenüber, wie die fpäteren 
Humaniften des 16. Jahrhunderts der Welt glauben machen wollten. Schon 
das Anjehen und der Einfluß des Boöthius bildete Hier eine verbindende 
Brüde. Gab es num aud) jpelulative Köpfe, welche, einzig um die abfirafte 
Wahrheit befümmert, wenig oder nichts auf ftiliftiiche Darftellung gaben, 
jo fanden fi) doch wieder andere, welche für beides Neigung und Verftändnis 
bejaßen. Der bedeutendite Vertreter dieſer Richtung ift der gelehrte Engländer 
Johannes von Salisbury (loannes Sarisberiensis). 

Um 1120 zu Salisbury geboren, widmete er fi über zwölf Jahre 
in Frankreich, zumeift in Paris, dem Studium der Philofophie und Theo: 
logie, hörte Abälard, Meiſter Alberih von Reims, Robert von Melun, 
Wilhelm von Condes, den Deutſchen Hardewin, Meifter Theodorih, Wilhelm 
von Soiſſons, Meifter Gilbert de la Porree, Robert Pullus und andere 
Vehrer, ward dann auf Empfehlung des Hl. Bernhard Selretär des Erz- 
biſchofs Theobald von Canterbury und feines Nachfolgers, des hl. Thomas 


! Ainsi, gräce & sa largeur d’esprit, cet homme d’action d’un caractere doux 
et generalement ferme, ce galant homme qui donna par sa prösence un lustre 
de bon ton et d’urbanit6 a la société feodale de son temps, ce savant docteur, 
potte a ses beures, allie a une foi hors de tout soupgon un goüt tr&s prononce 
de la raison; petri des enseignements de saint Augustin, il conserve une main 
dans la main des auteurs anciens, qu’il connaissait et jugeait si pr&cieux pour 
leur esprit pratigue, pour leurs reflexions morales et leurs consolations (A. Dieu- 
donne, Hildebert de Lavardin, Paris 1898, 285). 


390 Vierzehntes Kapitel. 


Bedet, und endlih nad deſſen Tod (1170) ſelber Biſchof von Chartreg, 
in welcher Würde er 1180 ftarb, nahdem er das Jahr zubor dem latera- 
nenfiihen Konzil angewohnt hatte !. 

Zehnmal in jeinem vielbewegten Leben verließ er England und über: 
Ihritt die Alpen, zweimal durchwanderte er Apulien, wiederholt führten ihn 
wichtige Geſchafte nah Rom, wiederholt durchreifte er England und Frant: 
reih?. Seinem Erzbifhof und der Kirche in den ernfteften kirchenpolitiſchen 
Zeiten unbedingt ergeben, beftändig in die widhtigften Geſandiſchaften und 
Geſchäfte verwidelt, fand der geiftvolle Mann noch Zeit, die wiffenjhaft- 
Iihen Bewegungen jener Tage mit größtem Intereſſe zu verfolgen und 
außer vielen dentwürdigen Briefen nod mehrere Schriften zu verfaffen, die 
von der außerordentlihen Wieljeitigfeit feiner Kenntniffe Zeugnis geben. 
Das umfangreihfte Wert, Polycraticus, sive de nugis curialium et 
vestigiis philosophorum libri octo, widmete er 1159 dem damaligen 
Kanzler Thomas Bedet. Es ift weniger ein einheitliches Werk als eine 
Sammlung publiziftiiher Eſſays, in welchen die wichtigften Zeitfragen bald 
mit Shulmäßigen Ernſte, bald mit ſatiriſch-ironiſchen Seitenhieben, immer 
aber mit einer gewiffen Eleganz der Darftellung und mit Heranziehen vieler 
antifer Schriftiteller, Dichter wie Projailer, abgehandelt werden. Die erften 
Bücher verbreiten fi) über die Zerftreuungen des vornehmen Hoflebens, wie 
Jagd, MWürfelfpiel, Mufit, Schaufpiel, Minnefang, Wahrfagerei und Aftro- 
logie, welche mit hohem fittlihen Ernfte abgeſchätzt, das Erlaubte zugeftanden, 
das Verbotene und die ſchädlichen Auswüchſe ironisch zurüdgemwiejen werben. 
Noch jchärfer geht Johannes im dritten Buch der höfiſchen Schmeidhelei, 
Kriecherei und Intrigenwirtfchaft zu Leibe. Im vierten und fünften werden 
Hauptfählih die Pflichten eines Königs beſprochen, im ſechſten jene des 
Adels. In den zwei legten Büchern wendet fi Johannes von dem höfiſchen 
Leben und Treiben der ernften Wiffenihaft zu und würdigt der Reihe nad) 
die philofophifchen Syſteme der Alten. 

Wie zuvor die Schmeidhler und ntriganten, jo belämpft Johannes 
bier hauptſächlich die Dialeltifer, welche ihr Fach, die Dialektit, aus einem 
Mittel zum Zweck maden und fo durd) leere Formaliſtik, Streiterei, ein— 
feitige und rationaliftiiche Behandlung der Theologie und der Wifjenihaft 
überhaupt den mannigfadhften Schaden beibringen ?. Angriffe von ſeiten 
jolder einjeitigen Dialektifer veranlaßten ihn, fih in einem zweiten Werk, 
dem Metalogicus, ebenfall® dem hi. Thomas Bedet gewidmet, in vier 





! Metalogicus lib. 2, ec. 10 (Migne, Patr. lat. CXCIX 867—869). 

® Metalogicus lib. 3, prooem. (Migne a. a. O. CXCIX 889). 

® Joannis Saresberiensis Opera omnia nunc primum in unum col- 
legit J. A. Giles, 5 Bde, Oxonii 1848, abgedrudt bei Migne a. a. O. CXC 
195 f; CXCIX 1—1039. 


Die Humaniften und die Schulpoefie des 12, und 13. Jahrhunderts. 391 


Büchern zu verteidigen, indem er den Unterſchied der wahren von der falſchen 
Wiſſenſchaft noch einläßlicher zeichnete. Weniger bedeutend ijt die kleine 
Schrift De septem septenis. In fehr mwürdiger, anziehender Form find 
die Biographien der beiden heiligen Erzbiihöfe Anſelm und Thomas von 
Ganterbury gehalten. 

Dem Polyceraticus ift eine längere poetijhe Einleitung in Diftichen 
borgejegt, welche den Titel Entheticus führt und einen reihen Kranz der 
geiftreichiten Sittenſprüche in fi) vereinigt. Denjelben Titel Entheticus 
de dogmate philosophorum führt eine Sammlung von Sprudgedichten, 
die fih auf 1852 Verſe beläuft. An diejelbe jchließt ſich ein längeres alle: 
goriiches Gedicht, De membris conspirantibus, das unter dem Bilde einer 
Verſchwörung der übrigen Glieder gegen den Bauch in artiger und witziger 
Weiſe eine vernünftige Mäpßigfeit empfiehlt. Die Epigramme find nit 
gleihmertig; doch zeigt fi aud in ihnen ein mit Wit und feinem Kunſt— 
gefühl ausgeftatteter Geift, der fih an der Lektüre der Klaſſiker und viel: 
feitigem Studium jowohl ein reiches Wiffen als große Formgewandtheit er: 
worben hat. . 

Den Ariftoteles charakteriliert er folgendermaten (De Aristotele et 
dogmate eius): 

Magnus Aristoteles sermonum possidet artes 
Et de virtutum eulmine nomen habet. 
ludicii libros componit et inveniendi 
Vera, facultates tres famulantur ei: 
Physicus est moresque docet, sed logica servit 
Auctori semper officiosa suo. 
Haec illi nomen proprium facit esse, quod olim 
Donat amatori sacra Sophia suo; 


Nam qui praecellit, tituli communis honorem 
Vindieat, hoc fertur iure poeta Maro. 


Die Irrtümer des Nriftoteles bezeichnet er in den folgenden Diftichen 
(De errore Aristotelis): 


Sed tamen erravit, dum sublunaria casu 
Credidit et fatis ulteriora geri. 
Non est arbitrii libertas vera creatis, 
Quam solum plene dicit habere Deum. 
Quidquid luna premit, de quattuor est elementis, 
Et quae transcendunt, simpliciora putat. 
Illaque perpetua definit pace vigere, 
Quae supra solem circulus altus habet. 
Nam ibi committunt aliquod contraria bellum, 
Nam tranquilla quies ulteriora fovet'!, 





ı Migne a. a. ©. CXCIX 983. 





392 Vierzehntes Kapitel. 


Wie Johannes von Salisbury ift auch Alanus de Inſulis (Lille oder 
Ryſſel), der gefeierte Doctor universalis, zugleich Scholaftiler und Humanift, 
allerdings nod mehr Philofoph, nicht praftiiher Volitifer und Diplomat 
wie jener. Er joll um 1114 geboren, um 1202 geftorben ſein. Nad) 
einigen war er Giftercienfer, wurde 1152 Biſchof von Aurerre, verzichtete 
1167 auf jeinen Biihofsfig, kehrte nah Clairvaux zurüd und ftarb hier 
in Höfterliher Zurüdgezogenheit; das beruht aber auf Verwechſlung mit 
einem andern Alanus, der den Beinamen landrenfis führt. Zugejchrieben 
werden ihm: ein kurzer Abriß der Theologie unter dem Titel: Regulae de 
sacra Theologia, eine etwas umfangreihere Summa der gefamten Theo: 
logie: De arte sive de articulis catholicae fidei, ein Tractatus de 
fide catholica contra haereticos (wahrſcheinlicher von einem andern 
Giftercienjer desjelben Namens, Alanus de Podio, verfaßt)!. Alanus ift der 
erfte hriftlihe Philofoph, der die pjeudo-arifioteliihe Schrift Liber de causis 
erwähnt, und bei dem ſich aljo der Einfluß arabiſcher Philojophie deutlich 
geltend macht. Gewiß interefjant ift es, daß ein ſolcher Gelehrter auch 
zugleid nodh Humanift war, und zwar in der Art des Martianus Gapella. 
Denn an die „Hochzeit des Merkur mit der Philologie” erinnert zumeift 
jein allegorifches Lehrgediht Anticlaudianus, das etwa 5880 Berje zählt. 
Dasselbe hängt aber auch aufs innigfte mit jeiner Philoſophie zuſammen, 
in welcher die „Natur“, hauptfählih nad) dem Timäusfragment des Platon 
und nad) Boäthius, al3 Stellvertreterin und Schülerin Gottes in der Organi— 
jation und Entwidlung des Weltalld jehr poetiih aufgefaßt, eine Haupt- 
rolle jpielt?, 

Um ihre bisherigen Werke dur eine Meifterleiftung zu krönen, ruft 
die Natur ihre Schweitern zur Beratung zufammen: Concordia, Gopia und 
Favor, Juventus und Rijus, Modejtia und Budor, Ratio, Honeltas, Decus 
und Prudentia, Pietad, Fides, Liberalitas und Nobilitas. Der Palaſt, wo 
fie ſich verſammeln, liegt auf einem hohen Berg, von herrlihem Wald um: 
geben, in einer Paradiejeslandihaft, wo die Pflanzen zugleih Früchte und 
Blüten treiben, der Zauber des Lenzes fih mit der Fülle des Herbites 
vereint. Der Bau jelbft ift mit den herrlichſten Malereien geihmüdt, jo 





! Alani Magni de Insulis Opera moralia paraenetica et polemica, 
ed. Carolus de Visch, Antverp. 1654. — Vollftändigfte Sammlung der ihm 
zugefchriebenen Werfe bei Migne a. a. O. CCX 9—1056. — De planctu naturae, 
Lips. 1494. — Anticlaudianus sive de officio viri in omnibus virtutibus perfecti, 
Basil. 1536, Venet. 1582, Antverp. 1611 1621, Paris. 1612. 

2 M. Baumgartner, Die Philofophie des Alanus de Injulis im Zujammen- 
hang mit ben Anſchauungen des 12. Jahrhunderts dargeitellt, Münjter 1897 (Beis 
träge zur Geſchichte der Philofophie des Mittelalters, herausgeg. von C. Bäumker 


und ©. v. Hertling, Bd 2, Heft 4). — Bol. Allgem. Literaturbl. (Wien) 1899, 
Nr 5, ©. 136, 


Die Humaniften und die Schulpoefie bes 12. und 13. Jahrhunderts. 398 


lebendig, daß fie in die Wirklichkeit jelber übergehen. In feierliher Programm: 
rede, tiefbetrübt, trägt die Natur die. begründeten Klagen vor, die gegen 
ihre bisherigen Leiftungen laut geworden find, und fordert die Hilfe ihrer 
Schweſtern, um einen Menjchen herborzubringen, deffen alljeitige Vollkommen— 
heit jenen Mängeln abhelfen fönnte. 


Nicht nah irdifhem Stoff, nad) Staub und Mobder geartet, 

Nein, ein himmliſcher Menſch joll fürber die Erde bewohnen, 

Und uns tröften für bas, was unſere Werle geichäbdigt. 

Wohnen joll jein Geift in den Himmeln, der Leib nur auf Erben; 
Menſchlich hienieden er fei, doch göttlich über ben Sternen, 


In langer, jorgfältiger Beihreibung wird zuerft die Phronefis oder 
Prudentia vorgeführt, die jo ziemlich der Vorftellung der alten Minerva 
entiprit. Sie ſtimmt allerwegen der Natur bei, jagt aber nichts eigentlich 
Entſcheidendes. Das iſt der Ratio vorbehalten, die drei Spiegel der Er: 
fenntnis trägt, einen gläfernen, filbernen und goldenen, in welchen die ver— 
ihiedenen Reiche des Erkennbaren zu ſchauen find. Ihre Rede läuft darauf 
hinaus, daß die Natur mit ihren fämtlihen Schweftern zu dem geplanten 
Werke nicht ausreihe, jondern daß man fih um übernatürlihe Hilfe an 
Gott wenden muß. 

Was die Natur gemadt, das vollendet der göttlihe Schöpfer; 
Göttliches ſchafft er aus nichts, fie bildet nur aus Vorhand’nem 
Dinge, bie wieder vergehn; Gott herrſcht, fie leitet ihm Dienfte; 
Was er befiehlt tut fie; er lehrt, fie hat nur zu lernen. 


Als pafjendfte Botin an Gott wird die Prudentia vorgefhlagen. Die 
Concordia, bei deren Beihreibung und Lob der Dichter jehr lange verweilt, 
gewinnt ihre Zuftimmung, und es werden die nötigen Vorbereitungen zu 
ihrer Geſandtſchaftsreiſe an den himmlischen Hof getroffen. Den prächtigen 
Staatswagen bauen ihr die Künſte des Triviums und Quadriviums. Die 
Grammatik bejorgt die Deichjel, die Logik die Achſe, die Rhetorik verziert die 
Deichjel mit Gold und die Achje mit Blumen. Die Arithmetif liefert ein 
marmornes Rad, die Muſik ein ehernes, die Geometrie ein bleiernes, die 
Aftronomie ein goldened. Dabei wird auch der Hauptautoren ehrenvolle 
Erwähnung getan, bei der Grammatik des Donatus, Ariftarhus, Pris— 
cianus, bei der Logik des Porphyrius, Ariftoteles, Zeno, Boöthius, bei 
der Rhetorif nur des Cicero, bon dem es heißt, die Rhetorik fei nicht 
nur jeine Adoptivtocdhter, jondern feine wirkliche Tochter und könnte darum 
eigentlih Tullia genannt werden. Als Lehrer der Arithmetik figurieren Nifo- 
mahus, Gilbertus, Pythagoras, Chryfippus, als Lehrer der Mufit Gre- 
gorius und Mihalus, als Lehrer der Geometrie Euklid, ala ſolcher der 
Altronomie Albumafar (2). Nahdem Concordia die einzelnen Teile des 


394 Vierzehntes Kapitel. 


Magens ſchön aneinander gefügt, ſchirrt Ratio ala Pferde die fünf Sinne an, 
läßt Prudentia einfteigen und übernimmt dann die Leitung des Fünfgeipanns. 
Die Luftfahrt ins Jenſeits hat infofern einiges Intereffe, als fie zwiſchen 

jener de3 Martian Gapella und derjenigen Dantes fih ungefähr in der 
Mitte hält und die kosmographiſchen Borftellungen jener Zeit mit Anklängen 
verbindet, die ſchon zu Dante überleiten. Prudentia madt ihre meteoro- 
logifhen Beobadtungen, denen zufolge die Wollen die Ausdünftung der 
ihtwigenden Erde, zugleih aud die Gläfer und Flaſchen bedeuten, in welchen 
fih der dunftige Phöbus die verjchiedenartigen Spriß:, Yand- und Plabregen 
bereit Hält; fie trifft in dem Luftraum aber aud Scharen unglüdjeliger 
Geifter, die zur Strafe ihrer Sünden dahin gebannt find. Vom Luftkreis 
geht's dann weiter in denjenigen des Feuers, des Mondes, des Merkur, der 
Venus, der Sonne, des Mars, des Juppiter, des Saturn und endlich in 
den Zodiafus. Über den Zodiatus fommen aber die fünf Sinne nicht mehr 
hinaus. Die Theologie ericheint Hier der kühnen Himmelsreifenden Prubdentia, 
ein Buch in der Rechten, ein Scepter in der Linken, und bietet fi ihr ala 
weitere Führerin an. Nur das Gehör (fides ex auditu) ift aber jekt noch 
braudbar; die übrigen vier Sinne müfjen ausgejpannt werden. So gelangt 
Prudentia weiter durch die Wunder des Hriftallhfimmeld oder das Primum 
Mobile in die Herrlichkeit des eigentlichen Himmels, wo die Seligen wohnen 
— (Caelum empyreum. 

Stätten ewiger Luft erflimmt fie, Stätten ber Gnabe, 

Auserlefen von Gott, vom Allmächtigen felber erforen. 

Keine Wolfe veriheucht das Licht, kein Trauern das Lächeln; 

Ewig währet die Luft, und mangellos fprubelt bie Wonne. 

Haß ift ewig verbannt, fein Mühen ftöret die Ruhe. 

Ewig funkelt der Strahl der wahren Sonne; dem Aufgang 

Folgt kein Untergang; ſtets währt ber lieblichfte Morgen. 


Begeiftert wird nun der Himmel ſelbſt geidhildert, dann die Chöre 
der Engel, die Scharen der Heiligen und Seligen, vor allem aber die 
wunderbare Glorie der allerjeligiten Jungfrau und ihres göttlichen Sohnes. 
Die Didtung tritt Hier aus dem fünftlihen Bereich der philoſophiſchen 
Allegorie heraus und jchlägt die wärmften Töne religiöfer Myſtik an. 

Für die irdiſche Prudentia ift aber folder Glanz und ſolche Schönheit 
zu viel. Unvermögend, fie zu ertragen, fintt fie wie ſtarr in Efftaje. Die 
Theologie Hilft ihr imdes ſchweſterlich, richtet fie auf, ſtärkt fie und ruft 
die Fides herbei, melde fie aus ihrer Efitafe erhebt und neu belebt und 
fie mittel$ eines Spiegel in die übernatürlihen Geheimniffe, wenn aud) 
nur dunkel, einweiht. Von Theologia und Fides geleitet, dringt Prudentia 
nun bis zum Throne Gottes vor, wirft fi anbetend vor ihm nieder und 
unterbreitet ihm das Geſuch der Natur. Voll Huld und Liebe willigt Gott 


Die Humaniften und die Schulpoefte des 12. und 13. Jahrhunderts, 395 


in die Bitte ein und verſpricht ihr eine mit allen Tugenden geſchmückte 
Menſchenſeele. Alsbald wird auch das Verſprechen erfüllt, und Prudentia 
kehrt mit der herrlich ausgeſtatteten Menſchenſeele zur Natur zurück. Dieſe 
bereitet derſelben aus den Elementen einen würdigen Leib; Concordia ver— 
bindet ihn mit der Seele, Kunſt und Tugenden ſchmücken ſie verſchwenderiſch 
mit den höchſten Gaben aus. 

Doch nun erhebt ſich Alekto in grimmigem Haß und Neid, ruft alle 
Laſter zum Kampfe auf, und der neue, gerechte Menſch ſieht ſich in einen 
Krieg auf Tod und Leben verwickelt. Mit Hilfe der Tugenden wird indes 
ein Laſter um das andere in die Flucht geſchlagen, und ein paradieſiſches 
Glück belohnt den glücklichen Sieger und vollendet den von der Natur fo 
hei eriehnten Triumph. 

Der Epilog gefteht und mit naiver Offenheit, dak der Dichter viel 
Mühe und Schweiß auf fein Opus verwendet habe und dabei nun noch 
die Kritik fürdten müſſe; er habe es auch nicht den alten Dichtern gleich: 
tun wollen, jfondern begnüge ſich mit einem beſcheidenen Tamarisfenfranz. 
Trotz der oft froſtigen und lehrhaften Allegorie enthält das Gedicht doch 
mande ſchöne Stelle; die Philoſophie des Alanus jelbit hat einen entſchieden 
platoniihen, poetiſchen Zug, und religiöje Begeifterung belebt nicht jelten 
den jehulmäßigen Aufbau des Ganzen mit frifcher, Iebendiger Wärme. 

Eine ähnlihe Verbindung von Poeſie und Philofophie ftellt der Liber 
de planctu naturae dar, welcher, mit elegischen Klagen über die Mißachtung 
des Sittengejeßes beginnend, nad dem Vorbilde des Boöthius zum Teil in 
Proja, zum Teil in Verjen gejchrieben iſt. Die eingeftreuten Gedichte find 
meift jehr gehaltvoll und ſchön, während die Allegorien des proſaiſchen 
Rahmens mitunter ins Barode hinüberjpielen !. 

Peter von Blois (1130—1200), ein Schüler Johanns von 
Salisbury, Hinterließ außer wertvollen theologiihen Proſaſchriften auch einige 
Gedichte, darunter einen Traktat in Herametern über die „hochheiligen Ge: 
heimniffe der Eudariftie” (in 26 Sapitelden geteilt), ein gereimtes Lied 
über den „Kampf zwiſchen Fleiſch und Geiſt“, ein längeres gereimtes 
Klagegediht „Gegen die der Wolluft ergebenen Kleriker“. 

Johann von Hantpille, ein Normanne, ſchildert in jeinem 
Archithrenius vorwiegend allegorifch die Nöten und Gefahren, welche dem 
Erdenpilger hienieden die verſchiedenen Leidenjchaften bereiten. An den Gärten 
der Wolluft, dem Berge des Ehrgeizes, dem Drachen des Geizes vorbei 
gelangt der jammernde Wanderer indes glüdlih nah Thule, wo er von 


ı Migne, Patr. lat. CCVII 1127—1158. — Über den Einfluß des Wilhelm 
von Conches, Alanus be Infulis, Johann von Salisbury auf einige Partien bei 
Thomafin von Zerlläre vgl. A. B. Schönbach, Die Anfänge des beutfchen Minne— 
fange, Graz 1898. 


396 Vierzehntes Kapitel, 


jämtlihen Philoſophen des Altertums anphilojophiert wird. Zuletzt kommt 
er zur Natur, melde ihm „Mäßigung“ als Univerfalmittel anempfiehlt und 
ihn glüdlich verheiratet !. 

Die Geftalten der Natura, des Fatum und der Fortuna kehren au in 
andern Dichtungen diejer Zeit wieder. So in der Elegia de diversitate 
fortunae et philosophiae consolatione? des Heinrih von Setti- 
mello, eines Pfarrer in der Nähe von Florenz, den Ehrgeiz und Habſucht 
feines Biſchofs um alles brachten und der num ala unfteter VBerbannter (zwiſchen 
1192 und 1194) in diefem Gedichte feine Leiden bejammerte. So aud in 
der Controversia Hominis et Fortunae® des Heinrid von Mailand, 
der wahrſcheinlich als Parteigänger der Nobili um 1259 von jeiner Heimat: 
ftadt vertrieben wurde und nun ebenfalld im Verſen über jein Schickſal 
philofophierte. Der jchmerzlih bewegte Tosfaner fommt nicht viel über 
bloße Klagen hinaus. Nah ihm ift die Fortuna wohl eine Göttin, aber 
recht eigentlih die Göttin der Ungerechtigkeit, der Gejehlofigkeit, des von 
feinem höheren Prinzip geleiteten Wechſels; der Menſch kann daher nichts 
Befleres tun, als fih ganz von ihr loszuſagen, von ihr weder zu fürchten 
noch zu Hoffen. Ziefer faßt Heinrih von Mailand die Sade auf. Nach 
ihm ift die Fortuna feine mwillfürliche Urjache, jondern eine gerechte, jedem 
treugefinnte Mutter. Nur den Namen hat fie mit der altheidniihen Glüds- 
göttin gemein, und darum hat die Maffe der Dichter ihr fälſchlich ein blindes 
Walten beigelegt. Sie ftammt nicht von den Geftirnen. Ihr Vater ift der 
göttliche Geiſt. „Als feine Tochter geht fie durch die Welt, die königliche, 
und erleuchtet, was lange verborgen war; fie führt den Willen des höchiten 
Künftlers aus und verkündet feine Beichlüffe. Die höchſte Vernunft ift un— 
geteilt und bei ſich jelber, durch die himmlischen Körper ergoffen, verſchmäht 
fie die jchwanfenden Wechſel. Dann von den höheren Kreifen auf das 
Wandelbare (die Natur) übertragen, ändert fie ihren Namen und wird Fatum 
genannt; Formen, Lagen, Zeiten, Bewegungen des Einzelnen leitet das Fatum 
in jhöner Ordnung und nad mweilem Gejeh. Und dieſes Geſetz überträgt 
auf den unterften Kreis (den irdifchen) wie ein treuer Dolmetſch die Fortuna; 
aus freiem Entihluß befolgt der Menſch ihre Gebote.“ * 


ı Herauäögeg. von J. Badius Afjenfius, Paris 1517. 

® Gedrudt bei Leyser, Hist. poetarum et poematum medii aevi, Magde- 
burgi 1721, 453—496. Separatausgabe von Domin. Maria Manni, Florenz 
1730, mit italienifcher Überfegung aus dem 13. Jahrhundert. — Biographiſches über 
den Berfafier bei Villari, Liber de civitatis Florentiae famosis civibus, ed. 
Galetti, Florentiae 1847, 31. 

® Duo libri, ed. Cyprianus Popma, Coloniae 1570, 1584. 

K. Francke, Zur Gefhichte der lateinischen Schulpoefie des 12. und 13. Jahr⸗ 
hunderts, München 1879, 53 54. Er vergleiht damit Dante, Inferno VII 79 ff 
und Purgatorio XVI 79 fi. 


Die Humaniften und die Schulpoefie des 12. und 13. Jahrhunderts, 397 


Wie die Briefe des Johannes von Saliebury, fo ift aud die reiche 
Brieffammlung des Beter von Blois ein ſchönes Denkmal echt kirchlicher 
Gefinnung, mweitreihender religiöfer Wirkjamkeit, hoher geiftiger Veranlagung 
und vielfeitiger Bildung. Sie gewährt einen überaus intereffanten Einblid 
in das ganze geiftige Leben jener Zeit, ihre verſchiedenen Strömungen und 
Intereffen, auch in den gelegentlihen Konflikt, in melden die bisherige 
humaniftiihe Studienritung mit der aufblühenden Scholaftif und deren 
vorwiegend ſpekulativer Richtung geriet. 

Bemerkenswert ift in dieſer Hinfiht ein Brief des Peter von Blois 
an den Ardidialonus von Nantes, welcher ihm feine zwei Neffen zur Aus: 
bildung zugefandt Hatte, einen älteren Wilhelm, der mit Überfpringung der 
humanifliiden Studien ſchon philoſophiſchen Unterricht genofien hatte, und 
einen jüngeren Johann, der noch ein Knabe war und bislang nicht fudiert 
hatte. Der Oheim fnüpfte an die Vorbildung des erfteren die jtolzefte 
Hoffnung; Peter von Blois teilte aber feine Anficht nicht. 


„Während Ikarus“, ſchreibt er, „ſich im jugendlichen Beichtfinn zum Himmel 
erhebt, geht er in den Meeresfluten unter. Auch joldhe, Die fih in den philojophifchen 
Studien (artibus) verwegen erheben, fommen zu Schaden. Einige werben, bevor fie 
no den nötigen Elementarunterridht genoffen, zu gelehrten Unterſuchungen angeleitet 
über Punkt, Linie und Flähe, über die Quantität ber Seele, das Schidjal, die 
Neigung der Natur, den Zufall unb ben freien Willen, die Materie und die Be: 
wegung, über die fonftitutiven Elemente der Körper, über die Progreffionen, über 
die Teilung der Größen, über Zeit, Raum und Ort, über Jdentität und Verſchieden— 
heit, über Zeilung, Zeilbarfeit und Unteilbarfeit, über Subftanz und Form bes 
Worts, über das Weſen ber Univerjalbegriffe, über Urfprung, Nutzen und Zweck ber 
Tugend, über die legten Urfaden der Dinge, über Ebbe und Flut, über ben Urſprung 
des Nils, fiber die verjchiedenen verborgenen Geheimniffe ber Natur, über die ver— 
fhiebenen Formen der Prozeffe, die in den Kontraften und Quafifontraften, Male: 
fijien und Quafimalefizien entftehen, von dem erften Urſprung der Dinge und zahl- 
reichen andern Saden, welche die Grundlage eines umfangreihen Wiflens und ſchon 
bedeutenden Verſtand erheifhen. In früheren Zeiten beichäftigte fih das zarte Alter 
mit ben Regeln der Grammatik, mit den Analogien, den Barbarismen und Solözismen, 
den Tropen und Figuren; der Theorie all diefer Dinge wandten Donatus, Servius, 
Priscianus, Jfidorus, Beda, Eaffiodorus den eingehendften Fleiß zu; das hätten fie 
wahrlih nicht getan, wenn man ohne fie eine wiffenihaftlihe Grundlage haben könnte. 
Denn auch Quintilian, der diejes Fach lehrt und für deſſen Betreibung einjteht, er— 
hebt es mit folchen Lobſprüchen, daß er öffentlich verfichert, ohne dasſelbe könne eine 
wiſſenſchaftliche Bildung nicht beftehen. C. Cäſar gab Bücher „von ber Analogie“ 
heraus, weil er wußte, dab ohne dieſe Wiſſenſchaft feiner Teicht zur Klugheit gelangen 
fanı, in welder er auögezeichnet war, noch zur Beredſamkeit, bie er gewaltig be— 
herrſchte. M. Tullius eifert feinen Sohn, ben er zärtlich liebte, aufs angelegentlichfte 
zur Grammatif an, wie aus feinen zahlreidhen Briefen hervorgeht. Und was hat es 
für einen Nutzen, bie Philofophiehefte abzublättern, die Auszüge wörtlich auswendig 
zu lernen, bie Schlicfe der Sophismen umzubdrehen, die Schriften der Alten zu ver: 
urteilen und alles zu tabeln, was nit in den Schulheften ihrer Magifter fteht? Es 
fteht geichrieben: bei ben Alten ift die Wiflenfchaft. Und Jeremias kommt nit aus 


398 Vierzehntes Kapitel. 


dem Gefängnis, bis ihm an Striden alte und abgetragene Kleiber hinabgelafien 
werden. Denn aus ben Tiefen der Unwiſſenheit fteigt man nit zum Lichte der 
Wiffenihaft empor, wenn man nicht mit eifrigem Studium bie Schriften der Alten 


lieft. Hieronymus rühmt fi, viel Mühe und Fleiß auf die Schriften bes Origenes _ 


verwendet zu haben. Auch Horaz tut fi etwas darauf zu gute, wieder und wieder 
den Homer gelejen zu haben. 


Qui, quid sit pulchrum, quid turpe, quid utile, quid non, 
Plenius ac melius Chrysippo et Crantore dieit. 


„Ich weiß, wie jehr ed mir genüßt hat, daß, als ich als Kleiner im Verſe— 
machen unterrichtet wurde, ih mir den Stoff, nad) Anweifung bes Lehrers, nicht aus 
Fabeln, jondern aus ber wirflihen Geſchichte nahm. Es nützte mir, dab ih als 
Knabe die durch Eleganz des Stiles und feine Höflichkeit hervorragenden Briefe 
Hildeberts, Biihofs von Le Dans, auswendig lernen und aus dem Gebädhtnis her- 
fagen mußte. Außer ben übrigen, in ben Schulen allgemein befannten Büchern 
nüßte es mir, häufig ben Trogus Pompejus, Jofephus, Suetonius, Hegefippus, 
O. Eurtius, Cornelius Tacitus, Zitus Livius anzufehen, welche in die von ihnen 
berichteten Geſchichten vieles verweben, was zur fittlihen Erbauung und zum Wort: 
ichritte höherer Bildung dient. Ich Habe auch andere gelefen, welde nicht über 
Geſchichte handeln, es find ihrer unzählige. Aus all diefen fann fi ber Fleiß ber 
Neueren wie in Gärten buftende Blumen pflüden und in feingewählter Anmut des 
Ausdruds fi Honig bereiten.“ ! 


Einen Theoretiter fanden Boefie und Rhetorik zugleih an dem Eng— 
(änder (oder Normannen) Geoffrey Vinſauf (oder de Vino Salvo), 
der, exit in Orford, dann in Paris und an italieniihen Schulen weiter 
ausgebildet, während feines AufentHaltes in Rom (1195) feinem Geringeren 
als dem Papſte Innocenz IH. jelbft feine in 2138 Herametern abgefaßte 
Boetit (De Nova Poetria)? widmete, mit der etwas überfchwenglichen Anrede; 

Lux publica mundi, 
Digneris lucere mihi, dignissima rerum, 
Dulce tuum partire tuo. Dare grandia solus 
Et potes et debes et vis et seis. (Quia prudens 
Seis; quia elemens vis; quia magnus origine debes; 
Et quia papa potes. 


In leichter, oft fehr eleganter Diktion führt er die Regeln für die 


einzelnen Arten der Dichtung aus und belegt fie mit Beijpielen, Die ges 
fegentlih der Zeitgefhichte entlehnt find; vor allem erklärt er fi gegen 





! Ep. CI ad R. Archidiac. Nannet, Petri Blesensis Epistolae I (ed. 
Giles) 316-317. — H. Denifle, Chartularium Univ. Parisiensis I, Paris 
1889, 28 29. 

2 De Nova Poetria, gebrudt bei Leyser, Hist. poetarum et poematum 
medii aevi 863—978. — In andern Handidriften führt das Werk bie Titel: Ars 
dietandi, Artificium loquendi, Enchiridion cum medulla grammaticae, Poetica 
novella. — Bgl. Histoire litteraire de la France XVIII 305-312. j 


Die Humaniften und die Schulpoefie bes 12. und 13. Jahrhunderte. 399 


die gereimte rhythmiſche Poefie, welche durch die fahrenden Sänger damals 
allgemeine Beliebtheit erlangt hatte, und fordert die Zeitgenoffen auf, wieder 
zu den Versmaßen der Alten und zu der firengen Metril und Kritik des 
Horaz zurüdzufehren. 

Die Poetik des geiftreihen, mwelterfahrenen Engländerd enthält mande 
feine, gewinnende Züge. 

„Er verlangt, daß ber ganze Kreis der Dichtung erft ausgemeffen jei und be= 
reits als. deutliches Bild in der Vorftellung des Dichters ſchwebe, ehe mit der Aus» 
führung bes Einzelnen begonnen werde. Er vergleiht bie Dichtkunſt mit einem 
Ebdelfnaben, der am Anfang bed Gedichtes den zu Befingenden feierlich empfängt, 
dann im Verlauf besjelben als vornehmer Gaftgeber ihn an eine glänzende Tafel 
führt und jchlieglih mit Heroldston ihn ehrfurdtsvoll entläßt. Er fordert bie 
möglichſt hHarmonifche Übereinftimmung von Inhalt und Form und warnt dor der 
eiteln Tünche leeren Wortzierrats. Er redet der Vermenihlihung der Natur das 
Wort unb erklärt den Reiz einer ſolchen Vermenſchlichung daraus, daß wir uns gerne 
jelbft im Spiegel ber Natur erbliden. Er hält eine zarte Mifhung von Gegen- 
fügen, von Anmut und Würde, von Gewandtheit und Kraft für die höchſte Hunt. 
Er billigt das Wort der Alten, man müſſe ſprechen wie die Vielen und benfen wie 
die Wenigen.“ ! 


Biel handwerksmäßiger aufgefaßt erſcheint die Poefie in der Poetik 
des Eberhard von Bethune aus Artois (Eberhardus Betuniensis), 
welde den Zitel führt: Labyrinthus sive carmen de miseriis rectorum 
scholarum?, Der jog. Graecismus, eine von demjelben Lehrer abgefafte 
lateinifhe Grammatik (welche bejonders die aus dem Griechiſchen abgeleiteten 
Wörter berüdfichtigte), erlangte vom Jahre 1212 an eine fehr weite Ber: 
breitung. Der Berfaffer jelbft aber ſchildert fi als einen armen Schluder 
und das Schulmeifterhandwerf als das Fläglichfte von der Welt. Umſonſt 
fieht fih die Natur vor feiner Geburt um ein glüdliches Vorzeichen um, 
fein freundliches Geftirn will ihm leuchten. Wenn andere die Bücher des 
Alten und Neuen Zeftamentes leſen können, oder Ptolemäus, Euklid, Guido 
bon Arezzo, Bosthius, Cicero, Ariftoteles, Galen, Florus, Mafrobius, 
Platons Timäus, Gratians oder Juftinians Geſetzbücher, jo wird es ihm 
vorbehalten fein, die Fibel zu fudieren und die Donate und Gatone, 

Es kann aljo fein Zweifel jein, daß die Grammatik an antifen Leſe— 
ftüden eingepauft wurde. Aus den Klagen des vielgequälten Schulmeifters 
aber zu folgern, dab alle die grammatiſche und rhetoriihe Schulmeifterei 
für die allgemeine Bildung ganz nutzlos gewejen, oder nad diejen Klagen 





RR. Frande, Zur Geſchichte der lateiniſchen Schulpoefie des 12. und 
13. Jahrhunderts, Münden 1879, 12. 

2 Gebrudt bei Leyser a. a. ©. 796—854. 

2C. Daniel 8. J. (deutih von J. M. Gaißer), Klaffiſche Gtabien in ber 
chriſtlichen Geſellſchaft, Freiburg i. B. 1855, 103. 


400 Vierzehntes Kapitel. 


den gejamten Bildungsftand überhaupt bemeſſen zu wollen, das wäre ficher 
zu weit gegangen. 

Als Lejeftoff feiner Schule (um 1212) find bei Eberhard von Bethune 
(Tract. II 1 f) folgende Schriften und Autoren bunt zujammengeftellt: 


Die Sentenzen des Cato, die Efloge des Theodulf (saec. X), Avian (saec. IV), 
Aeſop (wohl Phädrus), Marimians Elegien über bie Leiden bes Alters, Pamphilus 
de vetula, des Vitalis Blefenfis Amphitruo (saec. XII), Elaudians Raub der Pro- 
jerpina, Statius’ Adilleis, Ovid, Horaz' Satiren, Juvenal, Perfius, der Ardi- 
threnius des Johannes Hantvillenfiß (saec. XII), Bergil, bes Statius Thebais, Lucan, 
Walter Alerandreis, Claudians „Gegen Rufinus“ und „Preis bes Stiliho“, Dares 
Phrygius, der lateinische Homer, Sidonius, der Solymarius, Aemilius Macer (Marbod) 
de lapidibus et gemmis, bie Aurora bes Petrus be Riga, das Carmen paschale 
des Sedulius (saec. V), Nrator, Prubdentius, der Anticlaudian des Alanus, der 
Tobias des Matthäus Vindocinenſis, die Ars nova scribendi des Gaufredus, das 
Doctrinale des Nlerander de Billa- Dei, ber Gräcismus bes Eberhard, Proiper 
(saec. V), bes Matthäus Vindocinenfis Satire auf die Eurialen, die Synonymif bes 
Hohannes be Garlandia, Martianus Gapella, Bosthius, Bernhards von Ehartres 
Megalosmus und Mitrofosmus, die Allegorien des Phyfiologus, Paraklitus, Sibonius 
über das Alte und Neue Teftament. 


Ein vollftändiges Bild damaliger Lektüre gibt dies nicht. Johann von 
Salisbury jhäßte den Terenz, Peter von Blois den Plautus, Alanus den 
Martial, den er in jeinen Epigrammen nachbildete. 

Die Schätzung war eine eigenartige. Walter von Chätillon bevorzugte 
Lucan und Glaudian dor Bergil; Wilhelm der Bretone hielt Lucan hoch, 
Statius niedriger als Vergil; Bernhard von Ghartres bevorzugte Lucan 
und Statius vor Bergil und Terenz (weil ordo artificialis befler als 
naturalis). Derjelbe Bernhard und SHeinrih von Settimello ahmten 
Boethius nad !. 

Eine außerordentliche Belejenheit in den altlateiniihen Schriftitellern, 
aber ohne bejondere Vorliebe zu einem derjelben, verrät der Schulmeifter 
Konrad von Mure (Muri), der 1259 Kantor an der Propftei in Zürich 
und Borftand der dortigen Schule wurde und bis zu feinem Tode 1281 
die bejondere Gunft des Königs Rudolf von Habsburg genoß. -Wie fein 
Stil troß all diefer Erudition nichts weniger als muftergültig ift, jo tritt 
auch in feinem „Neuen Gräcismus” und in feinem „Fabularius“? ſchon 


ı 8. Frande, Zur Gefhichte der lateiniſchen Schulpoefie bes 12. und 
13. Jahrhunderts 23 24. 

* Der „Fabularius“ wurde 1470 in Bafel gebrudt unter dem Titel Repertorium 
vocabulorum exquisitorum oratoriae, poösis et historiarum etc. Editum a doctissimo 
litterarum amatore Magistro Conrado, Turicensis ecclesiae cantore et completum 
anno Düi MCCLXXL. — Bol. Gall Morel, Konrad von Mure (Neue Schweiz. 
Muſeum III, Bafel 1365, 29—62). 


Die Humaniften und die Schulpoefie des 12. und 13. Jahrhunderts. 401 


mehr die Neigung hervor, die Jugend mit Realtenntniffen zu bereichern, ala 
fie zu feinerem Sunftverftändnis heranzubilden. 

Shan die lange Reihe von Autoren, welde Eberhard von Bethune 
aufführt, läßt es, bei der beſchränkten Zeit der humaniſtiſchen Studien, 
nahezu als unmöglich erfcheinen, dab fie in der Schule alle ganz gelejen 
und erflärt worden find. Man muß alfo notwendig an eine Auswahl 
denken. Die Gleihftellung des Prudentius, Profper, Juvencus, Sebulius, 
Arator, jogar zeitgenöffiicher chriftliher Dichter wie Peter de Riga mit den 
alten Klaffifern, ja die ganze Richtung der Erziehung bürgt genugſam dafür, 
da bei der Auswahl der Lektüre religiögsfittliche Geſichtspunkte, wenn auch 
nit ausschließlich, maßgebend waren. Wenn darum nod) bei Nikolaus bon 
Bibera (13. Jahrhundert) und Hugo von Trimberg (1280) die erotifchen 
Werke Ovids und die Elegien Mariminians (eines anrüchigen Elegifers des 
6. Jahrhunderts) in den Verzeihniffen der Schulfeltüre vorlommen, fogar 
Scäuleinleitungen zu jolden bedenktlihen Werken erhalten find, jo wird man 
auch hier nicht ſofort verallgemeinern dürfen, fondern an Einfhränfung 
und pädagogiihe Schußmaßregeln denten müflen. Schon Konrad bon 
Hirſchau erklärte ih (um die Mitte des 12. Jahrhunderts) entjchieden 
gegen die Lejung Ovid. Um Mariminianus und defjen Nugae für immer 
aus der Schule zu verbannen, jchrieb Alerander de Villa-Dei (Villedieu in 
Mande), Lehrer zu Dol in der Bretagne, 1199 fein „Doctrinale“, eine 
lateiniihe Grammatik, die raſch allgemeine Verbreitung fand und bis zum 
Ende des Mittelalters eines der beliebteften Schulbücher geblieben if. Bei 
manden Humaniften des 12. und 13. Jahrhunderts tritt allerdings in 
Bezug auf erotifche Poefie eine Nahfiht zu Tage, welche fi ftarf der 
Ungebundenheit der Renaiffance nähert, manche unſchöne Produkte hervor: 
rief und öfters ftarfe Oppofition gegen die klaſſiſchen Studien überhaupt 
herbeiführte, 

Auffallend ift, wie ſeit der Zeit Hildebert3 der Herameter faſt ganz 
durch das elegiiche Diftihon verdrängt wird. Nicht bloß mehr Epigramme 
und Elegien, jondern ſelbſt die mweitjchweifigften epiſchen Gedichte, wie Die 
„Aurora“ des Peter de Riga, find in folden Diftihen gejchrieben, nicht 
jelten mit Aufbietung der baroditen Künfteleien. In etwas befferen Diftichen 
ift au der „Troilus“ abgefaßt, eine Bearbeitung der jog. „Trojaniſchen 
Geihichte” des Dares in 5320 Berjen, welde der ald Annalift gejchäßte 





ı Bol. D. Reihling, Das Doctrinale des Alerander de Villa-Dei (Monum. 
Germ. Paedagogica XI, Berol. 1893, xıx xx xxxvu xxxvın). — F. A.Specht, 
Geſchichte bes Unterrichtsweſens in Deutihland von den älteften Zeiten bis zur Mitte 
bes 13. Jahrhunderts, Stuttgart 1885, 99—101. — R. Stölzle, Das Didaskalon 
bes Konrad von Hirſchau. Ein Beitrag zur Schulgeſchichte des Mittelalters („Der 
Katholik“ II, Mainz 1888, 413). 

Baumgartner, Weltliteratur. IV. 3. u. 4. Aufl. 26 


402 Vierzehntes Kapitel. 


Albert von Stade, erſt Benediltiner, ſeit 1240 Franziskaner, nad) feiner 
eigenen Angabe in ſechs Monaten zu ftande brachte. Dieſe Bevorzugung 
des Diftihons rührt offenbar von den Schulen her, in welchen mehr die 
techniſche Fertigkeit als der Geſchmack gepflegt wurde. 

So erklärt es ſich, daß auch die Bekanntſchaft mit Plautus und Terenz 
zu feinen Verſuchen in dramatifcher Form führte. Vitalis von Blois be: 
arbeitete gegen Ende des 12, Jahrhunderts den „Amphitryo“ des Plautus, 
aber nicht al$ Drama, jondern als Erzählung unter dem Titel „Geta“, in 
262 folder Diftihen, mit vielen ſatiriſchen Seitenhieben gegen die damals 
aufblühende ſcholaſtiſche Philoſophie. Nicht unmittelbar nah Plautus’ „Aulu— 
laria*, fondern nad) einer jpäteren Bearbeitung derjelben, dem „Querulus“, 
dichtete er ebenfalls die Geihichte vom Geizhals in eine komiſche Epopöe 
(von 395 Diftihen) um, gleihfall® mit allerlei Anfpielungen und Ausfällen 
auf die Scholaftil. Sein Latein ift nit von erfter Güte, aber die Verſifikation 
gewandt, die Darftellung lebendig und reih an Witz!. 

Schlimmer wirkte die Nachahmung der römischen Erotifer und Komödien— 
dichter bei andern, welden es an Sprach- und Formgewandtheit wie an 
Geihmad gebrah und bei welchen fih die Nachahmung deshalb auf die 
Mahl anftößiger oder verfänglicher Stoffe und die Ausführung derjelben in 
meift überlünftelten und gejhmadlojen Diftihen beſchränkte. Das ift mit 
drei längeren Gedichten des Matthäus von Vendöme (Vindocinensis) der 
Fall, welche jämtlih anrüchige Ehebruhsgeihichten behandeln. Das erfte 
(Comoedia Milonis oder De Milone Constantinopolitano)? behandelt 
eine jolche Gejchichte aus dem Syntipas; das zweite (Comoedia de glorioso 
milite)3 hat mit der gleichnamigen Komödie des Plautus jo gut wie nichts 
gemein, jondern erzählt nur in derb-naiver Weife die Abenteuer eines ver: 
wegenen Galan; das dritte, die Comoedia Lydiae, hat Aufnahme in den 
Decamerone + de3 Boccaccio gefunden. Es ift gleihfalls eine ſtark ges 
pfefferte Ehebruchsgeſchichte. 





ı Geta, herausgeg. von Angelo Mai (Classici Scriptores e Vaticanis 
codicibus editi V, Romae 1828—1883, 463—478); F. Ofann, Darmitabt 1836; 
danah Th. Wright (Early mysteries etc.), London 1838; J. Geel, Leiden 
1852; €. W. Müller, Bern 1840; U. de Montaiglon, Paris 1348. — 
(uerolus, herausgeg. von KR. Rittershuis, Heidelberg 1595; F. Oſann, Darme 
jtabt 1836. — gl. Histoire litteraire de la France XV, Paris 1820, 428—434; 
XXI ebd. 1852, 89-50. — R. v. Reinharbftöttner, Plautus, Leipzig 1886, 
124—129 270— 274. 

® Serausgeg. von M. Haupt, Exempl. poes. lat. medii aevi, Vindo- 
bonae 1834, 

» Serauögeg. von Ed. Dumeril, Origines du theatre moderne, Paris 1849, 
285— 297, 

* Decamerone, Giornan. 7, nov. 9. 


Die Humaniften und die Schulpoefie des 12. und 13. Jahrhunderte. 403 


Die Perjonen werden aljo bezeichnet: Pyrrhus, eques; Decius dux 
est et Lydia coniux; — est ducis hic fidus; hie gravis; ista levis. 
Lydia ift ein Ausbund weiblicher Schledtigkeit. Sie tut alles, um Pyrrhus 
zu verführen. Dieſer macht feine Einwilligung von drei Bedingungen ab- 
hängig: daß fie dem Lieblingsfalten des Dur den Hals umdrehe, ihm fünf 
Barthaare ausraufe und ihm einen Zahn ausreiße. All das leiſtet fie. 
Pyrrhus mettet, Decius werde feinen eigenen Augen nicht trauen, wenn er 
jie in flagranti ertappe. Auch das wird noch geleiftet. 

Der Verfaſſer, der den Titel Grammaticus führte, gehört dem Ende 
des 12, Jahrhunderts an und war ein jehr geachteter Schriftfieller, den ſowohl 
Eberhard von Bethune in feinem „Labyrinth“ als Walter von Ghätillon 
in feiner „Alexandreis“ lobend erwähnen. Seinen „Tobias“, eine weit: 
ſchweifige und geihmadloje Epopöde von 2200 Berjen!, widmete er feinem 
Landsmanne Bartholomäus von Bendöme, von 1174—1206 Erzbiſchof von 
Tourd. Es iſt nicht zu bezweifeln, daß er ein ganz anftändiger und frommer 
Mann war, aber aus übertriebenem Reſpekt vor den Alten meinte, in der 
Literatur fönne man ji ſchon allerlei Freiheiten verftatten 2. 

Gewandter und feiner in der Form, aber noch weit Ihmußiger, teil: 
weife geradezu pornographiich ift die Elegie AIdas, nad der Ausfage des 
Dichterd einer Volkserzählung nadgebildet, die aus einem vielleiht damals 
no vorhandenen, jet verlorenen Stüde des Menander herrührte: 

Venerat in linguam nuper peregrina latinam 
haec de Menandri fabula rapta sinn. 


Vilis et exul erat, et rustica plebis in ore 
quae fuerat comis vatis in ore sui. 


Der gehadte und oft dunkle Ausdruck, dad Hajchen nah Wortipielen 
und andern jchöngeiftigen Künfteleien, die chniſche Derbheit in Gedanten 
und Wort verleihen dem Gedicht große Ähnlichkeit mit jenen des Matthäus 
von Vendöme; die leichtere und geſchicktere Handhabung des Berjes ließe 
ih allenfall3 dadurch erklären, daß er es erft in fpäteren Jahren verfaßt 
hätte. Er wird indes nirgends als Verfaſſer genannt, wohl aber wird 
eine „Komödie“ Alda al3 Werk des Wilhelm von Blois erwähnt, in einem 
Briefe feines Bruders Peter, worin diejer ihm gratuliert, daß er mieder 
wohlbehalten aus Sizilien zurüdgelehrt jeid. 


ı Gedrudt bei Ed. Dumeril, Poesies inedites du moyen-Age, Paris 1854, 
353—373. 

2 ®gl. Histoire litt. de la France XV 420—428; XXI 55—67. — Er ift 
nicht zu verwechſeln mit Matthieu de Vendöme, dem berühmten Miniſter bes 
hl. Ludwig IX. Bgl. ebd. XX 1 2. 

> Ed. Dumeril a. a. ©. 425—442. — Guilelmi Blesensis Aldae 
comoedia ed. C. Lohmeyer, Lips. 1892. * Ed. Dumerila. a. ©. 422. 

® Petri Blesensis Opera omnia I (ed. Giles) 290. 

26* 


404 Vierzehntes Kapitel. 


„Denn jenes hölliſche Land,“ fchreibt er, „das feine Einwohner aufzehrt, ließ 
mid an Eurer Nüdfehr verzweifeln; jet aber trinkt Ihr durch Gottes Gnabe wieder 
die heimische Luft und bie Weine von Blois, während Euch Sizilien, wenn es Euch 
noch länger feftgehalten, vergifteten Wein gereicht haben würde. Ja, Bruder, Yhr 
läget jebt jchon in marmornem Grabe, auf dem vielleicht, zum Gewinn eitlen Ruhmes, 
bie Inſchrift fände: ‚Guilelmus Blesensis Matinensis abbas hie iacet.‘ Bruber, 
nad) bes Dichters Zeugnis ‚ift es leicht, das Grab zu mifjen‘ (levis est inctura 
sepuleri). Ein längeres empfehlenbes Andenken werben deinem Namen beine Tragödie 
über Flaura und Dtarcus, deine Verſe von dem Floh und ber Mücde, beine Komödie 
von der Alda, beine Predigten und deine übrigen theologifchen Werke gewähren; 
möchten fie nur weiter verbreitet und noch ruhmreicher befannt fein! Mehr Ehre ift 
Euch aus Euern Werfen erwachſen als aus vier Abteien 1” 


Dana ift wohl faum zu zweifeln, dab Wilhelm von Blois das Gedicht 
verfaßt hat und daß ein allzufreier Humanismus ſchon im 12. Jahrhundert 
auf diefelben Abwege geführt Hat, welche eine übermäßige und jchranfenloje 
Berehrung der altklajfischen Poefie jpäter in den Tagen der Renaiflance zur 
Heerftraße der wahren Bildung rechnete. 

Anftändiger ift die „Geihihte von Baulin und Polla“, etwa 
500 Diftihen!. Sie ift einem Kaiſer Friedrich gewidmet, aljo Friedrich IL. 
(1212—1250) oder Friedrich III. (1452—1493), von einem Nichter 
Rihardus, der fih Venusinae gentis alumnus nennt. Es ilt eine Er: 
zählung, aber die Reden der handelnden Perjonen nehmen einen jo breiten 
Raum ein, daß fie, einige Übergänge abgerechnet, faft dramatijch wird. 

Materiam nostri, quisquis vis, nosce libelli; 


haec est: Paulino nubere Polla petit. 
Ambo senes: tractat horum sponsalia Fulco. 


Die erfte Scene fpielt ſich zwiſchen Fulco und der überaus geſchwätzigen 
Polla ab, die erſt nad) langen Kreuz und Querwegen mit ihrem Heirat: 
projeft herausrüdt, gegen welches Fulco zuerft Einwände erhebt, aber dann 
gleich die Sache juriftiih anfakt und die Finanzbeftimmungen regelt. Polla 
bat nicht viel. 


Sex ego pensa boni filati, brachia centum 
panni subtilis, binaque pepla dabo, 
septem gallinas cum gallo, quae generare 
non cessant; ovis sedulo dives erit. 
Hoc ego polliceor, sic ut sandalia, thecas 

corrigiamque novam deferat ipse mihi. 


Nachdem Polla endlich gegangen, überlegt Fulco, ob er nun erſt früh: 
ftüden oder nüchtern zu Paulin gehen ſollte. Ex entjcheidet fi für das 





' De Paulino et Polla libellus, gedrudt bei Dumsril (Anecdota Poetica etc.) 
374—416. 


Fünfzehntes Kapitel. Satirifhe Dichtung. Die Goliarbden. 405 


eritere, und wie er faum das Eſſen bereitet, fommt Baulinus und wird 
eingeladen mitzueflen. Er nimmt jedvoh nit an. Nach dem Effen geht 
Fulco zu ihm und wird nun feinerjeits zum Eſſen eingeladen, nimmt aber 
ebenfalld nicht an. Zurüdgelehrt findet er einen Dieb im Haufe, der ihm 
die Refte feiner Mahlzeit fortträgt. Er verfolgt ihn mit Steinen, wird 
aber jelbft von einem Wurf getroffen und ſinkt ohnmächtig zujammen. 
Nahdem er fih, wieder erwacht und noch ſchlimmer ausgeraubt, in einem 
langen Monolog zu tröften gefucdht, kommt Paulinus, um zu vernehmen, 
was er ihm denn zu jagen habe. Fulco glaubt zu träumen, und um 
ſich der Wirklichkeit zu verfichern, gibt er dem Beſucher eine Mauljchelle, 
welche diefer jofort erwidert. Nah längerem Wortwechſel richtet Yyulco 
endlich die ihm aufgetragene Brautwerbung aus, die erft abgewieſen wird. 
Bis es ihm endlich gelingt, die Heirat zu fliften, bricht die Nacht herein. 
Als Höfliher und umftändliher Mann begleitet er den alten Paulinus nad 
Haufe. Auf dem Rückweg wird er aber von Hunden angefallen, flieht, 
fällt in eine Grube, muß da die ganze Naht zubringen, wird am Morgen 
beinahe gefteinigt, weil die Leute des Hundelärms wegen meinen, es fei 
ein Wolf in die Grube gefallen. Nachdem er gerettet, wird er von einem 
Bauern als Dieb angellagt und vor Gericht gejhleppt, zum Tode verurteilt 
und erft auf jehriftlihe Eingabe vom Herzog befreit. Dann erft kann er die 
Sponjalienangelegenheit zu Ende führen, und Bolla erhält ihren Paulinus. 
Es ift ſchon eine rechte Bauernfomödie, mit viel baroder Schulmweisheit 
geipidt — ein wirklicher Übergang der Schulpoefie zur Volkspoeſie. 


Sünfzehntes Kapitel. 
Satirifhe Dichtung. Die Goliarden. 


Wie die Kirche von ihren früheften Anfängen an mit Jrrtümern und 
Irrlehren zu ringen hatte, jo auch mit Fehlern und Mikbräuden, die ji 
infolge menſchlicher Gebrechlichfeit unter ihren Gläubigen und jogar unter 
ihren Hirten entwidelten. Von Jahrhundert zu Jahrhundert ertönen des: 
halb neben den gewaltigen Mahnrufen der Päpfte, der Biſchöfe, Heiliger 
Priefter und Mönde auch in der Literatur trübe Klagen der verjchiedenften 
Art, ſcharfer Tadel, herbe Sittenfhilderungen und auch wohl bittere Satire. 
Andere hinwieder nahmen die Dinge weniger ernft und ſuchten in der 
fomischen Seite derjelben Stoff zu leichtem Spott, Scherz und Humor. 
Dat ſich ſolche Stimmen erhoben, iſt nicht als Zeichen hoffnungsloſen 
Verfall, fondern vielmehr Träftigen inneren Lebens und gejunder Reaktion 


406 Fünfzehntes Kapitel. 


zu betradten. In diefem Sinne find unzweifelhaft die Satirifer aufzu- 
faſſen, welche unter der Regierung Heinrihs II. von England fi gegen die 
obwaltenden kirchlichen Mipftände erhoben. 

Längft vor den ernften firdhenpolitifhen Kämpfen, welche fi unter 
diejem König abfpielten, war England zu einem hohen Grad literariicher 
Bildung gelangt. Die normännifche Eroberung hatte das Land in innigere 
Verbindung mit dem hochentwidelten Frankreich gebradt. Eine Menge Schulen 
waren, raſch emporgeblüht. Zahlreiche Gelehrte kamen vom Freiland herüber, 
während junge Engländer zu Bari und an andern fontinentalen Schulen 
ih ausbildeten. Männer wie Lanfranc, Anfelm von Canterbury, Osborn 
zu Gloucefter, Robertus Pullus, Hugo von Rouen und Robert von Melun 
vertraten die Theologie; Gerland, Roger Infans, Athelard von Bath und 
Robert de Retines pflegten Mathematit und Aſtronomie. Godfrid bon 
Windefter und Laurence von Durham zeichneten ſich als Epigrammatifer 
aus, Reginald von Canterbury als Legendendidhter. Bejonders blühte die 
Geihichte durh Ernulf, Eadmer von Canterbury, Odericus Vitalis, fpäter 
Wilhelm von Malmesbury, Geoffrey von Monmouth, Wilhelm Fititephen, 
Thomas von Ely, Wilhelm von Newburg, Radulphus de Diceto, Roger von 
Hoveden und den originellen Gerald du Barri (Giraldus Cambrenſis), deflen 
„Zopographie von Irland“, „Geſchichte der iriichen Eroberung” und „Reife 
durch Wales“ zu den intereffanteften Projawerfen jener Zeit gehören. Als 
Vertreter des Humanismus begegnen uns neben Johannes von Salisbury 
Joſeph von Ereter und Alerander Nedam!. Schon bei Johannes von Salis- 
bury jpielen Humor und Satire eine hervorragende Rolle; man braudt 
deshalb auch die andern Satirifer, die fih an ihn reihen, nicht allzu tragiſch 
zu nehmen. Sie ftanden auf entſchieden kirchlichem Boden, und ihre Satire 
galt darum nicht den Inſtitutionen, welde die Kirche geihaffen, jondern 
lediglich den Mißbräuchen, welche ſich im diejelben eingeſchlichen Hatten. 

Der derbite derjelben, Nigel Wirefer, war Präcentor in dem 
Benediktinerftift zu Ganterbury und befreundet mit William von Longhamp, 
dem fpäteren Biſchof von Ely, welchem er einen Traktat „Über die Miß— 
ftände in der Kirche“ widmete. Sein Hauptwerk aber war Brunellus sive 
speculum stultorum, ein jatirijches Gedicht in 3800 elegiſchen Verſen?. 





! Ex rerum Anglicarum seriptoribus (Monum. Germ. Hist. SS. XXVID. — 
B. ten Brink, Geſchichte der engliſchen Literatur I, Berlin 1877, 159—170 228 
bis 232.— H. Morley, A first sketch of English literature I, London 1873, 43—71. 

® Brunellus seu speculum staltorum, Paris 1506. — Nigaldi Wiroker 
Angli Bardi speculum stultorum, Paris 1601. — Thom. Wright, Delectus 
poeseos medii aevi etc. Fasc. I Satyrica poemata loh. Hanvil, Nigelli Wireker 
et aliorum poetarum anglorum complectens, Paris 1836. — Die Fabel benußt 
von Ehaucer, in The Tale of the Nun’s Priest (ber Efel heißt hier Don Bur- 
nells Ass). — ®2gl. H. Morley a. a. ©. 55 56. 


Satirifhe Didtung. Die Goliarben. 407 


Die Satire ift hauptſächlich gegen diejenigen gerichtet, welche mit ihrer ſchlichten 
Herilalen Stellung nicht zufrieden, möglihft viele Prioreien und Abteien 
an ſich zu ziehen ſuchen. Diefe verfpottet er unter dem Bilde des 
„Brunellus“. 

„Brunellus ift der Name eine aus Gremona gebürtigen Eſels, den 
ed grämt, einen gar fo kurzen Schwanz zu haben. Er wendet fih darum 
an den weilen Galienus (Galenus) mit der Bitte, ihm zu einem neuen zu 
verhelfen. Galen rät ihm von einem jo gefährliden Experimente ab und 
erinnert ihn an das Beiſpiel einer Kuh, der e& in ähnlichem Falle jehr 
ihlimm gegangen. Er richtet aber mit feinen Mahnungen nichts aus und 
gibt daher ſchließlich ſcheinbar feine Einwilligung zu dem Plane. ‚Geh nad) 
Salerno,‘ jagt er, ‚und kaufe dort folgende Medikamente: Marmorfett, ein 
wenig Gänjemild, etwas Schnedengejhwindigkeit und Wolfsfurdt, ein Pfund 
Pfauengeiang, friſchgefallenen Schnee aus der Johannisnacht uſw. Alles 
das verpacke wohl in Schadteln und Käftchen, nimm es auf die Schultern 
und fomm dann wieder zu mir. Und nun gehab did wohl! Möge es 
auf deiner Reife an Waſſer und Difteln nicht fehlen; möge die Erde dein 
Lager und Tau deine Dede fein; Hagel, Schnee und Regen mögen did) 
beihügen und dein Freund, der Bullenbeiker, dich überall begleiten.‘ Dantbar 
und vergnügt trabt der Ejel von dannen, läßt fi durch feinen Unfall be 
fümmern und erreicht nad zwölf Tagen fein Neifeziel. Hier gerät er einem 
engliihen Kaufmann! in die Hände und macht es diejem durch fein dumme 
ftolzes Auftreten leicht, ihn zu betrügen. Er kauft unbejehens eine ganze 
Menge von Töpfen und Schadteln und tritt froher Hoffnung jeinen Rück— 
weg an. Natürlich läuft er bei feiner Vaterſtadt vorbei, gerät über die 
Alpen und trabt eines Tages in der Nähe von Lyon querfeldein, als ihn 
bon dem nahegelegenen Kloſter aus ein Eiftercienjermönd erblidt und jeine 
Hunde auf ihn hebt. Wütend wird er vom diefen angefallen, der un: 
glüdlihe Schwanz beinahe ganz abgebiffen, die ganze Bagage geht in taufend 
Scherben. An dem rohen Mönd freilicd nimmt der Mißhandelte gebührende 
Rache, indem er ihn Hinterrüds in die Rhone wirft; was foll er jelbit jet 
aber anfangen? nah Haufe zurüdfehren? in diefem jämmerliden Zuftande 
und al3 ein Spott für die ganze Stadt? Nein, das will er nit, nur 
mit Ruhm will er wieder heimfehren. Darum will er jebt feine körperlichen 
Gebrechen durch geiftige Vorzüge erjegen, er will fudieren, Theologie und 
Jurisprudenz, und dann jollen fie fi zu Haufe jpäter wundern, wenn er 
als Magifter und berühmter Nechtögelehrter wieder fommt. Boll jhöner 
Zufunftsbilder macht er fih auf den Weg nah Paris, findet angenehme 
Begleitung und Unterhaltung an einem wandernden Scholaren, und bald 





! Der Name des Kaufmanns trufator — Gauner. 


408 Fünfzehntes Kapitel. 


ift ihr gemeinfames Ziel erreiht. Brunellus badet fih, läßt ſich fcheren, 
fauft fich beffere Kleider und beginnt nun mit aller Kraft dad Studium. 
Vorzüglich imponieren ihm die Engländer dur ihr vornehmes Betragen, 
ihre Freigebigfeit und ihr maßloſes Trinken; an fie ſchließt er ſich deshalb 
enger an und hofft von ihrem Umgang bejondern Gewinn. Doch joviel er 
aud mit ihnen verkehrt und foviel er ſich anftrengt, in jeinen Kopf will 
nichts hinein: fieben Jahre lang läßt er fi von den Lehrern bearbeiten, 
läßt fih an den Ohren zaufen und den Prügel auf feinem Rüden tanzen 
— er wird nur immer älter und lernt nichts außer feinem alten Y:ah. Da 
geht er im fih und denkt: ‚Ach, wäre ich doch in Eremona geblieben. Nun 
bin ich Schon fo lange in Frankreich und kann noch nicht einmal ein Wort 
Franzöfifh, mein Kopf ift ſchwer wie Blei und in meinem ganzen Körper 
fein Blutstropfen. Jetzt erinnere ih mich, daß meine Mutter mich einft 
verflucht und mir hungrige Wölfe auf den Hals gewünjht Hat; ja ich 
werde gewiß noch ein fchredliches Ende nehmen. — Doh wer kann jein 
Schidjal vorausfagen? Jeden erreicht es, wie es vorher beftimmt ift, und 
ift mie nicht vielleicht noch etwas Großes beftimmt? Warum jollte ich nicht 
noch einmal Bischof werden? Werden nicht Heutzutage viele Bijchöfe, die 
es nicht verdienen? Ich aber, wenn ich es einmal werde, ich will nicht 
fein wie die meiften, ih will ein wahrer Priefter und Hirt meiner Herde 
fein, mir foll auf der ganzen Welt feiner gleihen! O mas werben meine 
Mutter und mein Vater jagen, wenn mir der Klerus aus der Stadt ent- 
gegenzieht und in feierlihem Gepränge mich empfängt ?* Er jagt alfo feinen 
Freunden Lebewohl und verläßt Paris. Als er aber vor dem Tore auf 
die Stadt zurüdblidt, da ruft er aus: ‚Ja, was find denn das für Häufer? 
Iſt das niht Rom? Iſt Rom denn jo nahe? Oder wie heikt eigentlich) 
diefe Stadt?‘ Erft von einem vorübergehenden Bauern erfährt er den 
Namen, und nun ifl er freudenfroh; dieſes Wort Paris beſchließt er mit 
nah Hauje zu bringen, das werde gewiß großen Eindrud maden. Auf 
dem ganzen Wege jagt er diejes eine Wort leife vor fich her, dem Gruße 
der Borübergehenden antwortet er nicht; was ihm auch begegnen mag, er 
bleibt ftumm, um das Wort nicht zu verlieren. Doc aud) jet bleibt das 
Unglüd nicht aus; in der Nähe von Vienne muß er mit einem Rompilger 
zufammen übernadten und anhören, wie diefer fortwährend fein Paternofter 
herbetet; er ſpricht nun wohl in Gedanken die Worte desjelben mit, oder wie 
es ſonſt gelommen fein mag — genug, plötzlich ift ihm fein einziges franzöſiſches 
Wort wieder entflohen. Anfangs ift er natürlich wieder niedergefchmettert, 
aber ebenjo raſch erholt er fih auch. Allzugroße Weisheit jei nur vom 
Übel, und was helfe dem Menſchen überhaupt fein Willen? Dem Tode 
fönne er doch nicht entgehen, die Zukunft nicht erkennen. Deren könne ung 
nur die Religion verfihern, und darum jei es für ihm das befte, jetzt in 


Satirifhe Dichtung. Die Goliarben. 409 


den Möndaftand zu treten. Er verſucht es nun der Reihe nach mit den 
verjchiedenen Orden; da er es aber in feinem derjelben aushält, jo verfällt 
er auf den Plan, fich einen eigenen, ganz neuen zu gründen. Dieſer joll 
eine Miſchung aller beftehenden Orden werden. Von den Templern will er 
die ſchönen Pferde aufnehmen, von den Hofpitalitern die Freiheit, zu lügen, 
von den Gluniacenjern, am Freitag Fettes zu effen!, von den Eiftercienjern, 
nachts ohne Hofen zu liegen, von den Grammontenjern die Ungebundenheit 
im Reden, von den Kartäufern die Beſchränkung der Mefje auf einmal im 
Monat, von den regulierten Chorherren die Erlaubnis des Fleiſcheſſens, von 
den Prämonftratenfern das mweidhe Hemd, und jo weiter. ‚So ift denn 
nicht3 mehr nötig als die Beftätigung des Papftes. Und wie follte mir 
diefe verweigert werden? Denn gerechte Bitten weiſt der Papft gewiß nicht 
zurüd; nad Rom alſo will id eilen und meinen Antrag vorbringen.‘ Armer 
Brunellus! Noch wiegt er fich in diefen Hoffnungen, da ſchießt ihm plötzlich 
ein Blutftrahl aus der Naje. Das ſcheint ein böjes Borzeihen; auch in 
der Naht, ehe ihm die Hunde den Schwanz abbiffen, war ihm dasſelbe 
begegnet; er jchredt daher zufammen und betet zu Gott, er möge dod die 
Gefahr, die ihm den nächſten Morgen drohe, abwenden und auf feine Feinde 
lenten. Raum aber hat er jo geſprochen, da tritt der Bauer, fein alter Herr, 
in den Stall, ſchließt die Türe Hinter fih, padt den unglüdlihen Ejel und 
wirft ihm die Halfter über. Auch die Ohren jchneidet er ihm ab, und jo 
treibt er ihn wieder nach Gremona zurüd und an jeine alte Arbeit. Brunellus 
aber gibt noch immer nicht die Hoffnung auf, daß er einft zu Ruhm und 
Ehren kommen werde.” ? 

Das ift freilich eine veriwegene Hoffnung. Denn nad fiebenjährigem 
Aufenthalt in Paris Hat Brunellus noch nicht einmal den Namen der Stadt 
behalten, tröftet fi) indes damit, daß er in der Rhetorik gehört, es könnte 
wohl aud der Zeil für das Ganze (pars pro toto) gelten. 

Derjelben Zeit gehört Walter Map (Mapus, aud wohl Mapes 
genannt) an, etwa um 1143 an der Grenze von Wales geboren; er ftudierte 
in Paris, fam dann an den Hof Heinrichs II., warb defjen Kaplan, wohnte 
1179 dem Lateranenfifhen Konzil bei, wurde Kanonikus zu St Paul in 
London, ſpäter (1196) Erzdiakon zu Oxford und flarb im Beginn des 
nächſten Jahrhunderts (1210)3. In dem Kampfe zwiſchen dem König und 
ı Dies fteht im MWiderfpruh mit den Cluniacenjerregeln (Hurter, Inno— 
cenz III. IV 109). 

"8. Francke, Zur Geſchichte der Lateiniihen Schulpoefie des 12. und 
13. Jahrhunderts 83—86. 

® Thomas Wright, The Latin Poems commonly attributed to Walter 
Mapes, London 1841, Camden Society; Gualteri Mapes De nugis curialium 
distinetiones quinque. Edited from the unique manuscript in the Bodleian library 
at Oxford by Thom. Wright, ebd, 1850. — Phillips, Walter Map (Sikungs- 








410 Fünfzehntes Kapitel. 


dem hl. Thomas von Canterbury ftand Map auf feiten des Königs und 
ward zum bittern Verfolger des Giftercienjerordens, gegen den er jchon 
zuvor Abneigung gehegt hatte. Biſchof Gaufrid von Ely forderte ihn auf, 
dem „Polykratikus“ des Johannes von Salisburyg nachzueifern und ein 
Gediht über „die noch nicht beichriebenen Reden und Taten” abzufaflen. 
Walter wollte nun nachweiſen, dab ein ſolches Unternehmen ſich bei Hofe 
nit ausführen lafle, fam aber von diefem Plane ab und reihte eine Menge 
von Geihichten, Einfällen, Legenden und Anekdoten aneinander, twie fie ihm 
in den Jahren 1182—1189 in die Feder kamen, ohne einheitliche Durch— 
arbeitung in fünf Diftinktionen und diefe wieder in fleine Kapitelchen ge: 
teilt 1, Das bunte Quodlibet erhielt den Titel De nugis curialium; es 
ift für die Hulturgefhichte jener Zeit von höchſtem Intereſſe. Zuerſt ver: 
gleiht Map das Leben bei Hofe mit den Qualen de3 Tartaruß, daran 
fnüpfen ſich dann verſchiedene Hofanelvoten, Mönchsgeſchichten, eine er: 
greifende Klage über die Einnahme Jerufalems durch Saladin, Geihichtchen 
über verſchiedene Orden, bittere Ausfälle über die Giftercienjer, gegen die er 
einen unverſöhnlichen Groll trug, aud gegen den Hl. Bernhard, den er jehr 
giftig beipöttelt, Nachrichten über zeitgenöſſiſche Ketzereien, bejonders die 
Waldenſer, an deren offizieller Unterfuhung er beim Lateranenfiichen Konzil 
(1179) perſönlich beteiligt war, allerlei Mönds- und Einfiedlerlegenden, 
dann wieder wallifiihe Sagen und Märden, die jeltjamiten Liebesgeſchichten 
(befonders eine von Gerbert, dem fpäteren Papft Silvefter IL), endlich 
wieder geſchichtliche und Halbgefhichtlihe Züge aus der Geſchichte der Nor: 
mannenkönige. Sprade und Stil find jehr ungleih. Rhetoriſche Breite 
und geziwungener Stil jtören mitunter den Fluß der Erzählung; doch ſpricht 
aus allem ein feingebildeter und geiftreiher Mann, ein erfahrener Höfling 
und Menſchenkenner, voll Wit und Humor, aber troß feiner Schimpfereien auf 
die grauen Mönche, trob feiner Vorliebe für Abälard und Arnold von Brescia 
und troß mander Derbheiten ein tüchtiger, der Kirche ergebener Kleriler. 

Offenbar feine Jovialität und freiere mweltlihe Richtung haben Anlaß 
geboten, eine Menge anonymer zeitgenöffiicher Satiren und Spottgedichte auf 
jeinen Namen zu fegen, ja ihn jogar zu einem der Häupter der jog. Goliarden 
zu maden. Die jhlimmften diefer Gedichte jcheint er indes, nad neueren 
Forſchungen, nicht verfaßt zu haben, und feine Autorſchaft ift auch für Die 
übrigen keineswegs verbürgt?. 


berichte ber Wiener Akademie. Phil.hiſtor. Klaſſe X [1853] 819 ff); Vermiſchte 
Schriften III, Wien 1860, 115 ff. 

ı Eharakteriftit ber Schrift bei Wright, The Latin Poems commonly attri- 
buted to Walter Mapes ıx—xı. 

® As Walter Map, who was precentor, chancellor, and afterwards arch- 
deacon in the diocese of Lincoln, seems to have lived on more or less intimate 


Satirifhe Dichtung. Die Goliarden. 411 


Goliarden!, nah ihrem Patrone Golias, nannten fi vom 
12. Jahrhundert an die vagabundierenden Studenten, welche teild an den 
Univerfitäten teil3 an Klöſtern und in Städten herumfchweiften, fi vom 
Bettel ernährten, und ſoweit e& ihre Zehrung erlaubte, ein feuchtfröhliches 
Dafein führten. Die Anfänge dieſes fog. Goliardenmwejens feinen ganz 
harmlos gemwejen zu fein. Arme Studenten erjangen fih ihr Almojen von 
Tür zu Tür, wie in dem folgenden herzbewegenden Bettellied : 


Exul ego clericus Bin ein fahrend Schülerlein, 
ad laborem natus, Muß mi mühn und plagen; 
tribulor multotiens Sauer wird’ mir oft und viel, 
paupertati datus. Nur mich durchzuſchlagen. 
Literarum studiis Dem gelahrten Studium 
vellem insudare, Möcht' ich gerne leben; 

nisi quod inopia Leider, daß der Mangel mid 
cogit me cessare. Zwingt, es aufzugeben. 

Ile meus tenuis Ad, was ift mein Mäntelein 
nimis est amictus, Dünne zum Erbarmen, 

saepe frigus patior Bittre Kälte fteh’ ih aus, 
ealore relictus. Kann oft faum erwarmen. 


terms with St. Hugh (dem bl. Hugo, Biſchof von Lincoln), it is worth while to 
point out that nothing can be more uncertain than the authorship of much of 
the literary work commonly attributed to him. It is no doubt, true that he 
allowed himself a good deal of freedom in his criticisms of men and things, 
inveighing especially against the monks with much bitterness — this we may 
learn from his undisputed work, the De nugis curialium and from Giraldus. 
But we may acquit him of any connection witl the scurrilous and ribald verse 
which has been fathered upon him. The famous drinking-song, in particular, 
Meum est propositum in taberna mori, though this perhaps is less open to ob- 
jection than some others amongst his supposed works, has no claim to be known 
as his. See Mr. H. L. Ward’s Catalogue of Romances in the British Museum, 
and the Article on Map in the Dictionary of National Biography (H. Thurston, 
The life of Saint Hugh of Lincoln, London 1898, 427 428). 

1W. v. Giejebreäht, Die Baganten oder Goliarden und ihre Lieder (All: 
gemeine Monatsihrift für Literatur 1858, 10 ff 344 ff). — O. Hubatſch, Die 
lateiniſchen Vagantenlieder des Mittelalter, Görlig 1870. — Edelestand 
du M&ril, Poésies populaires latines anterieures au douziöme siöcle, Paris 1843; 
Poesies populaires latines du moyen-äge, ebb. 1847; Po6sies inddites du moyen-äge, 
ebd. 1854. — J. A. Schmeller, Carmina Burana (Bibliothef des Titerarifchen 
Vereins XVI), Stuttgart 1847; 3. Aufl. ebd. 1894. — Flacii Illyrici Varia 
doctorum piorumque virorum de corrupto ecelesiae statu poemata, Basileae 1556. 
— R&. Frande, Zur Gejhichte der lateinischen Schulpoefie des 12. und 13. Jahr: 
hunderts, Münden 1879. — Gaudeamus! Carmina vagorum selecta, Lips. 1379. 
— 2. Laißner, Golias (Überjegt), Stuttgart 1879. — Jaffé, Cambridger Lieder 
(Zeitichrift für deutjches Altertum XIV 491 ff). 


412 Fünfzehntes Kapitel. 


Interesse laudibus Nicht einmal beim Gottesdienft 
non possum divinis, Halt’ ih aus fo Lange, 

nec missae nec vesperae, Bis bie Veiper oder Meſſ' 

dum cantetur finis. Kam zum Schlubgefange, 

Ergo mentem capite Bon Sanft Martins Vorbild laßt 
similem Martini, Euern Sinn erweden, 

vestibus induite Reicht dem Fremdling ein Gewand, 
corpus peregrini. Seinen Leib zu beden. 

Ut vos Deus transferat Daß in feinem Himmel einft 

ad regna polorum, Gott euch Heike wohnen 

ibi dona conferat Und mit ew’ger Seligfeit 

vobis beatorum. Möge reihlih lohnen! 


Wenn fi diefe Baganten aud fahrende Kleriker nannten, jo ilt dieſes 
Wort aber nicht in firengerem Sinne zu nehmen, fondern nur in einem 
weiteren, indem die größte Zahl der Studenten überhaupt an den Uni— 
verfitäten fi der Philojophie und Theologie widmete, eine Art geiftlicher 
Kleidung trug und Anftellung im kirchlichen Dienfte juchte oder im Auge 
hatte. Sie waren indes noch Studenten, nicht durch die ftrengen Pflichten 
des Prieftertums gebunden. Mit dem Beginn der Univerfitäten jelbit aber 
entitanden mande Mißverhältniſſe. Die Dom: und Kloſterſchulen ſanken 
von ihrer bisherigen Bedeutung herab, während fi an den Univerſitäten 
eine übermaſſe von jungen Leuten häufte, die, ohne genügende Zucht und 
Einſchränkung, vielfah die Studien vernadläffigten, fi dem Müßiggang, 
dem Lafter ergaben, planlos dies und jenes trieben, ihre Zeit in Streitereien 
und Slopffechtereien verloren oder auch wohl Halb und ganz verbummelten. 
In diefer Sphäre der Bummelei, bei Becherflang und Zitherjpiel ift größten: 
teil die ſog. Vaganten- oder Goliardenpoefie entjtanden; fie ſchloß indes 
keineswegs auch beſſere Elemente aus. 

Als Ausgangspunkt der Goliardenpoeſie iſt Paris und überhaupt Nord— 
frankreich zu betrachten. Von hier verpflanzte fie ſich ſowohl nad England 
als nach Deutſchland, während ſie in Italien weniger Anklang fand. 
Abälard mit ſeiner freigeiſtigen, unkirchlichen Richtung, feinen Liebes— 
abenteuern, ſeinem erſtaunlichen Formtalent, ſeiner Beliebtheit, die ihm ſtets 
eine außerordentliche Menge von Schülern aus aller Herren Ländern zu— 
führte, dürfte auf das Entſtehen des Goliardenweſens nicht ohne Einfluß 
gewejen fein. Bemerfenswert ift, daß der hl. Bernhard in einem Briefe an 
Papft Innocenz II. Abälard als „Golias“ bezeichnet!. Heloiſe jchreibt 








! Procedit Golias procero corpore nobili illo suo bellico apparatu circum- 
munitus, antecedente quoque eius armigero Arnaldo de Brixia (8. Bern, 
Epist. 189; Migne, Patr. lat. CLXXXI 355). — Map erwähnt ben als Brief 
an Papit Eugen gerichtet, was irrig ift (De nugis curial. dist. I, c. 24; ed. 
Wright 41). 


Satirifhe Dichtung. Die Goliarden. 413 


gerade jeiner Verskunſt e8 zu, daß er alle Damenherzen zu gewinnen ver: 
ftanden und fie jelbft durch feine Lieder zu allgemeiner Berühmtheit gebracht 
habe!. In ihm ftedt ſchon zu gutem Teil der fpätere Goliarde. Wie er, jo 
ſchrieb auch fein Schüler Hilarius Gedichte im Stile der Vaganten. Abälards 
Name figuriert ebenfalls bedentjam in einem der größeren Goliardengedichte, 
der Metamorphosis Goliae Episcopi?. 

Siteraturgefhichtlih ift diefe Metamorphosis wohl eines der merf- 
würdigften Goliardenlieder, wenn nit das bedeutjamfte, indem es die 
Stellung der Goliarden zu dem bisherigen Humanismus einigermaßen näher 
bezeihnet?. Es erinnert lebhaft an die Nuptiae Philologiae et Mercurü 
des Martianus Gapella. Man möchte es faft als eine Traveftie derjelben 
betradhten. Denn was dort hochpathetiſch, breitipurig und feierlich ab- 
gehandelt wird, erſcheint hier in einem leichten, leichtfinnigen, gedrängten, 
urfröglihen Miniaturbild. Bei Frühlingsanfang im freien träumend, fieht 
ih der Poet in einen wunderherrlihen Hain verſetzt, wo der Winter feinen 
Zutritt Hat, der Frühling ewig blüht. Im Rauſchen der Zweige, im Ge: 
jumme der Bienen, im taujendfahen Gejang der Vögel Elingt das ewige 
Lied der Liebe, die Harmonie der Sphären wieder. 

Hic auditur avium vox dulcicanarum, 
quarum nemus sonuit voce querelarum ; 


sed illa diversitas consonantiarum 
praefigurat ordinem septem planetarum. 


Dort erklingen hell und ſüß trauter Vöglein Lieder, 
Bon ber Liebe Klageton hallt das Wäldchen wieder. 
Doch ein Nachklang find fie nur, unferm Ohr zu zeigen 
Himmelsiphärenharmonie und Planetenreigen. 


Mitten in dem Haine öffnet ſich ein blumiges Gefilde, vom bunteften 
Blütenflor durchwogt, vom füheften Blütenduft erfüllt. Da erhebt fih auf 





! Duo autem, fateor, tibi specialiter inerant, quibus feminarum quarumlibet 
animos statim allicere poteras, dietandi videlicet et cantandi gratia.... Cum me 
ad temporales olim voluptates expeteres, crebris me epistolis visitabas, frequenti 
carmine tuam in ore omnium Heloissam ponebas, Me plateae omnes, me domus 
singulae resonabant (Petri Abaelardi Opera; Migne a. a. DO. CLXXVII 
185 188). Abälard jelbft ſchreibt an Heloife: Quorum (amatoriorum) etiam car- 
minum pleraque adhuc in multis, sicut et ipsa nosti, frequentantur et decan- 
tantur regionibus, ab his maxime quos vita similis oblectat (ebb. col. 128). Noch 
deutlicher jagt Heloife: Amatorio metro vel rhythmo composita reliquisti carmina 
quae, prae nimia suavitate tam dietaminis quam cantus saepius frequentata, 
tuum in ore omnium nomen incessanter tenebant, ut etiam illiteratos melodiae 
dulcedo tui non sineret immemores esse (ebd. col. 185 186). 

® Th. Wright, The Latin Poems attributed to Walter Mapes 21—50. 


’s TH. Wright fand das Gedicht nur in einer Handſchrift: Harleian Mss. 978, 
Fol. 121, Vo. 


414 Fünfzehntes Kapitel. 


hehren Säulen ein prachtvolles Königsſchloß, deſſen Boden von Jaſpis, deſſen 
Wände von Hyazinthen, deſſen Dad von Gold ftraflt. Innen und außen 
ift es mit den berrlichiten Bildern geihmüdt, wie fie nur Vulkans Götter: 
Hand zu ftande bringen fonnte, Da waren die neun Mufen und die Stern- 
zeihen und Mar und Adonis und Diana. Aber all das waren nur 
Sinnbilder, geheimnisvolle Allegorien. Das Haus ftellt die Schöpfung jelbft 
dar, das Werk des höchſten Künſtlers, der ewigen Güte, die alle Weien 
und Formen zum harmonischen Ganzen gefügt. 

Ista domus locus est universitatis, 

res et rerum continens formam cum formatis, 


quam creator optimus qui praeest creatis, 
fecit et disposuit nutu bonitatis. 


Diefer herrliche Palaft find des Weltalld Hallen 

Mit den Wefen, mit dem Stoff, mit ben Formen allen, 
Die des Schöpfers ewige Huld, fo ob allem waltet, 
Hat mit einem mächt'gen Wink liebevoll geftaltet. 


Damit ift dem antifen Mythos die heidniihe Anſchauungsweiſe ab: 
geftreift, und der Dichter wagt e8 darum, denjelben im folgenden mit ficht: 
fiher Liebe ſymboliſch weiter auszufpinnen. In Juppiter fieht er die 
unerihöpflihe Macht des Ewigen vorgebildet, in Juno die unermeßliche 
Fruchtbarkeit, in der jungfräulihen Pallas die erhabene Schöpferweigheit, 
die den gejamten Weltplan geftaltet hat und zur Durdführung bringt: 

Haee mens est altissimi, mens divinitatis, 
quae naturae legibus imperat et fatis; 


incomprehensibilis res est deitatis, 
nam fugit angustias nostrae parvitatis. 


In ihr Iebt bes Höchſten Geift, lebt ber Gottheit Fülle; 
Schickſal und Naturgeſetz lenkt der ew'ge Wille. 
Unermehlih groß ift Gott, nimmerdar zu fallen: 

Unjer winzig Sein verfhwimmt vor ben Riejenmaflen. 


Es folgt nun die Hochzeit Merkurs mit der Phroneſis, der menſch— 
lichen Einfiht, durch welche das göttliche Willen fih mit dem menjhlichen 
verbindet, eine duch das ganze Mittelalter weiter vererbte volkstümliche 
Borftellung, ftatt in Herametern hier einmal in leiten, klingenden Rhythmen 
fur; und heiter ausgeführt. Bräutigam und Braut prangen im Schimmer 
der freudigften Jugend. Schöner als eine Roje am Morgen ftrahlt die 
Braut. Ihre lichten Gejchmeide bedeuten ebenfoviele Vorzüge der Erkenntnis— 
fraft. Das Gefolge des Brautpaar bilden zunächft die neun Mujen und 
die drei Grazien; dann gejellt ſich ihnen auch der fröhlihe Schwarm der 
Bachanten, Silenus mit den Satyen, Venus und Amor. 


Satirifhe Dichtung. Die Goliarben. 415 


Hier nimmt das Gedicht eine fichtlich leichtfertigere Wendung. Mit 
Behagen verweilt der Dichter bei diejem Teile des Hochzeitszugs, ohne indes 
das Bild durch einen unwürdigen Zug zu entjtellen. Die Macht der Sinnen- 
liebe ift vielmehr in dem kleinen Amor jehr treffend umd jehr artig ſymboliſiert. 
Der Venus wird aud die erhabenere Geftalt der Pallas gegenübergeftellt ; 
aber der Dichter wagt nicht zu entjcheiden, welche der beiden Göttinnen die 
größere Macht befigt. 


Hie diversi militant et diversae vitae, 

qui ab uno solito dissident invite; 

quibus an plus valeat Pallas Aphrodite, 
adhuc est sub pendulo, adhue est sub lite. 


Gegenüber ſtehn fich hier zwei verſchied'ne Leben, 
Die ihr Ziel verlaffen nur mit viel Widerftreben. 
Ob und wie ber PBallas ift Benus überlegen, 

Das ift fraglich, Zweifel fann man darüber hegen. 


Spieleriih und wohl nicht ohne ironische Bosheit läßt der Dichter nun 

im Brautzug aud die Vhilojophen und Dichter des Altertums aufmarſchieren 
und gibt zu verfiehen, daß die letzteren alle mit Aphrodite und Amor zu 
ſchaffen haben: 

Secum suam duxerat Cetam Ysopullus, 

Cynthiam Propertius, Deliam Tibullas ; 

Tullius Terentiam, Lesbiam Catullus; 

Vates huc convenerat sine sua nullus. 


Versus fingunt varie metra variantes, 
cothurnatos, lubricos, enedos, crepantes, 
hos endecasyllabos, illos recursantes, 
totum dicunt lepide, nihil rusticantes. 


Jeder bracht' jein Schätzchen mit, Ceta Dfopullus, 
Cynthia Propertius, Delia Tibullus, 

Zulliuß die Terentia, Catull auch fein Liebchen, 
Kurz, fein Dichter da erihien ohne Herzensdiebchen. 


Verſe wurben da gemadt, traun, von allen Sorten, 
Hocherhaben, ſchlüpfrig leicht, Inapp und voll in Worten, 
Jetzt Elffilber, jegt ganz kurz, jet mit Wechjelreimen, 
Aber alles glatt und nett, ohne grob zu leimen. 


Der alte Sittenernft ift gebroden. Bon Bergil ift nicht mehr Die 
Rede. Die römischen Elegiter ftehen als Dichtungspirtuofen und Mufter im 
Vordergrund. Der Gejhmad verfeinert ih. Die Versmaße werden mannig— 
faltiger, do Yorm und Wi drängen auch den Gehalt zurüd. 

Das Gedicht, bis dahin hochpoetiſch, verläßt nun feinen allgemeinen 
Standpunkt und wird zum perfönlichen, boshaften Gelegenheitsgedidt. Offen: 


416 Wünfzehntes Kapitel. 


bar nur in fatiriicher Abſicht werden in langer Reihe auch die fcholaftiichen 
Philofophen aufgeführt: Jvo von Chartreg, Petrus von Poitiers, Adam 
von Betit-Bont, jogar Petrus Lombarbus, Jvo von Tours, Helyas Petrus, 
Bernardus (von Chartres?), zahlreihe Schiller Abälards, Reginaldus, 
Robertus, Manerius, Bartholomäus (von Ereter?) und Robertus Amiclas. 
Nur einer fehlt. Umſonſt fieht fih die Braut nad dem Philofophen von 
Palais — ihrem Palatinus — um. Abälard, der „göttlihe Seher“, iſt 
duch das „verderblihe Kuttenvolk“, die Mönde, verdrängt, und der Dichter, 
erboft darüber, verwendet deshalb die fetten Strophen zu den maßlofeften 
Ausfällen gegen die Mönde mit dem Schlußwort: 


Cueullatus igitur grex vilipendatur 
et a philosophicis scholis expellatur. 


Drum ben Kuttenträgern jei ewig Spott und Schande, 
Jagt aus Schul’ und Philoſophie fort die arge Bande! 


Das, abgejehen vom Schluß, jo jchöne, formgewandte Gedicht ift alſo 
bon einem Schüler und Verehrer Abälards verfaßt, ein Racheakt gegen die 
Einjhließung des vielgefeierten Gelehrten, welche, auf Anregung des HI. Bern: 
hard, das Konzil von Sens über denjelben verhängt und Innocenz II. 
(16. Juli 1141) beftätigt hatte. Die Goliardenpoefie ſteht mithin in 
Beziehung zu Abälard und deſſen Schülern !. 

Die Hauptmafje der Goliardengedihte ift in zwei Sammlungen er: 
halten, die aus dem 13. Jahrhundert ftammen. Die eine ift englijcher Ab- 
funft (das Harleian-Manuffript Nr 978 zu Oxford); die andere, deutjcher 
Abkunft (jet in München), rührt aus dem Kloſter Benediktbeuren her, wonach 
die darin enthaltenen Gedihte den Namen Carmina Burana erhielten. Die 
engliihe, 1839—1844 durch Th. Wright herausgegeben, enthält vorzugs— 
weile die ernfteren Gedichte, während in der deutſchen das joviale Element 
vorwiegt. Die Verfaffer auch nur der Hauptgedichte mit Sicherheit heraus: 
zufinden, iſt bisher nicht geglüdt. Wohl hat man verſucht, aus benjelben 
einen „Archipoeta“ zu Eonftruieren, der, alle übrigen an Geift, Wit und 
Formgewandtheit übertreffend, im Gefolge des Kölner Erzbiſchofs Rainald 
von Dafjel über die Alpen gezogen fein joll, um, bei unverfieglihem Durft, 
in ewig fröhlidem Saus und Braus das Deutihtum in Geftalt Friedrich 
Barbaroſſas und deſſen antipäpftliche Politik zu verherrlichen ?; allein dieſe 
burſchikoſe Lieblingsgeftalt mancher modernen Schriftfteller entbehrt noch gar 





9. DenifleO.Pr., Ubälarbs Sentenzen und die Bearbeitungen feiner Theo« 
logie (9. Denifle O.Pr. und F. Ehrle S.J., Archiv für Literatur- und Kirchen— 
geihichte des Mittelalters I, Berlin 1885, 605 606). 

® Uber die Vermutung, biefer „Archipoeta“ ſei Walter von Ehätillon (Lille), vgl. 
D. Hubatſch, Die Iateinifhen Vagantenlieber, Görlik 1870, 86 fi. 


Satirifhe Dichtung. Die Goliarden. 417 


ſehr der feften gefchichtlichen Unterlage, während ihr Doppelgänger, der eng: 
liche und franzöfiiche Golias oder Biſchof Golias der Phantafie einen ebenjo 
freien Spielraum gewährt. Denn wie fich die einzelnen Gedichte auf Frank— 
reih, England, Deutihland und Italien verteilen, ift noch ſehr wenig 
aufgehellt. 

Wie in Bezug auf das nationale Element, fo ftellen die beiden Samm- 
lungen und was fi fonft noch an Goliardenliedern findet, ein funterbuntes 
Sammelfurium dar. Schüchtern-wehmütige Bettelliever begegnen ſich darin 
mit den unverjchämteften Ausfällen auf Bapft, Biihöfe und Prälaten, tief 
innige, lieblihe Minnelieder mit den kraſſeſten Nachklängen altrömiſcher Erotit, 
anmutige Frühlingsklänge mit dem milden Gejohle beraufchter Zechbrüder, 
denen alle vier Jahreszeiten längft in eine verſchwommen find, Elegien auf 
Dido und Aeneas mit latinifierten Schnadahüpfeln des ausgeſprochenſten 
deutihen Gepräges, fromme Sreuzfahrergefänge mit den giftigften Spott: 
weifen auf das chriftlihe Rom, das Lob der malellofen Jungfrau und 
Gottesmutter mit den gemeinften Zerrbildern des kirchlichen Gölibats. 

Eine Scheidung hätte hier vor allem Not getan. Aus dem Gemwirr 
üppiger Sumpfpflanzen und ſtachlichter Dornen heraus hätte fi ein freund: 
licher Blütenſtrauß echt mittelalterliher Poefie gewinnen laſſen. Boll friſchen 
Lenzesduftes, eine wahre Perle des Minneſangs, ift 3. B. das tenzonen= 
artige Gediht „Von Phyllis und Flora” !, das folgendermaken beginnt: 

In des Jahres Blütezeit, da ber Himmel ftrahlet, 
Bunt der reichſte Blumenflor alle Wiejen malet, 


Als der Sterne Heer verſcheucht rofig ſchon Aurora, 
Wachten früh vom Schlummer auf Phyllis wie aud Flora. 


Beiden Mädchen ſchien erwünfcdht eine Morgenrunde; 
Denn von beiden ſcheucht den Schlaf eine Herzenswunde. 
Alſo gleihen Schrittes ziehn hin fie auf die Auen, 

Die zum Spielen laden ein und gar hold zu fchauen. 


Beide waren Mädchen noch, königlich von Range. 

Flora trug ihr Haar geziert, Phyllis frei und lange. 
Traum, nicht irdiſch, himmliſch find ihre Huldgeftalten, 
Traum, für Morgenfonnenihein magft ihr Bild du halten. 


Adlig ift ihr Wuchs und Schmud, fürftlih ihre Mienen, 
Bon der Jugend Sonnenglanz minniglich beichienen. 
Eins nur trennet ihren Sinn, madt fie etwas bitter: 
Diele einen Dichter liebt, jene einen Ritter. 


* Carmina Burana, Stuttgart 1847, Nr 65, ©. 155— 165; bei Wright, 
Poems attributed to Walter Mapes 258—267 ; englifche Überfegung ebd. 364371. 
— Schon früher veröffentlicht von Docen in Aretins Beiträge IX 302—309. 

Baumgartner, Weltliteratur. IV. 3, u. 4. Aufl. 27 


418 Fünfzehntes Kapitel. 


Sonft find fie an Leib und Geift nirgendwie verfchieden, 
Zwiſchen beiden lebt und webt ſchweſterlicher Frieden. 
Wie die eine denft und finnt, auch die andre finnet, 
Nur daß jede fill für fi einen andern minnet. 


Sie lagern fih nun in einer ſchattigen Laube, an einem Bädhlein, und 
jede judht in echt mäddenhaftem Geplauder das deal ihrer Liebe zur 
Geltung zu bringen. Da fie fih nicht einigen können, befteigen fie zwei 
prädtige Zelter und reiten zu Amors Schloffe, einem ganz wunderfamen 
Märdenpalaft. Hier wird ihnen nad feierliher Beratung der Beicheid zu 
teil, daß der gelehrte Poet vor dem Ritter den Borzug verdiene. Das alles 
it jo harmlos, gemütlich und zugleich echt künftleriih ausgeführt, dab fein 
vernünftiger Menih daran Anftok nehmen kann. Uber weil der gelehrte 
Poet in dem Gedichte nach mittelalterlihem Brauch „Klerikus“ genannt ift, 
das Stüd zwiſchen den häßlichſten Satiren fteht, wurde es ebenfalls als 
giftiger Hohn auf den Eölibat gedeutet und zu Skandal mikbraudt. 

Das berühmtefte diefer Gedichte ift wohl die jog. Confessio Goliae, 
die parodiftifhe Beicht eines verlotterten Genies, das fi in kedem Jugend: 
übermut widerftandslos der Wolluft, dem Spiel und der Trunkſucht über: 
antwortet und darin die beiten Kräfte aufgezehrt hat, alle jeine Verirrungen 
aber nicht nur als unvermeidlich entſchuldigt, jondern fi geradezu derjelben 
rühmt, fidh den Tod im Wirtshaus wünjcht und die Weinjeligkeit als Haupt: 
prinzip der Poeſie erhebt, in leichtfertigftem Kontraft zum Schluß von Reue 
fajelt und um Buße und Verzeihung bittet. In einer engliihen Faſſung 
des Gedichts ift dieſes Schlußgebet an den Biihof von Coventry (Praesul 
Coventrensium), in einer deutſchen an einen erwählten Erzbiihof von 
Köln (Electe Coloniae) geridtet. Die leßtere Angabe wird auf Rainald 
von Daffel, den Erzlanzler Friedrich Barbaroffas, bezogen, der zwiſchen 
1162—1165 erwählter Erzbiihof von Köln war und damals am Hoflager 
von Pavia meilte, das nah Strophe 8 und 9 derjelben Faſſung ala 
die Stadt zu betrachten wäre, wo das Gedicht entftanden iſt. In andern 
Faflungen ift jene Stelle mehr verallgemeinert und die Strophe über 
Pavia weggelaffen. Die fahrenden Sänger änderten das Gedicht je nad) 
Bedarf ab. 

Giraldus Gambrenjis, der von 1147—1216 lebte, erwähnt das Gedicht 
in feinem „Sicchenfpiegel“ 2 mit Bezug auf ein anderes, das gegen die 
römische Kurie gerichtet ift, folgendermaßen: 

„Item, bat in unjern Tagen ein gewiffer Schmaroger namens Golias, durch 
jeine Schlemmerei und Lieberlichkeit gleich berüdhtigt, der den Namen Goltas um fo 





ıi Notice of Golias, from the Speculum Ecclesiae of Giraldus Cambrensis 
(Ms. Cotton. Tiberius B. XII, fol. 126, V® bei Th. Wright, Poems attributed 
to Walter Mapes xxxvuı ff). 


Satirifhe Dichtung. Die Goliarden. 419 


beffer verdient, weil er fi ganz und gar dem Freſſen und Saufen ergeben, bod) 
auch ziemlich literariſch gebildet, aber weder gut gefittet noch in ben befjeren Wiflens- 
zweigen bewandert ift, zu wiederholten Malen zahlreiche metriihe und rhythmiſche 
Spottgedichte gegen den Papft und bie römische ſturie ausgejpien.“ 


Nahdem Giraldus dann den größeren Teil eines ſolchen Gedichtes 
„nicht zu deſſen Gutheißung und Nachahmung, jondern zu deſſen Ver: 
abſcheuung umd Verurteilung“ mitgeteilt, fährt er fort: 


„Was verdient ber Anfläger dafür, daß er fein Maul fo weit aufreiit? Wenn 
die römische Kurie gegen die Delinquenten leibliche Strafen verhängte, jo hätte diefer 
Menſch nicht nur den Strang, jondern aud den Scheiterhaufen verdient. Aber wie 
vermöchte ed einer, andere in feinen Schriften mit biffiger Mißhandlung zu ver- 
Ihonen, der es nicht über ſich bradite, in einem längeren rhythmiſchen Gedicht, das 
er über jein eigenes Treiben und erbärmliches Leben gleihjam als eigene Grabidrift 
verfaßt hat, fich jelbft zu ſchönen. Denn aus des Herzens Überfülfe jagt er darin: 


Tertio capitulo memoro tabernam, 

Illam nullo tempore sprevi neque spernam, 
Donec sanctos angelos venientes cernam, 
Cantantes pro mortuo requiem aeternam. 
Meum est propositum in taberna mori; 
Vinum sit appositum morientis ori, 

Ut dicant cum venerint angelorum chori: 
Deus sit propitius huic potatori. 


„Zwei Verje des Magifters Marbod, der die verjhiedenen rhetoriihen Stil» 
färbungen und ben Wort» und Sakihmud in trefflihen Verſen erläutert hat, mögen 
hier nicht unpafiende Anwendung finden: 


Mer fich felber nicht ſchont, wie jchonte der deiner und meiner? 
Wer fich ſelber verhöhnt, wird deine Schmad er verichweigen ? 


„Eine ungewöhnliche VBerwegenheit, eine ungewöhnliche Frechheit und Unklug— 
heit iſt es alſo, wenn es ein Menſch wagt, überhaupt den Nachfolger Petri, ben 
Statthalter Ehrifti, den höchften Seelenhirten auf Erden, in Wort ober Tat, mit 
Mund oder Hand zu beleidigen. Mag ein folder au der menſchlichen Strafe fi 
entziehen, jo wirb er doch keineswegs dem göttlichen Zorne entgehen, der feine Sünde 
ungerädht läßt, ſofern nicht volle Buße erfolgt ift.“ 


Einige Strophen (12—17) wurden au als eigenes Gediht aus dem 
Verband des Ganzen abgelöft und haben als Zrinklied die weitelte Ver: 
dreitung erlangt: 


Meum est propositum in taberna mori: 
vinum sit appositum morientis ori, 
ut dicant cum venerint angelorum chori: 
„Deus sit propitius huic potatori.* 


Poculis accenditur animi lucerna ; 
cor imbutum nectare volat ad superna: 
mihi sapit duleius vinum in taberna, 
quam quod aqua miscuit praesulis pincerna. 
27° 


420 Fünfzehntes Kapitel. 


Loca vitant publica quidam poetarum, 
et secretas eligunt sedes latebrarum ; 
sudant, instant, vigilant, nec lahorant parum, 
et vix tandem reddere possunt opus celarum. 


leiunant et abstinent poetarum chori, 
lites vitant publicas et tumultus fori; 
et ut carmen faciant quod non possit mori, 
moriuntur studio, subditi labori. 


Unicuigue proprium dat natura munus; 
ego numquam potui scribere jeiunus; 
me jeiunum vincere posset puer unus; 
sitim et ieiunium odi tamquam funus. 


Uniceuique proprium dat natura donum; 
ego versus faciens bibo vinum bonum ; 
et quod habent melius dolia cauponum: 
tale vinum generat copiam sermonum. 


Tales versus facio quale vinum bibo; 
nihil possum scribere nisi sumpto cibo, 
nihil valet penitus quod ieiunus scribo; 
Nasonem post calices carmine praeibo '. 


Die übrigen größeren Goliardenlieder, zumal diejenigen, die unter dem 
Namen des Golias jelbft zirkulierten, find faft jämtlih Satiren und In— 
veftiven auf die zeitgenöffiichen Mipftände in Kirche und Klerus. In der 
„Apotalypje des Biſchofs Golias“ nimmt die übermütige Läfterung geradezu 
die Form einer Parodie auf die bibliihe Apokalypſe an, die ſchon durd) 
ihre Frivolität abftoßend wirken muß, in vielen Zügen aber genugjam zu 
ertennen gibt, daß der Spötter an der dargeftellten Verkommenheit jeinen 
eigenen redlichen Anteil Hat und mit Behagen in dem Schmuße mwühlt. 
Ernfter gehalten ift die „Predigt des Golias“. Dagegen wird die römiſche 
Kurie in dem Gedicht Utar contra vitia carmine rebelli mit dem derbiten 
Schimpf und Spott übergofjen; ebenjo wütend fällt Golias in dem Gedicht 
Dilatatur impii regnum Pharaonis über die „gottlofen Prälaten“ her. 
Derjelbe Spott über die Habſucht, den Geiz, die Unenthaltfamteit, Schledhtig- 
feit und Lafterhaftigfeit des Klerus kehrt dann in einer Menge von Ge- 
dichten in den mannigfachſten Yormen wieder. Andere machen fid in 
wahrhaft cyniſcher Weile über den Cölibat und deſſen Verlegung Iuftig, im 
Tone eines Menſchen, der nicht nur den Glauben an die Jungfräulichkeit, 
jondern jedes ernitere, fittliche Gefühl über Bord geworfen. Flacius Jllyricus 


! Th. Wright, Walter Mapes 73 74. Bgl. Edelestand du Meril, 
Poesies pop. lat. 205 206. — Die Varianten desfelben Gedichts ebd. 206 207. 


Satiriſche Dichtung. Die Goliarden. 421 


hat fie jpäter mit fihtliher Vorliebe aufgegriffen und neu befannt gemadt, 
um gegen den kirchlichen Gölibat anzuftürmen. 

Gar zu ernjt und tragiſch ift indes die Satire der Goliarden nicht auf: 
zufaffen. Sie trifft nicht die kirchlichen Inftitutionen und Würden als 
ſolche, ſondern nur den Mißbrauch derjelben durch unwürdige Inhaber und 
Träger der firhlihen Gewalt. In dem großen Gedicht De diversis ordinibus 
hominum bleibt die Klage durhaus nicht bei Papft, Kardinälen, Prälaten, 
Mönchen und Prieftern ftehen, jondern lieft aud dem Schreibervolf, den 
Bürgern, den Kaufleuten, den Bauern und jogar den Bettlern den Tert!. Bei 
allen wird zuerft der Stand und deſſen joziale Bedeutung gerühmt, dann der 
Abfall der Mitglieder von ihren Zielen und Pflichten gegeibelt, und zwar 
nit etwa in dem gereizten, heftigen, giftigen Ton, den die Satirifer der 
Reformationzzeit anſchlugen, jondern mit einer derben Nedlichkeit, Biederkeit 
und Gutmütigfeit, die, mit Gotte Gnade, an einer Beflerung der Verhält- 
niffe noch gar nicht verzweifelt, viel weniger alles Beftehende über den 
Haufen werfen will. 

Von den Bürgern heißt e8: 

Burgenses sunt otio valde mancipati; 
horum deus venter est et ciphi praelati; 


in nugis et aleis sunt exereitati; 
sed graviora pati nequeunt istis curiati. 


Den Kaufleuten wird angehängt: 


Fides mercatoribus non est adhibenda, 
deiurant quotidie pro merce vendenda; 
decima non solvitur de iure solvenda; 

est gravis haec menda, lucra talia sunt abolenda. 


Die Bauern werden als Nährftand zuerſt glänzend herausgeftrichen: 


Seminant agricolae, germinant frumentum, 

et boves enutriunt et greges bidentum; 

mundus ab hiis maxime capit nutrimentum, 
sunt fundamentum patriae, patres sapientum. 


Ruralis conditio merito laudatur: 
nam sancta rusticitas iure veneratur: 
pater primus omnium sic conservabatur, 
Sic manifestatur quod in hiis mundus solidatur. 


Aber wie treiben es nun die Bauern? 


Sex dies agricola finit in labore, 

panem suum comedit sedens in sudore, 

bona sua subtrahunt, nati cum uxore, 
improbat in ore sibi coniux mota calore. 


! Th. Wright a. a. D. 229-236. 


422 Fünfzehntes Kapitel. 


Et dies dominicus datus requiei 
ad gulam tribuitur, rubor faciei 
denotat facillime reos huius rei; 

sie praecepta Dei deludunt ut Pharisaei. 


Und erft die Bettler! 


Pauperes in spiritu dieuntur beati; 

verum nostri pauperes nimis sunt elati, 

iuxta leges saeculi vix cedunt ingrati; 
si sunt pulsati, plangant quasi mortificati. 


Pauper mavult hodie terram circnire, 
quam mercedem cupiens gregem custodire; 
non est elimosina tali subvenire, 

non vult servire, malit namque fame perire. 


Das weltlihe Hof: und Privatleben aber, welches bereits John von 
Salisbury in feinem „Polykratikus“ treffend gegeikelt hatte, erhielt gegen Ende 
des 12, Jahrhunderts einen neuen, wißigen Cenſor an Bernard von 
Get, jo genannt nad dem Dorfe bei Münfter in Weftfalen, jpäter Stifts- 
herr zu St Mauritius in diefer Stadt. In leoniniihen Verſen gibt jein 
Palponista (Betrüger) ſatiriſche Anweiſung, wie ein Streber bei Hofe ji) 
zu höherer Stellung und Einfluß emporſchwindeln fann!. 

Lebhaft in die jpäteren goliardiihen Kreiſe verjegt uns die Parallele, 
welche der Ehronift Salimbene (zum Jahre 1247) zwiſchen den franzöftichen 
und den italienischen Weinen, zwijchen den Weißweinen und Rotmweinen zieht. 
Er teilt dabei einen franzöfiihen Sprud mit, demzufolge ein guter Wein 
drei t und fieben f haben muß: 


El vin bon et bel sel dance 
Forte et fer et fin et france, 
Freits et fras et fromijant. 


Daran fügt er ein goliardiiches MWeinlied des Magifter Morandus, 
der zu Padua Grammatik lehrte: 


Vinum dulce gloriosum 
Pingue facit et carnosum, 
Atque pectus aperit. 


Et maturum gustu plenum, 
Valde nobis est amoenum, 
Quia sensus acuit. 





i Palponista, Dyalogus metricus magistri Berhardi palponiste de variis 
mundi statibus optime tractans, Coloniae A. D. post iubilaeum proximum (1501). 
Kurze Analyſe bei France, Zur Gedichte der lateiniſchen Schulpoeſie des 12. und 
13. Jahrhunderts 75—80. 


Sechzehntes Kapitel. Die geiftlihen Schaufpiele. 423 


Vinum forte, vinum parum 
Reddit hominem securum 
Et depellit frigora. 


Sed acerbum linguas mordet, 
Intestina cuncta sordet, 
Corrumpendo corpora.... 


Vinum rubeum subtile 
Non est reputandum vile, 
Nam colorem generat. 


Auro simile eitrinum, 
Valde fovet intestinum, 
Et languores suflocat !. 


Bereit im 13. Jahrhundert trieben es die Goliarden mit VBerhöhnung 
jeglicher Autorität, Spott mit allem Heiligen, Unfug aller Art und umfitt- 
lihem Lebenswandel jo arg, daß nicht nur von den Biſchöfen, jondern au 
von zahlreichen Konzilien gegen fie eingefchritten werden mußte. infolge 
der gegen fie erlafjenen Maßregeln verſchwanden fie in Frankreich jo ziemlich 
gegen das Ende diejes Jahrhunderts. In Deutſchland trieben fie ihr Un— 
meien bis ins 15. Jahrhundert weiter fort, jo daß fi noch zahlreiche 
Synoden genötigt fahen, gegen ſie aufzutreten. Der Literatur haben fie, 
troß ihrer Ausichreitungen, manchen nicht unerheblichen Dienst geleiftet. Sie 
haben die Poefie, welche in den ftrengen Schulformen ganz zu verfnödern 
drohte, wieder etwas in frischen, lebendigen Fluß gebracht, Luft an einfacher, 
natürlicher Lyrik geweckt, durch Pflege der äußeren Technik, leichte und ge: 
fällige Rhythmen, Anwendung des Reims, mannigfaltigen Strophenbau, 
jangbare Melodien, Verwendung der Tenzonen und anderer formen bor: 
teilhaft auf die Entwidlung der neueren nationalen Literatur eingewirkt. 
Selbit die kirchliche Hymnik ift von dem feinen Formgefühl nit unberührt 
geblieben, da8 manche diefer leichtſinnigen Poeten beſaßen. Mehr als einer 
bon ihnen jcheint, nad wild durdhtobter Jugend, wieder zur Beſinnung 
gefommen zu jein und gleich Abälard jein Talent mwürdigeren Zielen ge: 
widmet zu haben. 


Schzehntes Kapitel. 
Die geiflliden 5chauſpiele. 


Das antife Theater, das in der Zeit des Aeſchylus und Sophofles die 
höchſte Blüte Hellenifcher Bildung zum Ausdrud bradte, war in der römischen 


' Fratris Salimbene de Adam Chronica. Monumenta historica ad pro- 
vincias Parmensem et Placentinam partinentia, Parmae 1857, 91 9. 


424 Sechzehntes Kapitel, 


Kaiferzeit zu einem ſolchen Pfuhl der ſchmachvollſten Unfittlichkeit herab— 
geiunten, dab von Tertullian an die Kriftliden Lehrer und Kirchendäter 
dasjelbe einftimmig aufs firengfte verurteilten und in den abſchreckendſten 
Mahnrufen davor warnten. Theater und Bergötterung der Unzucht waren 
gleichbedeutend geworden. Qui iocari voluerit cum diabolo, non poterit 
gaudere cum Christo — „Wer mit dem Teufel ſcherzen will, der kann ſich 
nicht mit Chriftus freuen.“ Dieſes Wort des Hl. Petrus Chmfjologus von 
Ravenna (406—450) drüdt in kürzeſter Faſſung die Stellung der drift- 
lichen Kirche in ihren erften Jahrhunderten zum Theater aus. Diejes wohl— 
verdiente allgemeine Anathem hat aud in den nächſten Jahrhunderten mweiter- 
gewirkt und es unmöglid gemadt, dab fih, im Anſchluß an die Formen 
der alten Tragödie und Komödie, eine Hriftlihe Dramatik heranbilden konnte. 
Es verlor fih jogar allmählich die Vorfiellung des alten Theaters und wid 
der Meinung, ein einziger Rezitator hätte die Stüde, die fih handſchrift— 
lich erhalten hatten, vorgetragen. Selbſt Hrosmwitha dachte nicht an eine 
Aufführung ihrer Stüde; fie wollte nur der Leſung des Terenz ent— 
gegentreten. 

So ift das lateinische Theater duch Jahrhunderte der ausſchließliche 
Anteil der verfallenden heidniſchen Gejellihaft geblieben und ſchließlich mit 
diejer audgeftorben. Nahezu ein Jahrtaufend hat die aufblühende chriftliche 
Welt ohne Theater gelebt. Einem modernen Theaterſchwärmer mag dies 
ganz ungeheuerlih erjcheinen; aber es ift jo. Die eigentlihe Kultur hat 
darunter nicht gelitten; an menjchenmwürdiger Erholung und Freude hat es 
auch in dieſer theaterlojen Zeit nicht gefehlt. Aus dem Leben der chrift- 
liden Völler aber ift jpäter eine dramatiſche Poeſie herausgewachſen, welche 
fih kühn der antiten an die Seite ftellen konnte und fie an Reichtum 
weit überflügelt. 

An einen Erfah für das Theater Haben übrigens weder die Chriften 
der Katakomben noch die großen Lehrer der Väterzeit noch die Apoftel der 
germaniſchen Völker no die Mönche und Ritter des Mittelalters gedadht, 
aus dem einfachen Grund, weil fie den Mangel desjelben gar nicht emp— 
fanden. Sie hatten Wichtigeres zu tun, als fih zur Abſpannung von 
Volksverſammlungen, Kriegen und alltäglihen Gejhäften in ein Theater 
zu jegen, um ſich flundenlang an den Schauergefhichten mythiſcher Götter 
und Helden zu ergößen. 

Für den Hellenen, dem feine Religion weder für Geift noch für Herz 
völlige Befriedigung bieten konnte, mochten jene Beripetien und Chorgejänge, 
in welchen die höhere Macht des Göttlihen zu dunklem, wenn auch erhabenem 
Ausdrud kam, erziehlih und veredelnd wirken, ihm einen geiftigen Genuß 
verihaffen, der über feine Religion hinauslag. Yür den Chriften mußte der 
Reiz der jhönften Mythen verblaffen, da ihm die Offenbarung nit nur 


Die geifilihen Schaufpiele. 425 


die erhabenfte Poeſie, die tieffte Philoſophie, jondern auch den innigften 
Troft, die mädhtigfte fittlihe Kraft, eine wirkliche Vereinigung mit Gott bot. 
Vor den großen Tatſachen der Erlöfung, vor dem Opfertode des Gottes- 
fohnes auf Golgatha, vor feiner glorreihen Auferftehung, vor der Verwirk— 
lichung jeines Gottesreiches auf Erden mußten die tieffinnigfien Erfindungen 
antifer Poefie in den Schatten treten. Was fie dunkel und rätjelhaft ahnend 
von den höchſten Problemen des Menſchendaſeins andeuteten, ward durd) 
Chriſti Perfon und Lehre wunderbar aufgehellt. Sein Leiden und Sterben, 
ſchon vorgebildet dur die Typen und Weisfagungen des Alten Bundes 
und fortwirkend in der Entwidlung des Neuen Bundes, in den Gejdiden 
der Einzelnen wie der Kirche, war unendlich ergreifender und tragijdher als 
die Sagen von Dedipus und Prometheus. Die Ratihlüffe ewiger Weisheit 
und Liebe, welche das antife erbarmungslofe Schidjal verdrängten, ließen 
den Kampf zwiſchen Gut und Böſe, Freiheit und Notwendigkeit, göttlichen 
und menſchlichen Intereffen, Sünde, Schuld, Leiden, Tod und Ewigkeit in 
einem neuen, wunderbaren Lichte ericheinen, 

Schon die Predigt der evangeliichen Lehre wog weit die Weisheit eines 
Plato und Xriftoteles, die Poefie eines Neihylus und Sophofles auf. Was 
fie verfündete, war aber fein bloßer Hiftorifcher Bericht, feine bloße philo- 
jophiiche Lehre, durch die Myſterien des ChHriftentums lebte Chriftus felbft 
in jeiner Kirche und der einzelnen Menjchenjeele fort, pulfierte göttliches 
Leben dur die ganze Menſchheit. Durch die jieben Sakramente erneuerten 
fih täglich die Erweiſe der Gnade, die Chriſtus in feinem fterblichen Leben 
gewirkt, durch das Dpfer des Neuen Bundes erneuerte fi) täglich das Opfer, 
das er einft am Kreuze dargebracht. Dieſes Opfer ward zum Mittelpunkt 
eines liturgiſchen Gottesdienftes, der in jeinen Gebeten, Gejängen, Leſungen 
und fomboliichen Zeremonien die Ihönften Erinnerungen des Alten Bundes 
mit dem Leben des Neuen, das Andenken Chrifti mit dem feiner Heiligen 
verband und die Jahreszeiten der Natur zum religiöjen Feſtjahr verflärte, 

Die Opferfeier jelbft Hatte dramatiihen Charakter, indem fie jih an 
höheren Feſten an den Priefter, die Altardiener, die Sänger und das Bolt 
verteilte. Die kirchliche Architektur, Skulptur und Malerei, Poeſie und 
Mufit, der würdevollſte Schmud, die ſchönſte ſymboliſche Gewandung, der 
Glanz der Kerzen und der Duft des Weihrauds wirkten zujammen, den 
erhabenften Alt der Religion auch für den finnlihen Menſchen mit dem 
Zauber eines feſſelnden Schauſpiels zu umgeben, das um jo tiefer wirkte, 
als jein innerer Wert von dem äußeren Gepränge völlig unabhängig war, 
alles Außere nur dazu diente, die Seele zu Gott emporzuheben und mit 
ihm zu vereinigen. 

Die Mannigfaltigkeit der Feſte gab der Liturgie nah und nad die 
reichſte Verſchiedenheit und verkörperte fih nicht nur in den feierlichiten 


426 Sechzehntes Kapitel. 


Hymnen und Chorgefängen, jondern auch in dialogischen Formen, welche 
ein eigentlih dramatijches Gepräge hatten. In Bezug auf diefe hielt die 
Kirche indes ftrenge Schranten inne, um die Würde des Gottesdienftes zu 
wahren. Sie bilden aber gerade die Wurzel, aus welcher erft die Oſter— 
und Weihnachtsſpiele, jpäter das geiftlihe und meltlihe Schaufpiel der 
neueren Völker hervorgewachſen find 1, 

Anſütze der Oſterſpiele laſſen fih bis ins 10. Jahrhundert zurüd- 
verfolgen. Eine St Galler Handſchrift aus diejer Zeit enthält einen Tropus, 
der die Begegnung der Frauen mit dem Engel am Grabe — allerdings 
nur in bier Verſen — bialogifiert: 


Quem quaeritis in sepulchro, o Christicolae ? 
lesum Nazarenum crucifixum, o Coelicolae. — 
Non est hie, surrexit, sicut praedixerat. 

Ite, nuntiate, quia surrexit de sepulchro!? 


Die erften drei Verje finden fih vom 10. Jahrhundert an in den 
liturgiſchen Büchern aller europäifhen Nationen wieder. Aus einer Gottes— 
dienftordnung für englifche Klöſter (von 967) erhellt, daß diefelben wirklich 
zu einer dramatiihen Ofterfeier dienten®. Das Kreuz wurde am Starfreitag 
in ein Tuch gehüllt und in feierliher Prozejfion zu einem Ort neben dem 
Altar gebradt. Hier blieb e& bis zur Nacht vor Oſtern. Nad der Matutin 
erichien ein Slerifer, mit der Albe angetan, einen Palmzweig in den Händen, 


! Das Theater im Mittelalter und das Paffionsſpiel in Oberammergau (Hiftor.- 
polit. Blätter VI, Münden 1840, 1—37). — 5.3. Mone, Schaufpiele des Mittels 
alter I, Karlsruhe 1846. — 9. Alt, Theater und Kirche in ihrem gegenfeitigen 
Verhältnifje, Berlin 1846. -— €. Devrient, Geſchichte der beutihen Schaufpiel« 
funft I, Leipzig 1848, 10—74. — Pichler, Über das Drama des Mittelalters in 
Zirol, Innsbrud 1850. — R. Hase, Das geiftlihe Schauspiel. Geſchichtliche Uber— 
fiht, Leipzig 1858. — E. de Coussemaker, Drames liturgiques au moyen-äge, 
Paris 1861. — 9. Reidt, Das geiftlihe Schaufpiel des Mittelalters in Deutjch- 
land, Frankfurt a. M. 1868. — A. Reville, Le drame religieux du moyen-Age 
jusqu’a nos jours (Revue des Deux Mondes LXXVI, Paris 1868, 84—119). — 
E. Willen, Geihichte ber geiftlihen Spiele in Deutfchland, Göttingen 1872. — 
Gallenberg, Das geiftlihe Schaufpiel des Mittelalters in Frankreich, Mühl- 
haufen i. Th. 1875. — ©. Mildjad, Die Dfter- und Paffionsjpiele I, Wolfen: 
büttel 1880. — L. Gautier, Histoire de la po6sie liturgique au moyen-äge. 
Les Tropes I, Paris 1886. — ®. Ereizenad, Geſchichte des neueren Dramas 1, 
Halle a. S. 1898. — R. Heinzel, Beſchreibung des geiftlihen Schaufpiels im 
deutſchen Mittelalter. — Verzeichnis der erhaltenen Spiele bei K. Göbefe, Grundriß 
ber Geſchichte der deutjchen Dichtung I?, Dresden 1884, 200-202. — W. Bäumer, 
Art. „Theater“, in Wetzer und Weltes Kirchenleriton XI*, Freiburg 1899, 
1457 — 1473. 

2 L. Gautier a. a. O. I 221. 

sW. Creizenach a. a. O. J 48 ff. 


Die geiftlihen Schaufpiele. 427 


und febte fi) an dem leeren Grabe nieder. Dann kamen drei andere Kleriler 
in Chormänteln, mit Weihrauchfäflern, langjam berangejchritten, als ob fie 
etwas ſuchten. Sobald fie der Engel nahen jah, begann er den Wechſel— 
gejang: Quem quaeritis? Die drei antworteten: Iesum Nazarenum. 
Auf das Non est hie mwendeten fie fi zum Chor und fangen: Alleluia. 
Surrexit Dominus, Der Engel fang darauf: Venite et videte locum, 
ubi positus erat Dominus, bob die Dede auf, mit welcher das 
Grab bededt war und zeigte das darin befindliche Leinentuch. Die drei 
Kleriker breiteten dasfelbe dann vor dem Volke aus, indem fie fangen: 
Surrexit Dominus de sepulchro, worauf der Prior am Altar das 
Tedeum anftimmte. 

Ein franzöfiihes Graboffizium aus Rouen! ftimmt Hiermit nahezu 
mwörtli überein, nur erſcheint hier ftatt des Klerikers, der den Engel darftellt, 
ein Knabe, und fügt der Schlußmahnung die Worte hinzu: Et euntes 
dieite discipulis eius et Petro, quia surrexit. Daran reiht fih dann 
eine weitere Scene. 

Statt des Knaben laffen fi zwei Priefter in Alben an dem Grabe 
nieder, während drei andere von außen dem Grabe nahen. Der mittlere 
ftellt Magdalena dar. Die zwei Engel fingen: 


Mulier, quid ploras? 
Magdalena antwortet: ' 


Quia tulerunt Dominum meum, et nescio ubi posuerunt eum. 


Die zwei Engel erwidern: 


(Quem quaeritis viventem cum mortuis, non est hic, sed surrexit; re- 
cordamini, qualiter locutus est vobis, dum adhuc in Galilaea esset vobis dicens: 
quia oportet fillum hominis pati et crucifigi et tertia die resurgere. 


Die drei Marien füffen nun den Boden und jchiden fih an, das 
Grab zu verlaffen; da tritt ihnen von der linken Seite des Altars her ein 
Priefter in Albe, mit Stole entgegen, der ein Kruzifix trägt und fingt: 
Mulier, quid ploras? quem quaeris? 

Die mittlere der Frauen antwortet: 

Domine, si tu sustulisti eum, dieito mihi, et ego eum tollam. 
Der Priefter zeigt ihre das Kreuz und fingt: 

Maria. 

Sie fällt ihm raſch zu Füßen und fingt: 

Rabboni. 





! Offieiam Sepulchri (Migne, Patr. lat. CXLVII 139—142). 


428 Schzehntes Kapitel. 


Der Priefter winkt ihr und fingt: 

Noli me tangere, nondum enim ascendi ad Patrem meum; vade autem ad 
fratres meos, et die iis: Ascendo ad patrem meum et patrem vestrum, Deum 
meum et Deum vestrum. 

Darauf begibt er fih auf die rechte Seite des Altar und jingt, 
während die drei vor dem Altar vorübergeben: 

Avete, nolite timere, ite, nuntiate fratribus meis, ut eant in Galilaeam; ibi 
me videbunt. 

Jetzt tritt er zurüd, Die drei Frauen verneigen fi dor dem Altar 
und wenden fi dann zum Chor, mit voller Stimme: 


Alleluia. Resurrexit Dominus, surrexit Leo fortis, Christus Filius Dei. 


Sodann fimmt der Erzbiichof oder an jeiner Stelle einer der Priefter 
dad Tedeum an. 

Ein Bamberger Troparium jchidt dem Geipräde der Frauen am Grabe 
den Saß voraus: Et dicebant ad invicem: quis revolvet nobis lapidem 
ab ostio monumenti? Am Schluß aber fingen die Frauen: „Seufzend 
ind wir zu dem Grabe gefommen, wir haben den Engel des Herrn dort 
fisen jehen, der jagte: Jeſus ift erftanden!“ 

In andern Bearbeitungen ift auch der Wettlauf der Apoftel Petrus 
und Johannes zum Grabe eingefügt; wieder in andern iſt mehr Chriſtus 
jelbft hervorgehoben, der als Befieger von Tod und Hölle in glänzenden 
Prachtgewanden erjcheint, die Kreuzesfahne in feiner Rechten. Im 15. Jahr: 
hundert wurde aud der Gang nah Emmaus in eigener Darftellung am 
Oftermontag vorgeführt. In das eigentliche Ofterjpiel aber führte der Volks— 
humor um dieje Zeit ſchon den Salbenträmer ein, bei welchem die frommen 
rauen ihre Spezereien faufen: eine Perfon, die bald mehr und mehr ins 
Komiſche gezogen, die würdevolle Haltung des Ganzen verdarb. 

Ähnliche liturgiſche Scenen wie für Oftern kamen für Weihnachten 
auf. Eine Orforder Handſchrift des 11. Jahrhunderts verlegt eine ſolche 
vor den Anfang der dritten Meſſe. Zwei Diakonen in Dalmatiken fingen 
hinter dem Altar: „Wen ſuchet ihr in der Srippe, Hirten, jaget an?“ 
Zwei Sänger im Chor antworten: „Den Heiland, Chriftum den Herrn, 
als Kindlein, in Windeln gewidelt, nad den Worten des Engels.“ Darauf 
fingen die Diafonen: „Hier ift das Kindlein mit Maria, feiner Mutter, von 
der Iſaias der Prophet weisjagte: Siehe, die Jungfrau wird empfangen 
und gebären. Und verkündet und faget es, daß er geboren if.“ Nun 
fingt der Kantor mit hoher Stimme: „Alleluja! Alleluja! Nun wifjen 
wir, daß Chriftus geboren ift auf Erden; von ihm finget alle: Ein 
Knabe ift uns geboren uſw.“ Daran jchließt fih unmittelbar der In— 
troitus der Meile. 


Die geiftlihen Schaufpiele. 429 


Rouen hatte im 13. Jahrhundert ein bereit$ ausgebildetes Krippen: 
ipiel. Hinter dem Altare wurde eine Krippe aufgeftellt nebft einer Statue 
der feligften Jungfrau. Vor dem Chor auf einer Erhöhung verkündete ein 
Knabe, al3 Engel, die Geburt ChHrifti. Darauf zogen fünf Kleriter als 
Hirten durch die große Türe des Chores ein, während vom Gewölbe her 
Kinderftimmen das Gloria fangen. An der Krippe wurden die Hirten von 
zwei Klerikern in Dalmatiten begrüßt, welche ihnen das Kindlein zeigten. 
Darauf erfolgte die bereits erwähnte Frage nebſt Antwort, worauf die Hirten 
fi entfernten und die Meſſe begann. 

Ungemein lieblih und anmutig find aud die Scenen, mit welden 
man zu Rouen an Epiphanie den Hauptgottesdienft eröffnete!. Nach der 
Terz erichienen drei höhere Kleriker in Rauchmänteln und mit Kronen ge: 
ſchmückt als heilige drei Könige, der mittlere trug an einem Stabe den 
Stern. Ihnen folgten niedere Kleriker als Geleit. Noch hinter dem Altar 
beginnen fie zu fingen: 

1. König. Der Stern flammt in herrlihem Glanz. 


2. König. Er bedeutet, daß der König der Könige geboren. 
3. König. Deſſen Ankunft bie Propheten verfünbdigten. 


Bor dem Altar angelangt, umarmen und küſſen fi die Könige und 
fingen: 


Darum ziehen wir aus und fuchen wir ihn auf, und bringen wir ihm Gaben, 
Gold, Weihraud, Myrrhen. 


Mährend die Prozejfion dann in das Schiff der Kirche hinunterzieht, 
wird am Sreuzaltar ein Lichterfranz in me eines Sterne angezündet, 
und die Könige fingen: 

Siehe! der Stern, den wir im Orient gejehen, zieht wieder leuchtend vor uns 
ber. Ya, dieſer Stern zeigt und den Neugeborenen, von dem Balaam fang: Aufgeht 
ein Stern aus Jalob und ein Dann aus Israel, und er wird zerichmettern alle 
Führer der fremden Völker, und die ganze Erde wird ihm zu eigen fein. 


Darauf folgt die Anbetung des Kindes, die Darbringung der Gaben 
und die Rückkehr der drei Könige, alles in gedrängten, mweihevollen Morten. 
Dann hebt die Meſſe an. 

Nahdem auch das Feſt der Unjchuldigen Kinder eine ähnliche liturgiſch— 
dramatiſche Feier erhalten, lag es nahe, die fämtlihen Weihnachtsgeheimnifie 
in einer Darftellung zujammenzufaffen. Ebenſo wurden die kurzen Ofter: 
jpiele erweitert, indem man auch die Gegenſätze, Judas, Pilatus, die Juden, 
die Soldaten hineinzog. Dies geſchah bereits im 11. Jahrhundert. Da 
fh die Vorftellungen aber dadurch zu fehr in die Länge zogen, jo wurden 





' Officium stellae seu trium regum (Migne, Patr. lat. CXLVII 135—140), 


430 Sechzehntes Kapitel. 


fie als eigentlihe Spiele (Judus) vom Gottesdienft (officium) abgelöft und 
für ſich nachmittags nad der Veiper gehalten. 

Wie bunt fih diefe Stüde nun geftalteten, zeigen ein MWeihnachtsfpiel 
und ein Ofterjpiel aus dem 13. Jahrhundert, welche unter den Carmina 
Burana in dem berühmten Goder von Benediftbeuren erhalten find!, 

Bor der Kirche ift ein Thron aufgeichlagen, auf welchem der hl. Auguftinus 
gt, rechts don ihm Iſaias, Daniel und andere Propheten, links der 
Spnagogenvorfteher und andere Juden. Zuerſt treten die Propheten auf 
und verkünden ihre Weisfagungen: Iſaias, Daniel, die Sibylle, Aaron 
mit dem blühenden Stab, Balaam auf feinem Eſel. Die Juden wider: 
ſprechen. Es erhebt fih ein großer Tumult und Disput. Der „Bilchof 
der Knaben“ vermweilt die Streitenden an Auguftinus; an diefen wenden 
ih die Propheten, deſſen Entſcheid aber der Archiſynagogus unter lauten 
Gelächter abweift. Auguftinus ſucht ihm ruhig zu belehren, aber vergeblich. 
Die jungfräulice Geburt ift den Juden Res neganda, dem hl. Auguftinus 
Res miranda. In kurzen Wechjelverfen zeichnen die Propheten und Auguftinus 
die Herrlichkeit des kommenden Meſſias, und Auguftinus kündigt feierlich 
jeine Ankunft an. 

Zwei ganz kurze Scenen führen die Verkündigung und den Beſuch 
Mariä bei Elifabeth vor. Dann wird die Geburt CHrifti verfündigt, der 
Stern erjcheint, und im längerer Darftellung folgt das Geheimnis der 
- Epiphanie, die Anbetung der Hirten, der Kindermord in Bethlehem, 
die Flucht nad Agypten und der Triumph des Chriftfindes über die heid— 
niſchen Götter, deren Bilder bei jeiner Ankunft zufammenftürzen. Durch 
Herodes, die Juden, den Teufel und den Antihrift kommt lebhafter 
Gegenjag in die legteren Scenen. Heidentum, Synagoge und Kirde er: 
ſcheinen in der Schluffcene als allegoriiche Perfonen, wie in den Autos 
des Galderon. 

Vor der Ankunft der heiligen Familie in Agypten tritt der König 
von Ägypten mit großem Gefolge auf und hält eine Heidnijche Yrühlings- 
feier. Der Chor fingt: 


Ab aestatis foribus Omnium prineipium 
amor nos salutat. dies est vernalis, 
Humus pieta floribus vere mundus celebrat 
faciem commutat. diem sui natalis. 
Flores amoriferi Omnes huius temporis 
iam arrident tempori, dies festi Veneris, 
perit absque Venere Regna Iovis omnia 
flos aetatis tenerae. haec agant sollemnia. 





! Carmina Burana. Lateinifche und deutjche Lieder und Gedichte einer Hand- 
ihrift des 16. Jahrhunderts aus Benediftbeuren, Stuttgart 1848 (Bibliothek des 
Literarifhen Vereind XVI 80—107). 


Die geiftlihen Schaufpiele. " 431 


Bereint mit dem Chor fingt dann das königliche Gefolge: 


Ad fontem philosophiae 
sitientes currite, 

et saporis tripartiti 
septem rivos bibite, 

uno fonte procedentes, 
non eodem tramite, 

quem Pythagoras rimatus 
excitavit physicae, 

inde Socrates et Plato 


Während die Heilige Familie 


honestarunt ethicae, 
Aristoteles loquaei 
desponsavit logicae. 

Ab his sectae multiformes 
Athenis materiam 

nactae hoc liquore totam 
irrigarunt Graeciam, 

qui redundans infinite 
fluxit in Hesperiam, 


auftritt, ftürzen die Götterbilder von ihren 


Thronen. Die Ngypter ftellen fie aber wieder auf, zünden ihnen Weihraud;- 


opfer an und fingen: 


Hoc est numen salutare, 
euius fundat ad altare 
preces omnis populus. 
Huius nutu reflorescit, 

si quandoque conmarcescit 
manus, pes vel oculus. 


Honor Iovi cum Neptuno! 
Pallas, Venus, Vesta, Iuno 
mirae sunt clementiae, 

Mars, Apollo, Pluto, Phoebus 
dant salutem laesis rebus 
insitae potentiae !. 


Der Schluß des Ganzen ift aus einem älteren „Spiel vom Antichrift“ 
herübergenommen, das ſich überall, bis in den ſtandinaviſchen Norden, ber: 
breitete. Wird aud in dem Stüd das ernitsreligiöje Element ſchon etwas 
durch das weltliche, halb-komiſche zurüdgedrängt und ift auch in der ägyptiſchen 
‚rühlingsfeier der Geift und Ton der Goliardendihtung leicht erkennbar, 
jo läßt fi) gegen das Ganze doh kaum ein ernftes Bedenken erheben. 

Wieviel gemütlihen Humor das Mittelalter in religiöfen Dingen er: 
tragen fonnte, beweijen nicht nur die fomifchen Bildwerfe, mit welchen jo 
viele mittelalterliche Kathedralen geihmüdt find, fondern mehr noch, daß 
an dem allerding3 nur auf Frankreich beſchränkten „Narren“- oder „Eſels“- 
Feſt am Neujahrätage der „Herr des Feſtes“, der Praecentor stultorum, 
den feierlichen Feſtgottesdienſt (Veſper und Hochmeffe) abhalten durfte. Aus 
dem Gottesdienft jelbft war allerdings alles Profane und Unwürdige ber: 
bannt. Der Humor befchräntte fid) auf das Lied (die Proja), welde vor 
Beginn der Veſper mehrftimmig gejungen wurde, während man bon der 
Kirhtüre zum Chore zog. Das harmlofe Lied lautet: 


Goldbeladen fam ah 

Fernher aus Arabia, 

Fern aus Saba hat beidafft 

Gold und Weihrauch Ejelstraft. 
He, Herr Ejel, be! 


Aus dem Dlorgenlande kam 

Uns ein Ejel lobejam, 

Eſel Ihön und tapfer ehr, 

Keine Laft iſt ihm zu ſchwer. 
Se, Herr Eiel, hei 


—— 





! Carmina Burana (ebd. XVI 91—93). 


432 Schzehntes Kapitel. 

Ruben zog auf Sihems Höhn Während er im Karren feucht 

Auf dem Eifel ſtark und fchön, Und gar ſchwere Laften zeucht, 

Durch des Jordans Bette tief, Mahlt jein ftarkes Badenbein 

Er gen Bethlem hurtig Lief. Hartes Futter furz und Hein. 
He, Herr Eſel, be! He, Herr Eifel, he! 

Alſo zierlic tanzt einher Gerftenftroh mit Adeln dran, 

Nehlein, Zidlein nimmermehr, Difteln er verfnaufen fann, 

Alfo hurtig traben kann Auf der Tenne mit Bedacht 

Kein Kamel aus Madian, Drift von früh er bis zur Nacht. 
Se, Herr Ejel, he! He, Herr Ejel, be! 


Amen ſpricht nun Efelein, 
MWirft wohl fatt vom Eſſen fein, 
Amen, Amen, früh und jpät, 
Alles Alte fei verſchmäht. 

He, Herr Ejel, hei! 


Die Grenzen zwijchen harmlojem und unzuläffigm Humor find indes 
nicht jo leicht zu ziehen. Das Urteil einzelner Individuen wie ganzer Völker 
und Zeiten geht darüber vielfach auseinander. Gewiß ift, daß nirgends jo 
leicht wie auf diefem Gebiete ſich Übermaß, Unfug, Mißbrauch einſchleichen 
fann. So ift e& nicht befremblih, daß ſich ſchon bald nad dem Auf- 
fommen der geiftlihen Spiele, vom 12. Jahrhundert an, nahdrüdliche 
Stimmen dawider erhoben. Gerhoh von Reichersberg verpönt fie geradezu 
als Zeufelserfindungen und Entweihung des Gotteshaufes?. Herrad von 
Landsperg urteilt, fie wären zwar in ihren Anfängen löblih und nützlich 


ı lberjeßt von 6. M. Dreves, Zur Geſchichte der füte des fous (Stimmen 
aus Maria-Laach XLVII [1894] 571—587; daſelbſt reichhaltige Literaturangaben). 

? (Juantum ad muros, magna erat ecclesia, sed nulla seu parva erat in 
ea disciplina ecclesiastica. Cohaerebat ipsi ecclesise (in Augsburg) claustrum 
satis honestum, sed a claustrali religione omnino vacuum, cum neque in dormi- 
torio fratres dormirent, neque in refectorio comederent, exceptis rarissimis festis, 
maxime in quibus Herodem repraesentarent, Christi persecutorem, parvulorum 
interfectorem, seu Iudis aliis aut spectaculis quasi theatralibus comportaretur 
symbolum ad faciendum convivium in refectorio aliis pene omnibus temporibus 
vacuo. Cogor hic reminisci propriae stultitiae in amaritudine animae meae 
dolens et paenitens, quod non semel talibus insaniis non solum interfui, sed 
etiam praefui utpote magister scholarum et doctor iuvenum, quibus ad istas 
vanitates non solummodo fraenum laxavi, sed etiam stimulum addidi pro affectu 
stultitiae, quo tam infeetus eram et in quo supra multos coaetaneos meos pro- 
feceram (Gerhohi praepositi Reicherspergensis Commentarius in Psalm. opera 
et studio B. Pez, Aug. Vindel. 1728, 2040). gl. Gerhohi De investigatione 
Antichristi lib. 1, n. 5. De spectaculis theatricis in ecclesia Dei exhibitis 
(Monum. Germ. Hist. Libelli de lite 1II, Hannov. 1897, 315 316). — I. Bad, 
Propft Gerhod von Neichersberg, ein bayrifher Scholaftiter, über die Schulfefte in 
Augsburg im 12. Jahrhundert (bei Kehrbach, Mitteilungen der Gejelljhaft für 
beutfche Erziehungs und Schulgeſchichte VII, Berlin 1897, 15). 


Die geiftlihen Schaufpiele. 433 


geweien, feien aber jpäter ins lUngeziemende und Unwürdige ausgeartet. 
Gegen Mißbräuche bei dem Efelöfeft in Sens ſchritt 1199 der Erzbiſchof 
Eudes de Sully von Paris ein. Gegen ähnliche Mikftände ift ein Decretale 
Innocenz' ID. von 1210 gerichtet. Eine Synode von Trier (1226) ſprach 
fih gegen das Abhalten von. Schaufpielen in den Kirchen aus, ebenjo die 
Utrechter Synode von 1293. Aud in Spanien, England und Frankreich 
traten Verbote ein. Die geiftlihen Schaufpiele wurden aus den Kirchen 
auf die Öffentlichen Plätze verdrängt, wo fie ſich mit geringerer Gefahr der 
Profanation freier entfalten fonnten. Damit ward aud die Abfafjung der— 
jelben in lateinifher Sprache überflüjfig; fie wurden fürder in den jeweiligen 
Landesſprachen gedichtet. 

Einen Übergang bezeichnet bereits das Ofterfpiel von Benediktbeuren, 
das mehrere deutihe Stellen aufweift, und zwar gerade da, wo der Stoff 
etwas weiter ausgeführt if. Denn der größte Zeil des Spieles ift völlig 
ſtizzenhaft. 

Zuerſt treten Pilatus und ſeine Frau auf und gehen an ihre Plätze, ebenſo 
Herodes mit ſeinen Soldaten, die Hohenprieſter, der Krämer und ſeine Frau und 
Maria Magdalena. Nur in einigen wenigen bibliſchen Worten wird dann die Be— 


rufung des Petrus und Andreas vorgeführt, die Heilung des Blindgeborenen, die 
Berufung des Zachäus, der Einzug in Jeruſalem. 


Jetzt erſt folgt eine etwas mehr entwickelte Scene. Der Phariſäer ladet 
Jeſus zu Gaf. Während das Mahl bereitet wird, begibt fih Magdalena 
mit den Mädchen zum Krämer, der ihnen feine Schminke anpreift. Darauf 
fingt Magdalena auf deutſch eine Liebesarie, die einen Liebhaber herbeilodt. 
Dann kauft fie die Schminke und legt fi zum Schlummer nieder. Zweimal 
erj&heint ihre im Traume ein Engel und ruft fie zum Erlöſer. Das erfte 
Mal antwortet fie mit einigen Verſen voll Weltluft, das zweite Mal faht 
fie Reue über ihre Sünden; fie legt ihren Put ab und vertaufcht ihm mit 
Bupkleidern. Während der Liebhaber und der Teufel abtreten, Tauft fie 
bei dem Krämer eine köſtliche Salbe und geht zu Jeſus. Erſt in einer 
lateiniihen, dann in zwei deutfhen Strophen beweint fie ihre Schuld und 
fleht um Verzeihung. Der Phariſäer murrt. Jeſus belehrt ihn durch Die 
Parabel von den zwei Schuldnern und vergibt dann Magdalena ihre 
Sünden. Sie aber beweint nochmals jchmerzlih ihr Sündenleben. 

Alles folgende ift wieder nur jfigziert: ber Tod unb die Erwedung bes Lazarus, 
der Verrat des Judas, das Gebet im Ölgarten, die Gefangennehfmung, die Ber: 
leugnung bes hi. Petrus, die Ratfihung über Chriftus, feine Verurteilung durch 


Kaiphas, Herodes, Pilatus, die Verzweiflung des Judas, bie Kreuztragung und 
Freuzigung. 


Erſt Hier ift wieder eine größere lyriſche Stelle eingeflodhten, die Marien: 


Hage, zunächſt in vier deutſchen Strophen, dann in einigen lateinifchen Verſen. 
Baumgartner, Weltliteratur. IV. 8. u. 4. Aufl, 28 


434 Sechzehntes Kapitel. 


Wieder ganz abgerifien folgen die Worte am Kreuz, der Tob Ehrifti und der 
Lanzenftih. Im einer deutſchen Strophe bittet dann Joſeph von Arimathäa um bie 
Erlaubnis, ben Herrn zu beftatten, welche ihm Pilatus, ebenfalls in einer deutſchen 
Strophe, gewährt. 


Schlichter und einfacher hätte da3 moderne Drama faum beginnen 
fönnen; indes gilt von dieſen feimartigen Anfängen doch Hurters Wort: 
„So hat die Kirche auch Hierin etwas angeregt, was in jeiner erftaunlichen 
Entfaltung, nachdem es von derjelben fi) abgelöft hatte und häufig mehr 
als in einer Beziehung ihr und ihren Beftrebungen an den Menſchen gegen: 
über getreten if, unendlich viele Kräfte in Bewegung jebte, die erhabenften 
Geifter befruchtete und zum umentbehrlihen Bedürfniffe für Taufende ge: 
worden iſt.“ 1 

Poetiſch weit bedeutender als die fih unmittelbar an die Weihnadts- 
und Oftergeheimniffe anjchließenden Spiele ift das bereits erwähnte, aus 
dem 12. Jahrhundert ftammende „Dfterfpiel von der Ankunft und 
dem Untergang des Antihrift”, das Hauptfählih dur eine Hand: 
ichrift des Kloſters Tegernjee weiter befannt geworden ift?. Es bringt in 
wahrhaft großartiger Weije die damalige religiös:politiihe Auffaffung des 
römiſchen Kaiſertums und des Kreuzzuges zur Darftellung. 

Der Schauplak ift Jerufalem; gen Often liegt der wiederhergeftellte 
Tempel. Bor ihm fteht der Thron des Königs von Jerufalem und der 
Synagoge. Im Welten erhebt fi) der Thron des römischen Kaiſers; neben 
diefem fißen die Könige der Deutſchen und der Franzoſen. Südwärts fteht 
der Thron des Königs der Griehen; ganz nad Mittag derjenige des Königs 
von Babylon und des Heidentums, 

Mie in den andern Stüden ift die Bühne anfangs leer. Die handelnden 
Perſonen erjcheinen in feierlihem Aufzug und nehmen unter Gejang ihre 
Pläge ein: erft der König von Babylon mit feinem Gefolge, dann bie 
Synagoge; die Kirche ala hehre Frau gekleidet mit Panzer und Krone, ihr 
zur Seite ebenfalls in weiblichen Koftüm die Barmherzigkeit mit dem Olkrug 
und die Gerechtigkeit mit Wage und Schwert; ihr folgen rechts der Papft 
mit dem Klerus, links der römische Kaiſer mit dem Heer, endlich die andern 
Könige mit ihren Scharen. 

Das Heidentum und der König von Babylon fingen das Lob der 
Vielgötterei; die Synagoge mit den Juden feiert den Bundesgott Israels 
mit ſchroffer Wendung gegen Heiden und GChriften; die Kirche verfündet 


uF. v. Hurter, Innocenz III. Bd IV, Hamburg 1842, 650. 

? Herausgeg. von B. Pez, Thesaur. Anecdot. Il, 2, 185 f; danach bei Migne, 
Patr, lat. CCXIIT 949—960. — Neuausgabe von W. Meyer, Der Ludus de 
Antichristo und über die lateinifhen Rhythmen (Separatabdrudf aus den Sigungs- 
berichten der Alabemie ber Wiflenichaften, Münden 1882). 


Die geiftlihen Schaufpiele. 435 


mit dem Hymnus Alto consilio die Lehre der Menſchwerdung, und die 
Ihrigen antworten mit der Wechſelſtrophe: 

Haec est fides, ex qua vita, 

In qua mortis lex sopita, 

(Quisquis est qui credit aliter, 

Hune damnamus aeternaliter. 


Die drei Gejänge werden im Laufe des Stüdes mehrfach wiederholt. 
Das Ganze iſt überhaupt als Oratorium oder Oper gedaht und aus— 
geführt, nicht als Tragödie. 

Die Handlung jelbft zerfällt in zwei Hauptteile: der erjte entwidelt 
prophetiih die Weltaufgabe des Kaiſertums, der zweite die Schidjale des 
Antihrift, jo jedoh, dab in der Charakteriſtik des erſten Teils das Ver— 
halten der einzelnen Mächte zum Antichrift wohl motiviert ift. 

Fußend auf dem Boden der altrömishen Weltherrſchaft fordert der 
römische Kaiſer die durch Trägheit und Sorglofigfeit verzettelte Macht zurüd 
und jendet zu diefem Zmede Gejandte an die übrigen Potentaten. Der 
franzöfiihe König verweigert die Unterwerfung, wird aber jofort befriegt 
und bejiegt und Huldigt nun als DBajall dem römiſchen Weltmonarden. 
Die Könige von Griehenland und Jerufalem leiften ohne Widerftand die 
geforderte Unterwerfung. Wie aber der König von Babylon die ganze 
Chriftenheit unter einem Haupte vereint fiehl, rüftet er zum Vernichtungs— 
friege gegen diejelben und belagert zunächſt Yerufalem. Der König von 
Derufalem ruft die Hilfe des Reiches an. Der Kaijer jammelt ein Heer, 
führt es zum Kriege, überwindet den König von Babylon im Zweilampfe 
und zieht in den Tempel ein. Hier ſinkt er zum Gebete auf die Knie, 
nimmt die Krone vom Haupte und legt Krone, Scepter und Herrſchaft auf 
dem Altare nieder, indem er fingt: 


Suseipe quod offero, nam corde benigno 

Tibi Regi Regum imperium resigno, 

Per quem reges regnant, qui solus imperator 
Diei potes et es cunctorum gubernator. 


Während der Kaijer nad) diefem wahrhaft föniglihen Gebete auf feinen 
Thron zurückkehrt, bleibt die Kirche in Jerufalem zurüd und nimmt von 
dem Tempel Beſitz. Die Chorgejänge am Anfang werden nun wiederholt 
und leiten zum zweiten Teile über. Der große religiöfe Weltkampf zwiſchen 
Ghriftentum, Judentum und Heidentum beginnt. 

Den neuen Kampf leiten die Heuchler ein, die unter dem Schein der 
Demut mit vielen VBerbeugungen und Komplimenten allüberall die Gunft 
der Laien zu gewinnen ſuchen. Zuletzt jchmeicheln fie fich bei der Kirche 
und dem König von Jerujalem ein, der fie ehrenvoll aufnimmt und ihrem 

28* 


4536 Sechzehntes Kapitel. 


Rate lauft. Jetzt tritt im Panzerkleid der Antichrift auf, die Heuchelei 
zur Rechten, die Härefie zur Linken. Seine Zeit ift gelommen: er will die 
Herrschaft diefer Welt an fi reißen und finnt darum, Chriftus aus den 
Herzen der Menſchen zu verdrängen. Das ſcheint ſchwer, aber Heuchelei 
und Härefie flellen fih ihm zur Verfügung. Sein Tagesbefehl lautet an 
die Heuchelei: 
Tu favorem laicorum exstrue, 

an die Härefie: 


Tu doctrinam clericorum destrue. 


So zieht er gen Jeruſalem. Die Heuchler dafelbft nehmen ihn freudig 
auf, entkleiden den König von Jerujalem feines Schmudes, rauben ihm, 
mit entblößten Schwertern, feine Herrſchaft, jegen den Antihrift auf feinen 
Thron und Huldigen diejem. 

Der entthronte König von Jerufalem klagt dem König der Deutihen 
fein Leid. Solange der Kaiſer Schußherr der Kirche gewejen, blühte dieje 
in vollen Ehren; feitdem die Zwietradht eingeriffen, ift der Aberglaube ans 
Ruder gelangt. Inzwiſchen hält der Antichrift feinen feierlihen Einzug in den 
Tempel. Die Kirche wird unter Schmähungen und Schlägen daraus vertrieben 
und zieht fih auf den päpftliden Thron zurüd. Der Antihrift aber jendet 
der Reihe nad die Heuchler als Gejandte an die Könige der Griechen, der 
Franzoſen und der Deutjchen, um ihre Unterwerfung unter feine Oberhoheit 
zu fordern. Der Griehe und der Franzofe laffen fih von der trügerijchen 
Botihaft raſch gefangennehmen, nit jo der wadere, redlihe Deutſche. 
Er durhihaut die Schliche der Gefandten und meift fie ab. Ergrimmt 
ruft der Antihrift die übrigen Könige zum vereinten Kampf wider den 
deutfchen König auf; doch die deutjchen Waffen fiegen. Aber dem Antichrift 
ftehen noch Mittel zu Gebot, denen weder der redlihe Sinn noch der ftarte 
Arm des deutfhen Königs gewachſen if. Wieder erjcheinen die Heuchler 
als Boten vor ihm. Im Namen des Antichrift Heilen fie vor ihm einen 
Lahmen und einen Ausfäßigen; fie mweden jogar einen ſcheinbar Toten 
zum Leben auf. Seht wankt auch der deutjhe König in feinem Glauben 
an Chriſtus. Er hält den Antichrift für einen neuen Gottgejfandten, legt 
ihm feine Krone zu Füßen und nimmt fie als Lehen von ihm zurüd. 

Es find nun bloß noch der König von Babylon mit dem Heidentum, 
die Synagoge und die Kirche übrig. Der König von Babylon weit die 
Geſandtſchaft des Antichrift ab, wird aber im Kampfe überwunden und 
zur Huldigung gezwungen. Die Synagoge dagegen läßt fi raſch betören, 
zieht dem Antichrift entgegen und begrüßt in ihm den verheißenen Mejfias 
und Erlöſer. Doch in diefem entjcheidenden Moment erjheinen die zwei 
Propheten Henoh und Elias, warnen die Synagoge vor dem bverhängnis- 
vollen Schritt und legen erhabenes Zeugnis für Chriftus ab. Da fällt die 


Die geiftlihen Schaufpiele. 437 


Binde von den Augen der Synagoge. Sie durchſchaut den Trug des Anti: 
chriſt und befennt feierlich die heiligfte Dreifaltigkeit. Sie wird mit ben 
Propheten vor den Antichrift geichleppt, der die Propheten zum Tode führen 
läßt. Während fie fterben, befehrt fich die Synagoge zu Chriftus, und die 
Kirche fingt: „Ein Myrrhenbüſchlein ift mir mein Geliebter!“ 

Siegesftolz prunft num der Antichrift und läßt fih von allen Königen 
zugleih als Gott der Götter anbeten. Doch feine Herrlichkeit dauert kurz. 
Unter ungeheurem Dröhnen trifft ihn ein Blitzſchlag. Er finkt tot zufammen. 
Alle fliehen. Die Kirche fingt: „Siehe den Mann, der Gott nicht zum 
Helfer nahm! Ich aber bin wie eine blühende Dlive im Haufe des Herrn!“ 
Alle kehren nun zum Glauben zurüd, und die Kirche fingt: „Singet Preis 
unferem Gotte!“ 

„Der Dichter Hat e3 im ausgezeichneter Weiſe veritanden, den Stoff 
auf feine wejentlihen Beftandteile zurüdzuführen, ihn einerjeit3 mit forg- 
fältigem Anſchluß an die Überlieferung, anderſeits mit Hoher Freiheit auf- 
zufaffen und fortzubilden, überall! Maß zu halten und die Geftalten, die er 
braudt, zu charatterifieren, wobei die gewandten, intrigierenden Heuchler, 
die tapfern, aber eiteln und ftolzen Franzoſen und die treuberzig-bejcheidenen, 
geradfinnigen und im Krieg unmwiderftehlichen Deutjchen befonders herbortreten.“ 

Sp urteilt W. Scherer, Wenn er es dem „geihmadvollen und 
patriotiihen Mann“ zu ganz befonderem Verdienfte anrechnet, daß er den 
Papſt entweder gar nit oder nur im Gefolge der Kirche auftreten läßt, 
ihn als ftumme Perſon behandelt, von der nicht die Rede ift, jo dürfte 
aber vielleicht gerade Hierin eine Schwäche der Dichtung zu erbliden fein. 
Die Kirche, melde im Papft ihren ſichtbaren welthiſtoriſchen Vertreter hat, 
ift fo ohne alle Not zur allegorifchen Figur verblaßt, die ſich nahezu völlig 
pajliv verhält, wo doc im großen Weltfampf mit dem Irrtum ihr, und 
nicht dem Kaiſertum, das entjcheidende Wort gebührte. Yür die rein melo- 
dramatijche Wirfung mag es günftig jein, daß gerade drei Frauengeſtalten: 
Ecclefia, Gentilitas, Synagoge, dem Antichrift gegenüber die drei religiöjen 
Hauptmächte vertreten; aber die dramatifhe Handlung und der Gehalt der 
Dichtung jelbft Haben darunter entſchieden gelitten, wenn aud das Ganze 
von innigem chriſtlichen Geiſte befeelt if. 

Wie fih aus den Ofterfpielen aud) das Legendendrama entwidelte, davon 
geben drei Stüde des Hilarius Zeugnis, welder um 1125 ein Schüler 
Abälards war?, In dem einen, „Die Auferftehung des Lazarus“, ift dieſes 
Wunder, dad in dem Ofterfpiel von Benedittbeuren nur mit wenigen Worten 
jfigziert wird, zum jelbftändigen Stüde ausgeftalte. Ein dramaturgijcher 

Geſchichte der deutſchen Literatur?, Berlin 1885, 79, 


2M. Champollion-Figeac, Hilarii Versus et Ludi, Paris 1838. — 
Bol. 3. 2. Klein, Geihichte des Dramas XII, Leipzig 1876, 301—312. 


438 Siebzehntes Kapitel. 


Vermerk bejagt, am Schluß folle das Tedeum gefungen werden, wenn die 
Aufführung am Morgen ftattfinde, dad Magnififat aber, wenn fie mit der 
Veſper verbunden würde. Die Aufführung fand alfo in der Kirche ftatt. 
Die zwei andern Stüde behandeln ſchon Stoffe, die mit den Oſter- umd 
Weihnachtsſpielen in feiner näheren Verbindung ftehen. Das eine, „Daniel“, 
führt das „Gaftmahl Balthaffars* vor, das andere, „Spiel vom Standbild 
des Hl. Nikolaus“, miſcht in echt mittelalterlicher Weiſe Ernſt und Scherz. 
Diebe ftehlen den Schab, den ein Heide (Barbarus) an der Statue des 
hl. Nikolaus verborgen hat. Erboft über den Raub, macht Barbarus den 
Heiligen dafür verantwortlih, jhilt und jchlägt fein Standbild. Darauf 
eriheint ihm der Heilige und gibt ihm den geraubten Schab zurüd. 
Das Wunder überwältigt den armen Heiden, und er befehrt ſich zum 
Ghriftentum. 

An der Schule zu Dunftaple, welche zu der Abtei St Albans gehörte, 
lieg der aus Frankreich herübergefommene Kleriker Geffrey bereit3 1119 
ein „Spiel von der bl. Katharina” aufführen, das ältefte Myſterienſpiel, 
das in England erwähnt wird, aber leider nicht erhalten if. 


Siebzehntes Kapitel, 
Religiöſe Lyrik und Hymnenpoeſie. 


Die ſchönſten Blüten zeitigte die lateinische Poefie zunädft auf dem 
Gebiete der firhlihen Hymnif, dann auf jenem der religiöfen Lyrik über- 
haupt. Es ift hier fogar in Sprade, Form und Technik ein Fortichritt 
bemerkbar, der auch den romanischen Volksſprachen zu gute kam, allerdings 
nicht in ftetiger Entwidlung, nod in deutlich geſchiedene Perioden zerlegbar, 
fondern in unregelmäßigen Anläufen und Unterbredungen, je nachdem be: 
gabtere oder minder begabte Kräfte fih daran beteiligten. Denn die 
Produktion wurde eine geradezu maflenhafte. Schon vom früheften Mittel: 
alter an wurden faft an allen Klöſtern und Stiften eigene Hymnen gedichtet ; 
jpäter traten ebenjo zahlreih die Tropen und Gequenzen hinzu; endlich 
famen förmliche NReimoffizien auf, d. h. Tagzeiten, in welden außer den 
Palmen, Lektionen und Gebeten alles übrige metrifche oder rhythmiſche Form 
erhielt. Bot nun auch das Wachſen des Heiligentalenders dabei neue ftoffliche 
Elemente, jo blieb doch der übrige religiöje Stoff im wejentlidhen derjelbe, 
und fo fonnte e8 nicht ausbleiben, daß diefelben Grundgedanken, Bilder 
und Stimmungen in hundertfadhen Variationen mwiederfehrten und Taujende 
von Hymnen ein mehr oder weniger glücklicher, oft ein jehr abgeſchwächter 


Religidje Lyrik und Hymnenpoefie. 439 


Widerhall früherer Hymnen wurden und mitunter das einzige Neue die 
allzu gefünftelte Form war!. 

Im allgemeinen aber zeugt dieje Unmaffe religiöjer Lieder, die in ftet3 
neuen Melodien und Variationen von Jahrhundert zu Jahrhundert weiter: 
Hingen?, nit nur von einem mächtigen Geifte der Andacht, Liebe, Freude 
und Poefie zugleid, fie find auch vielfah ein Ausdruck dichteriſchen Könnens, 
wie es als Beftandteil allgemeiner Bildung von einem Geſchlecht auf das 
andere ſich vererben mag und gleich der techniſchen Schulung in den bildenden 
Künften im ftillen Revier der Klöſter fich wirklich meiterpflanzte. In der 
Hand genialer Künftler aber wird die erworbene und vererbte Fertigkeit in 
Heineren oder größeren Zwiſchenräumen zum Werkzeug neuen, wahrhaft 
föftlihen Sanges, und jo wächſt der alte Sangeshort zu einem Reichtum 
an, den der abgemefjene Rahmen der allgemeinen Firhlichen Liturgie nicht 
mehr zu bergen weiß. Diele meifterlihe Lieder find auf die bejondern 
Liturgien und Feſte einzelner Orden und Diözefen angewiejen, andere ber: 
hallen im Laufe der Zeit und find uns nur mehr handichriftlih erhalten. 
Bon den erhaltenen kennt man oft die Verfaffer nit; die fpätere Über— 
lieferung hat fie vielfach ganz andern Urhebern und ſogar andern Zeiten 





! (uyet S. J., Heortologia, Venetiis 1729. — J.B. Thomasius, Hym- 
narium (Opera II), Romae 1747. — Rambad, Anthologie Hriftlicder Gefänge aus 
allen Jahrhunderten, 4 Bde, Altona und Leipzig 1817—1822, — C. Fortlage, 
Geſänge hriftlicher Vorzeit, Berlin 1844. — Daniel, Thesaurus hymnologicus, 
5 3be, Halis et Lips. 1841—1856. — Neale, Hymni Ecelesiae, London 1851/52. 
— Norman, Hymnarium Sarisburiense, London 1851. — Mone, Lateiniſche 
Hymnen bes Mittelalters, 3 Bde, Freiburg i. B. 1853—1855. — Kehrein, 
Katholifche Kirchenlieder, Hymnen, Palmen, 3 Bde, Würzburg 1853—1865. — 
J. F. H. Schloſſer, Die Kirche in ihren Liedern durch alle Jahrhunderte?, 2 Bde, 
Freiburg i.®. 1863. — Simrock, Lauda Sion. Althriftliche Lieder (lateiniſch 
und deutſch), Köln 1850. — Königsfeld, Lateinifche Hymnen und Gefänge aus 
dem Mittelalter, Bonn 1865. — Gall Morel, Lat. Hymnen bes Mittelalters, 
2 Bde, Einfiedeln 1866 1868. — J. Kayser, Anthol. hym. lat., Paderb. 1865. 
— R. C. Treneh, Sacred Latin Poetry ®, London 1874. — C. Blume 8.J. et 
G. M. Dreves 8.J., Analecta hymnica medii aevi, 44 ®be, Lips. 1886—1904 
(Umfafiendftes Hauptwerf. „Die bändereihen Analecta hymnica von Dreves und 
Blume können fih nunmehr getroft neben bie epochemadhende Hymnographie de 
l’Eglise grecque des Kardinals Pitra O. 8. B. ſtellen“ [JJ. €. Weis, Julian von 
Speier, get. 1285. Forſchungen zur Franziskus: und Antoniuskritik, zur Geſchichte 
der Neimoffizien und des Chorald, Münden 1900, 66]). — Misset et Weale, 
Thesauri hymnol. supplementum amplissimum, London 1888 f. — P. Julian, 
A Dictionary of Hymnology, Sheffield 1898. — L&on Gautier, Histoire de 
la po&sie liturgique au moyen-äge, Paris 1886. 

® Das von U. Chevalier im Anſchluß an bie Analecta Bollandiana ver: 
öffentlichte Repertorium Hymnologicum ift im Supplement (Anal. Boll. XXI, 
Fasc. III, Bruxellis 1900) bei Nr 34540 angelangt. 


440) Siebzehntes Kapitel. 


zugeteilt. So gleicht die Hymnik und religiöfe Lyrik des Mittelalter auch 
hierin noch einem in taujendfahem Blütenſchmuck prangenden tropiſchen 
Walde, der nod kaum gelichtet ift, dem Spezialforicher noch taufend ungelöfte 
Rätjel aufgibt. Um uns nit in diefem Gewirre zu verlieren, müflen wir 
uns begnügen, bon den herborragendften Sängern und Liedern einige namhaft 
zu maden, melde einigermaßen als leitende Typen oder RE Haupt- 
ericheinungen gelten mögen. 

Haben wir auch der älteren Vertreter der Hymnik bereits — ſo 
mag ed doch immerhin nützlich ſein, fie mit ihren Nachfolgern in eine über: 
fiht zufammenzuftellen : 

4—7. Jahrhundert: Hilarius, Ambrofius, Paulinus von Nola, Prubentius, 
Sedulius, Victorinus Afer, Papft Gelafius J. Ennobius, Elpis, Flavius von Ehälons, 
Venantius Fortunatus, Papft Gregor db. Gr. 

8. Jahrhundert: Beba Benerabilis, Paulus Diafonus, Alkuin, Paulinus 
von Aauileja. 

9. Jahrhundert: Theodulf von Orleans, Sebulius Scottus, Paulus 
Albarus, Hrabanus Maurus,. 

10. Jahrhundert: Notfer, Hartmann von St Gallen, Zutilo, bie Effe- 
harde, Obo von Elugnp. 

11. Jahrhundert: Obdilo von Elugny, Hermann Contractus, Fulbert von 
Ehartres, König Robert von Frankreich, Heribert von Eichftätt, Petrus Damiani. 

12. Jahrhundert: Anfelm von Canterbury, Sigebert von Gemblour, Baldrich 
von Bourgueil, Hilbebert von Lavardin, Rupert von Deuß, Bernharb von Morlas, 
Abälard, Bernhard von Elairvaur, Petrus Benerabilis (Abt von Elugny), Dtetellus 
von Zegernfee, Adam von St Bictor. 

18. Jahrhundert: Guido von Bazoches, Papft Innocenz II., Robert von 
Lincoln, Julian von Speier, Thomas von Gelano, St Thomas von Aquin, St Bona- 
ventura, Engelbert von Salzburg, Jacopone da Zobi, John Pedham. 

14. Jahrhundert: Papft Benedikt XIL, Johannes Gallicus zu Würzburg, 
Konrad von Gaming, Erzbiihof Johann von Jenſtein in Prag, Henricus Decanus, 
ber Mönd von Salzburg, Petrus de Blarovico, Adam Wernher don Themar, 
Konrad von Haimburg, Albert von Prag, Ulrih von Wefjobrunn. 


Bis in die karolingiſche Zeit blühen die antiken metriſchen Vers- und 
Strophenformen noch neben den neuen rhythmiſchen weiter und beeinfluffen 
fihtlich die letzteren; von der karolingiſchen Zeit an erlangen die rhythmiſchen 
Formen in den Tropen umd Sequenzen entjhieden das libergewicht, wobei 
die Anwendung des Reimed immer mehr zunimmt und zu den reichften künſt— 
lichſten Geftaltungen führt. Mit der Einführung der großen Mendilanten- 
orden endlih (am Beginn des 13. Jahrhunderts) drängen die rhythmiſchen 
Berje mit Reim — in den ſog. Reimoffizien — die früheren formen völlig 
zurüd, jo daß fih danad drei Hauptperioden aufftellen ließen: 1. der 
Hymnen, 2. der Tropen und Sequenzen, 3. der Reimoffizien. 

Beſondere Beachtung verdient aber wohl der Umftand, dab wir es hier 
nit mit einer Zunft profeifioneller Poeten zu tun haben, jondern daß an 


Religiöje Lyril und Hymmenpoefie, 441 


diejer religiöjen Poefie die geſamte Kirche beteiligt ift. Päpfte und Könige, 
Kardinäle und Biſchöfe, die größten Leuchten der Wiſſenſchaft und einfluß- 
reiche Politiker und Diplomaten, ſchlichte Mönche und einfache Lehrer werden 
uns als Hymnendichter genannt, und wenn die Autorfchaft fi auch nicht 
in jedem Falle nadhweifen läßt, fo bleibt die Überlieferung doch ein fprechendes 
Zeugnis des frommen Gemeingeiftes, der hier waltete. Man hat fich dieje 
religiöfe Hymnik aud nicht als eine Gegenftrömung zur Haffiihen Bildung 
zu denken, da mehrere der gewandteſten Rhythmendichter gerade am meiften 
Kenntnis der Alten und dieſelbe Gewandtheit in antifen Versmaßen an den 
Tag legen. Ebenfowenig bezeichnet diefe Hymnik irgend einen Gegenſatz 
zur damaligen Scholaftit, Myſtik oder biblifchen Forſchung; gerade die Viel: 
feitigfeit und Univerfalität der religiöfen Bildung, die Harmonie des Berftandes- 
lebens mit dem Gemütsleben verlieh der religiöfen Poefie jenen Reichtum 
und jene Tiefe, jene Yülle und Innigkeit, welche ſelbſt den Nichtgläubigen 
unwiderſtehlich anzieht!, 

Eine wahrhaft erhabene Dichtergeftalt ift vorab der Hl. Petrus 
Damiani (geb. 1007, geft. 1072), der berühmte Kardinal von Oftia, 
vor und mit Hildebrand, dem heiligen Papft Gregor VII, die Seele der 
firhlihen Reform im 11. Jahrhundert, einer jener wahren Reformatoren, 
die den Kampf gegen jedwedes Böje bei fih beginnen und durchführen, 
dann mit wunderbarem Erfolg auf die Kirche, auf die gefamte Mitwelt 
ausdehnen und aus Trümmern neues Leben hervorzuzaubern wiſſen. Zahl: 
loſe Klöfter, ganze Bistümer hatte er ſchon mit neuem, religiöjem Leben 
bejeelt, al3 er 1070 als päpftlicher Legat auf dem Reichstage zu Frankfurt 
por Kaiſer Heinrih IV. trat, um ihn bon der geplanten unrechtmäßigen 
Eheſcheidung abzubringen. Der unermüdliche Seelenhirt und Sittenprediger, 
durch feine Strenge und Sittenreinheit jelbft jeinen Gegnern verehrenäwert, 
fand neben jeinen zahllofen Arbeiten noch Zeit zum Dichten?. Etwa jedhzig 


’ „Die lateinifhen Rhythmen bes Mittelalters verdienen eifrige Erforſchung, 
nit nur um bes Inhalts, jondern auch um ber Formen willen. Dichtungen wie 
viele ber Carmina Burana, mande des Arhipoeta, jehr viele Hymnen und 
Sequenzen werben ftet3 zu den Perlen der Weltliteratur gehören. 
Dann haben die Inteinifhen Ahythmendichter befonders im 11. und 12. Jahrhundert 
mit feinem Gefühle für den inneren Bau ber Zeilen Geſetze aufgeftellt, welche auf die 
romanische Dichtung im Mittelalter großen Einfluß gehabt haben und zum Zeil 
noch jeßt fortwirten, wie 3. B. der romanifche Versbau noch heute auf bem damals 
gelegten Grunde ruht” (W. Meyer, Der Ludus de Antichristo und Bemerkungen 
über die lateinischen Rhythmen bes 12. Jahrhunderts [Situngsberichte ber königl. 
bayr. Afademie ber Wiſſenſchaften 1882, philofoph.-philolog. Klaſſe I 43]); vgl. 
ebd. 113. 

® Petri Damiani Carmina sacra et preces (Migne, Patr. lat. CXLV 
917-986). — Gedichte ebd. 925 926 930 f 986. — Über feine Stellung zu ben 


442 Siebzehntes Kapitel. 


Gedichte werden ihm zugejchrieben, von denen wohl mande nicht ihm an- 
gehören, die aber doch jehr anſchaulich feine Denkart jpiegeln!. 

Das geihichtlih ſehr intereffante Gedicht „Gegen die Simoniften“ kann 
nicht von ihm fein, da es Anjpielungen enthält, die über feine Lebenszeit 
hinausgehen. Als höchſt zweifelhaft ift auch der Rhythmus „Von dem Elend 
der Übte* anzufehen, der aber auf die Zeitlage die merkwürdigſten Streif- 
lichter wirft und den ganzen Jammer zeichnet, mit welchem der gewaltige 
Reformator zu ringen hatte. Von echt poetifcher, zündender Lebendigkeit find 
die Betrachtungen über Tod, Gericht und Hölle, welchen als meifterhaftes 
Gegenbild der Herrlihe Rhythmus über „Die Glorie des Paradiefes“ folgt, 
das befanntefte und gefeiertfte der dem Heiligen zugejchriebenen Gedichte, 
das auch hier eine Stelle verdient. 

Zu bes ew’gen Lebens Quellen ift ber durſt'ge Geift entbrannt, 


Und bie eingeihlofj’'ne Seele jprengte gern des Körpers Band, 
Kämpft und ringt in der Verbannung, firebt empor zum Vaterland. 


Während fie in Schmerz und Kummer aus dem Drude jeufzt empor, 
Muß fie ftets den Glanz betrachten, ben durch Abfall fie verlor; 
Des verjcherzten Glüds Gedächtnis ruft vorhand'nes Leid hervor. 


Denn wer jhilbert das Entzüden in bes Friedens ew’gem Strahl, 
Wo fi aus lebend'gen Perlen hebet der Paläfte Zahl, 
Wo von Gold bie Tiſche Shimmern in dem hocdhgewölbten Saal? 


Ganz aus Ebelfteinen fügt fich dieſer Häufer ftolger Bau, 
Reines Gold, kriſtallen Shimmernd, gibt der Straße Grund zur Schau, 
Aller Unrat und Berwefung ift verbannt von diefer Au. 


Winters Kälte, Sommers Hitze wüten nie an diefem Ort, 
Wo im ew’gen Frühling blühen Purpurrofen fort und fort; 
Lilien fhimmern, Safran glühet, Balfam ſchwitzt aus Stauden bort. 





Haffiihen Studien und Profanwiffenfhaften überhaupt vgl. F. Neufird, Das 
Leben des Petrus Damiani, Göttingen 1875, 14—16 31--833, 

ı 85. 36. 37. 38. De 8. Cruce. 40. Rhythmus paschalis. 41. De ascensione. 
44. In annuntiatione B. V. 47. In assumptione B. V. 48—60. Reimoffizium De 
B. V. 61. Rhythmus de B. V. 62—65. De B. V. 72, De 8. Petro. 74. De 
S. Paulo. 75. De Andrea apostolo. 76. Divisio. 77—79. De B. Ioanne B. 
93. 94. De gestis apostolorum. 95. De S. Vincentio mart. 96. De S. Vitale 
mart. 97. In festum S. Anthimi. 98. In solemne 8. Ursieini. 102—116. Reim: 
offizium De B. Apollinari. 117. 118. De 8. Ruffino. 119—121. De S. Donato. 
122. De 8. Fidele. 123. De S. Gregorio papa. 124—126. De 8. Benedicto abb. 
218. Adversus Simoniacos rhythmus. 220. Rhythmus paenitentis monachi. 
221. De abbatum miseria. 222. De omnibus ordinibus omnium hominum in hoc 
saeculo viventium rubrica. 223. De die mortis rhythmus. 224. In eos qui de 
regis ultione securi sunt, sed Christum evadere nequeunt. Rhythmus. 225. Hucus- 
que de adventu, hinc de poenis inferni. 226. De gloria paradisi. Rhythmus. 
227. In mortem Widonis, 


Religiöfe Lyrit und Hymmenpoefie. 443 


Grüne Wiefen, reife Saaten, Honigbädhe weit und breit, 
Wo der Duft von eben Hölzern und Aromen fich verftreut, 
Wo in grünen Wäldern reifen Früchte der Unfterblickeit. 


Sonn’ und Mond find hier erlojchen, wie auch der Geſtirne Heer, 
Denn bas Lamm taucht jelbft den Wohnort ein in feines Lichtes Meer; 
Ein nicht untergeh’'nder Tag iſt; Naht und Zeiten find nicht mehr. 


Auch die Heil’gen glänzen, jeder wie die Sonne hell und Mar, 
Bringen nad) vollbrahtem Siege jubelnd Preis und Ehre dar, 
Überzählend ihre Kämpfe, der befiegten Feinde Schar. 


Aller Fehl ift abgewaſchen, alle Lockung, aller Schmerz, 
Und das Fleiſch ift Geift geworden, Leib und Geift ift nur ein Herz; 
Sie geniehen ew’gen. Frieden, aller Streit ſank nieberwärts. 


Und fie ziehn in ihren Urfprung, vom Beweglichen befreit, 
Schaun die gegenwärt’ge Wahrheit ohne Schein und ohne Kleid, 
Zrinfen aus lebend’gen Quellen urgeborne Süßigfeit. 


Daher ihöpfen fie des Lebens ewige Erneuerung, 
Klar, lebenbig, Tieblih ohne jegliche Verminderung, 
Ohne Krankheit immer blühend, ohne Alter ewig jung. 


| Daher ziehn fie unvergänglich's Dafein, denn es ftarb der Tod; 
Daher blühn fie hell und grünen, denn in Not Tam hart die Not; 
Und das Recht ift abgerungen, twomit lang der Tod gedroht. 


Die den Shaun, ber alles jchauet, was bleibt denen unbekannt? 
In der Fremden Bruft Geheimnis dringt ihr heiliger Verftand, 
Und ihre Wollen und Nichtwollen ruht auf einem Gegenftand. 


Und wenn jeder gleich ber eig’nen Arbeit Früuchte ernten muß, 
Streut die Liebe allen reich doch aus von ihrem Überfluß, 
Und jo wird, was einer erntet, allen andern zum Genuß. 


Um den heil’gen Leihnam ſammeln fie wie Adler ſich entzückt, 
Wo mit Engeln und mit Heil’gen fi der Seelen Schar erquidt, 
Wo die Bürger zweier Welten find zu einem Mahl gerüdt. 


Und Genuß bort und Verlangen quilit in unerſchöpftem Fluß, 
Denn Verlangen ſchafft nicht Qual dort, Sättigung nit Überdruß. 
Der Genuß treibt zum Verlangen, das Verlangen zum Genuß. 


Stimmen dort voll Anmut fingen wechjelreihe Melodie, 
Inftrumente, füß den Ohren, tönen jaucdhzend Harmonie; 
Denn fie fingen Preis dem König, welcher ihnen Sieg verlieh. 


Glücklich, glüdlich ift die Seele, die vor ihrem König fteht, 
Unter ber in tiefem Grunde fi) des Weltalls Achſe breht, 
Sonn’ und Mond mit den Geftirnen ferne nur vorübergeht. 


Ehriftus, Palme tapfrer Kämpfer, die gefiegt im heißen Streit, 
Führe mi in diefe Ruh’ftatt nach gelöften Waffenkleid, 
Mache mich zum Mitgenofjen in der Stadt der Seligteit. 


444 Siehzehntes Kapitel. 


Stähle meine Kraft im Kampfe, auszubauern jeden Schlag, 
Und nad harter Kriegesarbeit, la mich ſchaun den Ruhetag. 
Wo als Siegeslohn ich deiner ewiglich mich freuen mag. 


Dem Reichenauer Mönch und Ehroniften Hermannus EContractus! 
von Böhringen (geft. 1054) werden die Antiphonen Alma redemptoris 
mater und das Salve regina zugeidhrieben, dem Abte Petrus Vene 
rabilis von Elugny (gef. 1156) die Hymnen Inter aeternas und Claris 
coniubila auf den hl. Benedikt im Benediktinerbrevier. 

Don Marbod, Biihof von Rennes (geb. 1035, geft. 1125), joll das 
ihöne Gebet Deus-homo, Rex caelorum, miserere miserorum, das 
Gebet an Gott den Vater Universae creaturae, das ergreifende Bußlied 
Cum recordor, quanta cura flammen?, 

Den glängendften Dichtern des Mittelalters ift der ſchon erwähnte 
Hildebert von Lavardin, Erzbifhof von Tours (geb. 1055, geft. 1134), 
zuzuzählen 3. 

Kaum ein anderer Hymmendichter hat es ihm darin gleihgetan, den 
ſchwierigſten jpelulativen Begriffen und Offenbarungsmwahrheiten eine fo 
forrefte und deutliche wie zugleich poetiiche Faſſung zu geben, wie dies 
j. B. in feinem Rhythmus an die heilige Dreifaltigkeit der Fall if. Das 
Abftrakte weiß er durch konkrete Umfchreibung und Bergleih den Sinnen 
näher zu rüden, die haarſcharfen Diſtinktionen der Scholaftif in jpielende 
Melodien umzuwandeln. 


Alpha et O, magne Deus, A und DO, Gott, Weltgeftalter, 

Heli, Heli, Deus meus, MWeltregierer, Welterhalter, 

Cuius virtus totum posse, Deſſen Kraft nichts wiberftehet, 
Cuius sensus totum nosse, Defien Kenntnis nichts entgehet, 
Cuius esse summum bonum, Defien Sein das höchſte Gut ift, 
Cuius opus, quidquid bonum, Deffen Werk, was immer gut ift, 
Super cuncta, subter cuncta, Über, unter allem thronft bu, 

Extra cuncta, intra cuncta: Außer, inner allem wohnft bu: 
Intra cuncta, nec inclusus, In dem All, nicht eingeenget, 

Extra cuncta, nec exclusus, Draußen, nicht hinausgedränget, 
Super cuncta, nec elatus, Übern AU, doch nicht entrücket, 
Subter cuncta, nec substratus; Unterm AU, doch nie bedrücket; 
Super totus, praesidendo, Drüber ganz, beherrſchend, waltend, 
Subter totus, sustinendo, Drunter ganz, begründend, haltend, 
Extra totus, complectendo, Draußen ganz, das Al umfhlingenb, 
Intra totus es implendo; Drinnen ganz, bad All durchdringend; 


ı Val, 9. Hausjakob, Herimann ber Lahme von ber Reichenau, Mainz 
1875, 68-—93. 

® Trench, Sacred Latin Poetry 280. — Fortlage, Gefänge Kriftlicher 
Vorzeit 273 275. 

® Sammlung feiner Gedichte bei Migne, Patr. lat. CLXXI 1177—1458. — 
Proben hei Trench a. a. ©. 108; Fortlage a. a. O. 11 188 254 263 277. 


Religiöſe Lyrik und Hymnenpoefie. 445 


Intra, numquam coarctaris, Nicht im Drinnen eingejchlofien, 
Extra, numquam dilataris, Nicht im Draußen ausgegofien, 
Super, nullo sustentaris, Droben ohne Stüße ragend, 

Subter, nullo fatigaris. Drunten nie belaftet tragend; 
Mundum movens non moveris, Regungslos die Welt erregend, 
Locum tenens non teneris, Ohne Zeit die Zeit bewegend, 
Tempus mutans non mutaris, Ohne Raum den Raum umſchließend, 
Vaga firmans non vagaris, Nie in Fluß, was fließt, ergiehend, 
Vis externa et necesse Kraft von außen, Zwang von innen, 
Non alternant tuum esse. Nichts beeinflußt dein Beginnen. 
Heri nostrum, cras et pridem Unfer Morgen, Heut und Nimmer 
Semper tibi nunc et idem, St vor bir ein ew’ges Immer, 
Tuum, Deus, hodiernum Ewiglich bein Jetzt verweilet, 
Indivisum, sempiternum. Unverändert, ungerteilet, 

In hoc totum providisti, Drin du alles vorgejehen, 

Totum simul perfecisti Alles riefeft ins Entftehen, 

Ad exemplar summae mentis Nach der ewigen Weisheit Nornten 
Formam praestans elementis. Gabft dem Urftoff feine Formen !, 


Sp wird im Vater hauptfählih die göttlihe Natur felbft mit ihren 
Attributen gezeichnet; nicht minder ſchön tritt im folgenden der Unter: 
ſchied der drei göttlihen Perjonen und ihre Wechjelbeziehung hervor, und 
dann geftaltet fi die poetische Beihauung zum innigften Gebete. In 
den anſchaulichſten Bildern, den herzlichften Tönen klagt der Betende dem 
dreieinigen Gott feine Not hienieden und die ewigen Gefahren, melche 
die Sünde in fi jchließt, wirft aber zulegt einen hoffnungsvollen Blid 
in die Wonne der ewigen Seligfeit und grüßt diefelbe ſehnſüchtig von ferne: 


Urbs caelestis, urbs beata, Stadt der Himmel, werte, traute, 
Supra petram collocata, Auf den Felſengrund gebaute, 

Urbs in portu satis tuto, Friedens hafen, Heimat, Türe, 

De longinquo te saluto, Aus der Ferne ich dich grüße. 

Te saluto, te suspiro, Ya, di grüß’ ich, dich umfang’ ich, 
Te affecto, te requiro! Nah dir ſeufz' ich, dein verlang’ ich! 


Mährend ſcholaſtiſche Philofophie und Poefie im Leben Hildeberts in 
vollfter Harmonie ftanden, treten fie bei dem etwas jüngeren Abälard in 
jeltjamen Gegenſatz. Als Philoſoph und Theologe Hat er faft nur Ber: 
wirrung, Streit und Unheil angerichtet, als Hymnendichter ift er völlig 
orthodor. Als philoſophiſcher Oppofitiongmann Hat er die ganze Welt mit 
dem Lärme feiner feden Behauptungen erfüllt; als Dichter war er bis in 
die letzte Zeit völlig verſchollen. Sein poetifches Hauptwerk beſchränkt fich 
auf ein liturgifches Hymnarium, welches er feiner „in Chriſto ehrwürdigen 
und liebenswerten Schweiter Heloife“ und deren geiftlihen Töchtern im Kloſter 





ı Überfegt von G. M. Dreves, Der Dreifaltigfeits-Hymnus Hildeberts von 
Lavardin (Stimmen aus Maria-⸗Laach XLIX [1895] 411—418). 


446 Siebzehntes Kapitel. 


Paraklet widmete umd welches denn aud nicht weit über die Mauern diejes 
Klofters hinausgedrungen zu ſein jcheint. Es ift ein durchaus einzeln 
ftehender Verſuch, an die Stelle der vorhandenen, im Laufe der Zeit langſam 
angewachjenen liturgiſchen Hymnenjammlungen eine einheitliche, neue zu ſetzen, 
welche alle dur die Tagzeiten und Feſte gegebenen Stoffe in völlig neuen, 
eigenartigen und künſtlichen Metren durcharbeitete, ein jubjektiviftiiches Unter: 
nehmen, das ganz dem feden Individualismus Abälards entſprach. Aller 
dings zeigt er in diefen Hymnen nicht nur herzliche Frömmigkeit, jondern 
auch poetifches Genie und ftaunenswerte Formgewandtheit; aber ein Einzelner 
fonnte unmöglich verdrängen, was im Laufe eines Jahrtaufends langjam 
herangereift war, und jo ift feine Dichtergabe für die Weltliteratur ziemlich 
erfolglos geblieben. Einiges in Abälards Hymnen ift auch entjchieden 
gejuht, barod und geihmadlos, jo wenn er 3. B. an die Stelle der er: 
greifenden alten Hymnen auf die „Unfchuldigen Kinder“ folgenden anefooten: 
haften Zug aus Macrobius jeßt: 


Ad mandatum Est a caede. De immiti Prodest magis 
Regis datum Ad Augustum Digne lusit, Talis regis 
(enerale Hoc delatum Malum, inquit, Esse porcum. 
Nec ipsius Risum movit Est Herodis 

Infans tutus Et rex mitis Esse natum 


Jedenfalls war Abälard ein formgewandter Dichter. ALS joldhen weiſen 
ihn die Schon früher bekannten biblifchen Klagelieder aus!; meit mehr das 
Hymnenbuch, das er für Heloife und das bon ihr geleitete Kloſter Paraklet 
(in drei Zeilen) verfaßte?. Verkappte Liebesgedichte, wie Greith meinte, 
find die ſechs Trauerlieder nit, ſondern wirklich ergreifende, echt lyriſche 
Bearbeitungen der zu Grunde liegenden biblijhen Stoffe. Auch das Hymnen— 
buch und deffen Vorrede find durchaus religiös und würdig gehalten, ohne 
einen Zug, der an das alte Liebesverhältnis erinnert, al3 das Wort: 
Soror mihi, Heloisa, in saeculo quondam cara, nunc in Christo 


' f. Planctus super Dinam. II. Planctus Iacob super filios suos. III. Planetus 
virginum Israelis super filia Iephtae Galaditae. IV. Planctus Israel super Samson. 
V. Planctus David super Abner, filio Ner, quem Ioab oceidit. VI. Planctus David 
super Saul et Ionathan (gedrudt bei Greith, Spieilegium Vaticanum, Frauen- 
feld 1838, 123—131). — Guil. Meyer, Planctus virginum Israel super filia 
Ieptae, Monachii 1885; Plancetus I II IV V VI, Erlangen 1890. — Bgl. 
E. du M&ril, Poésies popul. lat. anterieures au 12=* siecle 174; Poesies popul. 
lat. du moyen-äge 434—438, 

® Petri Abaelardi, Peripatetici Palatini, Hymnarius Paracli- 
tensis (ed. G. M. Dreves 8. J., Paris. 1891). — Weitere Literaturangaben ebb. 
12. — G. M. Dreves, Der Philofoph von Palais als Hymnopoet (Stimmen 
aus Maria-Laach XLI [1891] 426448). — E. du Méril, Poesies d’Abailard; 
Poesies popul. lat, du moyen-äge 416—449. 


Religiöje Lyrik und Hymnenpoefie. 447 


earissima — „Beloije, einft in der Welt meine liebe, jest in Chriſto aller- 
fiebfte Schwefter.“ — Was die Hymnen auszeichnet, iſt befonders die Mannig- 
faltigleit und Neuheit der Rhythmen, d. 5. der Zeilenformen bei ziemlich 
einfahen Strophenformen. In Schönheit des Ausdruds, bei Tiefe des theo- 
logiſchen Gehalts fommt er oft Hildebert von Tours nahe, die bezaubernde 
Form: und Bilderfülle Adams von St Victor erreicht er jedoch nicht. 

Eine weit erfreulichere Erjheinung für die Literaturgefhichte wie für 
die Kirchengeſchichte al3 Abälard ift fein geiftiger Antipode, der hl. Bern- 
hard, Abt von Clairvaux, der berühmte Prediger des zweiten Kreuzzuges, 
der Berater de3 Papftes Eugen IIL, der Ruhm und die Zierde des Gifter- 
cienjerordend. in bildihöner Jüngling, von allen Lodungen der Welt 
ummoben, ſagte er ihr Lebewohl, ehe ein Hauch ſündigen Treibens den lichten 
Spiegel feiner Seele getrübt hatte. Die ganze Minne feines liebeglühenden 
Herzens galt der ewigen Liebe, die fi in Bethlehem mit unjerem Fleiſch 
umkfeidet, die auf Golgatha in unnennbarem Schmerz fih auf ewig der 
Menjchheit angetraut. Diefe Minne machte ihn auch zum DVerlünder der 
Jungfrau, die den Welterlöfer auf ihren Armen trug und am Fuß des 
Kreuzes fein Leiden teilte. Kein Minnefänger hat jo innig, jo ſehnſüchtig, 
jo Tiebesjelig und mwonnetrunfen von irdiicher Liebe gefprodhen, wie Bernhard 
von der leidenden Liebe des Erlöferd, von dem Triumph der ewigen Liebe 
im Kreuze. Keiner der alten Kirchenväter hat jo ſüß, fo lieblid von den 
Wundern des Namens Yeju gepredigt wie er. Seine Reden über den 
Pſalm Qui habitat und über das Hohelied find mehr Triumphgejänge 
moftiiher Liebe und Gottbegeifterung als rhetoriihe Werke. Seine Feſt— 
predigten, boll der anmutigſten Bilder, in melodifher Sprache dadingleitend, 
wiegen die ſchönſten Rhythmen auf. Es ift darum ziemlich gleichgültig, daß 
ihm die moderne Kritik eine Anzahl Hymnen abgeftritten hat, welche bis 
in diefes Jahrhundert hinein unter feinem Namen gebetet, gelejen und ge— 
jungen wurden und Zaufende von Herzen erquidten. Wer immer fie ge- 
dichtet Haben mag, fie tragen die Züge feines Geiftes, fie find ein Widerhall 
feiner Predigten und werden darum auch in weiterer Überlieferung mit ihm ver- 
fettet bleiben, und Taufende werden auch fürder in feinem Geifte weiterfingen: 


lesu duleis memoria, Jeſu, bein ſüß Gedächtnis macht, 
Dans vera cordis gaudia, Daß mir das Herz vor Freude ladt: 
Sed super mel et omnia Doch füher über alles ift, 

Eius duleis praesentia. Wo du, o Jeſu, ſelber bift!, 


Als Herold einer ſolchen religiöjen, dur und dur von übernatür- 
licher Weihe durdfättigten Poefie ſtand Bernhard nit allein. Als er 1153, 
ı 98, Bremme (Der Hymmus lesu dulcis memoria in feinen lateinifchen 


Handſchriften und Nahahmungen jowie deutſchen überſetzungen, Mainz 1899, 111 
bis 362) führt nicht weniger als ſiebzig deutſche Überſetzungen auf. 


448 Siebzehntes Kapitel. 


erft 62 Jahre alt, ftarb, fang jchon lange Adam von St Victor, der 
poetifche Vertreter der um die Theologie, beſonders die myſtiſche, hoch— 
verdienten Schule der Biltoriner, neben Hildebert von Tours der gewandteſte 
Hormkünftler mittelalterliher Humnik, eine echte Sängernatur, wie e8 nur 
je eine gab, dem gleichſam jedes Wort zu Reim und Melodie ward. Bielleicht 
wäre er in bloße Spielereien herabgefunten, aber tiefes theologiſches Willen 
und die innigfte Gottesliebe waren die Seele feines Liedes und gaben ihm 
mädtige Schwingen himmelan!. 

Projawerke, von melden eines ſchwierige Worte der Bibel erflärt (die 
jog. Summa Britonis), ein anderes die jämtlihen Prologe des hl. Hie— 
ronymus zur Bibel behandelt, ein drittes, philoſophiſches, den Unterſchied 
bon anima, spiritus und mens befpricht, bezeugen, daß auch Adam zunächſt 
ein gelehrter Theologe war, und Wilhelm von St Lö verfichert, daß die 
zwei erjten, eregetifchen Werke das höchfte Anfehen genoffen. 

Aber auch feine Poefie fand ſchon während des Mittelalter hohe An: 
ertennung. Nach einer liberlieferung belobte und beftätigte Innocenz III. 
jelbft auf dem vierten Laterantonzil (1215) feierlih feine Sequenzen (ob= 


‘ His most zealous admirers will hardly deny that he pushes too far, and 
plays overmuch with, his skill in the typical application of the Old Testament. 
So too they must own that sometimes he is unable to fuse with a perfect success 
his manifold learned allusion into the passion of his poetry.... Sometimes too 
he is overfond of displaying feats of skill in his versification, of prodigally 
accumulating, or curiously interlacing, his rhymes, that he may show his perfect 
mastery of the forms which he is using, and how little he is confined or tram- 
melled by them. These faults it will be seen are indeed of them but merits pushed 
into excess. And even accepting them as defects, his profound acquaintance with 
the whole eircle of the theology of his time, and eminently with its exposition 
of Scripture — the abundant and admirable use, with indeed the drawback 
already mentioned, which he makes of it, delivering as he thus does his poems 
from the merely swbjective cast of those, beautiful as they are, of St. Bernard — 
the exquisite art and variety with which for the most part his verse is managed 
and his rhymes disposed — their rich melody multiplying and ever deepening 
at the close — the strength which often he concentrates into a single line — 
his skill in conducting a story — and most of all, the evident nearness of the 
things which he celebrates to his own heart of hearts — all these and other 
excellencies render him, as far as my judgment goes, the foremost of the sacred 
Latin poets of the middle age. He may have no single poem to vie with the 
austere grandeur of the Dies irae, nor yet with the tearful passion of the Stabat 
Mater, although concerning the last point there might well be a question; but 
then it must not been forgotten that these stand well-nigh alone in the names 
of their respective authors, while from his ample treasure-house I shall enrich 
this volume with a multitude of hymns, all of them considerable, some of the 
very highest merit. Indeed were I disposed to name any one who might dispute 
the palm of sacred Latin poetry with him, it would not be one of these, but 
rather Hildebert, Archbishop of Tours (Trench, Sacred Latin poetry 59 60). 


Religiöfe Lyrik und Hymmenpoefie. 449 


wohl die Alten des Konzils dies nit ausweilen), und viele derjelben gingen 
in die Meßbücher der meiften Länder über!. Nur Deutjchland hing zähe 
an den älteren Eequenzen Notkers fett. Bon diejen unterſchieden ſich die— 
jenigen Adams durch ihren funftvollen Strophenbau. Die häufigfte Form 
der Strophe bietet das folgende DOfterlied, das zugleich Adams Vorliebe für 
die altteftamentlihe Typit zum Ausdrud bringt: 


Zyma vetus expurgetur, Fort mit altem Sauerteige, 
Ut sincere celebretur Neu gereinigt alles fteige 
Nova resurrectio ; Mit dem Heiland aus dem Grab! 
Haec est dies nostrae spei, Diefer Tag trägt unfer Hoffen, 
Huius mira vis diei Seine Wunbderfraft liegt offen, 
Legis testimonio. Da der Bund ihm Zeugnis gab. 
Haec Aegyptum spoliavit, Er hat Mizraim zerftreuet. 
Et Hebraeos liberavit Der Hebräer Volt befreiet, 
De fornace ferrea: Don bes eh’rnen Ofens Glut, 
His in arctis constitutis Da fie in bedrängter Lage 
Opus erat servitutis Mühſam fronten alle Tage 
Lutum, later, palea. Und vom Ziegeln nie geruht. 
lam divinae laus virtutis, Drum fo fingt bes Höchſten Ehre, 
Jam triumphi, iam salutis Drum Triumph, drum Jubelchbre, 
Vox erumpat libera, Schallet laut, laßt nimmer nad. 
Haec est dies quam fecit Dominus, Diejen Tag hat felber ber Herr gemacht, 
Dies nostri doloris terminus, Diefer Tag hat Leiden ein End’ gebradt, 
Dies salutifera. Diejer Heil» und Freubentag! 


Adam liebt es aber au, die Zahl derjelben Reime noch zu erhöhen 
und fo noch funftreichere und ſchwierigere Strophen zu bilden, die im mejent- 
lihen indes einen ähnlichen Charakter haben. So in der pradhtvollen Sequenz 
auf „Mariä Himmelfahrt“ : 


Ave virgo singularis, Gruß, o Jungfrau, einzig Eine, 

Mater nostri salutaris, Mutter Jeſu, allzeit reine, 

Quae vocaris stella maris, Meeresitern von lichtem Scheine, 
Stella non erratica; Stern, ber nimmer täuſcht noch trügt; 





ı 86 Sequenzen, zuerjt herauögeg. von Clichtoveus, Elueidarium ecele- 
siasticum, 2°, Basileae 1517; abgedrudt bei Migne, Patr. lat. CXCVI 1421 bis 
1534, — Stritifhe Ausgabe von L. Gautier, Oeuvres postiques d’Adam de 
Saint-Victor !, Paris 1858/59; ?1881; °1894. — Eugöne Misset, Essai philo- 
logique et littraire sur les @uvres po6tiques d’Adam de Saint-Vietor. Les 
Lettres chretiennes II 76 ff 238 ff; 111 358 ff; IV 204 ff 371; V 344 ff. — 
6. M. Dreves, Adam von St Victor (Stimmen aus Maria-Laach XXIX [1835] 
278—295 416—441). — R. Ch. Trench, Sacred Latin Poetry®, London 1374, 
55—85 113—115 125—128 155—158 168—173 179—183 189—196 204—207 
214—218 221 222 232—288. — Fortlage, Gefänge hriftl. Vorzeit 400 ff (Über: 
fegung von 16 Sequenzen). 

Baumgartner, Weltliteratur. IV, 3. u. 4 Aufl. 29 


450 Siebzehntes Kapitel. 


Nos in huius vitae mari 

Non permitte naufragari, 

Sed pro nobis salutari 
Tuo semper supplica, 


Saevit mare, fremunt venti, 

Fluctus surgunt turbulenti, 

Navis corrit, sed currenti 
Tot oceurrunt obvia; 

Hic sirenes voluptatis, 

Draco, canes, cum piratis 

Mortem paene desperatis 
Haec intentant omnia. 


Post abyssos nunc ad caelum 

Furens unda fert phaselum, 

Nutat malus, fluit velum, 
Nautae cessat opera; 

Contabeseit in his malis 

Homo noster animalis, 

Tu nos, mater spiritalis, 
Pereuntes libera. 


Tu, perfusa caeli rore, 
Castitatis salvo flore, 
Novum florem novo more 
Protulisti saeculo; 
Verbum Patri coaequale 
Corpus intrans virginale 
Fit pro nobis corporale 
Sub ventris umbraculo. 


Te praevidit et elegit 
Qui potenter cuncta regit, 
Nec pudoris elaustra fregit, 
Sacra replens viscera, 
Nec pressuram nec dolorem 
Contra primae matris morem 
Pariendo Salvatorem 
Sensisti, puerpera. 


OÖ Maria, pro tuorum 
Dignitate meritorum 
Supra choros angelorum 
Sublimaris unice: 
Felix dies hodierna, 
(Jua conscendis ad superna! 
Pietate tu materna 
Nos in imo respice. 


Daß nit in des Meeres Welle 
Unſer Lebensſchiff zerichelle, 
Unfre Bitten dem beſtelle, 

Der da alles lenkt und fügt. 


Schäumend bäumt, ein Spiel ber Winde, 
Sich bie Meeresflut, die blinde, 

Und das Scifflein pfeilgeſchwinde 
Stürmt durch Fährlichkeit und Not; 
Ferneab Sirenen fingen, 

Ungeheuer es umringen, 

Räuber bräun es zu bezwingen, 

Alles dräut umher den Tod. 


Himmelwärts aus Abgrunds Rachen 
MWirft die Woge nun den Nadıen, 
Rahen knirſchen, Maſte krachen, 

Und des Schiffers Arm, er finkt; 
Ach, das Leid iſt nicht zu zählen, 
Und ſchon will der Mut uns fehlen; 
O du Mutter unſrer Seelen, 

Hilf, da Untergang uns winft! 


Reich vom Himmelstau begofien, 
Blieb dein Lilienfeld verſchloſſen, 
Drin auf Wunderweije ſprofſen 
Jenes Wunberröslein ſollt'; 
Denn in deinem Schoß, o Reine, 
Als ein Menſchenkindlein kleine 
Sich des Vaters Sohn, der eine, 
Fleiſcheshülle nehmen wolll'. 


Dein von Ewigkleit gedenket, 

Der da mächtig alles lenket, 

Der, ob reichſte Frucht er fchentet, 
Dod bie reinste Zucht nicht kränkt; 
Ohne Wehen, ohne Klagen, 
Unerhört jeit Evas Tagen, 

Haft den Höchſten du getragen 
Und bas Beil der Welt gejchentt. 


O Maria, hoch im Throne, 
Höchſter Tugend höchſte Krone, 
Prangeft du zunädft dem Sohne 
Über aller Engel Schar. 

O bes Tages, hoch zu Toben, 

Der dich alfo hoch erhoben! 
Wend' dein Auge au von droben 
Zu uns nieder mild und klar. 


Religiöfe Lyrik und Hymnenpoefie. 451 


Radix sancta, radix viva, 
Flos et vitis et oliva, 
Quam nulla vis insitiva 

Iuvit, ut fruetificet, 
Lampas soli, splendor poli, 
Quae splendore praees soli, 
Nos assigna tuae proli, 

Ne distriete iudicet. 


In conspectu summi regis 
Sis pusilli memor gregis, 
Qui transgressor datae legis 
Praesumit de venia: 
Judex mitis et benignus, 
Iudex iugi laude dignus, 
Reis spei dedit pignus, 
Crucis factus hostia. 


lesu, sacri ventris fructus, 

Nobis inter mundi fluctus 

Sis via, dux et conductus 
Liber ad caelestia. 


MWürzlein fräftig, Würzlein reine, 
Rebitod, Ölzweig, Blümlein feine, 
Das aus Himmelstraft alleine 

Frucht getragen, himmliſch ſchön; 
Himmelsleuchte, Licht der Erde, 

Über Sonnenglanz Verklärte, 

Wenn der Richter greift zum Schwerte, 
Deinem Sohne uns verſöhn'! 


Vor dem höchſten König ſtehe 

Und ber kleinen Herd' erflehe, 

Daß für Recht ihr Huld geſchehe, 

Ob fie gleich ſich ſchwer verging. 

O des Richters, des geduld'gen, 

Dem mit Dante ſtets zu huld'gen, 
Daß, ein Hoffnungspfad den Schuld’gen, 
Er am Kreuz ald Opfer hing. 


Sohn ber Jungfrau, die wir loben, 
Sei uns in des Sturmes Toben 
Meg und Führer nad dem Droben 
Unb ein himmliſch Freigeleit. 


Lent das Schifflein, leit’ fein Steuer, 
Meer und Winde mad geheuer, 

Lent als Bootsmann, als getreuer, 
In den Port der Seligfeit. 


Tene elavum, rege navem; 
Tu, procellam sedans gravem, 
Portum nobis da suavem 

Pro tua clementia. 


Es ift das gemeinjame Los aller bedeutfamen poetiichen Formen, daß 
fie, meift durch unvollkommene Verſuche vorbereitet, von einem glüdlichen 
Meifter endlich zur Vollendung gebradht, in die Hände von Epigonen ge- 
taten, melde diejelben wohl ftümperhaft, automatiih nadzubilden, aber 
nit mit zündendem Lebenägeift zu befeelen wiffen, bis, oft erft nad) langer 
Zeit, ein verwandter Künftler gleihfam unvermutet auch die geiftige Erb: 
Ihaft an fi) reißt und der zur handwerlämäßigen Schablone herabgejuntenen 
Form wieder neue Lebenskraft eingießt und mittels ihrer Schöpfungen von 
bleibendem Werte geftaltet. So ift es auch den melodiihen Strophen Adams 
von Et Victor ergangen. Hunderte von wohlmeinenden, aber ungeſchickten 
Sängern haben fie nadhgellimpert, Hunderte aber auch mit mehr oder weniger 
Glück nachgebildet und variiert. Alle Geheimniffe des Kirchenjahres, alle 
Heiligen des allgemeinen Feſtkalenders, alle Heiligen bejonderer Diözejen 
und KHlöfter find darin bejungen worden. Mikverftändnis und Ungeihmad 
haben fie zu den wunderlichſten Zerrgeftalten und zum ungenießbarften Sing- 
fang entftellt. Poetiſcher Feinſinn und Empfänglichkeit haben aber aud 
jehr ſchöne Nahbildungen geliefert, und ſchon im nächſten Jahrhundert find 
gerade in diefer Form, umd vielleicht angeregt durch ihre Eigenart, die 
ihönften Sequenzen entftanden, welche die geſamte abendländiiche Kirche in 

29* 


452 Siebzehntes Kapitel. 


ihr Mepformular aufgenommen und bis auf den heutigen Tag bewahrt 
bat: das Lauda Sion Salvatorem des hl. Thomas von Aquin, das 
Stabat mater des Jacopone von Todi und das Dies irae des Thomas 
von Gelano. 

Um übrigens jolde Meifterwerfe, wie die anderweitige unabjehbare 
Menge liturgifcher Poefie richtig zu mwiirdigen, muß man ftet3 vor Augen 
behalten, daß fie gleich der bildenden Kunſt des Mittelalterd und in innigfter 
Derbindung mit ihr aus derſelben gemeinſamen Wurzel hervorgegangen find: 
der tiefen, unerſchütterlichen, lebendig twirkenden Überzeugung, daß das 
unmittelbare Lob Gottes die erfte, jchönfte und erhabenfte Aufgabe ift, welche 
der Menſch ſich hienieden ftellen kann. Dieſe Überzeugung hat Zaufende 
und aber Taufende in die Klöfter geführt, den Gottesdienft zu ihrer Haupt: 
aufgabe gemadt, Baukunſt, Skulptur, Malerei, Kleinktunft, Poefie und 
Tonkunſt auf diejes eine Ziel bezogen und fo die Liturgie zu einem Kunſt— 
werk gejtaltet, da3 den Bund der Künſte unter fih und mit der Religion 
in erhabenfter Weiſe verwirkliht. Dieſer Bund verrät fi nicht bloß in 
großen monumentalen Werfen der mittelalterlihen Architektur, ſondern jelbit 
in den Miniaturen, mit welden ein unerſchöpflicher Kunſtfleiß mit Vorliebe 
die liturgijchen Gejangbücher geſchmückt Hat. 

Den Mittelpunkt der Liturgie bildete, wie wir früher gejehen, einer: 
jeit8 das heilige Mekopfer, anderfeits das kirchliche Stundengebet; beide 
vereinten fi jeden Tag in der gemeinfamen Idee des Feſt- oder Tages- 
offiziums. 

Was den Dichtern und Tonkünſtlern (ſehr oft in einer Perſon vereint) 
zumeiſt reichen Stoff bot, waren die beweglichen oder veränderlichen Teile 
des Meßritus, d. h. jene Teile, welche für jedes Feſt oder Offizium ihren 
eigenen Text hatten und vorzugsweiſe von den Sängern und dem Chore 
borgetragen wurden: Introitus, Graduale, Alleluja, Sequenz, Tractus, 
Offertorium, Communio und Boftcommunio; nur die nad den Feſten 
wechſelnde Präfatio wurde von den Prieftern jelbft gejungen. Dieje Gejänge 
vermehrten ſich mit der Zahl der Feſte und wurden in eigenen liturgijchen 
. Büchern (Troparien, Antiphonarien, Gradualien, Sequentiarien, Profarien 
und Prozejfionalien) geſammelt und meift prachtvoll ausgeftattet. Vor allem 
waren e& die Sequenzen, welde ſich im Laufe der Zeit zu längeren, aud 
für fi abgejhhloffenen und bebeutungspollen Kompofitionen entfalteten !. 


8. Thalhofer, Handbuch ber katholiſchen Liturgik II, Freiburg i. Br. 
1390, 70 ff 95—117 292 293. — L. Gautier, Histoire de la possie liturgique 
au moyen-äge, Paris 1886. — Dreves, Analecta hymnica. Prosarium Lemo- 
vicense VII (Projen von Limoges aus dem 10. bis 12. Jahrhundert); Sequentiae 
ineditae VIII IX X XXXIV XXXVII XXXIX XL XLI® (Ghriftan von Lilien» 
feld) XLII XLIV. 


Religiöje Lyrik und Hymnenpoeſie. 453 


Wie die Meſſe ihren unabänderlihen Kern in den eigentliden Opfer: 
gebeten beſaß, jo hatte das Stundengebet einen joldhen feften Kern in ben 
vorgeichriebenen Pjalmen und Lektionen eines jeden Feſtes oder Tages. 
Beränderlih waren dagegen die Antiphonen vor und nah jedem Pſalm, 
die Reiponforien zwifchen Palmen und Lektionen, der Verſikel vor der 
Dration, vor allem aber der Hymnus, der gewöhnlich für jede Gebetsitunde 
ein anderer war!. Auch Hier war nun wieder der Tätigfeit der Dichter 
und ZTonfünftler ein reiches Feld eröffnet. Ihre Leiftungen wurden ebenfalls 
in reihgeihmüdten Büchern, den Hymnarien und Antiphonarien, gejammelt ?. 

In den älteften Zeiten war die eigentlihe Kunſtlyrik im Stundengebet 
allerdings auf Hymnen beichräntt; für die übrigen beweglihen Teile des 
Offiziums wurden Berje aus der Heiligen Schrift oder fürzere Projajprüde, 
jeltener eigentliche VBerje verwendet. Der unverfennbare Vorteil war, daß 
die einzelnen Teile des Offiziums dadurch größere Gleichartigfeit erlangten, 
und obwohl metriſcher Kunft entratend, beſitzen 3. B. die Offizien der 
Hl. Agnes und des Hl. Martin eine poetiiche Schönheit, welche von feiner 
jpäteren metriichen Umgeftaltung übertroffen oder auch nur erreicht wird. 
Bereit? vom 9. Jahrhundert an treten indes Offizien auf, deren Verfaffer 
es fih angelegen fein ließen, nicht nur die Hymmen, fondern aud die 
Antiphonen, Berfitel und Reſponſorien metriſch zu geftalten und jo gemiljer- 
maßen dem ganzen Offizium einen metrifchen oder rhythmiihen Rahmen 
zu verleihen. Dabei wurde aud) zugleich angeftrebt, die einzelnen Zeile zu 
einem möglichſt vollftändigen und treffenden Gejamtbilde des Feftheiligen oder 
des Freftgeheimnifjes zu machen. In den Antiphonarien wurden deshalb joldhe 
Offizien nicht unpafjend mit dem Titel Historia (rhythmata oder rimata) 
eingetragen. In neuerer Zeit ift ihnen aber der Name „Reimoffizien“ bei- 
gelegt worden. Auf die Offizien, die vom 9. bis zum Ende des 12, Jahr: 
hundert3 verfaßt wurden, paßt derjelbe weniger, da die Antiphonen nod) 
boriwiegend in antik-metriſchen Yormen oder in rhythmiſchen Verſen ohne 
Reim abgefabt wurden. Vom 13. Jahrhundert an hat der Ausdrud aber 
jeine volle Beredtigung, da die Offizien ganz im gereimten Strophen ge- 
dichtet wurden 8. 

Bon mehr als fünfhundert Heiligen find bis jet jolde Reimoffizien 
befannt; auf die Hl. Anna find ihrer einundzwanzig, auf die Hl. Margareta 


! Dreves, Analecta hymn. Hymnarius Moissiacensis Il; Hymnarius Se- 
verianus (Neapel) XIV®; Hymnodia Hiberica (ſpaniſche Hymnen) XVI; Hymnodia 
Gotica (mozarabifche Hymnen) XXVII; Hymni inediti IV XI XIX XXII XXIII 
XL (Ehriftan von Lilienfeld) XLI® (Boncore di Santa Vittoria) XLIII. 

Thalhofer a. a. O. II 398. 

Cl. Blume 8. J. Zur Poefie des kirchlichen Stundengebetes im Mittelalter 
(Stimmen aus Maria-Laach LV [1898)] 132—145). 


454 Siebzehntes Kapitel. 


fiebzehn, auf die hl. Barbara ſechzehn, auf die hi. Urfula vierzehn, auf 
andere Heilige ſechs bis zwölf folder Offizien vorhanden !, 

Die große Verbreitung diefer Kunftform fcheint mit der Gründung 
und außerordentlih rajhen Ausbreitung des Franziskanerordens zuſammen— 
zuhängen, deſſen Heilige (Franziskus, Antonius, Klara, Elifabeth) bald 
nad ihrem Tode in allen Ländern zu hoher Volfstümlichkeit gelangten. 

Zwiſchen 1228 und 1249 verfaßte der deutiche Franziskaner Julian 
bon Speier (Theutonicus), Chormeifter im Franziskanerkonvent zu Paris, 
Zert und Muſik zu den zwei Reimoffizien auf den hl. Yranzisfus von 
Aſſiſi und den Hl. Antonius von Padua, melde fi durch die zahlreichen 
Niederlaffungen des Ordens raſch in allen europäifchen Ländern verbreiteten ?. 
Dei dem erfteren Offizium bejchränft ſich jeine Autorſchaft allerdings auf 
die Antiphonen und auf die mufifaliihe Kompofition; die Hymnen dazu 
verfaßten Papft Gregor IX. umd die Kardinäle Thomas von Gapua, Rai: 
nerius Gappocius bon PViterbo und Otho Gandidus de Alerano. Julian 
bleibt indes das nicht geringe Verdienſt, die biographiichen Lücken, welche 
die Hymnen offen ließen, in den Antiphonen jo kunſtvoll ausgefüllt zu 
haben, dab das ganze Offizium gewiffermaßen ein poetiſch verflärtes Lebens: 
bild des Heiligen darftellt, wobei der überaus reiche Stoff mit vollendeter 
Meifterihaft in die knappſte Form gedrängt ift, die Hangvollen Rhythmen 
in ſchönem Ebenmaß fi unter fih und mit der mufifaliihen Kompofition 
verbinden, das Ganze von der innigften, weihevollſten Frömmigkeit durch— 
weht ift. Ein ebenjo harmoniſches Gebilde ftellt das Reimoffizium des 
hl. Antonius dar, nur daß hier, wo das epiſche Element weniger Mannig- 
faltigfeit darbot, das lyriſche um fo voller zu feinem Rechte fam. „Das 
metriihe Schema hält die rechte Mitte zwijchen Einförmigfeit und Regel: 
lofigkeit, und die Reime find anmutig verjchlungen und oft wieder: 
tehrend.“ 

Die von Julian begründete Kunftform wurde, mit bald engerem bald freierem 
Anschluß, in einer Menge anderer Reimoffizien auf bie verfchiedenften Heiligen ſowohl 
des FFranzisfanerordens als auch andere angewandt, jo auf bie hl. Klara (G.Dreves, 
Analeeta hymnica V 157 f XXV 209 ff), die fünf Franzisfanermärtyrer in 
Marotto (XXVIII 148 ff), ben hl. Bernhardin von Siena (XXV 152 ff 156), ben 
hl. Bonaventura (XXV 172 ff), die Wundmale des hl. Franziskus (XXVI 42 fi), 
die hl. Elifabeth von Thüringen (XXV 253 ff 260 ff), ben heiligen Einfiebler Antonius 
(V 123 ff), den hl. Ludwig (XIII 192 ff), den hi. Biltorin (XXIV 281 ff), den 
bl. Benedilt (XXV 149 ff), den hl. Eleazar (XVIII 58 ff), den heiligen Einſiedler 


!Dreves, Analecta hymn. Historiae Rhythmicae V XII XVII XXIV 
XXV XXVI XXVII; Orricus Scacabarotius, Liber officiorum (Mailand) 
XIV»; Hymnodia Hiberica (Reimoffizien aus fpanifchen Brevieren) XVII XLI- 
(Ehriftan von Lilienfeld). 

:%. €. Weis, Julian von Speier, Münden 1900. 


Religidfe Lyrik und Hymnenpoeſie. 455 


Paulus (XXVIII 121 ff), die HL. Urfula (XXVIII 249 ff), die Hl. Petronilla (XXIV 
259 ff), den HI. Hieronymus (XXVI 117 ff) und anbere mehr. 

Erzbiſchof Birger von Upfala feierte die hl. Birgitta von Schweden noch vor 
beren Heiligiprehung in einem ſolchen Reimoffizium (XXV 166 ff); ein ähnliches 
verfahte der Priefter Johannes Benehini auf die Übertragung ihrer Reliquien von 
Rom nad) Wadſtena (XXV 159 ff) und auf ihre Toter, bie hl. Katharina von 
Schweden (XXVI 219 ff). 

Sohn Pelham, Erzbifhof von Canterbury (geft. 1292), verfahte ein ſolches 
Offizium auf das Feſt der allerheiligften Dreifaltigkeit, das fih durch Tiefe der Ge- 
danken, Majeftät der Sprade und Leichtigkeit des Rhythmus auszeichnet (V 19 ff); 
der engliſche Kardinal Adam Eafton (geft. 1397) ein liebliches Offizium auf das 
Feſt Mariä Heimfuhung (XXIV 89 ff), weldem ein anonymes Franzisfaneroffizium 
auf dasjelbe Feſt (XXIV 98 ff) durchaus ebenbürtig ift. 


Mögen außer den Reimoffizien Julians von Speier auch noch mande 
andere Reimoffizien als Proben des „Wunderbaues der mittelalterlichen 
Kunftformen“ gelten, „in welchen Sänger und Dichter gemeinfam unüber: 
troffene Kunſtwerke geſchaffen haben“ 1, jo gehen viele andere doch ſchon über 
die Sceidelinie hinaus, wo die Kunſt zur Künftlichkeit, die Fertigkeit zur 
Bradour oder Routine, die Fülle des Reims zum Gingjang wird. Wie 
zuvor für den Aufbau des Hexameters fünfzehn verſchiedene Schablonen 
unterjhieden worden waren?, fo ftellt ein Theoretifer, Magifter Tybinus, für 
die gereimten Rhythmen nicht weniger als vierzehn verſchiedene Weiſen auf, 
die, wenn fie auch recht Hangvoll lauten, fi) doch bedenklich den Spielereien 
der Meifterfänger nähern®. Im ganzen dürfte die Kirche auch in fünftlerifcher 
Hinfiht das Richtige getroffen haben, wenn fie im römiſchen Ritus der älteren 
Entwidlung treu geblieben ift und den Reimoffizien nicht geftattete, da8 ganze 
Gebiet der liturgiſchen Hymnik mit ihren fünftlichen Gebilden zu überwuchern. 

Der frommen Sangesluft der verfchiedenen Orden wie der einzelnen 
wurde dadurch fein weſentlicher Eintrag getan. Dies bezeugen die zahl: 
lojen Reimgebete und Lejeliever, welche zum Zeil ein Widerhall der litur: 
giſchen Poeſie find, zum Zeil auch jelbftändig weithin in allen chriftlichen 
Ländern des Mittelalter gedichtet wurden *. 

MW. Meyer, Der Ursprung des Mottets (Nachrichten der k. Geſellſchaft der 
Wiſſenſch. zu Göttingen. Philologiich-hiftorifche Klafie. Heft 2, ©. 114). 

® Retrogradi, Alternati, Dactyliei, Ianuarii, Tripodantes, Claudicantes, Con- 
iugati, Quadrigati, Leonini, Concatenati, Crucifixi, Reciproci, Caudati, Intereisi, 
Differentiales. Nad einer Handſchrift des 15. Jahrhunderts. Cod. Vatican. Pala- 
tinus 719, fol. 152’ ff bei Dreves, Analecta hymn. XVII 6—9. 

® Cephalicus, Caudatus, Pyramidalis, Convolutus, Collateralis, Laqueatus, 
Catenatus, Triangularis, Excellens, Cruciferus, Cruciatus, Vehemens, Interstitialis, 
Laboriosus. Tractatus de rithmis vel rithmoram magistri Tybini. Nad) einer 
Handſchrift des Kloſters Seitenftetten. Cod. CVII bei Dreves a.a. O. V 13—15. 

* Gefammelt bei Dreves, Analecta hymn. Pia Dietamina XV XXIX XXX 
XXXI XXXU XXXIU; Cantiones Bohemicae (Leiche, Lieder und Rufe des 13., 14. 


456 Achtzehntes Kapitel. 


Achtzehntes Kapitel. 
Die Scolaftiker und Myſtiker. 


Die gewaltige Geiftesarbeit, welche die Kirchenväter, beionder& Gregorius 
von Nazianz, Gregorius von Nyſſa, Hilarius und Auguftinus, in philo- 
ſophiſcher Durhdringung der Kriftlihen Offenbarung geleiftet hatten, blieb 
nicht unfruchtbar. Bereits Glaudianus Mamertus, Priefter zu Bienne 
(geft. 477), entwidelte in einer Schrift gegen den Semipelagianer Fauſtus 
bon Rhegium die wejentlihen Grundzüge der fpäteren Pſychologie mit be— 
wundernswerter Schärfe und Klarheit!. Auch der reihe Schatz philoſophiſcher 
Kenntniffe, welchen Boöthius durch feine Überfegungen und Erklärungen 
antiker Schriftfteller wie durch feine eigenen Werke den Zeitgenoffen eröffnete, 
fand vielfache und eifrigfte Verwendung. Durch Gaffiodor, Yfidor, Beda, 
Alkuin, Hrabanus Maurus und deren Schüler ward die Erbſchaft der 
antifen und patriftiichen Philojophie in reihlidem Umfang verbreitet und 
den folgenden Jahrhunderten überliefert. Wurden aud die ipefulativen 
Fragen der Philojophie und Theologie mehr mit Rüdjiht auf die Bibel, die 
religiöjen Sontroverfen des Tages und das kirchliche Predigtamt ftudiert, 
jo erihien nun doch aud die Zeit, wo die Dialektik auß den engeren 
Grenzen, welche ihr das Trivium gewährte, hinaustrat und fid an den 
Ordensihulen und Univerfitäten zur Scolaftit, d. h. zur ſyſtematiſchen 
Philojophie und jpefulativen Theologie, entfaltet. Der Name Scholaſtiker 
ging von den Lehrern des Triviums und Quadriviums auf die Lehrer 
diejer erweiterten Philojophie und Theologie über, welche entiprechend den 
Namen Scholaftif erhielt. 

AB der erſte der Scholaftiter wird gewöhnlih Johannes Scotus 
(Erigena) genannt, den Karl der Kahle 843 an die Hofihule (Schola 
palatina) zu Paris berief und der wahrſcheinlich um 877 in Frankreich 
farb; doch fann ihm die Begründung der Scholaftif ſchon deshalb nicht 
zugefchrieben werden, weil er fi in jeinen Spekulationen vorzugsweiſe an 
die Neuplatoniker anlehnte und durch pantheiftiiche Irrtümer völlig von der 
firhlihen Lehre abwich. Auch die auf ihn Folgenden theologischen Gelehrten 





und 15. Jahrhunderts) I; Reimgebete des Konrad von Haimburg und Albert von 
Prag II; bes Ulrih von Weſſobrunn III VI; bes Ehriftan von Lilienfelb XLI>; 
Cantiones et Muteti XX XXI; Psalteria Rhythmica XXXV XXXVI XXXVII 
(Psalteria Wessofontana). 

: De statu animae, herausgeg. von P. Moſellanus, Bajel 1520; A. Barth, 
Eygn. 1655; Migne, Patr. lat. LIII 697— 780; U. Engelbredt, Wien 1885 
(Corpus seript. eccl. lat. XT). — gl. R. de la Broise, Mamerti Claudiani 
vita eıusque doctrina de anima hominis, Parisiis 1900. 


Die Scholaftifer und Myſtiker. 457 


find noch eher ala Vorläufer denn als eigentlihe Begründer der Scholaſtik 
zu betradten; jo Hrabanus Maurus, Eri von Aurerre, Remigius von 
Aurerre, Gerbert (Papft Silvefter II.), Fulbert von Chartres, Berengar 
von Tours, Lanfranc, Roscellin, Wilhelm von Champeaux. Erft Anjelm 
von Canterbury (1033—1109) kann auf diefen Namen wirklih Anſpruch 
machen. Denn wenngleid auch er fein vollftändiges Syſtem der Theologie 
aufgejtellt Hat, jo Hat er doch in Behandlung der wichtigften und ſchwierigſten 
dogmatiſchen Fragen (Verhältnis von Glauben und Wiſſen, Gotteserfenntnis, 
Menjhwerdung des ewigen Wortes, Erlöfung) der kirchlichen Spekulation 
die grundlegenden Bahnen angewiefen. Der weiteren Entwidlung ging aber 
zunächſt eine Zeit unruhiger Gärung und lebhaften Kampfes voraus, haupt: 
ſächlich hervorgerufen durch den hochbegabten, aber eiteln und jfeptiichen 
Abälard, der, in den Jahren 1102—1136 öfter Profefjor in Paris, an 
den verſchiedenſten Dogmen und an der Offenbarung jelbjt rüttelte und 
darum nicht nur andere hervorragende Gelehrte, fondern auch die Firchliche 
Autorität jelber wider fih in die Schranken forderte. Gegen feine Irrtümer 
erhoben ſich zunähft Walter von Montagne (Mauretanien), Kanonikus von 
St Victor, dann die Theologen Albreht und Lothar von Reims, der 
Eiftercienfer Wilhelm in Ligny (früher Abt don St Thierry) und der 
hl. Bernhard, Abt von Clairvaux. Nah langem Kampfe widerrief Abälard 
jeine Irrtümer und ftarb (1142) im Frieden mit der Kirche. Weniger 
gefährlih war der Kampf, den der hl. Bernhard gegen Gilbert de la Porre 
(Borretanus), Profeſſor zu Paris, dann 1142— 1154 Biſchof von Poitiers, 
zu führen Hatte!, 

Den weiteren ſyſtematiſchen Ausbau der Theologie förderte der Eng- 
länder Robert Pulleyn (Pullus), BProfeffor in Paris und Oxford, dann 
(1144— 1153) Kardinal und Kanzler der römischen Kirche, beſonders aber 
der Italiener Petrus Lombardus, ebenfalls Profeffor, dann 1159 Biſchof 
von Paris. Obwohl er zeitweilig Abälard Hörte, ſchloß er fih doch früh an 
den hf. Bernhard an, und feine vier Bücher „Sentenzen“ (um 1140 ab- 





BA. Stöckl, Geſchichte der PHilofophie des Mittelalters, 3 Bde, Mainz 
1864—1866. — B. Hauréau, Histoire de la philosophie scolastique®, 3 Bde, 
Paris 1872—1880. — P. Haffner, Grundlinien der Geſchichte der Philojophie, 
2 Bde, Mainz 1881. — 3. €. Erdmann, Grundriß der Geſchichte ber Philo- 
fophie. 4. Aufl. bearbeitet von B. Erdmann I, Berlin 1896. — Überweg, 
Grunbriß ber Gefhichte der Philofophie. 2. TI: Die mitilere ober die patriftiiche 
und fcholaftiihe Zeit. 8. Aufl. herausgeg. von M. Heinze, Berlin 1898. — 
M. de Wulf, Histoire de la philosophie medi6vale, Louvain 1900, — 3. Rleutgen, 
Theologie ber Vorzeit IV? Münfter 1878. — ©. Willmann, Gedichte bes 
Idealismus II, Braunfhweig 1896. — F. Ehrle, Die päpftlie Encyklika vom 
4. Auguft 1879 (Aeterni Patris) und bie Reftauration der katholiſchen Philofophie 
(Stimmen aus Maria-Laad XVII [1830] 13—28 292—317 388—407 485—498). 


458 Achtzehntes Kapitel, 


gefaßt) wurden raſch das beliebtefte Handbuch der Theologie, die Grundlage 
der weiteren ſcholaſtiſchen Entwidlung. 

Auch ihm blieb übrigens Widerſpruch nicht eripart. Petrus von Poitiers, 
Johannes von Cornwall, Walter von Montagne und Gerhoh von Reichers- 
berg beftritten mehrere feiner Säge, und jpäter einigten fi die Parifer 
Theologen über 16 Lehrmeinungen des Lombarden, welche nicht allgemeine 
Annahme fanden. 

Wie der Hl. Bernhard, jo wandten fih aud die jog. Victoriner, Hugo 
bon St Victor (get. 1141), Rihard von St Victor (gef. 1173), Walter 
bon St Victor (geft. 1180), dann Petrus Gantor (1194 zum Bijchof von 
Zournai erwählt), Rupert von Deuß (geft. 1135), Wilhelm von Thierry 
(geit. 1152), mehr der praftiichen und asketiſchen Seite der Firchlichen 
Wiffenichaft zu, welche man oft als „Myſtik“ der „Scholaftit“ gegenüber: 
zuftellen pflegt, welche aber tatſächlich mehr als deren praftiiches Ergebnis 
und notwendige Ergänzung zu betrachten ift. 

Ihre volle theoretiſche Entfaltung erhielt die eigentlihe Scholaſtik erit 
im folgenden Jahrhundert dur die zwei Franziskaner Alerander von Hales 
(geft. 1245) und den Hl. Bonaventura (geft. 1274) und die zwei Dominifaner 
Albert d. Gr. (geft. 1280) und den Hl. Thomas von Aquin (geft. 1274). 
Das höchſte Anjehen — als nahezu vollendeter und jedenfalls forreftefter Aus: 
drud der Firhlichen Lehre — erwarb fich die Lehre des letzteren, zuſammen— 
gefaßt in feinen zwei Summen, näher erflärt in zahlreihen Einzelichriften. 

Dem Gegenftande nah umfaßt die jcholaftiihe Philofophie das geſamte 
weite Stoffgebiet der Philofophie überhaupt: Logik, Dialektik, Metaphyſik, 
Theodicee, Kosmologie, Piyhologie, Ethik, Staatslehre und Gejellichaftslehre 
mit allen ihren Unterabteilungen. Man kann wohl jagen, daß die fchmwierigiten 
und jubtilften Fragen dabei mit dem tiefften Scharffinn unterfucht worden 
find und eine Menge Irrtümer auf das gründlidhfte widerlegt wurden, 
welche ſpäter im Laufe der Zeit fich marktichreieriih als neue Errungen: 
ihaften des Menjchengeifles breit gemadt haben. Auch dem Erfahrungs: 
wiffen und jpeziell der Naturbeobadhtung wurde alle Berüdfihtigung zu teil, 
welche der damalige Stand der Forſchung ermöglichte ?, 

In ähnlicher Weile umfaßte die jcholaftifhe Theologie das gefamte 
Gebiet der übernatürliden Ordnung: Gott, Schöpfung, Erlöfung, Gnade, 


! Gefamtausgaben feiner Werle von Giuftiniani und Manriguez, Rom 
1570/71; Benebig 1593/94; €. Moralles, Antwerpen 1612 ff; Paris 1636 bis 
1641; B. M. de Rubeis, Rom 1745—1788; Parma 1852—1873; Paris 1871 
bis 1882, Vives; meue Ausgabe angeordnet von Papft Leo XIII., bis jet neun 
Bünde (1882—1899). Weitere Literaturangaben bei Mausbadh, Art. „Thomas 
von Aquin“ in Weker und Weltes Kirchenlerifon XI? (1899) 1626—1661. 

5. v. Hummelauer, Die Kriftlihe Borzeit und die Naturwiſſenſchaft 
(Stimmen aus Maria-Laach XVII [1879] 388 ff; XVIII 140 ff 281 ff 408 ff). 





Die Scolaftifer und Myſtiler. 459 


Glauben, Tugenden, Sakramente. Fußend auf den Quellen der Heiligen 
Schrift und der apoſtoliſchen Überlieferung fuchte fie erftens die einzelnen 
Lehren wiſſenſchaftlich (durch Vernunftihlüffe) aus den Glaubensquellen zu 
entmwideln und nachzuweiſen, zweitens fie wider gegneriiche Einmwürfe zu ver— 
teidigen, drittens fie joweit möglich aud mit Hilfe der menſchlichen Wiffen- 
haften näher zu beleuchten und zu durchdringen. 

Eine vernünftige, echt wiſſenſchaftliche Freiheit der Unterfuhung wurde 
durch die jcholaftiiche Methode nit nur im allgemeinen begünftigt, fondern 
auf die Behandlung der geringften Einzelfragen ausgedehnt. Denn wurde auch 
den Vorlejungen meift ein erprobtes Handbuch zu Grunde gelegt, jo war doch 
nit nur dem Profeſſor in defjen Erklärung ein jehr weiter Spielraum eröffnet, 
auch die Theſen jelbft wurden in Form von ragen gekleidet, der Antwort 
die gewichtigften Einwände entgegengeftellt und erörtert; nad der gegebenen 
Löjung des Profefford wurde duch die Disputationen die gefamte Frage 
nod einmal oder wiederholt der eingehendften Diskuſſion unterftellt, jelbit 
die frafjeiten und verfänglichiten Irrtümer als Einwände vorgebradt, durch— 
geſprochen, bis ins Heinfte unterfuht. Wenn die Kirche dann durd Verbote 
dafür forgte, daß ſolche gründlich widerlegte Irrtümer nicht die Wahrheit 
verdrängen und an ihrer Stelle verbreitet werden fonnten, jo bat fie fi 
damit um Freiheit und Wahrheit zugleih das höchfte Verdienft erworben. 

Was aber die vielangefochtene Schulſprache der Scholaftit betrifft, jagt 
Paulſen mit Recht: „Wenn barbariſch reden andentet: anders reden, als 
die Römer zu Ciceros Zeiten redeten, dann ift das mittelalterliche Latein 
ohne allen Zweifel barbarijch, nicht viel weniger als Franzöſiſch und Deutſch. 
Wenn man dagegen unter barbarifch reden nicht diefe zufällige Abweichung 
verftünde, jondern allgemein: unangemefjen zum Inhalt reden, ohne Sprad: 
gefühl reden, mit überallher zufammengerafften, an diefem Ort unpaffenden 
und finnlojen Phrafen reden, dann dürfte der Vorwurf der barbarifchen 
Rede den Humaniften häufiger zu machen jein als den mittelalterlihen Philo— 
jophen und Theologen. Für die wilfenshaftlihen Unterfuhungen der letzteren 
ift ihre Sprache vielleicht nicht weniger paſſend und notwendig als ber 
ariftoteliihe Stil für die Vhilofophie. Alle die neugebildeten abjtratten Aus: 
drüde: substantia, essentia, existentia, quantitas, qualitas, identitas, 
quidditas, haecceitas, wie fie von humaniftiiden Schwäßern den Gaffern 
al3 monstra und portenta vorgeführt zu werden pflegen, waren ein augen= 
ſcheinliches Bedürfnis jener begrifflihen Unterfuhungen. Die meiften find 
in unmittelbarer Anlehnung an die ariftotelii hen termini gebildet, und daß 
fie nicht überflüffige oder finnlofe Bildungen find, wird am beften dadurch 
bewieſen, daß fie troß aller Anftrengungen der Humaniften fi erhalten 
haben, jei es indem fie direft oder in Überfegungen in die modernen Spraden 
übergingen. Lobe jagt einmal, einer Sprade müßten in etwas die Glieder 


460 Achtzehntes Kapitel. 


gebroden, die Bänder erweitert werden, damit fie ganz ſchmiegſam werde, 
dem Gedanken ſich anzupaffen. Diefen Prozek hat das Latein des Mittel: 
alter8 durchgemacht: jo mar es völlig geeignet zu fein, was es war: Die 
Univerjalfpradde der Wiffenjchaft.“ ! 

Mas den Hl. Thomas por den übrigen Scholaftitern auszeichnet, ift 
die organische Einheit des Syſtems und der meije Cfleftizismus im 
einzelnen. 

„Obwohl der engliiche Yehrer bei den meiften vorausgegangenen Spitemen 
Anleihen gemacht hat, ift jein Geift doch am meiften mit demjenigen bes 
Ariftoteles verwandt. Er hat die peripatetiiche Philofophie erweitert; er hat 
vor allem die Möglichkeit einer chriftlich = peripatetiichen Philoſophie dar: 
getan, indem er, ganz im Geifte der Peripatetifer, jene Zeile der ariftote- 
liihen Lehre verbeiferte, wo Ariftoteles Hinter feinen eigenen Leiſtungen 
zurüdblieb oder fih von den fihern Wahrheiten des katholiſchen Glaubens 
entfernte.“ ? 

Seine Summa, das großartigfte ſyſtematiſche Lehrgebäude der chrift- 
lichen Weltanfhauung, das bis dahin je entworfen worden, wurde mit 
vollem Recht mit herrlihen Domen vergliden, in melden um eben dieſe 
Zeit die gotiſche Baukunft ihre jchönften Triumphe feierte. Es ift ein und 
derjelbe riftliche Geift, aus dem beide hervorgegangen, der materielle Bau, 
der, im munderbarer MWeije den Erlöſer beherbergend, in allem Reichtum 
irdiſcher Pracht gleihjam Menſch und Schöpfung Huldigend in die Höhen 
emportrug — und der geiftige Bau, der, alles profane Willen der Offen: 
barung unterordnend, die gejamte Welt der Ideen von der Erde empor auf 
das letzte und höchfte Ziel, die ewige Wahrheit und Liebe, richtete. 

In der Form gleiht Thomas vollftändig feinem großen Lehrer Ariftoteles, 
dem er aud auf philojophiichem Gebiete folgt, joweit es möglih if, — 
wie er nüchtern, ruhig, klar, von der fihern Erfahrung zum ſcharfen Begriff, 
von ſcharfen Begriffen zu feſten Prinzipien auffteigend, das Zuſammengeſetzte 
mit Adlerblick bis in feine Hleinften Beftandteile zergliedernd und wieder zu 
höheren und immer höheren Kategorien verbindend, jcheinbar aller Poeſie und 
Phantafie fremd, die Organijation der Wejen wie ein kalter Anatom zerjegend, 
die großen faufalen und teleologischen Fragen des Kosmos wie ein froftiger 
Rechenmeifter erwägend, ja die Menjchenjeele und das Göttliche ſelbſt nad) 
unbeftehlihen bialektifhen Formeln unterfuhend — und doch, aus diefem 
ſcheinbar mechaniſchen, formaliftiichen Syſtem zahllojer Fragen und Ant: 
worten, Ginwürfe und MWiderlegungen, erhebt fih nad und nad ein Welt: 





ı 5. Paulfen, Gedichte des gelehrten Unterrichts an den deutſchen Schulen 
und Univerfitäten, Leipzig 1885, 27 28. 
®’M. de Wulf, Histoire de la philosophie medisvale, Louvain 1900, 290. 


Die Sholaftifer und Mioftiker. 461 


plan, der die Lüden der ariftoteliihen Philoſophie ausfült und fih in 
erhabener Jdealität weit über die ſchönſten Träume Platos erſchwingt; aus 
diejem jcheinbar minterlihen Gerippe eines Riejenbaumes erblüht Dantes 
Himmeldrofe und umftrahlt Gott, Welt und Menih, Zeit und Emigteit 
mit dem Lichte der Verklärung. 

Sp wenig die ſcholaſtiſche Methode und nüchterne Terminologie dazu 
angetan waren, unmittelbar die Literatur zu begünftigen, jo fruchtbar und 
ſegensvoll war der mittelbare Einfluß der ſcholaſtiſchen Doktrin — die Klarheit, 
Schärfe und Kraft, welche fie dem Geifte verlieh, — das Gefühl der Sicherheit, 
das ihre fefte Syftematif herborrief, — die Harmonie, welche fie zwiſchen 
Wiſſen und Glauben herftellte, und die Univerjalität, mit welcher fie alles 
Erfennbare in ein großes, einheitliches Syftem ordnete. Der Dichter, der 
ihr folgte, brauchte fih nicht erft mühjam eine eigene Weltanihauung zu 
zimmern; er konnte fih ganz und gar feinem fünftlerijchen Stoffe Hin- 
geben, ohne von quälendem Zweifel und innerem Kampfe hin und her ge: 
trieben zu werden. 

Wir finden daher unter den Vertretern der Scholaftit von ihren erften 
Anfängen bis an den Schluß des Mittelalter durchaus feine Abneigung 
oder feindliche Stellungnahme zur Poefie, vielmehr find zahlreihe von ihnen, 
und darunter einige der berühmteften, jelbft als Dichter zu verzeichnen, aller: 
dings ihrem geiftlihen Stande gemäß nicht als weltliche Poeten, fondern 
als Verfafjer kirchlicher Hymnen, von welchen manche bleibend in den litur: 
giihen Gebraud übergegangen find, oder anderer Iyrifcher und didalktiſcher 
Gedichte von vorwiegend ernflem, religiöfem Gehalt. Wie aber in dem bunten 
und freien Leben und Treiben des Mittelalter, in feinen kirchlich-politiſchen 
und religiöfen Kämpfen der Klerus nicht immer ausnahmslos feinen hohen 
Idealen entſprach, fo läuft neben der erhabenen kirchlichen Hymnik, der tief- 
innigen myſtiſchen Lyrik, der mohlgemeinten Didaktit auch vieles Weltliche, 
Leihtfinnige, mitunter entſchieden Tadelnswerte in der Geltalt der fog. 
Bagantenpoefie einher, oft in harmloſer Komik und Lebensluft, oft auch 
mit parodiſtiſchem Beigeſchmack, oft aud das Erzeugnis von hämiſcher Spott: 
ſucht und ſittlicher Verkommenheit. Unter den Bertretern der höheren und 
würdigeren Poefie aber begegnen uns ſowohl ſolche, melde die bisherigen 
Hormen der firhlichen Hymnik weiter pflegen und noch funftvoller ausbilden, 
al3 auch ſolche, welche größere Vertrautheit mit den altklaffiihen Dichtern 
und deren poetiichen Formen verraten. Alle diefe Elemente finden fih vom 
11, Jahrhundert an faſt beftändig nebeneinander, jo daß fie fih aud im 
der Darftellung kaum auseinander halten laffen, wenn man nicht das bunte 
Bild zerflören will, das aus ihrer Gleichzeitigfeit ſich ergibt. 

Sehr bezeichnend ift es auch, dab dem größten der mittelalterlichen 
Päpfte, Innocenz III., ebenfalls Hymnen zugefchrieben wurden, wenn 


462 Achtzehntes Kapitel. 


jeine Autorſchaft auch nicht kritiſch nachgewieſen if. Der ſchlichte, Fromme 
Hymnus Ave mundi spes, Maria! hat jogar Eingang in feine geſammelten 
Schriften gefunden !. 

Denn einige Verehrer den Aguinaten für den größten Dichtergenius 
des Mittelalters erklärt haben, jo ift dies wohl des Guten etwas zu viel. 
Jedenfalls aber verdient e& Bewunderung und ift al3 ein Ausdrud der 
fernigen, geiftigen Gejundheit und der harmonischen Bildung des Mittel- 
alter3 zu betradhten, daß jein größter Theologe und Philoſoph poetiſches 
Gefühl und fünftleriihe Sprachgemwandtheit genug beſaß, um das römiſche 
Miffale und Brevier mit einem feiner jchönften Feftoffizien, demjenigen des 
Fronleichnamsfeſtes und jeiner Feltoltav, zu bereichern. Die „Lektionen“ 
ſprechen nicht nur in klarer Deutlichkeit, jondern auch mit ergreifender Salbung 
die neuteftamentlihe Grundlage und die patriſtiſche Überlieferung des Felt: 
geheimniffes aus; die „Pjalmen und Antiphonen“ rüden fie in die poeſie— 
volle Beleuchtung altteftamentlicher Typik; die prachtvollen Hymnen endlich 
Lauda Sion, Sacris sollemniis, Pange lingua, Verbum supernum 
prodiens verbinden all jene Elemente voll zündender Begeifterung mit dem 
himmliſchen Wunder der jaframentalen Gegenwart Ehrifti, das triumphierend 
dur die gefamte Welt: und Menſchengeſchichte Hinzieft und, wiederum 
typiſch, die Wonne ewiger Seligteit vorbedeutet. Dabei klingt da® Verbum 
supernum nod an die jchlichten, fraftvollen Hymnen des Ambrofius an, 
da3 Pange lingua an die alten Rhythmen des Prudentius, das Lauda 
Sion und das Sacris sollemniis an die reidheren, volleren und belebteren 
Formen mittelalterliher Hymnif. Jeder diefer Hymnen ift für fich ein Juwel 
lyriſcher Poeſie. Ihren Vollwert erlangen fie jedoch erjt in dem überherrlichen 
Kranze des liturgischen Tyeftgebetes, in weldem aller Jubel, alle Andacht, 
alle Liebe, alle Seligkeit des Fronleihnamsfeftes ihren adäquaten künſtleriſchen 
Ausdrud gefunden haben. Es weht hier derjelbe Geift, der die mittelalterlichen 
Dome geihaffen. Wer nicht an die jaframentale Gegenwart Chriſti glaubt, 
dem wird das Feltoffizium des hl. Thomas, wie der Kölner Dom, mehr 
oder weniger als eine Verirrung jpielender Phantafie erjcheinen, wenn aud 
der Eindrud faum zu bermeiden fein wird, daß beides jhön, großartig, von 
himmliſcher Infpiration getragen ift. 

Den Schlußftein des Liturgifchen Gewölbes bifden die monumentalen 
Verſe, denen in der gefamten Hymnik faum etwas Gleihwertige: am Die 


! Innocentii lIl. Papae Hymnus De Christo et beatissima Virgine Maria 
dignissima Matre eius. Ad quem certas et magnas contulit remissiones et in- 
dulgentias (Migne, Patr. lat. CCXVII 917—920), Auch bei Mone, Hymni 
latini II (1854) 324-826, nad) einer Handichrift zu Mainz (Aug. n. 438, Bl. 63) 
mit dem Vermerk: Innocentii Papae, habens XL dierum indulgentias. Eine andere 
Mainzer Handſchrift aus gleicher Zeit gibt aber Papft Cöleftinus als Verfaſſer an. 


Die Sholaftifer und Moftiter. 463 


Seite gejeßt werden kann, meil fie die gejamte chriſtliche Heilsordnung, in 
tieffter Igriicher Empfindung, auf die fürzefte Form zufammendrängen: 

Se nascens dedit socium, 

Convescens in edulium, 

Se moriens in pretium, 

Se regnans dat in praemium, 


mit der ergreifenden Bitte, die im Leben und im Tode des Chriften Hoffen 
und Sehnen zujammenfaßt: 

O salutaris hostia, 

Quae caeli pandis ostium; 

Bella premunt hostilia, 

Da robur, fer auxilium ! 


Um aber den vollen Jubel des Fronleichnamsfeſtes, einen Vorgeſchmack 
des ewigen, himmlischen Zriumphes Chrifti auszudrüden, hat Thomas von 
Aquin zu der reicheren, volleren Strophenform Adams von St Victor ge 
griffen und den herrlichen Hymnus angeftimmt, der heute noch die Prozeifion 
des heiligen Sakramentes durch alle Länder des Erbfreifes Hin begleitet: 

Lauda Sion Salvatorem, 
Lauda ducem et pastorem 

In hymnis et canticis. 
(Quantum potes, tantum aude, 
Quia maior omni laude, 

Nee laudare sufficis. 


In derjelben Strophe hat gegen Ende des 13. Jahrhunderts, nad 
ziemlich verbreiteter liberlieferung, Jacopone da Todi jene tief ergreifende 
Sequenz gedichtet, welche die Marienklagen früherer Zeiten in die fchönfte, 
ihlichtefte Form brachte und duch Aufnahme in das römiſche Meßbuch das 
marianiſche Paſſionslied der abendländiihen Kirche geworden if. Die ge: 
feiertften Mufifer haben geweiteifert, dem unübertrefflihen Text einen eben- 
bürtigen muſikaliſchen Ausdrudf zu verleihen. Tauſende, die der Kirche nicht 
angehörten, haben ji daran erbaut. Walter Scott hat fi auf dem Todes- 
bette daran getröftet. Jeder kennt es, und es ift überflüffig, etwas zu feinem 
Lobe zu jagen. Keine Pieta fann in Marmor die Teilnahme der Gottes- 
mutter am Kreuzwege des Welterlöſers erjchütternder vergegenmwärtigen als 
dieſes wunderfame Lied, 

Dasjelbe Versmaß, wenn aud) in etwas anderer ftrophiicher Anordnung, 
wandte um die Mitte des 13. Jahrhunderts der Franzisfaner Thomas de 
Gelano an, der erite Biograph des hi. Franziskus und zeitweilig Oberer 
jeines Ordens in den Rheingegenden, um, voll des innigften Reuejchmerzes 
und Bußgeiſtes, ſich in die Schreden des künftigen Weltgerichtes zu ver— 


464 Achtzehntes Kapitel. 


jenfen und in demütiger Zerknirſchung zu dem einftigen Richter empor- 
zuflehen. Das monumentale Gedicht Dies irae, das noch jebt in jeder 
feierlihen Trauermefje erfhallt und das ebenfalls die größten Komponiſten 
beidhäftigte, hat felbft einen Goethe zu erjhüttern vermodt ; die Erinnerung 
daran hat in feinem „Fauſt“ auch die Runde durch die moderne, vom Chriſten— 
tum ganz oder teilweiſe abgefommene Welt gemacht und gemahnt fie noch 
heute, daß die poetiiche Kunft des Mittelalters den Vergleih mit der Poeſie 
jpäterer Zeiten nicht zu ſcheuen braucht, ja dab diefe noch im hohem Mae 
von ihrer Erbſchaft zehrt. 

Mit diefen großartigen Sequenzen haben wir den Höhepunkt kirchlicher 
liturgiſcher Hymnik erreicht. Unzweifelhaft ftehen fie nicht Hinter dem Schönften 
und Erhabenften zurüd, was antike Lyrik hervorgebracht. Mit ihnen ift aber 
der Schatz der kirchlichen Hymnik nod lange nicht erſchöpft. Nicht äſthetiſche, 
ſondern praftifche Gefichtspunfte nötigten die Kirche, eine Menge der herr: 
fichften religiöfen Gefänge, welche ſchon weite Verbreitung gefunden hatten, 
wieder aus dem engeren liturgijchen Gebiet zurüdzudrängen und der poetijchen 
Tätigkeit fpäterer Geſchlechter ebenſo Zutritt umd Spielraum zu gewähren 
wie jener der vorausgegangenen Jahrhunderte. Seine einfeitige Geſchmacks— 
rihtung wird fi darum von der allgemeinen Liturgie wohl völlig befriedigt 
fühlen; aber die fcheinbar widerftreitenden Erzeugniffe verjchiedener Zeiten 
wachſen doc zu einem höheren Ganzen zufammen, das durch feine ehrwürdige 
geihichtlihe Vergangenheit, feine Mannigfaltigteit der Formen, feine Einheit 
des Geiftes auch der äfthetiichen Schönheit nicht entbehrt. 

Die fromme Sangezluft hielt fih aber nicht in den engen Schranfen 
des liturgifchen Gejanges, jondern flutete weit darüber hinaus in den ber: 
ſchiedenſten Formen religiöfer Lyrik, und wenn auch die Volksjeeljorge, welder 
die beiden großen Bettelorden der Dominikaner und Franziskaner fi vorzugs⸗ 
weiſe wibmeten, mehr die Entwidlung der Volksſprache und deren Literatur 
begünftigen mußte, haben fie fih doch auch vielfah an der lateinifchen 
Dichtung beteiligt. 

Wie der hl. Thomas von Aquin, ift aud) der hl. Bonaventura, der 
größte Theologe des Tyranzisfanerordens, den Dichtern beizuzählen. Ein 
ergreifender „Lobgejang auf das heilige Kreuz“ ift ihm ziemlich ficher zu— 
zufchreiben. Außerdem haben zwei Liederfränze auf das Leiden Chriſti und 
auf die feligfte Jungfrau, ein Gedicht auf die fieben Worte Chriſti am 
Kreuze und ein langes myſtiſches Gedicht, „Philomena“ betitelt, in feine 
Werke Aufnahıne gefunden. Jedenfalls atmen fie feinen Geift und ent- 
ſtammen dem Kreiſe feines Ordens, diejer fruchtbaren Schule des geiftlichen 
Minnefangs. Das gilt zumal von dem „Nachtigallenlied“, der „Philomena“. 
Der Inhalt läßt feinen Zweifel übrig, daß mit diefem Namen der lieblichite 
aller Frühlingsfänger gemeint ift. Denn an die Imigkeit und Glut des 


Die Sholaftifer und Myſtiker. 465 


Nachtigallengeſanges knüpft fih offenbar die Vorftellung, daß die Nachtigall 
vor Anftrengung eigentlih de3 Sängertodes fterbe, eine Vorftellung, melde 
der Dichter dann allegoriih auf die Ffirhlihen Tagzeiten und auf das 
Gebetäleben der gottliebenden. Seele überträgt, im jehr myſtiſcher, aber zu- 
gleih auch in fehr poetifcher Weife. 


Benzesbotin, Nachtigall, die du, wenn hernieber 

Nicht mehr trüber Regen raufcht, wenn es Frühling wieder, 
Dringen läßt in jede Bruft beine weichen Lieber, 

Lente, finnig Vögelein, zu mir bein Gefieder! 


Komm, o fomm! Wohin zu ziehn mir nicht würb’ gelingen, 
Zu dem fernen Freunde follft, Vöglein, du dih ſchwingen, 
Scheuchen feines Herzens Gram dur dein fühes Singen, 

Da mein Wort zu feinem Ohr nicht vermag zu dringen. 


MWoll’ denn, frommes Vögelein, diefen Mangel heben 
Und dem Freund mit fühem Gruß davon Kunde geben, 
Wie die Wünfche meiner Bruft immerdar mit Beben 
Nach des lieben Angefihts Wiederfehen ftreben. 


Früge einer, warum id) grad’ bein fühes Lallen 
Mir zum Boten auserjehn, wiſſ' er, daß erſchallen 
Ich von bir Hört’ eine Hund’, die gewiß von allen 
Unferm höchſten Herrn und Gott ſonderlich gefallen. 


Höre benn, Geliebtefter, was ich dir erzähle: 

Werden Fannft du jelber auch, birgft bu in ber Seele, 
Ihn nahahmend, den Geſang diefer Liederkehle, 

Mit bes Geiftes Hilfe zur Himmelsphilomele. 


Fühlt das Vöglein feinen Tod nahn — fo geht die Sage —, 
Fliegt's auf einen hohen Baum, auf daB, eh’ es tage, 

Der melodiſche Geſang, der mit lautem Schlage 

Seinem Schnäbelein entftrömt, himmelan e3 trage. 


Holde Lieder fingt ed Schon vor Aurorens Schimmer, 
Doch zur erften Stunde bei frühjtem Sonnenflinmer 
Tönet immer lieblicher fort fein jüh Gewimmer, 

Denn im Singen tennet es Raft und Ruhe nimmer. 


Um die dritte Stunde, da fih’s nicht mehr bezwinget, 

Map zu halten, weil die Freud’ ganz fein Herz burddringet, 
Ihm das krankgewordene Kehlchen fat zeripringet, 

Weil’s bei immer höh’rer Glut hoch und höher finget. 


Aber wenn der Mittagszeit Sonnenftrahlen ſprühen, 

Dann zerreißt fein Eingeweid’ heiß'res Liebesglühen, 

„Ozi! Ozi!“ ruft es aus jeßt wie in der Frühen, 

Bis die Sinne ihm vergehn vor Gejangesmühen. 
Baumgartner, Weltliteratur. IV. 8. u. 4. Aufl. 30 


466 | Achtzehntes Kapitel. 


Zudend mit dem Schnäblein nod, als ihr Lieb verflungen, 
Sintet Philomena hin, die nun ausgefungen ; 

Um die neunte Stunde find ihr ans Herz gebrungen 
Zodesihaner und bes Leibs Adern aufgefprungen. 


So ift dieſes Vögleins Art; und wenn du daneben 
Ob’ger Meldung bift gedenf, wirft, geliebtes Leben, 
Du verftehn, wie im Gefang biejes Vögleins eben 

Wunderbar von Ehrifti Bund Kunde wird gegeben. 


Denn ein Sinnbild ift, wie mich bünfet, Philomele 
Einer tugendreichen und liebevollen Seele, 

Die, des ew'gen Baterlands eingeben, ber Kehle 
Des Gejanges Strom entlodt rein und ohne Fehle. 


Höher ihre heilige Hoffnung nod zu heben, 

Ward ihr der geheime Sinn eines Tags gegeben: 

Was der Menſch aus Gottes Hand hier empfing im Leben, 
Stellen vor bie heiligen Tageszeiten eben. 


Frühſte Morgendämmerung, Zeit der Matutinen, 

Zeigt, wie Gott ben Menſchen ſchuf treu nad feinen Mienen, 
Prima, wie den Menſchen er drauf im Fleiſch erichienen, 
Tertia, wie er alsdann lebte unter ihnen. 


Wie er dann — fo zeiget bie jechite diefer Stunden — 
Ward gegeikelt und gehöhnt, angeipien, gebunden, 
Wie er ward gefreuzigt, wie Nägel ihn verwunden, 
Ad, und um fein heilig Haupt Dornen find gewunden. 


Um die neunte Stunde dann haudt er aus fein Leben, 
Da am Ziel des Kampfes nun angelangt fein Streben; 
Überwunden fiehet fih Satanas mit Beben; 

Und der Gruft wird Ehrifti Leib abends übergeben. 


Diejed Tages eingebenf möchte in Gedanken 

Hoch empor am Kreuzesftamm fi die Seele ranfen, 
Dran ber ftarfe Leu gebradt feinen Feind zum Wanken, 
Er, vor deſſen mächt'ger Hand Todespforten janfen. 


Gleih aufs neue find geftimmt ihres Herzens Saiten, 
Wieder läßt im Dämmerlicht fie Gefang entgleiten 
Ihrem Buſen und bes Lieds holde Lieblichkeiten, 

Dem, der wunderbar fie ihuf, Lob und Preis bereiten, 


„Guter Schöpfer“, fingt fie, „als du mid riefjt ins Leben, 
Deiner Güte reihftes Maß haft du mir gegeben, 

Die du ohne ihr Verdienſt Liebteft, wollt'ſt du eben 

Zur Genoffin deines Lichts Tiebend and erheben. 


O wie wurden mir zu teil wunderbare Ehren, 

Da der Herr nad jeinem Bild mich erſchuf, und mehren 
Würd’ fich noch des Glüdes Maß, wenn die ew'gen Lehren 
Und Gebote Gottes nicht Üübertreten wären! 


Die Scholaftifer und Myſtiker. 467 


Denn dein Wille war, daß ich ganz mich dir verjchriebe, 
Daß es ſtets zum Heimatland himmelwärts mich triebe; 
Nähren, lehren wollteft bu mid, o höchſte Liebe, 

Wie ein Kind, damit id auf ewig mit dir bliebe. 


Seitdem in der Engel Schar ganz mid; einzureihen, 
Haft du gar beſchloſſen, dich ſelbſt mir zu verleihen; 
Wie laſſ' ih für ſolche Huld Dank dir angebeihen? 
Andres nicht als meine Lieb’ hab’ ich dir zu weihen. 


D du einz’ge Süßigfeit, o bu einz’ge Labe, 
Weide aller liebenden Herzen bis zum Grabe! 
Was an Leib und Seel’ ich bin, alle meine Habe 
Din zu Füßen leg’ ich fie dir als Opfergabe!“ 


„Ozi!“ fingt ein folches Herz, jelig no in Plagen, 
Singt, wie der Geſchöpfe feins je ſich dürf' verfagen, 
Einen ſolchen Schöpfer in reinfter Bruft zu tragen, 
Deffen Herz für fein Geihöpf alfo warm gejchlagen ', 


In den übrigen 66 Strophen führt der Dichter dann nod eingehender 
das Gebetäleben der gottliebenden Seele und deſſen Berbindung mit dem 
Leben und den Geheimniffen Ehrifti aus, mit einer bezaubernden Innigkeit 
und Schönpeit, wie fie nur dem gotterfüllten Herzen eines Heiligen ent— 
ftrömen konnte. Die liebevolle Auffaffung der fihtbaren Natur, das findliche 
Berjenten in die Jugendgeheimniffe Chriſti und das begeifterte Umfangen 
der Demut, Armut und des Kreuzes Chrifti gemahnen aber nicht minder 
an den Geift des Hl. Franziskus felbft, den, wenn einer, gewiß der hl. Bona— 
ventura ganz und ungeteilt in ſich aufgenommen batte?. 

Bon den berühmten Seherinnen, welche durch ihr Tugendbeiſpiel tie 
durch ihre Brivatoffenbarungen einen mädtigen Einfluß auf die Myſtik und 
das religiöfe eben des Mittelalter ausübten, haben die meijten ihre Gefichte 
in ihrer Zandesipracdhe niedergejchrieben, die HI. Gertrud und die hl. Mechtild 
deutih, die Hl. Birgitta ſchwediſch. Auch die Hl. Hildegarbis, Abtiffin zu 





! Strophe 1—24 überjeßt von 8, Dreves, Des hl. Bonaventura Nachtigallen— 
lied, Einfiebeln 1865. — Bol. M. v. Diepenbrod, Geiftliher Blumenftrauf t, 
Sulzbah 1862, 302—333, 

® In die neue Bonaventura-Ausgabe VIII (Ad Claras Aquas 1898) 
find aufgenommen: I. Laudismus de sancta cruce, Il. Philomena, III. De septem 
verbis Domini in eruce, IV. Meditatio de passione lesu Christi, V. Corona 
B. Virginis Mariae (S. 667—678), Die Herausgeber bemerken (©. 667): Opinamur 
primum hymnum de sancta eruce („O erux, frutex salvificus“) esse dignissimum, 
qui Bonaventurae certo possit attribui, tum propter eius pretium, tum propter 
auctoritatem plurium codicum, quorum duo sunt saec. XIV; de aliis quattuor 
proxime sequentibus carminibus non ita certi sumus, — Dreves (Anal. hymn. 
XXXV 188) jhreibt die „Philomena“ John Peckham zu. 

>0* 


468 Neunzehntes Kapitel. 


Rupertsberg bei Bingen (1097—1179), war des Lateinifhen nur ſehr un: 
vollfommen fundig und mußte ihre Aufzeichnungen von fremder Hand 
ftilifieren und korrigieren laffen!. Doch Hinderte dies nicht, daß ihre geift: 
lien Schriften das höchſte Anjehen erlangten, ihr Briefwechjel ſich von den 
Niederlanden bis nah Rom und Jerufalem erftredte, felbft der hl. Bernhard, 
die Päpſte Anaftafius IV. und Hadrian IV., die Kaiſer Konrad II. und 
Friedrich Barbarofja mit ihr in Verkehr traten. So hat fie überaus mädtig 
auf ihre Zeitgenoffen eingewirft und jelbft in theologifhe Kontroverjen be: 
deutiam eingegriften. Stiller und unſcheinbarer jpielte fih das Leben ihrer 
frommen Zeitgenoffin Herrad von Landsperg ab, welche 1195 als Abtiffin 
von Hohenburg ftarb?. Bon ihr ftammt der „Luftgarten“ (Hortus deli- 
ciarum), eine anmutige Blütenlefe aus der Heiligen Schrift und den heiligen 
Vätern, verbunden mit einer Auswahl religiöfer Dichtungen, zum Teil mit 
deren Singweijen, mit wertvollen Miniaturen verziert. Wenn aud die 
meiften der darin enthaltenen Gedichte von andern herrühren, jo bleiben ihr 
dod einige wenige, jchlihte, wahr und warm empfundene Gedichte gefichert 
und „laffen fie uns als eine Frau von gleich edler Bildung des Geiltes 
wie des Herzens erkennen, welche die lateiniſche Sprade mit Gewandtheit 
handhabte und diejelbe zum durchfichtigen und angenehmen Gewande ihres 
Gedankens und ihrer Gefühle zu maden mußte“ ®, 


Neunzehntes Kapitel, 
Ein mittelalterliher Encyklopädiſt. 


In Iſidor von Sevilla wie bei dem ehrwürdigen Beda, Hrabanus 
Maurus und Honorius von Autun tritt deutlid) das Streben hervor, das 


ı Hhre gefammelten Werte (bei Migne, Patr. lat. CXCVII) umfaffen: 
145 Briefe, zwei große Sammlungen von Bifionen und Revelationen (die erjte unter 
bem Titel: Scivias, bie andere: Liber divinorum operum simplicis hominis), ferner: 
XXXVIII Quaestionum Solutiones; Explanatio symboli 8. Athanasii; Vita 8. Disi- 
bodi; Subtilitatum diversarum naturarum ereatarum libri IX (1. Bon den Pflanzen; 
2. Bon den Elementen; 3. Bon den Bäumen; 4. Bon den Steinen; 5. Bon ben 
Fiſchen; 6. Bon ben Bögeln; 7. und 8. Von ben Zieren; 9. Bon ben Metallen). 
— Bol. Schmelzeis, Das Leben und Wirken der hl. Hildegarbdis, Freiburg i. ®. 
1879. — Card. Pitra, Analecta S. Hildegardis, Monte Cassino 1882. — P. Kaifer, 
Die naturwiffenihaftliden Schriften der Hildegard von Bingen. Progr., Berlin 1901. 
— Hildegardis causae et curae. Ed. P. Kaiser, Lipsiae 1903. 

* Chr. M. Engelhardt, Herrad von Landsperg und ihr Werk Hortus 
delieiarum, Stuttgart und Zübingen 1818. 

G. M. Dreves, Herrad von Landsperg (Zeitjchrift für katholiſche Theologie 
XXI, Innsbrud 1899, 632—648). 


Ein mittelalterliher Encyllopädiſt. 469 


Studium nicht einjeitig auf Theologie und Philoſophie abzugrenzen, jondern 
auch die Naturwiffenihaften und die gefhichtlihen Studien im weiteften 
Umfang zu pflegen und zu einem encyklopädiichen Wiffen zu erweitern. Wie 
der fleißige Reihenauer Mönch Hermannus Gontractus eifrig die Beziehungen 
der Mathematik zur Muſik verfolgte, jo widmete ſich Gerbert von Aurillac 
(der jpäter von 999 bis 1003 ala Papft Syivefter II. die geſamte Kirche 
feitete), wohl der univerjellfte Gelehrte feiner Zeit, als Lehrer zu Reims 
niht nur den humaniſtiſchen Disziplinen, fondern ebenjo eingehend dem 
Studium der Arithmetik, Mufit, Geometrie und Aftronomie, arbeitete jelbit 
an der Anfertigung und Vervollkommnung aſtronomiſcher Inſtrumente und 
hinterließ eine Schule, welche diefe Wiſſenszweige eifrig weiterpflegte!. Einen 
viel größeren Auffhwung nahmen diefe Studien, als in ber Zeit der 
Kreuzzüge die arabifchen Ariftotelesüberfegungen dem Abendland zugänglich 
wurden. Beſonders waren es Albert d. Gr. (geft. 1280)? und der Fyranzis- 
faner Roger Baco (geft. nad 1292)3, welche die ariftoteliiche Methode des 
Beobachten und Sammeln: im weiteften Umfang und mit großem Erfolge 
zur Anwendung brachten. 

Legte auch die jugendlich-poetiiche Fabulierſucht der mittelalterlichen 
Völker, welche an den allegorifchen Märchen des „Phyfiologus“ ein Findliches 
Gefallen fand, eine vom religiöfen Gebiet allzu naid auf das natürliche 
Gebiet übertragene Autoritätsgläubigkeit und vorab der Mangel an wiſſen— 
ihaftlihen Inftrumenten den induktiven Wiſſenſchaften große Schwierigfeiten 
in den Weg, fo ift jenes naturwiſſenſchaftliche und enchklopädiftiiche Streben 
doch nie erlojchen. 

Noch während der hl. Thomas und der Hi. Bonaventura an ihren 
umfafjenden theologiſchen Werten arbeiteten, der jel. Albert d. Gr. das Natur- 
erfennen jpefulativ wie experimentell zu erweitern firebte, verwirklichte ein 
ſchlichter Mönd wie fie den Niefenplan, das gejamte Wiffen jener Zeit 
in einem Sammelwerte überfihtlih und geordnet zufammenzuftellen. Es ift 
Vincentiuß von Beauvais, Vincentius Bellovacenfis, wohl aud Burgundus 
oder nad jeinem großen Werfe Speculum maius oder tripartitum der 
Speculator genannt. 


"RR. Werner, Gerbert von Aurillac, die Kirche und Wiſſenſchaft feiner Zeit, 
Wien 1881, 58—79. 

2 %. Sighart, Albertus Magnus, fein Leben und feine Wiſſenſchaft, Regens- 
burg 1857. — €. Meyer, Gejhichte der Botanik IV, Königsberg 1857, 8— 84. — 
G. v. Hertling, Albertus Magnus. Beiträge zu feiner Würdigung, Köln 1880; 
Albertus Magnus in Gefhichte und Sage, ebd. 1880. — Fr. Ehrle, Der jelige 
Albert der Große (Stimmen aus Maria-Laach XIX [1880] 241 ff 395 ff). 

® E. Charles, Roger Bacon, sa vie, ses ouvrages etc., Paris 1861. — 
8. Schneider, Roger Bacon, Augsburg 1873. 


470 Neunzehntes Kapitel. 


Was über jeinen Lebenslauf berichtet wird, iſt faft alles unfiher. Nach 
der Ordensüberlieferung der Dominitaner farb er zehn Jahre vor dem 
hl. Thomas von Aquin, alſo 1264, und, da feine literarifchen Arbeiten 
ein ziemlich langes Leben vorausſetzen, wird mit einiger Wahrſcheinlichleit 
angenommen, daß er ſchon etwa 1184— 1194, jedenfall® unter der Regierung 
des Königs Philipp Auguft (1180—1223), geboren wurde. Er ftudierte 
zu Paris, trat hier in das 1218 gegründete Dominifanerflofter St Jacques, 
ward Lektor (d. h. Profeflor) und trat in nähere Beziehung zu dem König 
Zudwig IX., dem Heiligen (1226—1270). 

Das gewöhnlihe Schulcurriculum der fieben freien Fünfte, der Philo- 
jophie und Theologie genügte feinem Wiffensdrange nicht. Er war un: 
erjättlih im Lejen, Schreiben, Erzerpieren. Er fammelte fi Notizen und 
überfihten aus allen Zweigen geiftliher und profaner, alter und neuer 
Literatur. Wahrſcheinlich ift e$ auf Anregung des Königs zurüdzuführen, 
daß dieſe unbegrenzte Lejewut (einer jeiner Biographen nennt ihn einen 
helluo librorum) und dieſer Sammelfleiß auf das Unternehmen gelenkt 
wurden, das ihn zu einem der merkwürdigſten Polyhiſtore und Encyklopädiften 
aller Zeiten gemacht hat. Nur die Schäße der königlichen Bibliothek, die 
jpäter an mehrere Klöfter und nftitute verteilt wurden, die Unterftügung 
des Königs und die Hilfe feiner Ordensbrüder ermöglichten es dem eimen 
Manne, ein Stüd Arbeit zu leiften, das bis dahin fo ziemlich einzig dafteht 
und das bei jpäteren enchklopädiſchen Unternehmungen fih auf eine ganze 
Schar von Gelehrten verteilte. Denn nad) annähernder Schägung fußt feine 
Encyklopädie auf der Kenntnis von mehr als 450 Autoren, von mehr als 
2000, zum Zeil jeher umfangreiden Werfen in lateinifcher, griechiſcher, 
bebräiicher, arabifdher und franzöfiicher Sprade. Wenn ihm nun aud beim 
Erzerpieren und Abjchreiben andere hilfreih zur Seite ftanden, jo hat er 
doch nicht nur diefe Hilfsarbeiten überwadht und geleitet, jondern den Löwen: 
anteil am der ganzen Arbeit jelbft getragen, den umabjehbaren Stoff jelbit 
durchgeſehen, gefichtet, geordnet und zum einheitlihen Ganzen verbunden. 
Schon die genauen Angaben über die Herkunft feiner Mitteilungen widerlegen 
die gegen ihn erhobene Antlage des Plagiats; Anordnung und Verbindung 
der einzelnen Teile aber weifen ihn als einen wirflihen Enchklopädiften im 
großen Stile aus, der die gewaltigen Stoffmaffen wirklich beherrichte. 

Speculum maius nannte er fein Werf!. Denn von allem, was die 
fihtbare und unfihtbare Welt an Reden und Taten bietet, jollte e& das, 


! Ausgaben: Straßburg 1478; Nürnberg 1483—1486, Koberger; Venedig 
1484 1493 1591; Douay (4 fol.) 1624. — Fr. Chr. Schlofjer, Bincentius 
von Beauvais’ Hand» und Lehrbuch, Frankfurt 1819. — Histoire litt. de la France 
XVII 449-519. — M. E. Boutariec, Vincent de Beauvais et la connaissance de 
Vantiquit& classique au XIII siöcle (Revue des quest. hist.) XVII (1875) 1 ff. — 


Ein mittelalterlier Encyklopädiſt. 471 


was der Unterfuhung, der Bewunderung, der Nahahmung wert wäre 
(quidquid fere speculatione, admiratione, imitatione dignum est ex 
his, quae in mundo visibili et invisibili facta vel dieta sunt), in 
einem großen Spiegelbilde vereinigen. Speculum tripartitum, den „drei: 
fahen Spiegel“ nannte er das Werl, weil es in drei Zeilen: 1. die Be- 
ſchreibung der Natur und der Eigenfhaften aller Weſen, 2. eine vollftändige 
Überfiht aller Künfte und Wiſſenſchaften, 3. eine vollftändige Gefchichte 
enthalten jollte!, 

Diefer Plan ift in wahrhaft großartiger Weife durchgeführt. Schon 
die zehn FYolianten, welche das Werk in jeinen älteften Ausgaben umfaßt, 
zeugen bon dem großen Maßftab, dem riefigen Fleiß und der Arbeitsenergie, 
welde bei der Ausführung zur Geltung famen. Daß er frühere Sammel: 
werke benußte, mindert jein Berdienft nicht. 

Der erfte Zeil, das Speculum naturale, aud) Speculum in Hexa- 
emeron betitelt, gibt in 32 Büchern (3698 Kapiteln) eine Üüberſicht des 
gejamten damaligen Naturwiffens, aber im Geijte jener Zeit, nit nad) 
den Kategorien unjerer modernen Methodit, auch nicht nad den Geſichts— 
punften der ariftoteliichen Philojophie, jondern vom Standpunft des hriftlichen 
Katehismus aus und nad der Teilung des bibliihen Sechstagewerkes. 

Er füngt mit Gott an, befien Weſen, deſſen Attributen, deſſen Dreifaltigkeit 
(Lib. I), beſpricht dann fein Verhältnis zu den Geihöpfen und führt den Grund» 
plan der chriſtlichen Meltanihauung aus, dab nämlich das „Buch der Kreaturen“ 
ein Spiegel der Weisheit, Mat und Güte Gottes ift, des Schöpfers, Erhalters und 
Lenkers aller Dinge? (II-XXIN). Im Anflug an das erfte und zweite Tagewerk 
behandelt er die allgemeine Phyfit und Aftronomie (II—IV); mit dem dritten fommen 
bie Umriffe ber allgemeinen Erbbeihreibung (Erde, Wafler ufw.) an die Reihe 
(V—XIV), mit dem vierten die beſchreibende Aftronomie und Chronologie (XV), mit 
dem fünften Die Ornithologie und Ichthyologie (XVI XVII), mit dem jechiten bie 
übrige Zoologie, Phyfiologie, Piyhologie und Anthropologie (XVIII-XXVIII), mit 
bem fiebten die Lehre von der göttlichen VBorfehung und Weltregierung, Freiheit und 
Prädeſtination, Fortpflanzung, Verbreitung und Entwidlung des Menſchengeſchlechts, 
Weltende und Welternenerung (XXX—XXXI). 


Der zweite Zeil, da8 Speculum doctrinale, bietet eine überſicht der 
MWiffenihaften und Künſte in 17 Büchern (2374 Kapiteln). Auch bier 
geht Vincenz wieder vom übernatürlichen, religiös-adtetiihen Standpuntte 
aus. Während die ganze Schöpfung Har und unverhüllt vor Gottes Augen 
liegt, muß ſich der Menſch jein Wiſſen ſtückweiſe, mühſam, unter großen 


v. Lilienceron, Allgemeine Bildung in der Zeit der Scholaftif, Münden 1576. 
— Holdber-&gger in Monum. Germ. Hist. SS. XXIV 154 ff. 

! Pars prima prosequitur naturam et proprietatem omnium rerum, secunda 
materiam et ordinem omnium artiam, tertia seriem omnium temporum. 

? Sapientia, potentia, bonitas creatoris, conservatoris et gubernatoris 
omnium Dei. 


472 Neunzehnies Kapitel. 


Schwierigkeiten erwerben. Er ift nicht in volllommenem, jondern in gefallenem 
Zuftande. Infolge der Sünde haften ihm die drei großen Übel der Un: 
wiſſenheit, der Begierlichkeit, der körperlihen Schwäche (ignorantia, con- 
cupiscentia, infirmitas corporis) an. Um ihn zu heilen und wieber- 
herzuftellen, müflen Weisheit, Tugend und des Lebens Notdurft (sapientia, 
virtus, necessitas) zufammentirten. Der erfteren entfpricht die theoretifche, 
der zweiten die praktiiche Wiſſenſchaft, der dritten die mechanischen Künſte. 


Da Vincenz einen beträdtlihen Zeil der Theologie ſowie die Fächer des 
Quadriviums ſchon in dem Speculum naturale untergebracht hatte, blieben ihm hier 
für die theoretiſche Wiffenihaft nur die Zweige des Triviums: Grammatif, Logik 
und Dialeftif, Rhetorik und Poetik, denen er einen kurzen Überblict der Geſchichte 
ber Philoſophie vorausſchickt (I—II). Die prattiihe Wiſſenſchaft gruppiert er eben« 
falls in drei Unterabteilungen: 1. Monaftit, d. 5. individuelle Ethit oder die Kunſt, 
fich jelbjt zu regieren, 2. Okonomik, d. h. die Kunft, Familie und Haus zu leiten, 
3, Politik, d. h. die Kunſt, Völker, Staat und Kirche zu regieren (IV—X). Die 
mechaniſchen Künſte endlich umfaffen die Architektur, die Kriegsfunft, die theatrifchen 
Künfte, Jagd, Fiſchfang, Aderbau, Alchemie (XI). Weit ausführlicher ift die Medizin 
behandelt (XII—XV). Endlich folgt noch ein Bud über bie mathematiihen Wiflen- 
ſchaften (XVI) und feltfamerweife eines über Theologie (XVII), das offenbar nicht 
mehr zum vollen Abſchluß gelangt ift. 

„Nach der Metaphyfit”, jo jagt er hier, „und nach den übrigen untergeorbneten 
Wiſſenſchaften, ſowohl praftifchen als theoretifchen, weldhe von ben Heiben und Moham— 
medanern erfunden find, bleibt uns zulett nod ausführlicher von der Theologie zu 
ſprechen.“ Im erften Teil widerlegt er num nad) einer ſchon bei Barro vorfommenden 
Zeilung die drei falſchen Religionen: die poetifche, die rein philoſophiſche und die 
politiſche. Im zweiten Zeil geht er dann zu den Quellen der Offenbarung über, zählt 
bie einzelnen Bücher bes Alten und Neuen Zeftamentes auf und gibt dann Notizen 
über achtunddreißig Kirhenshriftfteller von Clemens Nomanus bis auf Richard von 
St Victor, deren Leben und Werke; von fehsundvierzig andern gibt er nur bie 
Namen an. Die Dogmatik fommt nicht mehr zur Behandlung. Das Werk hat hier 
offenbar eine Lücke, wahrfheinlih weil Vincenz biefen Zeil zulegt ausführen wollte 
und nicht mehr dazu fam. Die Lüde ift dadurch weniger empfindli, da die Summa 
bes Aquinaten fie in glänzendfter Weife ausfällt und von Vincenz felbft theologiſche 
Abhandlungen (befonders über die Gnade) vorliegen, welche fein großes Lebenswerk 
nad) diejer Seite hin ergänzen. 

Der dritte Teil, Speculum historiale, gibt in 31 Büdern (3793 Ka— 
piteln) eine vollftändige Welt» und Kirchengeſchichte bis auf das Pontifitat 
Innocenz' IV. (1243—1254) einſchließlich. 

Davon fallen ſechs Bücher auf die Zeit vor Chriſtus, neunzehn auf die Zeit 
von Chriſtus bis zum Ende des 11. Jahrhunderts, vier auf das 12. Jahrhundert 
und die legten zwei auf den Anfang bes 13. Jahrhunderts, Der Epilog behandelt 
die legten Weltzeiten, das Erjcheinen bed Antichrifts, den Kampf besfelben wider 
Henoch und Elias, die Belehrung der Yuben, bas jüngfte Gericht und das Weltende 
nad den Offenbarungen der hl. Hildegardis!. 





! Bincenz von Beauvais (geft. 1264) verfaßte nur ein Speculum naturale, 
doetrinale, historiale, nit aber ein Speculum morale. Das ihm unter diefem Namen 


Ein mittelalterliher Encyflopäbift. 473 


„So gliedert fih aud der Geſchichts- wie der Naturfpiegel nad dem 
bibliihen Schema des Sechstagewerkes; da aber beide gleihmäßig mit der 
Meltihöpfung beginnen, mit der MWelterneuerung ſchließen, und da endlich 
auch der zweite Teil oder der Lehrfpiegel von dem Gedanken der restitutio 
hominis lapsi feinen Ausgang nimmt, jo ift es im Grunde das einfache 
Schema der göttlihen Weltihöpfung, Welterneuerung und Weltvollendung, 
das dem ganzen folofjalen Werk und jeiner vielgliederigen Einteilung zu 
Grunde liegt und in weldem da3 Speculum oder Weltbild des großen 
mittelalterlihen Encyflopädiften fi abjchliept.“ ! 

Mag der moderne Forſcher die naiv-kindlichen Naturauffaffungen und 
Naturerflärungen belächeln, welche Bincenz noch aus Plinius und den 
Sammelwerfen des früheren Mittelalters herübergenommen hat, mag er die 
Leihtgläubigkeit und Wunderſucht verwerfen, melde ſchon Melchior Canus 
an feinem Ordensgenoſſen getadelt hat, jo bedeutet die große Encyklopädie 
doch immerhin einen gewaltigen Fortſchritt gegen ähnliche Verſuche, die Iſidor 
von Sevilla, Hrabanus Maurus, Honorius von Autun, Hugo von St Bictor 
unternommen hatten. Es gibt feinen Zweig des Willens, den die Scholaftit 
in dieſem ihrem hervorragenden Vertreter irgendwie geringſchätzig zurüd: 
gedrängt oder vernadhläffigt Hätte. Was ihm nur aus talmudijchen oder 
rabbiniſchen Schriften, aus den alten Autoren der Griechen und Römer, 
aus arabiſchen Philofopgen, Naturforfchern und Ärzten zugänglid) war, 
hat er für fein großes Wiſſensgebäude zu verwerten geſucht. Bis in bie 
materiellften, technologischen ragen hinein umfaßt jein Wert ſchon den 
Plan eines tüchtig durchgearbeiteten Konverjationgleritons, mit dem ficht- 
lien Streben, das Errungene weiter auszubreiten und neuer Forſchung 
als Stüße zu dienen. Dabei zeigt er für das pofitive und hiſtoriſche Willen 
ein nicht geringeres Intereſſe ala für das philoſophiſche und fpefulative, 
und weder dem einen noch dem andern gereicht es zum Nachteil, daß der 
letzte, maßgebende Geſichtspunkt der religiöfe ift. 

Nah einer allerdings unvollftändigen, aber immerhin interefjanten 
Überſicht benußte Bincenz für fein Speculum folgende Autoren: 





zugefchriebene Wert ift eine Kompilation, bei weldher auch bie Secunda secundae des 
hl. Thomas ſtark benußt wurbe, nach dem Tode beider verfaßt, da Vincenz 1264, ber 
hl. Thomas 1274 ftarb, das Speculum morale aber (1. 3, pars 10, dist. 9 ad 3) eine 
Bulle Martins IV. vom 22. Februar 1282 (ad uberes fructus) anführt. — Bol. 
Echard, S. Thomae Summa suo auctori vindicata, Paris. 1708, und De Secrip- 
toribus PP, unter den Namen bes Bincentius Bellovac, und St Thomas. — 
De Rubeis, Dissert. 14. — Biltor Frind, Die theol. Summe bes hl. Thomas 
von Aquin (Pastor bonus XI [1899] 258 259). 

 Wagenmann, Art. „Bincentius von Beauvais“, in Herzogs Real: 
Encyklopäbie XVI? (1885) 503—508. 


474 Neunzehntes Kapitel, 


1. In orientaliſchen Spraden: Außer der Bibel den Talmub und ver- 
ſchiedene rabbinifhe Schriften; dann die Araber: Alfragan, Albumazar, Rafi, 
Alfarabius, Aldabitius, Johannitius, Hali, Avicenna, Algazel, Altindbi, Averrhoes. 

2. In griedifher Sprade: Hefiod, Homer, Altman, Aeſop, Thales, 
Anarimander, Pythagoras, Altmäon, Heraklit, Parmenibes, Anarimenes, Empebotles, 
Dfellos Lukanus, Aeſchylus, Anaragoras, Protagoras, Gorgias, Archytas von Zarent, 
Herodot, Sopholles, Euripides, Sokrates, Demofrit, Hippofrates, Kenophon, Ktefias, 
Platon, Speufippos, Euborios, Pytheas, Ariftoteles, Demofthenes, Xenofrates, 
Menander, Theophraft, Metrodbor, Epilur, Zenon, Diokles, Praragoras, Erafiftrates, 
Heraflides, Euflid, Aratus, Eratofthenes, Hipparch, Polybius, Panätius, Nilander, 
Pofidonius — Aus nadhriftliher Zeit: Andromachus, Dioskorides, Flavius 
Jojephus, Ptolemäus, Secundus, St Polylarp, St Yuftin, Hegefipp, Galenus, 
St Irenäus, Clemens Alerandrinus, Origenes, Alerander von Aphrodifia, Plotin, 
Porphyrius, Eufebius, St Athanafius, St Ephrem, St Bafilius, Gregor von Nazianz, 
Evagrius, Gregor von Nyſſa, Themiftius, Johannes Chryfoftomus, die Geſchicht- 
ichreiber Sofrates und Sozomenos, Theodoret, Heiyhius, Johannes Damascenus, die 
Ärzte Theophil und Serapion. 

3. In lateinifher Sprade: Plautus, Ennius, Cäcilius, Accius, Terenz, 
Eato den Älteren, Julius Cäfar, Cicero, Nigidius, Cornelius Nepos, Varro, Gallus, 
Tibull, Bergil, Horaz, Ovid, Manilius, Vitruvius. — Aus naächchriſtlicher 
Zeit: Columella, Balerius Marimus, Phädrus (doch' ohne ihn zu nennen), Yucan, 
Perfius, Seneca, Plinius den Älteren, Mucian, Dionyfius Areopagita, Statius, 
Papft Et Clemens, Plinius den Jüngeren, Juvenal, Quintilian, Quintus Curtius, 
St Ignatius, Cajus (den Juriften), Scaurus (den Grammatifer), Sueton, Juftinus, 
Aulus Gellius, Apulejus, Diontanus, Julius Paulus, Bapinian, Ulpian, Modeftinus, 
Solinus, Galpurnius, Gorgias Martialis, Tertullian, St Eyprian, Chaleibius, Fir: 
micius Maternus, St Hilarius, St Damaſus, Macarius, St Ambrofius, Prubdentius, 
St Paulinus, Rufus, Begetius, Avienus, Claudian, Macrobius, Orofius, Palladius, 
Symmachus, Sulpicius Severus, St Dieronygmus, St Auguftin, Eaffian, Papit 
St Leo J., St Profper, Sedulius, Sidonius Apollinaris, Martianus Eapella, PBapit 
Gelafins, Gennabdius. 


Bon den bedeutenderen Klaſſilern fehlen nur wenige, wie Anakreon, 
Ariftophanes, Thukydides, Dionyfius von Halifarnak, Diodor von Sizilien, 
Strabo, Yucian, Paufanias, Athenaios, Dio Gaffius, Prokop, Lucretius, 
Gatullus, Livius, Tacitus, Mela und Silius Jtalicud. Für ein weiteres 
Studium des Altertums war ſomit der Weg in reihhaltigiter Weiſe gewieſen, 
um jo mehr, als eine Menge diefer Schriftfteller als Autoritäten für die 
verjchiedenften wiſſenſchaftlichen Aufftellungen verwertet wurden. Den huma— 
niftifchen Studien, Grammatif, Rhetorik und Poetik, wies das Speculum 
doctrinale allerdings feine bevorzugtere Stellung an al& früher das alte 
Trivium; fie erſcheinen lediglich als Vorbereitung für die Höheren Disziplinen; 
allein im Speculum historiale nehmen die alten Klaſſiker wie aud die 
Kirchenſchriftſteller als Quellen und Gewährsmänner einen breiten Raum 
ein. Zu einer vernünftigen Weiterausbildung des Humanismus war damit 
genugiame Anregung gegeben, wenn das ganze Syſtem auch einigermaßen 


Zwanzigftes Kapitel. Anfänge der ſog. NRenaifjance in Italien, 475 


die Tatjadhe betätigt, dak das Aufblühen der Scholaftit die eigentlich 
humaniftiiden Studien zu Gunften der philoſophiſchen und naturmwifien- 
ſchaftlichen zurüdgedrängt hatte. 





Zwanzigſtes Kapitel, 
Anfänge der fog. Renaiſſance in Italien. 


Die glänzendfte Berbindung und harmonische Ausgleihung der theologiich- 
Iholaftiiden und der klaſſiſch-humaniſtiſchen Bildung ftellt Dante dar, der 
mit jeinem großartigen Weltgedicht der Divina Commedia allerdings aus 
der lateiniſchen Dichtung Hinaustritt, um in bedeutfamfter Weiſe die italie- 
niſche Literatur zu inaugurieren, aber feiner ganzen Schulung nad) jowie in 
mehreren feiner Eleineren Schriften dem lateinischen Mittelalter angehört. 
Wir müflen darum auch hier ſchon feiner in Kürze gedenfen. 

Vor allem widerlegt feine monumentale Dichtung, die gefeiertite des 
Mittelalters, das Vorurteil, als hätte die lateiniſche Geiftesihulung und 
der firhliche Einfluß den Menſchengeiſt hemmend danieder gehalten. Seit 
den homerishen Epen Hat die Weltliteratur feine Schöpfung aufzumeijen, 
die jo weit und tief gewirkt hat wie dieſe. Sie ift aber nicht das zufällige 
Werf eines glüdlihen Augenblids, fie ift die unerwartet aufgegangene Blüte 
einer Bildung, die durch Jahrhunderte langjam herangereift war. Sie ift 
nit denkbar ohne die Lebenskraft des chriſtlichen Glaubens, wie ihn die 
Kirche von den Zeiten der Apoftel unverändert bis in jene Tage bewahrte, 
ohne die reihe Entfaltung, welche die Theologie durch die Kirchenväter und 
die großen Scolaftiter gewonnen hatte, undenkbar ohne die humaniftiiche 
Bildung, melde fih ſchon in der altchriftlihen Zeit mit dem Lehrgehalt 
der Bibel und der kirchlichen Überlieferung verihmolzen hatte. Nicht nur 
die Grundlinien der ſcholaſtiſchen Philofophie und Theologie, jondern auch 
die ganze KHulturentwidiung des chriſtlichen Mittelalters fpiegeln ſich in 
diejem grandiofen Weltgedicht. 

Die Rolle, welche Dante dem Bergil bei jeiner Höllenfahrt zuteilt, 
hätte ein geiftlicher Dichter der früheren Zeit, etwa ein Cluniacenjer oder 
Giftercienfer, ficher eher einem Engel oder einem altteftamentlihen Patriarchen 
zugewiejen. Die ehrenvolle Stellung, welche dem alten Gato von Utica 
am Beginn des Purgatorio beſchieden ift, hätte der ſtoiſche Selbitmörder in 
einer ſolchen Klöfterlihen Höllenvifion wohl faum gefunden. Bon den 
allegoriſch-⸗ſymboliſchen Helldunfel der Dichtung begünftigt, konnte Dante 
das heidniſche Altertum mit freierem, wohlwollenderem Blid an fi heran: 
treten laffen als etwa Prudentius und die altchriftlihen Apologeten, welde 


476 Zwanzigites Kapitel. 


noch die ganze Entlittlihung des heidniſchen Roms der Gäjaren vor ſich 
hatten. Nachdem Plato der Lehrer eines Auguftin und Anſelm, Arifioteles 
der Lieblingsmeifter eines Thomas von Aquin und der gejamten Scholaſtil 
getvorden war, mochte auch Vergil den chriftlihen Dichter in eine Hölle 
führen, die zwar ganz nad der Auffaffung hriftlicher Dogmatik gedacht 
war, aber doch in der Ausmalung die Namen und Bilder des antifen 
Tartarus nicht verihmähte. Ein Mikverftändnis war hier ebenjogut aus: 
geichloffen, al3 wenn John von Salisbury oder Manus ab Inſulis Gott 
den Tonans nannten oder andere Ausdrüde antiter Dichter auf ihn bezogen. 

Ebenſowenig ift Dante zu tadeln, daß er aus dem engen Kreis heraustrat, 
welchen Prudentius und die fpäteren geiftlihen Dichter, mit verhältnismäßig 
wenig Ausnahmen, der Poeſie gezogen hatten, daß er nicht bloß die Heiligen 
bejang, jondern die ganze bunte Welt der legten Jahrhunderte und jeiner Zeit 
in den Rahmen jeines Gedichtes aufnahm, das Jrdiiche, Weltliche im jeiner 
bunteften Fülle mit der unfichtbaren Welt zu einem großen Gejamtbild ver: 
einigte und fo das großartigfte geiftlichsweltliche Gedicht des Mittelalters ſchuf!. 

Es ift hier mit Händen zu greifen, daß weder der firchliche Glaube 
noch die jcholaftiihe Theologie, noch ein dur und durch kirchlicher Huma— 
nismus der erhabenften Entwidlung der Poefie, harmoniſcher Geiftesbildung, 
nationaler Yiteraturgeftaltung entgegenfteht. Aus der Lateinſchule des Mittel- 
alters ift der größte italieniſche Dichter hervorgegangen, den fein jpäterer 
an Schaffenskraft mehr erreicht hat?. 

Der einzige Mißklang, welder die Harmonie des Gedichtes in ſich und 
mit der gejamten chriftlihen Weltanfhauung des Mittelalters ſtört und 
welcher es möglih machte, dab Dante von manchen als Vorläufer der 
„Reformation“, ja der „Revolution“ und des modernen Liberalismus an: 
gejehen werden fonnte, ift feine politifche Richtung, fein Ghibellinismus, der 
jwar nad den Begriffen jener Zeit jeine Rechtgläubigkeit nicht antaftete, 
ihn jedoch gegen mehrere verdienftvolle Päpſte ungerecht gemacht und jeiner 
Auffaffung des päpftlihen Primats eine ſchiefe Richtung gegeben hat. Weit 
ihärfer al& in der Divina Commedia tritt diefer GHibellinismus in jeiner 





* On peut dire, et ce sera le resume de ce travail: que la Divine Comedie 
est la somme litt£raire et philosophique du moyen-äge; et Dante, le saint Thomas 
de la poesie (A. F.Ozanam, Dante et la philosophie catholique au XIII* siöcle, 
Louvain 1847, 209). — 2gl. F. Hettinger, Die göttliche Komödie des Dante 
Alighieri?, Freiburg 1889. — G. Gietmann, Die göttlide Komödie und ihr 
Dihter, Freiburg 1885. — F. X. Kraus, Dante, Sein Leben und fein Werl, 
Berlin 1897. — Scartazzini, Dante-Handbuch, Leipzig 1892. — Grauert, 
Zur Danteforfhung (Hiftor. Jahrbuch der Görres-Geſellſchaft), Münden 1895, 510 ff. 

? Die lateinifhen Schriften Dantes: De vulgari eloquio, De monarchia, 
Quaestio de aqua et terra, Epistolae, bei P. Fraticelli, Opere minori di Dante’, 
Firenze 1873. 


Anfänge der fog. Renaiffance in Italien. 477 


lateiniſchen Schrift De monarchia hervor, gegen welche denn auch kirchliche 
Verbote ergangen find. In enthufiaftiihem Studium der Alten war Dante 
von der wirklichen hiftoriichen Bedeutung des damaligen Kaifertums fo meit 
abgefommen, daß er auf die Eroberungen der alten Römer hin den Jtalienern 
jeiner Zeit ein ummittelbar göttliche Recht der Weltherrfchaft zufprechen zu 
fönnen wähnte und feine phantaftifchen Beweisverfuche mit den Worten ſchloß: 

Et iam sufficienter manifestum esse arbitror, Romanum populum sibi de 
iure orbis Imperium adseivisse. O felicem populum, o Ausoniam te gloriosam, 


si vel numquam infirmator ille imperii tui natus fuisset, vel numquam sua pia 
intentio ipsum fefellisset''. 


Dies geht auf Kaiſer Konftantin, dem Dante die mweltlihe Macht 
und die Vermeltlihung des Papſttums irrigerweije zujchrieb. 

Sn der Divina Commedia ift dem weltlihen Humanismus feine 
untergeordnete Stellung zu den höheren Jdealen, zur chriftliden Ordnung 
völlig gewahrt. In feiner Schrift De monarchia aber hat Dante un— 
zweifelhaft diefe Ordnung verlaffen und dem weltlihen Humanismus eine 
Stellung angemwiefen, die mehr oder weniger auf Abmwege führen mußte. 
Wenn er in der Politik das altrömiihe Imperium als rechtsgültig, als 
Baſis und Spige der gefamten Weltpolitif wieder aufleben ließ, was lag 
da näher, als auch die altklaffiiche Poefie — unabhängig von der hriftlichen 
Ordnung — wieder neu aufleben zu laffen? Er jelbft hat dieje Folgerung 
nicht gezogen, aber andere zogen fie — mande nur teilweife, ſchüchtern, 
mit Vorbehalt, ohne Poefie und Wirklichkeit ftreng zu fondern, manche aber 
auch entſchieden, rüdfichtslos und realiſtiſch bis an die äußerſten, gewagteſten 
Grenzen. Zwiſchen dem frommen, ſtrengen Humanismus eines Prudentius, 
der von der Antile nur Sprache und Metrik an ſich zog, und einem völligen 
Neuheidentum entiwidelte fih der weltlihe Humanismus fortan in allen 
nur denkbaren Scattierungen. Zum völligen Abfall von Glauben und 
Kirche kamen nur jehr wenige; aber überaus groß war die Zahl derjenigen, 
welche in Poeſie und Literatur fat ganz von Kriftlichen Vorftelungen und 
Sittenbegriffen abjehen zu dürfen vermeinten und vor lauter fünftlerifcher 
Verehrung und Nahahmung des Hafftiihen Altertums undermerft aud in 
deſſen praftiiches Fahrwaſſer gerieten, berauſcht von feiner Formſchönheit 
auch jeine fittliche Ungebundenheit und Entartung mit in den Kauf nahmen 
und in Poeſie und Leben ftarf den alten Göttern Huldigten?. Das war 
Ihon bei Dantes Lehrer Brunetto Latini der Fall. 


⁊ Lib. 2, $ 11 (in fine). 

2% Burdhardt, Die Kultur ber Nenaiffance in Stalien. 3. Aufl. von 
8. Geiger, Leipzig 1877/78. — G. Voigt, Die Wiederbelebung des klaſſiſchen 
Altertums oder das erfte Jahrhundert des Humanismus. 8. Aufl. von M. Lehnardt, 
Berlin 1893. — 2. Geiger, Renaiffance und Humanismus in Jtalien und Deutſch-— 





478 Zwanzigites Kapitel. 


Wie fern Dante einer jolden Rihtung fand, zeigt am deutlihften die 
Schrift De vulgari eloquio.. Wenn er darin beftrebt ift, aus dem 
Wirrſal der verihiedenen Dialekte heraus zu einer einheitlichen italienischen 
Nationalfprade zu gelangen, jo bat er damit allerdings mit der bisherigen 
Alleinherrſchaft des mittelalterlihen Lateins in Literatur und Bildung 
gebrochen, aber keineswegs ein altklaſſiſches Latein, jondern die neue Vollks— 
ipradhe an deſſen Stelle gejeßt. In Stoffgehalt und Anſchauungsweiſe ift 
er ein mittelalterliher Theologe geblieben !. 

Unter den lombardifhen Dichtern, welche noch mit Dante oder bald 
nah ihm lebten, bewahrte der Humanismus diejelbe Färbung wie bei ihm. 
Die Hauptformen waren Elegie und Efloge. In diefen behandelten Bona- 
tino, Benvenuto de’ Campeſani (geft. 1313), Matteo Plega: 
ferro da PVicenza und Giovanni di Birgilio eigene Erlebniffe und 
allgemeine Tagesfragen. Ferreto da Vicenza bverherrlichte die Ahnen 
des Ban Grande della Scala von Verona in einer Epopde; Albertino 
Muſſato, Ratsherr der Republit Padua (1261—1330), dagegen warnte 
feine Mitbürger vor demjelben Tyrannen, indem er fie in jeiner Tragödie 
Eecerinis an die Gewalttaten des Ezzelino da Romano erinnerte. An 
dramatiiher Handlung war das Stüd arm, aber der Neihtum an kräftigen 
Sprüden und die patriotische Begeifterung jhlugen dur, und die Paduaner 
frönten 1314 den Verfaſſer feierlih zum Dichter, was jeit der römischen 
Kaiferzeit ganz außer Gebraud gelommen war. Neben frommen Soliloquien 
hinterließ Muffato übrigens auch ſehr ſchlüpfrige Verſe, und der noch lebende, 
verbannte Dante hätte auf den Lorbeerfranz doch ganz andere Anjprüche 
erheben können ala er?. 





land (W. Onden, Allgem, Geſchichte in Einzeldarftellungen II 8), Berlin 1382. 
— 6. Körting, Die Anfänge der Renaiffanceliteratur in Jtalien (Gejhichte der 
Literatur Italiens im Zeitalter der Renaiffance III 1), Leipzig 1884. — G. Tira- 
boschi, Storia della letteratura Italiana V VI, Modena 1775. — 2. Paftor, Ge 
ihichte der Päpfte I*, freiburg 1901. — J. Guirand, L’Eglise et les origines de 
la Renaissance, Paris 1901. — €. Steinmann, Rom in ber Renaiffance von Nilo— 
laus V. bis Leo X.?, Leipzig 1902. 

! Seine Rechtgläubigkeit verteidigte ſchon Kardinal Bellarmin gegen Ber: 
dächtigungen von proteftantijcher Seite (Responsio ad librum quemdam anonymum, 
eui titulus est Ariso piacevole dato alla bella Italia. Cap. 12—19. Opp. VII, 
Colon. Agripp. 1617, 542—553), bemerft aber über jeine Politit: Dantes enim, 
factione Gibellinus, non modo non domesticus, sed etiam hostis Pontificum fuit. 

® Albertino Mussato Opera, Venetiis 1636, zum Zeil abgedrudt bei 
Graevius-Burmann, Thesaur, antiqu. Ital. VI, Leiden 1722, 2; bie Eccerinis 
und die hiftorifhen Werle bei Muratori, Script. rer, Ital. X. — Bgl. 3. Wyd- 
gram, A. Muffato, Leipzig 1880. — ©. Körting, Geſchichte der Literatur Italiens 
im Seitalter der Renaifjance III 302-370. — 3.8. Klein, Geihichte des Dramas 
V, Leipzig 1874, 235— 251. 


Anfänge ber jog. Renaiffance in Italien. 479 


Ziemlid) unabhängig von Dante, aber ungefähr auf derjelben Grundlage, 
wenn auch etwas freier, entwidelte fi der Humanismus bei Francesco 
Petrarca, der nächſt Dante an der Spige der italienischen Literatur fteht, 
aber gleichzeitig mehr al3 er den Nenlateinern beizuzählen ift. 

Sein Vater war ein Partei und Leidensgenofje Dantes. Am jelben 
Tag (27. Januar 1302) wurde Ser Petracco mit jenem aus der gemeinjamen 
Vaterſtadt Florenz verbannt. Zu Arezzo wurde ihm (20. Juli 1304) der 
Sohn geboren, der feinen Namen verewigen follte. Er nahm ihn mit nad 
Piſa und nad Avignon, mo Papft Glemens V. feinen Hof aufgeſchlagen hatte. 
Mit ungewöhnlicher Begeifterung verlegte fih Francesco auf die Lateinische 
Literatur; in Montpellier, wo er fih dem Studium des Rechts widmen 
jollte, fuhr er fort, ſich vorzugsweiſe mit Vergil, Cicero und Livius zu be 
ihäftigen. Vergeblich jandte ihn der Vater nad) Bologna; auch hier blieb 
er feiner Neigung treu und fand bald an Giacomo Golonna, Biſchof von 
Lomby, und an Kardinal Giovanni Golonna, deſſen Bruder, wohlgewogene 
Gönner, welche ihm durch Unterftügung und geiftliche Pfründen die Mittel 
verſchafften, fi ganz der Literatur zu widmen und dabei ein ziemlih un: 
gebundenes Leben zu führen. Die höheren Weihen empfing er nidt; all 
das Geſchrei, das mit Bezug auf ihr wider den kirchlichen Gölibat er: 
hoben worden ift, entbehrt deshalb eines tatſächlichen Anhaltspunttes und 
fällt auf die Ankläger jelbft zurüd. Seine berühmten Sonette auf Yaura von 
Noves, die er 1327 zum erftenmal jah und dann jahrelang nad) Art der 
Troubadours befang, tragen ein durchaus edles, ideales Gepräge; ebenjo tritt 
in feinem umfangreihen Briefwechſel, bei manden menſchlichen Schwäden, 
doch eine weſentlich ernfte, hriftliche und kirchliche Lebensauffaffung klar und 
deutlich zu Tage!. 

Eine lange Reife führte ihn 1333 nad Paris, durch die Niederlande 
nad Lüttich, Nahen, Köln und durd den Ardennenwald zurüd nad Avignon. 
Im Jahre 1337 beſuchte er Italien und hielt fich längere Zeit in Rom 


! Tommasini, Petrarca redivivus? (Sammlung der älteften Biographien), 
Patavii 1650. — De Sade, M&moires sur la vie de Pötrarque, Amsterdam 1797. 
— Baldelli, Del Petrarca e delle sue opere, Firenze 1797. — %. 6. Blanc, 
Urt. „Petrarca* bei Erfh und Gruber (1844), Sekt. 3, TI 19, 204-254. 
— Mezieres, Pötrarque, Paris 1868; ?1873. — 2. Geiger, Petrarca, Leipzig 
1874. — G. Körting, Petrarcas Leben und Werfe (Geſchichte der Literatur 
taliens im Zeitalter der Renaifjance I), Leipzig 1878. — Bartoli, Storia della 
letteratura italiana VII, Firenze 1884. — P. de Nolhae, Pötrarque et !’'hu- 
manisme, Paris 1892. — Levati, Viaggi del Petrarca in Francia, in Germania, 
in Italia, Milano 1820. — Malmignati, Petrarca a Padova, a Venezia e ad 
Arqua, Padova 1874. — 5. X. Kraus, fr. Petrarca in feinem Briefwechjel (Deutiche 
Rundihau LXXXV [1895] 345 ff; LXXXVI 55 ff 249 ff). — 9. Morf, Die 
Bibliothek Petrarcas (Aus Dichtung und Sprade der Romanen, Straßburg 1903, 
172—184); Francesco Petrarca (Deutihe Rundihau CXX [1904] 103—115). 





480 Zwanzigſtes Kapitel. 


auf. Die vom Papfte verlaflene ewige Stadt machte einen unauslöſchlichen 
Eindrud auf jeine Seele, einen der tiefften feines Lebens. All die glorreichen 
Erinnerungen des Haffiihen Altertums, der hriftlihen Vorzeit, der mittel- 
alterlihen Herrlichkeit und Größe Roms lebten da gleichzeitig vor ihm auf, 
und der traurige Verfall der Königin der Städte erfüllte fein Gemüt mit 
tieffter Ergriffenheit und Trauer. Mit ſchwärmeriſcher Begeifterung umfaßte 
er den Gedanlen, den Papft wieder nah Rom zurüdzuführen, die Pracht 
und Schönheit des mittelalterlihen Roms wieder hHerzuftellen, die Macht, 
den Ruhm und die Freiheit der alten Römer unter päpftlihem Patronat 
neu aufleben zu lafjen, jelbft als lateinischer Dichter mit Vergil um die 
Palme zu ringen und fi den Lorbeerfranz auf dem Stapitol zu erwerben. 
Sein ganzer literariicher Ehrgeiz verſchmolz mit jenen religiös-patriotiichen, 
poetiich-dumaniftiihen Idealen. 

Er hatte im Grunde noch nicht fehr viel geleiftet — eine Anzahl 
italienifcher Sonette und Kanzonen, einige fleinere lateinische Gedichte, den 
Anfang eines lateiniſchen Epos „Afrika“ —, als fih ſchon der kühnſte 
jeiner Träume erfüllen follte: er wurde auf dem Kapitol zu Rom feierlich 
zum Dichter gekrönt, allerdings nur von einem Stellvertreter des Königs 
Robert von Neapel, durch den er ſich zubor in der Poefie hatte eraminieren 
lafjen, aber unter raufhendem Beifall des römischen Volles, deifen Lofal- 
patriotismus er in neuen Reden und Gedichten jchmeichelte, doch keineswegs 
in einem unkirchlichen oder antikirchlichen Sinne. Er legte jeinen Lorbeer- 
franz am Altare des Hl. Petrus nieder. 

Bor und nad) diefer Ehrung, welche für ihn mehr einen Lohn künftigen 
als bereit3 erworbenen PVerdienftes bedeutete, zugleih aber ein Triumph 
lateinifcher Poefie und Bildung war, lebte Petrarca als literariſcher Einfiedler 
in jeiner malerifhen laufe Vauclufe an den Quellen der Sorgue, mit 
dem Studium der Alten und der Abfafjung poetifcher wie profaischer Werke 
beihäftigt, im ganzen heiter und zufrieden, bis das Jahr 1347 das von 
ihm lebhaft begrüßte Regiment des Gola di Rienzo zu Rom ftürzte, Die 
furchtbare Belt von 1348 Laura und mande Freunde dahinraffte. Nachdem 
er 1350 zum Jubiläum nah Rom gewallfahrtet war, verließ er 1353 
Bauclufe für immer umd ließ ih, nah kurzem Aufenthalt zu Mailand, 
erit in Venedig, dann in dem Dörflein Arqua bei Padua nieder. An all 
diefen Orten unterbradhen indes dDiplomatifche Sendungen und andere Reifen 
jeinen Aufenthalt. Am 28. Juli 1374 ftarb er zu Arqua friedlih an 
jeinem Studiertiſch, nad einem im ganzen raftlofen Leben, im Frieden mit 
der Kirche, in feinen fpäteren Jahren au immer mehr den Übungen crift- 
liher Frömmigkeit zugewandt. 

Mit dem ungeheuren Anjehen, welches Petrarca bei den Zeitgenofjen 
bejaß, ſtehen feine Leiftungen feineswegs in entjprechendem Verhältnis. Eitel- 


Anfänge der fog. Renaifjance in Jtalien. 481 


feit, Ruhmſucht, fteted Vordrängen feines lieben Jh, Wantelmut, Undant 
gegen Wohltäter und Freunde, Höfifche Untertänigkeit gegen unwürdige 
Gewalthaber umbdüftern die freundlichen Lichtjeiten feiner Perjönlichkeit, fein 
tiefes Gemüt, feinen hohen, Iyrifhen Jdealismus, feinen Studieneifer und 
feine anſehnliche humaniſtiſche Gelehrfamkeit. Als Politifer war er geradezu 
Phantaft, als Diplomat mehr Paraderedner denn ein gewandter und wirklich 
einflußreicher Unterhändler. Seine ethiihen und religiöfen Traftate („Von 
den Heilmitteln gegen Glüd und Unglüd“, „Vom einfamen Leben“, „Bon 
der Muße der Slofterleute”), mehr von Seneca als etwa von Auguftin 
beeinflußt, find nicht tief und fromm genug, um fi) irgendwie mit den 
Meiſterwerken patriftiiher Astefe meſſen zu können, anderjeit$ doch noch jo 
Hriftlih und mittelalterlih gedadht, dab fie ein modernes Weltkind ſchwer— 
lich befriedigen. Auch feine Heinen Abhandlungen „Über die befte Staats- 
verwaltung“, „lber das Amt und die Tugenden eines Feldheren“, „Über den 
Geiz“, „Über die wahre Weisheit” tragen mehr das Gepräge humaniſtiſcher 
Stilübungen als tiefdurchdachter philoſophiſcher Leiftungen. Ähnlich tritt in 
jeinen „Vier Büchern über die dentwürdigen Dinge“ und feinen Biographien 
berühmter Männer (De viris illustribus), in welden außer Alexander d. Gr., 
Porrhus und Hannibal nur adhtundzwanzig alte Römer Aufnahme gefunden 
haben, das eigentlich hiſtoriſche Intereffe Hinter dem antiquariihen, philo— 
logifhen und ftiliftifchen zurüd. Die wenigen erhaltenen Reden find vor: 
wiegend Prunk- und Schauftüdet, 

Am intereffanteften von feinen lateinischen Proſaſchriften find feine in 
vier Sammlungen zufammengeftellten Briefe, in melden er wohl aud ge: 
fegentlih eine künſtliche Poſe annimmt und ftark dellamiert, aber doch 
meiftenteil3 feine Jdeen, Stimmungen und Erlebniffe in treffender, bezeich- 
nender Weiſe mitteilt, und die darum ein vieljeitiges Bild feiner ſtets 
beweglichen Individualität gewähren. Ergänzt werden fie durch mehrere 
Streitſchriften, beſonders diejenige gegen einen Franzofen und diejenige 
gegen einen Arzt, dann den „Brief an die Nachwelt“ (Ad posteros), 
„die drei Geſpräche über die Weltveradhtung“ (De contemptu mundi) 
und drei Bücher poetiiher Epifteln, welche wohl al3 das Befte feiner 
lateiniſchen Poeſie bezeichnet werden dürfen. Denn jein Bucolicon (zwölf 





ı F. Petrarca, Opera (ed. I. de Amerbach), Basileae 1496; Opera, 
Venetiis 1503; Opera omnia, Basil. 1554. — Seritti inediti (publ. da A. Hortis), 
Trieste 1874. — Epistolae de rebus familiaribus et variae (ed. Fracassetti), 
Florent. 1859—1863. — Lettere senili (ed. Fracassetti), Firenze 1869/70. 
— Poemata minora (ed. Rossetti), Mediol. 1829—1834. — Africa (cur. Cor- 
radini), Padova 1874. — De viris illustribus (cur. A. Razzolini), Bologna 
1874 1879. — Historia Iulii Caesaris (ed. Schneider), Lips. 1827. — Italie— 
nische Überfegungen der „Africa von 2, B. Gando, Oneglia 1874 und X. Paleſa, 
Pabua 1874. 

Baumgartner, Weltfiteratur. IV. 3. u. 4. Aufl. öl 


482 Zwanzigſtes Kapitel. 


Eklogen umfaffend) ift ſchon ſtark gefünftelt, und fein unvollendetes Epos 
„Afrika“, das er anfänglich als fein poetiſches Hauptwerk betrachtete, jan 
in jeinen eigenen Augen fpäter zu einer ziemlich mißglüdten Schöpfung 
herab!. Sie bringt das Schiefe und Mißliche feiner ganzen humaniſtiſchen 
Rihtung am deutlichiten zum Ausdrud?, Ein Römer der altrepublikaniſchen 
Zeit hätte aus dem Stoffe ein glänzendes Nationalepos geftalten können; 
aber anderthalb Jahrtaufend jpäter konnte in der Hand eines Kriftlichen 
Dichters nur ein fünftlihes Schulepos daraus entfliehen. Als ſolches ift 
das Werk immerhin eine bedeutende Leiftung. 

„Es befigt die ‚Afrila‘ eine große Anzahl von Epifoden, welche geradezu 
Meifterwerfe der poetiſchen Kunſt genannt werden müſſen; fie weift eine 
Hülle von Naturfhilderungen und Gleihniffen auf, deren fih aud der 
bedeutendfte Epiter nicht zu ſchämen Haben würde. Jedenfalls war der Dichter 
der ‚Afrifa‘ ein hochbegabter Dichter, wenn aud eben nicht ein Epiker erſten 
Ranges, und die ‚Afrifa‘ ift troß der Fundamentalfehler ihrer Kompofition 
doc eine bedeutende und des Leſens wohl würdige Dichtung; ja e& wird 
fie ein jeder leſen müffen und übrigens aud mit vielem Genuß lejen können, 
dem daran gelegen ift, fih ein Gejamturteil über Petrarcas poetiſche Be: 
fähigung zu bilden.“ 3 

Seine Auffaffung der Hafftihen Studien und des Lebens jelbit hat 
er am ſchönſten in einem Briefe zufammengefaßt, der an einen jungen 
Ordensmann gerichtet ift. 

„Folge alſo, wie Cato bei Tullius fagt, unferem beiten Führer wie einem Gott, 
ja dem Bater der Natur und aller Dinge, Gott felbft, der mit lauter Stimme zu 
dir und zu allen Menſchen ruft, die er erichaffen und erlöft hat, nit nur vom 
Himmel, wo er in Ewigkeit berricht, fondern auch von dem ſchmerzlichſten Sieges- 
zeichen, das er für uns nadt, mit Dornen gefrönt als Triumphator beftieg. Ja, 
alle ruft er; wenige hören ihn. Sei du einer der wenigen; fonft wäre es dir befier, 
gar nicht zu fein. Höre und erhöre ihn, von dem du Leib und Seele und Zalent 
erhalten haft, durch den du fo bift, wie wir dich gern haben, und noch fo werden 
wirft, wie wir es wünſchen und hoffen. Ich will dich heute nicht weiter drängen; 
ih bin gewiß, daß dir dies und auch weit weniger genügt, da du, auch wenn ich 
ſchweige, aus dir felbft erfennit, was ih wünſche und auch andere, die dich Lieben. 
Eines will ich indes nicht übergehen: fchenfe denjenigen weber Ohr noch Herz, welche 
di unter dem Borwand des theologiihen Studiums von ber Pflege der literarifchen 
Bildung abzumahnen fuhen. Um von den andern zu jhweigen, wenn Qactantius 
und Auguftinus derielben entbehrt hätten, jo hätte weder jener den Aberglauben ber 
Heiden jo leicht untergraben, noch diefer bie Stadt Gottes mit fo viel Kunft und in 
fo gewaltigen Maſſen aufgebaut. 

Es ift dem Theologen nützlich, außer der Theologie noch vieles zu wiflen, ja 
wenn es möglid wäre, nahezu alles, um gegen die Angriffe ber Fleifchlichgefinnten 


! Analyje bei Körting, Petrarca 656—672. 
? Voigt, Die Wiederbelebung des Haffiihen Altertums I 151 152. 
® Körting aa. O. 676. 


Anfänge ber ſog. Renaifjance in Italien. 483 


gewaffnet zu fein. Gewiß, wie nur ein Gott ift, dem alles unterworfen ift, fo gibt 
es nur eine Wiſſenſchaft über Gott, ber alle andern guten Wiſſenſchaften untergeordnet 
find. Hierüber handelt übrigens derfelbe Auguftinus im zweiten Buche von ber 
riftlichen Lehre. Lies alfo gemäß feinem Rate, was du kannſt ohne Nachteil für 
dein Hauptvorhaben, und lerne jo viel, als es ohne Schaden für beinen Berftand 
und bein Gebädtnis möglich ift und bebenfe immer, dab du Theologe, nicht Dichter 
ober Philoſoph bift, außer injofern der wahre Philojoph auch ein Liebhaber ber 
wahren Weisheit ift. Die wahre Weisheit des Vaters aber ift Chriftus, Das eine 
will ich hinzufügen: das möge dir befonders am Herzen liegen, daß die Dinge, auf 
welche du deine Aufmerffamteit lenkſt, nicht verborgen und dunkel, jondern wahr 
und klar jeien. Denn es gibt Leute, die fi eitel mit dem brüften, was weder fie 
noch andere verfiehen, ein törichtes Geichledht. Denn wie die Wahrheit der Gegen 
ftand des DVerftandes, jo ift, wenn ich nicht irre, die Klarheit deſſen Beglüdung. 
In aller Heiligkeit und Tugend aber verlag nie jenen leiten und kurzen Weg bes 
Sofrates zum Ruhm: daß du nämlich das zu jein dich beftrebft, wofür bu gelten 
willſt. Denn es gibt ſehr ſchlimme Leute, die für bie beften gelten wollen, als ob 
fie gleich den andern aud Gott und ihr Gewifjen betrügen fünnten. Auf dieſem 
doppelten Wege haft bu viele Führer, für beide mag dir indes ber eine Auguftinus 
dienen, bein gewohnter Führer: du fiehft, wie er gerabe in deinem Alter mit Irr— 
tümern und Laftern in edlem Anfturm jo Herrlich gefämpft hat. Gab es bei ihm 
je einen Jrrtum in Leben oder Lehre, jo wurde der erftere durch das Leben gehoben, 
der zweite mit eigener Hand dur das forgfältigfte Werk ausgerottet, jo daß es 
nichts Sicheres gibt, als Leben und Lehre diefes Mannes zu folgen. Das follft bu 
nie aus dem Gedächtnis verlieren. 

Endli bitte ich di, jobalb du dahin gefommen fein wirft, wohin bu dich 
ſehnſt, und ich will hoffen, das wird bald gejchehen, ſammle gegen jenen tollen Hund 
Averrhoes, der von unfäglider Wut getrieben, gegen jeinen Herrin Chriftus und 
gegen den Fatholiihen Glauben bellt, von überallher feine Läfterungen. Du weißt, 
ich hatte das bereits begonnen, aber meine allzeit ungeheure und jet noch mehr als 
fonft angewachſene Beihäftigung und nicht geringerer Diangel an Wifjen als an 
Zeit hielten mid davon ab, Wirf dich mit aller Kraft und Anftrengung deines 
Geiftes auf diefe von vielen großen Männern unfrommerweije vernadhläffigte Auf: 
gabe und fchreibe ein kleines Werf und wibme es mir, ob id) dann noch am Leben 
bin oder inzwifdhen von bannen gehe. Denn es ift immer Zeit für alle, und id 
unter andern bin jchon gewöhnt, daran zu denken. Zweifle nicht daran, daß es dir 
etwa an Geift oder Stil fehle, wenn es auch bei manchen der deinigen gewöhnlich 
fehlt. Chriftus, der dir ſchon bei der Geburt beigeftanden, wirb dir beiftehen, wenn 
du feine Sache führt.“ ! 


Der junge Mann, an welden Petrarca diefe Mahnung richtete, war 
Yuigi de’ Marfigli, ein Florentiner aus alter und vornehmer Familie, 
! Francisei Petrarchae Lib. Epistolarum sine titulo. Ep. XXII (Opp. 
ed. Ioa. de Amerbach), Basileae 1496, fol. M. 45. Vgl. Fracassetti, 
Lettere senili II 246 ff. — Eine ebenfo tiefreligiöfe, echt chriſtliche Lebensanſchauung 
bekundet der ſchöne Brief an Johann Eolonna a ©. Bito (Epist. Famil. VI 2, bei 
Fracassetti, Epist. de rebus familiaribus I 310 f). Vgl. Körting, Petrarca 
408 ff. Über jeine Lirhlihe Gefinnung vgl. auf Bellarmin, Responsio ad 
librum quemdam anonymum etc., Opp. VU, 553—558. 

31* 


484 Zwanzigſtes Kapitel. 


der damals etwa zwanzig Jahre zählen mochte, aber ſchon feit einiger Zeit 
dem Auguftinerorden angehörte. Er ftudierte noch weiter in Paris, erlangte 
dafelbft den Doktorgrad der Theologie, ward nah feiner Rücklehr ein 
gewaltiger Wollsprediger und Provinzial feines Ordens. Man begehrte 
ihn fogar zum Biſchof von Florenz. Ganz nad) Petrarcas Wunſch verband 
er mit echt religiöfem und kirchlichem Wiffen und Wirken das Iebhaftefte 
Intereſſe für die Haffiischen Studien und gründete mit feinen Ordensbrüdern 
Martino de Signa und Pietro de Gaftelletto in dem Stlofter 
San Spirito eine Art literarifher Akademie, mit welcher die hervor— 
tagendften Literaten von Florenz in Beziehung traten!, Diefelben Männer, 
unter ihnen Salutato, der Kanzler der Republit (mit vollem Namen 
Goluccio di Piero de’ Salutati), der eifrige Humanift und Mufifer 
Francesco Landini, der Phnfiler und Mediziner Marfilio di 
Santa Sofia, dann der gelehrte Biagio Pelacani von Parma, 
verfammelten ſich auch in der Billa Paradiſo und in den Gärten des 
reihen Kaufheren Antonio degli Alberti und deflen Sohnes Yeone 
Battifta. Da murden die anmutigften, anregendften Gartenfefte des 
Morgens mit einer heiligen Mefje begonnen, dann mit literarifdhen und 
gelehrten Unterhaltungen gewürzt. Es wurden Novellen vorgetragen, philo— 
jophiiche Disputationen und literariiche Geſpräche gehalten, Werke der alten 
Klaffiter und Kirchenväter beſprochen, geihichtlihe und ſprachliche Fragen 
erörtert, Gedichte vorgetragen, von der Jugend auch mufiziert, geſungen 
und getanzt. Jung und alt, geiftlih und meltlih, ernfte Theologen und 
lebenäluftige Weltkinder, frommgläubige Seelen und jteptiih angehauchte 
Philoſophen und Altertümler begegneten fih Hier in gemeinfamer Pflege 
der Literatur. 

Entſchieden meltliher als Petrarca lebte und wirkte fein Zeitgenoffe 
und Freund Giovanni Boccaccio?, al Sohn eines Kaufmanns aus 





ı L. de Marsigli, Comento a una canzione di Francesco Petrarca, Bo- 
logna 1863. — L. Colueii P. Salutati, Epistolae (ed. I. Rigaccio), 
Florent. 1741/42 (italienifh überfeßt von F. Novati, Nom 1891); jeine Invec- 
tiva in A. Luschum (ed. D. Moreni), Florent. 1821. — L.B. Alberti, Öpere 
volgarı (ed. Bonucii), Firenze 1844. — Opuscoli morali (trad. da Bartoli), 
Venezia 1568; L’architettura (trad. da Bartoli), Venezia 1565. 

® J. Boccacii, De genealogia Deorum, Venet. 1472 1547; De montibus, 
sylvis ete., ebd. 1473; De claris mulieribus, ohne Drudort 1473, Bernae Helv. 
1539; De casibus virorum illustrium, Aug. Vindel, 1544; Compendium Romanae 
historiae, Colon. 1532. — ®gl. Att. Hortis, Studj sulle opere latine del Boc- 
caccio, Trieste 1379. — Baldelli, Vita di Giov. Boccaccio, Firenze 1806. — 
M. Landau, G. Boccaccio, fein Leben und feine Werke, Stuttgart 1877. — 
G. Körting, Boccaccios Leben und Werke (Gefchichte der Litteratur Staliens II, 
Leipzig 1880). 


Anfänge der fog. Renaiffance in Italien. 485 


Gertaldo im Jahre 1313 geboren. Bergeblih wollte der Vater erjt einen 
Kaufmann, dann einen NRechtsgelehrten aus ihm maden; die angeborene 
Neigung zu Poeſie und Literatur war nicht zu überwinden, wenn fie auch 
erft nach des Baterd Tode zur vollen Entfaltung kommen konnte. Als 
Vorbild jchwebt ihm Petrarca dor, obwohl er ſelbſt ganz anders geartet 
war, fein befhaulicher Einfiedler, Lyriker, Jdealift, ſondern ein Iebensluftiger 
Weltmenſch, Epiler und Realift. Wie Betrarca ſchwärmt er aber für die 
Alten, für die Schönheit der altklaſſiſchen Literatur, für Dichterruhm, Poefie, 
Beredſamkeit. Sein gefeiertftes Werk, der „Decamerone“, gehört wie Pe— 
trarcas „Rime“ und „Zrionfi“ der italienischen Literatur an!. Er hat 
aber zeitlebens aud die lateinische gepflegt, und an diefem lebenslangen 
Studium fih zum höchſten Meifter des italienischen Proſaſtiles herangeſchult. 
Seine lateinifhen Werte jelbft ftehen weit unter denjenigen feines Freundes 
Petrarca, aber fie find nicht nur die Grundlage feiner italienischen Leiftungen, 
fie haben wejentlih mit beigetragen, Intereſſe und Begeifterung für das 
Haffiihe Altertum in Florenz und hierdurch in ganz Italien zu weden. 
Dies gilt befonders von jeinem lateinischen Hauptwerf Genealogia Deorum, 
welches zwar den ungeheuren mythologiſchen Stoff weder fünftleriih noch 
wiflenjhaftlid verarbeitete, aber denjelben in die weiteſten Kreiſe trug. 
So ift es auch mit dem Buche „Über die Berge, Wälder, Quellen, Seen, 
Flüffe, Sümpfe und Meere“, das als geographiiches Handbuch für die 
Lejung der alten Dichter dienen konnte. Durch feine allegorifche Deutung 
der Mythologie trug er auch nicht wenig dazu bei, fie der Neigung feiner 
Zeitgenoffen näher zu rüden. 

Menn auch nit ein großer Gelehrter im umfaflendften Sinne des 
Wortes, beſaß Boccaccio doch eine ſehr ausgedehnte Kenntnis der altklaffiihen 
Literatur, bormwiegend der römischen, zum Zeil auch der griehijhen. Am 
vertrauteften war er mit Livius, Balerius Marimus, Pomponius Mela, 
Bergil, weit weniger mit Gicero, Horaz, Ovid. Auch Tacitus, den Petrarca 
noch nicht fannte, taucht bei ihm auf?. Die Griehen kannte er nur durch 
Überfegungen ; näher vertraut wurde er bloß mit Homer, den Petrarca und 
er duch den falabrefiihen Griechen Leonzio Pilato (um 1360) ins Latei— 
niſche überjegen ließen. Auf feine dichteriſche Tätigkeit konnte die Bekannt: 





! Auch feine Ausbeutung zu Angriffen auf die Kirche hat ſchon Bellarmin 
treffend zurücgewiejen (a. a. O. Opp. VII 558—560) ; befondere Beadhtung verdient 
fein Wort: „Wenn Boccaccio au in feinen Novellen häufig die Lafter der Mönche 
und Nonnen hernimmt, jo zieht er daraus durchaus nicht den Schluß, daß ber 
Möndsftand überhaupt zu verdammen jei, vielmehr tadelt er diejenigen, welde durch 
ihr schlechtes Leben bie Heiligkeit und den Ruhm des Ordensftandes verbunfeln“ 
(a. a. ©. 559). 

® Körting, Boccaccio 385 ff. s Ebb. 260 ff 379 fi. 


486 Einundbzwanzigftes Kapitel. 


ſchaft mit Homer nicht mehr einwirken, da er die noch übrigen Lebensjahre 
(bis 1375) faft ausſchließlich gelehrten Studien widmete. Auch für die 
weitere Entwidlung des Humanismus ift die römijche Literatur borherr- 
ſchend und beftimmend geblieben!. Es war indes immerhin von ungeheurer 
Tragweite, daß durch dieje erfte Überjegung Homer erſchloſſen, das Intereſſe 
für griehifche Literatur gewedt, das Studium derjelben angebahnt mar. 
Niht minder widhtig war es, daß Boccaccio, durch jeine novelliftiichen 
Schriften in italieniiher Sprache der Liebling der höfiichen Kreiſe geworden, 
diefe Kreiſe aud in das Intereſſe feiner humaniftifchen Studien hineinzog 
und, wie vor ihm Dante und PBetrarca, die Pflege der Hafliichen Literatur 
zur Baſis der nationalen nahm, die gleichzeitige Förderung beider zum 
Hauptziel der allgemeinen Bildung machte. 





Einundzwanzigites Kapitel. 


Die ifalienifhen und deutſchen Humaniflen des 
ausgehenden Mittelalters. 


Wie Petrarca wandte fih auch Boccaccio in reiferen Jahren einem 
ernjteren Lebenswandel zu und verurteilte jelbit die Leichtfertigkeit und Un— 
jittlichkeit, welche feinen Jugendwerfen anhaftete. Er war durhaus kirchlich 
gefinnt, vermadhte das Liebfte, was er hatte, feine Bibliothek, dem Auguftiner: 
mönd Martino da Signa und ftarb im volliten Frieden mit der Kirche. 
Die Gunft der Päpfte von Benedikt XII. bis Gregor XL, welcher Betrarca 
jeine unabhängige Stellung und literariihe Muße dankte, ward, wenn aud) 
nit in gleihem Make, doch gelegentlih auch Boccaccio zu teil. Von dem 
Bedenklihen, das ihrer literariihen Zätigkeit anhing, wurde abgefehen, 
ihre humaniftiihen Studien als etwas GSelbftverftändliches gebilligt und 
unterftüßt. 

Tatfählih war eine ſolche Förderung der klaſſiſchen Studien vom 
firhlihen Standpunft aus durchaus wünſchenswert. Untichtig ift zwar 
die jpäter von den Humaniften weitverbreitete Anſchauung, als wäre durd) 
die Scholaftit vom Ende des 13. Jahrhunderts an alles geiftige Leben in 
unabänderlihem Formelkram, gehaltlofen Disputationen und unfrudtbaren 
Spekulationen erftarıt. An den berühmten Franzisfaner Johannes Duns 

ı „Homer ftand aber ſchon damals (1860-1537) und noch mehr in ben 
traurigen Zeiten von 1550 bis 1750 gegen Vergil zurüd, weil man an ihn nad dem 
Vorgang ber Franzoſen den Maßſtab des Kunftepos anlegte und ihn bemgemäß ganz 
falſch beurteilte” (Sittl, Gefchichte der griechiſchen Literatur I 161). 





Die italienischen und beutfchen Humaniften bes ausgehenden Mittelalters. 487 


Scotus, der fih nicht ſcheute, die Doktrin feiner Vorgänger im meiteften 
Umfang der ftrengiten Prüfung zu unterziehen und der 1308 als Lehrer 
zu Köln farb, reiht fih eine ganze Schule, aus der Petrus Aureolus, 
Antonius Andreas und Richard von Middleton ala bedeutende Koryphäen 
hervorragen. Eine durdaus originelle Gejtalt ift Raymund Yull, des 
Arabiſchen fundig, hauptfählih mit der Belehrung der Mohammedaner be: 
ichäftigt, in feinen Schriften nad Anlage und Form völlig abweichend von 
allem Hergebradten. Nikolaus von Lyra zeichnete ſich als Schrifterklärer 
aus, der Dominilaner Colonna und der Minorit Franz Mayron ala 
Dogmatifer. Als princeps thomistarum und vorzügliher Erflärer des 
hl. Thomas wird der Dominikaner Johannes Gapreolus heute noch geſchätzt. 
Im Kampfe gegen die Waldenjer zeichnete fich der Deutjche Peter von Pilichs— 
dorf aus, im Kampfe gegen Wiclif der englifhe Karmelit Thomas Waldenfis. 
Auf dem Konzil von Konftanz glänzte der Pariſer Kanzler Johannes Gerjon 
durch feine umfaflende Kenntnis der |pefulativen wie praftiichen Theologie. 
Ein nit minder außgebreitetes Wiſſen bezeugen die Werfe des Dionyſius 
Garthufianus, welche in einer früheren Ausgabe 21 Foliobände füllen und 
an deren Neuausgabe gegenwärtig eifrig gearbeitet wird. Die Moral: 
theologie des hl. Antoninus fand weite Verbreitung, und Gabriel Biel, 
der 1495 al& Profeffor in Tübingen ftarb, jchließt mit Ehren die lange 
Namenlifte der älteren Scholaftiter ab!. 

Es Tann indes fein Zweifel fein, daß das große Schisma nachteilig 
auf die höheren Studien eingewirft hat, indem die Gelehrten gezwungen 
waren, ihre Hauptaufmerkjamfeit den brennenden Streitfragen zuzuwenden. 
Selbft in Paris litt die Pflege der Theologie einerfeit3 unter dem Mangel an 
patriftiihen Studien, anderjeit3 unter dem Vorherrſchen des Nominalismus?. 





' H. Hurter 8. J., Tbeologia catholica tempore medii aevi (Nomenclator 
literarius recentioris Theol. Cath. IV), Oeniponte 1899, Sp. 363 ff. 

? Ein unmittelbar aus den Urkunden gejhöpftes Bild von den wiſſenſchaftlichen 
und literarifchen Zuftänden ber Univerfität Paris von der Mitte bes 14. Jahrhunderts 
an gibt H. Denifle, Chartularium Universitatis Parisiensis III, Parisiis 1894, 
Introduetio vi—xvı. Bom Studium ber Theologie heißt es dafelbft: Jamdiu theo- 
logi, paucis exceptis, fontem egregium theologiae neglexerant, Patrum ecclesiae 
studium. Revera catalogi manuscriptorum illius tempestatis non continent apo- 
grapha operum sanctorum Patrum, nisi brevium tractatuum, generatim de vita 
spirituali agentium; si quid adhuc de Patribus noverant, id ex anterioribus 
theologieis operibus hauserant vel ex Collectaneis per alphabetum digestis, ubi 
sententiae Patrum collectae erant. Una ex antiquis institutis superfuit ratio 
scholastica. Sic theologia sterilis evasit ac sterilior quam umquam, Nominalismo 
in philosophia dominante (S. IX). Höchſt intereffant in literaturgeichichtlicher Hin- 
fiht ift eine im Appendieulus (S. xxxı—xxxvun) mitgeteilte Satire, welche gegen 
ben jeiner Behrmeinungen wegen ſtark angefochtenen Dominikaner Johannes de Mlonte- 
fono gerichtet ift. Der Verfaffer, in welchem P. Denifle mit größter Wahrſchein- 


488 Einunbzwanzigftes Kapitel, 


Die Scholaftit hatte die Hajfiihen Studien mehr, als nötig geweien wäre, 
zurüdgebrängt. Die Terte der Autoren felbft, auf melde Philofophie und 
Theologie fih ftüßten, befanden fi in höchft verwahrloftem Zuftande, die 
griechifhen waren nur zum geringen Teil, in ungenügenden lÜberjegungen 
zugänglid. Die geſchichtliche und äfthetiihe Würdigung des Wltertums lag 
völlig danieder. Etwas Kenntnis des Griechiſchen war zur größten Seltenheit 
geworden; das Latein, dad man im den ſcholaſtiſchen Hörſälen ſprach und 
jhrieb, war von der Sprade Ciceros und Livius’ ganz abgelommen. Nur 
wenige hatten nod eine Ahnung von der alten Metrif, von der Schönheit 
der antiken Poeſie überhaupt. Es mußte hier Wandel gejchafft werden, wenn 
nicht völlige Geihmadlofigfeit und Formloſigkeit einreißen jollte. 

Das ift der Grund, weshalb die humaniſtiſche Richtung Petrarcas und 
Boccaccios gerade in kirchlichen Kreiſen jo günftige Aufnahme, jo lebhafte 
Förderung und Weiterentwidlung fand. Zunächſt in Florenz. Hier bildete 
fih um den Auguftinermöndh Luigi Marjigli (geb. 1342, get. 1394), 
den Freund und Schüler Petrarcas, im Klofter Santo Spirito eine Art 
literariicher Akademie, in der fich jüngere und ältere Gelehrte zur Pflege 
antifer Yiteratur und Philoſophie vereinigten. Ein anderer Bereinigungs- 
puntt war die Villa Paradijo des reihen Tylorentiner Kaufmanns Antonio 
degli Alberti (geb. 1358, geft. 1415), eines vielfeitig gebildeten und tätigen 
Mannes, wo die gemeinfamen Literaturbeftrebungen mit allem Zauber eines 
fröhlichen Yandaufenthalts und angenehmfter Unterhaltung verbunden wurden. 
An die beiden ſchloß Fih Hier Eolluccio Salutato, ein gewandter 
lateiniſcher Stilit, von 1375 bis 1406 Sanzler der Republik Florenz, 
dann der Bolititer Guido Tommafo di Nero di Lippo, der Dichter 
und Mufiter Francesco Zandini, der Komiler Biagio Sernelli, 
der leichtfertige Novellift Franco Sacdetti. 

Zum eigentlich bedeutenden Literaturmittelpuntt für ganz Italien ward 
Florenz aber erft im folgenden Jahrhundert durch die Familie der Mediceer, 
deren großartiges Patronat mit Coſimo de’ Medici (1389—1464) begann, 
unter Zorenzo il Magnifico, der jelbit Dichter war, fi von 1469 bis 1492 
in glänzendfter Weiſe mweiterfpann, in Papft Leo X. (1513—1521) fid 
mit jenem der Päpfte verſchmolz und hauptſächlich auf dem Gebiete der 
Fünfte feinen höchſten Glanzpunkt erreichte !. 


lichkeit Nikolaus de Clamengis vermutet, zeigt ſich zugleih als ein gutgefchulter 
Theologe und als ein in der antiken Literatur tücdhtig bewanderter, ftilgewanbter, von 
Geift und Witz jprudelnder Humanift, voll Begeifterung für den alten, wohl- 
begründeten Ruhm der Univerfität Paris, 

"A. Fabroni, Magni Cosmi Medici Vita, Pisa 1789. — Vite di uomini 
illustri del secolo XV scritte da Vespasiano da Bisticci (herausgeg. von 
A. Mai [Spicilegium Romanım 1839] und W. Bartoli [Firenze 1859)). 


Die italienischen und deutichen Humaniften des ausgehenden Dlittelalterd. 489 


Bon dem Beifpiel der Mediceer angeregt, wandten fid) auch die übrigen 
Kleinherriher Italiens der Förderung der Literatur und Kunſt zu, die 
Pisconti und Sforza in Mailand, die Gonzaga in Mantua, die Efte von 
Ferrara, die Bentivoglio in Bologna, Federigo von Urbino, Gismondo 
Malatefta von Rimini, nicht minder Alfonſo von Aragonien, König von 
Neapel (1442— 1458), weniger dagegen defjen Nachfolger Yerrante (1458 
bi3 1494). Zahlloje Bauten, Bildwerfe und Gemälde Haben dieje kunſt— 
liebenden Fürften und Yürftenhäufer und das prunfvolle Bild ihrer Zeit 
in lebendigem Andenken erhalten. Ihr Intereffe für Kunſt und Literatur 
läßt einigermaßen den politifchen Hader und Kleinkrieg vergefjen, der in 
diefem und dem folgenden Jahrhundert die Schöne Halbinjel zum fteten 
Zummelplag einheimischen und fremden Ehrgeizes machte; ja wenige 
Epoden der Geihichte hat der Zauber des Schönen mit ſolch berückendem 
Glanze umgeben. 

AU diefe Mäcenaten überflügelt indes an Bedeutjamfeit und Einfluß 
die lange Reihe der Päpfte, welche von der Beilegung des großen Schismas 
an den Stuhl des hi. Petrus innehatten und melde in der Kunſtgeſchichte 
die Päpfte der Renaiffance genannt zu werden pflegen. Sie haben fi in 
jehr verjchiedenem Grade an dieſem Mäcenatentum beteiligt; aber ſeit Perikles 
und Auguflus gab es fein Fürftengefchleht, unter welchem Literatur und 
Kunft zugleich eine ſolche Blütezeit gefeiert Hätten, wie unter den Päpſten 
diefer Periode. Ein größerer Anteil fiel allerdings der Kunſt zu und gehört 
jomit der Kunftgejchichte an. Die Künftler und ihre hohen Gönner ftanden 
indes nicht wenig unter dem Einfluffe der Literatur und des zeitgenöffijchen 
Humanismus, und dieſer hat weniger durch hervorragende Literaturmwerfe 
als durch feinen Geift die ganze Periode beherrſcht. 

Nicht wenige der bedeutendften Humaniften waren kirchlich gefinnte, in 
ihrem Privatleben unbejholtene Männer. Einige ragten jogar durd tiefe 
Religiofität und Tugend hervor. Andere mochten in ihrer Jugend etwas 
der Sinnlichkeit die Zügel haben ſchießen laffen, kehrten aber in reiferen 
Sahren zu Vernunft und Zucht zurüd. Auch von jenen, melde eine 
ſchwärmeriſche, nahezu abgöttijche Begeifterung für das Altertum zur Schau 
trugen, bemwahrten die meiften ihren Chriftenglauben unverjehrt; ihre Be— 
geifterung hatte durhaus nicht den Charakter einer Kunſtreligion, fondern 
höchſtens den eines wohlberechtigten Eifers für ein Fach, das den ſchönſten 
Zeil an Zeit und Kraft in Anſpruch nahm, ohne der hriftlichen Überzeugung 
irgendwie den Boden zu entziehen, wie man ja auch heute nicht feinen 
Chriftenglauben zu verleugnen braudt, um ein tüchtiger Sprachforſcher oder 
Altertumsforfher zu werden. Übertreibungen in diefer Begeifterung find 
großenteils auf Rechnung individueller Lebhaftigkeit, poetiiher Anlagen und 
jüblihen Temperament3 zu jeßen. 


490 Einundbzwanzigftes Kapitel. 


Schon der Gelehrtenfreis, welcher fih in Florenz um Gofimo de’ 
Medici jammelte, ftand auf dem Boden des mittelalterlihen Katholizismus. 
So der Kaufmann Niccolo Niccoli, der zwar jelbft nichts von Be— 
deutung fchrieb, aber als Bücherabjchreiber durch feine Genauigkeit und 
Zertkritif, als Bücherſammler durd feine Findigkeit, Sachkenntnis und 
Mitteilfamkeit den andern Humaniften die größten Dienfte erwies und bei 
feinem Zode (1459) eine Sammlung von adihundert der mertvollften 
Werte hinterließ. Auch fein Biograpp Gianozzo Manetti war fein 
Dichter noch angefehener Projafchriftfteller, brachte e3 aber zu ungewöhn— 
licher Kenntnis des Lateinischen, Griehiichen und Hebräifhen und erwarb 
fih dur feine zahlreihen mehr gelehrten als formgewandten Schriften 
einen hoben Ruf von Gelehrſamkeit. Sein Lehrer im Griedhifchen, der 
Kamaldulenfer Ambrogio Traverjari (1386—1439), feit 1431 fogar 
General jeines Ordens und überaus tätig für deſſen Reform, verwandte 
jeine Gewandtheit im Griechiſchen nicht bloß in den Unionsverhandlungen 
mit den Griehen in Ferrara und Florenz, fondern aud auf Überfegung 
griechiſcher Profanjchriftfteller und Kirchenväter, bradte in Venedig allein 
238 griechiſche Handichriften zufanımen und pflegte auch den ciceronianijchen 
Stil mit dem größten Eifer. 

Leonardo Bruni, erft Hauslehrer bei den Medici, jpäter (1405) 
Apoftolifcher Sekretär, endlih von 1427 bis zu feinem Tode 1444 Staat: 
fanzler der Republif Florenz, wie faum ein anderer mit den griechiichen 
Philojophen vertraut, jchrieb auf griehiich über den Urſprung und die Ber: 
faffung der Republif, in antikem Latein die Geſchichte derjelben!. Der Haupt: 
förderer aller griechiſchen Studien war der gelehrte Kardinal Bejjarion 
(1403— 1472), von melden jpäter noch die Rede fein wird, Der Floren- 
tiner Marjiglio Ficino (1433 — 1499), der auf Coſimos Anregung 
die Schriften Platos überjeßte und fi dabei jelbft mit platonifchen An— 
jhauungen erfüllte, geriet dadurd zwar in mannigfadhe Gegenſätze zur 
ariftoteliichen Philofophie, ſchrieb aber auch ein verdienftliches Wert über 
die Unfterblichleit der Seele und eine elegante Apologie des Chriftentums, 
und fam troß feiner allzu großen Vergötterung Platos nicht in Konflilt mit 
den kirchlichen Autoritäten ?. 





!A. Traversarius, Hodoeporion, Florentiae 1680; Latinae Epistolae 
(ed. L. Mehus), Florent. 1759. — Mehus, Specimen historiae litterariae, 
Florent. 1747. — L. Bruni, Aretini epistolae (ed. Mehus), Florent. 1742; 
Historiarum florentini populi libri XII, Argentor. 1610 (Muratori XIX); Hepi 
rolreias Diwpsvrevöv (herausgeg. von 2. W. Hasper, Leipzig 1861). 

® Marsilii Ficini Opera, Basil. 1561. — L. Galeotti, Saggio intorno 
alla vita e agli seritti di M. Ficino (Archiv. stor. ital. N. Ser. IX 25—91; X 
4—55). 


Die italienifchen und deutſchen Humaniften des ausgehenden Mittelalterd. 491 


Der fleikige Bibliothefar Giovanni Tortello (F 1466), der Dante: 
erflärer Eriftoforo Landino (1434—1504), der als lateinischer Gram— 
matifer und Gräziſt hervorragende Erzbiihof Niccolo Perotti (1430 
bis 1480), der vielfeitige Künftler und Kunſtſchriftſteller Leon Battifta 
Alberti (1404—1477), der ausgezeichnete Profefjor und Latinift Maffeo 
Begio (1406—1458), der gelehrte Topograph und Antiquar Flabio 
Biondo (1388—1463) waren ſämtlich gläubige, zum Teil jehr eifrige und 
gute Chriften!t., Ja aus der Reihe diefer Gelehrten find zwei zur höchſten 
Würde der Chriftenheit emporgeftiegen: Tommajo PBarentucelli als 
Nikolaus V. (1447—1455), Enea Silvio Piccolomini als Pius I. 
(1458 — 1464). 

Nitolaus V., vom armen Schulmeifter zu Sarzana erft zum Schreiber 
des Kardinal Albergati, dann zum Erzbiſchof von Bologna, endlid zum 
Papſt erhoben, hat das durh das Avenionenfiſche Exil vermwüftete und 
heruntergefommene Rom wieder zur herrlihen Hauptftadt der Chriftenheit, 
zur merkwürdigſten Sunftmetropole der Welt gemadt. Die Gelehrten, 
welche er um ſich jammelte, haben feine großen Werke zu ftande gebracht; 
doch duch ihr Mitwirken ward die Handihriftenfammlung des Papftes, 
die Vatikaniſche Bibliothek, zur foftbarften aller Bücherfammlungen, zum 
lebendigen Mittelpunkt eines wiſſenſchaftlichen Strebens, das Bibelmifjen- 
ſchaft, Patriftit, pofitive und ſcholaſtiſche Theologie, Philofophie, Recht und 
Kirchenrecht, die humaniſtiſchen Fächer in grobartigfter Weife umfaßte und 
all diefen Zweigen vorab eine Eritifch genaue und gefiherte Grundlage zu 
geben juchte?, 

Enea Silvio de’ Piccolomini (geb. 1405), der Sprößling einer 
verarmten Adelsfamilie in Siena, verlegte ſich erſt in feiner Vaterftadt auf 
das Studium der Literatur und Boefie, trat dann in den Dienft des Kar— 
dinal® Gapranica, begleitete denjelben 1432 zum Konzil von Bajel und 
brachte die folgenden dreiundzwanzig Jahre in Deutſchland zu. Nur vor: 
übergehend kam er im Gefolge des Kardinal Albergati nah Arras und 
richtete Aufträge desſelben in Schottland aus, verfah dann mehrere Be- 
amtungen beim Basler Konzil, trat in die Kanzlei des Gegenpapites 
Felix V. und faßte für denfelben die wichtigſten Aktenftüde ab, ging 1442 
in den Dienjt des Kaiſers Friedrich III. über, der ihn in Frankfurt zum 
Dieter Frönte, trat in die faiferlihe Kanzlei, vermittelte zwifchen Eugen IV. 





! Commento di Crist, Landino sopra la commedia di Dante, Firenze 1481. — 
N. Perotti, Epist. ad I. Constantium de ratione stadiorum suorum (bei Mai, 
Classic. Auct. II). — Mapheus Vegius, Opuscula sacra (Magna bibl. Vet. 
Patr. XV), Colon. 1622. 

2 8. Pastor, Geſchichte ber Päpfte I®, 351—680. — E. Müntz etP. Fabre, 
La bibliothöque du Vatican au XV* siöcle, Paris 1887. 


492 Einundzwanzigftes Kapitel. 


und den deutſchen Fürften und brachte zwifchen denjelben (1448) ein Kon— 
fordat zu ftande, erhielt das Bistum Trieft, dann dasjenige von Siena, 
ward 1456 Kardinal, 1458 Bapft und regierte als Pius IL. die Gejamt- 
firhe bis zu feinem Todesjahre 1463. Cein bewegtes Leben gewährt einen 
tiefen Einblid in die firhliden Wirren, welche es ermöglichten, daß neben 
Theologen und Juriſten auch die federgewandten Humaniften eine jo große 
Rolle fpielen konnten. Weder an dem lodern Literatenleben, an dem er 
ih noch als Laie, wie einft Petrarca zu Avignon, beteiligte, noch an jeinen 
nit minder lodern Gedichten, Novellen und Komödien, die er verfahte, 
wurde Anſtoß genommen. Auch feine Haltung auf dem Basler Konzil 
gewinnt duch die Zeitverhältniffe eine Erklärung, welche mande herbe 
Ürteile über ihn zum Schweigen bringt. Nachdem er 1445 Prieſter ge- 
worden, ſchlug er im perfönlicher wie firdhenpolitiicher Hinficht eine durchaus 
tadelfreie Richtung ein. Er ftreifte die leichtfertigen Auswüchje des damaligen 
Literatentumsd gründlid ab, ohne indes das Intereffe an den humaniſtiſchen 
Studien aufzugeben. Noch als Papſt erweiterte er fein geographiidhes 
Werk über Europa zu einer großen allgemeinen Kosmographie, von der 
indes nur nod) der Zeil über Alien zu ftande fam, und verfaßte Memoiren 
über fein Pontifilat mit einem einleitenden Abriß feines früheren Lebens 1, 

Auch im übrigen Jtalien tritt der Humanismus durchaus nicht als 
Abfall vom Autoritätsglauben, Oppofition gegen die Kirche, feindjelige 
Richtung gegen das Ordensleben auf. Antonio Loschi (1370—1450), 
der lange in Mailand, Berona und Neapel, zulegt in Rom lebte, war der 
Kirche ganz ergeben und erwarb ſich ein befonderes Verdienft dadurch, daß er 
ein Formelbuch für den Epiftolarverkehr der römischen Kurie verfahte. Wie 
er waren auch Gasparino da Barzizza (1370—1431) und deffen 
Sohn Guiniforte (1406—1459), in Padua, Venedig und Mailand 
tätig, Antonio da Rho in Mailand und Pier Candido Decembrio 
(1399 —1477), der gelehrte Präfident der mailändifhen Republit, chriſtlich 
gefinnte Männer. Bittorino da Yeltre (1378—1446), der angejehene 
Lehrer und Erzieher des Markgrafen von Gonzaga zu Mantua, führte, obwohl 
Laie, das ftrenge Leben eines Mönches und begann das täglide Studium 
nie ohne Anhörung der Meffe, lange Gebete und Bußübungen. Battifta 
Mantovano (1448—1516), Dichter am Hofe von Mantua, war zugleich 





! Aeneas Silvius, Opera, Basil. 1551; Historia Friderici III Impera- 
toris bei Kollar, Anal. monum. omnis aevi. Vindobonensia II, Vindob. 1762; 
De rebus Basileae gestis bei C. Fea, Pius II, Romae 1823; Pii II P. M. Com- 
mentarli rer. memorabil., Francof. 1614; Orationes politicae et eccl. (Ed. Mansi.) 
Lucae 1755. — G. Voigt, Enea Silvio de’ Piccolomini als Papft Pius II., Berlin 
1856—1863. — 2. Paftor, Geſchichte ber Päpfte I? 327 ff 475 ff 654; 1I®5 
bis 289. 


Die italienifhhen und deutſchen Humaniften bes ausgehenden Mittelalters. 493 


Mönd des Karmeliterordend, von 1513 an General dieſes Ordens, voll 
von Begeifterung für die fittlihe Reform der Kirche mie für die Unter: 
ordnung der humaniftiihen Studien unter die Höhere chriftlihe Bildung. 
Gleich Pittorino da Feltre war auh Battifta Guarino (1370—1460) 
ein ausgezeichneter, gewiſſenhafter Lehrer in yerrara und Verona, der mit 
innigfter Hochſchätzung des Altertums die eifrigfte kirchliche Gefinnung 
verband 1, 

Nur eine verhältnismäßig kleine Schar von Humaniften hat an dem 
altehrwürdigen Bande gerüttelt, da8 den Humanismus bis dahin mit der 
hriftlihen Bildung verband, und jo Anlaß gegeben, den Humanismus und 
die gejamte Renaiffance als eine Art Vorjpiel und Vorbereitung des Abfalls 
aufzufafien, der im 16. Jahrhundert das nördliche Europa von der Kirche 
losriß. Auch diefe wenigen haben fi indes von dem äußeren Verbande 
mit der Kirche keineswegs losgejagt, fondern ihr meift während des größten 
Teils ihrer Lebenszeit, wenigſtens aus zeitlihen Rückſichten, ald Beamte 
gedient und in ihren leichtfertigen Traltaten, Satiren, Pasquillen mehr 
einzelne kirchliche Perjönlichkeiten, KHörperfchaften und Vorkommniſſe als die 
firhlihen Inftitutionen oder Dogmen felbft angefochten. Es waren nicht 
ftolze, eigenfinnige Ketzernaturen, melde ihre Privatmeinungen bis aufs 
Mefler verteidigten und fi dafür verbrennen ließen, wie Hus und Hieronymus 
bon Prag, jondern höchſt bewegliche und oberflächliche Schöngeifter, welche, 
eines tieferen philofophiichen und theologiſchen Wiffens bar, ihre Mund» und 
Federgewandtheit grenzenlos überſchätzten, voll der aufgedunfenften Eitelkeit, 
im Schlamm der gröbften Lafter wateten und ſich frivol über alles luſtig 
machten, was fie an eine höhere Lebensauffaffung erinnerte. Da fie nur 
duch kirchliche Stellen und Pfründen die erwünfchte literariſche Muße und 
Einfluß erhofften, traten fie in den Dienft der Kirche, doch nur in unteren 
Graden, melde ihnen die Möglichkeit einer Ehe nicht verſchloſſen, lebten aber 
meift offen im SKontubinat und verrieten ihre Gemeinheit ebenjo offen in 
lasziven und unzüchtigen Schriften, verhöhnten die Mönche, welche fie deshalb 
angriffen, zankten aber aus Eiferfuht und Neid faft noch mehr untereinander 
und bewahrheiteten das alte Sprihwort: „Pad ſchlägt ih, Pad verträgt fi.“ 
Es findet ſich unter diefer Gruppe von Humaniften fein einziger Hochftehender 
Charakter, fein einziges irgendwie bahnbrechendes Genie. 





! A. de Luschis, Carmina quae supersunt, Patavii 1858. — G. Bar- 
zizius, Opera, Romae 1723. — P.C. Decembrius, Vita Philippi Mor. Vice- 
comitis bei Muratori, Seript. rer. ital. XX. — F. Prendilacque, Vita 
Vietorini Feltrensis, Patav. 1774, italienifh$ von Brambilla, Como 1871. — 
C. Rosmini, Idea dell’ ottimo precettore nella vita e disciplina di Vitt. da 
Feltre, Bassano 1801. — B. Mantuani opera omnia, Antverp. 1556. — 
B. Guarinus, De modo docendi et discendi, Argent. 1514. 


494 Einundzwanzigftes Kapitel. 


Sie galten indes als die beften lateinischen Stiliften, die gewandteſten 
Grammatiter, Rhetoren, Bücher: und Literaturfenner. Die Päpfte hielten 
es für ein geringeres Übel, diefe ihre Talente im Dienfte ihrer Kanzlei zu 
berwerten, als die jhimpfjeligften Streithähne von ganz Europa durch firenges 
Einjhreiten gegen die Kiche zu erbittern. Manches Böfe wurde jo ver- 
hindert, mandes Gute erreiht. Mit Nüdfiht auf das Geſamtwohl der 
Kirche wurden die ſchlimmen Eigenſchaften dieſer verlotterten Schöngeifter 
wenigitens zum Zeil unſchädlich gemacht, wenn aud ihre Frivolität und 
ihre Standale den weltlichen Ruhmesglanz der Renaifjancepäpfte mit be: 
denklichen Schattenzügen Yurdwoben haben. 

Der berühmtefte von ihnen, Poggio Bracciolini (1380— 1459), 
arbeitete fast ein halbes Jahrhundert im Dienfte der Päpfte, ſchrieb zahlloje 
Altenſtücke für fie, entriß Quintilian, Lucretius, Silius Jtalicus, Ammian 
Marcellin, wahrſcheinlich auch die erften Bücher des Zacitus jahrhunderte 
langer Vergeſſenheit, überjegte Lucian, Diodor Siculus, Xenophon; wenn er 
in feinem Skandalbuch der „Facetien“ ſich nod als Siebziger über Priefter 
und Mönde, Biihöfe und KHardinäle, aud über einzelne Päpfte luftig 
madte, jo Haben ſchon zu feinen Lebzeiten kirchlich-geſinnte Gelehrte und 
Literaturfreunde dieſe Schrift nicht ernfter genommen als jeine Schmäh— 
ihriften gegen Filelfo und Balla, in welchen er nad) Voigt „wie ein Gaſſen— 
bube mit den mwütendften Schmähungen und den niederträdtigiten Ber: 
leumdungen über feine Gegner herfällt“, und von welchen Billari jagt: „Ber: 
laffen wir diefes mit Kot erfüllte Gebiet!” Nachdem er jein ganzes Leben lang 
die Bettelmönde mit Schmuß beworfen, erlebte er e8 noch, daß einer jeiner 
Söhne Dominilaner ward; er felbjt wollte bei den Minoriten in ©. Eroce 
begraben werden, ftiftete jich bei ihnen hundert Seelenmeffen und eine eigene 
Kapelle. Es erfordert deshalb ungewöhnlih viel Geift, um in ihm eine 
leuchtende Fadel der nahenden modernen Aufklärung zu erbliden !. 

Auch die pornographiicen Gedichte, die Antonio Beccadelli, genannt 
Panormitano (1394—1471), in feinem Hermaphroditus um 1426 ver- 
öffentlichte, find nicht ald eine der Hauptoffenbarungen des Humanismus 
zu betrachten, jondern als Jugendſünden eines verfommenen Boeten, der 
etwa wie Byron durch feine Formgewandtheit mandem fonft anftändigen 
Literaturfreunde imponierte, aber von feiten ernfterer Kritifer die verdiente 
Abfertigung erhielt, ſpäter ein philifterhafter Hofhiftoriograph geworden und 
als Poet völlig vertrodnet ift. Sein obizönes Schandbud wurde übrigens 
ihon durch Eugen IV, unter Strafe der Erfommunilation verboten. Kardinal 





ı]J. F. Poggius (Braceiolini), Opera, Basil. 1538; Epistolae (ed. 
Th. de Tonellis) I, Florent. 1832; II 1859; III 1861; Historia populi Flo- 
rentini (Muratori, SS. XX); Dialogus contra hypocrisin (ed. E. Brown), 
Londini 1690; Historiae de varietate fortunae (ed. D. Georgius), Parisiis 1723. 


Die italienischen und deutichen Humaniften des ausgehenden Mittelalters. 495 


Gejarini, fonft ein eifriger Gönner der Renaiffance, vernichtete e&, wo er es 
nur traf. Leonardo Bruni und andere berühmte Humaniften verurteilten 
es ftrenge. Der Hi. Bernardin don Siena und Roberto von Lecce, die 
gefeiertften Prediger jener Zeit, warnten in den beredteften Worten davor 
und verbrannten es auf öffentlihem Plate. Konnte auch der Verbreitung 
desjelben nicht wirkſam gefteuert werden, jo hat fi der gemeine Dichter 
doch mwenigftens in Rom unmöglid gemadt '!. 

Am weiteſten ift wohl in ſchamloſer Erneuerung des Heidentums Lorenzo 
Balla (della Valle) gegangen (1407 zu Piacenza geboren, 1457 in Rom 
geftorben). In feinem Traftat De voluptate (1431) wagte er es geradezu, 
Ariftoteles wie Plato, Thomas wie Scotus beijeite zu jchieben und die Lehre 
Epikurs als die höchſte Errungenihaft der Philojophie, die Wolluft, wenn 
nicht ganz offen, doch verblümt als das höchſte Gut zu proffamieren. Das 
hat manden imponiert; man darf die Jahreszahlen aber denn doch nicht 
überſehen. Daß ein feder Klopffehter von 24 Jahren, der fich keineswegs 
des beften fittliden Rufes erfreute, jo philojophiert, ift Doch wohl jo auf: 
fallend nit; viel auffallender ift es, dab man diefe Mifgeburt, die Valla 
ſelbſt jhon 1433 bedeutend abzuändern ſich genötigt ſah, nebft feinen Streit- 
ſchriften: „Gegen die Konſtantiniſche Schentung“ (1440), „Über die Pro: 
fejfion der Religiofen”, „Gegen den Juriften Bartolus“, ebenfalld wieder 
zu einer der großartigften Offenbarungen der Renaiffance aufgebauſcht hat ?. 
Die Wahrheit ift, daß Balla mit diefen petulanten, fnabenhaften Angriffen 
auf die chriſtliche Wiſſenſchaft, die kirchliche Autorität und die Orden fid 
nur den Weg erfchwerte, feine wirklichen SKenntniffe auf dem Gebiete der 
Philologie allgemein nugbar zu machen. Auch feine „Elegantien der lateinischen 
Sprade“, in welchen er jeine große Gelehrfamkeit auf diefem Gebiete offen: 
barte, litten darunter, daß er in grenzenlofer Eitelteit alles allein wiffen wollte 
und geradezu erklärte, bis auf ihm habe noch niemand wahrhaft Haffiiches 
Latein gejchrieben. Trotz diefer lädherlihen Selbftüberhebung und Anmaßung 
des allwiffenden Kritifus, der Donat und Priscian wie Cicero und Livius, 
Plato und Ariftoteles über den Haufen werfen mollte, verfannten die ge: 
lehrteften Kardinäle jener Zeit, Beffarion und Eufa, nicht fein Talent nod) 
die ſprachwiſſenſchaftlichen Kenntniffe, die er befaß, und fuchten ihm die Wege 
zu ebnen, als er nad Rom fommen und in päpftliche Dienfte treten wollte ®. 





A. Beccatellius, Epistolae et Orationes, Venetiis 1553; De dictis et 
factis Alfonsi regis Aragonum (ed. D. Chytraeus), Wittenb. 1585. 

? „Ungeftraft hatte ber Kritiker die altehrwürdige Tradition angegriffen, der 
Grammatiter Die Theologen gemeiftert, der Hofdichter die Inquifition verhöhnt. Zum 
Ärger der Ketzermacher beihäftigte fi ber gelehrte Philologe nun gar mit dem 
Neuen Teſtament“ ujw. (Boigt, Die Wiederbelebung des Hajfischen Altertums I 475). 

® I. Valla, Opera, Basil. 1540; Opuscula tria (ed. Vahlen), in Sitzungs- 
berichte ber phil.-hiftor. Klaſſe der Wiener Atademie der Wiſſenſch. LXI LXII, Wien 1869. 


496 Einundzwanzigftes Kapitel. 


Denn nad all dem gewaltigen Lärm gegen die päpftlihe Macht ſchlich 
ih Valla nad Rom und dudte ſich und leiftete Abbitte und erklärte ſich zu 
jedem Widerruf bereit, ließ ſich als Striptor anftellen, ftieg unter Calixt II. 
fogar nod zum päpftlien Sefretär und Kanonikus der Laterankirche empor 
und ftarb als folder (1457) im Frieden mit der Kirche. 

Zu ftrengeren Mapregeln ſah fih Papft Paul II. gegen die Alademie 
des Pomponio Leto, des Platina und ihrer Freunde genötigt, welche 
in ihrer halbverrüdten Begeifterung für das Altertum fi als Heiden ſowohl 
wie als Verſchwörer gegen den Papft verbädtig machten. Die Strenge 
wirkte indes mwohltätig und brachte felbft die Rädelsführer zur Beſinnung, 
jo daß fie vom Verdacht der Ketzerei freigefprodhen, ihre Haft auf den päpft- 
lihen Palaft und bald auf Internierung in der Stadt Rom befchräntt 
wurde, Pomponio unter Sirtus IV. jeine Vorlefungen wieder aufnehmen 
fonnte und Platina (1481) als Bibliothelar der Baticana ftarb. 

ALS ftarrlöpfige Freigeifter werden eigentlih nur Codro Urceo (1446 
bis 1500), der in Bologna lehrte, und Carlo Marfuppini von Arezzo 
(Aretino, 1399—1463) erwähnt; von dem letzteren wird berichtet, daß 
er „ohne Beiht und Abendmahl, nicht wie ein guter Chriſt“ geftorben fei. 

So gern und jelbfigefällig fih die Humaniften „Poeten“ nannten und 
nennen ließen, jo wenig haben die meiften von ihnen auf dem Gebiete der 
Poeſie geleiſte. Wie ihre Projawerke, jo leiden auch ihre Gedichte an 
Phrajenhaftigkeit, Froftiger Nahahmung, ungeniegbarer Schmeichelei und jehr 
oft an widerwärtiger Lüfterndeit. 

Die größte Fruchtbarkeit entwidelte Francesco Filelfo, 1398 ge: 
boren, zu Padua gejhult, Hauslehrer in Venedig, fünf Jahre in Dieniten 
des Kaiſers Johannes VII. Paläologus zu Konftantinopel, dann mit der 
Tochter des gelehrten Manuel Chryſoloras vermählt, Lehrer der alten Spraden 
zu Venedig, Bologna, Florenz, Siena, Neapel, Mailand, zulegt wieder in 
Florenz, wo er 1481 ftarb. Nah dem Tode feiner zweiten Frau wäre 
er gern Kardinal getvorden; da dies aber nicht ging, heiratete er eine dritte. 
In Streitſchriften der bitterften Art befehdete er Niccoli, Marfuppini, vor 
alleın aber Boggio und die Mediceer, deren Schmeichler und Lobredner er aber 
zulegt ward, In einem Epos von bierundzwanzig Gejängen auf Francesco 
Sforza wollte er die Heldentaten dieſes Mailänder Fürftenhaufes befingen, 
machte aber die Ausführung von barer Bezahlung abhängig, und jo ſank es 
von ſechzehn auf zehn, zulegt auf acht Gefänge mit etwa 6400 Verſen herab, 
zu denen er jpäter noch drei weitere Gejänge fügte. Seine Satiren, dem 
König Alfonfo von Neapel gewidmet, umfaffen 10000 Berje, feine Oden 
(Carmina) in verjchiedenen Strophenmaßen ebenfoviel; nicht weniger feine 
Elegien und Epigramme (De iocis et seriis); endlich veröffentlichte er noch 
einen Band griechiſcher Gedichte mit 2400 Verjen. Der großen Leichtigkeit 


Die italienifhen und deutſchen Humaniften des ausgehenden Dkittelalterd. 497 


und Gewandtheit entjpricht der Gehalt, oft auch der Geihmad nicht. Ge: 
drudt wurde nur das Bud der Satiren!. 

In jungen Jahren faßte Maffeo Begio den fühnen Plan, zu 
Vergils „Aeneide“ ein dreizehntes Buch hinzuzudidhten, worin König Turnus 
feierlich begraben wurde, Aeneas mit Lavinia Hochzeit hielt und flarb. Da 
er fih ganz in Bergils Ideen, Sprade und Ton bineingelebt hatte, fand 
die Ausführung vielfadhen Beifall. In ähnlihem Stil bearbeitete er dann 
den „Tod des Aftyanar“ und in vier Büchern das „Goldene Vließ“. In 
vorgeſchrittenem Alter aber wandte er fih den „Vätern der Wüſte“ zu 
und bejang, ebenfalls in vier Büchern, das Leben des Hl. Antonius bis zum 
Begräbnis des Hl. Paulus. Einen glüdlihen Gedanken hatte der Ungar 
Sohannes von Ejezmicze, Janus Pannonius, 1434 geboren, im Haufe 
Guarinos zu Verona zum Latiniften und Gräziften herangebildet, ſchon mit 
fünfundzwanzig Jahren zum Bischof von Fünfkirchen ernannt, ein wirklich 
poetijher Kopf, mit vorzüglichem Yormtalent, der mehr zum Literaten als 
zum Bischof taugte: er wollte die Türkenkämpfe des älteren Hunyadi im 
einem Epos verherrlihen; aber nad dem Tode des Helden blieb die ge 
plante Dichtung leider fteden?. Die „Meleagris“, die „Argonautila“ und die 
„Heiperis“ des Homerverehrers Baſini find Verſuche im Stile der alten 
alerandriniihen Schulepif®. 

Zum eigentlihen Dramatiter bildete fich feiner der Humaniften aus, 
doch verſuchten fi mandhe gelegentlich in einem Trauerſpiel oder Luftjpiel. 
Beim Trauerjpiel nahmen fie ih Seneca zum Vorbild, wie ſchon Muffato in 
jeiner „Eccerinis“. So ſchrieb Loschi einen „Achilles“, Gregorio Eorraro eine 
„Progne“, und Leonardo Dati, ein armer Briefter in Florenz, einen „Hiempfal“ ; 
Anerkennung fand aber bloß die „Progne“ des Gorraro, die im Wechſel des 
Dialogs und der Chöre einen blühenden Reichtum der Sprache entfaltete. 

Für die Verfuche in der Komödie war bald Terentius maßgebend bald 
Plautus. Einen lehrhaften Anflug Hat der „Baulus“ des Pier Paolo Ber: 
gerio; burlesfer war der Lusus ebriorum (oder De lege Bibia) des 
Stadtſchreibers Secco Potentone von Padua. Biel Beifall ernteten die „Poly: 
rena” des Lionardo Bruni, eine joviale Liebestomödie, die nad) Terenz 
feiner gehaltene „Philodoris“ des Leon Battifta degli Alberti und die nad 
Plautus gearbeitete „Filogenia“ des Ugolino Piſani. Erwähnt wird aud) 
eine „Chriſis“ des Enea Silvio und eine „Afrodifia” des Decembrio. Biel 


ı F, Philelphus, Epistolarum familiarium libri XXXVII, Venetiis 1502; 
Cent-dix lettres grecques (publ. par E. Legrand), Paris 1892; Orationes cum 
aliis opusculis, Venet. 1492; Satyrarum Decades X, Venet. 1502; Convivia 
Mediolensia, Spiris 1508. 

® Janus Pannonius, Poemata. Opuscula, Traiecti ad Rhenum 1784. 

® Basinius, Opera praestantiora, Arimini 1794. 

Baumgartner, Weltliteratur. IV, 3. u. 4. Aufl. 32 


498 Einundzwanzigftes Stapitel, 


gefündigt wurde von den Humaniften aber auf dem Gebiete der eigentlichen 
Bote nicht blo durch Beccadelli und Poggio, fondern aud durch Lionardo 
Bruni, Filelfo und viele andere. 

Die ausgedehntefte Maffenproduftion fand auf dem Gebiete der Elegie 
und des Epigramms ftatt. Hier treffen wir die meiften der Genannten 
wieder: Filelfo, Loshi, Maffeo Begio, Enea Silvio, Corraro, Bafinio 
Bafini, Janus Pannonius, dann aud die beiden Guarino, Vater und Sohn, 
Agapito Eenci de’ Ruftici, Aurifpa, Marjuppini. So viel dichterifchen Geift 
auch dieje Männer bejaßen, ift es doch den meiften nur jelten geglüdt, fich 
aus der Yormaliftif der mühjam erlernten Schuliprade und der Nachahmung 
zu eigenartiger Geftaltung durdhzuarbeiten. Heiden und alte Römer waren 
fie nun einmal nicht; neue Formen und Wendungen fonnten fie faum bringen, 
wenn fie nicht das höchſte Lob der KHlaffizität verfcherzen oder gefährden 
wollten, und jo lejen ſich ihre elegijchen und epigrammatischen Diftichen meift 
wie ein Nahhall einer fremden, längft überwundenen Zeit. 

Dennoch find all diefe Leiftungen durchaus nicht geringſchätzig abzu— 
weilen. Sie haben mädtig dazu beigetragen, das halb oder ganz erlofchene 
Intereffe für die altklaffiiche Literatur wieder zu erweden, den Sinn für 
poetiihe Formſchönheit neu zu beleben, durch praltiſche Kenntnis der Alten 
jomohl der Lateinischen wiſſenſchaftlichen Literatur als den aufblühenden 
Nationalliteraturen einen neuen Aufſchwung, muftergültige Normen und 
einen weiteren Horizont zu verleihen. Während die Humaniften viel von 
fi) reden zu machen wußten, oft bevor fie noch ihre Werke vollftändig zu 
Papier gebracht hatten, ift ein Dichter ziemlih unbeadhtet geblieben, der in 
Bezug auf die Haffiichen Studien nod den älteren Anſchauungen des Mittel: 
alters Huldigte. Es ift Johannes Gerjon (Eharlier)!, der durch Wiſſen— 
ihaft und Frömmigkeit gleich ausgezeichnete Kanzler der Univerfität Paris 
und deren Vertreter auf dem Konzil zu Konftanz (geb. 1363, geft. 1429). 
Gleich Nikolaus von Elemanges (Glamengis), der damals als der 
würdigfte Repräjentant der klaſſiſchen Studien in Frankreich galt?, war er 
mit den alten Slaffifern in weitem Umfang und jehr gründlich vertraut, 


1I. Gersonius, Opera omnia (ed. L. E. Du Pin), 5 Bde 2°, Antverp. 
1706. — J. B. Schwab, Johannes Gerjon, Profeffor der Theologie und Kanzler 
ber Univerfität Paris, Würzburg 1858. über feine literarifhen Stubien vgl. ebd. 
Taf 8741 758 ff. — P. Feret, La Facult6 de Theologie de Paris IV, Paris 
1897, 223—273. 

2 Nicolaus de Clemangiis, Opera omnia (ed. Lydius), Lugd. Bat. 1613. 
— Durch Nikolaus de Elamengis nahmen die humaniſtiſchen und rhetorifchen Studien 
auch an der Univerfität von Paris, allerdings nur für kurze Zeit, einen fehr erfreu- 
lichen Aufſchwung; doch blieben die franzöſiſchen Humaniften weit hinter ben italie- 
nifchen zurüd. Vgl. H. Denifle O.Pr., Chartularium Universitatis Parisiensis 
III, Paris. 1894, Introductio x f. 


Die italienifhen und deutſchen Humaniften deö ausgehenden Mittelalters. 499 


hegte aber für diefelben nicht jene überſchwengliche Begeifterung, an welcher 
Petrarca krankte, fondern ordnete fie den Höheren religiöjen Zielen und dem 
theologiihen Wiſſen unter. 
Sit procul ethnica, 
Mendax musa strepat his quibus est Venus 
Aut Mars deliciae, vanaque numina, 
Noster solus amor lesus, ! 


jagt er in einem Gedichte kurz dor jeinem Tode. Das mar fein literarischer 
Standpunkt. Außer einer Anzahl Eleinerer Gedichte hat er auch eine Epopöe 
in zwölf Gejängen hinterlaffen, welde den Zitel „Joſephina“ führt. Sie 
ift in den Eingangsverjen dem heiligen Nährvater des Erlöſers gewidmet, 
ſchließt ſich aber ſachlich, gleich einer ähnlichen Dichtung Hroswithas, an die 
apofryphen Legenden des fog. Jalobusevangeliums an. Während ji indes 
die Nonne von Ganderöheim begnügte, die gegebene Profaerzählung ſchlicht 
und einfah in Verſe umzujegen, hat der gefeierte Theologe und Myſtiker 
die einzelnen Züge derjelben mit tieferer Beihauung durchdrungen und zum 
Ausdrud der großen Geheimniffe der Menſchwerdung geftaltet, gewiſſer— 
maßen der jeligfien Jungfrau nadeifernd, von der er fingt: 
Virgo divinius intrat 

Mentis in arcanum, sustollit seque super se, 

Alta super rapitur, caelos super evolat omnes; 

Cuncta creata silent, fruitur caligine diva; 

Nullum interturbat tantam phantasma quietem; 

Excedit mens acta Deo, loquiturque silenter 

Intus ?, 


„Man fühlt”, jagt Saint:Marc Girardin von der lieblihen Dichtung, 
„daß die Kriftlihe Epopde hier nicht eine bloß literarijche Arbeit und ein 
Traum der Phantafie ift; fie ift ein Werk des Glaubens und der Andadt; 
der Dichter widmet fie weniger den Menjhen, um bewundert zu werben, 
als Gott, um zum ewigen Seile zu gelangen.“ 3 

Da Gerjon, durch feinen Freimut dem Herzog von Burgund verhaßt 
geworden, nad dem Schluſſe des Konzild (1418) nicht nah Paris zurüd- 
fehren fonnte, verfaßte er auf dem Schloffe Rattenberg, das ihm der Herzog 
von Bayern als Zufludtsftätte angewieſen hatte, ein Seitenftüd zu dem 
Troftbüchlein des Boöthius, das ihm ſchon von Jugend auf als Mufter der 
Dihtung vorgeſchwebt hatte: „Vier Bücher vom Trofte der Theologie“, ein 
höchſt interefjantes Gegenftüd zu den Betradhtungen, womit der alte Betrarca 
fi tröftete. Trotz der freundlihen Aufnahme, welche ihm Herzog Friedrich 


! Gerson, Opp. IV 540. » Ebd. IV 743 f. 
> Saint-Marc Girardin, De l’6popee chretienne depuis les premiers 
temps jusqu’a Klopstock (Revue des Deux Mondes III [1849] 646). Dal. 642 ff. 
32* 


500 Einundzwanzigftes Kapitel. 


von Ofterreih aud in Wien gewährte, empfand Gerſon doch tief die eigene 
Verbannung und all das Leid, das der Herjog von Burgund über feine 
Freunde in Paris verhängte. So Hagt er in einem Gedichte von Wien aus: 


Heu pietas, heu prisca fides, coguntur alumni 
Francigenae montes exiliumque pati, 
Summe Deus, pro lege tua, quam sub decachordo 
Mentibus impressam scribis et in tabulis. 
O quot theologi, quot pontifices periere 
Carcere quos clausos dira necat rabies. 
Effugit altera pars alienis incola terris 
Tutior exilio sed spoliata bonis. 
Inter quos unus, qui cancellarius almi 
Parisiis studii est, cedit et advena fit. 
Austria tu felix, felix studiosa Vienna 
Dux quibus est talis traditus in regimen, 
Zelo qui fidei fervens ob eum fugitivo 
Huie miserans offert ultro refrigerium, 
Assignatque locum cum libertate suique 
Patribus egregii commoda collegii. 
Sis sua magna lesu merces, pro cuius honore 
Doctorem reeipit discipulumque tuum !. 


Im Gegenfab zu den oft jo unmürbigen Schmeicdheleien und Speichel: 
ledereien der Humaniften fpricht Hier die fchlichtefte Fromme Dankbarkeit. 
Seine innige Frömmigkeit war es vor allem, welche jo viele veranlaßt hat, 
Gerfon für den Verfaſſer der „Nachfolge Chriſti“ zu halten. ft dies auch 
nicht der Fall, jo ragt er doch durch feine dogmatiſchen, moraliiden und 
fichenrechtlihen Werte, bejonder8 aber duch feine myftiichen Schriften hoch 
über den Schwarm der damaligen Schönredner hinaus, welche über der 
glatten Form nur allzuoft des wahren und dhriftlihen Gehalts vergaßen. 

Zu bedauern bleibt indes, daß Gerjon die ſchöne Form nicht höher 
angeihlagen und die Hafliihen Studien nicht höher geihäßt hat. Indem 
zahlreiche Vertreter der Theologie und Philofophie feinem Beifpiel folgten, 
trennte und entfernte fi der Humanismus immer mehr von den höheren 
Studien. Der naturgemäße eigentlihe Charakter der Bildung loderte und 
löſte ſich. Scholaftif und Humanismus wurden aus harmoniſchen Ver— 
bündeten immer mehr zu zwei ſich gegenfeitig befehdenden Mächten. 

Nah Deutſchland verpflanzten ſich die erften Keime des italieniichen 
Humanismus duch Petrarca, welcher 1356 als Gejandter der PVisconti 
zu Kaiſer Karl IV. nad Prag kam und dafelbft die liebenswürdigfte Auf: 
nahme genoß. Er blieb fortan mit dem Kaiſer jelbft wie mit deffen Kanzler 
Johann von Neumarkt in brieflihem Verkehr und regte den Iebteren nicht 


! Gerson, Opp. IV 527. 


Die italienischen und deutſchen Humaniften des ausgehenden Mittelalters. 501 


nur zur Pflege lateinischer Rhetorik, ſondern aud zu Verſuchen in lateiniſcher 
Berfififation an. Das Konzil von Konftanz bradte Poggio nad Süd: 
deutſchland, mo er zahlreiche Bibliothefen durchſtöberte, um alte Klaſſiker— 
bandjchriften aufzufinden. In Konftanz ward Kaiſer Sigismund mit dem 
Humaniften Pier Paolo Bergerio befannt und nahm ihn mit nad Prag, 
two derjelbe Arrian überjegte. Auf dem Konzil zu Bafel verbreitete Enea 
Silvio das Intereſſe für Humaniftifhe Studien, noch wichtiger aber ward 
jein Einfluß in diefer Hinficht, als er 1442 in die Reichäfanzlei des Kaiſers 
Friedrich III. trat. Manche junge Talente jchlofjen fich Hier ihm an; er 
fand aber auch zahlreiche Gegner, unter welchen der papftfeindlihe Gregor 
Heimburg hervorragt. Auch diefer war humaniſtiſch gebildet, gab aber 
mehr auf reelles Willen und Gehalt, als auf „tullianifhe Eloquenz oder 
die Redeblümchen Quintilians“!, und ließ fid) durch feine kirchenpolitiſche 
Abneigung auch zu jchroffer und ungerechter Beurteilung des Humanismus 
hinreißen. Liebensmwürdiger als in diefem troßigen und herausfordernden 
Juriften zeigte fich die deutfche Eigenart in dem gelehrten Kardinal Nilolaus 
bon Eue3, der mit einem theologifhen, philofophiihen und naturwiffen- 
ihaftlihen Wiffen von großartigfter Bieljeitigfeit auch die tüchtigſte Schulung 
in den Haffiihen Spraden verband und als jpradhgewandter Unterhändler 
in Konftantinopel jelbft die Vereinigung der Griechen mit der Kirche betreiben 
fonnte, einer der merfwürdigften Männer jener gefamten Epode?. „Eufa 
war”, wie Tritheim von ihm jagt, „ein Mann des Glaubens und der Liebe, 
ein Apoftel der Frömmigkeit und der Wiflenihaft. Sein Geift umfaßte 
alle Gebiete des menjhlihen Wiſſens, aber all fein Willen ging von Gott 
aus und hatte fein anderes Ziel ald die Verherrlihung Gottes und Die 
Erbauung und Beſſerung des Menfchen.“ Erſt 1448 mit dem Kardinals— 
purpur geihmüdt, ift Cuſa ſchon 1454 geftorben. Der Geilt, in welchem 
er die Studien betrieb, lebte unter zahlreichen Gelehrten weiter, namentlich in 
den von Gerhard Groot (1340—1384) geftifteten „Brüdern de3 gemeinfamen 
Lebens“ und in der 1395 gegründeten Windesheimer Kongregration. An der 
Schule zu Deventer hatte Cuſa jelbft einft feine erfte Begeifterung für bie 
Haffiihen Studien geſchöpft. Aus der Schule zu Zwolle gingen die tüchtigen 
Humaniften Rudolf Agricola (Huysmann, 1445—1485), Alerander 


! Voigt, Die Wiederbelebung bes Haffifhen Altertums II 288. 

® N. Cusanus, Opera (ed. Faber Stapulensis), Paris. 1514; ed. 
Petri, Basil. 1565. — 5. A. Sharpff, Des Kardinals und Biſchofs N. v. €. 
wichtigfte Schriften im deutjcher Überfekung, Freiburg 1862; Der Kardinal und 
Biſchof N. v. C. Mainz 1843. 

> Trithemii De vera studiorum ratione, Fol. 2. — Bgl. Paftor, Ge 
Ihichte der Päpfte I? 472—474. — Janſſen, Geſchichte des deutichen Volkes 1" = 18 
4—6. — Geiger, Renaiffance und Humanismus 332. 


502 Einundzwanzigftes Kapitel. 


Hegius (1433—1498), Rudolf von Langen (1438—1519), Moriß 
bon Spiegelberg (geft. 1485) und Ludwig Dringenberg, um 1450 
als Magifter nah Schlettftabt berufen, hervor. Demjelben Ktreiſe gehörten 
auh Jakob Wimpheling von Sclettftadt (geb. 1450) und Joh. Mur: 
mellius von Roermond (1480—1517) an. 

In diefem echt chriſtlichen Humaniftenfreife entjproßte um die Mitte des 
15. Jahrhunderts die legte herrliche Blüte mittelalterliher Myſtik, das Büchlein 
„Bon der Nachfolge Ehrifti“ des Thomas (Hemerfen) von Kempen (1380 
bis 1471). Das naive Deutih-Latein, in welchem es gejchrieben, ſcheint 
aller humaniſtiſchen Schönrederei jpotten zu wollen, es Hingt wie der dia: 
metrale Gegenjat der Schriftjtellereitelteit, welde die Schriften eines Poggio 
und feiner Zunftgenoffen durchweht; doch tatjählih hat diefer tiefreligiöfe 
Geift die tüchtigften, einfihtigften Pädagogen des ausgehenden Mittelalters 
herangezogen ?. 

Unter dem Einfluß des Enea Silvio ftanden die Öfterreihiidhen Juriſten 
Hartung von Kappel, Ulrih Riederer und Ulrih Sonnen: 
berg, ebenjo der Geſchichtſchreibee Johann Hinderbad, Biſchof von 
Trient. Georg Peuerbach, der große Mathematifer und Aſtronom, 
wohnte zu Rom im Haufe des Kardinal® Cuſa; nad feiner Rüdkehr hielt 
er (1454 und 1460) Borlefungen über Bergil, Juvenal und Horaz. Sein 
Schüler Johann Müller von Königsberg (Regiomontan) las über 
Vergils Bucolica, Zerentius und Ciceros Buch De senectute. Als der 
Augsburger Bürgermeifter Sigismund Goſſembrot (um 1458) ſich 
allzujehr von der italiſchen Woetenherrlichkeit einnehmen ließ und fogar dem 
verlotterten Peter Quder unverdiente Sympathie ſchenkte, wahrte der Theologe 


!R. Agricola, Opera, Colon. Agripp. 1539. — A. Hegius, Opuscula, 
Daventriae 1503. — 9. Parmet, Rubolf von Langen, Leben und gef. Gedichte, 
Meünfter 1869. — 3. Anepper, Jakob Wimpheling, fein Leben und jeine Werte, 
Freiburg i. Br. 1902. — D. Reidhling, Joh. Murmellius, jein Leben und feine 
Werke, Freiburg 1880; Ausgewählte Gedichte und überſetzungen, ebd. 1881. 

® Auch der gottfelige Thomas vonKempen hat es nicht geicheut, Verfe zu 
machen, bie allerdings von jenen ber Humaniften weit abftehen. Es find fromme 
Sinnſprüche und Nachklänge aus der Firdlihen Hymnif, Siehe Thomae Mal- 
leoli aKempis Opera omnia (ed. H.Somalius S.J.). Ed. V*, Duaci 1635, 
802—821. — Thomae Hemerken a Kempis Opera omnia (ed. M. J. Pohl) II IILV. 
Friburg. 1904. — Ein tiefpoetifhes Gemüt verrät Dionyfius der Kartäufer in 
feiner Abhandlung De venustate mundi, in welder Zödler (Studien und Kritiken 
1881, Heft 4, S. 648) ben Verfaffer als einen Vorläufer der modernen Äüſthetik be- 
grüßt. Die in älteren Verzeichniffen erwähnten Carmina find bis auf eines ver— 
loren; aber die als Profa gebrudte Abhandlung De laudibus superlaudabilis Dei 
hat fich als ein wirkliches Gedicht von 1950 Strophen herausgeftellt. Vgl. D. A. Diougel, 
Dionyfius der Karthäufer (Aus dem Franzöfifhen), Mühlheim a. d. Nuhr 1898, 35. 
— Dionysii Carthusiani Opera omnia, Monstrolii 1896 f. 


Die italienifhen und deutſchen Humaniften des ausgehenden Mittelalters. 508 


Konrad Säldner, der einft ſelbſt zu Wien alte NKlaffiter erklärt 
hatte, gegen ihn den maßbollen Standpunft des älteren Humanismus, nicht 
ohne überflüffige Seitenhiebe gegen Enea Silvio, der um diefelbe Zeit 
Papft wurde und als folder das frühere Übermaß feiner Klaffiterbegeifterung 
jelber dämpfte. 

Diefen gediegenen Männern, bei melden fich die klaſſiſche Bildung 
im alten Sinn und Geift der Kirche der chriſtlichen unterordnete, fteht 
eine verhältnismäßig Heine Zahl von „Poeten“ gegenüber, welche von diefer 
normalen Ordnung ganz oder teilweiſe abgekommen war und in einjeitigem 
Treiben jowohl den guten Geſchmack als Religion und Sitte gefährdete. 
Am Schroffften ftellt fich der Gegenjat in dem literariichen Abenteurer Peter 
Luder aus Kißlau dar, der ald armer Student in Heidelberg nicht über 
den Kurs der Logik und Dialektif hinaus gelangte, bettelnd nad Rom kam, 
bon dort vertrieben, nad Illhrien, Albanien, Macedonien, Kleinafien ver: 
ihlagen ward, al Bettelftudent dann Italien durchzog und ſich auf Poefie, 
Rhetorit und Medizin verlegte, darauf fi) ala Lehrer der Poeſie an den 
Univerfitäten Heidelberg, Erfurt und Leipzig herumtrieb, wieder nad Padua 
zurückkehrte, in Bafel auftauchte und endlich in Öfterreich verbuftete, überall 
den Leumund eines unfittlihen Menſchen und eines zudringlichen Bettlers 
zurüdlaffend. Ein ähnlicher, noch armfeligerer Lump als diefer „erfte deutſche 
Poet“ war der VBagabund Samuel Karoch von Lichtenberg, der an 
mehreren Univerfitäten, zulegt in Ingolſtadt (1472), die unflätigften Verſe 
erklärte, ji nirgends lang halten konnte und ſchließlich ebenfalls verſcholl. 

Nicht unberührt von den Schattenfeiten des italienischen Humanismus 
blieben Heinrih Sterder und Hartmann Scedel, die beide 1462 
die Zerenz-Vorlejungen des Peter Luder in Leipzig hörten. Schedel jammelte 
jpäter mit unerſchöpflichem Eifer nit nur Schriften Ciceros und Ovids, 
fondern aud die humaniftiiche Modeliteratur feiner Zeit. Einem Teicht- 
finnigen Humanismus Huldigten ebenfalls Lauren; Blumenau und 
Nikolaus von Weil, erft Schulmeifter zu Zürich, dann Ratſchreiber 
in Nürnberg, 1449 Stadtſchreiber in Ehlingen, endlih von 1469—1479 
Kanzler des Grafen Ulrih von Württemberg. 

Die Gemeinjamfeit der lateinischen Sprade und Bildung hatte den 
großen Vorteil, daß ſich nicht bloß die germanischen und romanischen Völker 
an dem Aufblühen des Humanismus beteiligen konnten. Schon Dante und 
Petrarca intereffierten fich für die edle ungariihe Nation. Ungariſche Stu: 
denten bejuchten die Hochſchulen zu Padua, Ferrara, Bologna. Johann Witez 
bon Zredna verpflanzte die Begeifterung für humaniftiihe Studien an den 
Hof des Johann von Hunyad und zog ſelbſt als Biſchof von Wardein und 
jpäter als Erzbiſchof von Gran zahlreiche Gelehrte, unter ihnen Peter Paul 
Vergerio, in feine Nähe. Sein Neffe Johann von Scemicze metteiferte ala 


504 Einundzwanzigftes Kapitel. 


Janus Pannonius mit den italienifhen Dichtern. Die reihe Bibliothel des 
Erzbiſchofs regte aud) König Matthias Corbinus (1458 — 1483) zu ähnlichen 
Beftrebungen an, und da der König an Freigebigkeit nicht Hinter den kunſt— 
liebenden Fürſten Italiens zurüdftand, gelangten die Corviniſche Bibliothef 
und der Mujenhof von Dfen bald zu einem Weltrufe!, 

Ein ähnliches Kunſt- und Literaturpatronat übte in Polen? der erfte 
Prälat des Landes, Shignew Dlesnidy, Kardinalerzbiihof von Krakau, 
während jein Sekretär Johannes Diugosz die Geihichte Polens in alt- 
klaſſiſchem Latein jchrieb und Gregor von Sanof an der Univerfität Krakau 
Bergil, Plautus und Juvenal erklärte, auch felbft lateiniihe Epitaphien und 
eine Komödie dichtete, 





1W. Fraknöi, Mathias Corvinus, König von Ungarn, Freiburg i. B. 
1891, 290-802. 
* Boigt, Die Wiederbelebung bes Elaffifhen Altertums II 327—330. 


Drittes Bil. 


Die byzantinifhe Literatur. 


Erftes Kapitel, 
Die byzantinifhe Yrofaliteratur. 


Ars Organ der helleniſchen Poefie und Philofophie, als internationale 
Verkehrsſprache zwiſchen Orient und Occident hat die griechiſche Sprache 
die zwei ſchönſten Aufgaben erfüllt, welche bis dahin einer Sprache be- 
jhieden waren: die Verbreitung der höchften antiken Kultur und die erfte 
Verbreitung des Chriftentums über alle Länder des altrömiſchen Weltreichs 
biß tief in den Orient hinein. Auf Grundlage und nad dem Vorbild 
der chriſtlich-griechiſchen Literatur ift die chriſtlich-lateiniſche emporgewachſen 
und hat ſich faſt gleichzeitig und in innigfter Lebensgemeinſchaft mit ihr zur 
höchſten Blüte entfaltet. Nachdem indes das römiſche Reich zertrümmert 
war, germaniihe Völfer die Herrſchaft des Abendlandes an ſich gerifjen 
hatten, die Kirche zunächſt vor die Riefenaufgabe geftellt war, diefen neuen 
Völlern die Schäße der lateinisch:hriftlihen Bildung zu übermitteln und jie 
zu Hriftlihen Nationen heranzuziehen, Macht und Einfluß der oſtrömiſchen 
Kaiſer vollftändig aus dem Abendlande verdrängt worden waren, mußte 
naturnotwendig aud) das Band ſich lodern, das bis dahin griechiſche und 
lateinifhe Bildung zuſammenhielt. 

Die Kenntnis der griehiihen Sprade nahm in den Ländern des 
Weſtens raſch ab. Die Griehen vernadläffigten das Lateinische und begannen 
ed zu beradhten!., In den Wirren der Völkerwanderung wurde es den 
Lateinern Schon ſchwer, den Bildungsihab zu retten, den ihre großen Väter 
und Kirchenſchriftſteller aufgejpeichert hatten. Was Hilarius, Ambrofiug, 


In der älteren Zeit blieb das Lateiniſche zu Byzanz noch für manche offizielle 
Alte vorgefährieben, jo für richterliche Urteile: decreta a praetoribus latine interponi 
debent (L. 43 de re iudicata [Dig. 42, 1]). Zur Zeit des Photius bezeichnet Kaifer 
Michael III. dagegen bas Latein als eine barbarifche und ſtythiſche Sprache, wogegen 
Papft Nikolaus I. es verteidigt und unter anderem jagt, daß an ben hödften Feſt— 
tagen zu Byzanz einige Teile der Liturgie in lateinifher Spradhe vorgetragen würden 
(Migne, Patr, lat. CXIX 932). Umgefehrt wurde auch im Abendlanbe mitunter 
das Evangelium griechiſch verlefen (Zeitichrift für kath. Theologie XII, Innsbrud 
1889, 359). — Gregor I. Hagt, daß er keine guten Überſetzer griechiſcher Bücher 
babe (Epist. X 21 [Monum. Germ. Epistulae II 258]). — Steinader, Die römiſche 
Kirche und die griechiſchen Sprachkenntniſſe im Frühmittelalter in Feftihrift, Th. Gom- 
perz dbargebradt, Wien 1902, 324—341. 


508 Erftes Kapitel. 


Hieronymus, Auguftinus und Leo d. Gr. boten, ftand Hinter den Leiftungen 
der griehiichen Kirchenpäter nicht zurüd. Der Primat des Biſchofs von 
Rom verlieh der lateinifhen Theologie ein entjcheidendes Übergewicht, der 
lateinifhen Bildung Die begünftigte Stellung. In den religiöfen und kirch— 
lichen Streitigteiten des Abendlandes war den Patriarchen des Orients fein 
entjcheidendes Wort gewährt, während die Päpfte den lebten jchiedsrichter- 
lichen Entſcheid in allen wichtigen Fragen, auch des Orients, beſaßen. Wie 
in Bezug auf die Theologie, jo machte fih das Abendland aud in Bezug 
auf das kirchliche Recht, die Liturgie, das Ordensleben, Kunft und Sitte 
nah und nad) felbjtändiger und unabhängiger vom Orient. Die Römer, 
Franken, Weftgoten, Angelſachſen, Iren hatten ihre eigenen Heiligen, Feſte, 
Orden, Klöſter, kirchlichen Gebräude, von denjelben Jdeen und Grundjähen 
geleitet, aber vielfad abweichend von den Formen der Griechen. Unter den 
neuen Völfern waltete ein gewiſſer Geift der freiheit, der korporativen Selb: 
fändigkeit, der Beweglichkeit vor; in dem griechiſchen Kaifertum und der 
griechifchen Kirche ſetzten fich fefte Überlieferungen von Jahrhunderten allen 
Umgeftaltungen entgegen; unter der Einheit der cäjariftiihen Macht ge 
wannen Patriarchen und Biſchöfe nie jenen felbftändigen Einfluß, deſſen ſich 
die großen Kirchenhirten der Germanen erfreuten. Aus all diefen Verfchieden- 
heiten und Gegenfäßen mußte allmählich ein gewiffer Antagonismus zwiſchen 
Lateinern und Griehen erwachſen. Verfhärft wurde derjelbe durch die 
Herrihjuht der Kaiſer, melde den Abfall des Abendlandes nicht ver: 
Schmerzen konnten, und dur die Eiferfudht der Vatriarhen von Son: 
ftantinopel auf die Weltftellung des römiſchen Papites. 

Troß aller Bemühungen der Päpfte, die kirchliche Gemeinihaft nicht 
nur aufrecht zu erhalten, jondern auch neu zu beleben, jchlofjen ſich die 
Griechen immer mehr gegen das Abendland ab. „Die lateinifhe Theologie 
blieb für Byzanz ein verfiegeltes Bud, und der größte Theologe des Abend: 
landes, Auguftinus, hat dort niemals feften Fuß gefaßt.” Erſt im 14. Jahr: 
Hundert fing man an, ihn zu überſetzen, als e& viel zu fpät war, ihm eine 
tiefere Einwirkung zu gewähren. 

So hat fih die griehiihe Welt vom 5. Jahrhundert an zujehends 
ioliert und allmählich jenes Wejen herausgebildet, das man „Byzantinismus“ 
zu nennen pflegt. 

Der Name ift längft zum vielgebraudhten Spott: und Schimpfwort 
geworden; man darf fi aber dadurd nicht abhalten laffen, die verjchiedenen 
Elemente, welche der „Byzantinismus“ — wenigſtens in Bezug auf die 
Literatur — einjhließt, forgfältig zu unterfcheiden und das Gute daran 
verdientermaßen anzuerfennen. 

Wie die byzantiniihe Baukunſt eine großartige Weiterbildung der 
griechiſch⸗römiſchen zu chriſtlich-kirchlichen Zweden bedeutet, jo ift auch die 


Die byzantiniſche Profaliteratur. 509 


byzantiniſche Literatur in ihren erften Jahrhunderten nur die Yortjegung 
der altchriftlihen und patriftifhen Literatur der Griechen, eine Vermählung 
der criftlihen Ideen mit den Spradmitteln und Stilformen der älteren 
helleniſchen Literatur. Niemand wird feine Bewunderung der Agia Sophia, 
der Kirche San Vitale zu Ravenna, dem Vorbild des Aachener Oltogons, 
nod den herrlichen Bauten verfagen, mit welchen der pradhtliebende Juftinian 
die Städte Griechenlands und Syrien! gefjhmüdt hat. Mögen die feier: 
lihen Mofaiten auf ihrem Goldgrund uns fteif und ſtarr erſcheinen, fie 
ftehen in vollendeter Harmonie zu den Bauwerken, melde fie jhmüden, und 
zu dem ernften liturgischen Zwed, dem fie dienen jollten; fie find, nächſt 
den Malereien der Katakomben, die älteften und ehrwürdigſten Leiftungen 
kirchlicher Kunſt. Wie fie uns ehrwürdig fein müfjen, jo dürfen wir aud) 
die Theologen, Hagiographen, Asketen, Geſchichtſchreiber, Ehroniften und 
Hymnendichter nicht mißachten, welche die geiftige Erbſchaft der griechiſchen 
Kirchenväter pietätvoll bewahrt, nad ihrem beften Vermögen benußt, an: 
gewandt und meitergeboten haben !, 

Wenn feiner der byzantinischen Theologen die originelle Fruchtbarkeit 
und geiftige Bedeutung der großen Kirchenväter erreicht hat, fo ift in Be— 
trat zu ziehen, daß diefe in mander Beziehung erjhöpfende Leitungen 
binterlafjen Hatten, die großen chriftologischen Kämpfe duch die Beſchlüſſe 
der allgemeinen Konzilien entjchieden worden waren. Nach dem jahrhundert- 
langen Wirrjal, das die Arianer, Manichäer, Neftorianer und Eutychianer 
im ganzen Orient angerichtet hatten, mußte es als eine wahre Erlöjung 
ericheinen, einmal die Früchte zu genießen, welde aus jenen Kämpfen her: 
Dorgegangen waren, 

Auch das Höfterlihe Leben, das in dem Oſtreiche die meitefte Ver: 
breitung gefunden hatte, begünftigte mehr den ruhigen Sammelfleiß als das 
Streben nad neuen Forfchungen und Kämpfen. So find die zahlreichen 
„Katenen“ und „Parallelen“ entftanden, in welden emjige Sammler die 
ihönften Ausſprüche der Väter über die einzelnen Gegenftände der Theologie 


1. P. Migne, Patrologiae cursus completus. Series Graeca. A S. Bar- 
naba ad Photium, 104 ®be, Paris. 1857—1860; Ab aevo Photiano ad Concilii 
usque Florentini tempora voll. CV—CLXI, Paris. 1862—1866. — Historiae Byzan- 
tinae Scriptores (begonnen von Phil. Labbe 8. J., fortgefet von Fabrotti, 
Dufresne u. a.), 86 Bde, Paris. 1654—1711; nachgedruckt in 28 Bon, Venedig 
1727. — Corpus sceriptorum historiae Byzantinae, 49 Bde, Bonnae 1829—1878. 
— K. Krumbader, Geſchichte der Byzantiniſchen Literatur von Juſtinian bis 
zum Ende bes Oſtrömiſchen Reiches (Jw. v. Müllers Handbuch ber Hajfifchen 
Altertumswifjenih. IX 1); 2. Aufl. unter Mitwirkung von A. Ehrhard und 
9. Gelzer, Münden 1897. — Byzantiniſche Zeitfhrift, herausgeg. von K. Krum: 
bacher, Leipzig 1891 ff. — K. Dietrich, Geſchichte der byzantinifchen Literatur, 
Leipzig 1902, 


510 Erftes Kapitel. 


vereinigten. Man darf diefelben durchaus nicht als finftere Denkmäler der 
„Erftarrung“ und „Verknöcherung“ betrachten; durch fie ift der eigentliche 
Kern der chriftlichen Überlieferung, das Lebensmark der chriſtlichen Lehre, 
von Geſchlecht zu Geſchlecht weitergepflanzt und als Grundlage des Unterrichts 
und der Predigt fruchtbar gemacht worden. 

Noch lange mußte übrigens der Kampf gegen die Neſtorianer und die 
Monophyſiten, die einen großen Zeil des Orients an ſich geriſſen hatten, 
weitergeführt werden, und wo neue Jrrtümer auftauchten, bat e3 nidht an 
mannhaften Kämpfern gefehlt, welche für die Wahrheit in die Schranten 
traten, wie in dem langwierigen Kampfe wider die Monotheleten und in 
dem Streite über die Verehrung der Bilder. Auch andere Aufgaben der 
Theologie haben tüchtige Vertreter gefunden. 

So haben fih Leontios von Byzanz und Ephräm von Antiodien 
durch chriſtologiſche Schriften gegen die alten rrlehren des Neftorius und 
Eutyches verdient gemadt!. In die Streitigkeiten über Origenes wie über 
die Drei Kapitel hat Kaiſer Juftinian I. jelbft mit theologischen Schriften 
eingegriffen, während Anaftafios, Patriarh von Antiochien, im ftreng 
methodiſch gehaltenen Abhandlungen der jpäteren Scholaftif vorarbeitete. 

So Hat Maximos Eonfejjor (6 öuodoryrig, geit. 662), der tüchtigfte 
Vorkämpfer der kirchlichen Lehre gegen die Monotheleten, zeitweilig Geheim— 
ſchreiber des Kaiſers Herallios, auch ala Bibelerklärer, Asket und Myſtiker 
Wertvolles geleiftet und bejonders die Schriften des jog. Dionyfios Areopagita 
mit der überlieferten Kirchenlehre in Einklang gebracht und fo der griechiſchen 
Theologie einverleibt, dur melde fie dann aud auf die abendländijche 
Scholaſtik eingewirkt Haben?. Noch mächtiger wurde der Einfluß des hi. Jo: 
Hannes von Damaskus, der, gegen Ende des 7. Jahrhundert3 in diejer 
damals jhon mohammedanifhen Stadt geboren, durch einen Friegägefangenen 
Mönd Kosmas aus Sizilien im Chriftentum unterrichtet wurde, gleich jeinem 
Bater ein Amt am Hofe der Omajjaden bekleidete, dann aber in das Kloſter 
des hl. Sabbas in Paläftina trat und ſich dort ganz der heiligen Wiſſenſchaft 
widmete. Er ift nicht bloß der größte Verteidiger der Bilderverehrung gegen 
Kaiſer Leo den Bilderftürmer, jondern madte aud in feiner Hauptichrift 
„Duelle der Erkenntnis“ (Any yvooewg) den erſten umfafjenden Verſuch, die 
geſamte chriſtliche Dogmatik von der Lehre über Gott bis zu jener über die 
legten Dinge in ſyſtematiſcher Folge durchzuarbeiten. Vorausgeſchickt find 
derfelben die nötigen philoſophiſchen Begriffäbeftimmungen und ein Verzeichnis 
von Hundert Härefien, das aus früheren Theologen zufammengeftellt if. 
Durch die Überfegung des Burgundio von Pifa wurde dieje Schrift ſchon im 

ı Migne, Patr. gr. LXXX 1267-2100. 2 Ebd. XC XCI. 


» Ebb. XCIV—XCVIL — 3. Langen, Johannes von Damaskus, Gotha 1879. 
— K. Holl, Die Sacra Parallela des Johannes Damascenus, Leipzig 1896. 


Die byzantiniſche Profaliteratur. 511 


12. Jahrhundert dem Abendlande zugänglich gemacht, und Petrus Lombardus 
wie Thomas don Aquin legten fie ihren bahnbrechenden Werfen zu Grunde. 

Tapfere Genofjen im Kampfe wider die Bilberftürmer fand Johannes 
von Damaskus an dem beredten Germanos, Patriarchen von Konftantinopel, 
an dem Mönde Theodoros Studita und an dem verbienftvollen Hiſtoriker 
Nitephoros, Patriardhen von Konftantinopel (806—815). Anaftafios 
Sinaites, Mönd im Sinaiklofter, ſchrieb außer ſcholaſtiſchen Traftaten 
auch eine umfangreihe Erklärung des Heraemeron und eine Schrift wider 
die Juden. Als Erflärer der heiligen Schriften find außer ihm hervorzuheben : 
Profopios von Gaza, Dlympiodor von Alerandrien, Gregorios 
von Agrigent (in Sizilien); als geiftliche Redner: Gregorios von Antiodien, 
Modeftos, Patriarch von Yerufalem, und Andreas von Kreta. Aller: 
dings leidet ihre Beredſamkeit an einer Breite, Überfülle und Überſchweng— 
lichkeit, die dem Wbendländer wenig zufagt. 

Wie in den Ländern des Weftens, jo fand aud im oftrömijchen Reiche 
das Ordensleben in reichfter Blüte. Es gab zahllofe Klöfter auf der Balkan: 
Halbinjel, und bis zur arabijchen Eroberung auch in Paläftina, Syrien und 
Ägypten. Unter den vielen Klöſtern der Reichshauptſtadt ragte dasjenige 
von Studion Herbor, unter den entlegeneren das gefeierte Sabbasklofter 
bei Jeruſalem, das auch unter der Herrſchaft der Araber fortbeftand, und 
dasjenige auf dem Sinai. Aus diefen Klöftern ftammt eine unabjehbare 
asfetiihe und hagiologiſche Literatur, welche zumeift auf die Erbauung und 
Beihäftigung ihrer Inſaſſen berechnet war, bon welcher indes doch mande 
Erzeugnifje bis ins Abendland gedrungen find und bis in jpätere Zeiten 
weitergewirkt haben. Als klaſſiſch-asletiſches Buch gilt „Die Himmelßleiter“ 
(xAtuaf) des Johannes Klimax, der erfi als Mönd im Sinaiflofter, 
dann bierzig Jahre als Anachoret in einer Höhle am Fuße des Berges lebte 
und um 600 ftarb. Das Bud fußt hauptſächlich auf den heiligen Schriften 
und jeinen eigenen Erfahrungen im geiftlichen Leben, ift fchlicht und ohne 
den gejuchten Redeprunf der Byzantiner abgefaßt und zeichnet ſich durch ſchöne 
Kerniprüdhe aus, 

Berühmt als Asketen find ferner: Symeon Stylites der Jüngere, 
der Arhimandrit Dorotheo3 aus PBaläftina, Antiochos aus dem Sabbas- 
Hofter bei Yerufalem und Thalaſſios, Vorfteher eines Klofters in der 
Libyſchen Wüſte. Zugleih astetifher, liturgifcher, dogmatifcher und kano— 
niftiiher Schriftfteller und dazu noch Dichter mar der bereits erwähnte 
Theodoros Studita. Er wurde 759 als Sohn eines faiferlihen Zoll: 
einnehmers geboren, erhielt erjt eine jorgfältige allgemeine und dann klöſter— 





! Ausgaben von M. Raberus S. J., Paris 1633; Migne (a. a. O. 
LXXXVII 596—1209). 


512 Erftes Kapitel. 


lihe Bildung, ward Mönd, Priefter und Abt in dem Klofter Sakludion, 
trat mit feinen Mönden in das Klofter Studion in der Hauptftadt über 
und brachte diejes durch heilfame Reformen zu hoher Blüte. Zweimal wurde 
er verbannt, weil er mutvoll gegen die unredhtmäßige Ehe Kaiſer Kon: 
ftantins VI. aufgetreten war; eine dritte Verbannung traf ihn, als er 
ebenjo unerſchrocken die Bilderverehrung gegen Leo den Iſaurier verteidigte. 
Auch diefe Verfolgung überlebte er noch, fonnte aber nur für kurze Zeit 
wieder in fein Stlofter zurüdfehren. Er farb 826. Seine aslketiſchen 
Schriften ſchließen ſich denjenigen des hl. Bafilios an und halten diefelbe von 
überfchwenglicher Myſtik freie Richtung ein. Überaus wertvoll ift feine Brief- 
fammlung, die noch jegt 550 Briefe umfaßt, befonders feine Paftoralbriefe !. 
„Mit feinftem pſychologiſchen Takt weiß hier Theodor einem weiten 
Kreife Worte des Troftes, der Aufrihtung im Leid, der Mitfreude im Glüd 
zu jpenden. Unter diefen Troft:, Empfehlungs- und Freundſchaftsbriefen 
finden fi wahre Perlen der byzantinischen Epiftolographie; alle aber erweiſen 
fih als der Niederichlag eines von Gottegliebe und wahrer Humanität be 
berrihten, reichen Geiftes: und Gemütslebens. Zugleich offenbaren fie die 
zwei großen Triebfedern feiner Tätigkeit: eine leidenſchaftliche Liebe für die 
Hreiheit der Kirche und einen jelbftlofen Eifer für die Erhaltung der kirch— 
fihen Einheit zwifchen Morgen: und Abendland. Dadurch wurde Theodor 
einer der leten großen Gegner des byzantiniſchen Cäſareopapismus; dies 
führte ihn auch zur energiſchen Behauptung des römischen Primates, die 
feinem Anjehen in der griehijchen Kirche keinen Eintrag getan hat.“ ? 
Unter den hagiographiihen Schriften verdient die „Geiftlihe Wieje“ 
des Johannes Moſchos Erwähnung, mwelder von dem Sabbaätlofter 
bei Jerufalem aus auf weiten Reifen (zwiſchen 578—602) die Klöſter in 
Baläftina, Ägypten, der Sinaihalbinjel, Syrien, Kleinafien und verſchiedenen 
griechiſchen Inſeln bejuchte und dabei die Erlebniffe, Charakterzüge und Aus» 
ſprüche zahlreiher Mönde jammelte. Die bunte Sammlung erſchien ihm 
als eine mit mannigfaltigen Blumen gejchmüdte Wiefe, und fo erhielt fie 
ihren Zitel®. Sein Reifebegleiter Sophronios, der jpäter Patriarch von 
Serufalem wurde, jchrieb die Leben der zwei ägyptiſchen Nationalheiligen 
Kyros und Johannes und der berühmten Büherin Maria bon Agypten. 
Zahlloſe Akten von Märtyrern, befonders aus der Zeit des Bilderftreits, 
fomwie Leben von Heiligen wurden in allen Klöſtern gejchrieben und gefammelt. 
Die berühmtefte umfaffende Sammlung ift jene des Symeon Meta: 
phraftes, der in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts gelebt zu haben 


t Migne, Patr. gr. XCIX 509—1669. 
® A. Ehrhard bei Krumbader, Geſchichte ber Byzant. Literatur 150. 
® Migne.a. a. DO. LXXXVU. 


Die byzantinifche Profaliteratur. 513 


iheint!. Aus ihr find eine Menge Erzählungen in die Legendenbücher 
des Ubendlandes übergegangen. Wegen bes ftiliftifch-rhetoriihen Aufputzes 
feiner Heiligengeſchichten ftand er bei den ftrengeren Hiſtorikern bis jet in 
ungünftigem Rufe; doch jcheint fein großes Sammelwerk aus jehr verſchieden— 
artigen Beltandteilen zufammengewadjen zu fein und eine nähere Unter: 
fuhung feiner Vorlagen und Quellen eine teilweije günftigere Beurteilung 
herbeiführen zu können. Schon Leo Allatius ift jehr warm für ihn eingetreten. 

Auch die freier ausgeführten Legenden des Metaphraftes und der übrigen 
griechiſchen Hagiographen verdienen es übrigens nicht, geringihäßig ab— 
gelehnt zu werden. 


„Sie bieten wertvolle Ergänzungen zu ben althriftlihen und byzantiniichen 
Kirchenhiſtorilern, Geſchichtſchreibern und Chroniſten; fie gewähren einen vielfad 
überrafchenden Einblid in das Kulturleben weiter chriftlicher Kreife, das in ben 
dogmatiſchen Abhandlungen des chriſtlichen Altertums und in den trodenen theo— 
logiſchen Erörterungen ber byzantinifchen Zeit nur zu oft ganz aus dem Gefichtäfreis 
ſchwindet; fie befunden eine Friſche, Naivität und belebende Macht des religiöfen 
Sinnes, deſſen Offenbarungen in den Kreifen ber gelehrten Theologen als unpafienb 
und volfstümlich der Nichtbeachtung anheimfielen; fie ſprechen endlich oft eine eble und 
echte Vollsſprache, die von der Klaffizität der fteifen Gelehrten nit angekränkelt ift.“ ? 


Das gilt auch von dem berühmten Legendenbuh „Barlaam und 
Joſaphat“, welches durd zahlreiche Überfegungen weit in den Orient 
gedrungen und eines der beliebteften Volksbücher bei allen mittelalterlichen 
Nationen des Abendlandes geworden if. Es ift lange dem hl. Johannes 
von Damaskus zugejchrieben worden. Der griehifche Titel lautet: „Er- 
bauliche (duzwgpeirs) Geſchichte aus dem inneren Lande der Athiopen, das 
Indien genannt wird, in die heilige Stadt gebradt dur den Mönd No: 
hannes, den gottesfürdtigen und tugendfamen Mann, aus dem Slofter 
des hl. Sabba, worin das Leben der Heiligen und jeliggepriefenen Barlaam 


ı Migne a. a. ©. CXIV—CXVI — 4 Ehrhard (bei Arumbader 
a. a. D. 200-203); Die Legendenfammlung des Symeon Mtetaphraftes und ihr ur— 
fprünglicher Beftand (Feſtſchrift zum elfhundbertjährigen Jubiläum bes deutſchen Campo 
Santo in Rom, Freiburg 1897, 46—85); Forihungen zur Hagiographie ber 
griechiſchen Kirche (Möm. Quartalfhrift XI, Rom 1897, 67—205); Symeon Meta— 
phraftes in der griechiſchen Sagiographie (ebd. XI 531—5583). — H. Delehaye, 
Les menologes grecs (Analecta Bollandiana XVI, Bruxellis 1897, 311—829); 
Le menologe de Mötaphraste (ebd. XVII [1898] 448—452). — Nah Ehrhard läßt 
fih ber urfprünglide Beftand unb die urfprünglie Ordnung noch feftftellen. 
Symeons Arbeit erfreute fih ber größten Beliebtheit; aber die älteren meta- 
phraftiichen Heiligenleben find darüber doch nicht vollftändig zu Grunde gegangen. 
Ein Vergleich diejer älteren Legenden mit ber Bearbeitung bed Mtetaphraftes läßt 
bes letzteren Tätigkeit in viel günftigerem Lichte erſcheinen, ald man bisher an« 
zunehmen geneigt war. 

2A. Ehrhard, Die Legendbenfammlung des Sym. Metaphraftes 32. 

Baumgartner, Weltliteratur. IV. 8. u. 4. Aufl. 33 


514 Erſtes Kapitel. 


und Joaſaph (enthalten iſt).“! Nur einige jüngere Handſchriften bezeichnen 
diefen Mönch Johannes näher als denjenigen von Damaskus. Ziemlich 
allgemein wird angenommen, daß er nicht der Verfaffer war, daß das Wert 
wohl aus dem Sabbaskloſter bei Jerujalem herrührt, wo er einen jo großen 
Teil feines Lebens zugebraht, aber von einem andern Mönde Johannes, 
der lange vor ihm, ſchon in der erften Hälfte des 7. Jahrhunderts, dajelbft 
lebte, um diejelbe Zeit, als Johannes Moſchos nad) weiten Reifen durd 
Baläftina, Syrien, Agypten, ja bis nah Rom feine „Geiftliche Wieſe“ 
ſchrieb, auch Kyrillos von Skythopolis jeine Heiligenbiographien verfaßte. 

Die Erzählung beginnt mit der auch in andern Legenden enthaltenen 
Nachricht, daß der bl. Thomas bei der Zeilung der Apoftel nah Indien 
gelommen jei und viele Heiden zum Glauben an Chriftus betehrt habe; 
jpäter feien von Ägypten aus auch Mönde nad Indien gedrungen, hätten 
das Mönchsleben dafelbit begründet und zu hoher Blüte gebradt. Ein 
friegögewaltiger und ebenjo mächtiger, ganz ins Irdiſche verfunfener König, 
Ubenner mit Namen, leiftet dem Chriſtentum beharrlihen Widerftand, ver- 
folgt die Chriften und jucht die Mönche auszurotten. Die Verfolgung wird 
eine noch graufamere, da ihm nad langer Kinderloſigkeit ein Sohn geboren 
wird, ein Aftrologe ihm aber verfündigt, der Sohn werde zwar ebenfalls 
ein großer und mächtiger Herrjcher werden, aber in einem andern Reiche, 
indem er das verhaßte und verfolgte Ehriftentum annehmen werde. Um 
dies zu verhindern, läßt der König den Prinzen in eine abgelegene Stadt 
bringen, in einem ftreng ifolierten Palaft erziehen, mit allen Genüfjen der 
Erde umgeben, jede Erinnerung an Tod, Alter, Krankheit, jeden Ausblid 
auf ein jenfeitiges Leben, jede Kunde von einer hriftlihen Religion von 
ihm fernhalten. Er ſucht den leßten Reft von Mönchtum in feinem Reiche 
zu erftiden. Auf die Dauer reichen indes all diefe Borfihtsmaßregeln 
nit aus. 





! Ausgaben von Fr. Boiſſonade (Anecdota graeca), Paris 1832; Migne, 
Patr. gr. XCVI 886—1260. — J. Dunlop, Geſchichte der Proſadichtungen, überſetzt 
von F. Liebrecht, Berlin 1851, 27 ff 462 ff. — Mar Müller, Effays III (deutſch), 
Leipzig 1872, 322 ff. — F. Liebrecht, Die Quellen des Barlaam und Joſaphat 
(Eberts Jahrbuch für roman. und engl. Literatur II [1862] 314—834); Zur 
Vollskunde, Heilbronn 1879. — E. Cosquin, La lögende des saints B. et J. 
(Revue des quest. hist. XXVII [1880] 579—600). — H. Zotenberg, Le livre 
de Barlaam et Josaphat, Paris 1886. — €. Kuhn, Barlaam und Joaſaph 
(AbhandL der bayr. Akademie XX, Münden 1894, 1—88). — I. Jacobs, Bar- 
laam and Josaphat, London 1896. — E. F. Conybeare, The Barlaam and 
Josaphat legend (Folklore VI, London 1896, 101—142). — Saints Barlaam and 
Josaphat (The Month XX, London 1881, 187—143). — St. Beiffel, Akt. 
„Sofaphat“ in Wetzer und Weltes Kirhenleriton VI?, Freiburg 1889, 1880 
bis 1882, 


Die byzantiniſche Profaliteratur. 515 


Trotz der ftrengften liberwahung trifft Prinz Joaſaph erft mit einem 
Kranken, dann mit einem Blinden, einem Greife und einem Toten zujammen. 
Je neuer ihm alle diefe Erjcheinungen menſchlicher Armfeligkeit, Hinfälligteit 
und Bergänglichkeit find, deito tiefer ift der Eindrud, den fie in feinem 
Gemüte Hinterlaffen. Die erften Gedanken, die fih daran knüpfen, löſchen 
allen Zauber irdiſchen Genuffes und irdiſcher Güter in ihm aus. Wie er 
nun vollends mit dem dhriftlihen Einfiedler Barlaam befannt und von ihm 
in die Geheimniffe des Glaubens eingeführt wird, hat die Gnade leichten 
Sieg, er wird nicht nur Chrift, jondern weiht fi Gott in ewiger Entjagung 
und Jungfräulichkeit. Die Belehrung läßt ſich natürlich nicht geheim halten. 
Der erbofte König bietet alles auf, um fie rüdgängig zu maden. Joaſaph 
aber zeigt eine hefdenmütige Feſtigkeit. Durd eine öffentliche Disputation 
joll das Chriftentum widerlegt und moraliſch vernichtet werden; aber an 
Stelle Barlaams, der fih durch Flucht dem Zorne des Königs entzogen, 
übernimmt ein Aftrologe, Nachor, deffen Verteidigung, begründet es in fieg- 
reicher Rede und wird felbft jo davon ergriffen, dab er ſich befehrt. Der 
Verfaffer hat (wie erft neuere Forfhungen ergaben) ihm eine der älteften 
Apologien, die des Ariftides, in den Mund gelegt!. 

Auf den Rat des Theudas, eines andern Magierd, ſucht der Bater 
nun den heldenmütigen Sohn dur finnlihe Zodungen von feinem Glauben 
abjpenftig zu maden. Dämoniſcher Einfluß unterftügt die Macht der Ber: 
ſuchung; aber auch jetzt fiegt Joaſaph durch demütiges Gebet, und fein 
ernſtes Mahnwort bekehrt jogar Theudas, den Anftifter des Verführungs— 
planes, zum Chriftentum,. Nachdem alle feine Pläne vereitelt, teilt König 
Abenner fein Reich in zwei Hälften und überläßt die eine feinem Sohne. 
Joaſaph nimmt die dargebotene Krone an, legt fie aber bald nieder, um 
in völliger Weltentjagung zu leben. Er befehrt die Gejandten, die Abenner 
an ihm ſchickt und zulett diefen jelbft. So ift feine große Sendung erfüllt; 
er zieht num in die Wüfte und ftirbt als frommer Einfiedler. Barlaam 
wird mit ihm beftattet; an ihrem Grabe wird ein herrlicher Dom erbaut, 
und zahllofe Wunder verherrlihen den Namen beider, 

Einige Züge der Erzählung ſtimmen auffallend mit jolden der Buddha— 
Sage überein und legten den Gedanfen nahe, dieſe als Quelle der griechiſchen 
Legende aufzufaffen. Obwohl weder eine Pehlewi- noch eine altiyriidhe Be: 
arbeitung die Geſamtreihe der orientalifhen Überſetzungen als Mittelglied 
verbindet, wird die Benutzung buddhiſtiſcher Überlieferung doch heute faft 
allgemein angenommen. Gharakteriftit und Erzählung find indes in der 
griehiichen Bearbeitung vollftändig von chriſtlichen Anſchauungen getragen, 


’ Boissonade a. a. ©. 289-255 (Migne, Patr. gr. XCVI 1105 
bis 1124). 
33* 


516 Erftes Kapitel. 


und das Ganze ift dur) die eingefügten Reden zu einer meifterhaften Apologie 
des Chriftentums und des chriſtlichen Ordenslebens — aud gegen den Bubd- 
dhismus — geftaltet. 

Die ganze Anlage iſt natürlich, ſpannend, wohl gruppiert, die Charakteriftit 
mit ihren Gegenjägen treffend und lebendig, die Sprache rein, edel und 
gewählt, die Darftellung künftlerifch, ohne gefuchtes Pathos und Überladung, 
der theologiſche Gehalt rihtig und auch richtig gefakt, zugleih aber von 
inniger poetijher Begeifterung getragen. Das Werk mit dem vielfach ge 
ſchmackloſen, ungenießbaren Lalita-Biftara vergleihen hieße ihm ſchon unrecht 
tun. Die gläubigen Völfer des Mittelalter haben ſich durchaus nicht ge: 
täuscht, wenn fie es als eine herrliche Apologie hriftliher Weltanihauung 
beiradpteten und empfanden. Böllig irrig ift jedenfalls die Auffaffung, 
al3 wäre in dieſer fittenreinen, erhabenen Legende der Stifter des pefli- 
miſtiſchen Buddhismus von frommen Chriften verherrlicht und gefeiert worden. 

Es iſt nicht möglih, Hier den ganzen Prozeß der Entfremdung zu 
Ihildern, durch welchen das griechiſche Geiftesleben fih immer mehr von 
der Gemeinschaft mit der katholiſchen Kirche ablöfte, bis es endlih unter 
Photius (857—891) zum völligen Brud mit Rom fam und derjelbe durch 
Michael Gärularius (1054) zum bleibenden Schisma führte. Daran muß 
aber doc erinnert werden, daß die Griehen, mit Ausnahme einiger weniger 
Unterſcheidungspunkte, auch nad) der Trennung an dem gejamten Lehrgebäubde 
der altchriftlichen Überlieferung mit bemwundernswerter Anhänglichleit und 
Pietät feftgehalten Haben. Hierin fann man nicht wohl eine „Verknöcherung“ 
und „Erftarrung“ erbliden, wenn man nicht aud die Feftigfeit der katho— 
lichen Überlieferung mittreffen will. Dagegen hat die Lostrennung von 
der kirchlichen Einheit die Griechen wirklich der lebendigen Entwidlung der 
abendländiihen Völker entzogen und fie dem Gäfareopapismus überant: 
wortet, der mit bleierner Wucht auf ihrem Geiftesleben mwaltete und durch 
jeine politiide Ohnmadt deſſen enge territoriale Grenzen immer enger 
werden ließ. 

Photius, der unfelige Begründer des griechiſchen Schiamas, Tann fi 
ala Theologe weder mit Leontios don Byzanz noch weniger mit Marimos 
Eonfeffor und Johannes von Damaskus meſſen. Dagegen zeichnete er ſich 
durch eine ungemein vielfeitige Beleſenheit in weltlichen wie geiftlihen Büchern 
aus. Das Hauptdentmal diejes gelehrten Willens ift außer einem Lexikon 
(Aedewv ovvaywyr,) feine jog. „Bibliothef“ oder das „Myriobiblon“, eine 
Sammlung von 280 Aufjäben über je ein bon ihm gelefenes Bud. Sie 
ift feinem Bruder Tarafios gewidmet, der ihn — noch vor feiner Erhebung 
zum Patriarchen — erjucht Hatte, ihm Mitteilungen über die Bücher zu: 
fommen zu laffen, welche in feinem Sreife vorgelefen und beſprochen worden 
wären. Photius gibt ihm nun bald kürzere Notizen, bald längere Auszüge 


Die byzantiniſche Profaliteratur. 517 


nebit Beurteilung in Bezug auf Inhalt und Form. Was dem Werk den 
höchften Wert verleiht, find die Abfchnitte über zahlreiche hiſtoriſche Werte, 
welche either ganz oder größtenteil3 verloren gegangen find, wie die Be: 
richte des Kteſias über Perfien und Indien, Theopomp, Diodor, Dionyfios 
von Halifarnaffos, Appian, Arrian, Dio Caſſius, die Diadochengeſchichte 
des Agatharchides, die Literaturgejhichte des Hefychios von Milet und andere. 

Die Maſſe des nicht etwa flüchtig durchblätterten, jondern beherrfchten 
Wiſſensſtoffes ift ſtaunenswert. Alle Fächer find darin in bumntefter Ab» 
wechſlung und reichfter Fülle vertreten, am reichften Theologie und Geſchichte. 
Kaum berührt dagegen find die größten Klaffiter des Altertums, Philo— 
jophen, Hiftorifer und Dichter, die Photius offenbar als ſchon befannt voraus- 
ſetzt. Auch die jpätere Poefie ift nur dürftig erwähnt. 

Es ift dies zu bedauern, da Photius meifterlih zu harakterifieren wie 
zu fritifieren verſteht. Köftlih find 3. B. (128) die Dialoge Lukians 
harafterifiert!, mit ihrem fein ſatiriſchen, fomifchen Gehalt, ihrem ſtkeptiſchen 
Geift, ihrer wunderbar ſchönen Darftellung und Sprache, weldhe die Sprache 
jelbft gewiffermaßen zum Gedicht macht. Nicht minder vorzüglid ift die 
Einleitung eines Epithalamiums aus den Dellamationen des Sophiften 
Himerios (243)2. Eine ganz ausführliche, treffende und fefjelnde Analyſe 
gibt er von dem Roman „Üthiopita” (Theagenes und Charikleia) des 
Heliodor, von welchem er bemerkt, daß derjelbe jpäter Biſchof geworden jei 
(73)8. Ziemlih ausfügrlid find aud die Auszüge aus dem Liebesroman 
des Jamblichos (94)+ „Bon den Erlebniffen der Sinois und des Rhodanes“ 
und aus dem Abenteuerroman des Antonios Diogenes „Von den unglaub- 
lihen Dingen auf der Inſel Thule“ (166)5. Nur kurz ift dagegen ber 
Roman „Leufippos und Kleitophon“ des Mlerandriners Achillens Tatius 
vermerkt, mit ſcharfem Tadel über deffen Objzönität (87)8. Ebenjo die 
„Metamorphojen“ des Lukios von Paträ (129) und die „Bier Bücher 
unglaublider Dinge“ des Damaskios (130)7. Bei Beiprehung der Chreſto— 
mathie des Helladios Bejantinoos® werben nur vorübergehend Gedichte 
dieſes Helladios ſelbſt, des Hermiad von Hermopolis, des Grammatikers 
Serenos, des Andronikos von Hermopolis, des Grammatikers Horapollon, 
des Kyros von Antipolis erwähnt. 

Nah Photius beſchäftigte ſich ein Teil der theologiſchen Literatur mit 
der Verteidigung des Schismas und mit dem Kampfe gegen die Lateiner; 
ein viel anjehnlicherer Teil derjelben hütete und erklärte die altehrwürdige 


ı Migne, Patr. gr. CIII 412. ® Ebd. CIII 1805 f. 
s &bd. CIII 231—238. * Ebd. CIII 323— 840. 
s Ebd. CIII 465478, ° Ebd. CIII 289 290. 


? Ebd. CIII 413 414. s Ebd. CIV 323 324. 


518 Erftes Kapitel. 


Erbſchaft der patriftiichen Überlieferung und kam dadurch den wiederholten 
Unionsverfucdhen entgegen, welde von Rom aus gemacht wurden. 

Bon der Profanliteratur hat ſich die Hiftorifche verhältnismäßig am 
reihlichiten entwidelt, von der Kirchengeſchichte häufig kaum zu trennen, 
da mande Kaiſer gern die Theologen fpielten, theologifhe Fragen im Vorder: 
grund des Intereſſes ftanden, der Cäfareopapismus Kirchliches und Staat- 
lihe8 bunt durcheinander miſchte. Den alten Klaſſikern zunächſt fteht 
Profopios, der Geichichtihreiber der Zeit Juftinians I., als Reiſe— 
begleiter Beliſars in die wichtigſten Ereigniffe der Zeitgefhichte eingeweiht, 
in Bezug auf anderes ein forgfältiger Quellenforfcher, in Geift und Stil 
ein wirklicher Meifter!. Die von Eufebios jo glänzend begründete Kirchen— 
geihichte fand Fortjeger an Theodoros Anagnoftes (Lektor) und Zacharias 
Rhetor, bejonders aber an dem Rechtsanwalt Euagrios, der, in aus: 
drücklichem Anſchluß an Sokrates, Sozomenos und Theodoret, die Zeit von 
431—594 in ausführliher Darftellung behandelte?. Allgemeine Welt: 
bronifen verfahten Johannes von Antiohien, Heſhchios und in fehr an— 
ſprechender, vollstümlicher Darftellung Johannes Malalas. Hödft 
wertvolle Aufjhlüffe über den Orient enthält die „Chriſtliche Topographie“ 
des Kosmas NIndilopleuftes, eines Kaufmanns aus AWlerandrien, 
der auf weiten Reifen Arabien und Dftafrifa beſuchte, die erfte Hunde von 
Geylon (dem Eiland Taprobane) nah Europa bradte und feine Reiſe— 
erfahrungen bunt mit andern Stoffen gemiſcht in zwölf Büchern niederlegte 3. 


Bon andern Hiftorifern feien erwähnt: Agathias (Die Zeit Juftinians 1. von 
552—558), Menander (Fortſetzung des Agathiad von 558—582), Johannes von 
Epiphania (Die Zeit von 572-593), Theophylaftos Simofattes (Die Regierung bes 
Kaifers Maurikios 582—602, ſchon jehr gefuht und geihmadlos blumig), Saifer 
Konftantinos VII. Porphyrogennetos (Geſchichte bes Kaiſers Bafilios I.; Abhand—⸗ 
lungen über bie Staatsverwaltung und die Einteilung des Reiches wie über bas 
Zeremoniell des byzantinifchen Hofes), Joſeph Genefios (Vier Bücher Königsgeſchichte, 
bon 813—886), Johannes Kameniates (Die Eroberung von Theffalonife durch kretiſche 
Korjaren 904), Beon Diafonos (Die Zeit von 959975), Michael Attaliates (Geſchichte 
feiner Zeit 1084—1079), Nilephoros Bryennios (Gejchichte des Alerios Kommenos 
1070— 1079), Anna Komnena (Alexias, Geſchichte ihres Vaters Alerios Komnenos, 
10691118), Johannes Kinnamos (Zeit von 1118—1176), Niletas Akominatos 
(Zeit von 1180—1206), Neophytos, Mönch auf Cypern (Über bie traurige Lage 
Eyperns um 1191), Georgios Akropolites (Chronik von der Beſtürmung Kon: 
ftantinopeld durch bie Lateiner bis zur byzantiniſchen Reftauration 1203—1261), 
Georgios Pachymeres (Fortſetzer des vorigen, 1261—1308), Nifephoros Kalliftos 
Kanthopulos (Kirdhengeihicdhte bis 610), Nikephoros Gregoras (Römiſche Geſchichte, 


! Gefamtausgaben von C. Maltretus 8. J., Paris 1662 1663; G. Din- 
dorff, Bonn 1833—1838. 

®2 Migne, Patr. gr. LXXXVI 2405—2906. 

s Ebd. LXXXVIII 10—476. . 


Zweites Kapitel. Die byzantiniſche Hymnilk. 519 


1204—1359), Kaiſer Johannes VI. Stantafuzenos (Reichögeihichte von 1320-1356), 
Johannes Kananos (Belagerung von Ktonftantinopel durch Murad II. 1422), Johannes 
Anagnoftes (Eroberung von Theffalonife durch die Türken 1430), Laonikos Chalkon—⸗ 
dylas (Geichichte des Reichs von 1298—1463), Dulas (Zeit von 1341—1462), 
Georgios Phranges (1258— 1476), Kritobulos aus Ambros (Geſchichte des Sultans 
Mohammed II., 1451—1467)-'. j 


Große Denker gleih den abendländiſchen Scholaftilern hat Byzanz nicht 
aufzuweiſen; doch wurden die Schriften des Ariftoteles wie des Platon, haupt: 
fählih mit Rüdfiht auf theologiſche Zwede, gelefen und fommentiert. Durch 
den vieljeitigen Michael Pſellos (1018— 1078) wurde in Konftantinopel 
die platonijche Akademie wieder Hergeftellt, doch ohne mweitiragende Erfolge. 

In Bezug auf humaniftiiche und rhetoriſche Leiftungen haben die Byzan— 
tiner zwar viel Rührigkeit, aber jelten reinen, klaſſiſchen Geihmad entwidelt. 
Die höfiſchen Kreiſe liebten das Künftliche, Gezierte, Steife, Prunthafte und 
Geſchraubte, das ſich jchon bei den jpäteren Sophiften ausgebildet hatte und 
bon dem ſich auch mehrere der Kirchenschriftfteller nicht frei zu erhalten 
wußten. Dieje Rihtung wucherte in allen Produftionsarten weiter. Der 
befte Dienft, den die Byzantiner der Weltliteratur erwiejen haben, liegt 
deshalb nicht in ihren eigenen Hervorbringungen, fondern darin, daß fie 
an ihren Schulen die bedeutendften Klaffiter des Altertums und die ſchönſten 
Werte der patriftiihen Zeit in lebendiger Überlieferung erhalten und jener 
Epoche aufbewahrt Haben, welche die abendländiiche Bildung an denjelben neu 
auffriichen follte. 


Zweites Kapitel. 
Die byzantinifhe Hymnik. 


Ungejehene Kritiker haben den Byzantinern früher alle und jede Poefie 
abgejprodhen?. Die neuere Forſchung ift von diefem harten Urteil abgelommen 
und droht jogar teilweife in das entgegengejehte Extrem zu verfallen, indem 
fie bereit3 einen byzantiniſchen Hymnendichter al& den größten religiöjen 
Lyriker aller Zeiten erllärt. Die Wahrheit dürfte, wie jo oft, in der 
Mitte liegen. 

Schon während der alerandrinischen Zeit ift unter den Griechen fein 
Pindar und Sophofles mehr erftanden; aber der poetijche Geift ift unter 


ı fiber die zahlreihen Chroniften vgl. Krumbader, Geſchichte ber 
Byzant. Literatur 319—408, 

2 ‚Poefie im wahren Sinne des Wortes kannten die Byzantiner nicht, und fie 
bat unter ihnen niemals beſtanden“ (Bernhardy, Grundrik der griechiſchen Literatur 
II 2 [1880] 771). 


520 Zweites Kapitel. 


ihnen doch nicht ganz erloſchen; er hat manche freundliche Nachblüte getrieben, 
beengt allerdings durd eine erdrüdende gelehrte Atmoſphäre und politiiche 
Verhältniffe, welde von der alten Glanz und Ruhmeszeit eben grund— 
verſchieden waren. Das griehijche Geiftesleben aber, wie es mit dem jugend- 
lihen Ghriftentum zujfammentraf, war zu jehr von den bedenklichſten Eile: 
menten religiöfen und fittlihen Verfall, Zweifel, Unglauben, Lüge und 
Immoralität durchſäuert, als daß fi die chriſtlichen Ideale wie ein himm— 
liſches Edelreis auf eine noch unverdorbene, natürliche Pflanze hätten propfen 
lafien. Wie im Abendland, war aud) hier ein längerer Prozeß der Yäuterung 
nötig. Mit dem Heidentum, wie es beitand, mußte aufgeräumt, eine neue 
Ideenwelt und Poefie gejchaffen werden. Sie wuchs in der Einſamkeit der 
Klöfter, im Dienfte der heiligen Geheimniffe heran. Sie war, wie die ältefte 
heidnifche Poefie, wieder religiög-liturgijch. 

Bereitö bei dem Hl. Gregorius von Nazianz begegnen uns neben 
religiöfen Dichtungen, welche in den quantitierenden Metren des Altertums 
abgefaßt find, andere, in welchen nur der Wortaccent die Versform beherricht, 
ohne Rüdfiht auf Kürze und Länge der Silben. Dieſe rhythmiſche Form 
verdrängt die andere vom 5. Jahrhundert an allmählich aus der Liturgie; jehr 
wahrſcheinlich im Anſchluß an die ſyriſche Hymnil, melde ſich bereits etwas 
früher zu reicher Blüte entwidelte. Hiermit war das Mittel geboten, ſich 
von der althelleniihen Lyrit ganz frei zu maden und auf der Bafis der 
bibliihen Sprache in Form und Gehalt völlig Neues zu geftalten. Ähnlich 
wie ein großer Zeil der mittelalterlihen lateinischen Hymnik hat auch diefe 
griechiſche bis vor wenigen Jahrzehnten faum Beadhtung gefunden. Erft 
in neuerer Zeit hat man begonnen, fie zu fammeln, zu fichten, kritiſch heraus: 
zugeben und nad den verjchiedenften Seiten zu ftudieren!. Diefe Arbeit 
ift aber noch lange nicht zum Abſchluß gediehen, und wir müffen uns des— 
halb mit einigen vorläufigen Hauptergebniffen begnügen. 

Mit den ſchlichten und fernigen Hymnen des Hl. Ambrofius wie mit 
denjenigen der jpäteren Lateiner haben die byzantinifhen wenig Ähnlichkeit. 
„Während dieje in ſehr einfachen Formen fih bewegen und an beflimmte 





! Bahnbrehenb wirkte hier Kardinal J. B. Pitra durch feine Hymnographie 
de l’Eglise grecque, Rome 1867; Analecta sacra Spicilegio Solesmensi parata 1 
Paris. 1876; Sanctus Romanus veterum melodorum princeps, Romae 1888 (Anno 
Iubilaei Pontifieii). — Ihm folgten W. Christ et M. Paranikas, Antho- 
logia graeca carminum christianorum, Lips. 1871. — H. Stevenson, L’hymno- 
graphie de l’öglise grecque (Revue des questions historiques XX [1876] 482 
bis 543. — R. Krumbacher, Geſchichte ber Byzantiniſchen Literatur, München 
1891, 308 ff. — Edm. Bouvy, Poötes et Mélodes, Nimes 1886. — F. Cabrol, 
L’hymnographie de l’6glise greeque, Angers 1898. — 9. Grimme, Der Strophen: 
bau in ben Gedichten Ephräm bes Syrers, mit einem Anhang über ben Zufammen- 
bang zwiſchen ſyriſcher und byzantiniſcher Hymmnenform, Freiburg i. d. Schw. 1893. 


Die byzantiniſche Hymnik. 521 


überlieferte Versfüße und Zeilenarten ſich binden, find bei den Griechen 
alle Schranken gefallen. Selten find einfahe Strophen, häufiger umfang- 
reihe, die bis zu zwanzig und mehr Kurzzeilen fteigen, von denen wieder 
jede mwechjelnden Zonfall haben fan, jo daß man dieje Formen mit den 
freien Strophen der Iyrifchen Dichter des 12. und 13. Jahrhunderts, manden 
Dpernarien oder auch Goethes dithyrambenartigen Dichtungen wie ‚Örenzen 
der Menſchheit‘ oder ‚Der Strom‘ vergleihen möchte. Der Schöpfer der 
Melodie wollte nicht beftimmte Füße und Zeilen wiedergeben, ſondern er 
folgte frei dem muſikaliſchen Gefühle; dies allein beftimmte den Tonfall und 
die Länge der Kurzzeilen und die Gruppierung dieſer Kurzzeilen zu Lang— 
zeilen oder Abjägen und zum ganzen Gebäude (olxog) der Strophe.“ 1 

Da die Griehen von den Zeiten des Altertums her gewohnt waren, 
nur die antifen, ſtreng metriſchen Vers- und Strophenformen als eigentlich 
poetifhe Formen zu betrachten, jo kann es nicht befremden, daß die byzan— 
tiniſchen Kommentatoren jelbft die neuen firhlicen Hymnen geradezu als 
Profaterte bezeichneten?. Manche derjelben find in Wirklichkeit nichts anderes 
al3 frei verfifizierte Homilien, Betrachtungen und Gebete, und felbft bei den 
größten Meiftern der byzantinischen Hymnif finden fi Stellen, in melden 
weder die Sünftlichleit der Strophengebäude noch der melodiſche Wohlklang 
der DVerje den eigentlich projaiihen Charakter des Tertes völlig überwindet. 
Trotz diefer gelegentlihen Schwächen ftellt aber die byzantiniiche Hymmit im 
ganzen umd großen doch unzweifelhaft eine eigenartige neue Kunftform dar, 
die fih in ſehr vielen Fällen zu hohem poetischen Werte erhebt. 

Eine gewiffe Schranke fand die willfürliche Geftaltung neuer Strophen: 
formen und Melodien an der praftiiden Aufführbarkeit. Es wurde nad): 
gerade unmöglih, all die wechjelnden Gebilde im Gedächtnis zu behalten, 
und jo fam denn die Sitte auf, neuen Hymnen ſchon vorhandene Strophen 
und Melodien zu Grunde zu legen. Dieje Normalftrophen wurden „Hirmos“ 
(eippög) genannt und in einem eigenen Buche, dem „Dirmologion”, ges 
fammelt, in den liturgiſchen Gejangbücern aber bei jedem Liede der zus 
gehörige Hirmos vermerft. 

Die liturgiſchen Gejänge zerfallen in zwei Hauptarten: die „Kontatia” 
und die „Kanones“. Die erfteren beftehen aus zwanzig biß dreißig und 


"Wilh. Meyer, Anfang und Urfprung ber lateinifhen und griechiſchen 
rhythmiſchen Dichtung (Abhandl. der bayr. Akademie XVII 2, Münden 1885, 328 f). 

? Karaloyddyy nennt Suidas (s. v. /Jwdvwmc 6 Janasznvig) die nicht pro- 
ſodiſchen Verſe bes hI. Johannes Damascenus, diya nsrpou nennt Theodor Prodromos 
ben rhythmiſchen Weihnahtsgefang des Kosmas, ebenfo Gregor von Korinth: zelw 
köyw, ro dusrow Inladh. Ebenjo Leo Allatius, der gelehrtefte Grieche feiner Zeit. 
Es ift alfo wohl erflärli, wenn auch die gelehrten Abendländer durch Jahrhunderte 
jene Hymnen als Profaterte betradteten. Vgl. Stevenson a. a. O. XX 487. 


522 Zweites Kapitel, 


mehr gleihgebauten Strophen, welden eine oder zwei fürzere Strophen als 
Einleitung vorangehen und welche jämtlih mit dem gleihen, aus ein bis 
zwei Kurzzeilen beftehenden Refrain (Epuuvıov oder dxporeisdriov) fließen. 
Die „Kanones* dagegen find aus acht bis neun Liedern zujammengejeßt, 
von welchen jedes feinen eigenen, verjchiedenartigen Strophenbau befikt; 
am häufigſten ift die durch hriftliche Überlieferung geheiligte Neunzapl. 

Der Reim tritt in diejen rhythmiſchen Gejängen ziemlich Häufig auf; 
doch ſchon die ftete Verjchiedenheit der Verszeilen gewährt ihm nicht diejelbe 
Wirkſamkeit, welche er in den modernen Spradhen erlangt hat; er tritt nur 
gewiffermaßen als rhetoriiche Figur auf, um gelegentlih den Eindrud ber 
Darftellung für das Ohr zu heben. Faft allgemein ift dagegen der Gebraud) 
der Afroftihen, d. h. die Benugung der Anfangsbudhftaben, um die Ans 
ordnung der Berje, der Strophenglieder oder der Strophen hervorzuheben, 
mobei die Reihe der Anfangsbuchftaben bald das Alphabet, bald kurze 
Angaben über das Gediht oder den Verfafler darftellt. Obwohl fie ge- 
meinigli den Fluß der Darftellung nicht hemmt, macht fie, graphiſch hervor- 
gehoben, doch leiht den Eindrud einer überkünftlihen Spielerei, bejonders 
im Berein mit den unendlid langen Strophen, von melden faum ein Vers 
dem vorigen gleicht. 

Als der größte der byzantiniſchen Hymnendichter wird Romanos „der 
Sänger” (6 ueimdög) genannt, von welchem es aber lange völlig unficher 
war, ob er unter Kaiſer Anaftafios I. (491— 518) oder Anaftafios II. 
(713—716) nad Sonftantinopel gefommen und unter die Kleriker der 
Blahernentiche aufgenommen worden ift. Erſt in neuefter Zeit neigt fich 
die Wagichale zu Gunften des erfteren Datums!. Die Menäen berichten, 
daß er, in Syrien geboren, erft Diakon in Berytus war, jpäter dann nad) 
Konftantinopel gelommen fei und ala Priefter an der Theotokoskirche gegen 
taufend Hymnen (Xovraxıa wc zept ra yikıa) verfaßt habe. Es find aber 
nur etwa adhtzig derjelben erhalten, allerdings jämtliche jehr lang, da wenige 
unter 24 Strophen zählen. Bon den meijten find wenigftens einzelne Strophen 
in Gebraud) geblieben. Die größte Beliebtheit erlangte ein Weihnachtshymnus, 
der alljährlih bis ins 12. Jahrhundert an der faiferlihen Tafel mit groß- 
artigem Feſtgepränge aufgeführt wurde. Denn in Muſik gejegt, von Chören 
und Wechſelchdren geſungen, ſtellen dieſe langen Hymnen mehr dramatiſche 


ı Für das 6. 6. Jahrhundert entjchieden ih Pitra, Stevenfon, 9. Grimme, 
anfängli auch Krumbacher (Geihichte ber Byzant. Literatur 664—669), für das 
8. Jahrhundert erflärten fih Ehrift, Funk, Jacobi und Gelzer, während 
Bouvdy ſchwankte. In ber Schrift „Umarbeitungen bei Romanos* (München 1899) 
gab Krumbacher (142—152) feine frühere Anfiht auf. Dagegen weit 
G. de Boor (Die Lebenszeit des Dichters Romanos [Byzant. Zeitfchrift IX, 1900, 
633—640]) nah, dab bis jet nichts Durchſchlagendes gegen bas 6. Jahrhundert 
Ipriht und das Problem der Datierung noch nicht endgültig gelöft ift. 


Die byzantinifhe Hymnik. 523 


DOratorien dar, al3 was wir gemeiniglid unter Hymnen verftehen. Der 
berühmte Weihnachtshymnus beginnt alſo: 


H rapdEvos | ahnızpov | röv brepoumov rixrer, 
zal h ya To | omylarov | r@ drpoottw mpogdyat* 
Äyyslkoı | uerd | moruEvov | dofoloyodaew * 
ndyor di | nerd derepog | Ödorrnopoünv* 
di Anäs yap | Eyavındn | raudiov veor 
ö rpö alwvmv Beög. 

Die Jungfrau | heute | den Höchften gebärt; 
Die Erbe eine | Höhle | dem Unermeßnen gewährt; 
Die Engel | mit den Hirten | felig Tobpreifen; 
Die Magier | mit dem Sterne | gehen auf Reifen; 
Denn für uns | geboren | als Kindlein ift heut 

Der Gott von aller Ewigfeit. 


Romano verbindet mit der dogmatiichen Klarheit und Beftimmtheit 
eines guten Theologen wirklich das innige Gefühl und den erhabenen Schwung 
eines großen Lyriker; ja die Natur und Anlage der weitläufigen Gejänge 
bringt es mit fih, daß er auch gelegentlich ein nicht minderes epifches und 
dramatiiches Talent entfalten fanı. Manchmal freilich geftaltet ſich die 
Gliederung von jelbft in einfachlter MWeife, wie in dem ſchönen Pjalm 
auf die Apoftel, wo er zuerft alle miteinander anredet, dann den einzelnen 
bejondere Strophen weiht und endlid wieder das ganze Apoftelfollegium 
zufammen feiert!. Eine gewiffe dramatifche Lebendigkeit erhält auch diejes 
Gedicht dadurch, daß die Anreden fämtlih in den Mund Chriſti gelegt find, 
mit dem Refrain: 

6 aövog yırıaxav ra dyxapdıa. 


Wie ergreifend ift die Anrede an Petrus: 


Petrus, Liebft bu mih? Zw, was ich fage: 

Weide meine Herbe, 

Und Liebe, bie ich liebe, mitleidend mit den Sündern, 
Eingebent meines Meitleids mit dir, 

Daß ih dich, der mich dreimal verleugnet, wieder aufnahm; 
Du haft den Räuber, den Türhüter bes Paradiefes, ber dich ermutigt; 
Schide ihm, wen bu willſt. 

Durch euch fehrt Adam zu mir zurüd 

Aufihreiend: Schöpfer, du gibft mir 

Den Räuber zum Türhüter und ben fhlüffelführenden Kephas, 
Der bu allein die Herzen durchſchauſt. 


In der „Berleugnung Petri“? hat Romanos diefen einen Zug nad) 
dem lurzen Bericht des Matthäus-Evangeliums durch geſchickte Dispoſition 


Christ, — Anthologia 131—138. 
2K. Krumbacher, Studien zu Romanos (Abhandl. ber k. bayr. Akademie 
der Wiflenjchaften [Münden] 1898, 202 ff). 


524 Zweites Kapitel. 


der Erzählung, hübſche Ausmalung einiger Einzelheiten und beſonders durch 
die Einführung lebhafter Dialoge zu einem Heinen Drama der menjhlichen 
Überhebung und Schwäche geftaltet, das durch die Verzeihung Chrifti einen 
berjöhnenden Abſchluß erhält. Auch das antike Element des Chores fehlt 
nicht ; ihm vertreten die Sänger der Lieder, die wiederholt (in Strophe 14, 
16, 17) wie al Richter dem Petrus gegenübertreten und ihm in einer für 
unfer Gefühl faft zu kühnen und anmaßliden Weile Vorwürfe mahen. So 
Ihön die ganze Ausführung ift, findet Kardinal Pitra doch mande Stellen 
ſchleppend, kalt und überladen!. Dies hängt indes mit der Breite und 
dem rhetoriihen Geihmad der Byzantiner zujammen. 

Die Geſchichte des äghptiſchen Joſeph, dieſes Lieblingsthema des chriſt— 
lichen wie ſpäter des mohammedaniſchen Orients, hat Romanos in drei 
größeren Gedichten behandelt, von welchen das erſte die Jugendgeſchichte 
des Patriarchen (feine Träume und feinen Verkauf durch die Brüder), das 
zweite jeine Berjuhung duch Putiphars Weib?, das dritte fein ganzes 
Leben, bejonders aber die Wiedervereinigung mit Vater und Brüdern ausführt. 
Im dritten Liede hat Romanos den dankbarſten Zeil des Stoffe in den 
Vordergrund gerüdt. Durch wirkſame Hervorhebung der jpannenden Momente, 
die lebhaften Dialoge und Monologe, die anjhauliche Detailſchilderung, wie 
3. B. die Reife des alten Jalob nad Ägypten (Strophe 38), wird eine 
förmlich dramatiſche Wirkung erzielt. Dagegen ftört der regelmäßige Kehr— 
vers den natürlihen Gang der Erzählung und ſteht oft nur in jehr ge 
jwungener Verbindung zu den übrigen Strophen ®. 

Der Hymnus auf „Mariä Lichtmeß“ Schlägt mande freundliche Klänge 
der Mariologie an, der „Yüngfte Tag“ die gemwaltigften Atlorde der Apoka— 
lypſe. Als Probe mögen aus letzterem Gedichte einige Strophen folgen. 
Die Einleitungsftrophe hat* ein eigenes kürzeres Schema: 


10 — — — — — 


Nimis plura impedita, frigida, turgida. 

? Das zweite publiziert von Pitra, Analecta sacra 67—77. 

’ Bol. Arumbader, Studien zu Romanos (Abhandl. der k. bayr. Akademie 
der Wifjenfchaften [Münden] 1898, 217 ff). «Nah Krumbacher ebd. 109, 


Vorſtrophe. 


Die übrigen Strophen ſind nach folgendem Schema gebaut: 


Die byzantiniſche Hymnif. 


Denn bu kommeſt, großer Gott, 
zuhmgefrönt auf bie Erbe, 
und zittern wird das Weltenall ; 
wenn ein Strom von Feuersglut 
deinem Throne vorauszieht; 
wenn Bücher werden aufgetan 
und das Berborgne wirb geoffenbart: 
bann errette mid 
bom unauslöſchlichen Feuer; 
woll' dich wurdigen, 
dir mich zur Rechten zu ſtellen, 
gerechteſter Richter mein! 


Hirmus: To @oßepöv aov. 


TE TRRIIER RLE: RERENN 

2 a re 

3 u Ka u a aa EL ea 
4 a ae Eee 
5 er —— 

6 —— — 
7 a a Aa u ae 
— — — — — — 

9 — — — ——— — — 
nn eh ante 

(9 


Strophel. 
bei mir eingedent, 
übergütiger Herre mein 


| | 
ee 
9 een 
REN RE 


Deines jo furdtbaren Richterftuhls 


’ 


und jenes Tages bes Enburteils: 


525 


526 Zweites Kapitel. 


Schauer faßt und Angft mid, 
von ber eignen Gewifjenspein 
überwiefen der Sündenſchuld. 
Wenn bu nieder dich laſſen wirft 
auf deinem Throne bort 
und beginnen das Schuldverhör: 
dann noch zu leugnen 
feine Vergehen, 
nit einer wirb e8 fönnen; 
benn die Wahrheit überführt ihn, 
und die Furt hält ihn befangen. 
Furchtbar wird erbraufen 
dann das Höllenfeuer, 
mit Zähnen knirſcht die Frevblerbrut: 
drum meiner erbarme dich 
vorm Ende und jhone mid, 
gerechteſter Richter mein! 


Strophe 2. Als zum erftenmal gelommen 
und erſchienen 
ben Menſchen ber Herr, 
nicht getrennt vom Erzeuger, 
fiberging er die obern 
Mächte und Kräfte 
und die Orbnungen ber Engel 
und ift Menſch geworden, 
wie es wollte, 
ber da gemadt hat ben Menſchen, 
und er ward aufgenommen 
zum Bater, 
ber ihn nicht verlaffen hatte, 
Unerforſchlich ift 
dein Geheimnis, o mein Erlöfer: 
benn nicht entfernteft bu dich 
gänzlih von deinem Vater 
und gingft dod vom Bater, 
ber bu don ihm nicht zu trennen bijt 
und aud das Weltall erfüllft, 
gerechteſter Richter mein! 


Strophe 3. Bon den Engeln gelobpriefen, 
ift wieder aufgefahren 
in Serrlichleit der Herr 
vor den Augen feiner Jünger: 
indem fo vor ihm berziehn 
die Engel, wird er kommen 
im Glanze, wie geſchrieben fteht. 
Wenn ſowohl die Himmliſchen 
als auch die Irdiſchen 
und zugleich die unter der Erbe 


Strophe 4. 


Strophe 5. 


Die byzantiniſche Hymnik. 


loben werden 
und anbeten 
Chriſtus den Gekreuzigten 
und laut bekennen werden, 
daß er Gott iſt und Schöpfer: 
dann werden die Juden 
ſchauen in Tränen 
auf den, welchen fie durchbohrt haben; 
bie Gerechten aber werben leuchten, 
indem fie jubelnd rufen: Ruhm bir, 
gerechtefter Richter mein! 


Vor der erften Ankunft 
unſeres Gottes 
ging Johannes ber, 
predigend allen die Buße: 
Vorläufer wird fein Elifias 
bei der zweiten 
Erſcheinung, ber gerechte, 
Malachias der Prophet 
bat ihn vorherverkündet, 


indem er fagte: es wird entfenbet werben 


vor dem Tage 
bes Herrn 
Elias ber Thesbite; 
und aud Matthäus jchreibt, 
wie du Iehrteft, mein Erxlöfer, 
über Johannes, 
ſprechend: Dieſer ift es, 
wenn ihr annehmen wollt, 
der da kommen ſoll, 
jener Elias, dich zu verkünden, 
gerechteſter Richter mein! 


Anderes, Großes, Geheimnisvolles, 
hat überliefert 
und weislich gelehret 
in ſeiner Offenbarung 
auch der Theologe 
Johannes und hat gezeigt, 
daß Elias kommen wird. 
Zugleich damit hat er verkündet, 
daß auch fommen wirb 
Henoch, der Glüdfelige: 
dieje beiden, jagt er, 
fende ih aus 
als Propheten in die Welt, 
in Säcke jollen fie fi hüllen 
und mid alfen verkünden. 


527 


528 Zweites Kapitel. 


Dieſe jollen taufend 
und zweihundert 
ſechzig Tage, 
ſchrieb er, dir vorhergehen 
vor deiner Ankunft, 
gerechtejter Richter mein! 


Strophe 6. Alles hat deutlich vorhergejagt, 
was da kommen wird, 
Daniel, der Göttlicdes verkündet, 
wenn wir's genau unterſuchen: 
In einer Woche, 
jagte er, werde ich ben Bund fließen, 
unb alsbald fügte er bei: 
In der Hälfte der Woche 
wird hinweggenommen 
ber Ruhm des Gottesdienftes. 
Und er erflärt, 
dab durch brei Jahre 
und ein halbes verfünden werde 
das Paar jener Heiligen 
die zweite Ankunft. 
Durd) eine andere ebenfo lange 
Zeit wird herrichen 
der ruchlofe Antichrift, 
ſchrecklich verfolgend 
die, welche auf dich harren, 
gerechteſter Richter mein! 


Strophe 7. Es wird aber eine bittere Wurzel finden 

der Antichriſt 
und aus dieſer geboren werden, 
indem er Chriſti Menſchwerdung 

nachäffen will, 
der Schändliche, ganz Unreine, 
der Haſſer der Wahrheit. 

Seiner eigenen Bosheit 

ein würbiges Werkzeug 
wird er fih vom fFleifche nehmen; 

aus einem unreinen Weibe 
in trügerifhem Spiel 
wird er hervorgehen ; 

die Gottlofen aber wird er täufchen, 
als ob eine Jungfrau ihn geboren hätte. 

Wunderbare Dinge wird er tun 

mit Gaufelfünften, 
ber Lügner und Ruchloſe, 

dem bie Frevler anhängen werben; 
und dich werden fie verleugnen, 
gerechtefter Michter mein! 


Die byzantinifhe Hymnik. 529 


Strophe 8. Menn aber fo erfcheinen wirb 
ber fluchbelabene 
und abjcheuliche Verleumber, 
der allem Guten wiberfirebt, 
er, bes Berberbend 
übermütiger Sohn, 
wie ein Gott verehrt 
von ben Getäuſchten 
durch feinen Zug unb Trug, 
wirb er auch von ihnen aufgenommen werben, 
welche bie Liebe 
zur Wahrheit 
Ehrifti nit aufgenommen Gaben, 
fonbern mehr vertrauten 
auf bie Lüge bes Betrügers. 
Worte wird er ausſtoßen 
gegen den Allerhöchſten, 
der Drache, ber ungezähmte, 
und auf alle wird er losgehen, 
die beiner harren, 
gerechtefter Richter mein! 


Strophe 9. Dann wird er fi auch einen — bauen, 
einen großartigen, 
das Volk der Hebräer 
täuſchend und andere, ber Übeltäter, 
wann er erbichtete 
Gaufelbilber bahingaubert 
und Zeichen, ber Gewaltmenjd. 
Aus einer Geftalt in die andere 
Geftalt wird er fi verwandeln; 
in die Quft wird er fliegen, 
und er wirb gejtalten 
wie Engel 
die Dämonen, frevelhaft, 
um zu gehordhen 
feinen Befehlen mit Eifer. 
Drangjal und Not 
wirb über die Menſchen kommen, 
groß und unermeßlich, 
durch Die geprüft werden 
alle beine Diener, 
gerechtefter Richter mein! 


Strophe 10. Die Hungersnot wird groß werben, 
und es wirb verweigern 
auch bie Erde ihre Früchte, 
und Regen wirb gänzlich mangeln. 
Alles Gewädhs 
wird miteinander verborren, 
und Kräuter werden nicht fprofien. 
Baumgartner, Meltliteratur. IV. 3. u. 4. Aufl, 34 


530 Zweites Kapitel. 


Don Ort zu Ort 
werden bie Menſchen fliehen 
und weinen ohne Aufbören. 
Die Verfolgung aber 
wird gewaltig werben 
gegen bie Heiligen, 
Unb in die einfamen Berge, 
auf bie Hügel und in die Schludten 
werben fie fliehen 
aus Furt vor bem Gewaltmenſchen, 
um dem Draden zu entgehen, 
rufend: Sieh’ gnädig an 
und rette beine Diener, 
gerechtefter Richter mein 


Die folgenden Strophen (11—19) entwideln das Bild des Antihrift 
und des Weltgerichtes weiter!, 


Strophe 20. Wenn wir ber gerechten Unterfuhung 

vor dem Richterſtuhl 
bes Ehriftus und unterziehen müfjen, 
Sünder ſowohl als Geredte, 

dann werben zur Rechten 
bie Wohlgefälligen ftehen, 
wie bas Licht ftrahlend, 

bie Linke aber werben einnehmen, 

welche gefündigt haben, 
in Betrübnis und Kümmernis; 

benn nicht wird eine Gelegenheit 
der Verteidigung 
jenen gegeben werben, 

weil alles genau erforſcht wurde, 
was jeber getan hat. 

Denn ber Erlöfung 

Vermittlerin ift gewejen 
beine erfte Ankunft, 

die zweite aber bes Gerichtes, 
das du allen angebroht haft, 
gerechtefter Richter mein! 


Strophe 21. Es werben dann aber unvermweslich fein 

und unfterblich 

nad der Auferftehung alle, 

benn jede Verweſung ift entſchwunden. 
Furcht aber wird nicht fein 

in Zukunft, dab fi nahen könnte 

ſei es ein Wandel, ſei's auch ber Tod; 





! Bol. Pitra, Analecta sacra 39—42 (Strophe 12—20) = Krumbader, 
Studien zu Romanos 1711= bis 173W. 


Die byzantinifhe Hymnik. 


Sondern ewig ift 
für immer ihre Lage, 
ohne Ende, ohne Wendung. 
Die, welche in die Finfternis, 
bie äußerſte, 
geworfen wurben, nad) Gerechtigkeit, 
werben für ewig von ber Strafe 
umſchloſſen in Tränen. 
Die Gerechten hinwieder 
werden dein Königreich, 
das unvergängliche, erhalten 
und ohne Ende beſitzen 
Wonne und Herrlichkeit, 
gerechteſter Richter mein! 


Strophe 22. Wie gewaltig und ſchrecklich werden jammern 

die Verdammten 
in der Stunde des Gerichtes, 
deren einer und erſter ich bin, 

wenn ſie den Richter ſchauen, 
den furchtbaren, ſihend 
auf dem Throne, den Allerhöchſten 

(ſchauen), der Gerechten und 

der Heiligen Scharen 
in Freude ſtrahlen, 

die Sünder aber 
in Beihämung 
und ewiger Berwerfung! 

Und vergeblich werden fie Reue 
zeigen, indem fie rufen: 

O daß wir in der Welt 

ber Buße 
Frucht gezeigt hätten, 

und wir hätten wohl Erbarmen gefunden 
und Gnabe und Vergebung, 
gerechtefter Richter mein! 


Strophe 283. Das ift der Hergang bed Gerichtes. 

O, jo fliehen wir 

bie ewige Strafe! 

Das Bergängliche laßt und verabſcheuen, 
an das Ewige 

und Zufünftige labt uns benfen, 

damit wir Erbarmen finden! 

Laßt uns nicht meinen, daß, 

dba wir nun gefündiget, 

wir gänzlich verworfen jeien, 
wir werden ja die Wunde 

ber Sünde 

durch die Arznei der Buße 


84 * 


31 


532 Zweites Kapitel. 


in furzer Zeit heilen, 
wenn wir, natürlich, wollen! 
Und nun laßt den Erlöfer 
uns alle anflehen, 
rufend: Gib Zerknirſchung 
ben Knechten bein, o Serr, 
damit wir Nachlaffung finden, 
gerechtefter Richter mein! 


Strophe 24. Heiland ber Welt, allheiliger, 
wie bu erichienen bift 
und die Natur aufgerichtet Haft, 
bie in ihren Sünden daniederlag, 
fo, wie ein Erbarmer 
unfihtbarerweife erfcheine 
auch mir, Bangmütiger! 
Den in vielen Vergehungen 
immer Daniederliegenben 
richte auf, bitte ich, 
damit, was ich ſage 
und id rate 
ben andern, ih auch jelbjt beobachte! 
Ad, dic flehe ih an, 
gib Zeit mir zur Buße. 
Und auf die Fürfprade 
der immerwährenben Jungfrau 
und Gottesgebärerin verſchone mid 
und verwirf mich nicht 
vor beinem Angefichte, 
gerechtefter Richter mein! 


Zu no höherem Anfehen als die Dichtungen des Romanos gelangte 
in der griechiſchen Kirche der jog. (Hymnos) „Akathiſtos“, jo genannt, 
weil während desjelben Klerus und Volk ftanden (wie bei unjerem Tedeum), 
ein Danklied an die Mutter Gottes für die dreimalige wunderbare Errettung 
der Stadt Konftantinopel und des Reiches aus den Händen der Avaren in 
den Jahren 626, 677 und 717, welche ihrer Fürbitte zugefchrieben twurde!, 
Zur dankbaren Erinnerung daran wurde bon 626 an der Vigil des fünften 
Faftenfonntags ein eigenes Felt begangen und an demjelben der Hymnus 
„Akathiſtos“ ftehend gefungen. Wer denfelben verfaßt, ift zweifelhaft?. Jeden: 

Christ et Paranikas, Anthologia 140 141. Der ganze Hymnus 
(Georgios Pifides zugefchrieben) bei Migne, Patr. gr. XCII 1335—1348. — Kom- 
mentar von J. M. Querci (ebd. XCII 1347—1372). — Der ganze Hymnus bei 
Christ et Paranikas, Anthologia 140—147. — N. Nilles 8. J., Kalen- 
darium manuale utriusque Ecclesiae Orientalis et Occidentalis II?, Oeniponte 
1897, 156—183. 


° Die Berfafferihaft bes monotheletifhen Patriarhen Sergios ift durch 
neuere Forſchungen ausgeſchloſſen, diejenige des Photios fehr zweifelhaft, die bes 


Die byzantiniſche Hymnik. 533 


falls iſt der umfangreiche Geſang ein großartiges Zeugnis für die Ver— 
ehrung, welche die ſeligſte Jungfrau in der griechiſchen Kirche genoß, wie 
für die anregende, zündende Gewalt, welche die Marienverehrung auch bei 
den Griechen auf die Poefie ausübte. „Was Enthufiasgmus für die heilige 
Jungfrau, was Kenntnis biblifcher Typen, überhaupt religiöfer Gegen: 
ftände und Gedanken zu leiften vermodten, was Schmud der Sprade, 
Gewandtheit des Ausdruds, Kunſt der Rhythmen und der Reime Hinzu: 
fügen fonnte, das ift hier in unübertroffenem Maße bewirkt... So urteilt 
3. 2. Yacobi?. 


Der höchſten Engel einer vom Himmel ward gefanbt, 
Der Gottesmutter zu bringen den Avegruß, 

Und mit der förperlofen Stimme 
Schauend verkörpert, dich, o Herr, 

Stand er und ftaumte, rufend alfo zu ihr: 

Ave, durch die die Gnade erftraßlt, 
Ave, durch die ber Fluch entweicht, 

Ave, des gefallnen Adams Auferftehn, 
Ave, der Tränen Evas Sühne, 

Ave, in der Höhe menſchlicher Betrachtung unzugänglich, 
Ave, in ber Tiefe Engelaugen unerreihbar, 

Ave, weil bu bift bes Herrſchers Königsthron, 
Ave, weil bu erhebft ihn, ber alles erhebet. 

Ave, o Stern, ber bu die Sonne verfündigft, 
Ave, o Leib göttliher Fleifhwerdbung ; 

Ave, durch die neugeſchaffen wird bie Schöpfung, 
Ave, durch bie zum Kindlein wirb ber Schöpfer; 

Ave Yungfrau, immer jungfräuliche. 


Die Heilige ſchauend fi in Reinheit 
Sprach zu Gabriel voller Zuverfidt: 
Das Wunderbare beines Wortes 
Scheint meiner Seele ſchwer zu faffen. 
Der reinften Empfängnis Fruchtbarkeit, wie fafjeft bu fie, rufend: 
Alfeluja. 
Die unerfennbare Erkenntnis zu erkennen, fuchte die Jungfrau ?, 
Und rief alfo zu dem heiligen Boten: 
Wie ift es möglich, aus keuſchem Leibe 
Einen Sohn zu bilden? fag mir bag! 
Romanos unbewiejene Bermutung. (Bol. Byzant. Zeitfchrift XIII [1904] 252 ff; 
„620 621). In einem lateiniſchen Bericht über den Hymnus wird ber Patriarch 
Germanos als Verfaffer genannt, bie Abfaffung in das Jahr 717 gefekt. 
P. dv. Winterfelb, Rhythmen- und Sequenzenftudien IV (Zeitſchrift für deutſches 
Altertum XLVII [1908) 73—88). 
3.82 Jacobi, Zur Geſchichte des griehifhen Kirchenliedes (Zeitſchrift für 
eg V [1881/82] 228—232). 


Ivoov dyvworov yrüvar | h rapdEvog Inroüsa, 


534 Zweites Kapitel. 


Zu ihr fprad jener in Furcht, doch rufend, aljo 
Ave, unfagbaren Rates Eingeweihte, 

Ave, heil’gen Schweigens treue Wahrerin, 
Ave, du der Wunbdertaten Ehrifti Anbeginn, 

Ave, feiner Lehren erftes Hauptftüd, 
Ave Himmelsleiter, bran Gott nieberftieg, 

Ave, Brüde von ber Erd’ empor zum Himmel; 
Ave, der Engel vielgefeiertes Wunber, 

Ave, der Dämonen vielbetrauerte Wunde, 
Ave, die das Licht wunderbar geboren, 

Ave, die das „Wie“ niemandem mitgeteilt’, 
Ave, bie bu ber Weifen Erkenntnis überfteigft, 

Ave, die bu ber Frommen Seele erleuchteft, 

Ave Jungfrau, ſtets jungfräuliche, 


Die ſchönſten Lobpreifungen und Ruhmestitel jpäterer Madonnenpoefie 
finden fih hier alle ſchon vereint, meift in wirklich großartiger Faflung, 
doch mitunter duch Wortjpiele, gefuchte Gegenſätze, fünftlihe Wendungen 
manieriert und wohl auch zu jehr litaneiartig gehäuft, was notwendig eine 
gewiſſe Eintönigfeit hervorruft. Die Vorzüge überwiegen indes die Mängel; 
der plaftiihen Schönheit der Bilder entipricht die Melodie des Rhythmus 
und der funftvolle Bau der Etrophen; Gedanke und Gefühl aber find von 
innigfter Begeifterung getragen. 

Durch die Mannigfaltigkeit feiner Beftandteile und Formen, die finnige 
Anordnung des Ganzen und der einzelnen Zeile entwidelte fih aud das 
griechiſche Brevier zu einem literarijchen Kunſtwerk, das mit Recht die Auf: 
merfjamfeit neuerer Forſcher auf ſich gezogen hat, obwohl der Geihmad der 
Griehen mehr jenem der Orientalen als ihren eigenen helleniſchen Vorfahren 
entſpricht und deshalb auch jelten mit jenem der Abendländer übereinftimmt ?, 

Spophronios, von 634—638 Patriarch von Jerufalem, der große 
Vorkämpfer der tatholifhen Lehre gegen die Monotheleten, dichtete ana= 
freontiihe Dden (Avaxpesvrera) in der Art des Syneſios, deren zarte 
Frömmigkeit, melodiſchen Wohlklang und künſtleriſche Eleganz Leo Allatius 
ſehr hochſchätzte, die aber, vielleicht ihres vorwiegend dogmatiſchen Gehaltes 
wegen, bei den neueren Sritifern weniger Gunft gefunden haben. Etwas 
jpäter dichteten Andreas PHrrhos, Byzantios und Kyprianos, bon 
denen aber wenig erhalten if. Mit Andreas, Erzbiihof von Kreta 
(650— 720), deifen großer Kanon nicht weniger ala 250 Strophen zählte, 





a To pas dppitwg yawıjoaca 
1) ‚mög‘ undeva dıddfaca. 

% fiber die verfchiedenen Zeile und Arten der Hymnen fowie beren techniſche 
Namen und Bebeutung vgl. N. Nilles, Kalendarium manuale I?, Oeniponte 1897, 
wvi—ıxıx. — Christ, Anthologia Lıv—oxri. — Krumbacher, Geſchichte ber 
Byzantiniſchen Literatur 690— 705. 


‚Drittes Kapitel. Die mit liturgiſche Dichtung der Byzantiner. 535 


fam die neue Form der jog. Kanones auf. Die Technik wurde dadurch 
noch fünftlicher als zuvor; allein zugleih nahm auch ermüdende Breite über- 
Hand, und mit ihre alle Arten von Antithefen, Wortipielen und andern 
Künfteleien, welche den Eindrud des Großen und Erhabenen entweder jehr 
beeinträchtigten oder faum auffommen ließen. 

Den höchſten Ruhm in Bezug auf Yormvollendung erwarben ſich der 
jhon erwähnte große Dogmatifer Johannes von Damaskus und fein 
Halbbruder Kosmas der Melode, der mit ihm zugleidh den Unterricht 
des gefangenen Möndes Kosmas genoffen Hatte. Johannes wurde bis 
berab in die neuere Zeit der fog. „Oktoechos“ zugejchrieben, eine heute noch 
gebrauchte Sammlung von Kirchengeſängen für den ſonntäglichen Gottes: 
dienft; doch wird jeine Autorfhaft neuerlich beftritten. Jedenfalls hat er 
wie Kosmas wieder auf Gregorios von Nazianz zurüdgegriffen, zu deſſen 
Gedichten Kosmas Erklärungen ſchrieb; Johannes nahm aud die quantis 
tierende Metrit wieder auf und verband fie mit der rhythmiſchen, ftrebte 
aud in Ausdrud und Form überhaupt größere Mannigfaltigteit und Künft: 
lihfeit an!. Schwung und Klarheit mußten darunter leiden; allein bei 
feinen Zeitgenofjen wie bei den fpäteren Byzantinern wurde er um der Form 
willen dor den übrigen Meloden bevorzugt und am eifrigften nahgeahmt. 


Drittes Kapitel. 
Die nicht liturgifhe Dichtung der Ryzantiner. 


Weniger eigenartig entfaltete ſich die byzantinishe Poeſie außerhalb 
der Firhlihen Liturgie. Die rhythmiſchen Formen fanden in derjelben an= 
fänglich geringe Verwendung. Dagegen wurden die verjchiedenften antiken 
Versmaße nachgebildet, bejonderd der jambiſche Trimeter, weniger häufig 
der Hexameter, das elegiſche Diftihon und der anafreontifche Dimeter. Eine 
ganz auffallende Verbreitung erlangte im Laufe der Zeit der ſog. „politifche 
Vers“, ein fünfzehnfilbiger Ber, der nad den erften vier Füßen eine 
Cäſur hat, urfprünglid jambiſch, aber jpäter jo frei behandelt, daß man 
nur no die Silben zählte. Soweit die Dichter in den hergebrachten Geleifen 
ſich bewegten, neigten fie, wie ſchon die Mlerandriner, allzufehr zu Künfteleien 
und geſuchtem Schmud; foweit fie aber dem Volksgeſchmack Huldigten und 


! Ein ergreifendes Kommuniongebet bei G. Dreves, Blüten bellenifcher 
Hymnodie (Stimmen aus Maria-Laach XLVI [1894] 532—533). — „Kanones” auf 
Ehrifti Geburt, Epiphanie, Pfingften, Oftern, Himmelfahrt bei Christ a. a. O. 
205—236. . 


536 Dritteß Kapitel. 


fi frei in politiſchen Verſen ergingen, fielen fie meift unerträglicher Breite 
und Formloſigkeit anheim. Schon daß in den mehr als elf Jahrhunderten, 
melde von der Gründung bis zum Fall von Konftantinopel vergingen, feine 
eigentliche Neublüte erftand, ift bezeichnend genug; der Niedergang vollzog 
fi übrigens ſehr langjam und nicht ohne Schwankungen zum Beſſeren. 
Noch unter Arkadios (395—408) dichtete der Heide Palladas, ein 
armer Schluder, der, von einem böfen Weib gequält, au Armut fogar feinen 
Pindar und Kallimachos verkaufen mußte, aber in feinem Elende ſcharfe 
und wißige Epigramme zu ftande bradte. Die einhundertfünfzig, die ſich 
erhalten, gehören zu den beiten Produkten des untergehenden Heidentums. 
Intereffant für die Kunſtgeſchichte und felbft künſtleriſch wertvoll ift die 
Beihreibung, welde ein anderer Epigrammatiter, Chriſtodoros aus Koptos 
unter Kaiſer Anaftafios I., von dem Gyinnafion des Zeurippos zu Kon— 
ftantinopel und den darauf befindlichen Statuen entwarf, die bald hernach (532) 
eine Feuersbrunſt vernichtete. Nachläſſiger in der Form, aber jehr fruchtbar 
find die Epigrammatifer Agathias aus Myrina und Paulos Silen- 
tiarios!, ein angejehener Hofbeamter Juftinians, der Chef feiner Staats: 
fanzlei. Ein Teil ihrer Gedichte dreht jih um Liebeständeleien, in andern 
teitt Stark die Neigung zum befchreibenden Element hervor. Vorzüglich in 
ihrer Art ift die Beichreibung, welche Paulos Silentiarios in einem Feſt— 
gedicht für die zweite Einweihung der Agia Sophia (563) von dem herr: 
lihen Bau entwarf. Das Proömium (da aus 134 jambifhen Trimetern 
befteht) trug der Dichter ſelbſt im Kaiſerpalaſte vor, das eigentliche Haupt: 
gediht (1029 Herameter) in der großen Halle des Patriarhats, vor dem 
Kaijer und dem Patriarchen, dem gefamten geiftlihen und weltlichen Hofftaat. 
Dem Archäologen tommt die Schilderung nicht immer mit erwünjchter tech— 
niſcher Klarheit und Genauigkeit entgegen; aber fie ift hochpoetifch, von der 
vollen Weihe des Augenblids getragen, würdig der erhabenen Freier, welche nicht 
nur den Höhepunkt von Juftinians Regierung, fondern aud den glänzenditen 
bisherigen Triumph hriftliher Bildung und Kriftliher Kunſt bedeutete. 


Das eigentlihe Feſtgedicht hebt aljo an: 


Nicht iſt's Heute der Schilde Gellirr, was ben Geift mir befeuert, 
Nicht die Triumphe im Weſten erheb’ ich noch libyſche Siege, 

Nod die Trophäen, errichtet vom Raub der gefchlagnen Tyrannen. 
Auch mit den Medern ber glorreiche Kampf bleibt heut unbefungen. 


Segenverbreitender Friede, bu Echirmer und Nährer ber Städte, 


Heißer dem Herrſcher erfehnt als der Sieg in ſchimmernder Helmzier. 
Auf denn! und rühmen wir laut die Werke zum Heile der Stabt jept! 


'Merian-Genast, De Paulo Silentiario Byzantino, Lips. 1889. 


Die nit liturgiſche Dichtung der Byzantiner. 537 


Laßt uns im heiligen Hymnen bem Haufe, bas jeglihen Kampfpreis 
Hoc überftrahlt, Iobfingen, bem Haufe, vor welhem nun jedes 
Einft hochherrlich gepriefene Werk im Schatten verſchwindet. 


Du aber, prangende Roma, befränze ben Spender bes Heiles, 
Ihn, deinen Kaifer, den Hymnen bes lauterften Lobes umtönen; 
Nicht, weil unter dein Joch die Völker der Erd’ er gebeugt hat, 
Nicht drum, weil unermehlih die Marken bes Reichs er erweitert, 
Bis an das fernjle Gewälbe, bis an bes Oleanos Süften, 

Sondern weil hier dir im Schoß er den riefigen Tempel errichtet, 
Daß hell ftrahlend bu felbft num die Mutter am Tibris verbuntelft. 
Weiche nun, Roms Kapitol, o weiche dem höheren Ruhme! 

Denn mein Kaifer hat, traun, bies Wunder jo weit überboten, 

Als der allmächtige Gott dem Gößen von Stein überlegen '. 

Darum will id, dab du, goldglängende Halle, dem Herrſcher, 

Ihm, dem fceptergeihmücdten, hellihallend fein Loblied zurüdtönft. 
Nicht bloß Hat der Gebieter, die Hand nur erhebend, im Kriege 
Mit ſchildbrechendem Speer Barbaren in Unzahl bewältigt, 

Daß nun ihr nie no bezwungener Stolz deinem Zügel fi beugte, 
Daß fie erzittern vor beinen Geſetzen; ber knirſchende, ſchwarze 
Neid auch erlag vor den Waffen des unwiberftehlichen Kaifers, 

Bor ben Gewalt’gen ber Stadt, vom Hagel ber Pfeile getroffen, 
Ziſcht er verendend und ftürzt in den Staub, ber tief ihn nun einhüllt. 


Di jetzt ruf’ ich herbei, uralte Latiniſche Roma! 
Komm und vereine dein Lied dem Gefange ber jüngern Genoffin; 
Komm! frohlode, daß fie, dein blühendes Kind, ihre Mutter 
Weit überragt; benn bag ift die Freude ber Liebenden Eltern. 


Ihr aber, würdige Männer, geehrt durch die heilige Sorge 
Für die Gefege des Höchſten, verſcheuchet die finftere Trauer; 
Hüllet euch freudig zumal in feftlihe weiße Gewänber; 
Wiſcht aus den Augen die Tränen, dad Naß fünfjährigen Kummers; 
Weihevoll laßt hochtönende Hymnen ben Lippen entftrömen. 


Siehe! ber jceptergewwalt’ge Beherrfher ber Römer entriegelt 
Schon auf Erben bie Pforten des Himmels; Glücdjeligkeit baut er 
Jeglichem Feit und entlaftet die Herzen von nagenden Sorgen ?. 


ꝛ Toooov Znös Fanlsıs brspylaro Vanfos äxsivo, 
Orbaov eldwloro Beög neyas doriv dpsiwr. 

2 DB. 1241 überſetzt von Elliffen, Verfuc einer Polyglotte der europäiſchen 
Poefie I, Leipzig 1846, 187--189. Daß ganze Gedicht (Ekphrasis) mit ber latei- 
nifchen Überfegung von Du Gange bei Migne, Patr. gr. LXXXVI 2111—2158; 
Kommentar von Du Gange, ebd. LXXXVI 2159—2252. — Sonberausgabe von 
Gräfe, Leipzig 1822 und Imm. Better (Bonner Ausgabe der Byzantiner 1837). 
— Metrifche Überjegung von Kortüm und Kommentar bei W. Salzenberg, 
Althriftlihe Baudentmale von Konftantinopel, Berlin 1854. 


538 Drittes Kapitel. 


Manche übertriebenen Huldigungen an den Kaiſer erjcheinen durch die 
Umftände bedreiflih; wenn aber der Dichter fogar die „göttlihe” Roma 
dankbar die „Laiferlihen Füße“ küffen läßt, jo flreift dies doch ftarf an 
orientalifche Hofpoefie. In einem befondern Gedicht von mehr ala 300 Hera- 
metern bejchreibt Paulos aud den „Ambon“ der Sophienkirche; ein anderes 
in furzen Jamben gilt den „pythiihen Bädern“ (wahrſcheinlich in Bithynien), 
an melde fih Juſtinian einen eigenen Palaſt bauen lieh !. 

Einen Übergang von der Schule des Nonnos zu den jpäteren Byzantinern 
bildet Georgios Pijides, unter Kaiſer Herallios (610-641) Diakon an 
der Sophienfirhe und Arhivar (Chartophylar) zu Konftantinopel?, Seine 
Verſe find korrekt und fließend, jeine Darftellung einfah und verſtändlich; 
er nimmt unter den nichtliturgiſchen Dichtern unzweifelhaft die erfte Stelle 
ein und wurde in der Folgezeit viel nadhgeahmt, ſogar mit Euripides ber: 
glihen. Nur in einem feiner kleineren Gedichte: „Auf das menſchliche Leben“ 
(Eis thu dvdpwrwov Ptov), hat er den Herameter in der bon Nonnos 
beliebten Form angewandt. Seine übrigen Gedichte find im jambijchen 
ZTrimeter geſchrieben. Einen wirklih großartigen Vorwurf boten ihm die 
fiegreihen Sämpfe, welche Kaiſer Heraklios nad langer, tiefer Demütigung 
des Reiches gegen die Perſer führte. Er hat dieſelben in drei Gedichten 
mit großer Begeifterung verherrlicht, Freilich nicht eigentlih epiſch, ſondern 
wie es jeit Statius längft üblih war, im gehobenen Pathos eines panegy- 
riftiihen Feſtgedichtes. Die Taten des Kaiſers werden dieſem jelbft erzählt, 
er jelbft zum Mittelpunft der ganzen Darftellung gemadht und demgemäß 
mit Lobpreis überjhüttet, faft jo mie dies in den epiihen Hofdichtungen 
der Berjer und Araber zu geichehen pflegte. Die Kunſt leidet darunter; 
aber den Dichter darf man deshalb doc nicht allzu ftrenge beurteilen, der 
jelbft mit bei der Armee war und fpäter als hiftorifcher Zeuge des Feldzugs 
betrachtet wurde. 

Die Beihreibung der Schlacht, in welcher die Macht des Khosru 
(Chosroes) den erften entjcheidenden Stoß erhielt®, beginnt folgendermaßen: 

Beforgt und voll Verzagtheit jah fi der Barbar i 
Zu drohend fühnem Ratſchluß mit Gewalt gedrängt. 

Wie oft es zu geichehen pflegt, gebar vom Schred 

Der Lage Not furdtbare Unternehmungen. 


! Migne, Pair. gr. LXXXVI 2251— 2268. — Beffings Abhandlung über 
das lektere Gedicht (Werke [Hempel] XIII 194—231). 

? Seine Werfe herausgeg. von I. M. Querei, Opera Georgii Pisidae etc., 
Romae 1777; von 3. Betfer, Bonn 1836; danach abgebrudt bei Migne a. a. O. 
XCIH 1161—1754. — Nachleſe bei L. Sternbach, G. Pisidae carmina inedita 
(Wiener Studien XIII [1891] 1—63; XIV [1892] 51—68). 

> Yın Jahre 622, an der Nordgrenze Perſiens. Die Beſchreibung ſelbſt weift 
auf die FFelfenpäfle von Armenien. 


Die nicht liturgiſche Dichtung ber Byzantiner. 


Nachdem er nun in folder Zeit des ftrengen Zwangs 
Die Stunde, bie am günftigften ihm ſchien, erharrt, 
Die Stunde, wo, auftaudend aus der Tiefe, ſich 
Der Morgenftern, bes Tages Bote, glänzend zeigt, 
So ftellt er in brei Abteilungen fo fein Heer 
Dir auf, bat deinen Scharen feine ganze Macht 
Das Antlik zuzuwenden ſchien; aus Lift geichah's. 
Schlagfert'ge Krieger, feines Heers erlefnen Kern, 
Hatt’ er in Krümmungen bes Hohliwegs rings verteilt, 
Damit fie, unvorbergefehn und unverhofft 
Aus dem Verſteck vorbrechend, in der Deinen Reihn 
Furdt und ber Ordnung Auflöfung verbreiteten. 
Denn dba die Zeit des Zagens jebt vorüber war, 
Betrog die Hoffnung jenen, wie ſchon früher oft; 
Bald, wähnt' er, werde die Verwirrung eines Teils 
Des Heerd zur allgemeinen Flucht die Lofung fein. 
Sedo wohlvorbereitet war bein Feldherrngeiſt 
Zur fräft'gen Abwehr aller Lift, die er erſann. 

Denn eh’ die Nacht noch halbverftrichen, hatteft bu 
Des Feindes ſchlaue, wohlverhüllte Pläne all, 

So wie bu pflegft, duch rege Wachſamkeit erjpäbht. 
Mit eines Gottes Weisheit ordnet'ſt du das Heer 
Und führteft in bie Schlacht es, ala der Sonne Licht, 
Der Feinde Abgott, ihnen wiederum den Blick, 

Wie es am Horizont erfhien, verbunfelte, 

Und eine Schar, nit allzu zahlreich, fandteft bu, 
Vom Heere ab, Gewaltiger; bu rüfteteft 

Pit Waffen fie, doch mehr mit gutem Rat noch aus. 


Kaum waren beine Krieger wie zur Schlacht ins Yelb 
Hinausgerüdt, fo heucheln fie Verzagtheit ſchon 
Und wenden fi in trügerijher Flucht; da ftürzt 
Der Perjer Heer, vor allem aus dem Hinterhalt 
Der auserlefnen Krieger dichte Wolle, ſich 
Zum wilden Angriff auf bie liftig Weichenden. 
Raſch aber wiber jene führteft bu nunmehr 
Die Zapferften der Deinen in das Feld, und bald, 
So ſcharfen Treffens nimmermehr gewärtig, zeigt 
Den Rüden deinen Treuen der beftürzte Feind. 


O nie verlegner Geift, fharfblidender Berftand! 
Der tiefften Einfiht immer rege Flamme bu! 
Doch nein! die Flamme, die des Feuers, brennt und ſchwärzt, 
Dein Geift dagegen, Befter, macht ja alles weiß 
Und lauter, wärmt und glüht, dody nie als wilder Brand. 


Da ber Barbar nun inne ward, daß feine Lift 
Zum böfen Falftrid feinem andern ward als ihm, 
Befahl er allen Kämpfern feines Hauptheers, raſch 
Den Borbern beizufpringen, die zur Flucht gewandt. 


539 


540 


Drittes Kapitel. 


Doch als er biefe Helfer von Entſetzen auch 

Und bleiher Furdt ergriffen ridwärts ſtürzen ſah, 
Da gegen feinen Schugheren wütet er zuerft; 

Mie jüngft mit Ehren, überhäuft er fie mit Schimpf; 
Er löſcht das heil’ge Feuer, giebt das Wafler aus. 
Gewalt’gen Dampfs verworrnen Nebel drauf erregt 
Er, mit ber bunteln Wolfe die verftohlne Flucht 
Zu beden, künftli wandelt er den Tag in Nacht. 
So über Schludten und durch manden engen Paß, 
An fteilem Felsabhang, auf ungebahntem Pfab 
Trieb er die finfternis-umhüllten Scharen bin, 
Samt ihrer unglüdfeligen Genoſſenſchaft, 

Auf Ihroffe Höhn und in bie jähfte Tiefe dann. 


Hieraus erwuchs des mannigfahften Mißgeſchicks, 
Des Falls, des Mordes, der Verſtümmelung Gefahr 
Für fie, doch jene der Zerquetihung allyumeift. 
Und in Verzweiflung wünſchte mehr ald einer wohl, 
Don eines ſchärfern Schwertes Schneid’ erreicht zu fein. 
Bon feines Rofſſes Rüden fühlt’ ein anderer fi 
Durch dad Gebräng hoch in bie Quft emporgerädt; 
Und manden macht der harten Lage Drang ſogar 
Zur Mauer des Kameles weidhbehaarten Leib. 
Nah Art der wilden Tiere fpähten alle fie 
Nach Bergesſchluchten als den Ausgängen zur Flucht. 
Doch beines Heeres ſämtliche Genoſſenſchaft 
War hocherfreut, wie ſie durch göttlichen Beſchluß 
So deines Feldzugs Wunder ſich entfalten ſah. 
Denn unfre Streitmacht war vom Heer bes Feindes noch 
Nicht um den Raum des rafhgeworfnen Speers entfernt, 
Und jeder unfrer Krieger unterſchied gar leicht 
Die falichen Felfen-Bollwerfe und Schanzen bort, 
Wohinter ausgegofien ber Barbaren Heer 
So dicht fi drängte, ohne fi zu regen nur. 


Sie aber ſchwankten nun in foldem Sturm ber Not 
Und ängftliger Bekümmernis, gleihwie bie Flut, 
Wo eine Woge wild die andere drängt und treibt, 
Die eine aus der Tiefe jäh empor ſich hebt, 
Die andere in den Abgrund ftürzt, dann neu fi wölbt. 
So fluteten der Feinde ordnungslofe Reihn, 
Dom Wafjer fern, im rauhen, bürren Felsgeklüft. 
Die einen firebten aus ber Tiefe jäh empor, 
Die andern ftürzten unter jene aus ber Höh', 
Verwirrung furdtbar jo erregend und Gedräng, 
Sinnlos ein jeder, wie er unglüdjelig war. 
Nur wer da fiel, galt allen für beneibenswert, 
Denn für glüdjelig hielten fie den Dann allein, 
Der hart ſchon an des Todes Schwelle hoffend ftand. 


Die nicht liturgiſche Dichtung der Byzantiner. 541 


Bei uns war aber alles Heiterkeit unb Luft; 
Die Wonne herrfcht’ in aller Seelen ftatt der Furcht, 
Und zum Gebet bob jeder mit ben Händen auch 
Sein Herz zu Gott, dem Herrſcher aller Welt, empor. 


Das Gedicht führt den Titel „Über den Feldzug des Kaiſers Heraklios 
gegen die Perfer”, umfaßt 1093 Verſe und ift in drei Abjchnitte (dxpouaeıg) 
eingeteilt. Ein zweites hiſtoriſches Gedicht jchildert den Angriff der Abaren 
auf Konftantinopel und die Rettung der Stadt dur die wunderbare Hilfe 
der Gottegmutter im Jahre 626. In einem dritten Hiftorifchen Gedicht, 
„Heraklias“, behandelte Georgios endlich den völligen Sturz des Königs 
Khosru Parviz (628). Daran fließt ſich ein begeifterter Gejang an das 
von Heraklios wiebereroberte heilige Kreuz (in 116 Zrimetern). 

Wahrſcheinlich im folgenden Jahre, no in volliter Siegesfreudigfeit 
ſchrieb Georgios fein „Heraömeron oder Schöpfungswert" (Hiajuepov 9 
xoonovpyta [1910, bei Hercher 1894 Trimeter]). Es ift nit, mie der 
Titel vermuten läßt, eine Schilderung des Sechstagewerkes im einzelnen, 
fondern eine religiös=philofophiihe Schilderung der Schöpfung überhaupt. 
Der Grundton ift durchaus lyriſch. Der Dichter ift hingeriffen bon der 
Majeftät und Größe, der Meisheit und Liebe, der väterlihen Güte und 
Fürſorglichkeit Gottes, wie fie fih im fihtbaren Weltall darftellt, in den 
großen Naturerjcheinungen des Weltgebäudes, wie in den Wundern der 
Heinften Pflanzen und Tiere. Was er aus eigener Beobachtung geichöpft 
oder aus Theophraft und Nriftoteles erkundet, vereint er liebevoll zum 
lebendigen Bilde, um am Schluß bei der Herrlichkeit des göttlichen Wejens 
jelbft zu verweilen und Gottes Segen auf Kaifer und Reich herabzuflehen. 

Wunderſchön ift 3. B. die Hleinfhilderung der Biene (Ber 1165), der 
Ameiſe (B. 1214), des Pfaus (B. 1245), der Heufchrede (B. 1250), 
der Metamorphoje des Seidenwurms al3 Bild der Auferftehung (B. 1293); 
aber nicht minder gewandt und farbenprädtig find aud die großen Züge 
al fresco ausgeführt: das Bild der Sonne (B. 217 f), der Jahreszeiten 
(B. 259), des Meeres (B. 383), der Lebeweſen (V. 686 ff). 

Auch andere Gedichte, wie dasjenige „Auf die Eitelkeit des Lebens“, 
„Gegen den gottlofen Severus von Antiochia“, „Auf Chriſti Auferftehung“, 
„An Heraklios“ (bei beffen Thronbefteigung 610) und zahlreihe Jamben 
weijen Georgios als einen nicht bloß frommen, fondern auch geiftreichen, 
gewandten und fruchtbaren Dichter aus. Seine Bildung ruht noch ganz 
wejentlih auf jener des Hl. Gregor von Nazianz. 

Eine nicht minder würdige und liebenswürbige Dichtergeftalt ift der 
bereit3 erwähnte HI. Theodoros Studita, geb. 756, geft. 826, Abt 
des Kloſters Studion in Konftantinopel, einer der mutvolliten Verteidiger 
der Bilderverehrung. Bedeutend find feine poetiſchen Leiftungen allerdings 


542 Drittes Kapitel. 


nicht, aber fie zeigen wenigftens wieder den Zuſammenhang religiös-Köfterlichen 
Sinnes mit dem künftlerifch-literariichen Beftreben!. Seine zierlihen Epi— 
gramme auf Chriſtus und die Heiligen find frei von der fonftigen Breite 
wie von den höfiſchen Schmeicheleien der übrigen Byzantiner. In einer 
andern Reihe von Epigrammen hat er ebenfo fromm als finnig, kurz und 
gemütlich ein freundliches Bild des Klofterlebens entworfen, indem er an alle 
Infaffen des Klofters ein kurzes, ſpruchartiges Gedicht richtet, an die heiligen 
Märtyrer, denen das Kloſter geweiht ift, an die Novizen, an den Abt, den 
Prior, den Ökonomen, den „Mahner“, den „Aufpaffer“, den Chorvorjteher, 
den Prozeifionsordner, den Stellermeifter, den Aufjeher des Speifejaals, den 
Koh, die Schneider und Kleiderbewahrer, die Aufmweder, die Krankenwärter, 
die Kranken, den Pförtner, die Ausgehenden, die Heimkehrenden, die weltlichen 
Beſucher, die Vorübergehenden. Der Eyflus in feiner ſchlichten, gemütlichen 
Einfalt ift eine wahre Apologie für das vielgefhmähte Mönchtum. 
Den Krankenwärter mahnt er beijpielämweije: 


Ein göttlih Werk, der Kranken Leiden mitzutragen, 
Nimm mutig es auf dich, mein liebes Kind. 
Warmberzig, freudig wandle deinen Pfad! 

Beim erjten Licht eil Hin zu ihren Betten: 

Bor allem tröfte fie mit deinem Wort, 

Dann bringe jebem ſchön bes Leibs Erquidung, 
Wie er fie braucht, mit Liebe und Verſtand. 

Dein Glied ift er; drum lab ihn darben nicht. 
Ein großer Lohn harrt deines treuen Dienftes, 
Erhabnes Licht, des Himmels ew’ger Ruhm! 


Der Sprud an den Kod lautet: 


Wer gönnte bir, dem Koch, nicht deinen Franz, 
Der du den ganzen Tag dich mühft und plagſt? 
Dein Amt ift knechtlich, doc der Lohn ift groß, 
Die Arbeit ſchmutzig, aber tilgt die Sünde, 
Sept brennt das Feuer bi, einft dich zu ſchonen. 
Drum fpute di, geh munter in die Küche, 
Zünd früh das Feuer an und waſch die Teller, 
Und fo für deinen Bruder wie für Gott, 
Salz mit Gebet das Mahl wie mit Gewürzen, 
Damit des alten Jakob Segen dich begleite 
Und freudig du vollenbeft beine Bahn. 


Ein merkwürdiges Seitenftüd zu dem ernften Dichter des Mönchslebens 
bildet die Dichterin Kaſia, auch Kaſſia, Kaſſiana, Eikaſia und Ikafia? 


2 Nach der Ausgabe von Sirmond, Paris 1696 bei Migne, Patr. gr. 
XCIX 1779-1812. 
? Die Shreibungen Aaonavy, Eixania und /Ixacia find ohne Gewähr. 


Die nicht liturgiſche Dichtung der Byzantiner. 543 


genannt. Sie ftand eben in der Blüte der Jugend, als 830 die Kaiferin- 
Mutter Euphrofyne aus allen Provinzen des Reiches die jhönften Mädchen 
nad Byzanz berief, damit ihr Sohn Theophilos fih aus ihnen eine Braut 
erwählte. Derjenigen, melde er bevorzugte, follte er einen goldenen Apfel 
ipenden, den Euphrojgne ihm zu diefem Zwecke übergab. Kaſia gefiel ihm 
vor allen übrigen; den Apfel in der Hand, konnte er aber den boshaften 
Vers nit unterdrüden: 


Ds dpa da yuvamos Ehhin ra pabla — 
Mie ift do durch das Weib uns das Böſe zugelommen! 


Die freimülige Jungfrau bot ihm den Gegenvers: 


Alla xal dea yuvarög mmydfsı ra xpeirrova — 


Allein dur das Weib aud das Gute ift entiproffen. 


Der flolze Prinz ertrug diefen edeln Freimut nit. Er ging an ihr 
borüber und gab den Apfel einer Theodora aus Paphlagonien. Kaſia aber, 
melde durch ihr mutiges Wort das Diadem verfcherzt, gründete ein Kloſter 
und widmete fih, wie Hroswitha, der Poefie. Außer liturgiſchen Gejängen ! 
find vom ihr Sentenzen und Epigramme erhalten, welche zarte Frömmigleit, 
tiefe Empfindung, aber auch mutige Offenheit und mitunter einen fein 
jatirifhen Zug befunden, Geiftreih und anmutig äußert fie fi über die 
Stellung des Weibes, Glück, Anmut, Schönheit, Ruhmſucht, Reihtum, mit 
Wärme und Begeifterung über die Vorzüge des Ordenslebens, mit Wi 
über die „Dummköpfe“ und über die ſchlimmen Eigenfhaften der Armenier?. 

Auch die Dichter der folgenden Zeit haben faum größere Leiftungen 
aufzuweifen. Die intereffanteften des Johannes Kyriotes, gewöhnlich 
Geometres genannt, find Epigramme gefhichtlihen und literaturgeſchicht— 
lichen Inhalts, von denen einige Ereigniffe der Jahre 975, 986 und 989 
betreffen. Chriftophoros aus Mptilene, der zwifchen 1000 und 1050 
dichtete, zeitweilig faiferliher Hypographeus (Sekretär) und fpäter Statt: 
halter von Paphlagonien war, bewegt ſich ebenfalls am glüdlichften in 
Gelegenheitägedihten und kleineren Spielereien®, wie z. B. dem artigen 
Rätjel auf den Schnee: 





1 Die befanntejten: die drei Idiomela auf die Geburt Chrifti, auf die Geburt 
Johannes’ bes Täufers und auf ben Mittwoch der Karwoche bei Christ et Pa- 
ranikas, Anthologia 103 104. 

? Krumbader, Gejhichte ber Byzantiniſchen Biteratur 715 716. — Derſ., 
Kafia (Situngsberichte der kgl. bayr. Akademie, philof.-hiftor. Klaſſe 1897, Heft 3, 
8305—370). — A. Ludwich, Animadversiones ad Cassiae sententiarum ex- 
cerpta, Königsb. 1898. — English Hist. Review XIII, London 1898, 340. 

s Die Gebichte bes Chriftophoros Mitylenaios, herausgeg. v. €. Kur, 
Leipzig 1908. 


544 Drittes Kapitel. 


Du padteft mich, und bod floh id; 

Du ſiehſt mich fliehn und fannft mich nicht fefthalten, 
Du bdrüdteft mid in die Hand, 

Aber ih entrinne — beine Fauſt bleibt Teer, 


und feine jambijche Anklagejhrift gegen die Mäuje, mworin fie jogar ala 
Frevler an der Literatur verfehmt werden: 


Sie freffen alle Nahrung an im Haus, 
Sie nagen an ben Schriften felbft und an ben Büchern. 


Johann MauropoS, der etwa um 1027 Metropolit von Eudaita 
wurde, berfaßte außer liturgifchen Hymnen ebenfalls jambiſche Gelegenheits- 
- gedichte und Epigramme im Stile der Alten, auf Bilder, Bücher, Kunſt— 
werke, Schriftiteller, Ereigniffe der Öffentlichkeit und des eigenen Privat: 
lebens!, Recht gemütlich ift das Abſchiedsgedicht an das bon ihm verfaufte 
Wohnhaus, etwas „byzantiniſch“ das Gedicht über feine erfte Begegnung mit 
dem Saifer, allzu künſtlich, wortſpieleriſch die Spottverje auf die „Poetafter“ 
(Hoög tobg dxatpws arıylfovrag). 

Vortrefflih ift ein jeglih Map! fprad einer einft. 
Auch ich weiß, daß man Tat und Worte mißt, 
Und grenz’ mit Maßen bie gemefine Rebe ab. 
Ich mein’ faft, Maß bedeutet Symmetrie, 

Und unbemefines Map ift nicht mehr Maß. 
Erwäg ben Sprud und faffe, was er fagt: 

Denn aus dem mweifen Pindar ftammt er her. 

Und miß nur, Liebfter! aber mi mit Maß, 

Und geh vernünftig mit den Worten um, 
Gebrauch das Gute nicht auf ſchlechte Art. 
Mablofigkeit ift allzeit wohl gar ſchlimm, 

Am fhlimmften, wenn des Metrums Weſen fie verdirbt ?. 


Daß ſich poetiiher Geift, künſtleriſcher Geihmad und Titerarifches 
Intereſſe — wenn nicht im großen Stil, fozufagen al fresco, wohl aber 
in Heineren Zeiftungen, gleichſam Miniaturwerten — bis tief ins Mittelalter 
hinein erhielten, bezeugen am beiten die Anthologien oder Blütenlefen 
bon Epigrammen, melde von verjhiedenen zu verjhiedenen Zeitpunkten ge- 
jammelt und herausgegeben wurden. hr früheſtes Mufter war jene des 
Meleagrod von Gadara (60 dv. Chr.). Es folgte dann jene des 
PHilippos von Thefjalonife (40 n. Ehr.), Straton von Sardes 


! Johannis Euchaitorum Metropolitae quae in codice Vaticano graeco 676 
supersunt, loh. Bollig descripsit, Paulus de Lagarde edidit, Goetting. 
1882, — Jambiſche Berfe bei Migne, Patr. gr. CXX 1114—1200. — G. Dreves, 
Johannes Mauropus (Stimmen aus Maria-Laach XXVI [1884] 159—179). 

2 Migne.a. a. ©. CXX 1150 f. 


Die nit liturgiſche Dichtung ber Byzantiner. 545 


und Diogenianos aus Heraklea (2. Jahrhundert n. Ehr.). Während 
der Zeit der großen Kirchenväter zurüdgedrängt, erwachte die Liebhaberei 
für die epigrammatifche Poefie und Kleinkunſt wieder im 6. und 7. Yahr« 
hundert, noch lebhafter vom 9. bis ins 14. Jahrhundert. 


Die zwei reihhaltigften Sammlungen, in welden diefe Erzeugniffe 
zufammenftrömten, find die fog. Anthologia Palatina, von Konftantinos 
Kephalas im Anfang des 10. Jahrhunderts angelegt und nur in einem 
Eremplar der Bibliotheca Palatina (zu Heidelberg) erhalten — und die 
Anthologia Planudea, von dem Mönd Marimos Planudes gegen 
Ende des 13. Jahrhunderts oder im Anfange des folgenden veranftaltet. 
Aus der erfteren finden fih eine Menge Zitate bei Suidas. Marimos 
Planudes nahm auf die fittlihe Reinheit mehr Nüdfiht als auf die bloße 
äfthetiiche Form und ließ deshalb die erotiſchen Epigramme mweg!. 


Die Anthologie des Planudes ift in fieben Bücher geteilt. Das erfte umfaht 
in 91 Kapiteln die epideiktifchen Epigramme (Inſchriften), das zweite in 53 Kapiteln 
die Spottgebdichte, das dritte (32 Kapitel) die Grabgebichte, das vierte (33 Kapitel) 
die Auffhriften von Bildwerfen und Beichreibungen von Ländern und Xieren, bas 
fünfte die Beſchreibung des Bymnafiums des Zeurippos von Ehriftodoros, bas ſechſte 
(27 Kapitel) Widmungsgedichte, bas fiebte die Liebesgedichte. Mit fichtlicher Vor— 
liebe nahm er Stüde aus den erften Jahrhunderten ber bygantinifchen Zeit auf, mit 
Vernachläſſigung althellenischer Produkte, die fich dann um fo reichlicher in ber Samm- 
fung des Kephalas finden. 


Als ein Blütenfranz, der die Haffiihe Periode des Hellenismus in 
bunteftenn Wechjel mit der alerandriniichen Periode, der römischen Kaijerzeit 
und den Dichtungen der griehiihen Kirchenväter und der hriftlichen Byzan- 
tiner verbindet, ift die Anthologie eines der merfwürbigften Denkmäler der 
gefamten griehiichen Literatur. Wenn auch nur faleidojtopiih, in niedlichen 
Miniaturgebilden, gibt fie doch ein ſchwaches Nahbild von dem reichen, 
mannigfaltigen Geiftesleben zweier Jahrtaufende. Sie vergegenmwärtigt auch 
das Zuſammenwirken, teilmeife die wirkliche Vermählung der alttlaffijchen 
mit der chriſtlichen Bildung zum driftlihen Humanismus, und zwar in 
doppelter Richtung: die Anthologie des Planudes eine ernftere, firengere 


! Die Anthologia Planudea wurde duch Janos Laskaris 149 in 
Florenz herausgegeben, dur 9. Stephanus 1566 in Paris, Fr. Phil, Brund 
und Fr. Jacobs ergänzten und verbefferten die Ausgabe, zogen auch bereits bie 
Anthologia Palatina zu deren Studium heran. Weitere Verbreitung erlangte 
diefelbe durch die lateiniſche Überjekung bes Hugo Grotius (heramsgeg. don 
H. de Boſch 1795— 1822), durch die ſchönen Überfegungsproben Gottfr. v. Herders 
(1785 1786, „Blumen, aus der griehijhen Anthologie gefammelt*. Herders Werte 
[Hempel] VII 15—198) und Fr. Jacobs’ (1824) und endlich mehrere Geſamt— 
überjegungen in neuere Sprachen. 

Baumgartner, Weltliteratur. IV. 3, u. 4. Aufl. 35 


546 Viertes Kapitel. 


Richtung, melde die fittlihen Forderungen des Chriftentums unerbittlich 
geltend macht, die Anthologia Palatina eine freiere, weldhe an das Spiel 
heidniſcher Phantafie feinen jo ftrengen Maßſtab anlegt. 


Viertes Kapitel. 
Das Drama „Der feidende Ehriflus‘. 


Die Poefie im großen Stil erftand nicht wieder. Das Bolf, vor dem 
einft ein Aeſchyſos, Sophokles und Euripides mit ebenbürtigen Theater: 
dichtern um die Palme rangen, hatte die Überlieferung der antiten Tragödie 
ganz verloren. Selbft die mittlere und neuere Komödie war jhon in der 
jpätrömifchen SKaiferzeit durhd Mimus und Pantomime verdrängt worden, 
d. h. Schauftellungen, die ohne jeden Fünftleriichen Wert der bloßen Augen: 
mweide, dem höfiſchen Gepränge, der gemeinften Sinnenluft und Lachluſt dienten. 
An Kaiferin Theodora, der Gemahlin Juftinians, der Tochter des „Bären: 
führer“ und vormaligen Tänzerin, hat Prokop anſchaulich das „Künftler”: 
Volk gezeihnet, das an die Stelle der alten Dramatiker getreten war und 
fih der Gunft der höchſten wie der niedrigften Kreiſe erfreute. Wie die 
abendländiihe Kirche, mußte auch die griehifche dem „Theater“, d. h. den 
vorwiegend obizönen Pantomimen, als einem öffentlichen Ärgernis, einer 
Schule der Unzudt und Entfittlihung entgegentreten. Die trullaniſche Synode 
von 691 wie andere Synoden richteten ſtrenge Vorjchriften dagegen. Den 
Prieftern war das Beimohnen derjelben verboten, ja jogar die Beteiligung 
an Hochzeiten, bei denen Komödianten eingeladen waren. Ebenſo war der 
Zirkus verpönt. Theatermelodien wurden aus der Kirche verbannt. Den 
Anwälten wurde unterfagt, fih mit dem Theater zu befaffen und Theater: 
foftüme zu tragen. } 

Das Bedürfnis nad theatraliichem Vergnügen war lange nicht jo groß 
wie einft im alten Hellas, weil das Chriſtentum an ſich eine ernftere Lebens— 
auffafjung lehrte und einprägte, dann aud in feiner herrlichen Predigt und 
Liturgie, mit Zuziehung aller Künſte, Geift und Herz die erhabenften Genüffe 
bot. Dabei fam auch wohl die dialogiihe Form zu glüdlicher Bollendung, 
in geiftlichen Reden? wie in den großen, auf Chöre verteilten Hymnen. Als 





Vergeblich hat der griechifche Gelehrte K.N. Sathas bie Fortdauer bes 
eigentlichen Theaters nachzuweiſen verjudt (/orop. doxiuov zepl ro Wedrpou xal 
züs novanfig tüv Bufavrwav), Venedig 1878. — Bol. Wilh. Eloetta, Beiträge 
zur Literaturgefhichte des Mittelalters und der Renaiffance 1, Halle 1890—1892. 
— W. Ereizenad, Gejhichte des neueren Dramas I, Halle 1893. 

? Siehe die Rede des Patriarhen Proflos auf die jelige Jungfrau (Migne, 
Patr. gr. LXV 786 ff). 


Das Drama „Der leidende Ehriftus”. 547 


Anſätze zu einer chriſtlichen Dramatik ift aber dergleichen kaum zu betrachten, 
ebenfowenig die Nachahmung des platoniishen „Sympofion“ durch den 
Hl. Methodios!, Ein paar vereinzelte Nachrichten bei Theophylattos Simo- 
fattes über die Zeit des Kaiſers Maurifios (591) und bei Liutprand deuten 
wohl auf das Vorhandenſein von Mopfterienjpielen Hin, geben aber über 
deren wirklichen Beftand und Art feinen näheren Aufſchluß. Auch daß die 
Bilderftürmer das Theater begünftigt, der Hl. Johannes Damascenus ihren 
Borftellungen ein Drama „Suſanna“ entgegengeftellt Haben ſoll, ift nicht 
mehrfah und einläßlicher beftätigt. 

Das einzige chriſtliche Drama aus byzantiniſcher Zeit, dad uns er: 
halten ift und das darum lebhaftes Jntereffe erwedt hat, ift „Der leidende 
Chriſtus“ (Apıorög zdoywv), ein Paſſionsſpiel von 2640 Berfen (faſt nur 
ZTrimetern), von denen etwa ein Drittel aus antiten Dramen, meiſtens folchen 
des Euripides, entlehnt ift?, 

Im Prolog drüdt der Dichter jehr ſchön aus, daß er von mehr gleich— 
gültigen Stoffen zu einem eigentlich heiligen übergehen, das Erlöjungswert 
im Stile des Euripides behandeln und die jungfräuliche Gottesmutter zur 
Hauptperjon feines Dramas madhen wolle, indem ihre Muttergotteswürde 
aufs innigfte mit dem Sündenfall Adams, mit der Menjchwerdung und dem 
DOpfertode Chriſti zufammenhänge. 

Nachdem den Poerfien du fromm gelaujät, 
Willft du poetiih nun das Fromme hören. 





' s. Meihodios, Sympofion der zehn Jungfrauen. (Iuuronov 9 nept 
äyvsias) Ed. Leo Allatius, Romae 1656 (Migne a. a. ©. XVIII 27—219). 
Bol. oben 22—29, 

? Gedrudt in der Mauriner-Ausgabe der Opera 8. Gregorii II (ed. A. B. Cail- 
lau), Paris. 1840; danach beiMigne a.a. O. XXXVIII 131338 mit wörtlider 
und metrifchelatein. Überfegung. — Kritifhe Ausgabe von Fr. Dübner, Paris 
1846; 3. ©. Brambs, Leipzig 1885, Teubner. — Deutiche Überfehung bon 
A. Ellifjen (Analelta der mittel- und neugriehifchen Literatur I, Leipzig 1855) 
und €. 9. Pullig (Programm, Bonn 1893). — Die Philologen haben es vor— 
zugsweife für „Euripides“Fragmente u. dgl. ausgebeutet und es fehr geringſchätzig 
behandelt. Heinrih Karl Abraham Eichſtädt, Profeffor der Poefie in Jena 
(Drama christianum, quod Aptorös rdeyuv inscribitur, num Gregorio Nazianzeno 
sit tribuendum [Programm), Jena 1816), findet feine Spur von Poefie darin. — 
IT. Hilberg (Kann Theodor. Probromus ber BVerfafler des Aprarös zdeywv fein? 
Wiener Studien VIII [1886] 282—814) rechnet den Berfaffer zu den „Stümpern*, 
d. h. jenen, welche das auslautende a, ce, » unbeichräntt als Länge behandeln. — 
oh. Dräſeke (Jahrbuch für proteftantifche Theologie X [1884] 689—704) Hält 
wie Baronius ben Apollinarios von Laodikea für den Verfaffer und jeßt es vor 
das Jahr 363. — Der einzige Berfuh einer wirklich äſthetiſchen Würdigung bei 
J. 8. Klein (Gefhidte des Dramas III [1874] 598—635) ift wohl etwas zu 
lobend ausgefallen. — ®gl. A. Döring, De tragoedia christiana, quae inscribitur 
Apıorös rdoywv, Programm, Barmen 1864. 

85* 


548 Viertes Kapitel. 


So horhe wohl. Nah Art Euripibes’ 

Sing’ ich das Leiden, das die Welt erlöfte. 
Da wirft die meiften der Geheimnisreden 

Du hören aus ber Mutter-Jungfrau Mund, 
Sowie bes Lieblingsjüngers, des gemeihten. 
Denn fie zuvörderſt ftellt die Rede bar, 

Wie mütterli in Leidenszeit fie trauert 

Und tief des Todesloſes Grund befeufzt 

Bon Anfang an, der wirflih Grund aud war, 
Daß fie zur Mutter ward des Worts erforen, 
Und ihn nun leiden fieht fo viel des Unrechts. 


Das Stüd ſoll alfo nit einfah ein Paſſions- oder Ofterjpiel fein, 
fondern ein ſolches im Rahmen einer Marienklage, und zwar in den Formen 
der Euripideiſchen Tragödie (xat' Eöperiöyv). Um den Dichter nicht unbillig 
zu beurteilen, muß man in Betracht ziehen, daß die Bühnenüberlieferungen 
der attifchen Tragödie längft erloſchen waren, der Dichter jeinen Euripides 
nicht vom Theater, fondern nur aus Buchrollen kannte. Als Theologe und 
geiftlicher Redner aber fühlte er ſich hauptſächlich von dem religiöjen Ernſt, 
der hinreißenden Rhetorik, dem erjchütternden Pathos, der jhönen und reichen 
Sprade des Euripides angezogen, war aber nicht in die eigentliche Theorie 
und Praris der Dramatik, noch weniger in die Geheimniffe der dramatijchen 
Bühnentechnik eingedrungen. Er Hatte ſich tief in die Tragik des Kreuzes— 
todes Chriſti Hineingelebt; er fühlte es, daß die Klage der Gottegmutter um 
ihren Sohn alle Klagen Hekubas an Tiefe des Schmerzes, der Liebe, der 
Trauer überträfe; aber er hatte noch fein Mufter vor fih, wie der größte 
tragische Vorwurf der Weltgefhichte, nach dem jchlichten Bericht der Evangeliften, 
zum Drama geftaltet werden könnte. Das war eine Aufgabe, die vielleicht 
jelbft die größten Meilter der attiichen Bühne nit auf den erften Wurf 
völlig befriedigend gelöft haben würden. 

So ift der Aufbau des Stüdes jehr naiv und ſchlicht, aber doch nicht 
gerade linkiſch und ungeſchickt; denn es zeigen ſich dabei großes Verftändnis 
für dramatiſche Situation, ergreifendes Pathos, Bühnenwirkung im einzelnen, 
d. h. mannigfadhes dramatiſches Talent. 

Das Stüd beginnt mit einem Monolog der „Gottesgebärerin“ (Beoröxag), 
wie Maria im Perjonenverzeihnis echt-theologiſch genannt wird, und bleibt 
bis weit über die Mitte hinaus vorwiegend Monolog, bis zu Bers 727 
jogar nur durch drei Botenreden und einige Chorpartien unterbrochen. Der 
erfte Vote ift einer der Jünger, der bei der Gefangennahme Ehrifti geflohen 
iM und der Mutter Chrifti nun Nachricht von den Ereigniffen des Abends, 
dem letzten Paschamahl, dem neuen Abendmahl, der Abjchiedsrede, dem Gebet 
am Olberg, dem Verrat, der Gefangennehmung Chrifti, der Verleugnung 
Petri, bringt (VB. 180—266). Der zweite Bote, einer der geheilten Blinden, 


Das Drama „Der leibende Ehriftus*. 549 


erzählt kurz den Prozeß Chrifti vor Pilatus und feine Verurteilung zum 
Kreuzestod (B. 367— 418). Der dritte Bote fommt ſchon vom Sal: 
varienberg und jchildert die Kreuzigung (B. 639—681). Bis dahin 
reduziert fih aljo die Handlung auf epiſchen Bericht und lyriſche Affekte. 
Denn allen Raum vor und zwiſchen den Botenberichten füllt die Marien: 
lage aus. 

65 folgt nun eine ergreifende, mwirkfih dramatiihe Scene — Maria 
und Johannes unter dem Kreuz. Die Mutter jchüttet Hier ihr Leid un— 
mittelbar dem Sohne aus, der Sohn tröftet fie, übergibt ihr Johannes als 
Sohn, fie dem Johannes als Mutter und nimmt dann Abjdhied von ihr 
(8. 727—837). Sie bleibt aber unter dem Kreuze und wohnt unter den 
erihütterndften Klagen dem Opfertode des Sohnes bei. Ahr Weheruf nad 
dem Tode Chrifti bezeichnet den Höhepunkt des erſten Teils. 

Sp einfadh die ganze Anlage ift, jo ift fie doch einheitlih, wohl— 
durchdacht, natürlih und tief empfunden. Das ganze innige Verhältnis 
von Mutter und Sohn, die erhabene Beziehung der Gottesmutter zum 
großen Werte der Erlöfung fommt dabei nad) allen Seiten zum jpredendften 
Ausdrud. Das unfaßbare Leiden des Gottesfohnes wird uns menſchlich 
näher gerüdt, indem es ſich im Mitleiven feiner gebenedeiten Mutter jpiegelt, 
die nur Mensch ift wie wir. Die wunderbare Reinheit wie die innige 
Liebe der jungfräulihen Gottesmutter ſchlägt die zarteften, ergreifendften 
Saiten des Geheimniffes an, ohne der Tragik des erhabenen Sühnetodes 
Eintrag zu tun. Mande haben fih daran geitoken, dat Maria mehr 
in lage und Schmerz zerfließt, als es mit ihrer Würde vereinbar jcheint, 
aber wohl nicht beadtet, daß das nötige Gegengewicht in vielen Zügen 
ihon vorhanden ift, der Dichter die ganze Kraft auf das natürliche Pathos 
entfalten wollte, um im Lejer und Hörer das volle Herzeleid der jehmerz- 
haften Mutter, ſoweit möglid, anklingen zu lafjen. Dies gejchieht aber durch 
die drei Botenreden, die daran ſich knüpfende Marienklage, die teilnehmenden 
Worte des Chors und Halbchors, endlich in der Kreuzesſcene in ſtets wachſender, 
wahrhaft erjhütternder Steigerung. 

Mit Vers 931 beginnt ein zweiter Akt, der ſich zum erften etwa verhält 
wie ein Bild der Hreuzabnahme zu jenem der Kreuzigung. ine Steigerung 
des Schmerzes der Intenfität nad ift nicht möglid), aber der Strom des 
Leidens und der Trauer verbreitet und vertieft fi) gewiffermaßen in milderem, 
aber nicht weniger ergreifendem Pathos. Der Verſuch des Johannes, Maria 
zu tröften, eröffnet einen Blick in die unermeßliche Tragweite der Welt: 
erlöfung. Eine Wechjelrede zwiihen Maria und dem Chore läßt die Hoff: 
nung auf Auferftehung mit dem Schmerz des Augenblides ringen. Schöne 
Scenen zwiſchen Johannes und Joſeph von Arimathäa, zwiſchen Maria 
und Johannes bereiten die Kreuzabnahme vor. Dann wird der heilige 


550 Viertes Kapitel. 


Leichnam auf den Schoß der trauernden Mutter gelegt, und Schmerz und Liebe 
entloden ihr abermals die jhönften, in jedem Herzen anklingenden lagen: 


So faß ihn denn, den Toten, unglüdfel’ge Hand! 

Weh! Weh mir! Was erblid’ ih? Wen berühr’ ih hier? 
Wer ift es, der als Leiche mir im Arme Liegt? 

Wie drück' ich, heil'ger Scheu und Ehrfurcht voll, ihn an 
Die Mutterbruft? Wie mach’ ih meinem Kummer Luft? 
Vergönne mir, did) Toten anzgureben, Sohn, 

Mit Küffen zu bededfen den geliebten Leib. 

Sei mir gegrüßt, zum Iehtenmal Gefehener, 

Den ich gebar, den von ben Frevlern jet erwürgt 

Zu jehn, mir das Berhängnis graufam vorbehielt! 

O lab mich deine heil’ge Nechte küſſen, Sohn! 

Geliebte Hand, die oft ich fahte, dran ih mich 
Emporbielt wie der Epheu an des Eihbaums Kraft! 
Erloſchnes Licht des Auges, vielgeliebter Mund, 
Holdſel'ge Züge, edles Antlig meines Sohns! 

O biefer fanften Lippen anmutreiche Form! 

Hauch Gottes, der den gottentftammten Leib bed Sohns 
Wie Himmelsduft ummwitterte und der mein Herz, 

Spürt’ ich nur feine Nähe, jedem Gram enthob. 

Warum doch wollt’ft du fterben dieſen Tod der Shmad ? 
Was läſſeſt du die Mutter dein beraubt zurück? 

O bürft’ ich dich begleiten in des Todes Haus! 

Wieviel ift beffer fterben, denn dich fterben jehn! 

Bringt Troft mir dein geichlofi'nes Auge? fpendet ihn 
Dein ſtummer Diund? Wie trag’ ich’3, hier zu weilen noch? 
Don Himmelsduft umhauchter Leib, umfonft hat did 

Als zarten Säugling alfo meine Bruft genährt? 
Vergebens zehrt’ ich mid in Müh’ und Sorgen auf 

Seit deines Dafeins wunderreihem Anbeginn? 

Diel Leid trug ich bei deinem Leben, vieles jetzt, 

Sohn bes Allmädht’gen, dbeinetwillen, da du ftarbft. 
Zuerft der erften Schickungen gedenk' ih nun, 


Es folgt nun die Einbalfamierung und Grablegung Ehrifti, mit einem 
wunderſchönen Sceidegruß der allerjeligften Jungfrau, in welchen ſchon 
Lihtftrahlen des nahenden Triumphes hineinfhimmern. Sie ſchaut den 
glorreihen Einzug der Seele Chrifti in die Unterwelt, fie hofft für die ver- 
mwaifte Erde feine baldige Wiederkehr, fie ruft ihn um Hilfe für das verblendete 
Volk an, fie fieht ſchauernd das Gottesgeriht nahen, weldes der gottes- 
mörderiihen Stadt droht. Johannes und Joſeph ſpinnen diefe erhabenen 
Gedanken in einem bedeutfamen Dialoge weiter, mit großartigem Ausblicke 


19. 1308—1349. Daß einige Stellen aus Euripides’ „Ballen“, „Medea“, 
„Hekuba“, „Iroaden” herübergenommen , zerftört weder die Würde no die Schön- 
heit bes ebenjo natürlichen als weihevollen Ausdruds. 


Das Drama „Der leidende Ehriftus“. 551 


auf das Erlöfungswerf. Joſeph fcheidet beruhigt. Nur Maria kann noch 
feine Ruhe finden. Leid und Hoffnung ftreiten noch mächtig in ihrer Seele. 
Ein Bote bringt Nahricht, dab das Grab verfiegelt worden und von Soldaten 
bewadt jei. Das belebt in Maria die Hoffnung auf den verheißenen Sieg. 
Still und friedlich dämmert endlich der DOftermorgen heran. 

Der dritte Teil des Stüdes (von V. 1904 bis zum Schluß) ift ein 
freundliches Oſterſpiel, das die Ereigniffe des erften Dftertages von dem 
Grabesbejuh der frommen Frauen in der Morgendämmerung bis zur Er- 
ſcheinung Chrifti vor den verjammelten Apofteln im Cönaculum, nad der 
Erzählung der Evangelien, dramatifiert. Auch hier bleibt Maria wieder der 
Mittelpunkt. Sie jendet in der Morgenfrühe die frommen frauen zum 
Grabe; fie geht dann jelbft mit ihnen dahin; an fie kommt die Botjchaft 
von der Flucht der Wächter und der Verlegenheit des Hohen Rates, an fie 
die Nachricht von den andern Ericheinungen im Laufe des Tages; fie ift 
endlih mit dabei, wie Chriſtus dem verfammelten Apoftelkollegium fich zeigt 
und ihm die Gewalt der Sündenvergebung überträgt. 

An dieſe Rede Chriſti reiht fih unmittelbar ein Gebet des Dichters an 
Chriſtus und ein ebenjo inniges an Maria. Das ift der Schluß, der deutlich 
darauf hinweift, daß das Ganze nicht als Bühnenfpiel, fondern nur als 
Lejedrama gedaht war. Damit fallen ſchon manche Vorwürfe weg, die man 
gegen das Stüd erhoben hat. In die Rede des Boten, welcher die Flucht 
der Wächter meldet, ift übrigens eine ganze Scene eingefchadtelt, welche 
zwiſchen Pilatus, den Hohenprieftern und den Wächtern ſpielt und die Not 
des Hohen Rates mit komiſchem Anflug ſchildert. Wie diefe Scene, jo ſcheint 
auch anderes diefem dritten Teile erft jpäter eingeflidt worden zu fein. Der 
Schluß aber fteht wieder in ſchönem Verhältnis zum Ganzen. 

Das Stüd hat lange als ein Werk des Hl. Gregor von Nazianz ge: 
golten und wurde deshalb meift defien Schriften beigedrudt. Schon Baronius, 
Bellarmin, Voſſius, Tillemont, Baillet, Rivet, Labbe, Ceillier jpradhen ihm 
das Stüd ab, da die meilten alten Handfchriften feinen Namen nicht tragen, 
das Stück mande Züge aus den Apokryphen bringt und anderweitig die 
theologiſche SKorreftheit und Genauigkeit des „Theologen“ von Nazianz, 
ebenfo deſſen literarifche Feinheit in Bezug auf Ausdrud, Metrif und Sprade 
vermiffen läßt. Die neuere Kritik mweift e&$ dem 11. oder 12. Jahrhundert 
zu; ja einzelne rechnen den Berfaffer jogar zu den „Stümpern”. Die Frage 
fann hier nicht einläßlicher diskutiert werden. Bei allen philologifhen Sünden 
befigt dag Stüd einen hohen Grad von Poefie und wird für die Gefchichte 
des riftlichen Dramas allzeit bedeutſam bleiben, wer immer der Berfafjer 
gewejen jein mag. In der griechiſchen Literatur ift e& leider eine ver: 
einzelte Oaſe geblieben. 


552 Fünftes Kapitel. 


Sünftes Kapitel. 
Erik und Kleindichtung der fpäteren Byzantiner. 


Sp wenig wie das Drama gedieh auch die Epif im größeren Stil. 
Wie jeher unter der byzantiniihen Großmannsſucht und politiihen Klein— 
främerei das eigentlich fünftleriihe Verftändnis dafür abhanden gelommen, 
bezeugt das an ſich guigemeinte Gedicht, das der Mönd Theodofios in 
Konftantinopel auf die Eroberung von Kreta (Alwars räc Konrng) im 
Jahre 961 in fünf Alroafen mit 1039 jambiichen Trimetern verfaßte und 
dem Kaiſer Nitephoros Photas (963— 969) widmete!. Er fieht in dieſem 
militärischen Unternehmen, das den Islam auf feinem Siegeslauf durch Orient 
und Occident faum wejentlih aufhielt, ein Weltereignis, das alle Taten des 
Ecipio, Sulla, Cäfar und Pompejus verdunfelt; ja er macht ſogar den 
guten alten Vater Homer herunter, dab er einen Liliputkrieg befungen Habe, 
der fi mit der Eroberung von Kreta nicht entfernt meſſen könne. 


Du aber, Schlahtenraßler, lärmender Homer, 
Der zum Erhab’nen du das Winzige aufblähft, 
Mach uns nichts vor! Sprid ruhig und bejdeiben. 
Klein ift bei uns ber Ruhm, der Lügenvolle, 
Der traum zehn Jahre dauernden Belagerung. 
Denn da das turmbewehrte Ilion wir kennen 
Aus den Palaftruinen, die noch ftehn, 

Faßt uns Bewunderung zugleich und Lachen, 
Da wir belächeln diefes Ne von Lügen 

Und Beifall klatſchen dem durchtriebnen Wort. 
Doch, Feldherrn⸗Miſchkrug, der zureht du braueft 
Erbärmliches zum hohen fyeierliede, 

Nun richte felbft; entfag der alten Sünde 

Der Menſchenfurcht, wäg mit gerechter Wage, 
Erfenn bes toten KHaijerd Weisheit an 

In Sendungen und Kriegen allenthalben, 
Denn Hein kommt der Hellenen Heer uns bor, 
Klein die Phalangen, Shwählid ihre Führer, 
Ajar, Achill', Odyſſeus, Diomebes, 

Die Ehrgeiz und erlogner Götter Streit 

In langer Zwietraht auseinandertrieb 

Und enbli gar um alle Hoffnung brachte. 
Willſt Lieber du ber Wahrheit Ruhmespfad 
Als außer ihm der Schande Pfade wandeln, 
Dann halte ein mit deinem Troermorben 

Und fing den Blutftrom, ber auf Kreta floß?. 


'N.M. Foggini, Histor. Byzant. Append. nova, Romae 1777. — Danad 
abgebrudt bei Migne, Patr. gr. CXIII 993—1060. 
?® Acroasis I 19-44. 








Epif und Kleindichtung der jpäteren Byzantiner. 555 


Nur ſelten gelingt es aber dem Dichter, einmal den epiſchen Ton wirk— 
licher Erzählung zu treffen; jelbft da ift er gewöhnlich noch geſucht und ge 
fünftelt, wie bei der Anekdote von dem lebendigen Ejel, den der Maſchinen— 
meifter den Kretern mit der Wurfmaſchine zufchleudern lieh: 

Der Wurfmafchine Leiter fpielte jegt, o Herr, 

Den Kretern einen wahrhaft lächerlichen Streid. 
Denn einen trägen Efel lieh er lebend in 

Die Schleuber ſetzen und den Eſel Ejeln fo 
Zuwerfen. Feſtgebunden jchleuberte man ihn, 

Den unglüdfel’gen Himmelsläufer, in das Blau. 
Mit ausgeftredten Beinen felbft fortrudernd, ſchritt 
Der bäurifche Gefell gar zierlich dur die Luft; 
Der jonft fo tief veradhtete war ftolz erhöht, 

Er, fonft am Boden fchnedenfühig träge, jagt 

Als Woltenläufer jet den Kretern Graufen ein, 
Xerxes verwandelte, was damals unerhört, 

Das Land in Meer zu aller feiner Feinde Schred; 
Dein Heer, erhabenfter Romanos, aber madt, 

Als Falken ohne Flügel faule Efel flügge!. 


Selbft hier übertönt der Friehende Ton der Huldigung das bißchen 
Humor der Erzählung. Weitaus der größte Teil der fünf Akroaſen ift aber 
gar nicht epiſch, fondern find überfchwengliche oratoriſche und bombaftifche 
Lobpreiſungen des Kaiſers. Bon feinem Feldzug und von Kreta ſelbſt erhält 
man nirgends ein klares, plaftiiches Bild. 

Wohl der fruchtbarſte der jpäteren byzantinischen Dichter ift Theodor 
Prodromos, der fih jelbft wegen jeiner Armut „Bettelprodromos“ 
(Ptochoprodromos) nannte und deffen Leben in die erfte Hälfte des 12. Yahr- 
Hundert3 fallen muß, da er ſich jchon vor 1143 als Greis bezeichnete, feines 
jeiner datierbaren Gedichte über 1159 hinausreiht. Er hat einen langen 
Roman „Rodanthe und Dofikles“ (in 4614 jambiſchen Trimetern) geſchrieben, 
bei dem ihm die „Aethiopika“ des Heliodor als Vorbild dienten, der aber 
ziemlich langftielig und ungenießbar ausgefallen ift. Es find aud religiöfe 
Gedichte und Epigrammme von ihm vorhanden, kunſtgeſchichtlich merkwürdige 
Berje auf die vier Jahreszeiten, ein aſtrologiſches Gedicht, ein anderes auf 
ein allegorifche Bild des Lebens, eine Menge Gelegenheitsgedihte und 
namentlich Bettelverje. igenartiger find aber feine jatirischen und komiſchen 
Gedichte, in welchen er jeinen ziemlich proletariichen und urwüchligen Humor 
losläßt: wie fein „Katzenmäuſekrieg“, feine „Satire gegen eine lüfterne 
Alte”, die „Freundfchaft in der Verbannung”, die „Satire gegen den 
alten Langbart”, die „Slageverfe über die Beichimpfung der Vernunft“, 


ı Ebd. III 173—187. 


554 Fünftes Kapitel. 


„Amarantos oder des Greiſes Liebe“, „Verfteigerung von poetifhen und 
politiijchen Gelebritäten”, „Ignorant oder Privatgrammatifer“, „An den 
Kaiſer oder für das Grüne“ 1, 

Wie jeine Romantif unerträglich breit, bald mweinerlih, bald pomphaft 
und graufig, jo ift fein Humor meift ziemlich dürftig und plump. 

Den Roman „Rhodanthe und Dofikles“ ahmte Niletas Eugenianos 
während der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts in einem ebenjo meit- 
ihweifigen Roman nad, der in neun Büchern (3641 Trimetern) von der 
„Liebe der Drofilla und des Charifles” handelt. Im ganzen ift er weibifcher 
und jentimentaler als Prodromos, verwechſelt aber gelegentlich wie dieſer 
Humor mit Ungezogenheit und finft dann zu bedenkliher Roheit herab. 
Wenn er auch gern in die antifhelleniichen Zeiten zurüdgreift, hat er fi 
doch daran weder feineren klaſſiſchen Geſchmack noch Selbftändigkeit erworben ; 
jeine Ausftattung ift faft ganz aus fremden Muftern zufammengerafft. Noch) 
ſchlimmer gefünftelt und gewunden, ein wahrer „filiftifcher Eiertanz“ ift der 
Profaroman „Hysmine und Hysminias“, den Euftathiog Makrembolites 
um diejelbe Zeit fchrieb. 

Bon andern Dihtern ift nicht viel zu berihten. Johannes — 
teros ſchrieb ein aſtrologiſches Gedicht von 1351 Trimetern, der Patriarch 
Lukas Chryſoberges von Konſtantinopel (1156—1169) ein Lehrgedicht 
über die Faſtendiät, Nikephoros Proſuchos kleinere jambiſche Gedichte, 
Konſtantinos Stilbes ein Gedicht über die Feuersbrunſt, welche die 
Kaiſerſtadt 1198 verheerte Manuel Holobolos Hymnen und jambiſche 
Gedichte, Konſtantinos Anagnoſtes etliche Gelegenheitspoemata, Jo— 
hannes Katrares ein verſifiziertes Pamphlet gegen den Rhetor Neophytos, 
Georgios Lapithes ein moraliſches Lehrgedicht in 1491 politiſchen Verſen. 

Ein kleines „Dramation“ in 122 Trimetern, von Michael Hapu— 
chleir verfaßt, worin ein Weiſer mit der Tyche und den Muſen hadert, 
während es dem Bauer gut gebt, ift faſt ohne Handlung, aud nicht ſonderlich 
reich an Gedanken, aber artig ausgeführt. 

Ein Seitenftüd zu Theodoros Prodromos bildet Manuel Bhiles 
aus Ephejos, der etwa zwiſchen 1275—1345 in Sonftantinopel lebte, ohne 
öffentliches Amt, fih mit einer ziemlich bettelhaften Literatentätigfeit durch— 
ſchlug, aber dabei das anſpruchsvollſte Selbftgefühl behauptete. In 2015 Tri: 
metern beſchrieb er die Eigenjchaften der Tiere (Ileot Gov lduörmrog), in 
381 Trimetern den Elefanten. Dazu fommen Gedichte auf verſchiedene Kunft: 
werfe (Malereien und Skulpturen), auf Kirchenfeſte, eine Maſſe Lob-, Bitt- 
und Dankgedichte, oft mit guten Einfällen und poetiſch ausgeführt, endlich drei 
dialogiſche Gedichte, welche man aber mit Unrecht als dramatiſche bezeichnet. 


ı Proben bei A. Ellifjen, Verſuch einer Polyglotte I 219—223. 


Sehftes Kapitel. Literatur in der Vulgärſprache. 555 


Das allegorifhe Gediht „Meliteniotes“ (in 3060 politischen Werfen) 
ift ein Berdungeheuer, das weder wirkliche Poefie enthält noch in feinen 
grotesfen Aufzählungen (der „fieben Hinderniffe“, aller Steine und Mineralien, 
aller alten Götter ufw.) verläßlihe antiquariiche Aufichlüffe bietet. Der 
byzantiniſche Alerandrinismus geftaltete fich weit troftlofer und unfruchtbarer 
al3 der ältere am Nil. 


Sechſtes Kapitel. 
Fiterafur in der Bulgärfprade. 


Wie fih neben dem altklaſſiſchen Latein das Bulgärlatein heranbildete, 
das die Grundlage der romaniſchen Spraden ward, jo entmwidelte ji neben 
dem altklaſſiſchen Griehiijh und der ala Schriftiprache wenigftens teilweife 
firierten Ave ein bewegliches Volks-Griechiſch, das immer mehr von der 
funftvoll ausgebildeten Literaturfprahe abwih und vielfadh fo verbauerte, 
daß der gemeine Mann die Schriftwerfe der Klaſſiker und Kirchenväter nicht 
mehr veritand. Die Verjchiedenheit wurde aber nicht etwa dur Verſetzung 
mit fremden, morgen: oder abendländiichen Sprachbeftandteilen herbeigeführt, 
jondern lediglich durch nachläſſige und fehlerhafte Ausſprache, Vernachläſſigung 
der grammatiſchen und ſyntaktiſchen Regeln, Verwechſlung ähnlider und 
ſynonymer Worte, willfürlihe Neubildungen mit und ohne Analogie. Zum 
Vorteil der literarifchen Bildung, aber nicht zu jenem der Religion gereichte 
es, daß die höhere Geiftlichleit durchweg fireng an der alten Würde und 
Reinheit der Sprache feithielt. Die liturgiſche Poefie wie die geiftliche Be— 
redjamkeit und Theologie Haben ſich jo einigermaßen auf der alten Höhe 
behauptet. Es fehlte aber an einer entipredhenden religiöjen Volksliteratur, 
und flatt einer jolden ward das Volk mit einer Maffe profaner Erzeugniffe 
— Proſa und Poefie — im neueren Vollsjargen überflutet !. 

Nur jehr wenige Schriftitellee haben, wie Theodoros Prodromos, 
in beiden Spraden gejchrieben. Als Dichter in der Vulgärſprache erjcheinen 
ferner Michael Glykas (mit einem Gedichte über feine Gefangennehmung), 
Stephanos Sachlikis (mit einer fehr unerbaulihen Selbitbiographie), 





ı Über den Zeitpunft, in welchem die Umbildung des Altgriehifchen zum 
Mittel» und Neugriehifchen als abgeichloffen zu betrachten ift, wird geftritten, „Ebenfo 
falfh wie die Annahme, das Neugriehifche habe fih erfi nad) dem 10. Jahrhundert 
entwidelt, wäre daher bie umgelehrte, es fei im 3.—4. Jahrhundert ſchon aus 
gebildet geweien, und bie nad der alten Grammatik richtigen Formen ſeien bereits 
tote, Tünftliche gewejen und nur aus bewuhter Ablehnung bes Neuen zu erflären“ 
(KR. Dietrich, Unterfuhungen zur Gejhichte ber griedh. Sprade [Byzant. Archiv, 
Heft 1], Leipzig 1898, 142). 


556 Schftes Kapitel. 


Georgios Chumnos (mit einem Auszug aus dem Alten Teſtament in 
2800 gereimten politiichen Berjen), Johannes Pikatoros (mit dem 
„Zraum einer Hadesfahrt”), Marino Falieri (mit einem religiöjen 
Mahngedviht), Markos Depharanas (mit einem derben Lehrgebicht 
und einer „Sujanna”), Leonardos Phortios (mit einem Gedicht über 
das Militärwejen) und Theologetos Moſcholeos (mit einem Leben 
des hl. Nikolaos) !. 

Bon anonymen Gedichten mögen erwähnt werden: „Die Geſchichte 
von Ptocholeon oder von dem weiſen, beohrfeigten und gejchorenen Greije“, 
die angebliden „Orakelſprüche Leons des Weiſen“, „Die Meffe des Bart: 
loſen“ (eine unflätige Satire), „Die ſüfiſchen Sentenzen“ (melde in dem 
perfiihen „Rabäbnäme“ des Sultans Valad erhalten find), „Das Mahn: 
gediht an einen alten Bräutigam“, „Die Reimerei dom Mädchen und 
Jüngling“ (eine ziemlih wüſte Verführungsgefhichte), „Das Leben in der 
Fremde“, „Die Zeit nah der Arbeit” (Ansxonog), „Das Opfer 
Abrahams“ (eine Art Myſterienſpiel). Dichteriſch am bedeutendften jind 
die jog. „Khodiſchen Liebeslieder“, eine Heine verfifizierte Liebes— 
novelle, in welche eine Sammlung von Liedern eingejhaltet ift, die nad 
Zahlen akroſtichiſch geordnet ift. Alles trägt das Gepräge wirklicher Vollks— 
dichtung. 

An die Stelle der antiken Epen, an denen ſich einſt Hellas gebildet 
und an denen ſich noch ein Baſilios und Gregorios von Nazianz erfreut, 
traten jetzt romantiſche Bearbeitungen derſelben, „von ſchwierigen Wörtern 
frei und in eine klare, verſtändliche Sprache übertragen“, ſo die in 8799 
achtſilbigen reimloſen Trochäen abgefaßte „Ilias“ des Konſtantinos Har— 
moniakos, die nicht einmal nach Homer ſelbſt, ſondern nach den Alle— 
gorien und Carmina Iliaca des Tzetzes und der Verschronik des Konſtantin 
Manaffes gearbeitet ift; dann „Der trojaniſche Krieg“, der nad Fränkifcher 
Vorlage ausgeführt ift; die in zwei Bearbeitungen vorhandene „Achilleis“, 
worin Adilleus mit zwölf Nittern auf QTurniere außreitet, um die Hand 
der Schönen Polgrena zu gewinnen; endlich der „Aleranderroman“ ?, nad 
Pieudo » Kalliftdenes in zwei metriihen Bearbeitungen verfifiziert, zu denen 
fi eine noch weit volfstümlichere Projabearbeitung gejellte. 

Sehr beliebt und daher mit romantischen Ausihmüdungen wiederholt 
behandelt ift die Geſchichte Beliſars. Die Sagen, welche fih an die Kämpfe 
der Afriten, einer Art Markgrafen an den öftlihen Reichsgrenzen, knüpfen, 

! Eingehendes bei Krumbacher, Geſchichte der Byzant. Biteratur 800—910. 
— Ellifjen, Verſuch einer Polyglotte I 243—323. — U R. Rangabe und 
D. Sanders, Gejhichte der neugriechiſchen Literatur, Leipzig 1884, 1—15. 

? Bgl. Kroll, Der griechiſche Alerander-Roman (Beilage zur Allgem. Zeitung 
1901, Nr 38). 


Literatur in der Vulgärſprache. 557 


find im „Bafilios Digenis Akritas“ zu einem förmlidhen National: 
epos zufammengefloffen, das in verjhiedenen Bearbeitungen bis zu 3094, 
3749, ja ſogar in einer jpäteren auf der Inſel Andros 4778 Berje zählt, 
ein höchſt merkwürdiges Seitenftüd zum „Eid“!. Demjelben Kreis gehört 
auch „Der Sohn des Andronikos“ an, mährend die Chronif von Morea 
die nah dem vierten Kreuzzug gegründeten Feudalherrſchaften im Pelo— 
ponnes befingt. 

Poetiſch ziemlich wertlos ift die „Eroberung (AAwarz) von Konftan: 
tinopel“, ein Aufruf an die hriftlihen Mächte in 1044 politischen Verſen; 
wirklich ergreifend ift dagegen der „Slagegefang auf den Fall von Kon— 
ftantinopel“ (118 politifche Verſe), dem wahrſcheinlich ein eigentlihes Volls— 
lied zu Grunde liegt. 

Andere geihichtlihe Gedichte behandeln den Tod Zimur Lenks, die 
Schlaht bei Barna (1444), die Eroberung von Athen durch die Türken 
(1458), die Peſt von Rhodos (1498 und 1499), das Erdbeben von 1508, 
die Heldentaten des Albanefen Merkurios Bua, der 1527 in kaiſerlichen 
Dienften zu Treviſo ftarb, die Taten des Grafen Tajapiera, eines Griechen 
von Korfu, der ſich als venezianisher Hauptmann im Anfang des 16. Jahr: 
hunderts durch Beftrafung von Piraten verdient machte, 

Ungleih mehr zeigt ſich der durch die Kreuzzüge völlig umgeftaltete, 
mittelalterliche Volksgeift in den zum Zeil umfangreihen Versromanen, in 
welchen NRittertum und Märdenpoefie in buntefter Phantaftit ſich durch— 
kreuzen, wie „Sallimahos und Chryjorrhoe“, „Belthandros und Chryfantza”, 
„Lybiſtros und Rhodamne“. Aus dem Kreis der Tafelrunde ftammt „Der 
alte Ritter”; in „Phlorios und PBlatziaphlora” find Flore und Blandhefleur 
leicht erfenntlich, ebenjo die jhöne Magelone in „Imberios und Margarona“, 
Das romantifhe Epos „Erotofritos” des Vincent Cornaro, der um die 
Mitte des 16. Jahrhunderts auf Kreta lebte, umfaßt nicht weniger als 
11400 gereimte politiiche Verſe. 

Auf Kreta wurde fpäter, unter italieniihem Einfluß, auch die Dra- 
matif wieder gepflegt. Die bedeutendfte Leiftung derjelben ift die „Erophile” 
des Georgios Chortatzes (zwifchen 1581 und 1637 gedichte). Sie lehnt 
ih an das Drama „Orbecche“ des Giod. Batt. Giraldi, genannt Einthio, 
während die vier Zmwijchenjpiele dem „Befreiten Jeruſalem“ Taſſos ent: 
nommen find. 





! A. Rambaud, Une Epopse Byzantine au X* siöcle (Revue des Deux 
Mondes IV [1875] 922—946. 

2 0 zpeofvs irrörms. Ein griechiſches Gedicht aus dem Sagenkreis der Tafel⸗ 
runde, in neuer Zertrevifion und zum erflenmal in vollftändiger Verdeutſchung von 
U. Elliifen, Leipzig 1846, 


558 Siebtes Kapitel. 


Der aud) bei den Griechen jehr beliebte „Phyfiologus“ ! regte zu mannig= 
fachen Ziergefhichten an, mie der „Kindergeſchichte von den Vierfüßlern“, 
dem „Pulologos“ (Bogelbuh), dem „Pſaralogos“ (Fiſchbuch) und der 
„Legende vom ehrjamen Ejel“, welche unter dem Titel „Die ſchöne Gedichte 
bom Ejel, Wolf und Fuchs“ eine zweite Bearbeitung fand. Die Pflanzen: 
welt findet fi mit drolligen Perjonifitationen in dem „Obſtbuch“ (Pori- 
fologo8) verherrlicht. 

Der Zahl der Bolfabücher find endlich, wenngleih in Proſa gejchrieben, 
ebenfalls „Syntipas“ ſowie „Stephanites und Ichnelates“ beizuzählen, welche, 
Indien entftammt, fi auf verſchiedenen Wegen weithin im Morgen: und 
Abendland eingebürgert haben. 


Siebtes Kapitel. 
Die griedifhen Humaniſten im Abendland. 


Die gegenfeitigen Beziehungen zwiſchen der byzantinifchen Literatur und 
den wefteuropäilchen Literaturen des Mittelalters find nod wenig erforicht. 
Einen für die allgemeine Weltfultur bedeutjamen Einfluß erlangten die 
byzantiniſchen Griechen jedenfall erft, ald die Macht der Türken immer 
näher an Byzanz heranrüdte und endlih das oftrömijche Reich völlig in 
Trümmer jhlug. Seht firömten gelehrte Griehen in Menge nad Italien, 
wurden die Lehrmeifter des Abendlandes und ließen hier die nahezu völlig 
abhanden gelommene Kenntnis griechiſcher Sprache und Literatur neu auf: 
erftehen. Borbereitend dafür Hatten die wiederholten kirchlichen Unions— 
verfuche gewirkt, welche auf den zwei allgemeinen Konzilien von Lyon (1274) 
und Florenz (1439), wenn aud nur für furze Zeit, eine wirkliche Union 
erzielten. Beſonders durch die Uniondverhandlungen zu Florenz hatte der 
aufblühende Humanismus mit Bezug auf die griechiſchen Studien nicht nur 
die mädhtigften Anregungen, ſondern auch die fruchtbarſte Förderung erhalten. 
Unter den griehiihen Humaniften jelbft findet fi fein Dichter von größerer 
Bedeutung. Es bleiben deshalb nur noch einige Züge nadhjzutragen, welde 
die Verdienfte diefer nach Italien verjchlagenen Griechen beleuchten ?. 


ı 8, Goldftaub, Der Phyfiologus und feine Weiterbildung in der latein. und 
byzant. Literatur (Philologus, Supplementbd VII 3), Leipzig 1901. — K. Krum— 
bader, Das mittelgriehiiche Fiſchbuch (aus Situngsber. der bayr. Afabemie ber 
Miflenih.), Münden 1903. 

2 F. Legrand, Bibliographie Hellönique ou description raisonnée des 
ouvrages publi6s en Grec par des Grecs au XV* et XVI* siöcle, 2 Bde, Paris 
1885. — 6. Bernhardy, Grundriß ber griedhijchen Literatur, Halle 1876. 4. Ber 


Die griechiſchen Humaniften im Abendland. 559 


Der launische Leontios Pilatos, bei welchem Petrarca und Boccaccio 
ihren erften griehifchen Unterricht erhielten, ftarb ſchon 1364, als er, voll 
ehrgeiziger Pläne, aus Italien nah Griehenland zurüdtehren wollte. Ein 
Blisftrahl traf ihn am Fuße des Maftbaumes, an den er fih im Sturm 
geflüchtet hatte. Mehrere Jahrzehnte fanden die von Petrarca ausgegangenen 
Anregungen wieder feinen namhafteren Vertreter. Manuel Chryſoloras, 
um die Mitte des 14. Jahrhunderts in Konftantinopel geboren, ward 1393 
vom Kaiſer Manuel Palaeologos nah Venedig gejhidt, um Hilfe gegen 
die Türken zu werben, folgte 1396 einer Einladung nad Florenz und 
eröffnete hier einen Kurs für griehifhe Sprade nnd Literatur, beſuchte in 
diplomatischen Angelegenheiten mehrere Höfe, ward von Johann XXIII. an 
das Konzil von Konftanz gefandt und ftarb in diefer Stadt 1414. Lionardo 
Bruni, Guarino, Aurispa waren feine Schüler, Franz Filelfo ward 
jogar jein Schwiegerſohn. Bon ihm ging die erfte Wiederbelebung der 
griehiihen Studien aus. Der Eifer, den er medte, trieb Guarino wie 
Filelfo und Aurispa nad) Konftantinopel, um fi noch mehr in das Griechiſche 
hineinzuleben. Theodoros Gaza aus Theffalonih ward um 1430 dur 
die türfiihe Eroberung noch im jungen Jahren nad) Italien verjchlagen, 
wohnte dem Konzil zu Florenz bei, wurde Profeffor zu Ferrara, dann 
von Nikolaus V. nah Rom gezogen, ging nad deffen Tod nad) Neapel, 
mard von Paul II. nad Rom zurüdberufen, fand aber bei Sirtus IV. 
nicht diefelbe Huld und flarb in Kalabrien 1475, drei Jahre nad dem 
Tode feines Freundes und Gönners, des Kardinals Beſſarion (F 1472). 
Er war ein ebenfo bejheidener wie gründlicher Gelehrter, deſſen wiſſenſchaft— 
lihe Tätigkeit weite reife 309. 

Ein glänzendes Jrrlicht war dagegen der aus dem Peloponnes ftammende 
Georgios Gemiftos Plethon, welcher 1438 Vorträge über platonijche 
Philoſophie in Florenz hielt und Coſimo de’ Medici die Anregung zur 
Stiftung feiner platonifhen Akademie gab. Angejehene Männer hörten ihn 
gern; allein der Kern feiner Lehre war ein bermorrener Neuplatonismus, 
der ihn jelbft zu allen Torheiten einer heidnifhen Theoſophie hinriß, eben— 
fall3 unter den übrigen Mitgliedern der Akademie großes Unheil anrichtete. 
Auch nachdem er (1455) geftorben, dauerte der von ihm angeregte Streit 
zwiſchen Ariſtotelikern und Platonikern fort. Georgios von Trapezunt 
(7 1486) ftand mit leidenſchaftlicher Heftigkeit, Theodor Gaza ruhiger und 
ſachlicher für die Philoſophie des Ariftoteles ein. Mihael Apoftoliog, 
der, nach längerer Gefangenihaft aus feiner Heimat vertrieben, fih in 
Stalien niederließ und an Kardinal Beſſarion einen wohlwollenden Gönner 


— — 


arbeitung I 731—733 739—752. — C. F. Boerner, De doctis hominibus Graeeis 
litteraturae Graecae in Italia instauratoribus, Lips. 1750. 


560 Siebtes Kapitel. 


fand, erhob fi gegen die beiden Xriftotelifer, ward aber nicht nur von 
Andronikos Kalliftos, einem tücdtigen Kenner des Ariſtoteles, be- 
fämpft, jondern aud von feinem Gönner Beſſarion mit väterlicher Ent- 
ſchiedenheit zurechtgemwiejen. 

Beijarion, um 1395 in Trapezunt geboren, war jelbft einft im 
Peloponnes ein Schüler des Plethon geweſen. Als Erzbiihof von Niläa 
wohnte er 1438 mit dem Kaiſer Johann Palaeologos dem Konzil zu Florenz 
bei, vereinigte fih mit der Kirche von Rom und ward vom Papſte zum 
Kardinal, zum päpftliden Legaten und Patriarchen von Sonftantinopel 
ernannt. Er war der liebreihjte und treuefte Wohltäter feiner nad Italien 
flüchtenden Landsleute, ein nicht geringerer Förderer der Wiſſenſchaft. Seine 
Handicriftenfammlung ward der Grundftod der berühmten Marfus-Bibliothef 
bon Benedig. Obwohl jelbit jehr für Platon eingenommen, wollte er doch 
bon dem neuerungsſüchtigen Sturmlauf wider Ariſtoteles nichts willen, 
jondern bewährte in den philoſophiſchen Streitigfeiten feiner Yandaleute eine 
hohe geiftige Überlegenheit, indem er die Hadernden zu ruhig» fachlicher, 
wahrhaft wilfenjhhaftliher Behandlung mahnte. 


„Es hat mir leid getan“, fchrieb er an Michael Apoftolios, „dab bu einen fo 
gelehrten Mann wie Theodoros (Gaza) der Unwiffenheit angellagt haft. Aber daß 
bu in ebenjo unwürdiger Weiſe Ariftoteles jelbjt behandelt haft, Ariftoteles, unfern 
Führer und Meifter in jeder Art der Gelehriamfeit, dab du gewagt haft, ihm grobe 
Beleidigungen zuzufchleudern, ihn unwiſſend, ertravagant und undanfbar zu nennen, 
ihn fogar übeln Glaubens anzuflagen, geredter Himmel, wie kann man das tun? 
Ich für mid glaube, daß es feine größere Bermeffenheit gibt. Kaum kann id 
Plethon ertragen, ober befjer gefagt, ih kann ihn micht ertragen, fo große Rückſicht 
auch ein folder Mann verdient, wenn ihm ähnliche Worte gegen Ariftoteles ent- 
wifchen. Wie fönnte ich denn das von dir leiben, der du noch feinen dieſer Gegen- 
ftände gründlich ftubiert haft? Glaube mir, betrachte fünftig Platon und Ariftoteles 
als zwei Männer der höchſten Weisheit. Studiere fie Schritt für Schritt; nimm fie 
dir zu führern; jtudiere fie mit Muße; erwäge fie gründlih und ſuche mit Hilfe 
eines gründlichen Lehrers die Tiefe ihrer Argumentationen zu durchdringen. Denn 
dieje zwei Schriftfteller fprechen nicht immer fo leicht verftändlich für alle, die fie 
gern verftehen möchten, ferner, wenn fie verfchiedener Anſicht find, verdädtige fie 
nit gleih der Unwiffenheit; nähre nie dieſen Gedanten! Betrachte vielmehr 
diefe Meinungsverſchiedenheit als ein Zeichen ihres Genies fowie ber dunkeln und 
problematifchen Natur ber Fragen, die fie behandeln. Bewundere ihr tiefes 
Wiſſen und Lohne ihnen durch das Gefühl einer demütigen Erfenntlichkeit all 
bad Gute, das fie uns erwiejen haben. Das ift das Beſte, was du tun kannſt. 
Du wirft dabei beinen Borteil finden und mir unb allen vernünftigen Leuten 
Freude machen.” ! 





! Brief aus Viterbo vom 19. Mai 1462. Hacke, De Bessarionis vita et 
scriptis, Harlem 1840, 117 f. — Migne, Pair. gr. CLXI 685—692. — 
Legrand, Bibliogr. Hellönique. Introdustion I uxı f. — R. —— Beſſarion, 
Leipzig 1903. 


Die griehifchen Humaniften im Abendland, 561 


Hätten die Humaniften dieje vernünftigen Mahnungen de3 greifen 
Kardinals zu ihrem Programm gemadt, jo wäre der Wiſſenſchaft wie der 
Religion und Kirche eine Unmaffe vergeblihen und ſchädlichen Haders erſpart 
geblieben; Platonismus und Wriftoteliamus, Humanismus und Scholaftif 
wären zu einem vernünftigen Ausgleich gelommen und hätten fich gegenjeitig 
gefördert, anftatt gegenfeitig ihr Werk zu fören und ſchließlich Chriftentum 
und Kirche jelbit in ihren unjeligen Hader hineinzuziehen. Allein der „ort: 
ſchritt“ lag nun einmal in der Luft. Der phantaftifche Reiz neuer Syſteme, 
die im Grunde nur ein Abklatſch alter, Heidnijcher Irrtümer waren, riß manche 
glänzende Talente auf faljhe Bahn. So blieben viele nüßlihe, ja die 
notwendigften Arbeiten jahrzehntelang aufgefhoben und ward der wirkliche 
Fortſchritt erft auf langen Zidzadlinien erreicht. 

Mehr als fünfzig Jahre vergingen nad) jenen Kontroverfen über Blaton 
und Xriftoteles, ehe 1513 aus der Druderei des Aldus Manutius die erfte 
gedrudte Gefamtausgabe der Werke Platons hervorging; ja die einfachften 
Lehrmittel zum Studium des Griechiſchen Tießen nod geraume Zeit auf 
fih warten, obwohl die Buchdruckerkunſt bereits erfunden mar. 

Wie langjam überhaupt die griechiſche Literatur zum Drud gelangte, 
mag folgende Tabelle veranihauliden. Es erihien 


1476. Die griehifhe Grammatik des Konftantinos Laskaris. 
1484. Die Erotemata des Manuel Chryfoloras. 
1486. Die Batrahomyomadie, heransgeg. durch Lakonikos. 
Der Pialter, herausgeg. von Georgios Alerandros. 
1488. Die fämtlihen Werke Homers, herausgeg. von Demetrios Chalkondylas. 
1498. Die Werfe des Iſokrates, herausgeg. don demjelben. 
Die Erotemata bes Ehalkondylas, 
1494. Die Galeomyomadhie, herausgeg. von Ariftobulos Apoftolios. 
Des Mufäos Hero und Leander. 
Die Anthologie, herausgeg. von Janos Lasfaris. 
Die Hymnen bes Kallimachos, von bemielben. 
Vier Tragödien des Euripibdes, von demijelben. 
Hero und Leander, von demſelben. 
1495. Die griehiihe Grammatik des Theodoros Gaza. 
1496. Die Argonautifa bes Apollonios von Rhodos, herausgeg. von Yanos 
Laskaris. 
Die Werke Lukians, von demſelben. 
1498. Neun Komödien bes Ariftophanes, herausgeg. von Markos Mufuros. 
1499. Griechiſche Brieffanmlung, von demſelben. 
Die große Etymologte von Mufuros, Kallergi und Vlaſtos. 
Simplicius (der Ariftotelifer), berausgeg. von Kallergi. 
Suidas, herausgeg. von Demetrios Ehaltondylas. 
Der Raub ber Helena, Gedicht des Demetrios Moſchos. 
1500. Ammonios, berausgeg. von Kallergi. 
Die Argonautila des Orpheus, herausgeg. von Konft. Laskaris. 
Die Therapeutit bes Galenos, herausgeg. von Kallergi. 
Baumgartner, Weltliteratur. IV. 3. u. 4. Aufl. 36 


562 Siebtes Kapitel. 


1502. Die Tragödien bes Sophofles. Albin. Ausg. 
1503. Die Tragödien des Euripides. Aldin. Ausg. 
1508—1509. Die griehifchen NhHetorifer, herausgeg. von Demetrios Dukas. 

1509. Die ethiſchen Schriften des Plutarch, von demfelben. 

1513, Alerander von Aphrodifias, herausgeg. von Mark. Dtufuros. 
Die Werte Platons, herausgeg. von demſelben. 

1514. Das Neue ZTeftament, mit Hilfe von Demetrios Dufas !, 
Die Werke des Athenaios, herausgeg. von Mark. Muſuros. 
Das Lerifon des Heſychios, von demfelben. 

1515. Die Idyllen des Theofrit, von bemjelben. 
Die Halieutifa des Oppian, von bemielben. 
Pindar, herausgeg. von Zacharias Kallergi. 

1516. Paufanias, herausgeg. von Marf. Mujuros. 


Im Verlauf des Jahrhunderts überwog der Drud alerandrinifcher, 
byzantiniſcher und vulgärgriehiicher Schriften noch weit mehr denjenigen der 
klaffiſch-helleniſchen; dieje verſchwinden zuleßt nahezu in der Maſſe der übrigen. 

Das erſte griehifche Werk, die Grammatik des Konftantinos Laskaris, 
wurde 1476 zu Mailand gedrudt. Die nächſten Drude jcheinen in Florenz 
zu ftande gekommen zu jein. Die erfte Homer-Ausgabe erſchien unter Zeitung 
des Demetrios Chalfondylas 1488 zu Florenz, von dem Druder Bernardo 
Nerli dem Pier de’ Medici gewidmet. Im Berein mit dem gemwandten 
Geſchäftsmann Vlaftos gab der Kalligraph und Buchdrucker Zaharias Kallergi 
(aus Rethymno auf Kreta) 1499 zu Venedig die „Große Etymologie“ 
heraus, unterftüßt von der vornehmen Byzantinerin Anna Notaras, die, aus 
Konftantinopel vertrieben, erft in Rom, dann in Benedig eine Zuflucht 
fand. Der größte und verdienftvollfte Förderer griehiicher Drude aber ward 
der gelehrte Aldo Manuzio (mit vollem Namen Aldus Pius Manutius 
Romanus), ein ebenjo des Griehiihen und Lateinischen kundiger Humanift 
wie tüchtiger Gejhäftsmann, dabei religiös und firhlich geſinnt. Er bejorgte 
im Berein mit den gelehrteften Griehen von 1502 an die beiten Ausgaben 
der griechiſchen Klaſſiker, welche durch ihre Sorgfalt eine der Grundlagen 
der neueren Philologie bilden. 

Troß der großen Vorteile, welche die Buchdruckerkunſt bot, blieben 
ihön ausgeführte Handidriften, kalligraphiſche Meifterftüde mit Initialen 
und Randverzierungen ein beliebter Qurusgegenftand der höheren Geſellſchaft. 

Als Lehrer der griechiſchen Sprache madten fih Johannes Argy 
ropulos, der jhon erwähnte Andronifos Kalliſtos und Sonftantinos 
Lasfaris verdient. Der erftere wurde bereits 1456 von Coſimo de’ Mebdici 
nach Florenz berufen und als öffentlicher Lehrer der griehiihen Sprade 





ı in der Polyglotte des KHarbinald Ximeneds. Bol. Legrand, Bibliogr. 
Hellönique I 117.— Tischendorf-Gregory, Nov. Test. Graece, Prolegomena. 
Ed. 8 III, Lips. 1884, 205 206. 


Die griehifhen Humaniſten im Abendland. 563 


angeftellt. Fünfzehn Jahre genoß er hier die perjönlihe Gunft und Freund: 
Ichaft der Mediceer, zog fi aber dann nad Rom zurüd und ftarb daſelbſt 
in hohem Wlter. Er erklärte vorzüglich Ariftoteles umd Thukydides. Zu 
jeinen Schülern zählte er unter anderen Angelo Boliziano und Reudlin. 
Als er einmal Reuchlin den Thufgdides erklären hörte, joll er ausgerufen 
haben: Graecia transvolavit in Italiam. 

Andronifos Kalliftos taudt urkundlich erft 1461 in Italien auf. 
Er lehrte erft in Padua, dann in Bologna und Rom, wo ihn Kardinal 
Beſſarion mit offenen Armen aufnahm. Es jcheint, daß derjelbe ihn jedoch 
dem Elend und der Armut, in die er geraten war, nicht zu entreißen ber- 
mochte. So verſuchte der ausgezeichnete Gelehrte fein Glück in Florenz, 
wo er einige Jahre Homer, Ariftoteles und Demofihenes erklärte. Später 
jeßte er jeinen Wanderftab weiter nad Mailand, nad Paris und endlich 
(1476) nad) London, wo er geftorben zu fein jcheint. 

Konftantinos Laskaris fam um 1454 nah Mailand und unter: 
richtete hier Hippolyta, die Tochter des Francesco Sforza, welche fi jehr 
für das Griechiſche interejfierte und damals ſchon mit Alfons, dem künftigen 
König von Neapel, verlobt war. Später lehrte er in andern Städten Italiens, 
zulegt in Mejfina, wo er hochangeſehen 1493 ftarb. Unter feinen Schülern 
zählte er den Gräziſten Urbano und den jpäteren Kardinal Bembo. Seine 
„Erotemata“, die er Hippolyta widmete, find die erfte griechiſche Grammatit, 
welche die Ehre des Drudes erlebte. Zahlreihe Handſchriften von ihm befißt 
die Bibliothek des Eskorial. 

Bon dem Lafevämonier Johannes Moſchos iſt nur befannt, daß er 
ebenfall3 Unterricht im Griechiſchen erteilte. Sein älterer Sohn Georgios 
wurde Arzt und Lehrer auf Korkyra, der jüngere Demetrios Moſchos 
fam um 1470 nad Jtalien und gab Unterriht in Benedig, jpäter in 
Ferrara, wo er mit Pico della Mirandola in Beziehung trat. Auf feinen 
Wunsch ſchrieb er eine Erklärung zu den „Lithifa“ des angeblihen „Orpheus“. 
Dem Ludwig von Gonzaga widmete er jeine Komödie „Neära” (die aber 
erit 1845 zu Athen gedrudt worden ift)!. Zahlreihe Elegien und Epi- 
gramme, jowie daS bereit3 1499 gedrudte Epyllion „Der Raub der Helena“ 
(To xa®” "ElEuyv zal ’ AltZavdpov) machten ihn bereits zu feinen Lebzeiten 
als Dichter berühmt. 

Wohl auch andern der griehifchen Flüchtlinge hätte es nicht an poetifcher 
Geftaltungstraft gemangelt; die humaniftiiche Richtung der Zeit drängte fie 
jedoch der für die Zukunft viel beveutfameren Aufgabe zu, die Klaſſiker 
von Hellas ihren Zeitgenoffen wie der Nachwelt leichter zugänglich zu 
machen. 


Griechiſch und deutſch von A. Elliſſen, Hannover 1859. 
36* 


564 Siebtes Kapitel. 


Dem Athenienfer Demetrios Chalkondylas danken wir den erſten 
glänzenden Drud de Homer, dann Iſokrates und Suidas. Der Kretenſer 
Markos Mujuros beforgte die Aldinifhen Ausgaben des Ariftophanes, 
de3 Platon, des Athenaios, Heſychios, Paufanias und der griehijchen Brief: 
fammlung. Der Bithynier Janos Laskaris veröffentlichte die Anthologien, 
die Hymnen des Kallimachos, vier Tragödien des Euripides, Moſchos' Hero 
und Leander, die Urgonautifa des Orpheus, die Scholien zu Homer, die Reden 
des Yiofrates, die Tafel des Kebes, die homerifchen Fragen des Porphyrios, 
die Kommentare zu Sopholles. Ihm widmete Aldus 1502 feine Sophotles- 
Ausgabe, dem Demetriod Ehalfondylas feinen Euripides, an deſſen Heraus: 
gabe Markos Mufuros in hervorragender Weiſe mitbeteiligt war. 

Demetrios Chalfondylas, der, 1424 zu Athen geboren, 1447 nad 
Rom fam, 1450 in Perugia, um 1463 in Padua dozierte, 1471 als 
Nachfolger des Johann Argyropulos nad Florenz berufen wurde und bier 
etwa zwanzig Jahre lehrte, fiedelte zulegt (1492) nah Mailand über und 
ftarb Hier 1511 im Alter von fiebenundadtzig Jahren. Durd feinen un— 
bejholtenen Lebenswandel wie durch die Gründlichkeit feines Wiſſens und 
eine liebenstwürdige Bejcheidenheit zeichnete er fich vorteilhaft vor vielen feiner 
Kollegen aus; das Lateinische beherrjchte er faft wie das Griechiſche und 
in diefem beſaß er eine ſtaunenswerte Belejenheit. 

Ebenjo tadellos in feinem Leben tie ausgezeihnet durch fein Wiſſen 
war Marko Mufuros, der um 1470 zu Rethymno auf Sreta geboren 
wurde. Janos Laskaris z0g ihn nad Florenz, von wo er 1499 als Lehrer 
zu dem Grafen Alberto Pio von Garpi fam. Am Jahre 1503 wurde er 
zum Profeffor des Griehifhen in Padua ernannt; während der Kriegs: 
läufte, von 1509 an ſetzte er feine Lehrtätigkeit in Venedig fort. Im 
Yahre 1513 widmete er feine große Platon- Ausgabe mit einem jchönen 
Weihegedicht dem Papfte Leo X., der ihn 1516 nad Rom begehrte und erft 
zum Biſchof von Hierapetra, dann zum Erzbiſchof von Mombafia ernannte. 
Im folgenden Jahre ſchon raffte ihn ein frühzeitiger Tod in Rom hinmweg. 

Janos Laskaris flammte aus einer bithynifchen Familie, von 
welcher bier Mitglieder die kaiſerliche Würde bekleidet hatten. Um 1445 
in Konftantinopel geboren, flüchtete er mit feinem Water erft in den Pelo— 
ponnes, dann nah Italien. Kardinal Beflarion ließ ihn auf feine Koften 
in Badua ftudieren, wo er Demetrios Chalkondylas zum Lehrer hatte. Nach 
Beſſarions Tode ziemlich verlaffen, fuchte er Hilfe in Florenz und fand fie 
auch. Er lehrte erft mit großem Erfolg griehiihe Sprade und Literatur 
und ward dann bon Lorenzo de’ Medici in die Levante gefandt, um griechijche 
Handſchriften aufzujpüren und zu faufen. Er fam mit reihen Schäßen 
zurüd, fand fogar beim Sultan Bajazet günftige Aufnahme und übernahm 
nad) feiner Rückkehr wieder die Leitung der von Lorenzo il Magnifico bes 


Die griechiſchen Humaniften im Abendland, 565 


gründeten Bibliothef. Um die Zeit, als Savonarola mit feinem einfeitigen 
und maßlofen Belehrungseifer alle weitere Fortbildung des Humanismus 
bedrohte, verließ Janos Laskaris die Arno- Stadt und trat als Diplomat 
in den Dienft Karls VII. von Frankreich. Hier unterftüßte er die Be: 
ftrebungen des Budeus!, an welchem die griechiſchen Studien bereit einen 
eifrigen Pfleger gefunden hatten. Diplomatifche Berhandlungen führten ihn 
bald (1503) wieder nah Italien zurüd, und der Aufenthalt dafelbft bot 
ihm reiche Gelegenheit, fi wieder an der Pflege des griehiichen Humanismus 
zu beteiligen. - 

Durd die Türkenherrſchaft waren inzwiſchen alle Schulen in Griechen: 
land jo herabgejunfen, daß die Kenntnis des Haffiichen Griechiſch unter den 
Griechen jelbft mit völligem Erlöſchen bedroht war, da die gelehrten Griechen 
in Italien allmählih ausftarben und Griechenland feinen Nachwuchs mehr 
fiefern fonnte. Um dies abzumehren, beſchloß Papft Leo X. die Errichtung 
eined griehijchen Kolleg in Rom, ließ durch jeinen Sekretär Bembo Janos 
Laskaris nad) Rom einladen und mit der Gründung eines ſolchen Kollegs 
betrauen. Zwölf oder mehr talentvolle griehijhe Knaben jollten darın 
Unterkunft finden, Janos Lasfaris und Markos Mufuros Unterridt und 
Leitung übernehmen. Der Papft ftellte den Quirinalpalaft jelbft zur Ber: 
fügung. Schon im folgenden Jahre wurde das Kollegium eröffnet, ging 
indefjen nad dem Tode des Papftes (1521) wieder ein. Immerhin jind 
aus demfelben bedeutende Gräziften, wie Nikolaos Sophianos, Matthias 
Devaris, Chriftophoros Kontoleon und andere hervorgegangen, welche noch 
für geraume Zeit die Pflege griechiſcher Sprade und Literatur förderten und 
erhielten. Janos Laskaris felbft benußte weitere diplomatishe Sendungen 
an Franz I., an den Sultan von Ägypten, an Karl V. in ähnlichem Sinne, 
gründete eine griehiihe Schule in Mailand und fuhr fort, bis zu feinem 
Zode (1535) ſich perjönlih an der Förderung der griehiihen Studien zu 
beteiligen. 

„Das Studium des Griechiſchen unter den Italienern ſelbſt erſcheint, 
wenn man die Zeit um 1500 zum Maßſtab nimmt, gewaltig ſchwunghaft; 
damals lernten diejenigen Leute griehifch reden, welche es ein halbes Jahr: 
Hundert jpäter noch als Greife konnten, wie 3. B. die Päpfte Paul II. 
und Paul IV, Gerade dieje Art von Teilnahme aber jeßte den Umgang 
mit geborenen Griechen voraus.“ ? 

Die Sorge der Päpfte für griechifche Literatur und Bildung ift übrigens 
mit Leo X. nicht auögeftorben; fie hat auch Janos Laskaris und jeine 


ı A. Tilley, Humanism under Francis I. (English Historical Review XV, 
London 1900, 456—478). 
2%, Burdharbt, Die Kultur der Renaiffance in Italien? 155. 


566 Siebtes Kapitel. 


Schüler überlebt. Im Jahre 1577 gründete Gregor XI. das griechijche 
Kollegium in Rom, das die literariihen Abfichten Leos X. mit jenen der 
Unionspäpfte vereinigte und das noch bis auf den heutigen Tag fortbefteht. 
Wie jonft nirgendwo haben ſich bier die Erinnerungen und liberlieferungen 
der griehiihen Humaniften lebendig erhalten. Aus diefer Schule find die 
berühmten Bibliothefare der Baticana, Nikolaus Alemanni (1583—1626) 
und Leo Ullatius (1586— 1669), hervorgegangen, wohl der größte Kenner 
der griechiſch-kirchlichen Literatur im 17. Jahrhundert, zugleih mit der 
griechiſchen Profanliteratur in umfaffendfter Weiſe vertraut, fo daß die Klein— 
fritit wohl viel an ihm herumgenörgelt hat, ein ebenbürtiger Gegner ihm 
aber nicht erftanden ift!. Wie kein zweiter hat er die lbereinftimmung der 
griechiſchen Überlieferung mit der römiſchen dargetan und das Unglüd auf: 
gededt, das auch die griechiiche Literatur und Bildung dur den Abfall von 
der kirchlichen Einheit mitbetroffen bat. 

Das Leo Allatius auch reihlih zum Dichter veranlagt war, zeigt Die 
prächtige Elegie „Hellas“, welche er 1638 dem Kardinal Richelieu widmete, 
um dieſen mädtigen Staatsmann für die Rettung und Befreiung feiner 
Landsleute von dem Tyrannenjoh der Türken zu gewinnen. Sie ifl aber 
fein bloßes politisches Gelegenheitsgedicht; fie ſtrömt aus innerftem, vollitem 
Herzen, wohl der ergreifendfte Wehe: und Hilferuf, der, vor den Tagen des 
Befreiungsfampfes, aus der Seele des unglüdlihen Griehenvolfes heraus an 
das neuere Europa ergangen ift, zugleich ein meifterhaftes Gejamtbild deſſen, 
was „Hellas“ für die europäiſchen Völker bedeutet ?. 

Mit Zügen von echt griechiſcher plaftiicher Schönheit führt Allatius 
jeine „Hellas“ vor, eine Frauengeſtalt von erhabener Würde, gleihjfam eine 
chriſtianiſierte Pallas Athene, von einem glänzenden Gefolge der edelſten 
Jungfrauen umgeben. Feierlich, Liebevoll begrüßt fie den Occident und er- 
zählt ihm ihre jo ruhmreihe und zugleih jo namenlos traurige Gejdhichte. 
Sie hat durch Geſetze und Rechte, Aderbau und Schiffahrt, Gewerbe und 
Handel die Kultur des Abendlandes begründet, fie hat durch Baukunſt, 
Bildnerei und Malerei, Muſik und Poefie fie mit undergänglihem Glanze 
umgeben, fie hat durch die Pflege der Wiſſenſchaft die Nacht der Barbarei 
verſcheucht umd die reichſten Schäbe des Wiſſens aufgeipeihert. Dafür ward 
ige in dem Faiferlihen Scepter von Byzanz die Weltherrihaft zu teil, und 
Myriaden dantten ihr Glüd, Wohlitand und Heil. 


ı £. Legrand, Bibliographie Hellönique ou description raisonnde des 
ouvrages publi6s par des Greces au XVII* siöcle III, Paris 1895, 435—471l. — 
Kardinal J. Hergenröther, Art. „Allatius, Leo“ in Wetzer und Weltes 
Kirchenleriton I?, Freiburg 1882, 546—551. 

® Der griedhiiche Tert nebft deutſcher Überfegung bei Ellifjen, Verfuch einer 
Polyglotte I 304-328. Die folgende Probe ift vom Verfaſſer ſelbſt neu überfegt. 


Die griehiihen Humaniften im Abendland. 567 


Doch im Wechſel der Herrſcher rafften auch Unwürdige, Frevler die 
höchſte Macht an ſich, entweihten den alten Ruhm, häuften Schuld und 
Schmach auf Hellas und gaben es dem Verderben preis. Mit hinreißender 
Gewalt wird nun der Einbruch der Türken, der Fall Konſtantinopels und 
die Berwüftung des gejamten Oftreiches geſchildert — von den Küften Klein: 
afiens und Syriens bis hinüber nad) Argos, Korinth, Aegea, Lesbos, Paros, 
Keos, Chios. Der Glanz der einfligen Herrlichkeit erleuchtet tieftragiſch 
das grauenvolle Bild der Zerftörung. Zum Schluſſe fommen noch Athen 
und Byzanz. 


Hin ſank, was hehr uns war, ruhmreich und heilig, 
Hin ſank Athen, die gotterlorne Stabt, 

Die Zeus gegründet, Ares hat ummallt, 

Der Iſthmier mit Turm und Zinne frönte; 

Die Straßen ftedte Pallas felber ab, 

Die Häufer ſchuf Hephäftos, ftolge Hallen 

Erbaute Hermes, Phöbos malte fie, 
Jungfrauentempel ftiftet! Artemis, 

Indes für Bäder Aphrodite jorgte, 

Balhos für Gärten, für Protanenfäle 

Des Rechts Schußherrinnen, Themis und Dike. 
Mit Fug beherrichte die ruhmreiche Stadt, 

Ein Werk der Götter, alle andern Städte. 

Dod auch fie fiel. Des tollen Hundes Wut 

Dat fie zerfleifcht, fie von Grund aus zertrümmert; 
Gott hat dem Sturz die Ärmfte preisgegeben. 

Der Nede Macht, die bunte Pracht der Sprade, 
Der Mufen Labſal, des Geſanges Zauber, 
Gewandter Hände Schrift und frohen Geiftes 
Huldbvolles Spiel — ah! Alles ift dahin! 

Kein Reft ift mehr zu jehn von all dem Schönen; 
Dem Jammer und dem Spott fiel fie anheim. 


Nun fommt die Kunde, die mir tiefer noch 
Einſchneidet fchmerzlih in das wunde Herz. 
Denn au die Stadt Byzanz, der Kaiſerſitz, 
Die zwei der Meere, hier dem Bosporus, 
Dem Pontus dort zum Gruß bie Arme reicht; 
So viele Städte Helios wandernd ſchaut, 

Ob er den Menſchen oflwärts bringt den Tag, 
Ob weftwärts er die Erde jenkt in Duntel, 
Ob mitten in ber Bahn er flammend glüht, 
Ob feine Fackel trifft die Antipoden: 

Wer könnte leugnen, daß fie alle andern 

An Kunft und Herrlidhkeit, an Pracht und Schönheit 
Weit, ohne Maß und Grenzen, überftrahlt ? 
Ihr hat des Himmels Herrſcher auch verliehen 
Der Herrſchaft Scepter feit uralter Zeit, 


568 Siebtes Kapitel. 


Des Rechtes Norm für alle andern Herrſcher, 
(Nimmt du das einzige des Petrus aus) 
Das hehrſte, höchſte Scepter unter allen. 


Auch diefes ift erlofhen — nit nad Recht, 
Verſchlungen von der nimmerfatten Gier 

Des Unheils, und bie frühern Weltbeherricher, 
Des Baterlands, des Heimatherbs beraubt, 
Verbannt aus den berühmten Heiligtümern, 
Verbringen unftet, ohne Zroft und Heil 

In fremdem Land ein drangfalvolles Leben, 
Das nur von eitler Hoffnung noch fi nährt. 


Was mir der Feind getan, vernahmft du, Fürft! 
Welch neue Schreden jeder Tag mir bringt, 
Verkünd' ein andrer. Mir verfagt die Zunge, 
So mannigfahen Unheils Wandelung 

Bon Menſchen zu erhoffen, wag’ ich nicht. 

Zu helfen bier geht über Menſchenkräfte. 


Viertes Buch. 


Die lateiniſche Literatur der Neuzeit. 


Erftes Kapitel. 
Die deutfhen Humaniften und die Glaußenstrennung. 


Mas die Neuzeit am gründlichften und tiefften vom Mittelalter jcheidet, 
das ift weder der Fall Konftantinopels, noch die Erfindung der Buchdruder: 
kunft, nod die großen Entdedungen am Ende des 15. Jahrhunderts. Durch 
all das ſanken jahrtaufendalte Schranken, eröffneten jih neue Horizonte, 
Doch viel tiefer griff es in das Herz der Menſchheit, dab das heiligite 
Band ſich löfte, das bis dahin die hriftliche VBölkerfamilie zufammengehalten, 
dasjenige des einen heiligen katholiſchen Glaubens, derjelben Kirche und 
hierarchiſchen Ordnung, derjelben Lehre und derjelben Gnadenmittel, des— 
jelben religiöfen Yyamiliengeiftes, der die Staaten und Völker Europas — 
troß aller politiihen und nationalen Kämpfe — zu einem fichtbaren reli- 
giöfen Ganzen verband, Wie das gefommen, ift hier nicht zu unterfuchen. 
Religiöfe und fittliche, politiiche und joziale Urſachen, kirchliche Mikftände, 
nationale Gegenſätze, geſellſchaftliche Mikverhältniffe, Fürftenehrgeiz, Laien: 
habſucht, anardiftiiche Auflehnung und daneben edlere, wohlmeinende, aber 
übelberatene Reformbeftrebungen haben in bunteftem Gewirr und vielver- 
ihlungenen Wechjeleinflüffen dabei mitgewirkt. Uns können hier nur die 
literarifhen Bewegungen und Richtungen beihäftigen, die dabei mit ins 
Spiel famen, vorab der Humanismus der Nenaiffance. 

Der Humaniämus an fih und feiner Natur nad ftand mit der ge 
mwaltigen kirchlichen Ummälzung nit in unmittelbarem urfähliden Zu: 
jammenhang. Die Erbihaft der griechiſch-römiſchen Bildung war von den 
Kirchenvätern der abendländiſchen Welt erhalten und überliefert, durch den 
Einfluß der Kirche zumeift dur die Stürme der Völkerwanderung und die 
Kataftrophen der folgenden Jahrhunderte, zwar nicht immer in gleichem 
Umfang und mit gleihem Eifer, aber doc in ihrem wertvolliten Beſtande 
weiter gepflanzt worden. Dem Intereſſe dafür hatten die Päpfte des 
15. Jahrhunderts nicht nur fein Hindernis entgegengefeßt, ſich vielmehr an 
die Spitze der Bewegung geftellt, welche ein neues Aufblühen der zwei 
klaſſiſchen Spraden, ihrer Kenntnis, ihres Studiums, dev Pflege ihrer 
Literaturſchätze und die Erneuerung der Literatur und Kunſt auf ihrer 


572 Erftes Kapitel. 


Grundlage zum Ziele hatte, naturgemäß innerhalb der Grenzen, welche 
die höhere hriftlihe Bildung einem ſolchen Unterfangen zog, welche aber 
nie — und damald am menigften — ängſtlich, Heinlih, engherzig 
abgezirfelt wurden. Wie die Päpfte Nikolaus V. und Pius IL., die Far: 
dinäle Beffarion und Cuſa um die Mitte des Jahrhunderts glorreich diejen 
Standpuntt vertraten, jo ftanden an der Wende desjelben und am Be 
ginn des folgenden die Päpfte Wlerander VI., Julius II. und Leo X., 
Kardinäle wie Ximenes, Bembo, Sadolet, Wolſey nit minder entjchieden 
dafür ein. Man mochte über Bermweltlihung des päpftlihen Hofes 
Hagen: über Einſchrünkung der humaniſtiſchen Studien zu lagen lag fein 
Grund vor. 

Bon den nambhafteften Bertretern der Wiſſenſchaft in diejer gejamten 
Übergangsperiode hat denn aud) feiner der Gemeinſchaft der Kirche entjagt 
oder — nach Luthers Auftreten — fi diefem angejhlofieen. Johannes 
Reuchlin (1455—1522), der Bahnbreder des hebräiſchen Studiums in 
Deutſchland, ift im Frieden mit der Kirche geftorben!. Konrad Geltes 
(1459— 1508), der begabtefte und frudtbarfte „Poet“, welchen Deutſchland 
in diefer Zeit hervorbrachte, wurde nicht vor die kritiſche Entſcheidung 
geftellt, welche Luthers Auftreten an jo viele richtete, und niemand fann 
mit Beftimmtheit jagen, wie er ſich dabei gehalten hätte. Allerdings führte 
er ein ziemlich loderes Leben, dichtete vier Hödhft unerbauliche Bücher Amores, 
Ihimpfte viel auf die Geiltlihen, äußerte öfters jchroffe Abneigung gegen 
Rom; er ward dafür von den Proteftanten als einer ihrer Vorläufer belobt, 
und jeine Schriften find jpäter auf den Inder gelommen, indes wohl mehr 
wegen ihrer Unfittlichkeit al3 aus religiöjen Gründen. Er hatte jedoch auch 
befjere Tage und Stunden, wallfahrtete, nahm jeine Zuflucht zu den Heiligen 
und bejang fatholifche Glaubenswahrheiten, wie das Lob der Heiligen in 
durdaus warm empfundenen Gedichten. Wenngleih er die griechifchen 
Klajfiter den römischen vorzog, jo wußte er doch auch diefe zu würdigen 
und jah feineswegs mit jouveräner Verachtung auf die Poeſie des Mittel- 


! I. Reuchlin, Mupozardeia (griediihe Grammatif, Orleans 1478); De 
verbo mirifico (tabbaliſtiſch, Bafel 1494) ; De arte praedicandi (1504) ; Dietionarium 
hebr. (1506); Grammatica hebr. (1510); Progymnasmata scenica (Pforzheim 
1507); Der Augenspiegel (gegen Pfefferforn, Bajel 1510; herausgeg. von Mayer: 
hoff, Berlin 1836); De arte cabbalistica (Hagenau 1517); De accentibus et 
orthographia linguae hebraicae (Haag 1518); Interpretatio in septem psalmos 
poenitentiae (Tübingen 1512); Ausgaben von Werfen des Kenophon, Demojthenes 
und Aeſchines, Hagenau 1520 1522; Briefwechiel (herausgeg. von 8. Geiger, 
Stuttgart 1875 [PBublifation bes literar. Vereins CXXVI]). — A. Horamik, Zur 
Bibliothek und Korrefpondenz Reudlins, Wien 1872. — Mayerhoff, Reudlin 
und feine Zeit, Berlin 1830. — Lamey, oh. Reudlin, Pforzheim 1855. — 
8. Geiger, J. Reuchlin, Leipzig 1871. 


Die deutſchen Humaniften und bie Glaubenätrennung. 573 


alters herab !. Wie er zuerft den Ligurinus ans Licht zog, fo hat er auch 
zuerft die Dramen der Hroswitha herausgegeben, jo daß fi im ihm der 
Humanismus nod mit der mittelalterlichen Überlieferung und der fpäteren 
Romantik berührt. Er felbft hat Hroswithas Schriften wieder einer Äbtiſſin 
übermittelt, welche er al3 „leuchtenden Stern der Frauen, als Zierde der 
deutichen Gaue, als ähnlid den Römertöchtern“ pries, der feingebildeten 
Charitas Pirkheimer, geb. 1466, feit 1503 Äbtiſſin zu Nitenberg 2, 
Sie dankte ihm freundlih, daß er fih der fonft überall zurüdgejegten 
rauen angenommen: „Fürwahr, ich muß geftehen, Ihr habt folches gegen 
die Gewohnheit vieler Gelehrten oder vielmehr Hoffärtigen getan, welche ſich 
unbillig bemühen, alle Worte, Taten und Ausſprüche der Frauen fo gering 
zu ſchätzen, als wenn das andere Geſchlecht nicht denſelben Schöpfer, Erlöfer 
und Seligmader hätte, und ohne zu beadten, daß die Hand des höchſten 
Werkmeiſters noch keineswegs verkürzt ift. Er Hat den Schlüffel der Kunſt 
und teilt einem jeden aus nad feinem Wohlgefallen, ohne Anjehen der 
Perſon.“ Sie jcheute fih aber auch nicht, dem ſonſt frivofen Liebesdichter 
ernft zu Herzen zu reden, um ihn von „der Verherrlihung der unziemlichen 
Sagen von Yuppiter, Venus, Diana und andern heidniihen Geſchöpfen“ 
abzulenfen und auf die einzig wahrhaft beglüdende Weisheit hinzuleiten, 
die in der Heiligen Schrift verborgen iſt. „Dort finden wir die foftbaren 
Perlen; denn auf dem Ader des Herrn zieht die Gotteswiſſenſchaft aus ber 
Schale den Kern, aus dem Buchftaben den Geift, aus dem Felſen das DI, 
aus den Dornen die Blumen.“ 

Wilibald Pirkheimerd, der Bruder der Äübtiſſin (geb. 1470, 
geft. 1528), Huldigte in jeinen Gedichten einem ähnlichen Teichtfertigen 


ıC, Celtes, Epitoma in utramque Ciceronis Rhetoricam (Dedilation an 
Kaifer Moarimilian, von Ingolſtadt 1492); L. Apuleii Platonici et Aristotelici 
philosophi Epitoma divinum de mundo seu cosmographia (Wien 1497); Ausgabe 
der Hroswitha, Nürnberg 1501; Ausgabe bes Ligurinus, Augsburg 1507; Amorum 
libri IV (Nürnberg 1502); Ludus Dyanae (aufgeführt von ber Sodalitas litteraria 
Danubiana in Binz, 1. März 1501); Odarum libri IV. Liber Epodon. Carmen 
seculare (Straßburg 1513); Epigrammatum libri V (herausgeg. von R. Hart« 
felder, Berlin 1881). — E. Klüpfel, De vita et scriptis Conradi Celtis (Parti- 
cula I—XI, herausgeg. von J. C. Ruef und K. Zell, Freiburg 1813—1827). — 
I Aſchbach, Die früheren Wanberjahre des C. Eeltis (Sikungäberichte der philoſ.⸗ 
biftor. Klaſſe der Wiener Afabemie LX 75 ff); Die Wiener Univerfität und ihre 
Humaniften im Zeitalter Marimilians I., Wien 1877. — Huemer, Art. „Eeltes* 
in ber Allgem. Deutſchen Biographie IV 82 ff. 

2 %. Binder, Charitas Pirkheimer, Äbtiffin von St Clara zu Nürnberg ®, 
Freiburg i. ®. 1878. 

5 Seine Werfe herausgeg. von Golbaft, Frankfurt 1610; Historia belli 
Suitensis (deutih von Münch, Bafel 1826). — Marfwart, Wilibald Pirkheimer 
als Gefhichtfchreiber, Züri 1886. — Roth, Wilibald Pirkheimer, Halle 1887. 


574 Erftes Kapitel. 


Geihmad, wie ihn feine Schweiler an Geltes rügte, verjpottete in einer 
Satire, „Der gehobelte Et“ (Eccius dedolatus), den angejehenen Ingol- 
ftädter Theologen, der damals durd Verteidigung des Zinsnehmens, noch 
mehr aber dur fein Auftreten gegen Luther auf der Leipziger Disputation 
ſich viele Feinde gemacht hatte!. Geraume Zeit hoffte Pirkheimer von der 
lutheriichen Bewegung große Dinge, fand ſich aber nad der religiöjen wie 
nad der wiſſenſchaftlichen Seite hin jehr enttäufht und verharrte gleich 
Abreht Dürer u. a. im Schofe der alten Kirche. 

An der 1460 von Bius II. durch päpftlihe Bulle beftätigten Univerfität 
Bajel förderte Johann Heynlin a Lapide (von Stein; 1425—1496), 
obwohl noch ein eifriger Verteidiger der ariftoteliihen PhHilofophie gegen 
den immer mehr ſich ausbreitenden platoniſchen Idealismus, doc eifrig die 
humaniftiiden Studien?. Einer feiner Schüler, der Buchdruder Johannes 
Amerbad (1444— 1514), und deffen Zunftgenofje Joh. Froben beichäftigten 
mande Humaniften als Herausgeber und SKorreftoren und leifteten der Sache 
des Humanismus durch zahlreiche Publikationen weſentlichen Vorfhub. Der 
Schweizer Heinrih Loriti Glareanus, Geſchichtſchreiber, Geograph 
und der bedeutendfte Mufiltheoretifer diefer Zeit, hielt fih zweimal länger 
in Bafel auf, war anfänglich ein lebhafter Gönner des neuen Evangeliums, 
wandte fi von demjelben aber immer mehr ab, je genauer er deffen Wejen 
und Früchte fennen lernte, und fiedelte mit andern Gelehrten, welche diejelben 
Erfahrungen madten, nah Freiburg i. B. über®, 

In Wien, nähft Paris und Bologna der älteften Univerfität, jchon 
1365 gegründet, bildete ſich noch am Ende des 15. Jahrhunderts eine ge— 
lehrte Gefellihaft, die Donaugejellihaft, die 1497 gemeinfam die Kosmo— 
graphie des Lucius Apulejus herausgab. Das Widmungsgedidht ift von 
achtzehn Mitgliedern unterfchrieben. Im Jahre 1501 errichtete Kaifer Mari: 
milian dann ein bejonderes Kolleg „der Dichter und Mathematiker”, dem 
das Ziel vorgeftedt war, die Beredjamfeit der früheren Zeit wiederherzuftellen, 
und das die Befugnis erhielt, die Erprobten mit dem Didhterlorbeer aus— 
zuzeihnen. Von den Mitgliedern diefes Kolleg und der Donaugefellicaft 
wurde der Mathematiker Georg Tunftetter (1482 —1536) von Bapft Leo X. 





! Eckius dedolatus, herausgeg. von &. Szamatölsti, Berlin 1891 (Latein. 
Biteraturdentmale des 15. und 16. Jahrhunderts I). — 3. Schlecht, Pirfheimers 
zweite Komödie gegen Ed (Hiftor. Jahrbuch XXI, Münden 1900, 402—413). 

2F. Fiſcher, oh. Heynlin genannt a Lapide, Baſel 1851. 

> H. Glareanus, Helvetiae descriptio (Bajel 1514); Isagoge in musicen 
(ebd. 1516); De geographia (ebd. 1527); Chronologia in omnes T. Livii decades 
(ebb. 1531); Annotationes in Livii decades (ebd. 1540); Dodecachordon (ebd. 
1547); Ausgabe bes Bosthius (1570). — 9. Schreiber, H. Loriti Glareanus, 
Breiburg i. B. 1837. 


Die deutihen Humaniften und die Glaubenstrennung. 575 


mit Aufträgen für eine SKalenderrevifion betraut; Johann Crachenberger 
(Gracceus) dichtet; Johann Spießmaier (Euspinian, 1473—1529) 
war der eigentliche Repräjentant der Rhetorif an der Univerfität, zugleich 
verbienftvoller Hiftorifer und Diplomat, ein treu anhängliher Diener des 
Kaijerd Marimilian und bis zum Tode ein frommer, innig ergebener Anz 
bänger des alten fatholiihen Glaubens!. Mit ihm befreundet und geiftes- 
verwandt war der fleißige und geſchickte kaiſerliche Sekretär Joſeph Fuchs— 
mag, der eine Blütenleſe der damaligen deutihen Poeten jammelte, zu 
welcher manche angejehene Männer, wie Reuchlin, beifteuerten. Einer der 
tüchtigſten Schüler Cufpinians, Joahim von Watt (Badianus), 1484 
in St Gallen geboren, wurde 1514 von Kaiſer Marimilian zum Dichter 
gekrönt, 1516 zum Profefjor der Rhetorik und zum Neltor der Univerfität 
ernannt. Er erwarb ſich durch Herausgabe alter Autoren (Salluft, Sedulius, 
Dpid, beſonders Pomponius Mela) jowie durch geographiſche Studien hohe 
Berdienfte, verließ aber 1518 plößlih die Univerfität, man weiß nicht 
warum, fehrte in feine Heimat zurüd und wurde hier, jeit 1526 an der 
Spitze ded Rates, einer der Hauptführer und Hauptförderer der zmwinglia- 
nijhen Bewegung ?. 

Ein Seitenjtüd zu der Wiener Donaugejellihaft war die Rheiniſche 
Geſellſchaft (sodalitas litteraria Rhenana), die ihren Sit in Heidelberg 
hatte und an dem Pfalzgrafen mwenigftens einen offiziellen Gönner fand. 
Ihr Haupt war Johann von Dalberg, Biihof von Worms (1445 bis 
1503)3. Augsburg war darin durch Konrad Peutinger vertreten, Nürn— 
berg, Regensburg und Freiburg durch weniger bedeutende Perjönlichkeiten. 
Sohann von Dalberg ftand mit Agricola und Reudlin in Verlehr, ebenjo 
mit Johannes Trithemius, dem gelehrten Abte von Sponheim (1462 
bis 1516), welchem man eine Menge literaturgefchichtliher Nachrichten über 
diefe Zeit danttt. Ähnlich wie Kardinal Eues verband Trithemius eine 
tüchtige asfetiiche und theologiſche Schulung mit dem vieljeitigften Intereffe 
für Geſchichte, humaniſtiſche Bildung und Naturwiffenihaft. Wenn ihn die 
legtere auf die abenteuerlihen Pfade der Nekromantie führte, jo iſt dies 
aus dem damaligen Stand des Naturwiffens wohl einigermaßen entſchuldbar. 





!I. Cuspinian, De Caesaribus atque Imperatoribus a Iulio Caesare ad 
Maximilianum I. commentarius, Argentorati 1540; deutſch ebd. 1541. 

® AUrbenz, Die Vadianiſche Brieffammlung der Stabtbibliothet in St Gallen 
(Mitteilungen zur vaterländ. Geſchichte XXIV), St Gallen 1890. — E. Gößinger, 
Joachim Badian, Halle 1895. 

’ Mrornemweg, Johann von Dalberg, ein deutſcher Humanift und Biſchof, 
Heibelberg 1887. 

+ Silbernagl, Joh. Trithemius?, Landshut 1868. — W. Schneegans, 
Abt Johannes Trithemius und Klofter Sponheim, Kreuznach 1882, 


576 Erftes Kapitel. 


Ihm eiferte in der Sammlung literarifher Nachrichten auh Johann 
Butzbach, Mönd in Laach, nad (1477— 1526), ein Schiller des Alerander 
Hegius und fleißiger Poet !. 

Bom 13. Jahrhundert an, two die größten Meifter der Scholaftit, wie 
Albert d. Gr., Thomas bon Aquin, Duns Scotus, an der Univerfität Köln 
gelehrt hatten, war diejelbe eine Hochburg der ſcholaſtiſchen Theologie ge: 
blieben. Nicht bloß aus Deutſchland, auch aus den Niederlanden, dem 
flandinavishen Norden, von Böhmen, Polen und der Schweiz ftrömten 
ihr Schüler zu. Auch Hier bürgerten fi indes die humaniftiichen Studien 
ein. Ein Italiener, Wilhelmus Raimundus Mithridates, Iehrte jeit 1484 
Griechiſch und orientaliihe Spraden. Bon 1487 an mirkte Andreas 
Gantor für Hebung der lateiniſchen Studien, feit 1491 Johann Cäſarius 
als tüchtiger Lehrer des Griehiichen, Bartholomäus von Köln zugleid als 
Philoſoph und Humanift, der gründlich gebildete Ortwin Gratius (de 
Graes) al& Grammatifer und Erklärer der alten Klaffiter. Der hriftliche 
Humanismus erfreute ſich längft der ſorgſamſten Pflege, als der weſtfäliſche 
Ritter Hermann von dem Busch, ein Anhänger der jüngeren Huma— 
niſtenſchule, welche ihre Vorbilder in Poggio, Beccadelli und Balla juchte, 
fih 1494 zum erftenmal dajelbit niederließ. Er hielt es nicht lange aus. 
Als ruhelofer, ehrgeiziger und händelſüchtiger Streber durchwanderte er 
ganz Norddeutihland, nirgends feften Fuß fallend. Im Jahre 1507 kam 
er wieder nah Köln und eröffnete Vorlefungen. Anfänglih dudte er ſich 
und berherrlichte in feinem bombaftiihen Feſtgedicht zur Maifeier 1508 
jogar die Theologen und Philoſophen. Als er indes, wahrſcheinlich wegen 
fpärlihen Beſuchs feiner Vorlefungen, ſich gekränkt fühlte, griff er in ver— 
legendfter Weife die ganze Univerfität an. Ortwin Gratius wies feine 
Angriffe in durchaus ſachlicher, würdiger Weiſe zurüd?, Und nun zeigte 
ih, daß hier nicht bloß perfönlihe Rüdfihten im Spiele waren, daß es 
neben dem harmloſen riftlihen Humanismus einen andern gab, der, von 
heidnifchen Anſchauungen, Stolz wie Sinmenluft erfüllt, gegen die bisherige 
Stellung der Theologie und der Kirche anlämpfte, in allem Ernſt den Glauben 
jelbjt bedrohte, 

Zeichen dieſes Geiftes der Auflehnung regten fih ſchon lange durd 
ganz Deutichland Hin. Sein Hauptquartier fand er in Sachſen und Thü— 

3. Butßbach, Wanderbüdlein (Chronika eines fahrenden Schülers), herausgeg. 
bon 3. Becker, Regensburg 1869. — Verzeichnis der noch ungebrudten Schriften 
Butzbachs (darunter viele Gedichte) bei J. Beder, Art. „Butzbach‘“ in Wetzer 
und Weltes Kirchenlexikon II? 1623—1627. 

® Liessem, De Hermanni Buschii vita et scriptis, Bonnae 1866. — 
D. Reichling, Ortwin Gratius, fein Leben und Wirken, Heiligenftabt 1884; Petrus 


von Ravenna und die Univerfität Köln (Lit. Beilage der Köln. Volkszeitung 1900 
Nr 26); Hermann v. d. Bush und die Univerfität Köln (ebd. Nr 28). 


Die deutſchen Humaniften und die Glaubenstrennung. 577 


tingen. Während der gute alte Jodocus Trutfetter in Erfurt, Quthers 
Lehrer (1460— 1519), noch ariftoteliihe Philofophie und Theologie vor: 
trug, lief ein beträchtliher Zeil der lniverfitätsjugend dem Konrad 
Mutianus Rufus (1471—1526), Kanonikus im benadbarten Gotha, 
zu, der, nad frommer Schulung zu Deventer, fi in Italien der kabbaliſtiſch— 
platonischen Richtung des Pico von Mirandola zumandte, eine durchaus 
pejfimiftiiche Auffaffung der Kirche gewann, nach feiner Rückkehr immer 
freidenferifcher ward und nicht mehr bloß die kirchlichen Mißſtände, fondern 
die ehrwürdigſten kirchlichen Inftitutionen angriff und befehdete, alle Bildung 
und Vollkommenheit nur mehr in den humaniſtiſchen Studien ſuchte?. Einer 
ähnlichen übertriebenen Verehrung der lateinischen Poeterei huldigten jeine 
Freunde Heinrich Urban und Petrejus Eberbad oder Aperbah. Der Haupt: 
poet von Erfurt aber war Eoban Heſſus (1488—1540), färfer im Trunk 
als in der Poefie, aber immerhin ein gewandter Verſemacher, der noch 
1514 nad) Ovids Heroiden fromme Epifteln Hriftlicher Heldinnen herausgab, 
dann jedoch Luther und Sidingen verherrlihte und jpäter als echter Bettel- 
poet jeden befang, von dem er in jeinen teten häusliden Nöten etwas 
Unterftügung erhoffte. Ein mehr Humoriftiiher Spottvogel, der nicht in 
Erfurt jelbft wohnte, aber viel mit Mutian und den Erfurtern verkehrte, 
war Crotus Rubeanus (eigentlih Johann Jäger aus Dornheim bei 
Urnftadt, 1480— 1551), der zeitweilig die lutheriiche Bewegung fördern 
half, aber fie nicht fonderlich ernft nahm, von Luther jelbft als „Dr Kröte“ 
und ala „Epikureer“ gejcholten wurde und ſich jpäter enttäujcht von dem 
neuen Chriftentum abmwandte. 

Reihlih mit Spott verfolgte die Mönche der erotiſche Poet der Uni— 
verfität Tübingen, Heinrich Bebel (1472—1518)*. Begeifterter für 
Luther dichtete der Arzt Euricius Cordus (1486— 1535). Als eigent: 
ı Blitt, od. Trutvetter von Eiſenach, Erlangen 1876. — Kampſchulte, 
Die Univerfität Erfurt in ihrem Verhältniffe zu dem Humanismus und ber Re- 
formation, Trier 1858. 

? Seine Briefe herausgeg. von B. Seibel (Libellus novus epistolarum, 
1586), W. €. Tentel (Supplementum histor. Gothanae I), Jena 1701; voll« 
ftändiger von K. Kraufe (Der Briefwechſel des Mutianus Rufus), Kaflel 1885. 

°* Eobanus Hessus, Operum farragines duae, Halae Suev. 1539; Psal- 
terium, Marp. 1537; Ilias, Basil. 1540; Epistolae familiares, Marp. 1543; brei 
Brieffammlungen, herausgeg. von Gamerarius, Leipzig 1557 1561 1568; Nori- 
berga illustrata (herausgeg. von %. Neff), Berol. 1896. — Camerarius, Nar- 
ratio de Eob. Hesso, Norimb. 1553. — Biographie von G. Schwertzell, Halle 
1374, 8. Rraufe, Gotha 1879. J 

Am berühmteſten waren feine Facetiae. Uber ſeine übrigen Schriften vgl. 
Zapf, Heinrich Bebel nad) ſ. Leben und f. Schriften, Augsburg 1802. 

5 Seine gejamten Werfe erſchienen zuerft ohne Drudort und Jahr unter dem 
Titel: E. Cordi, Simesusii Germani, Poetae lepidissimi, Opera 

Baumgartner, Weltliteratur. IV. 3. u. 4. Aufl. 37 


578 Erftes Kapitel. 


licher Sturmbod des antitirhlihen Humanismus aber ift der fränkische Ritter 
Ulrich von Hutten zu betradten. 

Auf Schloß Stedelburg in Franken 1488 geboren, ward der ſchwächliche, 
aber reihbegabte Knabe von den Eltern der Klofterfchule zu Fulda anvertraut. 
Die ſtrenge Höfterlihe Zudht war ihm zumider. Er entfloh und nahm aus 
der ehrwürdigften Bildungsftätte Deutihlands, vom Grabe des hl. Boni- 
fatius, nur eines mit: einen unauslöfhliden Haß gegen das Möndtum 
und gegen die Ideale des religiöfen Lebens. Als abenteuernder Bettelftudent 
zog er dann in ganz Deutſchland und Norditalien herum. Bon Erfurt, 
Köln, Frankfurt a. O. wanderte er nah Greifswald und Noftod, nad 
Wien, Padua und Bologna. Schon mit zwanzig Jahren erkrankte er in— 
folge jeiner Ausihweifung an der Luſtſeuche, von der er fi nie mehr 
erholte und die ihn ſchon im fünfunddreißigften Lebensjahr dahinraffte. 
Reizbarleit, Ungebundenheit, Troß, Haß und leidenſchaftlicher Zorn bezeichnen 
den Charakter jeines unfteten Treibens wie feiner Schriften. Er ſpielt fid 
mit fichtlicher Vorliebe als deutſchen Patrioten, ja als den deutſcheſten aller 
Deutihen auf; aber dieſes Deutichtum beftand nur im einem ewigen Ge: 
ſchimpf gegen Venetianer und Franzoſen, gegen Italiener und vor allem 
gegen den Papſt. Bon 1514 bis 1519 lebte er abwechjelnd als literari- 
ſcher und kriegeriſcher Straudhritter; 1517 wurde er von Kaiſer Marimilian 
in Augsburg zum Dichter gekrönt und vom Kurfürften Albrecht von Mainz 
in deffen Dienft genommen; 1519 nahm er an dem Kriege des Schwäbi- 
ihen Bundes gegen Ulrih von Württemberg teil; von da ab lebte er 
nahezu ausfchließlih dem Kampfe gegen den Papft und die katholiſche 
Kirche, beteiligte fih auch an der Adelsverſchwörung des Franz von Sidingen 
wider Kaifer und Reich und erlag endlih 1523 auf der Inſel Ufenau im 
Süricherjee feiner Ihimpflihen Krankheit 1. 

Unter allen Brandiriften, die Hutten in die Welt gejchleudert, hat 
wohl feine jo tief gewirkt wie die vielgenannte Satire, welde er im Berein 
mit Grotus Rubeanus gegen die Theologen und Humaniften von Köln richtete. 

Der befehrte Jude Johannes Pfeffertorn in Köln Hatte nach feinem 
Übertritt alles aufgeboten, um durd Wort und Schrift feine Glaubens: 
genofjen ebenfalls für den chriftlihen Glauben zu gewinnen. In feinen 
Schriften mahnte er fie beſonders, dem wucheriichen Geldgewinn zu entjagen, 


po&tica omnia, dann neu herausgeg. von H. Meibom, Helmftabt 1616. — Bal. 
K. Krauſe, Euricius Eordus, Hanau 1868. — Euricius Cordus, Epigram- 
mata (herausgeg. von K. Kraufe) Berol. 1892. 

! Ulrichi Hutteni opera quae reperiri potuerunt omnia (ed. E. Böcking), 
5 Bde, 2 Suppl., Lips. 1859— 1870. — D. F. Strauß, Ulrid von Hutten, 2 Bde, 
Leipzig 1858; 21871. — Jarde, Studien und Skizzen zur Geſchichte der Refor- 
mation, Schaffhaufen 1846, 134—149. 


Die deutſchen Humaniften und bie Glaubenstrennung. 579 


fih durch ehrliche Arbeit ihr Brot zu verdienen und die dem Chriftentum 
feindlichen talmudiſchen Bücher aufzugeben. Ein Mandat Kaiſer Marimilians 
ermädhtigte ihn 1509, derartige Bücher in Gemeinfhaft mit der geiftlichen 
und weltlichen Ortsobrigkeit einzuziehen. Ein zweites Mandat des Kaijers 
beauftragte den Erzbifhof von Mainz, diefe Bücher unterfuhen zu laffen 
und darüber das Gutachten der Univerfitäten Mainz, Köln, Erfurt und 
Heidelberg, des Glaubensinquifitors Jalob von Hochftraten, des Prieſters 
Biltor von Garben, eines befehrten Rabbiners, und Johann Reudlins ein- 
zuholen. Sämtlide Gutahten jpraden für Wegnahme der talmudiichen 
Schriften, nur Heidelberg kam zu feinem Entſcheid, Reuchlin allein verteidigte 
die Schriften und verunglimpfte dabei Pfefferforn in empfindlichfter und 
zugleich ungerechtefter Weife. Als diefer in feinem „Handjpiegel” jehr gereizt 
antwortete, griff ihn Reudlin in jenem „Augenjpiegel“ mit noch größerer 
perjönlicher Leidenjchaftlichkeit an und bverftieg fi dabei zu „irrigen, un— 
firhlihen“ Behauptungen 1. 

Die theologiſche Fakultät von Köln ſah fi dadurd genötigt, ein= 
zufchreiten. Auf den maßvollen Beriht, den ihr Referent Arnold von 
Zongern dem Kaiſer einfandte, wurde Reuchlins „Augenſpiegel“ im Auguſt 
1512 beſchlagnahmt. Reudlin erließ darauf eine noch heftigere „Verteidigung 
gegen jeine Kölnischen Verleumder“ voll der wütendſten Ausfälle und Be— 
feidigungen. Aud fie wurde duch kaiſerliche Verfügung (Juli 1513) mit 
Beihlag belegt. Wie die Univerfität von Köln, verurteilten auch diejenigen 
von Löwen, Mainz, Erfurt und Paris Reuchlins „Augenſpiegel“. Jakob 
von Hochſtraten lud den Verfaſſer vor jein Tribunal, Reuchlin appellierte 
an den Papſt, welcher dem jugendlihen Biſchof von Speyer die Unter: 
juhung der Sade übertrug. Diefer wies fie an den Domherrn Thomas 
Truchſeß, der, als Schüler und begeifterter Anhänger Reuchlins, denjelben von 
jeder Schuld freiſprach. Seht appellierte Jakob von Hochſtraten an den 
Papft und begab fich jelbft nah Rom. Ehe man indes - hier zu einem 
Entiheid kam, entfeffelten Reuchlins Freunde in Deutjchland einen allgemeinen 
Sturm gegen feine theologijhen Gegner. 

Reuchlin ſelbſt veröffentlichte die zahlreichen beifälligen Zufcriften, die 
er erhalten hatte, 1514 unter dem Titel: Clarorum virorum epistolae 
latinae, graecae et hebraicae variis temporibus missae ad I. Reuchlin 
Phorcensem. Dies genügte aber jeinen Freunden noch nit. Erasmus 
gab 1515 eine neue Ausgabe feines „Lobes der Narrheit“ (Encomium 
moriae) heraus, worin er Papft, Ordenzftand und Scholaſtik aufs bos— 


! Yanfien, Geihihte des deutfchen Volkes IT’, Freiburg 1897, 40—56. 
— D. Reihling, Der Reuchlinſche Streit (Liter. Beilage der Köln. Volfözeitung 
1900, Nr 34); Die Briefe der Dunfelmänner (ebd. Nr 36). 





37* 


580 Erftes Kapitel. 


baftefte angriff. Seinen feinen Spott aber verarbeiteten die übrigen An— 
bänger Reuchlins noch im jelben Jahre zu einer derberen, durch und dur 
fomifhen Spottihrift, indem fie eine Sammlung von Zuftimmungsbriefen 
fingierten, welche bei Ortwin Gratins, dem bumaniftifchen Vertreter der 
Theologenpartei, eingelaufen fein follten. 

Die Schrift führte den Titel: Epistolae obscurorum virorum ad 
venerabilem virum Magistrum ÖOrtuinum Gratium Daventriensem, 
Coloniae Agrippinae bonas litteras docentem, variis et locis et 
temporibus missae et demum in volumen coactae. Al Drudort 
wurde Venedig angegeben, der wirklihe Drudort war aber bermutlid) 
Hagenau. Die erfte Sammlung enthielt einundvierzig Briefe, eine dritte 
Auflage (1516) ſchon adtundvierzig; ein zweiter Band, der zweiundjechzig 
neue Briefe enthielt, wurde in der zweiten Auflage auf fiebzig vermehrt. 
Unter burlesfen Spottnamen, wie Langſchneiderius, Hafenmufifus, Strauß: 
federius, Sceerjhleiferius, Buntemantellus, Eitelnarrabianus, Dolltopfius 
und Tileman Qumplin, werden die Theologen und Dominikaner von Köln 
recht eigentlih in die Narrenjade geftedt und in den Kot gezogen und nun 
eine Komödie mit ihnen aufgeführt, die Quther ſelbſt als bloße Hansmwurfterei 
veradhtete. Dabei beuteten die feuchtfröhlichen Poeten reichlich die mohlfeile 
Komik aus, welche fih mit der Halb: oder gar nicht verftandenen Ter- 
minologie der Scholaftif treiben läßt, dichteten ihren Gegnern ein Deutſch— 
Latein an, das von den tollften Grammatikverftößen wimmelt, wie e8 faum 
das talentlofefte Schülerlein geftottert Hätte, und kneteten in diefe Sprache 
den gröbften Unverjtand und Shmuß hinein. Dazu bängten fie den ver— 
haßten Theologen alle Fehler, Schwächen und Lafter an, die nur den ber: 
fommenften Kleriker entwürdigen konnten, verpfefferten diefe ſchmählichen 
Berleumdungen mit dem baroditen Anekdotenquark und dem lächerlichiten 
Mummenjhanz, hoben ihnen mit der gehäffigiten Ketzerriecherei und Ver— 
folgungswut die abgründlidhfte Geihmadlofigkeit und Dummheit unter und 
gaben jo die theologiſche Fakultät mitfamt dem Dominilanerorden dem 
Gefpött der Menge preis. 

Das Pasquill hatte einen ungeheuren Erfolg. Es zerftörte in weiten 
Kreifen, beionders unter den Studierenden, das Anjehen der jcholaftischen 
Theologie und ihrer Vertreter. Ein großer Zeil der heranwachſenden Gene: 
ration gewöhnte fih, in den katholiihen Theologen nur „Dunfelmänner“ 
zu jehen. Es fand fi fein katholiſcher Humorift, der die leichtfertigen 
Pazquillanten mit der verdienten Münze, mit Spott, Wih und Salz nad 
Haufe geihidt hätte Die Lamentationes obscurorum virorum, in 
welden Ortwin dies verjuchte, entjpradhen diefem Zwecke nicht. Ebenſo 
mißglüdte der Verfuh, das Pasquill durch ein Exkommunikationsbreve ge: 
waltjam zu unterdrüden. Bald machte allerdings Quthers Kampf gegen 


Die deutfhen Humaniften und die Glaubenstrennung. 581 


den Papſt dies frivole Gelächter verftummen, und über dem allgemeinen kirchen— 
politiihen Umfturz wurde die Reuchliniche Fehde fo gut wie vergeffen. Aber 
die Hochſchule von Köln erholte fih nicht mehr von dem Schlage, den ihr 
die Humaniftenpartei von Erfurt angetan hatte. Dieſe erntete allerdings 
geringen Lohn. Denn unter der Herrſchaft des neuen Evangeliums janfen 
die humaniftiiden Studien bald in Beratung. Hutten jelbft vertaujchte 
die Rolle des Satirifers mit jener des politiihen Agitators, die Sprade 
Latiums mit dem gröbften und urwüchſigſten Deutih. Manche der ge— 
bildetften Männer kehrten reuig zur alten Kirche zurüd. Nah ein paar 
Jahrzehnten betrauerten Luther und Melanchthon jelbft den jammervollen 
Zujammenbrucd der geiftigen Bildung. Längft vor ihnen wandte jih Erasmus 
enttäufcht von den Umfturzmännern ab, von denen er ein neues Geiftesleben 
erwartet hatte, die fi aber im Aufbau ebenfo unfähig erwiejen als un 
erjättlih im Zerftören. 

Dejiderius Erasmus, 1467 zu Rotterdam geboren, von jänt: 
lichen Zeitgenofjen ala der bedeutendfte und univerjellfte Repräjentant des 
Humanismus angejehen und gefeiert, hängt durch feine erfte Erziehung noch 
mit der frommen Schule von Deventer zujammen. Natur und Gnade, 
MWeltluft und religiös=ideales Streben, Neigung zu bloß weltlicher Gelehr- 
jamkeit und ein Ruf zu höherer Vollkommenheit kämpften jhon frühe in 
dem ungewöhnlich begabten Jüngling. Er kam zu feinem Haren, feiten 
Entſcheid und hat ihn während feines ganzen übrigen Lebens nicht gefunden. 
Erft unglüdlih im Kloſter, dann ebenjo unbefriedigt in der Welt, hat er 
fein lebelang den ſchimmernden Phantomen literariichen Ehrgeizes nach— 
gejagt, iſt durch feine unermüdliche Tätigkeit und feine ausgebreiteten per- 
ſönlichen Beziehungen zum Orakel Europas geworden, hat das innere 
Gleihgewicht eines großen Charakters jedoch nie gewonnen und ift darum 
in den entjcheidendften Kriſen unentjchloffen hin und her geihwantt. Er, 
der dur Geift und Willen, Anjehen und Einfluß wohl einer der ſegens— 
reichſten Vorlämpfer der Kirche hätte werden fönnen, entzog fi dem 
Kampfplage, um bald das Möndtum und deffen Unwiſſenheit hoch— 
mütig zu bejpötteln, bald die Klofterflüchtigen Eheftandsfandidaten des 
„reinen Evangelii“ jarkaftiih auszulahen oder die don ihnen herbei: 
geführte Barbarei zu betrauern. Er hätte ein Iſidor und Beda fein 
fönnen und hat e& ſtatt deſſen dahin gebracht, daß er der „Voltaire“ 
jeiner Zeit genannt worden if. Das war er nit. Er war durchaus 
feine bloß zerjegende, bloß negative mephiftopheliiche Spötternatur, Er 
gleiht Voltaire nur in feiner lebendigen Redegewandtheit und oberfläch— 
lichen Geiftreihigkeit, in dem großen Umfang jeines Einfluffes, in einem 
gewiſſen jfeptiihen Rationalismus, der zu den wichtigſten Fragen lächelte, 
ohne fie zu löjen. Aber abſichtlich planmäßig zerftört hat er nicht; er 


582 Erites Kapitel. 


bat vielmehr das Werk der Zerftörung und Auflöfung in nicht geringem 
Umfang verzögert und aufgehalten !. 

Seine Jugendſchriften, Gefänge zur Ehre Chriſti und Mariens, Elegien 
und Oden, die Leichenrede auf feine Wohltäterin und „zweite Mutter” 
Bertha von Heijen, Reden über das Glüd des Friedens und das Unglüd 
der Zwietradht, eine an Petrarca erinnernde Abhandlung „Bon der Ver: 
ahtung der Welt“ find noch fämtlih von dem Geifte eines frommen 
Humanismus getragen. Auch die Aufmunterung zur Tugend (De virtute 
amplectenda), die er für Adolf von Burgund ſchrieb, weicht nicht davon 
ab. Erft fein Enchiridion militis christiani enthält, unter frommer Hülle, 
Angriffe gegen firhlid approbierte und feit Jahrhunderten geübte Formen 
des dhriftlichen Lebens. Er machte ſich viele Feinde damit?, ohne indes 
zu den kirchlichen Autoritäten in eine fchiefe Stellung zu geraten. Auf 
jeinem unjteten Wanderleben befreundete er fi vielmehr mit den hervor: 
ragenditen kirchlich geſinnten Gelehrten jener Zeit. In England ward er 
1498 Hausfreund de3 ebenjo glaubenstreuen als frommen Thomas Morus 
und jeiner gelehrten Freunde John Eolet, Thomas Linacre, William Latimer 
und William Grochn. In Löwen verkehrte er trauli mit Hadrian Florisfon, 
dem Dehanten von St Peter, dem Erzieher Karls V. und dem künftigen 
Papſt Hadrian VI.; die Univerfität trug ihm 1502 fogar eine Profefjur 
an. Auf feiner italienischen Reife bewarben fih die Kardinäle Grimani 
und Giovanni de’ Medici (bald Leo X.) um feine Freundihaft, und Julius II, 
wollte ihn zum Bönitentiarius machen, mit Anwartihaft auf den roten Hut. 
Bei einem zweiten Aufenthalt in England verſchaffte ihm Biſchof John 
Fiſher, Kanzler der Univerfität Cambridge, die Profeffur des Griechiſchen 
an diejer Univerfität. 

Um den franten Morus zu erheitern, ftellte er damals in fieben Tagen 
die zerftreuten Blätter einer Satire zufammen, die er unterwegs auf der 


! Erasmi Roterodami Opera omnia (herausgeg. von Beatus Rhe— 
nanus, 9 Bde 2%, Baſel 1540/41; von Le Elerc, 11 Bde 2%, Beiden 1703 bis 
1706). Ältere Biographien von Burigny, Paris 1757; Knight, Cambridge 
1726; 4. Müller, Hamburg 1828; neuere: Durand de Laur, Erasme, pre- 
curseur et initiateur de l’esprit moderne, Paris 1872. — Drummond, Erasmus, 
his life and character as shown in his correspondence and works, London 1873. — 
Feugöre, Erasme, étude sur sa vie et ses onvrages, Paris 1874. — P.de Nol- 
hac, Erasme en Italie. Etude sur un &pisode de la renaissance, Paris 1888. 
— J. A. Froude, Life and letters of Erasmus, London 1895. — F. van der 
Haeghen, Bibliotheca Erasmisna. Röpertoire des @uvres d’Erasmus, 2 Bbe, 
Gand 1893 (enthält Verzeichniffe: 1. der von Erasmus verfaßten Schriften, 2. ber 
von ihm herausgegebenen Autoren, 3. ber über ihn handelnden Schriften). 

2 So wurde 3. ®. der hl. Ignatius von Loyola, der die Schrift während 
feiner Studienzeit zu Barcelona las, durch biefelbe gründlich gegen Erasmus ein— 
genommen (I. A. de Polanco, Vita Ignatii Loyolae I, Matriti 1894, 33). 


Die deutſchen Humaniften und die Glaubenstrennung. 583 


Reife geſchrieben hatte und die im bitterfter Schärfe der Reihe nad die 
Torheiten und Lafter der verſchiedenen Stände geißelte, und gab dem feden 
Sittenbilde den pilanten Titel: "Fyxwmov Moptag seu laus stultitiae. 
Die Schrift erlebte in wenigen Monaten fieben Auflagen. Nicht nur 
Thomas Morus, jondern aud Leo X. faßten fie ald eine geiftreihe Satire 
auf und lajen fie mit Vergnügen. Es war noch nicht lange her, daß 
Brants „Narrenſchiff“ erſchienen und unbeanftandet ins Lateinifche, Nieder: 
ländiiche, Franzöſiſche und Engliſche überjeßt worden war, und doch fiel 
Brant über die Geiftlichkeit nicht weniger ſcharf her ala über andere Stände. 
Morus meinte, die Satire des Erasmus könnte ebenfo zu einer heilfamen 
Reform anregend wirken. Erſt jpäter überzeugte er fi, daß fi Zeit und 
Umftände völlig verändert hatten, und daß darum die Satire alle Wir: 
fungen einer aufrühreriichen Läfterfchrift und Brandſchrift entwidelte. Diefe 
volle zerjegende Wirkung erlangte die Schrift auch erft dur den Som: 
mentar, mit welchem Gerhard Liftrius fie 1515 herausgab und melder 
die boshafteiten Angriffe auf das Papfttum, die religiöfen Orden und die 
Scholaftif enthielt. Sie verftärkte nun nicht wenig den Eindrud, den die 
„Briefe der Dunfelmänner” hHervorriefen. Die Führer des kirchlichen Um: 
ſturzes erhoben jegt Erasmus als einen der Jhrigen auf den Leuchter, und 
Erasmus hatte in den nädften Jahren nicht den Mut, fih klar und ent- 
jhieden gegen die Neuerung auszuſprechen. Doc wies er Hutten von fich, 
als diefer 1522 geädhtet und von allen verlaffen, ihn zu Bafel um eine 
Unterredung bat, und fertigte die erzürnte Expostulatio des enttäujchten 
Ritters mit feinem kräftigen „Schwamm“ ab (Spongia Erasmi adversus 
aspergines Hutteni. 1524). 

Als aber im jelben Jahre (1524) Luther feine Rechtgläubigfeit in 
Zweifel zog, und er in Gefahr fam, e& mit beiden Parteien zu verderben, 
trat Eradmus endlich in der Schrift De libero arbitrio diatribe offen 
gegen Luther auf und zog ſich dadurch deſſen umverjöhnlichen Groll zu. 
Hauptjählih dur Luthers Borwürfe fam er in den Ruf eines gegen 
Chriſtus und Religion gleihgültigen Freigeiftes und Spötterd, während 
Kaijer Karl V. e& feinem Einfluß zufchrieb, daß das Umfichgreifen der 
lutheriſchen Lehre zeitweilig eine große Einbuße erlitt. Als eigentlicher 
Kämpfer für die angegriffene kirchliche Lehrautorität und Einheit wie für 
die angegriffenen Dogmen trat Erasmus aber auch jetzt noch nicht auf. Er 
blieb von 1521—1529 in dem proteftantijch gewordenen Bafel und führte 
hier ein emfiges Gelehrtenleben, wie einft Petrarca in feinen Einfiedeleien. 
Er bejorgte eine neue Auflage feiner Colloquia, gab die Werfe des älteren 
Plinius und des Seneca, der Hl. Jrenäus, Hilarius und Ambrofius heraus, 
überjegte einzelne Schriften de3 Origenes und der Hi. Athanaſius und 
Sohannes CHryfoftomus aus dem Griechiſchen und verfaßte allerlei Kleinere 


984 Erftes Kapitel. 


Abhandlungen, die nicht ahnen laffen, dat damals die ganze Welt in Flammen 
ftand, und dab es fih für die kirchliche Einheit Europas, die bisherige 
MWeltftellung. des Papfttums und des Haifertums um Sein und Nidhtjein 
handelte. So ſchrieb er eine Theorie des Briefftild, über den ciceroniani- 
ihen Stil überhaupt, über die Art und Weiſe zu beten, über die Pflichten 
der chriſtlichen Witwen und über die Einfegung der hriftlihen Ehe. Trotz 
diefer an fi großartigen literariihen Tätigkeit gewann Erasmus jeine 
frühere Bedeutung nicht mehr und fühlte das wohl. Der Humanismus 
hatte durch den religiöfen Umfturz einen tödlihen Schlag bekommen; das 
öffentliche Intereſſe wandte fih faſt ausjchließlih dem Firchenpolitiichen 
Hader zu, und die Schreden des Bürgerfrieges zerftörten immer mehr die 
Grundlagen einer literarifhen Blütezeit. Auch das Emporblühen des Hu- 
manismus in England, an dem er vor dreißig Jahren fo freudig mit- 
gewirkt, ſah der greife Erasmus durd den Abfall von der Kirche, durch 
Ihnöden Kirchenraub und Gemalttat gefnidt und zertreten. 

Die humaniftifhe Bewegung war gleich in ihren erften Anfängen nad) 
England gebrungen. Richard von Bury ward 1333 in Avignon mit 
Petrarca befannt und teilte deſſen Leidenschaft für Bücher, wenn aud nicht 
jeine Begeifterung für die antife Literatur. Der noch in Konftanz zum Klar: 
dinal ernannte Henry Beaufort, Oheim Heinrichs V., nahm Poggio Bracciolint 
ſelbſt 1420 nad England mit, wo derjelbe allerdings nur bis zum Herbſt 
1422 verweilte. Doc) verfehrte Poggio jpäter brieflih mit Nicholas Bild: 
one, Rihard Pettworth und John Stafford (feit 1443 Erzbiſchof von 
Ganterbury). Im näherer Beziehung zu Leonardo Bruni, Titus Livius aus 
Forli, Pier Candido Decembrio, Pier del Monte und Lapo da Eaftigliondio 
ftand der Herzog Humphrey von Glocefter, Sohn König Heinrichs IV., welcher 
in den Jahren 1439 und 1443 eine Sammlung von 264 Büchern (dat: 
unter viele Klaſſiker, Dante, Petrarca, Boccaccio, die Briefe des Nikolaus 
de Glamengis u. a.) zufammentaufen ließ und der Univerfität Orford zum 
Geſchenke madhte!. 

Faft nirgends waren die Theologen den humaniftiihen Beitrebungen 
jo beionnen und freundlich entgegengefonmen mie an den Univerfitäten 
Orford und Cambridge. Eine ganze Schar bedeutender Männer hatte 





ı 1. Pits, De illustribus Angliae scriptoribus, Paris. 1619. — I. Leland, 
Commentarii de Seriptoribus Britannicis, Oxon. 1709. — 6. Boigt, Die Wieder: 
befebung x. II 248—261. — Zanoni de Castiglione, episcopi Baiocen., 
epistola ad Humfredum ducem Glocestriae, bei H, Denifle, La dösolation des 
eglises ete, en France pendant la guerre de cent ans I, Paris 1897, 520—526. 
— R. Pauli, Geſchichte von England V, Gotha 1858, 666—678. — N. Zimmer: 
mannS.J., Die Univerfitäten Englands im 16. Jahrhundert (Ergänzungäheft zu 
den Stimmen aus Maria-Qaah XLVI, Freiburg 1889, 7—30). 


Die deutfhen Humaniften und die Glaubenstrennung. 585 


in Italien jelbft mit jenen Studien Belanntihaft gemadt. Robert 
Fleming, Dedhant in Orford, war mit Platina befreundet gemejen, hatte 
in Ferrara (1477) ein epiſches Gedicht, Lucubrationes Tiburtinae, ver- 
öffentlicht und ſpäter ein griechiſch-lateiniſches Wörterbuch verfaßt. William 
Grey, Biihof von Ely, und John Free waren gleih ihm Schüler 
Guarinos gewejen und hatten den regiten Eifer für die klaſſiſchen Studien 
in ihre Heimat mitgebradt. John Gunthorpe und John Ziptoft, 
Earl of Worcefter, hatten aus Jtalien ebenfalls die reichſten Bücherſchätze 
mit nad England genommen, Tiptoft feine foftbare Handſchriftenſammlung 
der Univerjität Orford hinterlaffen. Die Benediktiner William Selling 
und Thomas Milling, jpäter Abt von Weilminfter, hatten die griechische 
Sprade erlernt. William Grochn lernte wahrſcheinlich jchon 1491 bis 
1493 am Ereter Kolleg zu Orford das Griechiſche, ging dann aber noch 
nah Italien und ftudierte zwei Jahre zu Florenz, Griechiſch bei Demetrios 
Chalkondylas und Lateiniſch bei Politian, bevor er es wagte, felbit als 
Lehrer des Griehifhen in Oxford aufzutreten. Thomas Linacre wurde 
in Florenz mit Lorenzo de’ Medici und deifen Sohn Giovanni, dem jpä- 
teren Bapfte Leo X., befannt, ward zu Padua Doktor der Medizin und 
fehrte dann mit einem großen Schat von Büchern und jelbfttopierten Hand: 
ſchriften nach Oxford zurüd. Die Schrift De Temperamentis, die er 
herausgab, war das erfte Buch, das in England mit griehifchen Lettern 
gedrudt wurde. Bei ihm und bei Grochn lernten Erasmus und Thomas 
More das Griehiihe. Auh William Latimer, William Lily und 
John Eolet, mit welden Erasmus in England zufammentraf, hatten 
längere Zeit in Italien fudiert!, Zu ihnen geiellte fih noch Charnod, 
der Prior des Auguftinerklofters, der ebenfall® für einen der herborragenditen 
Gelehrten von Oxford galt. Diefe Männer waren faft ausnahmslos Geift- 
ide, meift Männer von ebenjo entſchieden kirchlicher Gefinnung als fitten- 
firengem Wandel, und betrieben die klaſſiſchen Studien nicht einfeitig für 
ih, jondern mit Rüdfiht auf Philofophie und Theologie, und jo ift es 
wohl möglih, dap Erasmus bei ihnen auf das Studium der Bibel und 
der Patriſtik hingelenkt worden: ift. 





wJohn Eolet (geb. 1466, Sohn bes Lorbmayor von London, feit 1498 
Priefter, 1505 Dekan von St Paul) begründete 1510 die berühmte St Paulsjchule, 
an welder er William Lily anftellte, der, ebenfalls um 1466 geboren, in Rhodus 
und in Rom Griehiih ftudiert hatte, Überjeßungen griehiiher Epigramme von 
Lily erſchienen vereint mit ben Progymnasmata Thomi Mori, Basileae 1518. 
Poemata varia von ihm erjhienen zugleih mit feinem In aenigmatica Bossi 
(Robert Whitynton) antibossicon, Lond. 1521. Er fhhrieb auch De laudibus 
Deiparae virginis und ein Feſtgedicht auf den Beſuch Kaifer Karls V. in London 
(1522). ®gl. Biographia Britannica II, London 1748, 1402 f; VIII (1760) 
2968 f. 


986 Erftes Kapitel. 


Als den liebenswürdigften und innigften feiner englifchen Freunde hat 
Erasmus wiederholt Thomas More gejildert. Auch diefer war ein 
frommer, tiefernjter Mann, der jelbft daran gedacht hatte, Priefter und jogar 
Ordensmann zu werden, aber mit dem gediegenften Mannescharakter auch 
die gewinnendften Formen eines Weltmannes verband, voll köftlicher Heiter: 
feit, Geift, Wi und Humor. Er war ein Londoner Kind, in der City 
jelbft 1478 geboren!. Noch als Knabe trat er in den PDienft des Kar— 
dinal3 Morton, Erzbiſchofs von Ganterbury, fudierte dann in Orford 
Rhetorik, PHilofophie und Theologie, in London die Redhte, ward Advokat, 
1504 Mitglied des Unterhaufes, 1510 Unterfheriff von London, trat 1517 
als Mitglied des Geheimrats in den königlichen Dienft über, wurde 1521 
geadelt und 1529, nad dem Sturze Wolſeys, Lordkanzler von England. 

Seine widhtigen öffentlichen Amter und die Sorge für eine zahlreiche 
Hamilie gönnten ihm nicht viel Muße für literarifche Arbeiten. Nur neben: 
her und zur Erholung fonnte er die humaniſtiſchen Studien weiter pflegen, 
die er als Student in Oxford liebgewonnen. Die Iateinifchen Überjegungen 
einiger Dialoge Lukians zeigen feine Luft an Satire und Wik und zugleich 
feinen freien, gejunden Geift, der nicht bei jedem Scherz eine Ketzerei witterte. 
Eine Biographie des Pico von Mirandola bezeichnet feine freundſchaftlichen 
Beziehungen zum italienifhen Humanismus. Wegen einer freimütigen Par: 
lamentsrede (1504) bei Heinrich VII. in Ungnade gefallen? und genötigt, 
fi vier Jahre lang in die Kartaufe von London zurüdzuziehen, jchrieb 
er das Leben König Rihards IT. Im Jahre 1518 erjdhien von ihm 
eine Sammlung lateinifher Epigramme, die jhon 1520 eine vermehrte 
Auflage erlebte. Etwa ein Viertel davon find lberfegungen aus dem 
Griechiſchen, die Übrigen nicht alle Epigramme im ftrengften Sinn, jondern 
aud font fürzere Gedichte, meift aus feinen früheren Jahren, voll Wit 
und wirklich poetiihem Sinn? Sein originellftes literariſches Werf aber, 





t Die gewöhnlihe Angabe, 1480, ift nach neueren Forſchungen zu verbeſſern 
(T. E. Bridgett, Life and Writings of Sir Thomas More®, London 1892, 2 ff). 

2 Er verweigerte bie erorbitante Ausfteuer, welche der König für feine Tochter 
Piargarete bei deren Bermählung mit dem König von Schottland forderte. 

3 Unvollftändige Sammlungen der Jateinifhen Schriften: Bajel 1518 1563; 
Löwen 1566; vollftändigfte: Thomae Mori Opera omnia, Francof. et Lips. 1689. 
Sie enthält außer der Biographie von Th. Stapleton: 1. Historia Richardi II; 
2. Responsio ad convitia Martini Lutheri; 3. Expositio passionis Christi (1535 
im Tower geichrieben); 4. Quod pro fide mors fugienda non sit; 5. Precatio ex 
Psalmis collecta; 6. Utopia; 7. Poemata; 8. Dialogi Lucianei; 9. Epistolae. — 
Biographien von W. Roper, Oxford 1716, London 1731; Th. Stapleton, 
Douay 1588; Thomas More, London 1627, deut von Th. Arnold, Leipzig 
1741; ©. Th. Rudhard, Augsburg 1852; R. Baumſtark, Freiburg i. ®. 
1879; T. €, Bridgett, London 1892. 


Die deutſchen Humaniften und bie Glaubenstrennung. 587 


die „Utopia“, fam 1515 während einer Gejandtidhaftsreife nah Flandern 
zu Stande und wurde im Dezember 1516 zu Löwen gedrudt. Es ift ein 
jozialphilofophifher Roman, wie der Name „Nirgendheim” befagt, mit 
gelegentlihem didaktiſchen und ſatiriſchen Anflug, aber nicht als eigentliche 
Satire aufzufaffen, jondern als das harmloſe Phantafiejpiel eines ebenjo 
gemütlichen als witzigen Humoriften, der über die Streitereien des Tages 
weit in die großen Entdeckungen der Neuzeit und die allgemeinften Fragen 
der Menſchheit hinausblidt !. 

Während feines Aufenthalts in Flandern, jo fingiert er in der Ein- 
leitung, habe ihm fein Freund Peter Giles einen gewiffen Raphael Hythloday 
(Kleinigteitäträmer, von Blog und Hdiog) vorgeftellt, einen im Lateinischen 
wie Griechiſchen bejchlagenen Mann, einen Portugiefen, der fi ganz der 
Philoſophie ergeben, fein Erbteil feinen Brüdern überlaffen habe, um fremde 
Länder fennen zu lernen. So habe er Amerigo Veſpucci auf feinen drei 
legten Reifen begleitet, über die ein Beriht anno 1507 erjchienen ſei. Von 
der letzten Reife ſei er aber nicht mit Veſpucci zurüdgelehrt, fondern habe 
fh die Erlaubnis erbeten, fih den dreiundzwanzig Leuten anzujchließen, 
die in Gulife zurüdblieben. Bon da ſei er dann weiter nah Galicut 
gereift und habe unterwegs die Inſel Utopia erreiht, die bis dahin völlig 
unbekannt geblieben; er habe fih fünf Jahre auf derjelben aufgehalten 
und deren Sitten und Gebräuche gründlih fennen gelernt. In Galicut 
habe er endlid ein Schiff feines Landes getroffen, das ihn mit nad Haufe 
genommen habe. 

Damit ift nun das bunte Hulturbild eröffnet, das bald eine Art von 
Naturzuftand ohne hriftliche Offenbarung, aber auch ohne erflärtes Heiden- 
tum ſchildert, gelegentlich Anfpielungen auf die Gegenwart madt, allgemeinere 
oder bejondere Schäden des jozialen Lebens kritifiert, dann ſich wieder in 
idealen Träumereien ergeht, Wirklichkeit und Traum fo mifcht, daß man nie 
fiher ift, wo der Ernft aufhört, der Scherz anfängt. So gibt More 
3. B. gelegentlih eine treffende Charakteriftit feines erften Gönners, des 
Kardinalerzbiihofs Morton, und lobt defjen gute Zeiten, two oft zwanzig 
Diebe auf einmal — ald Zeugen richtiger Juſtiz — am felben Galgen 
baumelten ; dann jpricht er fich ziemlich deutlich gegen eine fo ftrenge Juftiz 
„aus, madt verblümte Angriffe auf die Kriegsluſt Heinrichs VIII. und redet 
jehr gefühlvoll dein ewigen Frieden das Wort. 

Aus den religiöfen Schilderungen von Utopia oder Nusquama-Land 
hat man fogar latitudinarifche und indifferentiftiihe Grundjäbe herausleſen 


! De optimo reipublicae statu deque nova insula Utopia, Basileae 1518; 
neue Ausgabe von V. Michels und Th. Ziegler, Berlin 1895 (Latein. Literatur: 
bentmale des 15. und 16. Jahrhunderts XI); deutſch von Öttinger, Leipzig 1846, 
Kothe, ebd. 1874, Kautsky, Stuttgart 1887. 


588 Erftes Kapitel. 


wollen. Thomas More hat indes anderwärts feine religiöfen Anſchauungen 
jo Har und offen belannt, daß es töridht ift, dieſe Spielereien dagegen 
geltend maden zu wollen, in melden der gute Humor eines Gerbantes 
waltet!. Wie diefer, war More ein wirkfid origineller, erfindungsreicher 
Kopf, der hoch über der platten Komik der „Dunlelmännerbriefe“ ftand. 

Auch in den ernfteften Kämpfen hat ihn diefer edle Frohmut nicht 
verlaffen. Doc gewichtigere Aufgaben drängten feine literariiche Tätigteit 
pöllig zurüd. Zuerft riefen ihn die Angriffe Luthers, Tindales u. a. in 
die Schranken, zur Verteidigung der katholiſchen Lehre. Dann ſagte ſich 
Heinrih VIII. felbft von Papft und Kirche los und ließ feinem treuen 
Kanzler feine andere Wahl, ala Verräter an der Wahrheit oder Märtyrer 
zu werden. Am 6. Juli 1535 wurde More als angeblider Hochverräter 
auf Towerhill enthauptet. 

Noch vor ihm (am 21. Juni) traf die Wut des mollüftigen, entmenjchten 
Tyrannen feinen ehrwürdigen Freund, den fat adhtzigjährigen Biſchof John 
Fiſher, der ſich nicht nur als Verteidiger der Kirche gegen das Luthertum, 
ſondern auch als unermüdlicher Freund und Förderer der Wiſſenſchaft un: 
vergängliche Verdienſte um die englifhe Bildung erworben Hatte. 

Erasmus hatte fi längft aus dem proteftantifch getwordenen Bajel 
zurüdgezogen, als die Trauerbotihaft aus England fam, daß jein treuer 
Freund, der liebenswürdigfte und geiſtreichſte Mann Englands, der Lord: 
fanzler Thomas More, und John Fiſher, der Kanzler der Univerfität Cam— 
bridge, blutige Opfer der jog. Reformation auf Towerhill geworden waren. 
Da fühlte auch er ſich des Lebens überdrüflig. Seine Gedanfen waren 
fürder nur auf den Tod gerichtet. Er ift am 12. Juli 1536 fromm und 
reuig geftorben, ob mit priefterlihem Beiftand und nad formeller Aus- 
jöhnung mit der Kirche, ift nicht ausdrüdlich berichtet. Der vollftändige 
Bruch mit der gelamten NReformationsbewegung war jedenfalls längft voll: 
zogen. Bon Papſt Paul III. fogar zum Kardinal auserjehen, ift er in 
feiner lebten Periode unbedentlih den fatholiihen Humaniften beizuzählen, 
wenn auch nicht in vollem ungetrübten Sinn, wie die ehrwürdigen Märtyrer 
und Glaubenshelden Fiiher und More. Während des Jahres, das ihm noch 
zu leben blieb, Hat er in einer ergreifenden Elegie? den Heldentod des edlen 


! Bridgett, Life and Writings of Sir Thomas More? 101—107, 

® Incomparabilis doctrinae, trium item linguarum peritissimi viri D. Erasmi 
Rotherodami, in sanctissimorum martirum Rofensis Episcopi, ac Thomae Mori, 
iam pridem in Anglia pro Christiana veritate constanter defensa, innocenter 
passorum Heroieum Carmen tam elegans quam lectu dignissimum etc. Anno 
MDXXXVI mens. Sept. (herausgeg. von Hieron. Gebmwiler, Hagenau 1536). 
Abgedrudt von K. Hartfelder, Ein unbekannt gebliebenes Gedicht des Defiderins 
Erasmus von Rotterdam (Zeitjchrift für vergleichende Literaturgeſchichte VI, Berlin 


Die deutſchen Humaniften und die Glaubenätrennung. 589 


Lordkanzlers gefeiert, ihm als einem Seligen gehuldigt, ihm mit poetijchem 
Seherblid den Triumph kirchlicher Verehrung vorausgefagt und gewiſſer— 
maßen feinen Seligſprechungsprozeß eingeleitet : 


Schmerzlich beflagen wir heut den graufam gemorbeten Morus 
Unb bes KHöniges Wut und die blutbefudelte Wolluft 
Und der Buhlerin Zorn und des Schidjals traurigen Wechſel. 
Lehret ihr Muſen mich felbft, Pieriden, ein würbiges Grablied, 
Trauert jelber mit mir um den jchnöbe gejchladhteten Sänger, 
Der fo oft und fo jchön zur lieblich klingenden Laute 
Bon ben äoniſchen Höhn euch lockte mit ſchmeichelnden Verſen. 
Und du, Kalliope, ſo gewandt der Könige Taten 
Wie der Unglücklichen Los in erhabenem Lied zu befingen, 
Auch nicht blutigen Mords dich ſcheueſt ernft zu gedenken, 
Steheft mir bei, du, wahre Erato, bu, holde Thalia." 
Legt den enthaupteten Leib im Grab indeflen zur Ruhe, 
Feiert den Zotendienft und beftreut mit Blumen die Urne, 
Und ber heiligen Gruft bes gefrönten Dichters entfteige 
Keufh und rein des Lorbeers Duft, den er würdig getragen. 
Um dich trauern wir auch, der Gottheit erhabener Priefter, 
Nocefters Water und Hirt, der du für des heiligen Glaubens 
Schu und Schirm zuvor das hHärtefte Schiefal gelitten. 
Aber, o Dichter, dir gilt das Lied! Was du Großes vollbrachteft, 
Merden andere einft in gefeierten Werfen verkünden 
Und erheben den Ruhm deines Namens bis zu den Sternen. 


Alt war geworben die Welt und neigte dem Sturze entgegen, 
Bebend wankte das Recht, e8 war untergraben die alte 
Heilige Religion, die jo viele Jahre gedauert, 

* Ganz aus dem Herzen geſcheucht die Sterblichen hatten ben Glauben; 
Aber ber gottloje Stolz und die Wolluft jahen verſchmäht noch 
Amors beflügelten Pfeil und ber Venus trügriiche Herrſchaft. 
Knirſchend ſannen fie drum auf andere, graufere Untat. 

In der Kebſe Gemüt fie träufeln Gift und Verderben, 
Rauben dem König Verftand und jeglihe Ruh’ und Befinnung. 
Sein Verbrechen wagt er zu ftüßen mit ärg’rer Gewalttat, 
Häuft zum Verbrechen Verbrechen und fpottet troßig des Papftes 
Mahnung, das buhlende Weib aus feinen Gemädern zu jagen 
Und mit geheiligter Lieb’ zu ehren die rechtliche Gattin. 
Macht fi jelber zum Papft und fordert päpftliche Ehren, 
Soweit reichet fein Land, und untergräbt und zerwühlet 
Mit jakrilegiiher Hand der Väter Heilige Sakung. 
Aber die Buhlerin jeßt, wie wird fie froh bes Genuffes ? 

* Men zu morben nicht treibt fie an den betörten Geliebten ? 





1893, 461—464). Eigentlih „unbefannt* war es denn doch nicht. Erhard (bei 
Erſch und Gruber) fowie Kämmel (Allgem. deutiche Biogr. VI 179) führen es 
auf, und Stapleton hat es bereits 1588 irrtümlicherweife dem Johannes Nicolai 
Secundus zugefchrieben (Thomae Mori Opera, Francof. 1689, 77—79). 





590 


Erftes Kapitel. 


Tugend ift ihr verhaßt, und des Schlimmiten ift ihr verbädtig 
Reblider Sinn. So warb bir zum Fall beine Zugend, o Morus, 
Ward dir zum Falle die Schmach und Schande zugleih des Jahrhunderts. 


Du warft einfiens die Zier bes Reiches, dem Konig ber liebfte 
Freund und Berater dazu; es fällte kein anderer Richter 
Jemals gerechteren Spruch. Und nun, wie lohnt dir das Schidfal 
Sorgen und Müh’! Du Lönnteft in Ruh’ des Lebens genieken, 
Wäreft du minder gerecht. Wie hart doch war die Bedingung, 
Dem Schuldiofen geftellt! Belennt er mannhaft die Wahrheit, 
Muß er beugen den Hals, ben weißen, dem mördriſchen Beile; 
Wollt’ er mit nichtigem Trug verfuhen das Leben zu retten, 
Beifall zollend der Unzucht Schmad und dem jhändlichen Ehrgeiz, 
Würd’ er befubeln jein Herz und ſchänden fein früheres Leben 
Und flatt menſchlichen Grimms den Zorn des Allmädtigen weden. 
Aber Gott und dem Recht furdtlos und ftandhaft ergeben, 
Beugt er dem Stahle fein Haupt und, finfend hin an den Boben, 
Bringt er als Opfer fih bar und läßt hinftrömen fein Herzblut. 
Glücklich gearteter Greis! Des Himmels hehre Paläfte 
Öffnen fi weit vor dir, und es reicht dir der Seligen König 
Selber den ftrahlenden Kranz, umdrängt von den jubelnden Scharen. 
Did als Sieger begrüßt der Chor der geflügelten Boten, 
Schön wie der ewige Lenz, in ſchimmernd weißen Gewanben. 
Wie an dem Spiegelfriftall maändriigen Fluſſes die Schwäne, 
Schweben viel Taufend einher unb fingen die jüheiten Lieber, 
Und burdfreifen das Blau der Lüfte mit fhimmerndem Fittich. 
Drunten ftarret indes bein Rumpf, ein Leib ohne Namen, 
Rohem Bolke zur Schau, und um voll zu machen bie Untat, 
Wird das greife Haupt, mit friihem Blute befudelt, 
Hoch auf bie Lanze geitedt, es vor aller Augen entehrend. 


Das, blutfhändrifcher Fürft, find das der Venus Trophäen ? 
Meint du, du könnteft mit Blut dir gewinnen die weihlide Göttin, 
Deine Göttin? Sie wirb mit bitterem Zorne dich treffen; 

Selber als Räderin wird bein Liebesfpiel fie verderben, 

Andre und andre Flammen in deinem Herzen entfachen, 

Bis dich Efel zuleht erfaßt an dem ſchmählichen Leben. 

Dann wirft des greulihen Mords bu gedenfen und bitterlih weinen 
Und dich rächen ergrimmt an deiner trügrijhen Metze. 

Alerander einft auch, von der Furien Stadel getrieben, 

Plöglih aufwallend vor Zorn und erhigt von reihlidem Weine 
Stieß dem geliebteften Freund beim Mahl vor den ftarrenden Gäften 
Wütend das Schwert in den Leib, dab jein Blut die Tafel befprigte. 
Aber nachdem fi) gelegt der Sturm der Seele, bes Weines 

Dunſt verflogen war und wiebergefehrt Die Befinnung, 

Wollt’ er töten ſich jelbft und folgen zum Reiche der Schatten 
Seinem gemorbdeten Freund und ergoß fi in fruchtlofen Klagen, 
Trauernd drei Tage lang und trauernd drei fhredlihe Nächte, 

Voll der bitterften Qual, fein Ende findend der Tränen. 

Alles umfonft, feine Trauer vermag zurück fie zu bringen, 


Zweites Kapitel. Weiterblühen der neulateinifchen Literatur in Italien. 591 


Die, verblihen im Tod, durch bie büfteren Fluten der Fährmann 
Eharon hat entführt zu dem unerbittlichen Orkus, 

Du aud wirft umfonft ben treueften Freund dann beweinen, 
Wenn bu reiner jühlft, wenn der Rauſch der Liebe verflogen. 
Unterbeffen im Traum wird der Schatten be3 Mannes dich fchreden, 
Und mit entſetzlichem Blick jein Haupt, vom Blute noch triefend. 
Wende, wohin du bi willft, das Schredbild wird dir begegnen, 
Harrend des Nadegerichts, das beine Taten verbienen. 

Denn jolange du nicht der Krone beraubt, ald Berbannter, 

eben Beſitzes entblößt, ald Bettler den Ewigen anruft, 

St Morus nicht gefühnt. Gewalttat dauert nicht lange; 

Zögert ber ftrafende Gott, fo wird die Strafe nur ſchwerer, 
Denn er waltet gerecht, und feiner entgeht feinen Hänben. 


Wir aber, Morus, wir werben dich ewig ſchmerzlich betrauern, 
Meinen endlos um dich, du Lieber, herrlicher Sänger! 
Für die Religion, die heilige, haft bu gelitten 
Blutigen Tod; als Held verdieneft du himmlifhe Ehren, 
Tempel müſſen dir weihn die Sterblichen, Heil’ge Altäre. 
Leb, ehrwürdiger Greis, denn wohl, jei ewiglich jelig, 
Ob im Elyfium du weilft, ob im ftrahlenden Himmel! 
Nimm auch diejes mein Lied mit mildem Antlif entgegen! 


Zweite Kapitel. 
Weiterblühen der neulateinifhen Literatur in Italien. 


Bei allen Schattenfeiten, welche die Regierung der Päpfte Alexander VI., 
Julius II, Leo X. aufzumeifen bat, bei allen Schmähungen, welde man 
auf fie gehäuft, fpielt fie doch in der Geihichte der Kunft und der ge 
jamten Bildung eine Rolle, die feine Läfterung um ihren Ruhmesglanz 
zu bringen vermochte. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ift das ge 
bildete proteftantiihe Europa, die deutichen Klaffiter an der Spitze, nad) 
Stalien gepilgert, um nicht etwa bloß die KHunftihäge des alten Rom, 
jondern aud das Rom der Renaiffance in feinen erleſenſten Kunftihöpfungen 
fennen zu lernen. Goethe hat für die Männer der Renaiſſance geradezu 
eine gewiſſe Vorliebe, ein Gefühl von Geiftesverwandtfchaft an den Tag 
gelegt. Noch Heute vermögen ſich eingefleifchte Gegner des Papfttums dem 
Zauber nicht zu entziehen, mit welchem Raffael und Michelangelo den Namen 
jener Päpſte umgeben. 

Im päpftlihen Rom bat aber nicht nur die Kunft der Renaifjance 
ihre höchſten Triumphe gefeiert; aud der Humanismus ift Hier zu jemer 
Vollblüte gelangt, welche die Wirren der Glaubenstrennung jenjeitS der 
Alpen großenteils im Keime erftidten. 


592 Zweites Kapitel. 


Wir find weit entfernt, den Wert diefer humaniſtiſchen Literatur zu 
überjhäßen. Sie hat ſich vielfach über die Schranken hinausgefegt, welche 
die hriftlihe Bildung und das natürlihe Sittengefe ihr hätten ziehen follen, 
und duch Förderung heidnijher oder halbheidniicher Lebensanſchauungen 
die ſchweren Mißſtände herbeigeführt, welche das kirchliche Leben dieſer Periode 
entjtellen, jelbit ihren künſtleriſchen Glanz verdunteln und den großen Abfall 
don der Kirche zwar nicht zu rechtfertigen und zu entichuldigen vermögen, 
aber doch nad) mander Seite hin begreiflicher erfcheinen laffen. Der gewaltige 
Ruf nah Reform innerhalb der Kirche trifft nicht zum wenigften die Ver: 
meltlihung und die übertriebene Prachtliebe der höchſten Tirchlichen Kreiſe 
ſowie jene mehr antil-heidniichen als chriftlihen Neigungen, welche das immer 
gefteigerte Studium der Antike in Kunſt und Literatur hervorgerufen hatte. 
Dod wäre es ungerecht, ausjhlieglih den Humanismus für alle jene Miß— 
fände verantwortli zu machen. Politiſche und religiöje Verhältniſſe haben 
dazu ebenjo mitgewirkt, wie zu der großen Ummälzung jenjeits der Alpen. 
Wie die große Kunſt eines Raffael und Michelangelo im wejentlihen von 
den hriftlichen Ideen beherricht blieb, jo hat auch die Literatur im großen 
und ganzen den Boden derfelben keineswegs verlaſſen. Durch Zügellofigfeit 
und Sittenlofigfeit hat fie vielfah arg gefündigt; aber fie hat die Glaubens: 
{ehren nicht geleugnet, welche diefe Ausjchreitungen verurteilten, umd mit 
geringen Ausnahmen find jelbft die leichtfertigften Dichter in fpäteren Jahren 
zu den frommen und ernjten Gefinnungen des greifen Michelangelo zurüd: 
gefehrt. Vieles, worin man mitunter Heidentum witterte, ift weiter nichts 
als poetiiche Spielerlei, und damit fällt aud) der Vorwurf der Heuchelei 
gegen jene, welche in ihren Gedichten bald den antilen Olymp zur Ber: 
wendung bringen, bald wieder die hriftlichen Heiligen befingen. Weder das 
eine noch das andere war Gößendienft — fjondern eben Poeſie. 

Dies gilt von der italieniihen Dichtung diefer Zeit wie bon der 
lateiniſchen. Daß dabei die letztere von der erfteren nicht völlig verdrängt 
wurde, hält Jakob Burdhardt für einen entjchiedenen Vorteil. 


„Einen ftärferen Zwang hat es in Titerarifhen Dingen nie gegeben; allein 
die Poefie entwifchte demfelben größtenteils, und jebt können wir wohl ohne allzu 
großen Optimismus fagen: es ift gut, daß die italienifche Poeſie zweierlei Organe 
hatte, denn fie bat in beiden Vortreffliches und Eigentümliches geleiftet, und zwar 
fo, daß man inne wird, weshalb hier italienifh, dort lateiniſch gedichtet wurde. 
Vielleicht gilt ähnliches auch von der Proja; die Weltftellung und ber Weltruhm 
der italienischen Bildung hing davon ab, dab gewifje Gegenftände lateiniſch — Urbi 
et orbi — behandelt wurden, während die italienifche Profa gerade von denjenigen 
am beften gehandhabt worden ift, welchen es einen inneren Kampf Eoftete, nidt 
lateinisch zu jchreiben.” ! 





3. Burdharbt, Die Kultur ber NRenaiffance in Italien 196 197. 


Weiterblühen ber neulateinifchen Literatur in Italien. 593 


In einem literaturgefhichtlihen Gediht an Paulus Jovius vergleicht 
Franz Arfilli das mediceifche Zeitalter Leos X. mit jenem des Auguſtus 
und führt über achtzig lateinische Dichter auf, welche durch zeitweiligen Auf: 
enthalt Rom angehören und die er deshalb poetae urbani nennt!, An 
ihrer Spihe ftehen Sabolet und Bembo. Beide wurden als ausgezeichnete 
lateiniihe Stiliften von Leo X. als päpftliche Sekretäre angeftellt. 

Jakob Sadolet, als Sohn eines Rechtögelehrten 1477 zu Modena 
geboren, jollte fih des Vaters Wunſch gemäß ebenfalld der juriftiichen Lauf: 
bahn widmen, war aber ein wirklicher Dichter und fühlte ſich weit mehr 
zu den Humaniftiihen Studien hingezogen und widmete ſich denjelben in 
Rom, wo er raſch angejehene Gönner und Freunde fand, doch jeder Streberei 
fremd blieb und durch jein tadellofes Leben den Beweis lieferte, daß ſich 
der Humanismus mit einer durchaus frommen und riftlichen Lebensführung 
vereinigen ließ?. Bon Leo X. zum Biſchof von Garpentras erhoben, zog er 
fih nad) des Papftes Tod in diefe Stadt zurüd, ward aber von Klemens VII. 
wieder nah Rom berufen, von Paul III. (1535) zum Kardinal ernannt, 
betätigte ſich daſelbſt lebhaft für die kirchliche Reform umd bejonders für 
die Vorbereitung eines allgemeinen Konzils, als ihn 1547 der Tod aus 
diejem Leben rief. Als ein Mufter feinfter ciceronianifcher Proſa gilt fein 
Dialog Phaedrus sive de laudibus philosophiae, durch mwelden er den 
gleihnamigen verlorenen Dialog Eiceros zu erjegen verſuchte. Von jeinen 
formvollendeten Gedichten wird befonders eines auf die Gruppe des Laokoon 
und eines auf den Heldentod des Curtius gerühmt. 

Aetas nulla tuum minuet, Sadolete, decorem, 
Gloria nec longo tempore vita cadet, 
Laocoontei narras dum marmoris artes, 
Conecidat ut natis vinctus ab angue pater, 
Curtius utque etiam patriae succensus amore, 
Et specie et forti conspiciendus equo, 
Fervida dum virtus foret in iuvenilibus annis, 
Praecipitem sese tristia in antra dedit®, 


Weniger erbaulich ift das Vorleben des venetianischen Patrizierd Peter 
Bembo, der, 1470 in der üppigen Lagunenftadt geboren, zum ausgezeich— 
neten Latiniften und Kenner des Griechiſchen Herangebildet, ſich in allerlei 
Liebeshändel einließ und noch als päpftliher Sekretär in unerlaubtem Ber: 


ı Abgedrudt bei Tiraboschi, Storia della letteratura Italiana VII, TI 3, 
Modena 1779, 425—442. 

2 Hauptausgabe: I. Sadoleti Opera quae extant omnia, 4 Bde 4°, Veronae 
17387. Die meiften feiner Werfe find theologifchen, kirdenpolitifhen und pädago— 
gifhen Inhalts. Die bedeutenderen Gedichte find: De Caio Curtio, De Laocoontis 
Statua, Ad Octavium et Fredericum Fregosios. 

® Arsilli bei Tiraboschi a. a. ©. 426. 

Baumgartner, Weltliteratur. IV. 3. u. 4 Aufl. 38 


594 Zweites Kapitel. 


hältnis lebte, fi indes um Wiſſenſchaft und Literatur jo hohe Berdienfte 
erwarb, dab Paul III. ifn 1539 mit dem Kardinalspurpur ſchmückte. 
Er Hatte inzwijchen jeinen Lebenswandel geändert, empfing nun die heilige 
Priefterweihe und weihte die legten Jahre feines Lebens vorzugsweiſe pa— 
triftiichen Studien. Als er 1547 farb, wurde er in S. Maria jopra 
Minerva zwiſchen den mediceiihen Päpften Leo X. und Klemens VII. be: 
fattet. In feinen italienifhen Rime ahmte Bembo zu jehr Petrarca nad 
und verfiel darum in Manieriertheit; in feinen lateinischen Elegien dagegen 
wetteiferte er in Formſchönheit mit den antiten Muftern, die er fih zum 
Vorbild nahm, leider aber auch mit der Lizenz und Lüſternheit, welche 
diefen anhaftete!. 

Der Vorwurf, nit nur die antile Mythologie neu aufleben zu laſſen, 
jondern fie noch weiter au&zufpinnen und ganz Italien mit Göttern, Nymphen 
und Genien bevöltert zu haben; trifft Bembo nicht allein, jondern faft alle 
Poeten der Renaiffance von Petrarca und Boccaccio an. Mit Recht macht 
3. Burdhardt geltend, daß dies als poetifches Spiel aufzufaſſen ift, und 
daß die alten Götter den Renaiffancedihtern einen doppelten Dienft leifteten, 
indem fie ihnen für allgemeine Begriffe ftatt froftiger Allegorie plaftijche, 
poetiſche Geftalten boten und indem fie zugleich ein freies, jelbjtändiges 
Element der Poefie darftellten, das ſich jeder Dichtung beimifhen und fie 
in den mannigfachften Kombinationen beleben fonnte. Als ein „Meifterftüd“ 
diefer Urt bezeichnet er den „Sarca” des Pietro Bembo: „Die Werbung des 
Alußgottes jenes Namens um die Nymphe Garda, das prächtige Hochzeits— 
mahl in einer Höhle am Monte Baldo, die Weisfagungen der Manto, der 
Tochter des Teirefias, von der Geburt des Kindes Mincius, von der Gründung 
Mantuas und vom künftigen Ruhme des Vergil, der als Sohn des Minctus 
und der Nymphe von Andes, Maja, geboren werden wird. Zu dieſem ftatt: 
Iihen humaniftiiden Rofolo fand Bembo jehr ſchöne Verſe und eine Schluß— 
anrede an Bergil, um melde ihn jeder Dichter beneiden kann. Man pflegt 
dergleihen als bloße Deklamation gering zu achten, worüber, als über eine 
Geſchmacksſache, mit niemanden zu rechten ift.“ ? 

Dem ftrengfien Standpunkt eines katholiſchen Humaniften entſpricht 
Martus Hieronymus Vida, 1490 (mit ſchon 1470) zu Cremona 
geboren. Arfilli reiht ihn unmittelbar an Sadolet und Bembo. Er fam 
früh nah Rom, ftudierte dajelbit ernftlih Philoſophie und Theologie und 








! Gefamtansgabe feiner Werte von Seghezzi, 4 Bde 2°, Benebig 1729; 
unter den lateinifchen find hervorzuheben: 1. Rerum Venetarum historiae libri XII; 
2. Epistolarum Leonis X. P. M. nomine scriptarum libri XVI; 3. Epistolarum 
familiarium libri VI; 4. De Virgilii Culice et Terentii fabulis (Dialog); 5. De 
Aetna (Dialog); 6. Carmina. 

2% Burchhardt, Die Kultur der Renaiffance in Italien 202. 


MWeiterblühen der neulateinifhen Literatur in Italien, 595 


ward Kanonikus zu St Johann im Lateran, fand aber auch ſchon mit 
jeinen erften poetijchen Verfuchen großen Anklang. Sadolet nennt ihn Magni- 
loquum Vidam et cuius proxime ad antiquam laudem carmen ac- 
cederet!. Leo X. ſelbſt las feine Gedichte, fand Geſchmack daran und 
ehrte den Dichter in freigebigfter Weife. 
Leo iam carmina nostra 
Ipse libens relegebat: ego illi carus et auctus 
Muneribusque opibusque, et honoribus insignitus, 


erzählt Vida jelbft in dankbarfter Erinnerung. Inter anderem verlieh ihm 
der Papſt das Priorat St Silvefter bei Tivoli, damit er in herrlicher Land— 
einjamfeit fi ungeftört der Poeſie widmen könnte. Leo jelbft forderte ihn 
auf, in einem größeren Epos daS Leben und Leiden Chrifti zu befingen, 
erlebte aber die Vollendung diefer Chriftiade nit. Klemens VII. fchentte 
dem Dichter nicht geringere Gunſt und erhob ihn 1532 zum Biſchof von 
Alba. Als folder vollendete Vida die Dichtung, die fein Hauptwerk bildet 
und 1535 gedrudt wurde; er betrachtete indes die bijchöflihe Würde durch— 
aus nit als Sinekure für literariihe Zwecke, fondern widmete ſich feiner 
Diözefe mit aller Sorgfalt eines treuen Oberhirten, nahm eifrig an der 
lirchlichen Reform teil, verband ſich zu dDiefem Zwede auch mit dem Hl. Karl 
Borromäus und ftarb nach fegensvolliter Wirkfamfeit 1566 auf jeinem 
Bilhofsfig?. 

Vida ift eine freundliche, Tiebenswürdige Dichternatur, voll Empfäng- 
lichkeit für das Schöne, voll Freude daran, begabt mit einem zarten Form— 
gefühl, das fih an den Werfen des Altertums zu noch größerer Yeinheit 
ausgebildet. Wie Raffael die erhabenen Schöpfungen der Loggien mit dem 
wunderbaren Phantafiejpiel der reizendften Arabesten umwoben, jo hat auch 
Vida jeine Freude daran, feinen Geift in harmloſem Spiel ergehen zu laſſen. 
Manche Krititer haben feine Gedichte über den „Seidenwurm“ (Bombycum 
libri duo) und über das „Schadjipiel” (Scacchia ludus) denn aud als 
jeine vollendetften Leiftungen erklärt. Es ift jpielende Kleinkunſt, wie fie 
Bergil in feinen „Georgica“ zum beiten gegeben, aber eine jolde, in welder 
nicht nur die Formgewandtheit, jondern auch poetiicher Geift und Geſtaltungs— 
fähigkeit fih im vollften Make bewähren. Einige Oden und Elegien (Car- 








! Epist. I 311. 

? Moetiihe Schriften: Christiados libri VI, Cremonae 1535; Scacchia ludus, 
Romae 1527; Poeticorum libri III, Romae 1527; Bombycum libri II, Lugd. et 
Basil. 1537; Hymni de rebus divinis, Lovan. 1552. — ®gl. Tiraboschi, Storia 
della lett. Ital. VII, Z{ 3, Modena 1779, 242—257. — Latour, La Christiade 
de Vida, Paris 1826. — Lancetti, Della vita e degli scritti di Vida, Milano 
1840. — Novati, Sedeci lettere inedite di M. G. Vida (Archivio storico Lom- 
bardo, Milano 1898). 

38* 


596 Zweites Kapitel. 


minum liber) weiſen ihn auch als Lyriker aus. In einer größeren Samm- 
[ung (Hymni de rebus divinis) fteigt er daun zu den erhabenften Stoffen 
religiöfer Poeſie empor, die er aber nicht etwa in der firdlihen Hymnenform 
behandelt, jondern in antifer Weife, die an die jog. homerifchen Hymnen 
und an Hefiod erinnert. Sehr früh hat er auch ſchon eine Poetik ge- 
jhrieben (Poeticorum libri tres), fie aber in reiferen Jahren twiederholt 
gefeilt und umgearbeitet. Der franzöfiihe Bearbeiter Batteur fand nicht 
an, fie den drei Poetiken des Ariftoteles, Horaz und Boileau als vierte an 
die Seite zu jeßen. Julius Scaliger zog fie derjenigen des Horaz vor. 
Schon um des feinen Gejhmades willen verdient fie jedenfalls noch heute 
Beachtung, dann aud als literaturgefchichtlicher Ausdruck dichterifcher An— 
ſchauungsweiſe, wie fie im Literatenfreife Leo X. und Klemens' VII. die 
vollſte Anerkennung fand. 

Wie den Humaniften des Mittelalters ſchwebt allerdings aud ihm Vergil 
als das unerreichte Vorbild eines Dichters dor; aber was er von ihm jagt 
und was er von ihm gelernt, bekundet ein ganz anderes Durddringen des 
Haffiichen Altertums, als es die borausgegangenen Jahrhunderte gekannt. 
Das Studium anderer lateinischer Dichter will er nur für die Jugend aus 
pädagogifdhen, und zwar vollkommen richtigen Gründen zurüdgedrängt wiffen: 

Tempus erit, tibi mox cum firma advenerit aetas, 
Spectatum ut cunctos impune accedere detur!. 


Homer war damal3 allgemein no nicht genug befannt und zugänglich 
gemadt, als dat Vida jhon feine Vorzüge vor Vergil Far hätte durd- 
ſchauen können. Nicht&deftoweniger empfiehlt er jehr das Studium der 
griechifchen Literatur? und insbejondere des Homer: 


Haud multus labor auetores tibi prodere Graios, 
Quos inter potitur sceptris insignis Homeraus. 
Hune omnes alii observant, hine pectore numen 
Coneipiunt vates, blandumque Heliconis amorem. 
Felices quos illa aetas, quos protulit illi 
Proxima: divino quanto quisque ortus Homero 
Vieinus magis, est tanto praestantior omnis. 
Degenerant adeo magis ac magis usque minores 
Obliti veterum praeclara inventa parentum. 


Wohl wie fein zweiter der Humaniften jener Zeit war Vida don dem 
Wert und der hohen idealen Aufgabe der Poefie erfüllt: 


Ingredior vates idem superumque sacerdos 
Sacraque dona fero teneris comitatus alumnis ®. 


! Marci Hieronymi Vidae Cremonensis Albae Episcopi Opera, Ant- 
verpiae 1607, 449. 
® Ebd. 447. ® Ebd. 461. 


Meiterblühen ber neulateinifchen Literatur in Italien. 597 


Als Priefter des Schönen ift er denn auch an die große Aufgabe ges 
gangen, die Leo X. ihm geftellt, daS Leben und Leiden Chrifti in einem 
Epos von altklaſſiſchem Gepräge zu befingen. Diele werden dieje Aufgabe 
bon vornherein als eine unlösbare ablehnen. Unmöglich ift es allerdings, 
die wunderbare Schönheit, welche in der Einfachheit und ſchlichten Größe 
der evangeliichen Berichte liegt, in einer noch fo kunſtvollen Dihtung zu 
erreichen oder gar zu übertreffen. Unmöglich ift e& au, den biblifchen Stoff 
und die hriftlih-dogmatifhen Anſchauungen in volle Harmonie mit dem alt- 
Haffiihen Vokabular zu bringen. Unmöglich ift es ebenfalls, bei einem jo 
ernten, ehrwürdigen, feftumfchriebenen Stoff jene poetiſche Erfindungs: und 
Geftaltungskraft zu entwideln, wie fie heidniſche Dichter an den religiöfen 
Mythen des Altertums entfalten fonnten. Wenn nicht3deftoweniger chriftliche 
Dichter von den älteften Zeiten an die heidnifhen Epen durch eine Ehriftiade 
zu verdrängen und zu überflügeln juchten, jo war es nicht nur echt poetijche 
Liebe und Begeifterung für den erhabenften Stoff der gejamten Welt: und 
Menſchengeſchichte, fondern auch die Überzeugung, daß fich derjelbe im Rahmen 
der altklaffiihen Kunſtform epiſch geftalten laſſe. Viele ſolche Verſuche find 
an uns borübergezogen. An eigentliher künſtleriſcher Vollendung übertrifft 
die Ehriftiade Vidas unftreitig fie alle. Ohne Vergewaltigung des bibliſchen 
Tertes ift der überreihe Stoff in einen fnappen, einheitlihen Plan ge— 
drängt, kunſtvoll gruppiert, in würdiger und majeftätifcher, zugleich an— 
mutiger und ergreifender Darftelung ausgeführt, mit allem Schmud der 
ihönften lateiniſchen Diktion behandelt. Ein Vergil jelbft Hätte es kaum 
beſſer machen können. 

Wird man nun aud allzu oft an Vergil erinnert, jo befteht die Dichtung 
doc keineswegs aus vergilianifhen Gentonen; fie ijt ein jelbftändiges, von 
echtem Dichtergeift durchwehtes Werk, das Schönheiten erften Ranges auf: 
zumeifen hat. Nicht umfonft ift es ins Spanische, Italieniſche, Englifche, 
Deutſche und Franzöfiiche überfegt worden und hat ſchon im 16. Jahr: 
hundert an Bartholomäus Botta einen Kommentator gefunden. Milton jcheint 
es gekannt und mande Stelle nachgeahmt zu haben. Es verdient herbor- 
gehoben zu werden, daß, mährend Luther noch lebte und unaufhörlich die 
Anklage wiederholte, daß das Papſttum ſich zwiſchen den Erlöſer und die 
Erlöften dränge, no unter dem Papſt, den er als den Antichrift verfchrie, 
auf Anregung eben diejes Papftes das ſchönſte Kunſtepos der Renaiffancezeit 
gerade den Erlöjungstod Chrifti verherrlihte, wie Raffaels Kunft in der 
„Verklärung Chriſti“ gemwilfermaßen ihren Höhepunkt fand. Die „Briefe 
der Dunfelmänner” haben hier in Farben und Verſen die jchönfte und 
treffendfte Antwort gefunden. Vidas „Ehriftiade” ift zugleich das Denkmal 
einer feinen klaſſiſchen Bildung, wie fie Hutten und feine Genofjen nicht 
erreichten, und einer innigen Liebe zum Erlöfer und zu feiner Kirche, welche 


598 Zweites Kapitel. 


Lutherd Vorwürfe jchlagend widerlegt. Herrlich ſchließt das Gedicht mit ben 
Wundern des Pfingfttages und mit der Ausbreitung der Hriftlih-apoftolifchen 
Lehre dur die ganze Welt!, 


Ergo abeunt varias longe lateque per oras 
Diversi, laudesque canunt, atque inclyta vulgo 
Facta ducis, iamque (ut vates cecinere futurum 
Antiqui) illorum vox fines exit in omnes. 
Audiit et si quem medio ardens aethere iniquo 
Sidere desertis plaga dividit invia terris, 
Quique orbem extremo eircumsonat aequore pontus: 
Continuo ponunt leges moremque sacrorum 
Urbibus; infectum genti lustralibus undis 
Eluitur scelus, et veteris contagia culpae, 
Religioque novas nova passim exsuscitat aras, 
Protinus hine populos Christi de nomine dicunt 
Christiadas. Toto surgit gens aurea mundo, 
Saeclorumque oritur longe pulcherrimus ordo. 


Ganz am Schluß aber hat Bida in römischer Lapidarfrift die Mahnung 
binzugejeßt: 

„Wer immer du bift, ber Verfafler will dich erinnert haben, daß er ein fo 
gewagtes Werf nicht um des Lobes willen gierig unternommen, ſondern wifle, dab 
es ihm, mit ber Ausficht auf ehrenvolle Belohnung, von zwei Päpften aufgetragen 
worden ift, von Leo X. zuerft, dann von Klemens VII., beide aus der erlaudten 
etruriichen Familie der Medici: beren fFreigebigfeit und Sorgfalt diejes Zeitalter 
es dankt, daß bie Literatur und die ſchönen Künſte, bie völlig erlofhen waren, zu 
neuem Leben erwedt worden find. Das jollte dir nah meinem Wunſche nicht 
unbelannt bleiben.” ® 


Vida verſchob die Ausgabe feiner „Ehriftiade“, weil, als Diejelbe 
ungefähr vollendet war, um 1527 ein ähnliches hriftliches Epos in klaſſiſcher 
Form erſchien, mit dem Titel De partu Virginis. Der Dichter Jacopo 
Sannazaro wurde als Sohn einer urſprünglich jpanifchen Familie 1458 
zu Neapel geboren, trat der gelehrten Alademie des Pontano bei, in welcher 
er den Namen Actius Sincerus annahm, folgte 1501 dem König Federigo 
in die Verbannung nad Frankreih und fehrte erft nach deſſen Tod, mit 
manden koſtbaren Handſchriften antiker Schriftiteller, nad Neapel zurüd, 
wo er 1530 ftarbd. Schon mit Heinen Feſtlomödien, von welchen eine die 
Eroberung von Granada behandelte, mit Sonetten und Kanzonen erwarb 





i Marci Hieronymi Vidae Cremonensis Albae Episcopi Opera 439. 

® Ebd. 440. 

>], Sannazar, Arcadia, Venetiis 1502 (im Laufe des 16. Jahrhunderts 
etwa jechzig Ausgaben); De partu Virginis. — Eclogae. — Salices et lamentatio 
de morte Christi, Neapoli 1526. — Opera omnia, Frankf. 1709. 


Meiterblühen der neulateinifchen Literatur in Italien. 599 


er ſich große Beliebtheit. Mehr Einfluß erlangte feine zuerft 1504 ver: 
öffentlihte, italienisch gejchriebene Arcadia, eine Sammlung von Eflogen 
mit verbindendem Zert, in welchen er zuerft eine Art daktylijcher, leichter 
Verſe, die jog. versi sdruccioli, anmwandte und duch melde das Hirten: 
gediht nad) Art Theofrit3 und Vergils wieder allgemeine Beliebtheit erlangte. 
Seine lateiniſchen Gedichte, bejonders feine Eflogen, zeichnen fich durch ihre 
Feinheit und Eleganz aus. Für eim einziges Epigramm zahlte ihm der 
Senat von Venedig 600 Zedhinen; er drüdt auch das Lob der Lagunenitadt 
mit wahrhaft Haffiiher Kraft und Schönheit aus: 
Viderat Adriatis Venetam Neptunus in undis 
Stare urbem et toto ponere jura mari. 
Nunc mihi Tarpeias quantumvis, Iuppiter, arces 
Obiice, et illa tui moenia Martis, ait. 
Tibrim Oceano praefers, urbem aspice utramque: 
Illam homines dicis, hanc posuisse deos. 


Am feiteften begründete Sannazar jedod) feinen Ruhm mit feiner Epopöde 
De partu Virginis, an welcher er zwanzig Jahre arbeitete und feilte, bis 
Ausdrud und Vers, Metrum und Wohlkang auch den jtrengften Forderungen 
alttlaffiicher Poetit entjprahen. Es war aber durchaus fein gezwungenes 
Schulererzitium, feine mühſam erſchraubte Kunftleiftung, es war eine wahre 
Herzensfadhe, ein Werk echten Künſtlerſchaffens nah der inhaltlichen wie 
nad) der formellen Seite hin. Sannazar war ein kindlih frommer Mann, 
voll des innigften Glauben: an die Geheimniffe der Erlöfung, voll der 
zärtlihften Andacht zu der hochheiligen Jungfrau, die und den Erlöfer 
gebracht. In dieſem Geifte verſenkt er fih in den großen Ratidhluß der 
Menſchwerdung, ſchildert dann die Engelöbotihaft an Maria und ihre 
wunderbare Verwirklichung, den Beſuch Marias bei Elifabeth, die Reife nad 
Bethlehem, die Geburt Ehrifti in der armen Grotte, den unendliden Jubel, 
mit welchem die erfte Weihnacht Himmel und Erde erfüllt. Sein mittel- 
alterliher Moftiler könnte das alles wahrer und liebevoller empfinden. Aber 
mit nicht geringerer Lebhaftigfeit und Innigkeit hat fi der Dichter auch 
ganz in die Form und in die Sprade Bergils hHineingelebt. Mögen diefe 
Heinen Züge an Juppiter und Merkur, jene an Aeneas oder Dido erinnern, 
die Hölle ganz das Gepräge der antiken Unterwelt tragen, der Jordan feine 
MWeisfagungen dem Proteus in den Mund legen: für den Dichter haben 
dieſe Reminiszenzen ihre heidnifchen Beziehungen völlig verloren; ihm find 
fie nur ſchöne Formen, in denen er lebt und mebt, ein zierlicher 
Schmud, mit dem er dad Erhabenfte und Ehrwürdigfte würdig zu er: 
heben glaubt. Nur in diefem Sinne kann man bei ihm von Heidniſchem 
reden; nur in diefem Sinne ift dad Lob zu nehmen, das Burdhardt 
ihm jpendet: 


600 Zweites Kapitel. 


„Sannazaro imponiert durch den gleihmäßigen gewaltigen Fluß, in welden 
er Heidnifches und Chriftliches ungejcheut zufammendrängt, durch bie plaftifche Kraft 
ber Schilderung, dur die volllommen jhöne Arbeit. Er hatte fi nicht vor ber 
Vergleihung zu fürdten, als er die Berje von Bergils vierter Efloge in den Gefang 
der Hirten an ber Krippe verflodt. Im Gebiet bes Jenſeitigen hat er da und dort 
einen Zug bantesfer Kühnheit, wie 3. B. König David im Limbus der Patriarden 
fih zu Gefang und Weisfagung erhebt, ober wie ber Ewige thronend in feinem 
Diantel, der von Bildern alles elementaren Dajeins ſchimmert, die himmlischen Geifter 
anredet. Andere Diale bringt er unbedenklich die alte Mythologie mit feinem Gegen— 
ftande in Verbindung, ohne doch eigentlich barod zu erſcheinen, weil er die Heiden 
götter nur gleihjam als Einrahmung benußt, ihnen feine Hauptrolfe zuteil. Wer 
das Fünftlerifche Vermögen jener Zeit in feinem vollen Umfange tennen lernen will, 
darf fi) gegen ein Werk wie diejes nicht abjchließen. Sannazaros Verdienft erjheint 
um fo viel größer, da fonft die Bermiihung von Ehriftlihem und Heidniſchem in 
ber Poefie viel leichter ftört als in der bildenden Kunſt; Iektere kann das Auge dabei 
beftändig durch irgend eine beitimmte, greifbare Schönheit ſchadlos halten und ift 
überhaupt von ber Sahbedeutung ihrer Gegenftände viel unabhängiger als die Poefie, 
indem die Einbildungsfraft bei ihr eher an ber Form, bei ber Poefie eher an ber 
Sade weiterfpinnt.... 

„Sannazaros Ruhm, die Menge feiner Nachahmer, die begeifterte Huldigung 
der Größten feiner Zeit — dies alles zeigt, wie ſehr er feinem Jahrhundert nötig 
und wert war. Für bie Kirche beim Beginn ber Reformation löfte er das Problem: 
völlig Haffifh und doch Hriftlich zu dichten, und Leo ſowohl als Klemens fagten ihm 
lauten Dant bafür.“ ! 


Noch als Biſchof von Garpentras gedachte Sadolet mit Freude der 
Zeiten, wo die Mitglieder der Römifchen Alademie, noch jugendlih und 
munter, in großer Zahl ſich zu heitern Mahlzeiten zu verfammeln pflegten, 
bald bei dem Dichter Angelo Collocci in den Suburbaniſchen Gärten, bald 
bei ihm jelbft auf dem Quirinal, bald am Circus Marimus, bald am Tiber— 
ufer beim Herkulestempel. Diefe Mahlzeiten waren weniger durch reich 
liche Gerichte als durh Witz und Scherz gewürzt, und nad denjelben 
wurden Gedichte vorgetragen und Reden gehalten, zum höchſten Genuß aller 
Anwejenden?. Den Vida nennt er erhaben und jagt von jeinen Verſen, 
daß fie der Eleganz der Alten ziemlih nahelämen. Als geiſtreich lobt er 
die Kompofitionen des Caſanova, als breit und wohltönend die des Gapella; 
an Beroaldo lobt er die Teile und die Korrektheit, an Pierio Valeriano, 
Lorenzo Grano, Mateleno, Blofio Palladio Reihtum und Anmut. Er 
erwähnt noch andere Profaiften und Poeten, wie Hieronymus Negri, einen 
glüdliden Nahahmer der ciceronianischen Beredſamkeit, Antonio Venanzi 


ı Burdhardt, Die Kultur der Renaifjance in Italien? 202 208. — Bgl. 
Geiger, Renaiffance und Humanismus in Italien und Deutſchland (bei Onden, 
Allgem. Gejhichte in Einzeldarflellungen), Berlin 1882, 260 261. 

® Sadolet, Epist. famil. I, ep. 106 (ed. Romana 309). — Tiraboschi, 
Storia della lett. Ital. VII, ZI 1, 114 ff. — Geiger a. a. O. 292 298. 


Meiterblühen der neulateiniſchen Literatur in Italien. 601 


und Gianfrancesco Bini, in beiden Spraden küchtig, die ſcharfen und finn- 
reihen Sritifer Ubaldino Bandinelli und Antonio il Computiſta. Auch ein 
Deutſcher, Corycius, Johann Gorik aus Luxemburg, päpftlicher Referendar, 
ein mwohlhabender Mann, gehörte der Geſellſchaft an, gab alljährlih am 
St Unnentag ein glänzendes Feſtmahl und gehörte zu denen, die viel gemedt 
mwurden!. Als er 1514 die St Annalapelle in der Kirche St Auguſtin 
mit einem berrlihen Altar von Sanfovino, die Hl. Anna mit Maria und 
Jeſus daritellend, ſchmücken ließ, verherrlichten die Freunde das Feſt mit 
einem ganzen Album von Gedichten, das unter dem Titel Coryciana gedrudt 
wurde und einen Einblid in da3 fromme und gemütliche Treiben de3 dich— 
teriſchen Freundeskreiſes gewährt?. Während der Plünderung Roms (1527) 
hatte die Akademie traurige Zeiten; fie erholte fih von dem Schlage nicht 
mehr; aber an ihre Stelle traten jpäter mehrere ähnliche Kreiſe. 

Können wir aud) hier noch nicht den mächtigen Einfluß ſchildern, welchen 
die Pflege der lateiniſchen Poeſie auf die gleichzeitige italienische ausübte, jo 
mögen do ala Beijpiele davon zwei Dichter erwähnt werden, die ebenfalls 
dem reife Leos X. angehörten und die Frucht ihrer humaniſtiſchen Studien 
borzugsweife in italieniſcher Sprade verwerteten. 

Giovanni Ruccellai, ein Vetter des Bapftes Leo X. (1475 bis 
1526), verfaßte nad) Vergils Vorbild ein ausführliches Lehrgedicht über die 
Bienen, das mit unendlicher Sorgfalt ausgearbeitet ift und viele interefjante 
Seitenblide — auf die Türkenfriege, auf die Unbotmäßigkeit der Schweizer, 
auf die Thronbefteigung Klemens’ VII. — enthält. Er ſchrieb auch Tragödien: 
1515 eine „Rosmonda”, nad einer Erzählung des Paulus Diaconus, und 
1524 einen „Oreſt“, beide mit ſchönen lyriſchen Chören. Giangiorgio 
Triffino (1478—1550), ein überaus frommer, waderer Mann, den 
Leo X. vielfach im diplomatischen Dienft verwendete, bejchäftigte ſich ebenfalls 
mit dramatijcher Poefie; er jchrieb eine „Sophonisbe“ und mehrere Komödien, 
in italienifher Spradhe eine Epopöde, L’Italia liberata dei Goti, melde 





! Er ftand mit Reuchlin und Erasmus in freunbfchaftlicher Beziehung. Kle- 
mens VII. jelbit erwähnt ihn höchſt ehrenvoll in einem Breve an die Luremburger 
vom 8. April 1524: Ex dilecto filio magistro Ioanne Corysio cive vestro, notario 
et familiari nostro, cuius opera assidue utimur et fide iuvamur, relatu, pietas 
ad nos vestra perlata est, digna quidem illa vobis vestrisque olim maioribus, 
sed hoc tempore vehementer necessaria ac nobis valde iucunda et grata (P.Balan, 
Monumenta reformationis Lutheranae, Ratisb, 1884, 3825). — Bol. 3. Burd- 
hardt a. a. ©. 210 211. 

2Herausgeg. von Bloffius Palladius, Nom 15%4. Auch Hutten und 
andere deutſche Humaniften fleuerten Epigramme auf ben St Annenaltar bei. In 
einem berfelben fleht der unglüdliche Ritter Yefus, Maria und Anna um Heilung 
feines franfen Fußes an. Siehe D. F. Strauß, Hutten I 161 162. — 8. Geiger, 
Art. „Goriß“ in der Allgem. Deutſchen Biogr. IX 375. 


602 Drittes Kapitel. 


aber wenig Ankllang fand und ihm den Wunſch abpregte: hätte er nur 
fieber den Roland befungen. Denn der Feldherr Belifar ſtand feinem Publikum 
ebenſo fern als die Goten. 

Unter den Gelehrten, welche die verdienftvolle Aufgabe fortjegten, Die 
alten Klaffiter neu herauszugeben, ragen der venetianiſche Buhdruder Aldo 
Manuzio (1449—1515) und fein Freund, der gelehrte VBenetianer 
Andrea Navagero (1483—1529), hervor, der in Aldos Offizin den 
Drud des Cicero, Terenz, Lucretius, Vergil, Horaz, Tibull, Ovid und 
Quintilian leitete!. Er dichtete au, zwar nicht viel, aber feine Oden 
zeichnen ſich durch Schwung und Gehalt wie durch die feinfte Form aus. 
In fittlihen Dingen war er fireng. Er wollte „jeine Gamönen“, wie er 
jagte, „rein bewahren“. Deshalb pflegte er jedes Jahr ein Eremplar des 
Martial zu verbrennen. Den Eatull ließ er noch zur Not pajfieren. Auch 
die eigenen „Wäldchen“, die er nah Statius’ Vorbild in jungen Jahren 
verfaßt hatte, übergab er den Flammen. Bei einem Bejuh mit Pietro 
Bembo in Rom lernte er Raffael fennen, der ihn gemalt hat. 

Das Beijpiel Vidas und Sannazard regte noch mande Dichter zu 
größeren epiichen Verſuchen an. So verfaßte Riccardo Bartolini eine Auftriade 
(De bello Norico), ®irolamo FFalletti eine Sicambriade (De bello Si- 
cambrico), Lorenzo Gambara eine Columbiade, Taſſos Zeitgenofje Pietro 
Angelo de Barga eine Syriade (Syrias, 1591). Der Arzt Girolamo 
Fracaſtoro von Berona (1483— 1553) dichtete einen „Joſephus“, der faijerliche 
Leibarzt Paulus Fabricius (1529— 1588) einen „Abraham“ und ein Weih- 
nachtsidyll, Andreas Nefende aus Evora (1493—1573) einen „Vincentius“. 


Drittes Kapitel. 
Weiterleben des Humanismus außerhalb Italiens. 


Auch jenfeitS der Alpen vermochte der gewaltige Sturm der religiöjen 
Umfturzbewegung das humaniſtiſche Leben nicht fofort zu lähmen, das von 
Italien aus nad allen Ländern gedrungen war. Merkwürdig genug, dab 
uns hier im fernen Polen der bahnbredende Aſtronom der Neuzeit als katho— 
licher Humanift entgegentritt: Nilolaus Copernicus und mit ihm fein Freund 
Dantiscus. 

Johannes Dantiscus, 1485 in Danzig geboren, bereiſte ſchon 
in jungen Jahren Paläſtina und Italien, war 1508 Geheimſchreiber des 





A. Naugerius (Navagero), Opera (ed. I. A. et Caj. Vulpii [Pabua 
1718]); Orationes duae carminaque nonnulla (Venedig 1530). 


MWeiterleben des Humanismus außerhalb Italiens. 603 


Königs Sigismund I. von Polen, fam als Diplomat, Krieger und Höfling 
in ganz; Europa herum und ward mit den herborragendften Größen jeiner 
Zeit befannt. Endlih 1533 trat er noch in den Priefterftand, ward Biſchof 
von Kulm, 1538 Biſchof von Ermeland und ftarb 1548. Die Dichtung 
war für ihn nur Zufpeife zu einem Leben voll der mannigfaltigften Tätigfeit, 
aber fie ift e& doch in Hinreihendem Grade, um mit der edeln Gefinnung 
des Mannes auch defien feine Bildung erkennen zu laſſen. 

Ein größeres Gedicht (gegen fünfhundert Verſe) ift feine „Paräneje an 
Conſtantius Alliopagus“. Es ifl eine Antwort auf den poetiihen Gruß, 
mit welchem ihn, als er Biichof von Ermeland geworden war (1538), beim 
Einzug in feine Refidenz Heilsberg Euftadhius von Knobelsdorf, der Sohn 
des Bürgermeifters, willlommen hieß. In anmutigen, leicht dahinfliegenden 
Diftihen lenkt er zuerft das ihm gefpendete Lob von fih ab und teilt dann 
dem angehenden Schüler der Weisheit anſpruchslos und jhliht, belehrend 
und mahnend, die Schidjale des eigenen Lebens mit: mit welcher Begeifterung 
er einft der Zukunft entgegenjah, wie er dann gen Baläftina pilgerte und 
dort den Entihluß faßte, fortan nur der MWiffenihaft und Frömmigkeit zu 
leben, wie manche Gefahren und Berirrungen an den Höfen der Fürſten 
ihn von diefem Vorſatz abgelenkt, wie jchwere Arbeiten und Leiden jebt 
jeiner harren, wie er diejelben aber, als Sühne für die Vergehen feiner 
Jugend, in Demut und Reue zu ertragen gedenfe. Ungeſucht flechten ſich 
der Erzählung in innig väterlich-freundlidem Zone die Shönften Ermahnungen 
an den jungen Freund ein: Zrägheit, Sinnenluft und Neuerungsjudht zu 
fliehen, fidh begeiftert dem Studium zu widmen und dem Glauben und der 
Kiche der Väter unverbrüdlich treu zu fein. Zwei andere Gedichte, „Üüber 
den verlorenen Sohn” und „Qucretia”, zirkulierten nur handſchriftlich im 
Kreife jeiner Freunde und find nicht zum Drud gelangt. Dagegen ift eine 
Sammlung von dreißig geiftlihen Liedern erhalten, ganz im Geifte und Stile 
der Älteren Hymnen des Brevierd gedichte, ohne Einmifhung klaſſiſcher 
Reminiszenzen, voll berzlider Frömmigkeit, Liebe zur Kirche und Andadt 
zur jungfräuliden Himmelsfönigin !. 

Nikolaus Eopernicus, 1473 zu Thorn geboren, erhielt jeine 
dumaniftiihde Ausbildung an der Univerlität Krakau, an welcher damals 
(1491) nicht weniger als fiebzehn Profefforen über Bergil, Ovid, Horaz 
und andere alte Klaffiter lajen. Manches Jahr brachte er dann in talien 
zu, wo damals die humaniftiichen Studien in vollfter Blüte ftanden, ftudierte 
von 1496 an die Rechte in Bologna, pilgerte im Jubiläumsjahr 1500 nad) 
Rom, fudierte dann in Padua und Ferrara wahrſcheinlich auch noch Medizin 


— — 


ı $ranz Hipler, Bibliotheca Warmiensis oder Literaturgeſchichte des Bis— 
tums Ermland I, Braunsberg und Leipzig 1872, 105—111. 


604 Drittes Kapitel. 


und ward an leßterer Univerfität 1503 zum Doktor des kanoniſchen Rechts 
promoviert. Bewegten fich feine Studien aud auf andern Gebieten al3 auf 
jenem der Poeſie, jo waren doch die Fachſtudien noch lange nicht jo getrennt 
und zerjplittert wie heute. Die fyafultäten an der universitas literaria 
ihloffen fi) ebenjfowenig gegeneinander ab, wie gegen Schüler und Hörer 
fremder Nationen. Das ganze wiſſenſchaftliche Leben hatte noch etwas 
fosmopolitifches, und jo lebte fih Gopernicus nicht nur ganz in die wiljen- 
ihaftlihe, lateinische Proſa jener Zeit hinein, jondern erwarb ſich aud jo 
viel Verätehnif, daß er fieben Oden von je fieben Strophen auf die Jugend: 
geheimniffe des Erlöfers verfaffen fonnte. 

Wie poetiſch begeiftert er die Aftronomie auffakte, bejagt ſchon die 
Einleitung zu feinem großen Wert: 


„Was könnte es Schöneres geben als den Himmel, den Inbegriff alles Schönen: 
haben ja jelbft Weltweife ben geftirnten Himmel feiner Erhabenheit wegen gerabezu 
als Gottheit verehrt. Die Wiflenichaft der Sternfunde haben viele der Alten mit 
bem Namen „Bollendbung” belegt, weil fie, die Krone aller freien Künfte, vor allem 
eines freien Diannes würbig iſt. Die Arithmetif, Geometrie, Optik, Geodäſie, Medanit 
und wie fie fonft heißen mögen, alle dienen ihr, alle finden in ihr Mittel- und 
Gipfelpuntt. Wenn es jeder Wiffenihaft eigen, bes Menſchen Gemüt zu adeln und 
von allem Niedrigen loszufhälen, fo gebührt wiederum diefer Borzug ganz befonders 
ber Aftronomie, abgejehen von dem Hochgenuß, dem vielfahen Nußen, den ihr 
Stubium dem Geifte gewährt. Wie wäre ed auch anders möglih? Wie könnte 
jemand bie herrliche Ordnung des von Gottes Hand geleiteten Weltalld erforſchen, 
ohne dadurch fich ſelbſt zu einem geordneten Leben, zu allem Guten, ja zum Schöpfer 
des MWeltalls jelbit, dem Urquell alles Guten, Hingeriffen zu fühlen?“ 


Überaus ſchön und rührend ift es, wie der geniale Aftronom, der 
größte jeit Ptolemäus, einer der Pfadfinder der modernen Naturwiflenfhaften, 
fih und jein Wiffen in dem poetifden „Siebengeftirn“ dem Chrifttind zu 
Füßen legt, glei den MWeifen aus dem Morgenland, die einft dem Stern 
zur Krippe gefolgt. Von den fieben in asklepiadeiſchen Verſen abgefakten, 
Ihlihten und finnigen Oden zeichnet die erfte das Bild, das die Propheten 
von dem fommenden Meſſias entwerfen, die zweite drüdt ihr Sehnen nad 
ihm aus, die dritte befingt Chriſti Geburt im Stalle von Bethlehem, die 
vierte feiert in der Beichneidung den Namen Yeju, die fünfte das Ge 
heimnis der Epiphanie, die ſechſte die Darftellung im Tempel, die fiebte 
endlich das Zurüdbleiben und Lehren des zwölfjährigen Jeſukindes im Tempel 
zu Jerujalem 1. 





! Fr. Hipler, Des ermländiichen Bifhofs Johannes Dantisfus und feines 
Freundes Nikolaus Kopernikus geiftlihe Gebihte, Münfter i. W. 1857. — 
A. Müller 8. J., Nikolaus Copernicus, der Altmeifter der neueren Aftronomie 
(Ergänzungsheft zu den Stimmen aus Maria-Laach LXXII) 9—11. 


Meiterleben des Humanismus außerhalb Italiens. 605 


Wie das entlegene Polen, jo fand aud Ungarn einen tücdhtigen Ber- 
treter der humaniftiichen Beftrebungen in katholiſchem Sinn. Es ift Niko— 
faus Dläh (Dlähud), der Abkömmling einer walachiſchen Fürftenfamilie, 
1493 zu Hermannftadt in Siebenbürgen geboren, 1543 zum Biſchof von 
Agram, 1553 zum Erzbiihof von Gran erhoben. Er ftand mit den ans 
gejehenften Humaniften feiner Zeit, bejonders mit Erasmus in Beziehung, 
dem er in einem Briefe (vom 12. Februar 1532) den mohlbegründeten 
Vorwurf macht, dab er eigentlich gar nichts zum Ruhme und zum Wohle 
jeines Baterlandes getan, dasfelbe (in jo jchwerer, gefahrvoller Zeit) ganz 
im Stich gelaffen habe. Mit großem Eifer pflegte er das Studium des 
Griechiſchen. Seine ftiliftifhe Fertigkeit bezeugt feine „Chorographiſche 
Beihreibung Ungarns”, die aber erft 1763 zum Drude kam. 

Der junge Knobelsdorf, der Dantiscus bei feinem Einzug im 
Heiläberg bejungen, bezog bald darauf (1540) die noch dur und durch 
fatholifche Univerfität Löwen und dann das gemaltige Paris, noch immer 
die größte Univerfitätsftadt der Welt. Seine geiftvollen und inhaltreichen 
Briefe an Dantiscus wiſſen nicht genug zu erzählen von der Univerfität, 
ihren 66 SKollegien und Wohnungen für 40000 Studenten, von den zahl: 
loſen PBrofefforen und ihren Vorlefungen, von der Gelehrtheit eines Latomus, 
Galandus, Zuffanus und befonder3 des großen Drientaliften Vatablus. 
Der junge Dichter felbft pflegte die lateinische Poefie jo eifrig weiter, daß 
jeine Elegie auf die Stadt Paris (von ca 1500 Verſen) den lebhaften 
Neid der Parifer Studenten erregte. Sie ſchließt mit den Worten: 


Si reducem patrio me forte remiseris orbi, 
Tu mihi materies, tu mihi carmen eris, 
Uvida te residens ad flumina divitis Allae 
Oreades inter te Dryadesque canam. 
Dantiscus teneri soeium se carminis addet, 
Dantiscus vatum pontificumque decus. 
Interea exiguo faveas urbs aequa labori 
In terris breviter non habitura parem '!. 


Schon unter Ludwig XII. Hatte der Humanismus in Frankreich fefte 
Wurzeln gefaßt, unter Franz I. (1515—1547) gelangte er raſch zu hoher 
Blüte. Sein erfter Bannerträger war Wilhelm Budeus, ein Jahr nad 
Erasmus (1467) geboren. Ziemlich autodidaftiih, wenn aud mit Beihilfe 
des Georg Hermonymos don Sparta und des Janos Laslaris, lernte er 
Griechiſch, ward 1497 königliher Sekretär und begleitete 1503 eine Geſandt— 
ihaft an Julius IE. nah Rom, wo er mit den italieniſchen Humaniften 
in Verbindung trat. Ein großes Werk über die Pandelten (1508), ein 





! $r. SHipler, Bibliotheca Warmiensis I 150 151. 


606 Drittes Kapitel. 


Traktat über die Münzen, Gewichte und Maße der Alten (De asse et 
partibus eius 1514), eine Brieffammlung und ein griedhijches Lexikon er— 
warben ihm europäifhen Ruf; er galt bald al& der größte Gelehrte nächfi 
Grasmus. Franz I. machte ihn 1522 zu feinem Bibliotdelar und begünftigte 
die hHumaniftiiden Studien in freigebigiter Weije!. 

Der bedeutendfte Gräzift neben Budeus war Germain de Brie 
(Germanus Brixius), föniglider Almojenier und Kanonikus von Notre 
Dame in Paris, Er hatte in Venedig bei Janos Laskaris und in Padua 
bei Markos Mufuros Griechiſch gelernt, ftand mit Erasmus im Verlehr 
und überjegte einen Zeil der Werke des hl. Johannes Chryjoftomus ins 
Lateiniſche. Er mwetteiferte auch in lateinischen Verfen mit Thomas Morus. 


An Budeus und de Brie fchloffen fi als tüchtige Latiniften Ludwig de Ruze, 
Richter des Zivilhofes, und Franz von Luines, Präfident bes Parlaments, Nikolaus 
Beranld von Orleans und die beiden Ärzte Johann Ruel und Wilhelm Cop. Als 
einflußreiher Gönner ihrer Beſtrebungen bewährte fid) Stephan Ponder, Biſchof von 
Paris, ſpäter Erzbiihof von Sens. Tätigen Anteil an ihren Studien nahmen ber 
Dominikaner Wilhelm Petit, jpäter Erzbiihof bon Troyes, Jakob Colin, Abt zu 
St Ambrofius in Bourges, Franz du Bois, Nektor des Kollegs von Tournai, und 
Johann de Pins, Biſchof von Rieur. 


An mehreren Kollegien der Univerfität Paris wurden Borlefungen über 
griehiihe Sprade und Literatur gehalten, jo an denjenigen von Xifieur, 
Le Moine und Burgund. Den Hauptmittelpunft der humaniſtiſchen Studien 
bildete aber das Kollegium Sainte-Barbe, welchem der Portugiefe Jakob 
de Govea und nah ihm jein Neffe Andreas de Govea vorftand. Etwas 
Eiferſucht hatte zwiſchen der theologischen Fakultät und der artiſtiſchen immer 
geherrſcht, und jo kann es nicht befremden, daß, zumal nad dem Auftreten 
Luthers, ein Teil der Theologen das Wachſen der humaniftiichen Bewegung 
mit einigem Verdacht und Mikgunft betrachtete. Der Führer diefer Oppo— 
fition war der Borftand des Kolleg: Montaigu, Noel Beda. Obwohl jeine 
Anhänger ſehr zahlreih waren, vermodten fie indes wenig auszurichten. 
Einfihtigere Theologen jahen in den zwei Studienrichtungen feinen wirklichen 
Gegenfaß?, und unter den Schülern Goveas befanden fi jogar Ignatius 


' A, Tilley, Humanism under Francis I. (The English Historical Review 
XV, London 1900, 456—478). — P. Feret, La faculté de Theologie de Paris. 
Epoque moderne I, Paris 1900, 49-55. — Budaei Opera, 4 ®be, Basil. 1557. 
— Rebitte, G. Bude, restauratenr des études grecques en France, Paris 
1846. 

® Prinzipiell war bie Kirche ihon viel früher für die Pflege der Spraden 
eingetreten, deren Kenntnis ein tieferes Bibelſtudium erheiſcht. Das Konzil von 
Vienne (1311) verordnete, dab am „Studium“ an ber römifchen Kurie fowie an 
ben Univerfitäten Paris, Orford, Bologna und Salamanca je zwei Profefforen ber 
hebräifchen, arabiſchen und chaldäiſchen Sprache angeftellt werben follten (Clement. 


MWeiterleben des Humanismus außerhalb Italiens, 607 


bon Loyola und defien erſte Freunde und Genoſſen. Paris blieb von dem 
unjeligen Zwift verfdhont, der in Köln Scholaftif und Humanismus in 
feindliche Yager auseinanderriß und beide unjäglih ſchädigte. 

Im Jahre 1529 legte Franz I. den Grund zu dem neuen College 
de France, indem er auf dad Drängen feines Bibliothefars Budeus einige 
neue Profeſſuren an der Univerfität errichtete. Diejelben wurden im fol: 
genden Nahr auf fünf vermehrt. Als Profeſſoren des Hebräiichen wurden 
Franz Batablus und Agatho Guidacerio, als folde des Griechiſchen Peter 
Dans und Jakob Touffain, als folder der Mathematit der Spanier 
Sohann Martin Boblacion angeftellt. Noel Beda erhob 1534 im Namen 
der theologiihen Fakultät Einfprade gegen die Neuerung, mit Rückſicht auf 
die Gefahren, die daraus für die Erklärung der Heiligen Schrift erwachſen 
fünnten. Die Sade gelangte an das Parlament, deſſen Entſcheidung nicht 
erhalten if. Doch muß fie für die neue Einrihtung günftig ausgefallen 
jein, da nicht nur die ernannten Profefforen in Tätigkeit blieben, jondern 
nod im jelben Jahr ein eigener Lehrftuhl für Latein errichtet wurde. Den- 
jelben befleidete zuerjt der Luxemburger Bartholomäus Maſſon (Latomus). 
Im Jahr 1539 kamen nod drei neue Profeffuren Hinzu, eine zweite für 
Mathematik, eine für Philoſophie und eine für Medizin. 

Budeus’ Nachfolger als königlicher Bibliothefar wurde 1540 Peter 
du Ehaftel, der fi lange im Orient aufgehalten hatte, jpäter Biſchof von 
Mäcon, Tulle und Orleans wurde, ein überaus bvieljeitiger Gelehrter. Er 
vermehrte die königliche Bücherei namentlih mit anjehnliden Sammlungen 
griechiſcher Bücher, die teild in Venedig teils in Rom für hohe Preife auf: 
gelauft wurden. Die griehiihen Handſchriften zu Fontainebleau beliefen ſich 
1545 auf hundertneunzig und leijteten große Dienfte, da fie den Gelehrten 
leicht zugänglih waren. Im Jahr 1528 begann man aud in Paris 
griechiſche Bücher zu druden; an der Sorbonne erſchienen ihrer 1530 nicht 
weniger ala elf. 

Eifrige Pflege fanden die humaniftiihen Studien ebenfalls in Bordeaur, 
Nimes, Bourges, Orleans, Touloufe, Montpellier und vor allem Lyon. 

Als Dichter werden erwähnt Johann Salmon (Salmonius Mtacrinus), den 
man jogar den franzöſiſchen Horaz nannte, Anton de Govea, Gilbert, Ducher, Simon 
Ballambert, Claudius Rouffelet und Johann Voulté. Am bebdeutenbften nächſt den 
1519 erjhienenen „Carmina“ bes Bririus bürften die „Poemata* des Theodor 
Beza fein, welche 1548 herausfamen. 


Bon den Schuldramen des Tirier de Raviſi (Ravisius Textor), welcher 
von 1500-—1524 am Kollegium von Navarra lehrte, find nur einige Dialoge erhalten, 





e. 1, lib. 5, tit. 1). — Hefele, Konziliengeſchichte VI?, Freiburg 1890, 545. — 
Ein tüchtiger Kenner des Hebräifhen war ſchon der deutiche Dominikaner P. G. Schwarz 
(Niger), ber, 1434 geboren, um 1483 jtarb. 


608 Drittes Kapitel. 


welde fi ganz den mittelalterligen Dtoralitäten anfchhließen!. Die handelnden Per- 
fonen find: ber Menih, bie Erbe, bie Weltfinber, bie Kirche, der Reichtum, die 
Sünbe, der Tod, bie Srankheit, der freie Wille ufw.; die Scenen find mehr oder 
weniger bialogifierte Predigten, aber Tebenbiger und friſcher als viele biblifche Stüde 
ber fpäteren Zeit. Bon Bartholomäus be Loches, Prior in Orleans, erichien 
1537 ein Paffionsfpiel, Christus Xylonicus, das gegen bie mittelalterliden Stüde 
Thon einigen technischen Fortſchritt aufweiſt?. 


Die franzöfiihen Humaniften diefer Zeit taten fih übrigens ſchon 
weniger durch Poefie hervor als durch philologishe und antiquarische Ge: 
lehrſamleit. Jacques Touſſain (Tussanus) wurde als Grammatiter 
und Lerilograph berühmt. Sein Schüler Henry Eftienne (Stephanus) 
gab etwa 170 alte Klaffiter heraus; feinen Hauptruhm bildet der riefige 
Thesaurus linguae graecae, eine der grundlegenden Arbeiten der neueren 
Sprachwiſſenſchaft, die aber dem verdienftvollen Unternehmer zwölf Jahre 
angeftrengtefter Arbeit und ſchließlich auch jeinen Wohlftand koftete. Adrien 
QTurnebe, der 1547 von Touloufe an die Stelle des geftorbenen Touffain 
nad Paris berufen wurde, machte ſich ebenfalls vorzugsweiſe durch Heraus- 
gabe, Erklärung und Überfegung der Mlaffiler verdient. Marc-Antoine 
Muret (1526—1585) erwarb ſich den von vielen angeftrebten und über: 
mäßig hoch angeihlagenen Ruhm, in feinem lateinishen Stil durch Reichtum 
wie Genauigfeit und Wohlflang beinahe Eicero zu erreihen. Als ihn un- 
geheuerliche, wie es jcheint, verleumderifche Anklagen 1554 aus Frankreich 
vertrieben, fand er in Jtalien die glänzendfte Aufnahme, nicht nur bei den 
Humaniften wie Bembo, Aldo Manuzio, fondern auch bei dem kunftliebenden 
Kardinal Hippolyt von Eſte und bei Pius V. ſelbſt. Trotz all des hohen 
Ruhmes find feine Reden ziemlich froftig, und feine geledten und korrekten 
Gedichte ermangeln noch mehr des inneren poetifchen Lebens ®, 

Keine geringere Formgewandtheit, aber dazu wirklich eine gute Dofis 
poetiſcher Infpiration befaß Georg Buhanan (1506—1582), der zwar 
jeiner Abftammung nad Schottland, feinem religiöfen Bekenntnis nach dem 
Galvinigmus angehört, aber die beften Jahre feiner humaniftiich - poetijchen 
Tätigkeit in Portugal und Frankreich zubradtet. Er madte ſchon einen 


! Massebiau, De Ravisii Textoris comoediis, Paris. 1878. — Faguet, 
La tragedie frangaise au XVI* siöcle, Paris 1883. 

® Nicolai Bartholomaei Lochiensis Christus Xilonicus, Tragoedia 
cum ob romani sermonis puritatem, tum ob sanctissimi argumenti dignitatem in 
theatra, in scolas, in bibliothecas ultro accersenda, Coloniae, excudebat Joannes 
Gymnicus, anno 1537. 

» M.A. Muretus, Orationes XXIII (Benebig 1575); Opera omnia (Berona 
1727—1750); ed. D. Ruhnkenius (Leiden 1789); ed. H. Frotschner (Leipzig 
1831—1841); Opera selecta (Pabua 1740/41). 

*G. Buchanan, Franeiscanus et Fratres (Schmähſchrift), Basilene (ohne 
Datum); Iephthes seu Votum (Paris 1554); Baptistes sen calumnia (Edinburg 


Weiterleben des Humanismus auberhalb Italiens. 609 


Zeil feiner Studien in Paris, war dann drei Jahre Profeffor am Kollegium 
Sainte:Barbe. Wegen Angriffen auf die Mönde 1539 in Schottland ein- 
geferfert und zur Flucht genötigt, Hielt er ſich in Paris jelbit nicht für ficher, 
jondern folgte dem Rufe des gelehrten Portugiefen Andreas Govea, der ihn 
nad Bordeaur einlud. Nachdem er hier drei Jahre doziert hatte, wagte er 
ih nad) Paris, lehrte und dichtete während der Jahre 1543 und 1544 
dajelbft an der Seite Murets und Zurnebes, folgte dann wieder Andreas 
Govea, der ihm eine Brofeffur in Goimbra verſchaffte. Nah einem Jahre 
ftarb indes Govea, und da die von Buchanan ſchwer gefränkten Mönche es 
erwirkten, daß er in einem Kloſter eingefperrt wurde, floh er nad Frank— 
reih und Piemont, wo ihn der Marihall Briffac zum Erzieher feines 
Sohnes ernannte. Im Jahre 1560 kehrte er endlih nad Schottland zurüd, 
ward von Maria Stuart zum voraus zum Erzieher ihres zu erwartenden 
Sohnes ernannt, erwiderte aber diefe Huld damit, daß er eine Penfion 
bon 100 Pfd. St. von der Königin Elifabetd annahm und fid auf die 
Seite der Feinde Marias ftellte. Ihren tragiihen Tod erlebte er nicht 
mehr. Ihr Andenken hat er im feiner fchottiihen Geſchichte mit größter 
Parteilichkeit beihimpft. Seine Heineren Gedihte (Dden, Epigramme, Elegien) 
und jeine Dramen „Jephthe“ (1554 dem Marſchall Briffac gewidmet) und 
„Baptiftes” fanden zahlreihe Leer und wurden mehrfah neu aufgelegt. 
Charakteriſtiſch für feinen fittlihen Standpunkt ift e&, wenn er in einem 
Gedichte es aufs innigjte betrauert, daß der Magiftrat von Bordeaux die 
„ſchlechten Häuſer“ geſchloſſen. 

Gemütlich blühte der Humanismus in Belgien und in den Niederlanden 
weiter, die ſich nur zum Teil um 1566 von Spanien und von der Kirche 
losriſſen. Wohl wenige Italiener haben die Formſchönheit der altrömiſchen 
Elegiker in dem Grade erreicht wie der jugendlich Johannes Secundus 
(Jan Nicolai Everaerts) in ſeinen Elegien, Basia, Epigrammen, Oden, 
Epiſteln und vermiſchten Gedichten!. Im Jahre 1511 im Haag geboren, 
zeigte er Schon als Knabe das außergewöhnlichite Talent für lateinische Poeſie, 
verſuchte fih mit Glück au in Skulptur und Malerei, erhielt mit zwei— 
undzwanzig Jahren zu Bourges den Doktorhut der Rechte, ward Selretär 
des Erzbiihofs von Toledo, begleitete Karl V. 1534 auf feiner Fahrt nad 
Zunis, trat nad) feiner Rückkehr in den Dienft Georgs von Egmond, Biſchofs 


1578; London 1578); De Maria Scotorum regina (London 1572); Poemata quae 
extant (Beiden 1628, Elzevir); Rerum Scoticarum historia (Edinburg 1582); 
Opera omnia (Edinburg 1715; Leiden 1725); Autobiographia (Frankfurt 1608; 
Edinburg 1702). — D. Irving, Memoirs of the life of B.?, Edinb. 1817. — 
Vauthier, De Buchanani vita et scriptis (1886). 

"IN. Secundus, Opera omnia, ed. P.Scriverius (Leiben 1619 1631; 
Paris 1748; ed. P. Bosscha, Leiden 1821). 

Baumgartner, Weltliteratur. IV. 3, u. 4 Aufl. 39 


610 Drittes Kapitel. 


von Tournai, erlag aber ſchon 1536 einer Krankheit, die er fih auf dem 
afrikaniſchen Kriegszuge geholt. Leider hat er die römiſchen Erotifer nicht 
blok in der Anmut der Form, ſondern aud in einer ungebundenen, leiden- 
Ihaftlihen Lüfternheit nachgeahmt, die ſich mit firengerer Zucht und Sitte 
nicht vereinbaren läßt. Wenn er dennoch auch in den höchſten Firdplichen 
Kreifen die größte Gunft fand, jo zeugt dies dafür, daß man gegen Kunſt 
und Künſtler eine gewilfe Milde und Nachſicht walten ließ, jedenfalls weit 
von jenem funftfeindlichen Fanatismus entfernt war, weldher dem ſpaniſchen 
Epiftopat jo oft vorgeworfen worden ift. 

Ernfter und würdevoller ift der niederländiihe Humanismus durd den 
gelehrten Juſtus Lipfius (eigentlich Joſt Lips) vertreten!., Er wurde 
1547 in einem Dorf zwiſchen Brüffel und Löwen geboren und erhielt feine 
höhere Ausbildung von 1563 an im Sefuitenkollegium zu Köln. Vermöge 
einer auberordentlihen Begabung machte er jo glänzende Fortſchritte, daß 
er ald Zmwanzigjähriger 1567 den Kardinal Granvella als Sekretär nad 
Rom begleiten fonnte. Dort blieb ihm Muße, zugleih die alten Denkmäler 
und Inſchriften wie die koftbarften handjchriftliden Schätze der ewigen 
Stadt zu fludieren. Nah feiner Rüdkehr lehrte er mit Glanz an zwei 
proteftantifhen Univerfitäten, von 1572—1574 zu Jena, von 1579 bis 
1590 zu Leiden, und gelangte hier, bejonder& durch feinen ausgezeichneten 
Kommentar zum Tacitus und andere philologiich-antiquariiche Werke, zu 
einem europäifhen Ruf. Die Anhänglichkeit an den alten Glauben fiegte 
indes über alle irdiihen Lodungen und Rüdfihten. Er verließ Leiden und 
nahm von dem vielen Anerbieten, welche nun katholifcherjeits an ihn ergingen, 
bon Papft Klemens VIIL, König Heinrih IV. von Franfreih, Herzog 
Wilhelm von Bayern, dem KHurfürften von Köln, der Republit Venedig, 
den Biihöfen von Würzburg, Salzburg und Breslau, der Univerfität Löwen, 
den legteren Ruf an und wirkte an dieſer Hochſchule bis zu feinem Tode 
1606, auch jetzt als einer der größten Gelehrten feiner Zeil anerfannt. Am 
meiften Verdienſt erwarb er ſich durch jeine Erläuterungen zu Tacitus, den 
beiten Kommentar, der bis dahin zu einem römiſchen Schriftiteller erſchienen 





! I. Lipsius, Opera omnia quae ad criticam proprie spectant (Antiverpen 
1585, Leiden 1596 u. ö.), Politicorum libri VI (Zeiben 1589), Adversus dialogistam 
(Leiden 1590), Diva Virgo Hallensis (Antwerpen 1604), Diva Sichemensis (ebd. 
1605), De ceruce libri III (ebd. 1593), Manuductiones ad Stoicam philosophiam 
(ebd. 1604), Physiologiae stoicorum libri III (ebd. 1604), Epistolarum select, 
Chilias (Avignon 1609), Epistolarum praetermissarum decades VI (Offenbad 
1610), Opera omnia (yon 1613, Antwerpen 1614 1637, Wejel 1675). — Del- 
prat, Lettres inddites de Juste Lipse, Amsterdam 1858. — F. de Reiffen- 
berg, Comm. de I. Lipsii vita et scriptis, Bruxellis 1823. — Räß, Die Kon- 
bertiten feit der Neformation III 159 ff. — Allgem. Deutſche Biographie XVII 
741 ff. — Bibliographie Lipsienne, Gand 1886. 


Meiterleben be Humanismus außerhalb Italiens, 611 


war. Für feinen eigenen Stil war die anhaltende Beihäftigung mit Tacitus 
und Seneca nit günftig. Beſonders jein Briefmechjel, 805 Nummern 
ftarf, leidet an geſuchtem und gejchraubtem Stil. Seine vielen und ſcharf— 
finnigen Unterfuhungen aber bedeuten eine wichtige Etappe in der Weiter- 
bildung des älteren Humanismus zur neueren Philologie. 

Die mädtigfte Stüße hatte der Fatholiihe Humanismus in den Nieder: 
landen an den Brüdern des gemeinjamen Lebens, aus deren Schulen 
während des 15. Jahrhunderts die tüchtigſten Schulmänner und Gelehrten, 
ein Wimpheling und Hegius, ein Nikolaus von Cues, ein Thomas bon 
Kempen, ein Erasmus, ein Rud. Agricola, hervorgegangen waren und deren 
unmittelbarer und mittelbarer Einfluß fi noch tief in das 16. Jahrhundert 
hinein erftredte!. Von den erften Anftalten zu Deventer und Zwolle breiteten 
fie fih über die ganzen Niederlande aus. Sie hatten Schulen in Hoorn, 
AUmersfoort, Doesburg, Harderwijt, Hülsberg, Herzogenbuſch, Gouda, Lüttich, 
Gent, Albergen, Groningen, Brüffel, Utreht. In Deutſchland hatten fie 
Niederlaffungen zu Münfter, Köln, Wejel, Osnabrüd, Kulm, Roftod, 
Emmerih und Hildesheim. 

Hauptfählih durch die „Fraterherren“ Hat die katholiſche Pädagogik 
jene Geftaltung gewonnen, welche der nım bald auftauchenden Jeſuitenſchule 
al3 Grundlage diente. Durch fie erhielt ſich eine echt chriſtliche Auffaffung 
des Haffiihen Unterrichts, eine maßvolle Betreibung desfelben, zugleih mit 
großer Begeifterung für die alten Literaturen bis tief in die Kämpfe des 
Jahrhunderts hinein. Durch fie ift auch ſchon das Schultheater zu einem 
wichtigen Bildungsmittel erhoben worden, defjen jih dann die proteftantijchen 
wie die fatholiihen Pädagogen, unter diefen namentlid die Jefuiten, mit 
größtem Eifer bemädhtigten, und das auf die Entwidlung des Schaujpiels 
in ganz Europa feinen unerheblihen Einfluß gehabt hat?. 

Das früheſte jelbftändige Schuldrama dürfte der „Stylpho“ des Jakob 
MWimpheling jein, der während feines Aufenthaltes in Heidelberg (1469 
bi3 1483) zur Aufführung kams. Ebenfalls in Heidelberg wurden um 
1496 Reuchlins Stüde Henno und Sergius gegeben. 


G. H.M. Delprat, Verhandelingen over de broederschap van Geert 
Groote en over den invloed der fraterhuizen, Arnhem 1856. — K. Grube, 
G. root und feine Stiftungen, Köln 1883. 

2 M. D’Huart, Le theätre des Jösuites. I* Partie: Les exercices dramati- 
ques dans les 6tablissements d’instruction au moyen-äge et au seiziöme siöcle, 
Luxembourg 1891. — ®. Bahlmann, Die Erneuerer des antilen Dramas unb 
ihre erjten dramatifchen Verſuche 1314—1478, Münfter 1896. — Bibliographie bei 
P. Bahlmann, Die lateinifhen Dramen von Wimphelings Stylpho bis zur Mitte 
bes 16. Jahrhunderts, Diünfter 1893. 

° Herauögeg. von 9. Holftein, Berlin 1892. 

39* 


612 Drittes Kapitel, 


Als den vorzüglichften der neulateiniſchen Schuldramatifer bezeichnet 
Goedefe mit Reht Georg Mafropedius (d. h. Lankveld oder Langhveldt), 
der nit nur Katholif, fjondern jogar Ordensmann war, Hierongmitaner 
oder Mitglied der Brüderfchaft vom gemeinjamen Leben. Er galt als der 
größte Grammatifer feiner Zeit, verftand außer den zwei Haffiihen Spraden 
aud Hebräiih und trieb ebenfalls Mathematik. Wahrſcheinlich um 1475 
zu Gemert bei Herzogenbuſch geboren, trat er jung der genannten Genoflen- 
Ihaft bei und ward zuerjt Vorſtand der ſtarkbeſuchten Brüderjchule zu 
Herzogenbuſch, welche um jene Zeit als die befte aller Brüderſchulen galt. 
Bor 1539 bis fiber 1552 war er Rektor in Utrecht und ftarb 1558 in 
Herzogenbujh. Eine Sammlung feiner Stüde von 1552 und 1553 enthält 
in zwei Bänden elf Komödien: I. Aotus, Lazarus, Joſephus, Hekaſtus, 
Adamus, Hypomone; II. Aluta, Rebelles, Petriscus, Andrisca, Bafjarus. 
Dazu jchrieb er noch eine Passio Christi (vor 1545), einen Iesus Scho- 
lasticus (1556), eine Susanna und eine Dimulla. Die nicht bibliſch— 
hiſtoriſchen Stoffe find frei erfunden, Sittenbilder, dazu angetan, die Jugend 
von moralifhen Gebrehen und Laftern abzujchreden. 


„Ein entſchiedener Sinn für fünftlerifhe Kompofition tritt hervor. Er verfährt 
nicht, wie fo oft jene frommen aber unfähigen Dramatiker feines Jahrhunderts, 
welche zur abgeblabten Allegorie wie zu langen Gitaten aus der Bibel ihre Zuflucht 
nehmen, um den Mangel an Geftaltungsfraft zu verhüllen, welde uns bejtändig 
erinnern, daß ihre Perfonen nichts ald Drahtpuppen find. Er darakterifiert lebendig, 
anihaulih, nad ber Natur; oft find die Perfonen mit wenig Stridhen gezeichnet. 
Makropedius kennt die Pflicht des Dramatifers, die Menſchen auf der Bühne ihrem 
Charakter und der Situation gemäß ſprechen zu laſſen, jehr gut. Er hat einen 
ſcharfen Blick für die Geftalten des bürgerlihen und wirklichen Lebens. In der 
Darftellung bes Hausweſens gleicht er mandem Maler ber niederländiſchen Schule 
hinſichts der rüdfichtslofen realiftiichen Treue. Seine Erfindungskraft ift freilich nicht 
jehr groß; nur wenige Typen finden fi im ganzen. Seine urfprünglie Begabung 
aber für das Drama zeigt fi in dem geſchickten Scenenbau, in den bühnenmäßigen 
Wirkungen, bie er zu erzielen weiß. Er verfteht zu ſpannen, zu fleigern, zu fon- 
traftieren, abzutönen. Der Dialog ift lebhaft und frifh, der Witz meift wortipiel- 
artig. Dft erzielt er eine komiſche Wirkung durch die Parodie der tragiſchen Sprade. 
Das Latein ift in den erften Stüden, befonders in den ‚Rebelles‘, noch wenig flüffig 
und korrekt, jpäter zeigt Mafropedius größere Leichtigkeit und hütet fi mehr vor 
ganz unklaffiihen Wendungen. Bei Reudlin ift der Chor noch ganz prinzipienlos 
behandelt und ohne rechten Rhythmus; bei Makropedius ift er funftvoller, und neben 
jambijchen und trochäiſchen Verjen wendet er bejonders Strophen des Horaz an.“ ! 


Auch ein anderer der fruchtbarften und beliebteften Schuldramatiker 
gehört noch der alten Kirche und ebenfalls den Niederlanden an: Gornelius 





1D. Jacoby, Macropedius (Allgem. Deutfhe Biographie XX 21 22). — 
Bibliographiihe Angaben über die einzelnen Stüde bei Goedele, Grundriß II*, 
Dresden 1886, 135 186. 


MWeiterleben bes Humanismus außerhalb Italiens. 613 


Schonaeus, der 1540 zu Gouda geboren, in Löwen fludierte und 1611 
als Rektor zu Harlem ftarb!. Sein Terentius Christianus (seu Comoediae 
sacrae, tribus partibus distinetae, Terentiano stylo conscriptae) um: 
faßt fiebzehn meift bibliihe Stüde: Naaman, Tobias, Nehemias, Saulus, 
Zofephus, Daniel, Sufanna, Judith, der Triumph Chrifti, das Pfingftfeft, 
Ananias, dazu mehrere moralifierende Komödien (Dyscoli, Vitulus, Pseudo- 
stratiotae). Die Komik der letzteren ift mitunter ziemlich derb und volks— 
mäßig. So wird 3. B. im Vitulus ein Bauer in eine Kalbshaut eingenäht 
und als Kalb verfauft, von einem Schlächter für bejejfen gehalten, von 
einem Geiftlihen erorzifiert ꝛc. Sprade und Ausdrud find gewandt, 
fließend und meift forreft. Was aber feinen Stüden einen bejondern Vorzug 
verlieh, war, da er alle „Amores” vermied und jo eine der Hauptſchwierig— 
feiten der Schulkomödie bejeitigte. 


Ebenfalls in Löwen ftudierte Jakob Schöpper, der 1514 zu Dortmund 
geboren, 1554 dafelbit als Latbolifcher Geiftlicher ftarb. Von ihm find fünf biblifche 
und ein allegorifhes Stüd gebrudt: „Die Enthauptung bes bl. Johannes“, „Der 
Zweilampf Davids mit Goliath“, „Das verlorene Schaf”, „Die Verfuhung Abrahams”, 
„Euphemus oder ber beglüdwünichte Jakob“ und „Der Kampf der Wolluft und 
der Tugend“. 

Der Minorit Levin Brecht aus Antwerpen jhrieb außer einem „Wäldchen 
frommer Gedichte" auch einen Euripus, eine hriftliche Tragödie von der Unbeftändig- 
feit bes menſchlichen Glüdes (1549); Gregor Holonius, wahrſcheinlich ein 
Ordensgeiftliher aus Lüttih (1556), drei Märtyrerdramen: „Katharina”, „Lam— 
bertus“ und „Zaurentius*. Eine „Dido“ verfaßten um bdasjelbe Jahr (1559) ſowohl 
Gerardus Dalanthus als Petrus Ligneus (van ber Haute) aus Flandern. 

CorneliusLaurimanus, Schüler und (1554) Nachfolger des Mafropebius 
an der Schule zu Utrecht, jehrieb einen Exodus, eine „Efther”, eine „Ihamar”, einen 
„Tobias“ und einen Miles christianus. 

Peter von Dieft bearbeitete das engliſche Moral play (Sittenjpiel) Every 
man in niederländifcher Sprade, der Geiftlihe Ehriftian Iſchyrius (Öterd) 
zu Maeftriht Iatinifierte dasjelbe 1536. — Cornelius Erocus, ber 1550 als 
Jeſuit in Rom ftarb, Hinterlieg ein Drama ‚„Joſeph“. — Jakob Zovitius von 
Drieichar, Rektor zu Breda, fchrieb drei Dramen: Ruth, Didascalus, Ovis perdita. — 
Andreas Fabricius, ber 1520 bei Lüttich geboren, 1581 als Propft zu Altötting 
jtarb, jchrieb ebenfalls drei Dramen: Religio patiens, Samson, leroboam rebellans, 
— Bom Jahre 1580 batiert find die Stüde des Jakob Vivarius De Petro 
paenitenti und De redemptione nostra. 

Petrus Papaeus aus Flandern jchrieb 1539 einen Samarites, Comoedia 
de Samaritano Evangelico; Petrus Philicinus, Lehrer zu Binde in Hennegau 
1544 eine Comoedia tragica, quae inseribitur Magdalena Evangelica und 1546 
einen Dialog De Isaaci immolatione. Libertus ab Hauthem aus Zongern, 
gefrönter Dichter und Profeffor zu Mons, ließ zu Lüttid (1574) ein Theatram vitae 





!C. Schonaei Terentius christianus seu Comoediae sacrae (vollftändigfte 
Ausgabe: Amfterdbam 1629, andere Ausgaben verzeichnet bei Goedeke a. a. O. 
II 143). 


614 Viertes Kapitel. 


hitmanae, (1575) bie Tragilomödie Gedeon erfcheinen. Andreas Hojus aus 
Brügge, Rektor zu Arras und Bethune, gab (1587) zwei geiftliche Tragödien Matthaeus 
und Machabaeus heraus. Der Benebiltiner Cornelius a Marca zu Gent 
(geft. 1629) verfahte einen „Jephthe“ unb andere bibliihe Stüde. 

Builielmus Gnaphaeus (Willem van be Volbersgroft ober be Volder), 
1492 im Saag geboren, 1568 in Norben geftorben, genoß feine Erziehung ebenfalls 
noch in ben Kreifen bes katholiſchen niederländifhen Humanismus, fiel dann aber 
zur Neuerung ab und mußte 1580 nad Deutſchland fliehen. Er ſchrieb mehrere 
Komödien: Triumphus Eloquentiae, Morosophus, Hypoerisis, Misobarbus, Am 
meijten Erfolg hatte fein Acolastus, eine dbramatifierte Bearbeitung der Parabel vom 
verlorenen Sohn. Sie wurde von 1520—1581 breißigmal net aufgelegt. 


Biertes Kapitel. 
Der Humanismus im Dienfle der neuen Tehre. 


Nachdem Luther das allgemeine Prieftertum verkündet und die deutjche 
Sprade zur liturgiſchen, zur Kirchenſprache erklärt hatte, wäre es folgerichtig 
gewejen, nicht bloß mit der kirchlichen Überlieferung, mit dem beftehenden 
Kirhenreht und mit der jcholaftifhen Theologie, jondern auch mit der 
patriftiihen Literatur, mit dem hergebrachten Humanismus, mit dem Latein 
als Sprade der Theologie und der Wiſſenſchaft überhaupt zu brechen. Das 
vielgepriefene Zurüdgehen auf die „unverfälſchten“ griechiſchen und hebrätichen 
Terte des „Gotteswortes“ in feiner Bibelüberfeung kann nit ala ein 
Schritt in diefer Richtung betrachtet werden. In der großen Polyglotte 
des Sardinal® Ximenes war bderjelbe bereit3 getan, in einer viel um: 
fafjenderen, gründlidheren, für Glauben und Wiſſenſchaft ausgiebigeren Weiſe. 
Die alte Kirche fürchtete weder Sprachwiſſenſchaft noch Bibelkritik: ihre 
Überlieferung ftand mit den Sprachen beider Teftamente in ununterbrochener 
Beziehung; ihre Lateinische Yulgata war die ehrwürdigſte und erprobtefte 
aller Überſetzungen, wenn fie aud der Berbefjerung fähig war. Ziefer 
ſchnitt Luthers Bibelüberfegung dadurd ein, daß er die Bibel an die Stelle 
des firhlichen Lehramtes fehte und fie in diefem Sinne dem gemeinen 
Mann in die Hand gab, damit diefer fürder weder des Papftes nod des 
Biſchofs noch des Priefters bedürfte. 

Der Spielraum, den er in Bezug auf die Offenbarung dem Privat: 
urteil überließ, führte indes alsbald einen ſolchen Wirrwarr herbei, daß er 
ihn wieder einzudämmen ſuchen mußte!. Der große Bauernaufftand, das 


ı In Bezug auf Luther hat Döllinger die treffende Bemerkung gemadt, „dab 
zwijchen feinen Iateinifhen und feinen deutſchen Schriften ein großer Unterſchied ift. 
In den letzteren Liegt feine Stärke und (teilweife) das Geheimnis feiner auber: 


Der Humanismus im Dienfte ber neuen Lehre. 615 


ſchauerliche Treiben der MWiedertäufer in Münfter, die jelbftändigen neuen 
Lehren Zwinglis, Galvins u. a. drohten die ganze Herrlichkeit des neuen 
Evangeliums in vollftändige politiiche, foziale und religiöje Anardie auf- 
zulöjen. Wenn die auseinanderftrebenden Elemente nit dem Widerftand 
der noch lebensfräftigen alten Kirche und ihrer Anhänger erliegen jollten, 
mußten fie fi) mwenigftens äußerlih auf eine faßbare Glaubensformel, auf 
beftimmte Belenntnisfhriften vereinigen, ihr Syftem theologiſch verteidigen, 
der alten Kirche ein jelbftändiges Kirchentum, ein eigenes höheres und 
niederes Schulwejen, eine felbftändige Wiſſenſchaft entgegenftellen. Bauern: 
frieg und Bilderfturm hatten fi auf deutſch machen laffen. Zu all jenen 
erhaltenden oder aufbauenden Arbeiten aber konnte man wenigſtens vor- 
läufig des Lateiniſchen nicht entraten. Lateinifh wurden die zahlreichen 
Glaubensgejpräde und Disputationen gehalten, lateiniſch wurden die erſten 
und bedeutenditen Bekenntnisſchriften abgefaßt, lateiniſch wurden diefelben 
bon den gelehrteften Anhängern der neuen Lehren erläutert, begründet und 
verteidigt. Lateinisch Forrefpondierten die theologiihen Häupter unter fi, 
zum Zeil auch mit ihren Landesherren und mit ihren Gegnern. Lateinisch 
blieb die Sprade der Wiſſenſchaft und des gelehrten Unterrichts. Me— 
lanchthon, der Praeceptor Germaniae, tat alles, um den Humanismus 
auf den neuen Boden zu verpflanzen und bon der Grammatif auf bis in 
die Dogmatik alles in erträgliden Einklang mit der neuen Lehre zu 
bringen . 

Durch dieſes Einlenfen von der Bahn des jchroffften religiöfen Um— 
fturzes hat ſich der fanfte, humaniſtiſch wohlgefhulte Melanchthon um die 
deutſche Bildung BVerdienfte erworben, die allgemeine Anerkennung verdienen. 
Er Hat zahlreiche der abgeriffenen Fäden wieder angelnüpft und die nun— 
mehr Getrennten fo gut als möglich mit der bisherigen wiſſenſchaftlichen und 
literarifhen Entwidlung der europäifhen Welt in Berührung erhalten. 


ordentlichen Erfolge, während die Theologen in Frankreich, England, Italien, Spanien, 
welche bloß jeine lateiniſchen Schriften lafen und in denfelben weder befonbere Be- 
rebjamfeit noch glänzenden Scharffinn oder imponierende Erudition fanden, vielfach 
ihre Berwunderung darüber äußerten, daß biefer Mann in Deutihland jo vergöttert 
werde und jelbft unter den Gelehrten jo viele Anhänger und Verehrer habe“ (Döl: 
linger, Art. „Quther” in Weber und Weltes Kirchenlexikon VIII?, Freiburg 
1893, 345). 

i Melanchthonis Opera (ed. Bretschneider et Bindseil, Corpus 
Reformatorum I—XXVII, Lipsiae 1834—1860); Epigrammata (Wittenberg 1560 
1562 1575; Frankfurt a. M. 1583; überjeßt von Oberhey, Halle 1862). — 
l. Camerarius, De Ph. Melanchthonis ortu ete., Lips. 1566. — 2%. Schmidt, 
Phil. Melanchthon, Leben und ausgewählte Schriften, Elberfeld 1861. — K. Hart: 
felber, Ph. Melanchthon als Praeceptor Germaniae (Monum. Germ. paedagog. VIT), 
Berlin 1889. 


616 Viertes Kapitel. 


Wie fih die einzelnen Wiſſenſchaften auf der neuen Grundlage ent- 
faltet haben, können wir hier nicht eingehender verfolgen. Am meiften litt 
die von Luther jo bitter gejhmähte und veradtete Philoſophie, die denn 
auch bis auf Leibniz feinen namhafteren Vertreter fand, d. h. bis auf einen 
Denker, der ſich von der altproteftantifhen Dogmatik völlig losgemacht hatte 
und fih auf allen Punkten der fatholiihen Lehre näherte, ja eine Wieder: 
vereinigung der Getrennten lebhaft betrieb. Die Zerfahrenheit der ver- 
ſchiedenen Selten und Lehrigfteme ließ den Proteftantismus zu feinem ab- 
geſchloſſenen dogmatiſchen Lehrgebäude fommen, das der katholiſchen Dog- 
matit und deren Repräfentanten gegenüber einen imponierenden Eindrud 
machen könnte. Selbft in den biblifchen Studien vermochten fie die Katholiken 
nicht zu überflügeln. Auf allen andern Gebieten ftehen den proteftantiichen 
Leiftungen gleichwertige und oft bedeutendere der Katholiken gegenüber. 
Namentlih find die Naturwiffenfchaften der neuen Lehre zu geringem Dank 
verpflichtet; denn fie wurden durch diefelbe mehr gehemmt als gefördert. 
Die großen Bahnbreder auf dem Gebiete der modernen Erfindungen ftehen 
meift auf fatholiihem Boden, wie Gopernicus, Galilei, Descartes, oder 
näherten fi ihm, wie Kepler. 

Jene Neubelebung antifer Kunſt und Literatur, jenes Neid der voll: 
endetſten Harmonie und Schönheit, wie es die Humaniften am Anfang des 
16. Jahrhunderts erträumt hatten, blieb im Norden der Alpen ein bloßer 
Traum, und nad unfäglihem Kampf und Hader endigte die furdtbare Ent: 
täufhung in den Schredniffen und Verwüſtungen des Dreikigjährigen Krieges. 

Die unbefangene Freude und Begeifterung, mit welcher die italieniſchen 
Künftler und Dichter der Renaifjance fih dem Studium der Alten ergaben 
und deren Formſchönheit in allen Arten von Stoffen, chriſtlichen wie antiken, 
nahzubilden ſuchten, ward den Deutihen durch unaufhörliches politiiches 
und religiöjes Gezänfe vergält. Auch fie wurden in den Hader und die 
Polemik des Tages Hineingezogen. Wie Cranach Handlangerdienite leiſten 
mußte, um die alte Kirche zu verhöhnen, mußten die Poeten und Magiftri 
der ſchönen Künſte vor allem in Vers und Proſa den „Antichrift” befämpfen, 
das neue Evangelium verherrlihen und den Fürſten lobfingen, die ſich aus 
dem geraubten Kirchen- und Kloſtergut neue Schlöffer und Paläfte bauten, 
der Mehrzahl nah aber auf Zafelfreuden und andere materielle Genüffe 
mehr Geld verwendeten als auf die ſchöne Kunſt. Köche wurden befjer 
bezahlt als Profefjoren und Dichter. Die meiften Poeten hatten darum 
mit jehr widrigen Lebensihidjalen zu ringen, wenn nicht eine Anftellung 
als Prediger fie der drüdendften Sorgen überhob, dann aber aud mehr 
oder weniger nötigte, ſich vorzugsweiſe religiöfer Dichtung zuzumenden, 
innerhalb des engen Rahmens, den das „vergeiftigte“ Chriftentum und fein 
verödeter Kultus der Poeſie noch gönnte. 


Der Humanismus im Dienfte der neuen Lehre. 617 


Unter den neulateinischen Poeten begegnet und deshalb vor allem eine 
unabjehbare Menge von Predigern, Schulreftoren, Univerfitätg:- und Gym: 
nafialprofefjoren, welde die Pfalmen in horaziſche Versmaße bringen, das 
Neue Teftament oder vereinzelte Bücher und Erzählungen des Alten in 
Herametern bearbeiten, kirchliche und erbauliche Lieder aller Art in die ver: 
Ichiedenften antifen Strophenmaße umjegen, endlid in einer Unzahl von 
Gelegenheitägedihten Fürften und Potentaten, geiftfihe und weltliche Feſte, 
Kichweihen, Taufſchmäuſe, Hochzeiten, Beerdigungen, Inftallationen, all: 
gemeine Freuden und Sataftrophen befingen. 

Melanchthon befak noch Geihmad genug, um fi mit Epigrammen 
zu begnügen; aud die Elegien jeines Schwiegerſohns Georg Sabinus, 
de3 erjten Rektors der Univerfität Königsberg, verraten nod den Humaniften 
der älteren Schule!. Ebenfo zeigt Jakob Micyllus (Molger 1503—1558), 
Rektor zu Frankfurt a. M., in feinen Elegien und Sylben wie in jeiner 
Mojelreife noch den eigentlich humaniftiihen Poetentrieb?. Joahim Game: 
rarius fteigt ſchon mehr ins Praktiihe und Alltägliche hinab; ebenjo 
Johannes Spangenberg, der Generalfuperintendent von Eisleben. 
Bincentius Opfopoeus, der feine geiftlihe Anftellung bejefien zu 
haben jcheint, erging ſich dagegen ſtudentiſch im drei Büchern bon der 
„Kunft zu trinfen“, in vier Büchern von der „Kunſt zu ſcherzen“ und in 
einem Buch don der „Kunſt zu lieben” und andern „Erheiterungen“. Das 
bodhfeierlihe Pathos des Prediger mit jenem des höfiichen Feſtdichters 
verbindet dagegen Johannes Stigelius, der 1562 als Profeſſor in 
Wittenberg ftarb. Luthers Schwager aber, Georg Demler (Aemilius), 
Superintendent zu Stolberg, ift in noch höherem Grade der eigentliche 
Prediger-Dichter, der jogar die Sonntagsperitopen in „heroifhe Versmaße“ 
umjchmiedete. 

Georg Fabricius (1516—1571), der verdienftvolle Rektor der 
Meikener Fürſtenſchule, verfaßte gemandte Oden, Hymnen, religiöfe und 
Gelegenheitägedichte aller Art (je ein Bud; epithalamiorum, vietoriarum 
caelestium und itinerum, dazu 25 Bücher poematum sacrorum), gab 
lateinische Slajfifer und Kommentare zu denjelben heraus und ſuchte auch 
ernftlih Fühlung mit der älteren chriftlihen Poeſie. Aus dieſem letzteren 
Streben ging jein Sammelwerf hervor: Poetarum veterum ecclesiasti- 
corum opera christiana et operum reliquiae ac fragmenta (Bajel 
1562), ein unbeabfihtigter Rüdzug zur patriftijchen Überlieferung und zur 





!G. Sabinus, Poemata, Lips. 1563 1578 1581 1589 1597 1606; Elegiae, 
Lips. 1560; Witteb. 1551. — M. Zöppen, Die Gründung der Univerfität Königs— 
berg und das Leben ihres erjten Rektors G. S., Königsberg 1844. 

2 J. Micyllus, Hodoeporicon ete. (Wittenberg 1527); Elegia de duobus 
alconibus (ebd. 1539); Sylvarım libri V (Frankfurt 1564). 


618 Viertes Kapitel. 


fatholiichen Literatur, dem fih im Laufe der Zeit noch mande mwadere 
proteftantiiche Forſcher von ernft religiöfer Gefinnung ebenſo unabſichtlich 
angeihloffen haben, befonders fein Namensvetter Johann Albert Fabri- 
cius in der großen Bibliotheca latina mediae et infimae aetatis 
(1734 —1736)1, 


Johann Posfel (1582—1591), Profefior zu Roftod, bradte das Neue 
Zeftament in Iateinifche Verſe; Georg Bersmann (1588— 1611), Gymnafialreftor 
zu Zerbft, ſetzte die Pjalmen in lateinifche Oden um, was Kaſpar Barth aus 
Küftrin (1587—1658) ſchon als Knabe von zehn Jahren verſucht haben ſoll. 
Lauren; Rhodomannus aus Stolberg (1546—1606), ein ausgezeichneter Philo- 
loge, befonders Gräzift, begnügte fich nicht, in griechiſcher Sprache „Argonautifa“, 
„Thebaika“, „Zroifa* und fogar eine „Kleine Ilias“ zu dichten, welche von vielen 
für wirkliche antife Gedichte gehalten wurden, ſondern machte aud ben bemerfens- 
werten Verſuch, die Quther-Legende zu einem lateiniſchen Epos zu, geftalten und bamit 
der katholiſchen Legende eine proteftantifche gegenüberzuftellen. Schon Johannes 
Pollicarius aus Zwidau hatte übrigens 1549 in einigen Gedichten die „Wohl- 
taten“ befungen, „weldde Gott durch Lutherus dem Erbfreis erwiefen hat”, 

Zu ben frudhtbareren und vielfeitigeren Poeten find zu reinen: Johannes 
Major (1583—1600), Profeffor in Wittenberg; Johannes Clajus aus Herz 
berg (1535—1592), zuleßt Pfarrer in Bendeleben bei Franfenhaufen; Johannes 
Lauterbach (1531—1593), Rektor in Heilbronn; Anton Moker (1540—1607), 
Profefior und Ratsherr in Hildesheim; Valentin Shred (1527—1602), Schul« 
reftor in Danzig; Nilolaus Neusner (1545—1602), Rektor ber Univerfität 
Yena; Konrad Ritterhaus (1560—1613), Profefior ber Rechte in Altorf: 
Friedrid Taubmann (1565—1613), Profeffor der Poefie zu Wittenberg *. 

Taubmann ſtand mit einer Menge von Gelehrten und Schöngeiftern feiner Zeit 
in Briefwechſel und wurde von manden als eine Autorität in humaniftifchen Studien 
angejehen; mit ben gleichzeitigen nieberlänbifhen Philologen konnte er fich nicht 
meflen, und Scaliger foll von ihm gejagt haben: Taubmann est un fou, un pauvre 
prestre, son Plaute ne sera pas grand cas. Die meiften feiner Jugenddichtungen 
(Lusus duo iuveniles, Martinalia et Bacchanalia [1592] und Columbae poeticae 
[1593]) vereinigte er mit vielen andern Gedichten zu einem 614 Seiten ftarfen Bande, 
ber den Titel führt: Melodaesia sive Epulum Musaeum. In quo, praeter recens 
apparatas lautiores iterum apponuntur plurimae de fugitivis olim columbis 
poeticis. Et una eduntur Ludi iuveniles. Martinalia et Bacchanalia cum pro- 
ductione Gynaecei. Die Gedichte find weniger barod ala ber Titel: fie zeigen große 
Leichtigkeit in Sprade, Ausdrud und Vers und eine gewifie Gewanbtheit, alltägliche 
Stoffe friſch und originell zu behandeln; aber hoch erheben fich dieſe Versübungen 
nirgends, oft find fie mit unfaubern Schnurren verbrämt. 





!G. Fabricius, Ad Deum omnipotentem odarum liber unus (Witten: 
berg 1545), Epithalamiorum (Leipzig 1551), Vietoriarum coelestium (ebd. 1553), 
Itinerum (ebd. 1560), Poematum sacror. libri XV (Bajel 1560), Poematum sacror- 
libri XXV (ebb. 1567), Paeanum angelicorum libri III (Leipzig ohne Datum). 

®2 F, Taubmannus, Columbae poetieae (Wittenberg 1594), Melodaesia 
seu Epulum Musaeum (Leipzig 1597 ff), Schediasmata poetica (Wittenberg 1610), 
Posthuma schediasmata (ebd. 1617). — F. W. Ebeling, Friedr. Zaubmann, 
Ein KAulturbild, Leipzig 1884. 


Der Humanismus im Dienfte der neuen Lehre. 619 


Ein talentvollerer und gewandterer Formklünftler war Paul Meliſſus 
(Schede), 1539 zu Melrihftadt in Franken geboren!. Er jtudierte in Erfurt, 
Jena, Wien, wurde von Kaifer Ferdinand I. ald Dichter getrönt und 
1564 fogar geadelt, lebte dann in Wittenberg und Yeipzig, in Würzburg 
und wieder in Wien, durchreiſte Italien und Frankreich, überreichte 1582 
perjönlih feine Gedichte der Königin Elifabeth zu Richmond, blieb aber 
nit, ſondern fehrte über Frankfurt nach Heidelberg zurüf, wo er 1602 
ftarb, ein verjpäteter Wandervogel der älteren Humaniftenzeit, ohne ſpezifiſch 
fonfejfionelle8 Gepräge.. Die antiken Formen, von den einfachften Jamben 
bis zu umfangreihem pindariihen Strophengebäube, handhabt er gewandt; 
aber jeine Sprache zehrt allzufehr von feinen antilen Muftern; Phrajen- 
ſchwall und Wortgeklingel übertönen oft den dünnen Gehalt. Am beiten 
find ihm feine Meletemata pia, frommserbaulidhe, häusliche, bibliſch-epiſche 
Stüde, gelungen? Sein Wunjd, neben Geltis, Hutten und Lotichins als 
der vierte der fränkischen Sterne am poetiihen Himmel zu ftrahlen, ſchien 
fi zu jeiner Zeit zu erfüllen, da er mit einer Menge von Gelehrten wie 
Scaliger, Stephanus, Muretus, Sturm, Lipfius, Stigel, Doufa, Eamerarius, 
Orlandus Laffus und Tyco de Brahe in Beziehung ftand und einige dieſer 
Männer feine Lobgedichte auf fie dankbar erwiderten; doch hat diefer Ruhm 
jpäter nicht ftandgehalten. 

Als der bedeutendfte Neulateiner der proteſtantiſchen Kreiſe gilt nächſt 
Hutten Betrus Secundus Lotichius, 1528 zu Niederzell bei Schlüchtern 
geboren, ein Neffe des Abtes Petrus Lotihius zu Schlüchtern, dur den 
das Gebiet dieſes Klofter® der neuen Lehre anheimfiel. Er ftudierte in 
Marburg, Leipzig und Wittenberg, machte den Schmaltaldifchen Krieg mit, 
ward 1550 Magifter in Wittenberg, durchzog als Führer junger Adeliger 
Frankreich und Italien, ward in Padua Doktor der Medizin, nahm in 
Bologna duch ein Berjehen Gift ein, das jeine Gejundheit untergeub und 
1560 jeinen Tod herbeiführte®. Mit der Begeifterung eines wirklichen 
Dichters hat er fi in Italien in die Dichtungen Vergils und Ovids hinein: 
gelebt und die tiefen Eindrüde dieſes lebendigen Humanismus in jchön 
abgerundeten Dichtungen wiedergegeben, dabei aber aud die fromme Ge: 
finnung eines chriſtlichen Humaniften bewahrt und diejelbe in würdigen 
Gedichten über die Geburt Chrifti und andere Geheimniffe betätigt. 

'E Shmibt, „Melifjus* (Allgem. Deutiche Biographie XXI 293— 297). — 
D. TZaubert, Paul Schebe, Torgau 1864. — Höpfner, Reformbeftrebungen auf 
dem Gebiete ber deutſchen Dichtung des 16. und 17. Jahrhunderts, Berlin 1866, 26 fi. 

2 P. Melissus, Schediasmata poetica (Frankfurt a. M. 1574), Schedias- 
matum reliquiae (ebd. 1575), Meletematum piorum libri VIII ete. (ebd. 1595). 

> P, Lotiechius Secundus, Poemata (Leipzig 1563 1577 1580 1586), 


Opera omnia (ebd. 1586 1608 1609), Poemata, ed. P. Burmannus (Amfterdam 
1754), Elegien (deutih von €. ©. Köftlin, Halle 1826). 





620 Viertes Kapitel. 


Einen feiner mädhtigften Helfer fand Philipp Melandthon an dem 
borzügliden Pädagogen Johann Sturm in Straßburg, der, 1507 ge— 
boren, feine Erziehung noch zu Lüttich bei den Brüdern des gemeinjamen 
Lebens erhalten hatte umd die dort gewonnenen Anihauungen und Er— 
fahrungen älterer Schulüberlieferung von 1538 an mit viel Geidid an 
dem neugegründeten Gymnafium im Eljaß zur Geltung bradte!. Unter 
anderem brachte er eine große Hochſchätzung der lateiniſchen Konverſation 
und deshalb aud des lateiniihen Schultheaterd mit und erinnerte fih als 
Greis nod mit Vergnügen daran, wie er einft als Fünfzehnjähriger den 
Stlaven Gela im „Phormio“ des Terentius gejpielt. Von Quarta an ließ 
er täglich theatraliihe Übungen Halten, und das Theater blieb feine Woche 
unbenugt. Es wurden nit nur Scenen aus Zerenz, Plautus, Ariftophanes 
und den griechiſchen Tragikern eingeübt, jondern auch ganze Stüde auf 
einer im Hofe der Akademie errichteten Holzbühne gegeben. 

Aus diefen Übungen wuchs dann im letzten Viertel des 16. Jahr: 
hunderts ein mehr jelbjtändiges Schuldrama hervor. Im Jahre 1576 
führte man ein Krippenſpiel auf: Carmius sive Messias in praesepi, 
von dem Schlefier Georg Röhrig (Galaminus, 1547—1595), wirklich 
fromm und poetiih im Stil der italienifchen Weihnachtseklogen gedichtet. 

Sm Jahre 1583 wurde der „Tobias“ des Harlemer Rektors Gor: 
nelius Schonaeus (1540 —1611) gegeben, 1596 eine „Ejther“ von Cornelius 
Laurimanus, 1597 „Der Verkauf Joſephs“ (Comoedia sacra Iosephi 
venditi) von Negidius Hunnius, 1598 die „Medea“ des Euripides im 
griechiſchen Tert, 1599 eine „Lucretia“ des Samuel Junius, eines 
Schleſiers, 1603 der „Jeremias“ des Thomas Naogeorgius (Kirchmayr), 
1604 die „Alceſtis“ des Euripides, 1605 deſſen „Hecuba“ und der von dem 
Wittenberger Profeffor Daniel Cramer (1568—1637) verfaßte „Sächſiſche 
Prinzenraub“ (Plagium), 1607 „Der Brand Sodomas“ von Andreas 
Saurius aus Frankenberg, 1608 der „Amphitruo” des Plautus und der 
„Ajax“ des Sophofles, 1609 der „Baltaffar” des Heinrih Hirtzwig und 
der „Prometheus“ des Aeſchylos, 1611 der „Eröfus“ des Straßburger 
Profeffors Joh. Paul Erufius (1588—1629), 1613 die „Andromeda” 
des Magifters Kaſpar Brulow und ebenfo deffen „Elias“, ferner die „Wolten“ 
des Ariftophanes, zu denen Iſaak Fröreiſen eine freie Überfegung lieferte. 





ı Ch. Schmidt, La vie et les travaux de Jean Sturm, Strasb. 1855. — 
Fr. 8. Kaifer, Joh. Sturm, fein Bildungsgang und jeine Verbienfte, Köln 1872. 
— 8, Küdelbahn, Johannes Sturm, Leipzig 1872. — €. Laas, Die Pädagogif 
des J. Sturm, Berlin 1872. — J. Erüger, Zur Straßburger Schulfomödie (Feſt⸗ 
Ihrift zur Feier des 350jährigen Beſtehens des proteftantifhen Gymnafiums zu Straß- 
burg [1888] 305—854). — 5. Pauljen, Geſchichte des gelehrten Unterrichts, 
Leipzig 1885, 193 ff 252 ff. 


Der Humanismus im Dienfte der neuen Lehre, 621 


In den folgenden Jahren erjcheint dann noch eine „Chariclia“, ein 
„Julius Cäſar“ und ein „Mojes“ von Brulow, ein „Nebuladnezar” von 
Grufius und ein anonymer „Heliodor”. Nach dem „Mojes“ des Brulow 
(1621) jcheint der Dreißigjährige Krieg den regelmäßigen Lauf diefer Jugend: 
bühne unterbroden zu haben. 

Ihr Vorbild ſchuf die proteftantiihe Schuldramatif aber nicht aus 
fi, fie fand dasſelbe jhon bei den Höfterlihen Pädagogen der alten Kirche, 
beionder& bei Makropedius. 

Wie die lateiniſche Sprache an fi, fo hätte auch die lateinische Schul- 
dramatik, bejonders die biblifhe, ein Annäherungsmittel der Konfeffionen 
werden können; allein das erlaubte der reformatorifhe Eifer nicht. „Geift- 
lihe und Lehrer verbreiteten mit diefen Spielen, von denen die Mehrzahl 
bibliſche Stoffe behandelt, reformatorifche Lehren.“ 1 

„Mit der Zeit machte fih ein Unterſchied zwifchen ber proteftantifchen und 
fatholiihen Schulkomödie geltend, da erftere immer mehr und mehr zur bloßen Form 
für allerlei politiſche und kirchliche, beſonders gegen den Papismus gerichtete Kontro- 
verjen, bie oft mit geiftvoller (2?) Satire gewürzt waren, herabjanf, während bie 


Jeſuiten in aller Stille in ihren Schulen wirkten und ihre bibliſch-hiſtoriſchen Stüde 
aufführen ließen.“ ? 


Die polemifche Tendenz und der rohe, jchimpfjelige Ton Hat einen 
großen Teil diefer Stüde wirklich unrettbar verdorben und dem künſtleriſchen 
Geſchmack unfäglihen Schaden zugefügt ®. 

Die Namen all der löblihen Magiftri anzuführen, die auf der lateiniſchen 
Schulbühne den römischen Antichriſt befämpften, ift hier nicht möglid. Von 





Goedeke, Grundriß II 131. 

® Otto Francke, Terenz und bie lateinifhe Schulkomödie in Deutſchland, 
Weimar 1877, 62. — Bl. R.v. Reinhardftöttner, Zur Gejchichte des Fefuiten- 
dramas in Münden 8, 

® Die Verantwortung dafür trifft in erfter Linie Luther felbft, ber in feinem 
leidenfchaftlichen Eifer auch den Humanismus aufs grimmigfte befehdete, wenn er jeinen 
Abfichten irgendwie in die Quere fam. Es genügte ihm, daß Simon Lemnius 
feine zwei Bücher Epigramme dem Kurfürften Albredt von Mainz gewidmet batte, 
um ben barmlofen Humaniften als „ehrlojen Buben und Schandpoetafter” zu de— 
nunzieren, welcher wegen feiner Verje „billig den Kopf verlieren müßte‘. Lemnius, 
zur Flucht aus Wittenberg gezwungen und feiner ganzen Habe beraubt (1534), 
jchleuderte dann gegen Zuther die ſchneidende Satire Lucii Pisaei Iuvenalis Monacho- 
pornomachia. Erſt in feiner Heimat, zu Chur, fand Lemnius freie Muße zu ruhiger, 
humaniftifcher Tätigkeit, überjegte mehrere griechifche Autoren ins Lateinifhe und 
vollendete feine vaterländifche Epopde Libri IX de bello Suevico ab Helvetiis et 
Rhaetiis adversus Maximilianum Caesarem 1499 gesto (herausgeg. von P. Plattner, 
Chur 1874, überjeßt von Demfelben, ebd. 1882). Für feine „Eklogen“ unb feine 
lasziven, aber formgemwandten Amorum libri quattuor erhielt Lemnius den Poeten- 
lorbeer von Bologna. 


622 Viertes Kapitel. 


— 


den hundert Schuldramatikern, welche Goedele zuſammengeſtellt, find über 
ein Viertel, darunter die mwidtigften, Katholiten, einige ſogar Jejuiten, 
zahfreihe andere gehören dem Auslande an, nur etwa die Hälfte find 
deutſche Proteftanten. Bon diefen haben die meiften nur ein oder das 
andere Stüd gejchrieben, feiner reiht an die Bedeutung des Makro: 
pedius heran. 

Als harakteriftiihe und bedeutendere mögen von den proteftantijchen 
Schuldramatikern Stymmel, Sirt Birk, Naogeorg und Friſchlin hervor: 
gehoben werden !, 

Chriftophorus Stymmelius (Stymmel), 1525 zu Frankfurt a. O. 
geboren, dankt feine Berühmtheit einer Komödie, die er als neunzehnjähriger 
Student im feiner Baterftadt verfaßte?. Sie trägt den Titel Studentes. 
Comoedia de vita studiosorum. Sie jdhildert das unfäglich rohe, platte 
und unfaubere Studententreiben jener Zeit mit dem ungejchminkteften 
Realismus und ebenſo roher Komik und Ausgelaffenheit. Gervinus ver: 
gleicht diefes Studententreiben mit den roheften Nußerungen des Narren: 
weiens im auägehenden Mittelalter; er ift geneigt, für ihre Narrenfreigeit 
Duldung zu beanjpruchen. 

„Wenn fie an ber Einfalt und Philifterei, an Füchſen und Pennalen ihren 
Prutwillen üben, ſchwankt man zwifchen Lachen und Ärger. Die Reziprozität unter 
ihmen jelbft, ihre Verfpottungen und Streiche, die fie ſich jelbft fpielen, verweift ihnen 
niemand und fie jelbft fi auch nit. Die Freude an Objzönitäten, an Gemein- 
beiten, an Unflätigfeiten ift hier auch die befte Würze; gewöhnlich tragen die natür- 
lihen, die allgemeiner menſchlich empfindenden Burſchen diefen berben Gegenfaß bes 
Eynismus gegen die äußerlich glatten Corps öffentlih zur Schau, obwohl alle bie 
Narrenfappe und Schärpe tragen. Dieſe Vergleihung ift gar feine äußerliche, es ift 
eigentlich gar feine Bergleichung, ſondern die Sade jelbfi. Das öffentliche Leben in 
Deutihland zur Reformationszeit ift das wahre Studentenalter der Nation; das 
Heraustreten aus fich felbft, die Aufklärung in Religionsjahen, die erjte Bekanntſchaft 
mit dem Öffentlichen Leben (!) und der Wifjenichaft, teilt jedes Individuum in feinen 
Stubdentenjahren mit der Nation in der Reformationszeit.* ? 





ı %.Yanfien, Gejhichte des deutjchen Volkes VIL, Freiburg 1893, 106—118. 
— R. Prölß, Gejhichte der dramatiſchen Literatur und Kunft in Deutihhland 1, 
Leipzig 1883, 27-34. — H. Holftein, Die Reformation im Spiegelbilde ber 
dramatiihen Literatur, Halle 1886. — €. Schmidt (Die Bühnenverhältnifie des 
deutſchen Schuldramas ufw. im 16. Jahrhundert, Berlin 1903) berührt nur bie 
äußeren materiellen und technifchen Beziehungen der Schulbühne; man darf daraus 
aber keineswegs folgern, es hätte die fonfeffionelle und polemiſche Seite dabei nur 
eine untergeordnete Rolle geipielt. 

? Chr. Stymmelius, Studentes. Comoedia de vita studiosorum (Frant« 
furt a. d. O. 1549 1550; Köln 1552 1561; Straßburg 1562 u. ö.; überjeßt von 
F. 9. Meyer, GStubentica, Leipzig 1857); Isaac (Stettin 1579). 

»6.6. Gervinus, Geſchichte der poetifchen Nationalliteratur ber Deutſchen 
II?, Leipzig 1842, 354 355. 


Der Humanismus im Dienfte ber neuen Lehre, 623 


Stymmeld „Studenten“ fanden ungeheuern Beifall, wurden an den 
verfchiedenften Orten, Magdeburg, Köln, Leipzig, bis in die Mitte des 
17. Jahrhunderts immer und immer wieder neu aufgelegt, während jein 

x „Opfer Iſaaks“ nur ein fümmerliches literariſches Daſein friftete, 

Sirt Birk (xyſtus Betuleius), 1500 in Augsburg geboren, von 
1536— 1554 Reltor an der Annaſchule dajelbft, fchrieb faſt ausschließlich 
biblifhe Stüde, die er dann auch deutſch bearbeitete: Susanna, Eva, 
Sapientia Salomonis, Herodes sive Innocentes, Beel, Zorobabel, 
Iudith!, Er wollte die fittlih bedenllichen Stüde des Terenz an den 
Schulen zurüddrängen und dur andere erjegen, melde geeignet wären, 
gute Bürger heranzubilden (qui administrandae Reipublicae aliquam 
imaginem prae se ferunt). Seine „Judith“ war darauf gemünzt, Be— 
geifterung für den Türkenkrieg zu weden; in feinem „Beel“ aber wurde unter 
dem Bilde der Baalspfaffen mweidlid die „Latholifche Abgötterei“ bekämpft. 

Ein ungleich heftigerer Zelot war aber der Abenteurer Georg Kirch— 
mait, genannt Naogeorgus, der, 1512 in Straubing geboren, fi in Kahle, 
Augsburg, Kaufbeuren, Kempten, Stuttgart, Baſel umbhertrieb und endlich 
ald Prediger in Wisloh (1563) farb. Seine Tragödien: Pammachius, 
Mercator, Incendia, Hamanus, Hieremias und Iudas Iscariotes, find 
voll des Haffes gegen die alte Kirche, zum Teil geradezu dramatifterte 
Brandſchriften gegen diejelbe?. Dies beſagt 3. B. ſchon der Titel In- 
cendia seu Pyrgopolinices. Tragoedia recens nata, nefanda quo- 
rumdam papistici gregis exponens facinora — oder der andere: 
Tragoedia nova, Mercator seu Iudiecium. In qua in conspectum 
ponuntur Apostolica et Papistica doetrina, quantum utraque in 
conscientiae certamine valeat et efficiat, et quis utriusque futurus 
sit exitus. 

Haft wie ein zweiter Hutten nimmt fih unter den frömmigfeitstriefenden 
Schuldramatifern des 16. Jahrhunderts Nitodemus Frifhlin aus, ein 
bochbegabter, aber mehr ſatiriſcher ala pofitiv jchaffender Rhetor, leiden- 
Iichaftlih, heftig, deshalb in beftändige Händel verwidelt, denen er ſchließlich 
in traurigfter Weile erlag. Er wurde 1547 zu Balingen (Württemberg) 
geboren, wohin fein aus dem Thurgau ftammender Großvater eingewandert 
war. In Tübingen, wo er hauptſächlich ftudiert hatte, wurde er 1565 
Magifter und las dann über lateiniſche Klaſſiker, konnte es aber wegen 


ı H. Betuleius, Susanna. Comoedia tragica (Augsburg 1587); Eva (ebd, 
1589); Sapientia Salomonis (Marburg 1591); Iudith,. Drama comicotragicam 
(Augsburg um 1541) x. 

? Th. Naogeorgus, Pammachius (Wittenberg 1538); Mercator (ohne 
Drudort 1540); Incendia (Wittenberg 1551); Hamanus (Leipzig 1543); Hieremias 
(Bajel 1551); Iudas Iscariotes (ebd. 1552). 


624 Viertes Kapitel. 


feiner Händelſucht zu feiner Profeffur bringen. Weitere Händel verfeindeten 
ihn mit dem Adel und bradten ihn um die Gunft des Herzogs Ludwig, 
der ihm zeitweilig huldreich beſchützt und ihm beim Kaifer die Würde eines 
gefrönten „Dichters und Pfalzgrafen“ verjchafft Hatte. Wegen Ehebruhs # 
verflagt und verbannt, trieb er fih in Prag, Wittenberg und Braunſchweig 
herum, erregte durch neue Angriffe den Zorn der württembergiidhen Räte, 
ward auf ihr Betreiben 1596 in Mainz gefangen und auf Hohenutad) 
eingekerlert. Hier fuchte er fi die Zeit mit Dramenjchreiben zu kürzen, 
hielt das aber nicht aus, machte einen Fluchtverſuch und brach dabei das 
Genid, erſt dreiundpierzig Jahre alt. Für das einfah Schöne und Edle, 
für Maß und Harmonie der Alten fehlte Friſchlin die feinere Empfänglid: 
feit mie die jelbftändige Anlage!. Seine Tragddien „Dido“ (1581) und 
„Venus“ (1584) find bloße Dramatifierungen des vierten und erften Buches 
der Weneide. Ebenſo fußen die Helvetiogermani (1588) auf dem eriten 
Bud Cäſars vom Gallifhen Krieg, deifen nüchterner Beriht nur durd eine 
Thusnelda meretrix und deren ſchmutziges Treiben gepfeffert ift. Die 
Hildegardis magna (1579) ift eine Art Genovefa-Geſchichte, deren rührende 
Füge aber durch luſtſpielhafte Zutaten völlig abgefhwäht find. In der 
bibliijhen „Rebecca“ (1576) gehen die ſatiriſchen Scenen hauptſächlich gegen 
die rohen „Junler“ und Bauernjhinder, die ihrem Jagdvergnügen Schweiß 
und Wohl der Bauern opfern. In der „Suſanna“ (1577) geht Friichlin 
gegen die Advokaten und Wirte los; im Priscianus vapulans werden 
die geplagten Schulmeifter und Poeten in derbfter Weiſe verhöhnt. Im 
Phasma (1580) werden Luther und Brenz verhimmelt, während der Teufel 
den Zwingli, Karlitadt, Schwentfeld und das ganze tridentiniſche Konzil 
holt. Die merkwürdigſte Leiftung Frifchlins ift aber wohl fein Iulius 
Caesar redivivus, eine Komödie, die er fhon 1572 begann, 1580 
wieder aufnahm und 1584 vollendete. Mit der plumpften Prahlerei und 
Selbfigefälligfeit von der Welt feiert hier der deutſche Humanismus jene 
vermeintliche Überlegenheit über jenen der romaniſchen Völker, während er 
jelbft tatſächlich ſchon am Ausgeiftern war, die italieniihe Renaifjance aber 
noch immer die reichften Zweige und Blüten trieb. 

Mercurius Pinhopompus führt den Cäſar und Cicero aus der Unter: 
welt herauf und bringt fie über Straßburg, Augsburg und Nürnberg ins 





ı N. Frischlinus, Priscianus vapulans (Erfurt 1571); Rebecca (Frant- 
furt 1576); Susanna (Tübingen 1578); Hildegardis magna (ebd. 1579); Dido (ebd. 
1581); Venus (ebd. 1584); Iulius redivivus (ebd. 1584); Helvetiogermani (Straß 
burg 1589); Comoediae sex, tragoediae duae (ebd. 1587); Opera poetica (ebd. 
1585 1587 1589 u. ö.). — 2. F. Strauß, Leben und Schriften des Dichters und 
Philologen Nikodemus Friſchlin, Frankfurt 1855. — W. Scherer, Art. „Friſchlin“ 
(Allgem. Deutſche Biographie VIII 96—104). 


Der Humanismus im Dienfte der neuen Lehre. 625 


Schmabenland, wo ein Herzog Hermann als Vertreter deutſcher Helden- 
haftigkeit und Kriegstüchtigkeit, Eoban Hefius als Vertreter deutjcher Geiftes- 
bildung fie empfängt. Schon das Abfeuern einer Ylinte erjchredt fie der: 
maßen, daß fie den Herzog Hermann für Juppiter halten und ftaunend 
von ihm erfahren, daß ein Deutjcher das Pulver erfunden hat. Eoban 
aber ſucht dem Cäſar Har zu maden, daß ein deutjcher Kaifer etwas ganz 
anderes zu bedeuten habe al3 er. Während Hermann den römischen Im— 
perator in ein Zeughaus führt, geleitet Eoban den Eicero in eine Druderei, 
wo ihm mit den Wundern der Buchdruderfunft die ganze neulateinijche 
Literatur gezeigt wird. Dieſe Belehrung der zwei großen Römer über die 
wunderbaren Fortjchritte der Germanen zieht fih durch drei ganze Afte Hin 
und ift mit den eingehendften Ausführungen über Pulverbereitung und 
Drudverfahren verbunden. Als Schattengeftalten find dem ſchwäbiſchen 
Herzog und dem heſſiſchen Poeten ein ſavoyiſcher Krämer und ein italienischer 
Spazzacamino gegenübergeftellt, der erftere als ein lügnerifcher und be— 
trügerifcher Mädchenfänger, der andere als ein armer Zeufel gejchildert, 
der ein verdorbenes Latein lallt: die beiden jollen die romaniſchen Nationen 
bedeuten. Dem ſavoyiſchen Krämer wird der moderne Luxus zugejchrieben, 
durch den Deutſchland verweidhliht und entnerbt worden fein joll, und 
Herzog Hermann will ihn dafür im vierten Alte beftrafen; allein Mercurius 
macht geltend, daß die Entnervung mehr vom germanifhen Schlemmen und 
Saufen fomme. So ift die ſchwache Verwidlung ſchon gelöft, und für den 
fünften Alt bleibt nur die Aufgabe übrig, Cäſar und Cicero wieder in die 
Unterwelt zurüdzuholen. Zu diefem Zmede erſcheint Gott Pluto felbft, der 
den italienischen Saminfeger bei der erften Begegnung für feinen Bruder 
hält. Diefer will aber nichts mit ihm zu tun haben, und Merkur beruhigt 
den Fürſten der Unterwelt mit der Nachricht, daß er die beiden Römer 
bereit3 wieder nah Haufe gebracht habe. 

Kaum ein paar Jahre bevor ſich die Schwaben in Stuttgart über 
den italienischen Kaminfeger luftig madten, war in Italien zum erftenmal 
Taſſos „Befreites Jeruſalem“ erſchienen, eine der ſchönſten Blüten der 
italieniijhen Spätrenaiffance, ein Werk, wie es Deutihland noch in den 
zwei nächſten Jahrhunderten nicht befiten jollte. 

In England tat der Kloſterſturm und Kirchenraub den Studien einen 
großen Schaden an, da Univerfitäten wie Mittelfhulen hauptſächlich auf 
ficrhlihen Stiftungen beruhten. Die furze Regierung der katholiihen Maria 
fonnte das angerichtete Unheil nicht wieder gutmachen. Unter Elifabeth 
wurden zahlreiche neue Lateinfchulen gegründet, aber kärglich ausgeftattet. 
Bon der religiöjen Neuerung abgejehen, hielt fi der Unterriht, wie an 
Sturms Schule zu Straßburg, ziemlih in den alten Geleifen. Die her: 


gebradhten Autoren (neben Vergil und Horaz auch Prudentius und Sedulius) 
Baumgartner, Weltliteratur. IV, 3. u. 4. Aufl. 40 


626 Viertes Kapitel, 


wurden fleißig gelefen und fommentiert, die lateinischen Dichter in maflen- 
haften Schulverjen nachgeahmt. Wie in Jtalien und Spanien jagten ſich 
indes die meiften und größten literariihen Talente von der lateinifhen Schul: 
poefie los und meihten all ihre Kräfte der Volksſprache. Weder die formelle 
Bildung, welche die Lateinſchule gewährte, noch die zeitgenöffiihe Renaiffances 
literatur der Italiener und Spanier blieb ohne tiefgreifenden Einfluß auf 
die reihe, nationale Poefie, welche während der glanzvollen Regierung 
Elifabetö3 emporblühte. Thomas Wyatt, Philipp Sidney, John Lily und 
Edmund Spenjer weiſen ebenfo die Vorteile wie die Nachteile jenes doppelten 
Einfluffes auf; in dem genialen Shatefpeare hat fi) der kernhafte englifche 
Vollsgeiſt des Mittelalters in glängendfter Weiſe mit der literariichen Bildung 
der jpäteren Renaifjancezeit verbunden. Neben ihm verſchwinden freilich die 
wenigen lateiniſchen Schulpoeten Großbritanniens, wie der Satiriker Jojeph 
Hall, Biſchof von Norwich (geft. 1656), und der tapfere ſchottiſche Kriegs: 
mann und Epiler Markt Duncan Gerijantes (geb. 1648) völlig im 
Schatten. Der einzige Neulateiner, der auch im Ausland zu einigem Ruf 
gelangte, ift der Epigrammatiter John Owen (Audoenus) aus Carnaerbon 
in Wales (geb. um 1560, geft. 1623)1. Eine Anzahl ſchmutziger und 
polemifher Epigramme haben ihn auf den römifhen Inder, bei deffen 
Gegnern aber zu hohen Ehren gebradt. Weitaus die meiften feiner knappen, 
geiftreihen, wohlabgerundeten Sinngedichte find indes völlig harmlofer Natur: 
artige Komplimente an Freunde und Gönner, ſatiriſche Wurfpfeile auf 
einzelne Nationen, Stände, Berufsflaffen, gute Einfälle heiterer oder ernfter 
Natur, wigige Bemerkungen und Antithefen der verfchiedenften Art, oft aud 
bloße Wortipiele und Künfteleien?. In nit wenigen Sprücden beklagt er 
die tiefen Schäden feiner Zeit, die religiöje Zerfplitterung, die Abnahme des 
Glaubens bei Vermehrung der Glaubensbelenntniffe, die zunehmende Geld: 
ſucht und Sittenlofigteit, die Unmwahrhaftigkeit der Parteihiftorifer, die Willkür 
in religiöfen Dingen, das Umfichgreifen des Atheismus. Ganz ungereimt 
findet er die Abneigung gegen die Kreuzesbilder. Des Thomas Morus 
gedenft er mit herzlichem Lob, und jogar die jungfräuliche Gottesmutter feiert 
er in einem huldigenden Spruche. Der berühmte Kanzler Franz Bacon 
ſchrieb feine epochemachenden wiſſenſchaftlichen Hauptwerke De dignitate 
et augmentis scientiarum und das Novum Organon in lateiniſcher 
Sprache; ſeine Essais und ſeinen ſozialpolitiſchen Roman „Die neue 


1. Owenus, Epigrammata (London 1606 1612 1617; Amſterdam 1624; 
Leiden 1628 u. ö.). 

?® Eine in Köln erfhienene, gereinigte Ausgabe ift beöhalb fehr reichhaltig 
ausgefallen: I, Oweni, alias Audoeni Epigrammatum libri X. Editio nova 
catholica, ab omni obscoenitate et piarum aurium offendiculo expurgata, Co- 
loniae 1708, 


Der Humanismus im Dienfte der neuen Lehre. 627 


Atlantis“ auf engliih. So jehr feine religiöfen Anſchauungen von jenen des 
Thomas Morus abftehhen, jo ift in denjelben doch eine gewiffe Duldſamkeit 
gegen den Katholizismus unverkennbar, und jein großes Hauptwerk richtet 
ſich Fachlich faft mehr gegen die einjeitig humaniſtiſche Bildung als gegen 
die bisherige Philofophie. 

Die Niederlande blieben um faft ein halbes Jahrhundert länger mit 
der Kirche vereint als das nördliche Deutihland. Nachdem fih dann die 
holländifchen Provinzen (1566) von ihr losgejagt, waren noch allenthalben 
Männer, welde früher die katholiſche Schulbildung erhalten hatten!. So 
hatte Jan van der Does (Janus Dufa), der erfte Kurator der 1575 
gegründeten Univerfität Leiden, nod in Löwen, Douai und Paris ftudiert. 
Unter ihm lehrte dajelbft von 1579—1590 Juftus Lipfius. Nach defien 
- Abgang gewann er für den Lehrftuhl der Haffiihen Studien Joſeph 
Juſtus Scaliger, der neben Lipfius und Caſaubonus zu den größten 
Gelehrten jener Zeit gerechnet wurde, bi zu feinem dreiundzwanzigften 
Sabre noch katholifh war, erft 1563 dur Viret und Chandieu für den 
Galvinismus gewonnen wurde, fi aber auch dann nicht in religiöje Kontro— 
verjen mijchte, fondern als Latinift, Gräzift, Orientalift und ausgezeichneter. 
Chronologe ganz den humaniſtiſchen und hiſtoriſchen Studien lebte, einer 
der Hauptbegründer der neueren Philologie und Kritik. Obwohl der Sohn 
eines heftigen Geufen und in feiner Jugend von Marnir de Sainte-Aldegonde 
bevorzugt, blieb auh Daniel Heinjius (1580—1655) dem calviniftifhen 
Yanatismus ziemlich ferne, jo daß Urban VIII und Kardinal Barberini 
jogar den Verſuch machten, ihn für Rom zu gewinnen. Sein Sohn 
Nitolaus (1620-1681) trat 1649 in den Dienft der Königin Chriftine 
von Schweden, bejuchte in ihrem Auftrag Rom zu wiſſenſchaftlichen Zweden 
und betrieb auch fpäter, als Diplomat feines Heimatlandes, die humaniſti— 
hen Studien in großem, freifinnigem Stil, nicht wie die orthodoren Zions- 
wädter in Wittenberg. Peter Scriverius (Schrijver, 1576 —1660), 
als lateinischer Poet ebenjo angejehen wie als Philologe und Hiftorifer, 
fam wegen jeiner Freundſchaft mit Hoogerbeets, Grotius und andern 
Remonftranten in nidt ganz ungefährlihen Konflikt mit den extremen 
Galviniften. Peter van der Kun (Cunageus, 1586—1638) wurde von 
ihnen auf der Dordredhter Synode verdädtigt. Sogar der leichtfertige 
Diplomat Dominik Baude (Baudius, 1561—1613), deſſen Amores 
Scriverius 1638 herausgab, geriet in Gefahr, für halb ſpaniſch oder 
wenigftens unzuverläffig zu gelten. 

Der gelehrte Gerhard Joh. Voſſius (1577—1649) ward von ben: 
jelben Fanatikern wegen Mangels an echt proteftantifcher Gefinnung ſchmählich 


ı Qucian Müller, Geſch. d. Hafi. Philol. in den Niederlanden, Leipzig 1869. 
40* 


628 Viertes Kapitel. 


verfolgt und von jedem Lehramt ausgeihloffen. Hugo Grotius endlich 
(1583 — 1645), der größte Rechtsphiloſoph und einer der vieljeitigften 
Polyhiſtore der Niederlande, entging, um desjelben Grunde: willen, mit 
genauer Not der Hinrihtung und lebenslängliher Kerlerhaft nur duch die 
Treue und Klugheit feiner wadern rau. Der großartige Aufſchwung, 
den vom Ende deö 16. Jahrhunderts an die Hafliihen und humaniſtiſchen 
Studien in den Niederlanden gewonnen haben, ift jomit durchaus nicht ala 
eine Frucht des Proteftantismus zu betrachten, fondern der vielfahen Fühlung, 
welche die niederländifhen Gelehrten mit dem fatholifhen Europa behielten, 
der Unabhängigkeit, in welcher fie fi den fanatifchen Streittheologen gegen- 
über bewahrten, und der ernften Geiftesarbeit, welche fie unabhängig von 
dem Gezänte der Seftentheologen entfalteten. Es ift faum ein Zweifel, 
dak Grotius, wenigftens der Gefinnung nah, als Katholit geftorben ift!. 
Vondel, der fih zum Teil an ihm gejhult, der größte der holländifchen 
Dichter, ift 1641 offen zur alten Kirche zurüdgetreten. 

Mehr proteftantiich gefärbt war ein Kreis von Amfterdamer Poeten, 
mit welchen Vondel ebenfall® in Beziehung ftand: Peter Hooft, der 
Droft von Muyden, Kaſpar van Baerle (Barlaeus) und Konftantin 
Huygens. Dod unterhielten aud diefe Männer Yühlung mit der zeit: 
genöſſiſchen lateiniſchen und italieniihen Literatur Jtaliens, und Baerle 
forrefpondierte jogar freundf&haftlid mit dem Jeſuiten Jatob Balde. 

Die Hauptbedeutung all diefer Männer liegt unzweifelhaft in ihren 
philologiſchen, kritiſchen und biftoriichen Leiftungen; wenn fie indes meift 
bis in ihr Alter die Luft beibehielten, lateiniſche Verſe zu machen, jo ift 
das ficher nicht als bloße Spielerei zu betrachten. Dieje Übung hat nicht 
wenig dazu beigetragen, daß fie immer tiefer in das Verſtändnis der Alten 
eindrangen, ihren Geihmad ſich zu eigen machten, ſich für diefelben begeifterten, 
gleichſam in ihrer Sprachſphäre lebten und webten. Als der gewandtefte Form— 
fünftler unter ihnen gilt der jüngere Heinfius, der jeine Gedichtſammlung der 
Königin Ehriftine widmete. Auch ein Lobgefang des älteren Heinfius auf 
GHriftus, einem Hymnus des Lykophron nadhgebildet, wurde viel bewundert, 
während jein Herodes infanticida mehr deflamatorifch als dramatisch zu nennen 
it. Auch der Christus patiens des Grotius verdient mehr wegen des ſchönen 
Latein als wegen feiner dramatiichen Form Beadhtung. Seine Dramen Adamus 
exul und Sophompaneas haben Bondel zu einigen feiner beiten Stüde an- 
geregt; unter feinen Gedichten findet fi auch eines an die Mutter des Erlöſers?. 





6. Broere, Hugo Grotius’ Rückkehr zum katholiſchen Glauben (1856); 
beutih von 2. Elarus, Trier 1871. 

® H. Grotius, Poemata collecta (Leiden 1617 1639 ff); Batavia. Carmen 
(Haag 1608); Christus patiens. Tragoedia (Leiden 1608); Sacra, in quibus Adamus 
exul. Tragoedia (Dordrecht 1799). 


Fünftes Kapitel. Das lateiniſche Schuldrama der Jeſuiten. 629 


Die Gönnerſchaft, welche Königin Chriſtine den Studien und der 
Poefie angedeihen ließ, trug nicht wenig bei, daß diejelben von Holland aus 
au in den nordiſchen Reihen Eingang fanden. Selbit Island, die Ultima 
Thule, erhielt feinen neulateiniihen Dichter an dem berühmten Auffinder 
der älteren Edda, Brynjölfr Speinsjon, Bilhof von Stälholt (1605 
bis 1674), der unter anderem eine reihe Sammlung von Gedichten an. die 
allerjeligfte Jungfrau, darunter ein ſchönes Marienleben in den verjchiedeniten 
antifen Versmaßen, Hinterliep !. 

Nahdem er das ganze Leben der Hochbegnadigten Himmelskönigin 
liebevoll betrachtet, richtet er an fie die rührend fromme Bitte: 


Tu, Regina, Dei dotibus inclyta, 
Ceu collum capiti proxima subsides; 
Quidvis accipis inde, 
Et, quod suscipis, impetras. 
Excellens superum gloria civium, 
Angustis fer opem rebus et asperis, 


Cui non defuit unquam 
Praesens copia gratiae. 


Quas debent inopes reddere gratias 
Pro summis homines muneribus Deo, 
Clemens atque benigna 
Nostro nomine solvito. 


Sic longum faveas gentibus indigis, 
Et nos multipliei crimine sordidos 
Commendare memento, 
Mater sedula, Filio. 


Sünftes Kapitel. 
Das lateinifhe Shuldrama der Sefuiten. 


Mit andern Überlieferungen katholiſcher Pädagogik ging die Pflege des 
lateiniſchen Schuldramas als jelbftverftändliche Erbichaft an die Schulen 
der Gejellichaft Jefu über, melde, 1540 von Papſt Paul III. beftätigt, 
ih mit großer Rafchheit durch ganz Europa verbreitete und im Jahre 1580 
bereit3 5000 Mitglieder zählte. Der Orden ftrebte, nad) der Abficht des 


U Baumgartner, Ein proteftantifher Mariendichter. Biſchof Brynjölfr 
Speinsfon von Sfälholt (Stimmen aus Maria-Laach XXXVII [1890] 508—525). 
— Jön Thorkelsson, Om Digtningen i Island i det 15. og 16. Ärhundrede, 
Kjöbenhavn 1888, 113. 


630 Fünftes Kapitel, 


Stifter umd feiner erften Genofien, in erfter Linie die Erneuerung des 
religiöfen Lebens in den katholiſchen Ländern, die Verbreitung desjelben in 
den Miffionsländern, die Verteidigung desjelben in den vom Abfall bedrohten 
oder Schon abgefallenen Staaten an. Erziehung und Unterricht der Jugend 
jollten eines der großen Mittel fein, um dieſes Ziel zu erreichen, aber weder 
das erſte noch das ausſchließliche. Sie jollten der Spendung der Sakra— 
mente, der Predigt und Katecheſe, den Werfen der geiftlihen und leiblichen 
Barmherzigkeit zur Seite gehen, um dem priefterlihen Wirken eine geficherte 
Hortdauer zu verichaffen. Unter den von der Gefellihaft gepflegten Wiſſen— 
ihaften nahmen hinwieder Theologie und Philofophie den erſten Platz ein. 
Nur als Vorbereitung für die höheren Unterrichtsfächer wurden die huma— 
niftiihen Studien betrieben, und bei diefen wurde das Scdultheater nur 
ala eine Hilfsübung aufgefakt, auf welche allerdings einiges Gewicht gelegt 
wurde, die aber doch nicht zur eigentlichen Quinteffenz der Erziehung gehörte 1. 

In dem forgfältig Durchgearbeiteten Organijationsentwurf für die Studien 
der Gejellihaft, welche der fünfte Ordensgeneral P. Claudius Aquaviba 
1591 zur Prüfung und Erprobung an ſämtliche Provinziale jandte, wurde 
da& Theater zwar noch jehr entgegenfommend behandelt und jogar pofitiv 





! M. Pachtler 8. J., Ratio studiorum et Institutiones Scholasticae So- 
cietatis lesu per Germaniam olim vigentes (Monum. Germ. Paedagogica II V 
IX XVI, Berolini 1887—1894, Hofmann). — B. Duhr 8. J., Die Studienordnung 
der Gefellihaft Jeſu (Bibliothek der Tathol. Pädagogik IX), freiburg i. B. 1896. 
— Jouvancy 8. J., Ratio discendi ac docendi, Florentiae 1703. — J. Masen 8.J., 
Palaestra Eloquentiae ligatae Dramatica, Colon. 1664. — F. Lang 8. J., Dis- 
sertatio de actione scenica, Monachii 1727. — A. Cahour, Thöätre latin des 
Jösuites a la fin du XVIe siöcle (Etudes VII [1862] 460 f). — E. Boyesse, Le 
theätre des J6suites, Paris 1880. — Karlv. Reinhardftöttner, Zur Ge 
Ihichte des Yefuitendramas in Münden (Jahrb. für Mündner Geſchichte III), Bam— 
berg 1889. — Jakob Zeidler, Die Schaufpielertätigfeit der Schüler und Stu: 
denten Wiens. (Schulprogramm), Oberhollabrunn 1888. — Derf., Studien und Bei- 
träge zur Geſchichte der Jeſuitenlomödie und des Klofterdbramas (Thentergeihichtliche 
Forſchungen, herausgeg. von B. Litzmann IV), Hamburg und Leipzig 1891. — 
Derj., Über Jefuiten und Ordensleute ala Theaterdichter ıc., Wien 1898. — Der. 
Beiträge zur Gefchichte des Kloſterdramas (Zeitſchr. für vergleichende Literaturgeſchichte 
von Koch, Berlin. Neue Folge VI 464—478; IX 88—132). — P. Bahlmann, 
Jefuitendramen der niederrheiniichen Orbdensprovinz, Leipzig 1896. — A. Dürr 
wächter, Das efuitentheater in Eichftätt (Sammelblatt des hiſtoriſchen Vereins 
X, Eichſtätt 1896, 42—94). — Derf., Die Darftellung des Todes und Zotentanzes 
auf den Jejuitenbühnen, vorzugsweise in Bayern (Forihungen zur Kultur» und Literatur: 
geihidhte Bayerns), Ansbah und Leipzig 1897. — Derf., Jakob Gretfers De regno 
Humanitatis Comoedia prima, Regensburg 1898. — Fleiſchlin, Die Shuldramen 
am Gymnafium und Lyceum zu Quzern von 1581—1797 (Schweizerblätter. Neue 
Folge I), Luzern 1885. — Hiftorifch-Politifche Blätter CXXIII 877 ff 456 ff; OXXIV 
2767 414 ff. — G. Lühr, 24 Jefuitendramen der litauiſchen Ordensprovinz, 
Königäberg i. Pr. 1901. 


Das lateinische Schuldrama ber Jejuiten. 631 


empfohlen!. In der eigentlihen Ratio studiorum aber, d. 5. der end- 
gültigen Studienordnung, welche 1599 erjchien, fehlen diefe Empfehlungen; 
die betreffende Vorſchrift für den Provinzial it eine einjchränfende und 
abwehrende geworden: „Nur ſehr jelten bewillige er die Aufführung von 
Komödien und Tragödien; diefelben follen lateinisch und geziemend jein. 
Er jelbit prüfe fie vorher oder betraue einen andern mit der Prüfung; 
für diefe und ähnliche Aufführungen laffe er nie die Kirche gebrauchen.“ 
Die dreizehnte Regel des Rektors aber fügt noch folgende Beftimmungen 
hinzu: „Der Gegenftand der Tragödien und Komödien, die in lateinijcher 
Sprade abgefaßt und ſehr felten aufgeführt werden jollen, jei ein Heiliger 
und frommer; auch dürfen nur lateinische und erbaulide Zwiſchenſpiele 
vorfommen; weibliche Rollen und Trachten dürfen nicht verwendet werden.“ 
In legterem Punkt wurde jedoch der Oberdeutjchen Provinz 1602 innerhalb 
gewiſſer Schranken Dispens erteilt. 

Troß dieſer vorſichtigen Haltung der Ordensgeſetzgebung iſt das Schul: 
theater doch zu einer nicht geringen Entfaltung gelangt. Da die Zahl der 
Unterridtsanftalten bis zum Jahre 1759 auf 609 Kollegien und 171 Semi- 
narien flieg, jo ergibt allein die Zahl der jährlih an der Schlußfeier der 
Kollegien aufgeführten Stüde um jene Zeit nahezu 800. Tatſächlich wurde 
aber den dramatifchen Übungen ein viel größerer Spielraum gewährt. 

Außer den großen Tragödien am Schluß des Schuljahres wurden 
mancdherort3, wie in Wien, Münden, Graz uſw., noch großartige Aufführungen 
für allgemeine, öffentliche Feſte, fürftlihe Einzüge, Hochzeiten und Bejuche 
veranftaltet. Dazu fam in den einzelnen Klaſſen der Vortrag von Dialogen 
und Eleineren Stüden. Die marianishen Kongregationen führten gelegent: 
ih fog. „Meditationen“, d. 5. Moralitäten und Mirafeljpiele auf. Faſt 
überall wurde in der Faſchingszeit die Aufführung einer oder mehrerer 
eigentliher Komödien erlaubt. In Öfterreih bürgerten fih auch ſowohl 
Mofterienjpiele in der Kirche als Sakramentsſpiele vor dem Allerheiligiten 
auf öffentlihen Pläßen ein. 

So hat ſich denn dieſe dramatiſche Schulliteratur in einer Fruchtbarkeit 
entwidelt, welche man faft mit jener der mittelalterlihen Hymnendichtung 


' Hier bejagt bie 84. Reg. Prov.: Publica praemiorum distributio par est, 
ut quotannis recurrat: nec Dramata aequo diutius intermittantur, friget enim 
Poesis sine Theatro, modo ne labor ille multiplex in erudiendis actoribus, in 
varia veste sumtuque conquirendo, in extruendo Theatro, aliisque scenieis ac- 
tionibus, ferme totus incambat in Poetam, cum aequissimum sit illam aliorum 
qui ab ipso diriguntur, opera levari. Neque vero quo loco dramata exhibentur, 
aditus sit mulieribus: neque ullus muliebris habitus, aut si forte necesse sit, 
non nisi decorus et gravis introducatur in scenam. 


632 Fünftes Kapitel. 


dazu beigefteuert. Ableger davon haben in den Schulen anderer Orden 
fi erhalten und, wenn auch nicht mehr in gleihem Make, bis in die 
Neuzeit herab neue Zweige getrieben. 

Die proteftantiihen Pädagogen des 16. und 17. Jahrhunderts ver- 
achteten dieſe Schuldramatit keineswegs, ſuchten ihr vielmehr durch ent- 
ſprechende Pflege des Schuldramas mit ſtark polemiſchem Tone entgegen— 
zuarbeiten. Goethe urteilte gar nicht ungünſtig über eine Aufführung des 
Schultheaters zu Regensburg, welcher er auf ſeiner italieniſchen Reiſe im 
September 1786 beiwohnte, und welche noch der überlieferung der alten 
Jeſuitenbühne entjprad 1. Herder bedauerte (1795), daß „eine litera— 
riſche Gejhichte der Yejuiten mit einem parteilofen Urteil über das Ganze 
nad Beſchaffenheit der verjchiedenen Zeiten und Gegenden, in denen bie 
Geſellſchaft blühte“, nicht gejchrieben fei?. E& mar dem großen Reigen: 
führer der deutjchen Aufklärung, Friedrich Nicolai, vorbehalten®, Balde für 
einen „elenden Verſemacher“, die Leiltungen der Jeluiten als „ertradumm“ 
und ihr Schultheater für eitel „Unfinn“ zu erflären. Sein Urteil hat indes 
bis herab in die legte Zeit die Anfichten Goethes und Herders weit zurüd- 
gedrängt. Erft jeit Gervinus hat man angefangen, das Schultheater der 
Jejuiten wieder etwas ernfter zu nehmen und ihm fogar eine gewiſſe literar- 
hiftorifche Bedeutung zuzuerkennen. Goedefe und Wilhelm Scherer haben 
in dieſer Richtung weitergewirkt, Karl v. Reinhardftöttner diefe Bedeutſamkeit 
in einer gründlichen Monographie ſchlagend nachgewieſen. 

Um in diefer Sade nüdtern und richtig zu urteilen, muß man vor 
allem im Auge behalten, daß die Jejuiten es durchaus nicht darauf abgejehen 
hatten, geiftlihe und weltlihe Theater zu gründen, deren Leitung in die 
Hand zu nehmen oder gar unter ihren Mitgliedern dramatiſche Dichter Heran- 
zubilden, wie fie jene Zeit an Shafefpeare, Zope de Bega, Galderon, Tirſo 

ı „Jh verfügte mich glei in das Jeſuiten-Ktollegium, wo das jährlihe Schau: 
ipiel durch Schüler gegeben ward, jah das Ende ber Oper und den Anfang des 
Trauerjpielde. Sie machten es nicht jchlimmer als eine angehende Liebhabertruppe 
und waren recht ſchön, faft zu prächtig gefleidet. Auch dieſe öffentliche Darjtellung 
hat mich von der Klugheit der Jeſuiten aufs neue überzeugt. Sie verihmähten nichts, 
was irgend wirken fonnte, und wußten e8 mit Liebe und Aufmerkſamkeit zu be 
handeln. Hier ift nicht Klugheit, wie man fie fi in abstracto denkt: es ift Freude 
an der Sade dabei, ein Mit- und Selbftgenuß, wie er aus bem Gebraude des 
Lebens entipringt. Wie dieſe große geiftliche Geſellſchaft Orgelbauer, Bildſchnitzer 
und Bergolder unter fi hat, jo find gewiß auch einige, die ſich bes Theaters mit 
Kenntnis und Neigung annehmen, und wie durch gefälligen Prunf ihre Kirchen fid 
auszeichnen, jo bemächtigen fi die einfihtigen Männer hier der weltlihen Sinn- 
lichkeit durch ein anftändiges Theater” (Stalienifche Reife. Goethes Werke [Hemperl] 
XXIV 4 5). 

® Herber, Sümtlihe Werte (Supban) XXVII 208 ff. 

’ Fr. Nicolai, Bejhreibung einer Reife x. IV 561 ff; Beilage 29 ff 47 fi. 


Das lateinifhe Schuldrama ber Jefuiten. 633 


de Molina, Flam. Scala, Franc, Andrini, Vondel und andern beſaß. Ahr 
Hauptzwed war der religiös:pädagogifche; die große Mafje ihrer Dramen 
find Schulübungen und poetiſche Hervorbringungen, welde für die Schule 
berechnet find, und man darf darum nicht den Maßſtab der dramatijchen 
Poefie, am wenigften denjenigen der Höchften Leiftungen theatralifcher Kunft und 
Haffiiher Dramatif an fie anlegen. Man kann vollkommen zufrieden fein, 
wenn fie ihrem bejcheidenen Zwede entiprehen, und das Haben fie im 
ganzen getan. Eine Menge Zeugniffe ſprechen dafür. 

Unter den Hunderten von Schulmännern, welche ftill und anſpruchslos 
in diefem Sinne gearbeitet haben, gab es indes nicht nur folde, welche 
durch erftaunliche Fertigkeit in lateiniſcher Sprade und Metrik fi aus: 
zeichneten, jondern auch ſolche, melde fi durd jahrelange Lehrtätigkeit 
eine vorzüglihe Kenntnis des Altertums, einen feinen Geſchmack und Die 
techniſche Gewandtheit eines Bühnendichters erworben hatten, wirklich poetifche 
Anlagen bejaßen und diejelben, namentlich an religiöfen Stoffen, mit wahrer 
innerer Begeifterung zu betätigen mußten. 

Andreas Yabricius, der langjährige Ratgeber des Biſchofs Otto 
Truchſeß von Augsburg und fpäter Rat der Herzoge Albert und Ernft von 
Bayern (geft. 1581 als Propft zu Mltötting), hat wohl mit feinen Feſtſpielen 
(1566— 1568) als Freund der Jejuiten den Grund zu der glänzenden 
Shulbühne zu Münden gelegt, aber ſelbſt Jejuit war er nicht. Auch 
Michael Hiltprand, deſſen Ecclesia Militans 1573 zu Dillingen 
erjchien, findet fih nicht in den Katalogen des Ordens. Zu den früheften 
Dramatifern, von welchen gedrudte Stüde vorliegen, gehört der Portugiefe 
Luis da Eruz (1543 —1604), Profeffor in Coimbra; der Jtaliener 
Brancesco Benci (1542—1594), ein Schüler Muret3 und Profeſſor 
in Rom; der Böhme Jakob Bontanus (Spanmüller, 1542—-1626) aus 
Brud, ein hervorragender Schulmann, mehr Theoretifer als Poet, der ſtrengſte 
Kritifer der pädagogiſchen Leiftungen feines Ordens ; der Italiener Bernardo 
Stefani (1560—1620); der Belgier Karl Malapert (1580—1630) 
und der Schwabe Jakob Bidermann (1578— 1639), zulegt Profeffor 
und Genfor in Rom, den Reinhardftöttner weitaus als den tüchtigſten unter 
allen ſchätzt !, 

Un diefe reihen fih im 17. Jahrhundert: Johann Surius (geft. 
1631), Nikolaus Sufius (gef. 1619), Nikolaus Gauffin (1583 bis 
1651), der ausgezeichnete Theologe Dionylius Petavius (Petau, 1583 
bis 1652), Vincenz Guiniggi (geft. 1653), Julius Solimani (geft. 1639), 


!ı Bibliographie Angaben bei C. Sommervogel, Bibliothöque de la 
Compagnie de Jesus, 9 Bde, Bruxelles-Paris 1890— 1900. — W. Menzel, Ge: 
Ihichte der deutſchen Dichtung II, Leipzig 1875, 231—268. 


634 Fünftes Kapitel. 


Alerander Donati (geft. 1640), Louis Gellot (get. 1658), Jalob Libens 
(geft. 1678), der befannte Lyriker Jakob Balde (get. 1668), Balduin 
Gabillau (geft. 1652), Joſeph Simeons (geft. 1671), Johann Bapt. Giattini 
(geft. 1672). 

Mehr als Schulmann ragt der Deutihe Jalob Mafen hervor (1606 
bis 1681), mehr als fruchtbarer Poet der Öfterreiher Nikolaus Avan- 
cinus (1612—1686). 

Mit dem Ende des 17. Jahrhunderts fängt, befonders bei den fran- 
zöfifchen Jefuiten, der Einfluß des ſog. franzöfiihen Klaffizismus an fid 
geltend zu maden, in ftrammer Einheit, künftliherer Verwicklung und 
ftrengerer Ausführung, ohne daß indes ſtark von dem bisherigen Charakter 
des Schuldramas abgegangen wurde. Der befte Theoretifer diefer Richtung 
und zugleih auch fruchtbarer Dichter ift Gabriel Franz Le Jay (1657 bis 
1734); an ihn fließen fih Charles de la Rue (1643 —1725), Yean 
Antoine du Gerceau (1670—1730), François Noel (1651—1729), der 
einige Zeit au als Miſſionär in China und in Böhmen lebte, und Charles 
Porrée (1675 —1741), der Lehrer Voltaires. 

Sehr fruchtbar war der Böhme Karl Kolczawa (1656—1717), wie 
überhaupt das Schuldrama kaum irgendwo fo viel Freiheit und Begünftigung 
erlangte wie in den öfterreihiichen Staaten. Mehrere wohlabgerundete 
Dramen verfaßte der römische Alademiker Joſeph Carpani (1683 —1762), 
einen „Epaminondas” der Neapolitaner Johann Spinelli. 

Ein nit zu veracdtendes Hilfsmittel, das aber aud die Gefahr 
handwerksmäßigen Betriebes in fih ſchloß, verjhaffte den Yüngern der 
lateiniſchen Schulpoefie der Luremburger P. Paul Aler (1656 —1727), 
indem er nad) der Vorlage eines noch nicht ficher beitimmten Vorgängers 
einen erweiterten, jehr reihhaltigen jog. Gradus ad Parnassum zujammen: 
ftellte und denjelben 1706 zu Köln herausgab. Bor: und nachher hat er 
aber auch, als Leiter der Schulbühne zu Köln, ſehr eifrig die Poeſie 
gepflegt und nit nur mehrere beliebte Dramen (eine Joſephstrilogie, 
Tobias, Die Mutter der Macchabäer, Bertulfus, Genovefa) verfaßt, jondern 
aud eine Anzahl von Muſikdramen oder geiftlihen Operetten (Maria die 
Gnadenfönigin, Maria die Friedenzkönigin, Julius Mariminus, Urania). 
Er ift den tüchtigeren Schuldramatifern beizuzählen. 

Sn dem Theatrum Politicum wie in dem Theatrum Asceticum 
des P. Franz Neumayr (1697— 1775), welche beide zahlreihe Stüde um: 
faffen, überwiegt das religiös-asketiſche Element vollftändig über alles andere. 
Andreas Friz (1711—1790) in Wien und Ignatius Weitenauer (1709 
bis 1783) hielten fih in Stoff und Form mehr an die ältere Weile. 
Joh. Bapt. Seidl geriet mit feiner Schlußlomödie Bavaria vetus et nova, 
die 1755 in Ingolftadt, fpäter in Straubing, 1764 in Landshut gegeben 


Das lateiniſche Schuldrama der Jefuiten. 635 


wurde, wegen Angriffen auf die damalige Aufflärerei in Konflikt mit der 
allerhöchſten Polizei und wurde von dieſer zu ernſtlicher Befferung vermahnt !, 

Die Stüde find jo zahlreih und mannigfaltig, daß die Analyfe eines 
einzelnen oder auch mehrerer feine entſprechende Gharakteriftit geben könnte. 
63 war indes in Deutjhland der Braud, von den Stüden kurze Auszüge 
(Beriohen) in deutſcher Sprache druden zu lafien, damit die des Lateiniſchen 
Unkundigen wenigitens einigermaßen der Aufführung folgen konnten, die durch 
Gejang, Mufil, Tanz, glänzende Ausftattung und Koftümierung ſchon für 
Auge und Ohr vielfahen Reiz bot. Manche ſolche Auszüge find nod vor: 
handen, zum Zeil auch wieder neugedrudt worden, und jo kann ſich jeder 
leiht eine Vorftellung von ſolchen Stüden verſchaffen. 

Das gejamte vorhandene Material hat bis jebt leider weder einen 
Literaturhiftorifer gefunden, der es gefihtet und überfichtlih gruppiert hätte, 
noch einen Literaturkritifer, der auch nur die herborragenderen Stüde und 
Dichter einer eingehenderen Beurteilung gewürdigt hätte. Eine Geſchichte 
der Weltliteratur kann jelbjtverftändlih eine ſolche Spezialaufgabe nicht 
übernehmen. 

Eine jorgfältige Unterfuhung dürfte wohl ergeben, daß feiner dieſer 
pädagogiihen Dramatifer die dramatiihen Klaſſiker älterer und neuerer 
Zeit erreicht Hat. Allein mande ihrer Stüde find wohl kein Haar jchledhter, 
mande jogar entſchieden vollendeter und intereffanter als jene des Seneca, 
Biele aus ihnen haben die jehwierige Aufgabe jehr glücklich gelöft, in der 
Sprade eines Terenz und Plautus den Schmutz diefer antiten Komiker 
völlig abzuftreifen und durch eine anftändige Komik zu erfegen, die reich 
an Witz, Humor und echter Luſtigkeit ift, wobei jomohl der Volkshumor 
des Plautus wie die feinere Satire des Terenz ihre Repräjentanten ge: 
funden haben. 

Wenn und die geiftlihen Schauſpiele (Legendendramen, allegorijche 
Stüde, Mirafelipiele ufw.) der Jeſuiten weniger poetiih anmuten als jene 
der Spanier, jo liegt der Grund wohl in dein meiften Fällen daran, daß 
die betreffenden Dichter einem Lope und Galderon nicht gewachſen find, aber 
jehr oft aud darin, daß fie durch die pädagogiihen Schranken (Ausſchluß 
aller Liebesverwidlung, aller weiblichen Perfonen, freierer weltliher Diktion) 
verhindert find, ihre ganze poetifche Kraft zu zeigen, und nicht minder in 
dem lateinischen Gewande, defien Reminiszenzen aus Seneca, Plautus und 
Terenz nie völlig harmoniſch mit dem chriftlihen Gehalt zuſammenklingen 
und den modernen Lejer oder Hörer flören. Nur wen diejes Latein jo 
geläufig ift wie eine moderne Konverſationsſprache, wird hierüber hinaus: 


25.0. Besnard, Literaturzeitung für die fatholifche Geiftlichkeit III, Lands» 
hut 1832, 319 — 846. Pi 


636 Fünftes Kapitel. 


fommen und die poetiſche Leiftung ganz gerecht abjhäßen können. Das 
dieſes Hindernis in früherer Zeit nicht beftand, zeigt der ungeheure Erfolg, 
den 3. B. die Stüde des P. Jakob Bidermann in Münden hatten. 

Ein anderes großes Hindernis, welches das Jeſuitendrama micht zu 
einer vollendeten klaſſiſchen Schönheit kommen ließ, war die übertriebene 
Liebe zur Allegorie, wie fie die fintende Renaiffance zum Teil vom Mittel: 
alter überfommen, dann noch fchlimmer zum völligen Rokoko ausgebildet 
hatte. Wie Herrlich beginnt z. B. Vidermanns „Belifar“ mit deffen Gruk 
an die Heimat: 

Gegrüßet jeid, ihr väterlichen Zaren, 

Ihr zweiten Mauern Roms, ber Heimat Boden, 
Ihr Dächer, feid gegrüßt, du großer Hof 

Des mächt'gen Kaijers! 


Doch wenn num der Dichter ftatt Menſchen aus Fleiſch und Bein das 
Bol von Byzanz in allegoriihen Abftraktionen ung vorführt, in dem ge: 
ihäftigen „Polypragmon“, dem tätigen „Periergus“, der geſchwätzigen 
„Hama“, wenn die „Invidia“ ihre Tochter, die „üble Nachrede“ (Detractio), 
aufheht, den großen Feldherrn bei feinem Herrn um Anfehen und Bertrauen 
zu bringen, fo überläuft es uns froftig, und weder die künftlichen Verſe 
noch die meifterlihe Charakteriftit und die wohlangelegte Berwidlung ver: 
mögen den falten Waſſerſtrahl und deſſen Wirkungen wieder abzulenken. 
Dem Publikum jener Zeit indes war diefe abftrakt-allegoriihe Bühnenmelt 
durch Poeſie und bildende Kunſt völlig geläufig geworden, und was ben 
modernen Leſer flört und abichredt, wurde als poetifher Vorzug empfunden. 
Ganz abzulehnen ift übrigens dieſer Gebrauch der Allegorie nit. Die Ge 
ftalten der „Germania“, der „Bavaria“, der „Victoria“ und andere Perfoni- 
fifationen erfreuen ſich Heute wieder allgemeinfter Volkstümlichkeit. Da 
Goethe im „Egmont“ mit Märchen allein feinen befriedigenden Abſchluß 
erreichte, hat er unbedenklich feine Zuflucht zu einer allegorifchen „are: 
heit“ genommen. Fauft und Mephiftopheles find ſchon im erften Teil 
halbwegs typifch-allegorifche Geftalten, der zweite Teil lebt und webt voll: 
ftändig in Allegorie. 

Anftatt auf der Bühne Polemik zu treiben oder bloße Unterhaltung 
zu ſuchen, war das Beftreben diefer Schuldramatifer mwejentlih darauf ge 
richtet, ihr Bublitum in künſtleriſcher Weiſe für die Ideale des Chriſtentums 


* Über dieſe viel zu weit gehende Anwendung der Allegorie, die aufs innigfte 
mit dem Rokoko in ber bildenden Kunſt zufammenhängt, vgl. U. Dürrwädter, 
Das Yefuitentheater in Eihftätt (Sammelblatt des hiftorifchen Vereins X [Eichftätt 
1896] 70 71). 


Das lateiniſche Schuldrama der Zefuiten. 637 


irdiihen Glüdes, die Kürze des Lebens, die allzeit drohende Gewalt des 
Todes, die Schreden des Jenſeits, den unabläffig nötigen Kampf mit den 
eigenen böjen Neigungen, mit den Verſuchungen der Welt und den dämonifchen 
Mächten, die Notwendigkeit der Gnade, den Wert der Erlöjung, den fitt: 
lihen Wert völliger Weltentfagung um Chriſti willen, kurz die größten 
Probleme des Menjchen und der Menjchheit vor Augen führen. „In diefem 
Sinne hat fih das Jefuitentheater der größten Stoffe der Weltliteratur 
bemädhtigt: die Motive Don Juan, des verlorenen Sohnes, Magier mie 
Theophilus und Cyprianus, das Problem vom Leben ein Traum und Traum 
ein Zeben begegnen auf ihrer Bühne.“ ! Alle diefe Probleme erſcheinen aber 
nicht rationaliſtiſch oder pantheiftiich abgetönt wie in Goethes Fauft, jondern 
mit der ganzen Wucht und Begeifterung pofitiv hriftlicher Überzeugung wie 
bei Galderon und den übrigen Spaniern. Aus demjelben Grund wurden jo 
viele ſchöne bibliſche Stoffe, die erhabenften Züge aus dem Leben der Heiligen, 
die feffelndften Ereignifje aus der Kirchen: und Weltgefhichte auf die Bühne 
gebracht, nicht um lediglich zu predigen und zu erbauen, jondern in jener 
echt fünftleriichen Abficht, welche ſchon die großen griechiſchen Tragiker leitete, 
durch Mitleid und Furt die Seelen der Zuhörer zugleih zu läutern und 
zu erheben, den äfthetifchen Genuß mit den erhabenften religiös-fittlichen 
Motiven zu verbinden. 

Auch auf die Komödie übte diefe würdige Auffaffung der Kunſt einen 
wohltätigen Einfluß aus. Sie wurde gegen jene Entartung geſchützt, welcher 
die proteftantiihe Schullomödie in großem Maße anheimfiel. Wurde fie 
auch in engere Schranken zurüdgedrängt, ald eine weltliche Bühne für 
Erwachſene erheifchen würde, fo blieb doch vollsmäßiger wie feinerer Komik 
nod ein jehr weites, dankbares Feld, und es wurde damit zugleich der 
heilfame Beweis geliefert, daß man fi fröhlich unterhalten kann, ohne mit 
Ariftophanes im tiefften Schlamme zu waten oder mit Terenz auf dem 
ihlüpfrigften Boden beftändig an Sünde und Schande vorüberzugleiten. 

Sp umfaht das Schuldrama der Nefuiten einigermaßen das Pro— 
gramm, die Grundlinien eines hriftlihen Theaters überhaupt. Während 
der Hl. Thomas von Aquino fi damit begnügte, theatralifche Unterhaltungen 
unter gewiffen Bedingungen zu dulden und fogar zur Tugend der „Eutrapelie“ 
zu rechnen, während Hroswitha nur einen ganz ſchüchternen Verfuch machte, 
das altklaffiiche, Tateiniihe Drama zu hriftianijieren, nahm die Pädagogif 
der Yejuiten das Theater als überaus wichtiges Bildungsmittel in den Dienft 
der Jugenderziehung und des öffentlichen Lebens und ſchuf bereits im Laufe 
eined Jahrhunderts ein fo reiches Repertoire, daß dasſelbe fait alle neueren 





ı Jaf. Zeidler, Studien und Beiträge zur Geſchichte ber Jeſuitenkomödie 
I, Hamburg und Leipzig 1891, 24 (Theatergeſchichtliche Forſchungen, herausgeg. von 
B. Lißmann IV). — Bl. Dürrwädter a. a. DO. X 63 64. 


638 Fünftes Kapitel. 


Literaturen mit Stoffen oder Anregungen verfehen konnte und noch heute 
den Rahmen bezeichnet, innerhalb deffen ein chriftliches Theater fih am 
frudtbarften weiter entwideln kann. 


„Es ift eigentümlih, daß die Jeſuiten ihre Themen nit von andern Schrift: 
ftellern entlehnt, nicht fremde Stulturelemente in biefelben übertragen haben, 3. 2. 
wie man gerne glauben mochte, bie fruchtbaren fpanifhen Dramatiker ihren Bebürf- 
niffen anpaßten. Sie fhöpften aus ben Quellen, aus der Heiligen Schrift bes Alten 
oder Neuen Zeftaments, aus römischen und griechiſchen Hiftorifern, aus mehr ober 
minder befannten Kirchenichriftftellern, Legenden und Encyklopädien. Da fie genau 
in jeder Perioche ihre Quellen angeben, jo ift es ein Leichtes, ihr Material zufammen: 
zuftellen. Dan kann nun behaupten, ba fie, wie bemerkt, feine fremden Dramen be 
nußten, ſondern felbft in ihren Bibliothefen nad) Stoffen juchten, daß fie für jpätere 
Dramatifer eine wahre Fundgrube bildeten. Wie viele berfelben find nicht ihre 
Schüler geweien oder doch gründliche Kenner ihrer Erzeugniffe! So haben fie Jahr 
hunderte hindurch, ähnlich ben Gesta Romanorum, in der allen verſtändlichen Tateinijchen 
Sprade Stoffe in reicher Auswahl den Nachkommen und ber Mitwelt aufgeipeichert.” ' 


Das alles war um jo wertvoller, als der Technik des Theaters und 
einihlägigen Hilfsfünften: Geſang, Pantomimen, Tanz, Orceftrit, Koftümen, 
Scenerie, Theatermalerei und Theaterbaufunft, nicht geringere Sorgfalt zu: 
gewandt wurde ala der Wahl und künftleriichen Ausführung der Stoffe. 


„Die Jeſuitendichter waren geſchickte Praktiker, welche ihre Bühnen, ihre Schau- 
fpieler und ihr Publitum jo gut wie Shafefpeare kannten. Sie haben auf ben 
großen Theatern des Ordens bie nötigen Mittel, um alle Fortichritte ber Bühnen: 
technit in Anwendung bringen zu können. Text und Programm geben nur eine Feder— 
zeichnung des Bildes, das auf der Bühne lebendig wurde. Die frommen Väter wuhten 
dies auch und unterftühten häufig die Lektüre durch feenifche und bühnentechniſche 
Bemerkungen, welde fi mitunter zu förmlihen Schilderungen erweitern, die dem 
tüchtigften Regiffeure Ehre machen würden." ? 


Da jhon der „Samfon“ des Andreas Yabricius 1568 zu Münden 
mit der glänzendften Ausftattung, mit Chören von Orlando di Lafjo und 
funftvollen Balletts (von Nachtvögeln, Satyrn und Nymphen) aufgeführt 
wurde, die Tragödie „Barlaam und Joſaphat“ 1573 nicht weniger als 
73 Berfonen und einen großartigen ſceniſchen Apparat erheifchte, jo ift fein 
Zweifel, daß die Jefuiten ihre Theatertehnit nicht aus Spanien überkommen, 
jondern mehr oder weniger jelbftändig ausgebildet haben. Denn die älteren 
ı Karl v. Reinhardftöttner, Zur Gejchichte bes Jefuitendramas in 
Münden (Jahrbuch für Münchner Geſchichte III 54). 

2J. Zeidler, Studien und Beiträge zur Geſchichte ber Jeſuitenkomödie X 
25. — „Damit hatten die Jeſuiten ber kunſtdurchglühten Weiſe der Renaifjance in 
Bayern aud auf theatralifhem Gebiete das Bürgerrecht verſchafft“ und „ins Wert 
gejekt, was Richard Wagner in unfern Tagen mit jo großem Erfolge verjudte — 
eine Vereinigung aller Künfte im Rahmen des Dramas“ (K. Trautmann, Ober 
ammergan und jein Pajfionsipiel, Bamberg 1890, 46 ff). 


Das lateiniſche Schuldrama der Jeſuiten. 639 


Madrider Theater „de la Cruz“ und „del Principe” waren noch jehr primitiv 
eingerichtet; erft 1621 (aljo erſt 50 Jahre jpäter) unter Philipp IV. wurde 
das neue Hoftheater „Buen Retiro“ gegründet, das durd feine mecha— 
niſchen und fcenischen Vorrichtungen wie durch feine Pradt jene beiden 
weit überflügelte. 

Ebenjo vieljeitig und glänzend wie in München geftaltete fi die Aus- 
ftattung des Theater auch an andern größeren Jeluitenanftalten, wie 3. B. 
in Graz, wo ein größerer Teil des öfterreidhiichen Adels feine Erziehung 
erhielt. Bei öffentlichen Feftlichkeiten, welche zu Ehren des Kaiſers oder vor 
Mitgliedern des Kaiſerhauſes gegeben wurden, überflügelten die Jeſuiten 
gemöhnlih alle Veranftaltungen, welche die Bürgerfhaft jelbft traf, und 
frönten das Feit mit Schauftüden, in welchen die poetiichen Geftalten des 
antifen Olymps wie die finnigften Allegorien riftliher Dichtung, die 
feſſelndſten hiſtoriſchen Erinnerungen wie das Leben der Gegenwart in 
prädtigen Triumphbögen und Fefticenerien, Emblemen und Inſchriften, 
lebenden Bildern und Feitzügen, feierlichen Reden und Gejängen, und in 
eigentlich dramatifcher Form zur Entfaltung kamen. Religiöje wie patriotijche 
Begeifterung durchglühte das Ganze und Hob es in eine ideale, fünftlerifche 
Sphäre empor, wenn auch der damalige Zeitgefhmad die jhönften Erfindungen 
und Einfälle mit mancherlei Rokokobeigaben durchwirkte, die unferem heutigen 
Geihmade nicht mehr entſprechen. 

Mahrhaft grandios war das Felt, dad im Herbſt 1617 zu Ehren 
Ferdinands II. gegeben wurde, als derjelbe, nad) feiner Krönung zum König 
bon Böhmen, aus Prag nad Graz zurüdkehrte. Nicht minder finnig und 
poetiih war das Gartenfeft, das zu Ehren Kaiſer Leopolds I. im Juli 1660 
auf dem Rojenberg veranftaltet wurde; die Krone der unerſchöpflichen Feſt— 
lichkeiten bildete das dramatiſche Feſtſpiel „Euftahius und Placidus“, in 
deſſen Prolog und Epilog die ſchöne Legende, die einen Triumph des 
Kreuzes verkörpert, in finniger Weile, aber aud mit Aufgebot aller Pracht 
theatraliicher Majchinerie, zu einer ehrerbietigen und patriotiichen Huldigung 
an den bvielgeliebten Monarchen geftaltet wurde. 

In bejonderer Weile aber haben ſich die Jejuiten durch die Pflege des 
Theaters um Deutjchland verdient gemadt. 

„Wer”, jo jagt K. dv. Reinhardftöttner am Schluß des wohldofumentierten Bildes, 
das er von bem erften Jahrhundert der Münchener Jeſuitenbühne entworfen?, „wer 
möchte au nur einen Augenblid im Zweifel fein, daß die Jeſuiten, als fie das 
bürre Humaniftendrama übernahmen, förderten, durch Benutzung aller Künfte belebten, 





ı Drftid. Peinlich, Geihichte bes Gymnafiums in Graz (Programm, 1870) 
11—15 58 59. — Bol. (B. Duhr 8. J.) Rulturhiftoriiche Bilder aus dem Studenten» 
leben einer alten Jeſuitenſchule (Hiftor.-polit. Blätter XCVI [1885] 732— 748). 

2 A. a. O. 54 55. 


640 Fünftes Kapitel. 


ihrem Jahrhundert weſentliche Dienfte, ber Kultur unendlichen Vorſchub geleiftet, 
Geſchmack und Sinn für das Theater und feine helfenden Künſte gewedt und erhalten 
haben? Und mehr als anderswo ift hierfür im 16. Jahrhundert in Bayern, und 
vornehmlich in München gejchehen, weil feine Fürften nicht bloß fFreube an Kunſt 
und Pradt, fondern vor allem Gefhmad und Verftändnis für diefelbe befahen, und 
wenn fie biefer Liebe auch große Summen opferten, doch biejelben nicht fürftlicen 
Abſonderlichkeiten und finnlofem Prunke, jondern der wahren Kunſt und ihrem Ge 
beihen zu gute fommen ließen... . 

„Es wäre Undank, heute nad dem MWiederfinden biefes Verftänbniffes jene zu 
unterihäßen, welche in Deutihlands ſchwerſter Zeit mitgewirkt haben, alle Die Keime 
zu hegen, welde in fonnigen Tagen unferer Nationalliteratur zu ſolchem Glanze 
verholfen haben. Das Yefuitendrama des 16. Jahrhunderts aber hat treulich dieſe 
Pflicht erfüllt, jo daß es in der Geſchichte unferer Kunſt und Literatur eine ehren- 
volle Stelle einzunehmen vollauf bereditigt ift. Eine Periode höchſten äußeren Glanzes 
hat es aber unbeftritten in Münden erlebt, an dem Hofe ber Wittelsbacher, deren 
aufrihtiger Kunftfinn und eingehendes Berftänbnis für alles Große und Schöne fie 
nad biefer Seite hin in jenem Jahrhundert hoch über alle deutfchen Fürſten ftellte 
und ihr berechtigtes Lob im Munde aller Künftler erflingen ließ weit hinaus über 
bie Grenzen ber deutſchen Lande.“ 


Eine ebenfo glänzende Rolle fpielte das Theater an den großen Kollegien 
der Jefuiten in Frankreih, wie 5. B. in dem Kollegium Henry IV. zu Ya 
Flöhe und in dem Kollegium Louis fe Grand zu Paris. Als Ludwig XII. 
am 2. September 1614 mit der SKönigin-Mutter, der Gräfin von Soiſſons, 
dem Herzog von Guife, dem Erzbiihof von Reims und einem großen Ge 
folge La Fleche befuchte, wurde alles aufgeboten, was Kunſt und Literatur 
bieten konnten, um den föniglihen Gaft würdig zu ehren. Am folgenden 
Vormittag gaben die Zöglinge im Hofe des Penfionats vor einem dicht 
gedrängten Publikum eine mythologiiche Vorftellung, melde die Einführung 
des Königs und der Königin in das Heiligtum der Mufen zum Gegenftand 
hatte. Siebzehn Boten famen als Gejandte, um fie in ebenjo vielen ver: 
ſchiedenen Spraden zu begrüßen und in den Olymp aufzunehmen. Am 
Nahmittag erfchienen König und Hof dann im eigentlihen Theater des 
Kollegs, wo von den Schülern der Rhetorik eine Tragödie „Gottfried von 
Bouillon“ aufgeführt wurde. Darauf begab man fih in die Hauptalle 
des Parts, wo die Schüler der Humanität eine Komödie „Clorinde“ zum 
beiten gaben. Die Zujhauer waren, dem zeitgenöffifchen Bericht zufolge, 
bon Bewunderung hingeriffen und beflatichten lebhaft die Wahl der Dramen 
wie das Talent der Dichter und das Spiel der Akteure. Das Hauptfeftgedidt 
an den König beforgte P. Petavius, der das Griechiſche und Lateinifche wie 
jeine Mutterſprache handhabte!. 





P. Camille de Rochemonteix S, J., Un College de Jésuites au 
XVIIe et XVIIIe siecles III, Le Mans 1889, 96 fi. 


Das lateiniihe Schulbrama ber Jeſuiten. 641 


Für eine frühere Gelegenheit verfahte P. Petavius feine „Karthager” 
(1612), in den folgenden Jahren den „Uſthazanes“ und „Sijara“. Diele 
Stüde befigen noch nicht die kunſtvolle Berwidlung, melde Eorneille und 
Racine den franzöfiihen Dramen verliehen, fie dialogifieren mehr die Ge: 
Ihichte, aber mit viel Kunft, feitem Stil und großer Eleganz, mit Chor— 
partien, welche lyriſchen Schwung befiken 1. 

Einen nicht minder tüchtigen Theaterdichter erhielt die Jugendbühne bon 
La Flöhe an P. Eauffin, deffen fünf Dramen: Solyma, Nabudodonojor, 
Martyrium der HI. Felicitas und ihrer Söhne, Theodorih, Hermenegild, 
auch an andern FKollegien aufgeführt wurden. Sein „Hermenegild“ wurde 
erft durch denjenigen des P. Porree verdrängt. 

Der ebenfalls durd feine Gelehrfamteit hervorragende P. Gellot ſchrieb 
die drei Tragödien „Adrian, „Sapor“ und „Chosroes“ und die Tragi- 
fomödie Reviviscentes (Die Wiederauflebenden) 2. 

In den Patres Vavaffeur, Jacques Desbans, Pierre Mambrun, Rene 
Rapin, Antoine du Cerceau, Noöl-Etienne Sanadon, Pierre Brumoy, Yojeph 
Desbillons erhielt das Kolleg noch eine ganze Reihe von hervorragenden 
Literaten zu Profefforen, welde teils die Bühne auf der bisherigen Höhe 
hielten, teils durch lyriſche, epiſche und didaktiihe Dichtungen ſowie theoretische 
Werke die humaniſtiſchen Studien fürderten 3. 

Die glänzendfte Jugendbühne Frankreichs blieb aber bis zur Unter 
drüdung des Orden: im Jahre 1762 diejenige des Kollegiums Louis le 
Grand, das, als „Kollegium von Glermont“ bereit 1564 gegründet, 1682 
von Ludwig XIV. als königlihe Stiftung erklärt und mit feinem Namen 
ausgezeichnet wurde. Im Quartier Latin des alten Paris, nahe bei deu 
alten Kollegien Ste-Barbe und Montaigu gelegen, umfahten die ftattlichen 
Hauptflügel des Inſtituts einen großen vieredigen Hof, in welchem bei den 
feierlichen Preisverteilungen eine Bühne aufgefchlagen und die Iateinijche 
„Zragödie” gejpielt wurde. Die Zahl der Penfionäre, meift Söhne des hohen 
und höchſten Models, überftieg oft 500, diejenige der externen Schüler 2000. 
Auf den Ehrenfigen des Zufchauerraums jah man gewöhnlich den päpftlichen 
Nuntius, Kardinäle und Biſchöfe, oft königliche Prinzen, Präfidenten und 
Mitglieder des Parlaments, die Elite des Adels, der Beamtenſchaft, des Welt: 
und Ordensklerus. Der Mercure de Paris berichtete iiber die Aufführungen *. 

Für die Stüde jelbjt wurde mit Zähigkeit an der lateinischen Sprade 
feitgehalten, deren Pflege ja der Hauptzwed war und die den höhergebildeten 
Herren noch geläufig genug war, um mit einigem Genuß folgen zu können. 


ı Ebd. III 91. 2 Ebd. IIT 108 f. » Ebd. III 112 f. 
* Emond, Histoire du colläge Louis le Grand, Paris 1845. — Boyesse, 
Theätre des Jesuites, Paris 1880, 
Baumgartuer, Weltliteratur, IV. 8. u. 4. Aufl. 41 


642 Fünftes Kapitel, 


Um aber aud dem weiteren Publitum, das teil® im Hofe teil3 bon den 
Sälen und Zimmern des Penfionats aus zufah, etwas zu bieten, wurden 
in den Zwiſchenalten Ballette mit franzöfiichem Text gegeben. Diejelben 
wurden in der lebten Zeit fogar von den Ballettmeiftern des königlichen 
Theaters eingeübt und meift von Söhnen der vornehmften Familien auf: 
geführt, während in den Perfonenverzeihniffen der eigentlichen Stüde meht 
bürgerlihe Namen fi finden. 

Für Koftüme, Scenerien und Majchinerien wurden die reichften Mittel 
aufgeboten. Götter erjhienen oben in den Wollen, Triumphatoren fuhren in 
antiten Siegetwagen über die Bühne, Orpheus ſetzte Bäume und Felſen in 
Bervegung, die Titanen wälzten Felſen übereinander und Hommen darauf zum 
Olymp empor, ganze Kriegsſcharen belagerten eine Feftung. Solche Schau: 
ftüde erforderten die fomplizierteften Vorrichtungen, die zahllofen Koſtüme, 
Embleme und Waffen aber die Rüftlammer eines anjehnlihen Theaters. 

P. Karl PBorree, der legte bedeutende Dramatiter des Kollegs (von 
1708 bis zu feinem Zode 1741 Rhetoritprofeffor an demjelben), war aus 
literarijchen wie aus pädagogijchen Gründen jehr gegen die Ballette und 
mußte jeweilen von den Obern genötigt werden, Texte für diefelben zu verfallen; 
fie hatten fi indes einmal eingebürgert und bejaßen die Gunft der hoben 
Melt wie die Genehmigung der höchſten geiftlihen und weltlichen Autoritäten, 
jo daß die Ordensobern an eine Bejeitigung derjelben nicht denken konnten. 

Die Tragödien Porrees (Brutus, Mauritius, Sephebus, Myrja, Her: 
menegild, Regulus, Agapit, Sennaderib) fiehen wie diejenigen feiner Vor: 
gänger hauptjädlih unter dem Einfluß Senecad und teilen deren Vorzüge 
und Schmwäden. Schöne Monologe, Dialoge und Sentenzen verbinden ſich 
darin zu einem gefälligen harmonischen Ganzen; aber e& fehlt meift an 
lebendiger Handlung, Berwidlung und Spannung; mit Ausnahme der 
jugendlichen Helden, wie Hermenegild und Agapit, welche der Dichter mit 
wahrhaft poetiſchem Zauber zu umgeben weiß, ift aud die Charakteriftil 
vielfach ſchwach, mehr typiſch als individuell. Noch mehr vermißt man die 
ipannende Berwidlung in feinen Komödien (Panzophilus, Plutophagus, 
Miſoponus, Blinde Elternliebe, Troſſuli, Philedonus, Die erzwungenen 
Berufe), in welden er indes die Fehler, Ausfchreitungen, Gefahren und Er: 
bärmlichfeiten der damaligen vornehmen Jugend mit jcharfer Beobachtung, 
viel Wi und Komik, originell und lebendig, in natürlicher und friſchet 
Sprade jdildert ?, 


ı J. de la Serviöre, Un professeur d’ancien rögime. Le Pöre Charles 
Porree 8. J., Paris 1899, 93 ff. 

2 C. Porr6e 8. J., Tragoediae (ed. Cl. Griffet), Paris 1745; Fabulae 
dramaticae (ed. P. de la Sante), Paris 1749. Vgl. de la Serviöre a. a. O. 
235 ff 287 ff. 


Sehftes Kapitel, Urban VII., Sarbiewsfi und Balbe. 643 


Der redlihe Mann, der unter feinen Schülern die Kardinäle Soubiſe, 
Rohan, Bernis, die Staat3männer d’Argenjon, Choiſeul, Maupeou, Turgot, 
Malesherbes, den Mathematifer La Condamine, die Schriftiteller Greffet, 
Freron, Diderot, Helvétius und Voltaire zählte, hat ſeinerſeits alles auf- 
geboten, ihmen Literatur und Schultheater zu einem liebenswürdigen Mittel 
nicht nur literarifcher, jondern auch fittliher Bildung zu maden; aber gegen 
die Einflüffe des Hofes, der gefamten hohen Welt und der unterwühlten 
bürgerlichen Gejellihaft fämpften er und feine Ordensgenoſſen vergeblid an!, 
Sie waren das erfte Opfer, das die „Aufflärung“ forderte. 

Inwieweit das lateinische Schuldrama auf die Entwidlung der franzöfifchen 
Dramatik, die Blüte des franzöfiichen Klaffizismus wieder auf das Schul: 
drama eingemwirkt hat, bedarf noch eingehenderer Unterfuhung. Die franzöſiſchen 
Intermezzos führten übrigens fhließlih dazu, daß vereinzelt auch auf der 
Schulbühne franzöfiihe Stüde Eingang fanden. P. Le Jay verſuchte fein 
Glück mit einem Ioseph venditus (Joſeph von feinen Brüdern verfauft) 
in franzöfifcher Bearbeitung. Im Prolog ließ er die lateiniſche und die 
franzöfiihe Mufe zufammen auftreten und gab ihnen den Rat, fi 
freundlich auszuföhnen: 

Finissez un combat desormais inutile, 
L’aceord entre vous est facile: 
On est prös de s’aimer, 

Quand on se laisse dösarmer. 

Vivez unis, vivez ensemble: 
Est-il rien de plus beau ? 

Le mäme interöt vous rassemble, 

Travaillez a un spectacle nouvean ®. 


Im Franzöfiichen entwidelten jedod die vorwiegend lateiniſch gebildeten 
Poeten nicht dieſelbe Gewandtheit. Die weltlihen Dichter waren ihnen über- 
legen, und der Glanz der eigentlihen Schaubühne drängte das bisherige 
Schultheater zurüd, ehe noch der Niedergang des franzöfiihen Königtums 
alle Berhältniffe umgeftaltete. 


Sechſtes Kapitel. 
Arban VIII, Sarbiewski und Balde. 


Der Traum, welchen die italieniihen Humaniften des 14. und 15. Jahr: 
hunderts genährt und welcher noch jo viele Nachfolger beihäftigte, ging nicht 


ı J. de la Serviäre a. a. ©. 387 388. 
® Rochemonteix 8. J., Un Collöge de Jesuites au XVII et XVIIIe 


siöcles III 200 f. 
41* 


644 Sechſtes Kapitel, 


in Erfüllung. Das alte Hellas und Rom ftanden nicht wieder vom Grabe 
auf. Die alte Sprade Latiums ward nicht wieder die herrjchende Sprade 
der Poeſie, diejenige Athens nod weniger. hr Streben und Ringen, ihr 
Schaffen und Mühen war indes feineswegs vergebend. An der Schönheit 
des alten Lateins, an den unübertrefflihen Vorbildern des klaſſiſchen Alter: 
tums ſchmiedeten ſie das neue Idiom Italiens zu ſeiner Feinheit, Fülle und 
Vollendung, ſchulten fie ihren Geſchmack, ſchufen fie jene neue Literatur, 
welche den übrigen VBöllern Europas die Bahn wies, wie fie, in glüdlicher 
Berbindung des antifen und des nationalen Elements, mehr Iernend als 
nahahmend, mehr genießend und jelbftihöpferifch tätig als ängſtlich ſuchend 
und forſchend, neue Werke von klaſſiſcher Vollendung hervorbringen könnten. 
An der lateiniſchen und italienischen NRenaiffanceliteratur bildete ſich dam 
im 16. Jahrhundert die ſpaniſche, die portugiefiiche und englifche Literatur 
zur reichften Fülle heran, gewann im 17. Jahrhundert fogar die holländiſche 
eine Blütezeit, entwidelte fih die ſpaniſche zu ihrem höchſten Glanze und 
gewann die franzöfiihe jene Verfeinerung, welche fie für lange zur Richterin 
des Geihmads maden Sollte. 

So haben die katholiſchen Völker, ungeftört duch die furchtbaren 
Wirren und Kämpfe der Glaubenstrennung, in ruhiger Entwidlung die 
reihen Früchte geerntet, welde Renaiffance und Humanismus ihnen bringen 
fonnten, während das dom Bürgerkrieg zerriffene, von fremden Mächten 
niedergetretene Deutſchland faft zwei Jahrhunderte warten mußte, bis es an 
jener geiftigen Ernte aud feinen Anteil erhielt. Diefe Ernte aber wäre 
unzweifelhaft eine noch reichere geworden, wenn Deutſchland, gleich den 
katholiſchen Völkern, die volle Erbſchaft der kirchlihen Überlieferung bemahrt 
und unter ihrer fegensvollen Einwirkung Kunft und Literatur im edit 
nationalem Geilt an den großen Vorbildern des klaſſiſchen Nitertums 
weitergebildet hätte. Denn nirgends hat fih die Kirche der Entwidlung 
der nationalen Literaturen hemmend entgegengeftellt, nirgends das Studium 
der alten Kunſt und Literatur verkürzt, den literariichen und künſtleriſchen 
Beftrebungen vielmehr eine Freiheit gegönnt, die ihr vielfadh zum Vorwurf 
gemacht worden ift, aber mit nicht mehr Recht, als man ihr das gerade 
Gegenteil vorgeworfen hat, das geiftige Leben gefnebelt und daniedergehalten 
zu haben. 

Je reiher und blühender fi die nationalen Literaturen entfalteten, 
defto mehr mußte, wie ehedem jchon im Mittelalter, das Intereſſe für den 
Humanismus überhaupt, befonders aber für die lateiniſche Dichtung zurüd: 
treten. Es blieb ihr noch die ſchöne Aufgabe, den vorhandenen Schaf der 
fiturgifchen Poefie zu bereihern; aber das konnte nur im beſchränktem Maße 
der Fall fein, da das Mittelalter auf diefem Gebiete ſich nahezu erſchöpft 
hatte. Auch für Feſt- und Gelegenheitsdichtung in den höheren, gebildeten 


| 





Urban VIIL, Sarbiewsfi und Balbe. 645 


Kreifen blieb das Lateinische no lange in Mode. Grabſchriften und Feſt— 
ſprüche, Inſchriften auf Bildern, Gebäuden und Geſchenken wurden nod 
in lateiniſchen Berjen abgefaßt, öffentliche Tyeftlichleiten mit lateiniſchen 
Dden und Carmina gefeiert. Doch zog fi das Lateinifhe im Laufe des 
17. und 18. Jahrhunderts mehr und mehr vom Leben in die Schule zurüd, 
wo e3 allerdings nod eine ftattlihe Fruchtbarkeit entwidelte. In größeren 
Bibliothefen nehmen die „Neulateiner“ einen ziemlihen Raum ein. In der 
Bibliographie der Jeſuiten ift nächſt der geiftlihen Erbauungsliteratur faum 
ein Fach jo ſtark vertreten wie das der humaniftiihen Scdulliteratur: 
Grammatifen, Wörterbücher, Klaffiterausgaben, Klaffitererflärungen, latei— 
niſche Gedihtfammlungen, Reden, Briefe, Schultomödien, lateinische Gedichte 
aller Art, 

Es handelt fih Hier durdaus nit um Somderbeftrebungen oder 
Sonderangelegenheiten der Jeſuiten. Sie Haben in ihren Schulen lediglic) 
den hriftlihen Humanismus aufgenommen, wie er jchon vor der Glaubens: 
trennung eine der Grundlagen der höheren Bildung geworden war, dieje 
Erbihaft dann weiter gepflegt, organifiert und ausgebildet, wobei fie ſich 
ettwaige Errungenſchaften der protejtantiihen Wiffenfhaft und Pädagogit 
jpäter ebenfo zu nutze machten wie diejenigen der fatholiichen Schulen. Daß 
fie in der neulateinifchen Literatur jo ftark vertreten find, rührt lediglih von 
der Menge und regen Tätigkeit ihrer Schulen her. Von nicht geringer 
Bedeutung war es immerhin, daß ſchon der Gründer des Ordens und feine 
erften Genofjen der humaniftiihen Bildung ebenjoviel Intereſſe entgegen: 
brachten al3 den theologiihen und philofophiihen Studien und jo den un: 
heilvollen Riß heilten, der Humanismus und Scholaftif in feindliche Lager 
geipalten Hatte. Bereits 1561, nur ein Jahrzehnt nad der Gründung des 
Römischen Kollege, lehrte an demjelben Petrus Joh. PBerpinian, einer 
der herporragendften Latiniften feiner Zeit?; ihm folgte Johannes Betr. 
Maffei, der ebenjo ein vollendet klaſſiſches Latein fchrieb. 

An den Schulen der übrigen Orden, an andern geiftlihen Seminarien 
und meltlihen Schulen wurde aber das Lateiniſche nicht weniger eifrig 
gepflegt, in Proſa wie Verſen geübt, die Fertigkeit mit ins Leben hinüber: 
genommen und bei poetiiden Männern geiftlihen und meltlihen Standes 
die Luft erhalten, die lateiniihe Sprache jowohl für jede Art von Gelegen- 
heitsdichtung wie auch für eigentliche poetiſche Leitungen zu verwenden. 





8. Wadler, Handbud der Geſchichte der Literatur III, Frankfurt a. M. 
1824, 76—82, — Norrenberg, Allgem. Literaturgeihichte I?, Münfter 1896, 
405—459. — Dr Ehrift. Schlüter, Lateinifhe Poeten der Gejelihaft Jeſu, in 
Eantu (Brühl), Allgem. Weltgeihichte X, Schaffhaufen 1861, 851—371. 

® P.Godeau 8. J.. De Petri loannis Perpiniani vita et operibus, Paris. 
1891. 


—— — — — — — — — en 


646 Sechſtes Kapitel. 


So hat fih 3.8. Etienne de Pleurre, Kanonikus von St Viciot 
in Paris, in feiner Aeneis sacra und feinen Heiligenlegenden (1618) 
„bemüht, „aus dem goldenen Gößenbilde des Moloch“, wie er den Wortidat 
der antiken Literatur benennt, „Kronen für Chriftus und feine Märtorer 
zu jchmieden. So hat der Portugiefe BPaypa d’Andrade (1576—1660) 
in feiner „Belagerung von Chaul“ dem PVerfaffer der „Lufiaden“ in reider 
Erfindung, malerifcher Darftellung, harmoniſchem Bersbau, gejchidter An- 
ordnung und Einkleidung der wohlangebradten Epifoden mit einem gewiſſen 
Glüde nachgeeifert 1. 

Die größere Maſſe diefer Schulproduftionen hat nun für die Literatur: 
geihichte im engeren Sinn unmittelbar nicht viel mehr zu bedeuten als etwa 
die fatechetiiche und erbauliche Literatur jener Zeit. Mittelbar jedoch und 
als Ganzes hat fie einen nicht zu unterjhäßenden Einfluß auf die Literatur 
ausgeübt. Nicht wenige berühmte Dichter der romanischen Völler von Taſſo 
und Galderon bis herab auf Voltaire find Schüler der Jefuiten gemeien 
und haben aus ihrem Kurs der „Humanität” oder „Poeſie“ reichliche 
Anregung mit ins Leben genommen. Die „Sarlotis” des P. Jatob Majen, 
ein reines Schulepos, ift höchſtwahrſcheinlich nicht ohne Einfluß auf Vondels 
„Lucifer“ und Miltons „Verlorenes Paradies” geweſen. Wie die Schul— 
lomödien find aud die Lyrifa, Elegien und Epen der Jejuiten zum Zeil 
in ziemlich weite Sreife gedrungen; mande haben viele Auflagen erlebt 
und aud bei Proteftanten Anerkennung gefunden. 

Eine noch ungleich) höhere Bedeutung erlangte diefe Schulliteratur 
aber durch ihren Zufammenhang mit der alten Religion, Kunft und Bildung 
überhaupt. Sie half wejentlih mit, den heranwachſenden Generationen den 
ehrwürdigen Glauben der Väter, das Verftändnis der biäherigen Kunft und 
Literatur, die Errungenschaften des hriftlihen Humanismus, die künſtleriſche 
Schhaffensfreudigfeit und den Geift der Poeſie zu retten. in meuerer, 
durhaus undoreingenommener Kunſtkritiker feht nicht an, der Erhaltung 
des Katholizismus aud die Erhaltung der Kunſt in Europa zuzufchreiben. 

„Man mag jagen, was man will, aber ohne die Jeſuiten hätten wir, 
hätte die ganze Welt heute längſt feine Kunft mehr. Es ift viel zu wenig, 
zu behaupten, fie hätten die Kunſt der Gegenreformation, den Baroditil, 
geſchaffen; fie Haben uns vielmehr überhaupt den Begriff, die Tradition 
deffen, was Kunſt heißt, erhalten und gerettet vor der wahnmihigen 
Ilonoklaſtie des Proteftantismus. Mag ein Moderner Heute noch jo jeht 
gegen die Barode wüten und fpätere Erjheinungen, fog. Regenerationen 
der edlen Stile, wie man e& nennt, allein anerfennen: laßt ihn nur aus 
zürnen und fragt ihn dann, ob er wohl glaube, daß auch dieje jchönen 


— 





Morrenberg, Allgem. Literaturgeſchichte I? 438. 





Urban VII, Sarbiewsti unb Balbe. 647 


neuen Kunſtformen möglich gewejen wären, wenn nicht der Katholizismus, 
in erfter Reihe die Jeſuiten, die einzigen gewejen wären, melde troß Re- 
formationd- und Dreißigjährigem Krieg den Faden der Kunſt nit aus 
der Hand verloren? Denn, gibt es in der zweiten Hälfte des 16. Jahr: 
hunderts und während des 17. irgendwo irgend eine andere Kunft ala 
auf fatholiihem Terrain, als im Geifte der römischen Kirche? Sämtliche 
damals blühenden Schulen Italiens: die Effektifer von Bologna, die Aka— 
demiler von Florenz und Rom ſowie die Naturaliften Neapels find auf 
fünftlerifhem Gebiete ebenjogut geiftige Streiter des Katholizismus als 
Spaniens Herrera, Alonſo Cano, Zurbaran und Murillo; ein Rubens tft 
ohne Jejuiten nicht denkbar. Was aber bleibt außer diefen übrig? Beſaß 
Deutihland, befaß das hugenottiſche Frankreich, England auch nur einen 
Meifter, der den Genannten an die Hüften reichte und die alten großen 
Kunfttraditionen auf die Nahlommen hätte verpflanzen können? Die 
Ihönften Porträts eines Franz Hals oder Rembrandt ftehen in dieſem 
Sinne nit auf der ethiſchen und kulturhiſtoriſchen Höhe, um als Faktoren 
mitgezählt zu werden. „.. 

„Die ganze germanifche Geifterwelt lag erftarrt und erfroren im eiligen 
Banne des nüchternen Dogmenftreites, des öden Haders der fich befehdenderi 
Selten. Jedes friſche Hälmchen, jede Blüte der Poeſie und Kunſt war ber: 
trodnet vor dem falten Hauche des religiöfen Streites. Die Kunſt hatte 
alle ihre Traditionen verloren: die Architektur feierte in proteftantijchen 
Landen, denn Kirchenbau war überflüffig, da man die Dome der alten Kirche 
verwendete; Profanbau aber gedieh nur zum fümmerlichiten, weil Die 
evangelifche Einfachheit in jeder Regung des Schönheits- und Pradtgefühls 
einen Abfall zum papiftiihen Greuel erblidte;, Malerei und Bildhauerei 
führten direkt zum Gößendienft und waren aufs äußerfte eingeſchränkt; die 
jpärlichen Gebiete aber, in denen fi, und zwar nur auf Heinen Stüdden 
Erde, in den Niederlanden, eine Fortblüte der Malerei zeigte, die wenigſtens 
zum Zeil vom Satholizismus unabhängig ift, dieſe ſpärlichen Dajen zeigen 
uns das realiftiiche Porträt, das rohe Genre mit jeinen ewig bejoffenen 
Bauern, das Stillleben mit Schinken und Auftern als die lekten Refte der 
Kunft vertreten! Die kirchliche und die Hiftoriiche Malerei, ſowie den heitern 
Abglanz des ewig ſchönen Erbgutes der klaſſiſchen Antile in der mytho— 
logiſchen und allegoriſchen Kunſt hatte der Proteftantismus vernichtet, Die 
Baufunft jant zum gemeinen Nutzbauweſen herab, die Plaſtik zur kleinlichen 
Ornamentif. 

„Da brad in diefe ausgeleerte Steppe von Süden die Kunſt ber 
Jefuiten wie ein Frühlingsfturm herein. Übervoll von Geftaltungstraft, von 
Pracht, von Zauber der Farbe, des Glanzes und Goldes, mit ſüdlicher 
Heiterkeit und Grazie entlud ſich dieſes Gewölk wie ein Lenzgewitter über 


J 








648 Sechſtes Kapitel. 


die ſchmachtende Erde, und der funfibegabte jüddeutihe Stamm öffnete den 
Buſen weit dem köſtlichen Ozondufte, den dieſer warme Regen verbreitete.“ 1 

Das ift wohl etwas allzu enthufiaftiich gejagt; aber ala Kern dieſer 
Ausführungen wird man immerhin die Tatſache feſthalten dürfen, daß die 
Kirche der Kunſt und Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts Feine geringen 
Dienfte geleiftet hat. 

Rom ftrahlte am Beginn des 17. Jahrhunderts freilich nicht mehr in 
jenem vollften Sonnenglanze der Kunſt wie am Beginn des vorigen; aber 
dem Frühling und Sommer folgte no ein wonniger, fruchtreidher Herbit. 
Der mächtige Petersdom, die größte Kirche der Welt, an der Bramante, 
Giuliano da San Gallo, Raffael, Peruzzi, Antonio da San Gallo, Midel- 
angelo ihr Genie erprobt, ward durch Maderna endlich vollendet und fonnte 
am 18. November 1626 von Papft Urban VIII. eingeweiht werden. 
Bernini gab dem gewaltigen Bau 1629 feine zwei Glodentürme und um: 
ſchloß den Petersplat 1667 mit den pradtvollen Kolonnaden. In Do: 
menidhino lebte noch etwa3 von dem Geifte Raffaelö weiter, in Caravaggio 
etwas bon der ungezügelten Kraft Michelangelos. In Guido Reni, Carlo 
Maratta, Saffoferrato Hingt, wenn auch gedämpft und abgeſchwächt, nod) 
der fünftleriiche Geift der Renaiſſance nad. Gleih den Päpften der Re 
naiffance, aber maßvoller und mit mehr Rüdfiht auf die idealen Ziele 
des kirchlichen Lebens, förderten die Päpfte des 17. Jahrhunderts auch die 
gelehrten Studien und die Literatur. Klemens VIII. erhob mehrere der 
verdienftvollften Gelehrten, wie Baronius, Du Berron, Bellarmin, Zolet 
zur Kardinalswürde, Paul V. bereicherte die Vatikaniſche Bibliothek, 
Gregor XV. errichtete das nicht nur für die Miffionen, ſondern aud für 
Sprad: und Völkerkunde hochwichtige Weltinftitut der Propaganda. Ge: 
lehrte aus den verjchiedenften Teilen der Welt, wie der Grieche Leo Allatius, 
der Maronite Abraham Echellenfis, der deutſche Jeſuit Athanafius Kircher, 
der Hamburgifche Latinift Lukas Holflenius (jpäter Bibliothekar der Baticana), 
beriverteten die wiſſenſchaftlichen Schäße, die in Rom zujammenfloffen, in 
mannigfader Weile. Am griehifchen Kolleg erhielten fih mit der leben- 
digen Übung diefer Sprache auch die Helleniftiihen Studien in Blüte, am 
römischen wurden die Altertümer Latiums gefammelt und ftudiert und 
der erfte Anlauf zu ägyptologiſchen Forfhungen unternommen, an der 
Propaganda die Sprachen des Drients gepflegt. Den in der zweiten 
Hälfte immer mehr um ſich greifenden Rolofogefhmad befämpfte die von 
Königin Ehriftine begründete Alademie, aus welcher jpäter fi) die „Arkadia“ 
— 





! Dr Albert Ilg, in Berichte und ORION bes Altertumsvereind zu 
Wien XXII (1886) 222 ff. 


Urban VIIL, Sarbiewäti und Balbe. 649 


Als am 6. Auguft 1623 der Kardinal Maffeo Barberini al3 Urban VII. ! 
aus dem Konklave hervorging, herrſchte ein allgemeiner Jubel unter den 
Gelehrten, unter allen Freunden der Wiffenihaft und Kunſt. Denn des 
Griechiſchen kundig und voll Intereffe für helleniſtiſche Studien wie für die 
Entdedungen auf dem Gebiete der Naturmiffenichaft, hatte er auch mit Liebe 
und Luft, wie mit wahrem Talent der lateinischen Dichtkunft gepflegt. Von 
dem Glanze der Tiara umftrahlt, wurden feine Gedichte jet gedrudt, viel» 
fah neu aufgelegt, ins Italienische übertragen, jogar in Muſik gejebt. 
Auch fein Neffe, der Kardinal Franz Barberini, war ein begeifterter Gönner 
der Fünfte wie der Literatur. Der Plan, die Hymnen des Brevierd zu 
verbefjern, führte dem vatikaniſchen Kreiſe den begabteften lateinischen Dichter 
jener Zeit zu, den jungen Polen Matthias Kaſimir Sarbiemäti?. 
Als Sohn eines alten Rittergefchledhtes 1595 geboren, war er 1612 zu 
Wilna der Gejellihaft Jeſu beigetreten und Hatte faum feine Studien voll: 
endet, als er (1623) um feiner ausgezeichneten lateiniſchen Dichtungen 
willen bereits den Ruf nah Rom erhielt. Mit der Begeifterung eines 
mittelalterlihen Pilgers begrüßte er die ewige Stadt, die auch die Kämpfe 
und Stürme des 16. Jahrhunderts wie jo viele andere ſiegreich über: 
dauert Hatte, 


Du gaftlih Dad für alle weiten Lande, 

Du meines Glaubens ſchönſter Perlenihmud! — 
Dom Kapitole fchweift dein Herrſcherblick 

Nah Oft und MWeft, weit über Land und Dieere. 
Hier ragt des Quirinales Völferwarte, 

Und dort die Königsburg bes Vatikans. — 

Bon dieſen Finnen ſchaut der Ehriften Vater 
Im Staub vor fi den Erbfreis flehend fnien. 
Es wölbt fi über ihm in Andachtfeier 

Der Himmel und eröffnet feine Pforten, 

Wenn jegnend fleht des Hohenpriefters Wort. 

O welche Macht der Majeftät fein Haupt 

Bor Erd’ und Himmel feierlih umftrahlt! 

Dem Ewigen allein weicht feine Würde. 

! Cardinalis Maphaeus Barberini, postea Urbanus VIII, Poemata, 
Lutetiae Paris. 1623; Colon. 1626; Bonon. 1629; Romae 1631; Antverpiae 1634 
(Plantin); Romae 1637 1640; Paris. 1642; Oxoniae 1726 (ed. J. Brown). — Seine 
Poesie toscane erfhienen zu Rom 1638; Poesie latine tradotti in verso da F. Fer- 
ranti, Roma 1642; Muſik dazu von S. Girolamo Vapsberger, Poemata 
et carmina composita a Maphaeo Barberini, musieis modis aptata, Romae 1627. 

® M. C. Sarbiewski, Poemata omnia. Editio longe plenissima, Stara- 
viesiae 1892. — L.G. Langbein, Commentatio de Mathiae Casimiri Sarbievii 
vita, studiis et seriptis, Dresdae 1754. — 5. 8. Diel, M. K. Sarbiewsli, ber 
Vorgänger Baldes (Stimmen aus Maria-Laah IV [1873] 159—172 343—357; 
V [1873] 61—76 365—377). ®2gl. ebd. XLIV (1898) 112 118. 


650 Sechſtes Kapitel. 


Er ſchwebt einher, bewundert von den Sternen — 
Ein leuchtend Licht, in dunkelem Gewölk, 

Schaut er herab auf alle Erdengröße. — 

Und dort ftrebt himmelwärts Sankt Petri Tempel, 
Ein Königswerk, das, deiner würdig, einft 

Du fühn begannft, erlaudter Konftantin! 
Seitdem ermüdet man Jahrhundert ſchon 

Si an dem Bau; faum da ber greifen Welt 
Des Meiſterwerks Bollendung will gelingen. 
Vernichtung ſah es rings feit feinem Werden, 
Und, während Throne ftürzten, Reiche ſanken, 
Erhebt fi) langfam bdiefes eine Haus!. 


Die übrigen Latiniften, weldhe mit Sarbiewski zur Revifion der alten 
Hymnen herangezogen wurden, waren jämtlid Jtaliener: Famian Strada 
(1572— 1649), der Geichihtichreiber des Abfalls der Niederlande (De 
bello Belgico), ein vorzüglicher Stilift, war auch poetiih begabt, mie 
jein „Wettftreit der Flöte und der Nadtigall“, feine Varroniſche Satire 
„Momus“ und Gelegenheitsgedichte ausweiſen. Wie fein Freund Leo Allatius 
meldet, Hatte er auch eine vollftändige Poetik ausgearbeitet, die aber nicht 
im Drude erfhien. Tarquinius Galuzzi (1574—1649) gab 1611 
drei Bücher Carmina heraus, ſchrieb eine Poetif fowie Kommentare zu 
Bergil und Nriftoteles und widmete dem Kardinal Barberini eine Abhand- 
lung über die „Erneuerung der antilen Tragödie". Am ftärkfien war 
aber bei der Hymnenreviſion Hieronymus Betrucci (1585 —1669) 
beteiligt, Profeffor der Rhetorik am Römischen Kolleg, fein Dichter, jondern 
Rhetor und Stilift. Hauptſächlich auf feine Rechnung werden die 925 falſchen 
Silbenmefjungen geſchrieben, welche man in den alten Hymnen aufgefunden 
haben will und welche dann geändert wurden. Die Reform wurde jpäter 
jehr verſchieden beurteilt?, Kenner und freunde der mittelalterlihden Hymnit 
und Mufit ſprechen fid ungünftig darüber aus, während die Verehrer der 
Antike und Renaiffance diefelbe lobten. Den humaniftiihen Studien umd 
der neulateiniſchen Boefie ift es jedenfalls nicht wenig zu gute gelommen, 
dab der Papft jelbft ſich für die leßtere Richtung erklärte und für das neue 
Brevier die Hymnen auf die Fefte der hl. Martina, des hl. Hermenegild und 
der Hl. Eliſabeth von Portugal verfaßte. Auh Kardinal Robert Bellar 





! Sarbievii Opera: Miscellanes. Iter Romanum ®. 221 f; überjept von 
% B. Diel, M. K. Sarbiewsfi, der Borgänger Baldes (Stimmen aus Maria— 
Laach IV [1873] 348). 

: ©. Bäumer, Geſchichte des Breviers, Freiburg i. B. 1895, 507—509. — 
Sommervogel, Petrucci IX 633 634. — Daß der Papft meift ſelbſt entſchied, 
geht deutlich aus einem Briefe Stradas hervor, gedruckt bei Venturi, Gli inni 
della Chiesa, Firenze 1880, ıx. ®gl. Civilta cattolica. Ser. 17, V, Roma 18%, 
208 209. 


Urban VIII. Sarbiewsli und Balde. 651 


min, der größte Apologet der Kirche gegen den Proteſtantismus, der das 
Brevier mit Hymnen auf die hl. Maria Magdalena bereichert hat, iſt eher 
dieſer Richtung beizuzählen. 

Sarbiewski ward von jeiten Urbans VII. eine wahrhaft väterliche 
Huld und Freundfhaft zu teil!. Der Papft ließ es ſich nicht nehmen, ihn 
jelbft mit dem Lorbeer zu krönen. Unvergeßliche Erinnerungen begleiteten 
den jungen Dichter 1624 in die Heimat zurüd, wo er 1625 zum Pro: 
feffor der Poeſie in Wilna ernannt wurde. Hier hatte er vier Jahre 
reihe Muße, fih der Dichtung zu widmen. Nachdem 1625 drei Bücher 
Dden von ihm zu Köln erjchienen waren, konnte er diejelben jhon 1628 
beträchtlih vermehrt in zweiter Auflage herausgeben. Im Jahre 1629 
wurde er Brofefjor der PhHilofophie, 1632 der dogmatiſchen Theologie 
und 1635 Beichtvater und Hoftheologe des Königs Ladislaus; 1640 rief 
ihn ein früher Tod aus diefem Leben ab. Schon die erſte Ausgabe feiner 
Gedichte Hatte ihm indes einen europäiſchen Ruf verſchafft; die fünf ftets 
vermehrten Auflagen, welde den zwei erften folgten, breiteten denſelben 
immer weiter aus. Grotius ftellte ihn über Horaz; deutſche, dänifche, 
franzöfiihe und engliihe Kritiker anerfannten ihn als einen glüdlichen 
Mitbewerber der antiken Lyriker, Wereinzelt wurde ihm Duntelheit und 
allzu große Glut der Phantafie vorgeworfen; allein dies hing gerade mit 
dem Reichtum umd der Fülle zufanımen, womit er das Lateinische beherrſchte. 
Er mußte den Ton der Sappho und des Anakreon ebenjogut zu treffen 
wie jenen des Horaz oder Pindar, aber nicht als Nahahmer, fondern mit 
innig wahrem, lebenswarmem und fräftigem Gefühl, vorab in Afforden 
der aufrichtigften DBaterlandsfiebe und tiefgefühlter Frömmigkeit. 

Al Sarbiewski 1623 auf feiner italienischen Reife durch Ingolſtadt 
kam, findierte dort ein junger Eljäfer aus Enfisheim, Jakob Balde, der 
bald fein berühmtefter Mitbewerber werden follte. Er wurde nicht auf den— 
jelben aufmerkſam; aber Balde behielt ihn wohl im Andenfen. Ein Yahr 
jpäter trat aud er, im Alter von zwanzig Jahren, in denjelben Orden ein 
und erregte durch jein poetiiches Talent raſch die Aufmerkjamteit feiner 
Ordensgenoſſen wie diejenige mweiterer Kreiſe. Kurfürſt Marimilian I. zog 
ihn als Prediger an ſeinen Hof, wo er dreizehn Jahre verweilte, und übergab 
ihm dann in Neuburg an der Donau ſeine Prinzen zur Erziehung. Ob— 
wohl von ſchwächlicher Geſundheit, brachte er es doch auf 64 Jahre und 
ſtarb 1668, hochgeehrt vom bayriſchen Hofe und von den angeſehenſten 
Staatsmännern und Gelehrten ſeiner Zeit. 





über die Abänderung des Hymnus Ad regias Agni dapes durch Sarbiewsli 
vgl. C. Daniel, AMlaſſiſche Studien in der chriſtlichen Geſellſchaft (deutſch von 
Gaifjer), Freiburg i. B. 1855, 226—230 314—820. . 





652 Schftes Kapitel. 


Mochte Sarbiewsti ihn an Feinheit und firenger Klaffizität über: 
treffen, jo war er dagegen weit genialer, mannigfaltiger und erfindungs— 
reiher. Er war vierzehn Jahre alt, als der Dreikigjährige Krieg aus— 
brad, hat ihn mit dem ganzen Schmerz eines tiefempfindenden deutjchen 
Baterlandäfreundes mitgelebt, hat ihn noch um zwanzig Jahre überdauert 
und mit nicht geringerer Zeilnahme die bittern Folgen gefoftet, welche er 
hinterließ. Sein eigenes reiches Seelenleben ala Dichter, Gelehrter und 
Priefter erweiterte fih durch die angejehene Stellung am kurfürftlihen Hofe, 
und jo ift jeine Dichtung zugleih zu einem merkwürdigen Spiegelbild feiner 
Zeit geworden, allerdings verflärt durch feine tiefe Religiofität, feinen 
warmen Patriotismus, jeinen erhabenen Ernft wie feinen freundlichen, 
ſchalkhaften Humor, 

Das jhönfte Denkmal hat ihm Gottfried v. Herder in feiner „Terpfihore“ 
gejegt, indem er eine Auswahl der Igriichen Gedichte metriſch ins Deutjche 
überjegte und dem echt „deutjchen“ Dichter jo einen Ehrenplaß in unferer 
Nationalliteratur verſchaffte. Selbſt Goethe konnte diefen Proben und dem 
Dichter jeine Hochachtung nicht verfagen. „Er bleibt bei jedem Wiedergenuß 
derjelbe, und mie die Ananas erinnert er einen an alle gutſchmeckenden 





! Bollftändigite Ausgabe: J. Balde, Opera poetica omnia, Monachii 1729 
(I. Lyricorum. Epodon; Il. Sylvarum; III. Batrachomyomachia. Panegyricus 
equestris. Cetera Epica. Virtuosae torvitatis encomium; IV. Solatium podagri- 
eorum. Eclypsis solaris.. Antagathyrsus. Medicinae gloria [22 Satiren]. Contra 
abusum tabaci. Nihil gratis. Varii modi mendicandi. Crisis in seipsum; V. Urania 
vietrix. Elegiae variae [33]; VI. Iephthias. Philomela. Arion Scaldicus. Drama 
georgicum. Castrum ignorantiae expugnatum; VII. De vanitate mundi. Aga- 
thyrsus. Olympia sacra. De 8. Ursula; VIII. Tillii parentalia.. Maximiliani I, 
Austr. facinora. Templum honoris Ferdinando III. apertum.) — Carmina se- 
lecta (herausgeg. von 9. K. Orelli, Züri 1805; Fr. Rohn, Wien 1824; 
anonym Augsburg 1829). — Carmina Iyrica (ed. B. Müller, Monast. 1844; 
Ratisb. 1884; E. Hipler, Monast. 1856). — Überjegungen: Oben und Epoden 
(von 3. B. Neubig, Münden 1828 1829; 3. Aigner, Augsburg 1831); Mebi- 
zinifhe Satiren und Troſt für Podagriften (von J. B. Neubig, Münden 1833); 
Meariengelänge (von C. B. Schlüter, Paberborn 1857); Ausgewählte Dichtungen 
(von 3. Schrott und M. Schleich, Renaiffanee, Münden 1870); Geſchichtliche 
Dden (von F. &. Binhad, Neuburg 1868; Amberg 1872); Krieg ber Fröſche 
und Mäufe (mit Iatein. Zert von M. %. Berhem, Münfter 1859); Der wieder 
zum Leben erwadhte Tilly (von 3. Böhm, Münden 1889); Geſammelte Marien- 
gedichte (von P. B. Zierler, I. Balde ald Marienfängerr, Münden 1897). — 
8. Weftermayer, 9. Balde, Sein Leben und feine Werte, Münden 1868. — 
Rebe von Johannes Schrott bei ber Balde-Feier in Großhefiellohe am 11. Auguft 
1868 (Allgem. Zeitung 1868, Nr 226). — P. Mury et C. Sommervogel, 
I. Balde, Notice et bibliographie, Strasbourg 1901. — 3. Bad, Jakob Balbe, 
Freiburg i. B. 1904. — G. Gietmann, Jakob Balde (Stimmen aus Maria 
Saal LXVI [1904] 1—20). 





Urban VIII., Sarbiewätt und Balde. 653 


Früchte, ohne an feiner Individualität zu verlieren.” Herder drang indes 
liebevoller, ernfter und tiefer in Baldes Weſen ein!. 


„Der lyriſche Dichter ift Apollos Priefter, der nicht in eigenem Namen, jondern 
aus Kraft bes ihn begeifternden Gottes ben Sterblichen Lehre und Troft and Herz 
legt und Wahrheit verfündigt. Mein Dichter tut diefes in einer großen Art. Starfe 
Gefinnungen, erhabene Gedanken, goldene Lehren, vermifht mit zarten Empfindungen 
fürs Wohl der Menſchheit und für das Glück feines Vaterlandes, ftrömen aus feiner 
vollen Bruft, aus feiner innig bewegten Seele. Nirgend buhlt er um Beifall; ein 
ftrenger Umriß bezeichnet feine Denkart, auch wo er am janfteften redet. Er lebte in 
ben Zeiten des Dreikigjährigen Krieges und fah die jammervollen Scenen besjelben. 
Mit verwundetem Herzen tröftete er die Vertriebenen, richtete die Gefunfenen auf; 
indem er das Schickſal Deutſchlands beweinte, fuchte er Deutfhlands befferen Geiſt zu 
weden und es zur Tapferkeit, Neblichleit, Eintradht zu ermahnen. Wie ergrimmt 
ift er gegen bie falſchen Staatsfünftler! wie entbrannt für bie gejunfene Ehre und 
Zugend jeines Landes! Allenthalben in feinen Gedichten fieht man feine aus— 
gebreitete, tiefe ſchneidende Welttenntnis bei einer edit philofophifchen Geifteswürbe. 
In diefem und in mehrerem Betracht ift er ein Dichter Deutſchlands für alle Zeiten; 
mande feiner Oben find von fo friiher farbe, als wären fie in ben neueften 
Jahren gejchrieben. 

„Und diefen Schaf von Empfindungen bietet er und in einer Form dar, bie 
unftreitig zu ben glüdlichften gehört, deren fi die menjhliche Sprache bedienen darf; 
ich meine die Iyrifche Weife. Sie bricht die Blumen der ſchönſten Gefinnungen und 
ordnet fie mit Grazienhand zum Strange. Über ben gemeinen Gang ber Dinge er: 
hoben, gibt die Iyrifche Diufe uns eine höhere Anficht diefer Dinge und weiß uns in 
wenigen Strophen mehr zu fagen, ald lange Abhandlungen jagen könnten; denn fie 
gibt reine Rejultate, Refultate langer Erfahrung, tiefer Betrachtung, inniger Gefühle. 
Dur Wohlklang fpricht fie zu unferem Ohr, durch eine georbnete Reihe von Bildern 
und Empfindungen zu unferer Seele, bis fie ihr fleines, in allen Zeilen durchdachtes 
Kunftwert, ſobald es fein kann, oft undermutet, immer aber auf eine befriedigende 
Meife vollendet,“ ? 


Eine andere Beurteilung, ebenfalls von nicht-fatholifcher Seite, ergänzt 
diejenige Herders folgendermaßen: 


„Über Baldes dichteriſche Begabung und relative Vollendung haben Herber, 
Orelli, Knapp, Neubing u. a. eher zu wenig als zu viel geſagt. Schwungvolle 
Phantafie, Gedanfentiefe, männlicher Ernft, ſprudelnder Humor, geiftreiche Erfindung, 
geniale Kompofition, unerſchöpflicher Reichtum an eigenartigen Wendungen, Aus- 
drüden und Figuren, reizvoller Wechfel der Scenerie und gelungenfte Behandlung 
der ſchwierigſten Kunftformen — das alles findet fich in einem armen deutſchen Menſchen⸗ 
find in der traurigften Zeit, die je unfer Volk heimgefucht hat, vereinigt und entquillt 
einem liebevollen, freilich ob bitterfter Erfahrungen oft recht melancholiſch geitimmten, 
aber immer wieder Gottes jhöner Natur fi freuenden Herzen. Man leſe jeine 





’ Aus Herder Nachlaß I 146. 

* Herbdbers Werke (Hempel) III 17 18. Mit einigen Einfhränktungen an— 
erkannte auh AU. W. v. Schlegel (Gejammelte Werke IX, Leipzig 1846, 376—407) 
die hohen Vorzüge Baldes. 


654 Sechſtes Kapitel. 


Enthufiasmen, feine Lehroden, feine Odae partheniae, überhaupt feine Iyrifchen 
Gedichte, und man wird bei dieſem gottbegnabeten Menſchen immer und immer 
wieber gern einfehren. 

Indes, wo fo viel Licht ift, fehlt auch ber Schatten nicht, und Balde ift in 
gar vielen feiner Schöpfungen ein echtes Kind feiner Zeit. Da ift oft fein Maß und 
fein Ziel. Gehäufte Bilder und Bergleiche, unzählbare mythologifhe Anfpielungen 
beeinträchtigen die Harmonie des Stumftwerls und erſchweren das Berftändnis. Die 
häufige Überladenheit, das Zuviel des Zierrats, das zeitweilige Ausfchreiten im Ge- 
ihmad, der namentlich in den Satiren hervortretenbe Diangel an organifher Geftaltung 
find Fehler, die nicht verſchwiegen werden bürfen. Der zehn Jahre lang Rhetorik 
Iehrende Profefior, ber „wiedererftandene Quintilian”, wie man ihn in Ingolftabt 
nannte, fpielte unverkennbar dem Dichter manchen böfen Streih. Wenn aber ſchon 
oft bedauert wurde, daß Balde vorwiegend Iateinifch und nicht deutſch gebichtet, daß 
er einen verkehrten Lebensweg gewählt und jo Deutfchland um einen deutfhen Klafſiker 
ärmer gemacht Habe, fo ift diefes Bedauern überflüffig, weil fih an Tatſachen nichts 
ändern Jäßt.“ ! 


Bei dem übermäßigen Raum, welden die Erotif in den Werfen ber 
meiften Pyrifer und in der Literatur überhaupt einnimmt, kann es faum ala 
Mangel empfunden werden, ja ift es in der Tat ein Vorzug, eine twahre 
Erquidung, daß dieſes Gebiet bei Balde fehlt. Er felbft Hat fich Diejer 
Lüde nicht geihämt. In einer meifterhaften Nahbildung des berüchtigten 
Pervigilium Veneris bat er ohne Federleſen die erhabene chriſtliche Charitas 
an die Stelle der unlautern Göttin gefeßt, der fo viele Dichter Glüd, Ruhm 
und Seligkeit geopfert haben. 

Liebe jeht, wer nie geliebt hat! Wer geliebt hat, Liebe jeht!? 


Wie ber Hirſch, vom Pfeil getroffen, in ſich träget er den Pfeil, 
Glühnder Durft verzehrt den Matten, Durft verzehrt den Blutenden; 
Über Fels und Dornen eilend, lechzend nad) dem frifchen Quell, 
Hört er raufchen, fieht ihn blinken, ſtürzet nieder und erlechzt. 


Liebe jekt, wer nie geliebt hat! Wer geliebt Hat, liebe jegt! 


&o bie Seele, bie der höchſten Anmut füher Pfeil durchdrang, 
In fi trägt fie ihn und liebt ihn; er verzehrt ihr Innerſtes. 
Nicht genejen von der Wunde, zur erfehnten Quelle will 
Sie hinüber, fieht die Quelle, bürftet, lechzet und erledhzt. 


Liebe jeht, wer nie geliebt hat! Wer geliebt hat, liebe jetzt! 


Süher Tod, du Wunſch des Herzens, neues Leben, höchſter Wunſch, 
Denn nad hingeſunkner Bürde freier Äther uns umfängt, 

Dem entlommnen Erbdenpilger öffnet fi des Himmels Tor, 

Alle Seligen umfangen ihn mit Bruder, Schweftergruß. 





5. Lift, Art. „Balde* (Herzogs Realencyklopädie II? [1897] 370). 
? Nach dem Refrain bes Pervigilium: Cras amet, qui numquam amarit, 
quique amavit, cras amet. 


Urban VIII, Sarbiewsti und Balbe. 655 
Biebe jet, wer nie geliebt hat! Wer geliebt hat, Tiebe jeht 


Schweigt, ihr Tränen! Keine Flöte Hage den gefunf’'nen Staub! 
Eine Stimme tönet broben, eine taufendftimmige: 

Freude! Freude! Keinen fel’gen Märtyrer beweint man mehr; 
Man befingt ihn. Auf befinget, fingt ber Liebe Märtyrer! 


Liebe jet, wer nie geliebt hat! Wer geliebt hat, Liebe jet! 


Hört! Die Ehöre tönen Yauter; fühe Namen tönen fie: 
„Rofe, Königin der Blumen, unter Dornen aufgeblüht! 
Berl’ aus tiefem Meeresabgrund, aller Erde Köftlichites! 
Kleine Lilie des Tales, unentweihte Lilie!“ 


Liebe jetzt, wer nie geliebt hat! Wer geliebt hat, liebe jeßt! 


Schöner ift der Tag bes Todes als bie Stunde ber Geburt. 
In des ew’gen Friedens Zelte ruhet die Enttommene; 
Kränze duften; Hymenäus ftimmet an ben Brautgefang, 
Und die Königin der Blumen, Selige, fie blühet Dir. 


Liebe jeßt, wer nie geliebt hat! Wer geliebt hat, liebe jeßt! 


Meinft du noh? Der Freude Tränen fließen, wenn umber du ſchauſt; 
Deine Saat ift nicht verloren, deine Trauben prangen ſchön; 

Jeder Wunſch ift dir gewähret, mehr gewährt ala jeder Wunſch; 

Denn wer ben bat, den bu liebeft, trintt der ew’gen Wonne Meer. 


Die Erotit abgerechnet, melde durch die jchönften Klänge religiöfer 
Liebe reihlih aufgewogen wird, befibt das Liederbuch Baldes eine Mannig: 
faltigfeit wie faum dasjenige eines andern Dichterd. Alle Tonabftufungen 
und Melodien menſchlicher Stimmungen und Gefühle, wie ihr Echo und 
Spiegelbild im bunten Leben der Natur finden ſich hier, meift vom milden 
Licht religiöſer Anjhauungen verflärt, aber auch in mächtigen Akkorden 
feidenschaftlicher Begeifterung vorgetragen ; doch der Geſichtskreis des Dichters 
ſchließt Fich nicht träumeriih auf das bloße Herzens: und Naturleben ab: 
Melt und Kirche, Vaterland und Freundidaft, Kunſt und Literatur erweitern 
ihn nad allen Seiten, und zwar nicht zu einem Chaos zerftüdter, wirrer, 
geipenfterhafter Eriheinungen, widerſpruchsvollen Ringens und Sehnens, 
ungelöfter Rätjel und ungeftillten Begehrens, jondern zu einem erhebenden, 
lichten Ganzen, in defjen reihen Farben und Formen die Einheit einer 
großen, allumfaffenden Weltordnung widerftrahlt. Das einfah Natürliche 
weiß Balde in ebenjo abgerundeter klaſſiſcher Yafjung zu bieten wie Horaz; 
aber durch feine hriftlihen Ideale reicht er weit über ihn hinaus, bis in 
das bunte politiihe und literariiche Leben der Neuzeit hinein — und wieder 
darüber empor in die lihten Höhen der übernatürlihen Welt. 


656 Sehftes Kapitel, 


Aus den vielen Oden, in melden der Geift der Antike gleichſam wie 
aus einer Marmorftatue der ſchönſten Plaftif wiederftrahlt, möge als Probe 
hier jeine Ode an den Schlaf gelten, die unmilltürlih an Thorwaldjens 
Relief erinnert: 


Des Tobes janfter Bruder, ber, aus dem Reich 
Der Schatten jhlüpfend, nur dem gebrochenen, 
Dem ſinkenden, geſchloſſ'nen Auge 
Dämmernd erfheint, ein mächt'ger Yüngling, 


Der jedem Hummer, ber uns dem Gram entnimmt, 
O Schlummer, wende, wende ben Blütenzweig, 
Mit feinem lindernd fühen Balfam 
Sanft zu betauen aud meine Schläfe! 


Geliebte Gottheit, die dem ermübdeten 
Gebein Erquidung ſchaffet und Lebenskraft, 
Die und den Überdruß der Tage 
Reife verwiſcht und uns neu verjünget! 


Schon blintet dort der fröhliche Abenbitern, 
Schon flellt die Nacht ihr glänzendes Himmelschor 
In Reihen; auch Apollos Schweiter 
Tritt die und nähere, ſanfte Bahn an; 


Befiebert ruhn im Köcher bie fehmetternden 
Gejangespfeile, denen die Luft erflang; 
Der Stier mit heimgelehrtem Pfluge 
Ruht und eratmet fi neue Kräfte. 


Es ſchweigt die Welt; es ſchweiget der Äther, kaum 
Noch atmend. Holdes Schweigen! Und mid mur flieht 
Die Ruhe? mich, dem tiefe Schmerzen, 
Klebende Sorgen die Bruft zernagen. 


Was weilft du lange, füher, geliebter Freund ? 
Menn je ich beine Gaben (ich weiß es nicht) 
Gering geihäßt, vergib dem Armen, 
Der das Bergehen zu ftreng ſchon büßte! 


O kehre wieder! Ströme Vergeſſenheit 
Aus deinem Füllhorn über den Reuigen! 
Geuß himmliſche Berauſchung nieder 
Über die trockene Augenwimper! 


Komm, ſanfter Schlummer! Siehe, der lieblichfte, 
Der ſchönſte Mohn ſoll dir in den Gärten blühn, 
Und mit dem zarteſten der Träume 
Fülle die Nacht das geleerte Horn bir! 


In deiner Höhle, wenn du ber Ruhe pflegft, 
Soll nichts dich ftören. Donner und Stürme nicht, 
Kein widriges Gekrächz' erſchalle 
Irrender Vögel. Ein janftes Murmeln 


Urban VIII, Sarbiewsti und Balbe. 657 


Des Bades, ber buch fprießende Blumen rauſcht, 
Ein leifes Flüftern, das bie Platanen kaum 
Beweget, jäusle dich zu eignen 
Lieblihen Träumen, o holder Schlummer! 


Wie wird mir? Kühle, fühl’ ich ben Kommenden ? 
Die Hand entfintt mir. Schlingen fih um mich nit 
Wie fanfte Feffeln? Komm, o Schlummer! 
Setze die Harfe beifeit’, o Knabe! 


Baldes biedere patriotiſche Gefinnung leuchtet aus vielen kraftvollen 
Zeitgedichten hervor, die fih an Pappenheims, Tillys, Wallenfteins Namen 
fnüpfen oder die furdhtbare innere Zerflüftung des Reiches, den brubder- 
mörderiſchen Bürgerkrieg betrauern oder der Hoffnung des endlichen Friedens 
entgegenjubeln. Sein jhlihtes politifhes Teſtament umfaßt eine Ode „An 
die Deutſchen“, die Johannes Schrott in folgende gereimte Stanzen um: 
gegoffen hat: 

Du meiner Liebe Sorgenfind, Germane, 
Für den mein Herz in allen Stunden flug, 
Gar übel bift du nachgefolgt dem Ahne; 
Der goldne Mittelpfadb war ihm genug! 
Geftatte, daß dich dran ber Barbe mahne: 
Die erften Dinge bleiben Karſt und Pflug, 
Hohmütig willft bu größern Fittich ftreden, 
Als not ift, um ein Feines Neft zu beden. 


Mit weniger Habe lebt man auch zufrieden, 

Ein großer Schaf ift die Genügfamfeit; 

Bei ihr find Kraft und Frohfinn ungefchieden, 
Vermehre nicht aus Habgier langen Streit! 

Diel füher als das rauhe Waffenſchmieden 

Erklingt das Feldgerät ber Friedenszeit. 

Friſch auf, das Schwert zur Sichel umzuhämmern, 
Zum jhönen Tag wird bann der Morgen bämmtern! 


Du liebft es, in der Welt umherzuſchweiſen, 
Bemwundernd, was in faljhem Schimmer lat, 
Ein Überall und Nirgends, abzuftreifen 

Das Eigene, wenn du Fremdes nachgemacht. 
Nicht rühmlich ift’s, nach allem raſch zu greifen, 
Leicht kennt der Fremde die entlehnte Pradit. 
Lebt wo ein Volk von echten Bäterfitten, 

Das ſei von dir geliebt und wohlgelitten. 


Laß lieber dich bewundern, dich beneiben. 

ſtommſt du aus Gallien heim, jo fei bein Gruß 

So deutſch im Eiternhaufe wie beim Scheiben. 

Verſchlucktes Waller aus bem Seinefluß 
Baumgartner, Weltliteratur. IV, 3. u. 4. Aufl. 42 


658 


Sechſtes Kapitel. 


Darfft du in deiner Kehle nimmer Leiden, 
Auf deine Schwelle jehe rein den Fuß. 
In deutſcher Spradhe rebe, ſonſt in feiner, 
Als etwa in der ſtolzen der Kateiner. 


Nie ſoll die Kunft nur üppige Verihwendung, 

Nie ſoll fie nur ein Spiel der Stimme fein! 

Was foll ber Statue zu gezierte Wendung, 

Der allzufeine Lähelmund von Stein? 

Dir liegt im Herzen eine andre Sendung, 

Und wenig wärjt du, bift bu fein allein, 

O deutſches Weib! Dein Mund nidt, beine Worte 


| Und Zaten jei’n gehaun vom Felſenhorte! 


Die Yungfrau Hüte das veftal’sche Feuer, 
Unlautre, böſe Glut nicht kenne fie. 

Nichts ſoll fie willen vom trojan’schen Freier, 
Bon Benus nichts, und vor ihr finge nie 

Des Peleus Hochzeit ein Catull zur Xeier, 
Bewahrte Myrt' ift ſchön're Poefie! 

Die Hoczeitsfadel Hamme nit dem Manne 

Zu früh vom Zännlein, fondern von ber Tanne! 


Die Mutter pflanze um den Blütengarten 

Des Mädchens heimlich einen Dornenzaun, 
Und wahfam liebend joll fie deffen warten, 
Verborgene Glut will mäßiges Vertraun. 

Die Blide dürfen, die empfängli zarten, 
Niemals verbähtige Geihente ſchaun. 

Die Stunden teil’ der Rocken und bad Schöne, 
Sie lerne Magb fein und zugleih Kamöne! 


Ermutigt jei bes Jünglings wadres Streben, 
Wie dur Belohnung, fo durch weiſes Lob. 
Zur Erde finkt der Pflanze zartes Leben, 
Wenn lang fie nicht des Himmels Tau erhob. 
Er fol fi et und wahr und offen geben, 
Wenn um das Gold fih aud die Schlade wob. 
Fand er den Freund, ben treuen Herzgenoffen, 
Sei wie dor Gott die Bruft ihm aufgeſchloſſen. 


Und wenn bu einen Leichnam, ber dich machte 
Zum reihen Erben, trägft hinaus zum Grab, 
Sei beine Trauer ehrlich, und betrachte 

Ein Glüd als fterblih, das der Tod bir gab. 
Wer unterm ſchwarzen Mantel heimlich lachte, 
Indes bie falte Zähre rann herab, 

Der gleiht dem zährenreihen Krofodile, 

Das graufam feine Beute haſcht im Nile, 


Urban VIII, Sarbiewäti und Balbe. 659 


Die Mikgunft fliehe mit dem ſcheelen Blide, 

Die Hoffart weiche, bie fi töridht bläht. 

Auf grimmer Brau des Zornes Glut erftide! 

In ſchlauer Stirne Furchen ausgefät, 

Die böſe Saat zu künft'gem Mißgeſchicke, 

Sei vor ber Zeit der Reife weggemäht! 

Das Fußgeftell, das fih ber Stolz am Rande 
Des Abgrunds baut, werf’ ihn in ew’ge Schande! 


Die religiöfe Lyrik Baldes gipfelt in feinen Marienliedern, und unter 
diefen ift wieder faum eines jchöner als eine Stelle in feinem „Schwanen: 
gelang“ : 

Aler Anmut, aller Gnabe, 
Aller Huld geliebte Mutter, 
Du Beiheidene, du Keuſche, 
Sinnenrein unb rein im Herzen, 
Heilige, hochheil'ge Jungfrau, 
Nimm von Luft und Strom und Sonne, nimm ein reines Loblied an! 


Du Krhftall, in dem fih Himmel, 
Sonne, Mond und Sterne jpiegeln, 
Demutvolle, die den ftillen 
Glanz ber Gottheit offenbarte, 
Du bes ewig weiſen Rates 
Heiligtum, Gefäß ber Liebe, Mutter aller Vieblichkeit! 


Engel reihen bir den Scepter; 
Heil’ge Väter, Patriarchen 
Neigen ſich vor dir, der Tochter; 
Jungfraun weihn dir ihre Kronen, 
Märtyrer dir ihre Palmen, 
Und in einem Lobgeſange preiſet dich des Himmels Chor. 


Friedebringerin, du öffneſt 
Sündern die verſchloſſ'ne Pforte 
Zur Verzeihung. Aller Kranken 
Pflegerin, du der Betrübten 
Arzt und ſüßer Troft und Labjal, 
Retterin zu Land und Meere, 
Du ber Sintenden im Shiffbrud, der Verirrten Retterin! 


Alle Ehriftenheere danken 
Dir den Sieg. Du gibt der Erbe, 
Wirſt ihr geben Fried’ und Freude; 
Darum feiert dir der Äther, 
Darum wallen die Geftirne 
Liebend um dein Haupt; es küſſen Mond und Sonne deinen Tritt. 


Königin, nimm an das Loblied, 
Das zum Abjchied meine Zither 
42* 


660 Sechſtes Kapitel, 


Dir no einmal fang, und führe, 
Führe mid mit deiner Redten 
Hin dur Krieg und Weltgetümmel! 
Unverrücdt will id dir folgen, wie durch Freude, fo durch Leib. 


Balde ift vor allem Lyriker; doch machen die vier Bücher Oden und 
die Epoden, in welchen er mit Horaz metteifert, und die neun Bücher 
„Wäldchen“ (Sylvae), welche an Statius erinnern, faum ein Viertel feiner 
gejammelten Werke aus, Er beherrſchte auch die epiſche Sprade in folder 
Fülle und Leichtigkeit, daß er den Heldentod Dampierres im Stile Lucans, 
den Heldentod Boucquois in jenem des GStatius, das Lob Tilly in jenem 
Claudians, die Schlaht am Weißen Berg in jenem Bergil3 feiern fomnte, 
ohne dabei froftiger Nahahmung zu verfallen. Zahlreiche Gelegenheits- 
gedichte mit geſchichtlichem Hintergrund, ebenjo die größeren Gedichte auf 
Tilly, Marimilian J., Ferdinand III., die Legenden der hl. Katharina und 
des hi. Nikolaus und das bibliihe Epyllion „Judith“ befunden diejelbe 
Gewandtheit. Meifterhaft hat er den homeriſchen „Froſchmäuſekrieg“ la— 
teinifch bearbeitet, jo frifh und lebendig, daß er fih ganz wie ein Original: 
gedicht Lieft. 

Eine Epiftel der Diana an Venus über den Tod des Adonis erinnert 
daran, daß es ihm leicht gewejen wäre, die mythologiſche Elegie oder Epiftel 
in der Art der Alerandriner wahrhaft poetiich zu behandeln; der vielfach 
erotiſche Beigefhmad der antiten Mythologie jehredte ihn jedoch von diefem 
Lieblingsfelde der Humaniften ab; die meiften feiner dreiunddreißig Elegien 
find religiöfen Stoffen, bejonderd dem Leiden Chrifti gewidmet, einige der 
Königin Maria Stuart, für die er eine innige Verehrung hegte. Faſt barod 
ericheint auf den erften Blid der große Epiſtelkranz „Die fiegreihe Urania”, 
welche er feinem Geringeren als dem damaligen Papſte Alerander VII. 
widmete. Der jeltjamen Dichtung liegt indes eine jhöne Parabel Jaco— 
pones zu Grunde: 

„Es war einmal eine Jungfrau, und bie hatte fünf Brüber, ber erfte war 
Maler, der zweite Mufifer, der bdritie Apotheter, der vierte Koch, ber fünfte Wirt, 
allefamt arme Teufel. Durch eine koſtbare Perle warb die Schwefter plötzlich ſehr 
reich. Um die Wette fuchten nun bie armen Brüder ihr diefelbe abzuſchwätzen. 
„Du weißt," fagte ber Mufitus, „es handelt fi nur um eine Slleinigfeit; gib mir 
deine Perle und bu retteft damit mein Leben; ich will dir dafür eine Muſik machen, 
bie du loben ſollſt.“ „Geh, mein Bruber,* jagte die Maid, „um jo geringen Preis 
ift mir die Perle nicht feil.* Der Maler verſprach, um die Perle zu befommen, 
ein herrliches Gemälde; aber er wurde abgemwiefen. Der Apotheker verfuchte jein 
Glüd, indem er, ih weiß nicht, welche neue Parfümerien zufagte; doch auch er wurbe 
abgewiejen. Auch der Koch erhielt feine günftigere Antwort, obwohl er Juppiters 
Gehirn und die feinften Ledereien in Ausficht fteltee Der Wirt, ein underfhämter 
Menſch, verfiherte, er kenne die auserlejenften Jünglinge, welche fie alle heiraten 
wollten; er würde das beftens bejorgen. Er, welcher die meifte Gunſt erhoffte, fand 


Urban VIIL, Sarbiewsti und Balbe. 661 


bie geringfle, er wurde fofort weggeſchickt. Den Ebdelftein gewann endlich ein Ebel- 
mann, mit welchem die Jungfrau fich ehelich verband.“ 

Jacopone erflärte die Parabel alfo: „Die Jungfrau ift die Menfchenfeele, bie 
Perle der freie Wille, die Brüder find die fünf Sinne: ber Maler — das Gefidt, 
ber Mufiler — das Gehör, ber Apothefer — der Gerud, der Koh — ber Geihmad, 
ber Wirt — ber Zaftfinn. Wäre nun bie Jungfrau nicht ganz und gar töridht ge- 
weſen, wenn fie um folder Kleinigkeiten willen ihren Ebelftein hingegeben hätte? 
Für den Edelmann — Ehriftus, unjern Herrn, mußte fie ihn bewahren. Wir aber 
find weit törihter und wahrhaft wahnwißig, die wir ben foftbarften Schaf unferes 
freien Willens für elende Gaumenfreuden, fhmußige Reden, erbärmliche unreine Ges 
nüffe, Glasftüdchen und Puppen, ja für den Schatten eines Käfers nicht verlaufen, 
fondern ſchmachvoll wegwerfen.“ 


Diefe Parabel führt Balde, mit einigen Veränderungen, in breißig 
poetifhen Epifteln aus, welche teild von Pertretern der fünf Sinne an 
Urania gerichtet find, teil3 ihre Antworten enthalten. Die Briefe, wie jene 
des Ovid, in Diftihen abgefaßt, verbinden deffen Leichtigkeit und Gewandtheit 
mit der geiftreihen Gedantenfülle und dem Wit des Horaz; fie entwerfen 
ein höchſt merfwürbiges Kulturbild jener Zeit, da der Dichter nicht bloß 
auf Religion und PhHilofophie, Malerei, Mufit und Literatur, jondern 
auch auf Kosmetit und Kochkunſt zu ſprechen fommt. Der ernftzasfetijche, 
myſtiſche Grundton ftiht indes mitunter zu ſchroff von der leichten, wibigen 
Gauferie ab, die antifen Reminiszenzen von den Anfpielungen auf die 
Gegenwart, die antife Form felbft von den naiven Hauptgedanfen der 
Parabel. Man wird unmwilltürlich an die zierlichen, leichten Arabesfen erinnert, 
welche in den Kirchen der Spätrenaiffance und des Rokoko frommesallegorijche 
Darftellungen mit antifem Koftüm in unerfhöpflihem Reichtum umgaufeln. 

Hreier entwidelt fih Baldes Humor und Wiß in feinen Satiren, dur 
welche er fi den Namen eines deutfchen Horaz ebenfalld wohl verdient hat. 
Überaus ergötzlich ift fein „Zroft der Podagriften“, welcher damit beginnt, 
daß er in Frage ftellt, ob das Podagra wirklich eine Krankheit jei, da fie 
eine Tochter des Bachus und ein Schwiegertöchterdhen des Zeus if. In 
dem Gedicht „Auf die Sonnenfinfternis am 11. Auguſt 1654” ijt der 
Spott zum Teil auf die Aftrologen gerichtet, bligt aber in luftigem Gefnatter 
nad den bverjchiedenften Seiten hin. Während der Dichter im „Agathyrjus“ 
fih und die übrigen Magern tröftet, nimmt er fih im „Anti-Agathyrſus“ 
(Apologia pinguium) auf Wunjd des päpftlichen Prälaten Ferdinand von 
Hürftenberg nicht weniger warm und heiter der Fetten an. Faſt mit einer 
Art von Ingrimm, mit ftarfem Realismus fällt er dagegen über den „Miß- 
brauch des Tabakes“ her. Ziemlich ſcharf wird au der „Ruhm der Medizin“ 
in zweiundzwanzig Heineren Satiren hergenommen. Milder und launiger 
find dagegen die Satiren „Nichts umſonſt“, „Von den verſchiedenen Arten 
zu betteln” und die „Selbſtkritik“. 


662 Sechſtes Kapitel. 


Ein Drama „Jephthe“ jchrieb Balde für das Schultheater zu Ingol— 
ftadt, ohne die Bearbeitungen des Stoffes durh Budhanan und a Marca zu 
fennen. Erſt nachdem es wiederholt mit großem Beifall aufgeführt und 
noch öfter verlangt worden war, gab er es 1654 heraus. Er faht das 
Opfer der Tochter Jephthes ala prophetiichen Typus des Opfertodes Chrifti 
auf und gewinnt fo einen tieferen Gehalt, der bejonders den Iyriichen Chor: 
partien jehr zu gute fommt. Ein Feſtſpiel auf die Einnahme Antwerpen 
durch Alexander Farnefe (Arion Scaldicus) beftehft nur aus lyriſchen 
Monologen und GChören in verſchiedenen Vers- und Strophenformen. 
Ein Jahr vor Abſchluß des MWeitfälifchen Friedens widmete Balde dem 
franzöfiihen Gefandten Claude de Mesmes, Grafen von Avaur, ein im 
osfiiher Mundart abgefahte® Drama georgicum, dad mit jchmerz: 
lichem Rüdblid auf die Schreden des Dreigigjährigen Krieges, voll Sehn- 
ſucht nad vollem Frieden den Waffenftillitand von Ulm befingt, den 
Bayern vorläufig mit den Schweden und Franzoſen gejhloffen. Die Nach— 
ahmung des altitaliihen Bauernlateins bekundet nicht nur jeltene Sprach— 
fenntnis, ſondern aud eine nicht geringere Formgewandtheit und echten 
deutihen Humor, 

Auf Anregung eines Freundes hat Balde das „Nadtigallenlied“ des 
Hl. Bonaventura frei in antiten Metren nachgeahmt, welche ſich indes mehr 
Boöthius als Horaz zum Vorbild nehmen. Es iſt aber im Grunde eher 
eine jelbftändige Dichtung als eine Bearbeitung, voll der innigften Wärme 
und Begeifterung, wenn aud die jchlichten mittelalterlichen Reimverſe die 
meiften Leſer mehr anfpredhen dürften als die noch jo Tlangvollen, ab- 
gerundeten Verſe Baldes. Er ſelbſt hat fi übrigens in dem umfangreichen 
Gediht De vanitate mundi auch in rhythmiſchen Verſen verjucht, jeder 
Strophe eine deutjche Überfegung in Reimverfen und eine Bearbeitung in 
antiker ſtreng metrifcher Form beigegeben. Es ift eine Art von Toten: 
tanz, breit ausgeführt; die lateinischen Rhythmen Haben den bänkel— 
ſängeriſchen Klingllang der Carmina burana, die deutſchen Reime leiden 
am Ungeihmad und an der Spracperrohung jener Zeit; nur im me: 
triſchen Latein fteht der Dichter auf feiner Höhe. In einem ſolchen Bilde 
der allgemeinen Vergänglichkeit durften natürlih auch die römischen Dichter 
nicht fehlen. 


Macer Maro disparuit Geftorben ift Bergilius, 

Et cum Marone Dido: Und billig zu beweinen, 
Pinguisque Flaccus Cerbero Aufg'metzget ift Horatius 

Ut porcus immolatus, Halb leinen und Halb jchweinen. 
Nasonis elegantiae, Nafonis Zierb’ hat viel’ verführt, 

Rhamnusiae Tibulli, Iſt aber ſelbſt eing'ſeſſen; 
Propertianae Cyuthiao Tibulli Schatz, Catulli Spatz 


Et Lesbiae Catulli. Kann auch fein Käs mehr effen. 





Urban VIIL, Sarbiewsti und Balbe. 663 


Tam nullus canit eclogas Maronis 
Famosus Meliboeus aut Menalcas, 
Plus quam Tantalea siti laborat 
Fracta tristis Horatius lagena. 
Nasones quoque transiere, et una 
Dulces nequitiae Tibullianae, 
Nequam stultitiae Catullianae, 
Stultae laetitiae Propertianae. 


Das barode Werk entiprah in hohem Grade dem damaligen Zeit 
geihmad. Der Dichter ſelbſt erlebte wenigſtens vier Auflagen besfelben ; 
MWeitermayer erwähnt fünfzehn. Es gehört übrigens feiner früheften Zeit 
an (1637), wie auch fein deutſcher „Ehrenpreis der allerjeligften Jungfrau“ 
(1638), zu deffen einzelnen Strophen nicht nur er, fondern noch vier feiner 
Kollegen eine Lateinische Überfegung oder Paraphrafe lieferten. Er ſcheint 
jelbft empfunden zu haben, daß er als deutjcher Dichter bei dem damaligen 
Zuftand von Sprade und Literatur keinen Erfolg haben fünnte, daß Talent 
und Bildung ihn auf das Lateiniſche Hinmwiefen. Einigen Aufſchluß über 
feine literarifchen Anſchauungen bietet ſowohl fein didaktifch-jatirifches Gedicht 
Vultuosae Torvitatis Encomium und die demjelben voranftehende Ab— 
handlung vom „Studium der Poeſie“, als auch die in Proſa gejhriebene 
Yumoresfe „Das don den antiten und modernen Dichtern belagerte und zer: 
ſtörte Schloß der Unwiſſenheit“; die letztere hat er al gereifter Mann (1653) 
veröffentlicht. Sie beginnt mit einer kurzen Schilderung des „Schlofjes 
der Unmiffenheit”, in welchem ſich nebjt den „Ungebildeten und Ydioten“ 
ſämtliche „Ariftarhen, Momi, Zoili, Timones und Pſeudokritici“ verſchanzt 
haben. Gegen dasfelbe rüden zuerft die „Modernen“ heran, d. h. unter 
Führung Petrarcas die fämtlihen Humaniften vom 14. Jahrhundert an: 
Sannazar, Maphäus Begius, Joh. Bapt. Mantuanus, Caftiglione, Bembo, 
Politian, Fracaftoro, von den Deutfchen Eoban Heffus und Joahim Game: 
rarius, von den Jejuiten Pontanus und Turrianus. Die Charakteriftif der 
einzelnen verrät, daß Balde mit ihren Schriften gut befannt war. Die 
ganze Armee der Humaniften richtet indes nichts aus. Man wendet fich 
ſchließlich nach Delphi, und auf den Entſcheid des Apollo werden jetzt die 
„Antiten“ aufgeboten: Bergil, Horaz, Lucan, Seneca, Statius, Silius 
Italicus, Claudianus; dann Ennius und Qucretius, Gatullus, Tibullus, 
Propertius, auch Plautus und Terentius, endlih Martial, Juvenal und 
Perfius. Diefe find einzeln vorzüglih harakterifiert. Hier ift Balde völlig 
zu Haufe. Den vereinten Bemühungen gelingt die Eroberung; das Schloß 
wird genommen und gejchleift. 


664 Siebtes Kapitel, 


Siebtes Kapitel. 
Andere Meulateiner des 17. und 18. Jahrhunderts. 


Balde fand in Münden jelbft einen Nadeiferer an P. Adam Widl, 
einem Mündener (1639—1710), der jein ganzes Leben als Profeſſor den 
dumaniftiiden Studien widmete. Seine begeifterte Ode auf Balde ift oft 
abgedrudt worden. Wenn er aud fein Borbild nicht erreicht, fo enthalten 
jeine Gedichte (Lyricor. libri III und Epodon liber I) do viel Schönes 
und Anziehendes. Wie Balde ift er voll der wärmften Begeifterung für die 
Herrlichkeit und Größe des alten Deutſchen Reiches, beflagt in tiefgefühlten 
Trauerflängen die innere Zerriffenheit, durch welche es der Zankapfel und 
die Beute fremden Einfluffes geworden!. Jubelnd begrüßt er in einem 
Gedicht an Kaiſer Leopold I. den Sieg der kaiſerlichen Warten über die 
Zürfen bei St Gotthard (1664)?. Eine intereffante Ode an Bernini zeigt 
feine Bekanniſchaft mit der zeitgenöffiichen Kunft und die lebendige Wechſel— 
wirkung, in welcher der Humanismus bis ins 18. Jahrhundert hinein mit 
der bildenden Kunſt blieb3. Sehr ſcharf verurteilt er die zunehmende „Auss 
länderei” in Literatur, Mode und Erziehung. 


Inde vestitus hodierna monstra, 

Et procelloso caligae tumore, 

Pilei miri patria videntur 
Ludere terra: 


Teutones olim monimenta tradunt 
» Öre Barbatos, modicos fuisse 
Crinium, longos neqüe protulisse 
Vertice cirros: 


Nunc fluens manat coma, barba curta est; 
Rima stat mento nigra fimbriato, 
Parva subtili modice exarata 

Linea filo: 


Nec suam callet prope Teuto linguam, 

Advenam novit, licet indiserte, 

Guttur accentum, peregrina passim 
Sibila strident ®. 


Die früher erwähnten Schuldramatiter Jakob Bidermann, Jakob 
Majenius, Nikolaus Avancinus und andere haben jämtlih auch epiiche 





! Lyrie. lib. 1, Od. 11 34 54; lib. 2, Od. 1 etc. 

® Lib. 2, Od. 11. ® Lib. 2, Od. 35. 

* Ad parentes Germaniae lib. 3, Od. 24. — Adami Widl Lyricorum 
libri tres, Ingolstadii 1674, 393 394. 


Andere Neulateiner des 17. und 18. Jahrhunderts. 665 


und lyriſche Gedichte verfaßt, Aoancinus ſogar eine ftattlihe Odenſamm— 
lung in vier Büchern, die fi durch Geift, Kraft und Eleganz auszeichnet, 
aber die Mannigfaltigkeit und Lieblichkeit Baldes vermiffen läßt!. Um fo 
mehr macht fich Iehtere bei dem mwaderen Schwaben Johann Bijfel 
geltend, der 1601 in Babenhaufen geboren, 1682 in Amberg ftarb. Seine 
„Wonnen des Frühlings“, „Wonnen des Sommers“, „Amerikaniſche Ar— 
gonautenfahrten“, „Bibliſche Jamben“, „Ikarusflüge“, beſonders auch jein 
„Diener Marias“ und ſeine „Bayriſche Palme“ ſind reich an den origi— 
nellften Naturſchilderungen, köſtlichen Zügen aus dem Leben, feinen Reiſe— 
ſtizzen, wahrhaft poetiiden Erzählungen aus der Legende und Geſchichte?. 
Den antiten Olymp läßt er beifeite. Die Fülle eigener Beobadhtung und 
Empfindung genügt ihm. Die Friſche und Einfalt derjelben madte ihn 
zu einem Liebling Annettes von Drofte-Hülshoft, die befonders jein „Mujeum“ 
und feine Erzählung von „Suſanna“ bemunbderte. 

Johann Kreihing aus Deventer (1596—1670), Rektor zu Bamberg 
und Erfurt, Beichtvater des Kurfürften zu Mainz, ahmte in der Form feiner 
Elegien mit Glück Properz nah. Sehr Schön ift die „Klage der Mutter 
Gottes über das verlorene Jeſukind“, der „Seefturm am Borgebirg der 
Guten Hoffnung”, die Elegie über die „Eitelkeit der Mädchen“. 

Unter den zahlreichen Jeluitendichtern der Niederlande ragen beſonders 
die drei Elegiter Sidronius Hosjhius (de Hosihe, 1596— 1669), 
Jakob Wallius (1599—1680) und Wilhelm Becanus (1608 bis 
1683) hervor. Von dieſen ift wieder Hosihius ein Formkünſtler erften 
Ranges, der an Reinheit der Sprade und Glätte der metrifchen Form 
ſowohl Balde als Sarbiewski übertrifft, dafür aber auch weniger eigenartig, 
vieljeitig und felbftändig if. Zwar flagte er jelbft: 

Nam mea dum priscis committo carmina scriptis, 
Sive tuis, Naso, sive Tibulle tuis: 


Et pudet et nostrae subeunt fastidia venae, 
Meque rudem quamvis non putor, esse queror; 


allein der Bau feiner Diſtichen ift von tadellofer Vollendung, ſogar ohne 
die Mängel und Lizenzen, die Gatull und Ovid ſich gelegentlih gönnen. 
Diejem lebteren kommt er an Leichtigkeit nahe, während feine Feinheit 
und Glätte mit jener des Gatull, Tibull und Properz mwetteifert. Wallius 


ı NM. Scheid S. J., P. Nikolaus Wvancini, ein Öfterreihifcher Dichter des 
16. Jahrhunderts. (Programm), Feldkirch 1899, 

° I. Bisselius, Cliens Marianus (Münden 1634); Palma Boica (Ingol- 
ftabt 1636); Icaria (ebd. 1637); Elegiae seu deliciae veris (ebd. 1638); Aestas 
(München 1644); Argonauticon Americanorum (ebd. 1647); Antiquitatum angeli- 
carum Tuba lambica (Amberg 1670); Leo galeatus (ebd. 1676). 


666 Siebtes Kapitel. 


aus Gourtrai, erft Lehrer der Humaniora, dann Mijfionär, wurde bon 
Hosihius jelbft als gewandter Elegiler befungen, und Becanus ift ein würdiger 
Dritter in diefem Bunde. Hermann Hugo aus Brüffel (1588 —1629), 
der Feldfaplan des ſpaniſchen Generals Spinola und der Chronift der 
Belagerung von Breda (die Ealderon in feinem erften Drama feierte), Hinter: 
ließ 45 Elegien (Pia desideria: gemitus, vota, suspiria), die ins Fran: 
zöfiſche, Engliihe, Deutihe, Flämiſche und Holländiſche überjeßt wurden 
und durd die freie Bearbeitung des Jeſuiten Pedro de Sala aud in der 
ſpaniſchen Literatur einen ehrenvollen Pla erhielten. 

Mit Glüd pflegten die Elegie ebenfalls Nilolaus Sufius (1572 
bis 1619), Franziskus von Montmorency (1578—1640) aus 
gräflichem Gejhleht, Joh. Surius aus Bethune, Wilhelm Grumjel 
(1607—1680), Karl Malapert aus Bergen (geft. 1630 zu Maprid), 
Montanus (Ban den Berghe) und Walter Baullus (1587—1672). 
Als Lyriker, Elegiter und zugleich tüchtiger Epigrammatiter ward Balduin 
Gabilliau (1568—1652) geſchätzt; als geiftlicher Liederdihter und Epi- 
grammatiter Bernhard Bauhufius (1575—1619). 

Einen originellen Weg betrat Angelin Gazet (1568—1653), erft 
Rhetorikprofeffor, dann Rektor mehrerer Unterrichtsanftalten, zeitweilig Sekretär 
des Ordensgenerals Glaud. Aquaviva. Wohlvertraut mit den römiſchen 
Satirifern und Komilern, aber auch mit der alten Literatur überhaupt, voll 
iharfer Beobadhtung, Wi und feinem Humor jhlug er in feinen Pia 
hilaria (Douay 1518) ftatt des hergebradhten elegijhen Ernſtes einmal den 
Grundton einer muntern Komif an, die fi allerdings nie in die derben 
Regionen des Plautus verliert, jondern immer fein humoriſtiſch bleibt und 
jelbt im Sarkasmus hriftlide Bildung und Liebe nicht vergibt. Balde 
erwähnt ihn in feinem Encomium torvitatis al& feinen Humaniften, bei 
dem der anſcheinende Grimm und die beißende Schärfe ſich mit künſt— 
leriſcher Liebenswürdigleit gejellt, jelbft das Bittere fih in Süßigfeit ver: 
wandelt !, 

Joh. Bincartius aus Lille (1593—1674) übertrug die Yorm von 
Ovids Heroiden auf religiöfe Stoffe. Antonius Deslions bejang den „Schub: 
engel“ und die „Marienverehrung”, Karl Werpäus „Vifionen des hl. Ignatius 
in der Höhle von Manreja“, Jakob de Codt die Altväter „Jubal und 
Tubalkain“. 

Auch Frankreich iſt unter den Jeſuitendichtern ſtark vertreten. Schon 
Edmond Augier (1530—1590), einer der erſten Franzoſen, welche der 
Gejellihaft Jeſu beitraten, gab einen gefäuberten Martial heraus und ver- 
fabte eine Weihnadhtsode. Ein jpäterer Jeſuit, Edmond d’Augiere, 





'L Balde, Opera poetica omnia III, Monach. 1729, 352. 








Andere Neulateiner bes 17. und 18. Jahrhunderts. 667 


den Jöcher mit ihm verwecjelte und der 1634—1709 Iebte, war ein jehr 
fruchtbarer Dichter. Hohen Ruf erwarben ih Pierre Yufte Sautel 
(1613—1662) dur feine Epigramme, Elegien, namentlich eine meifterlidhe 
Bearbeitung des Arion-Mytdus; Rene Rapin (1621—1687) durch feine 
Eklogen und Oden, beſonders dur ein in Form des Idylls behandeltes 
Marienleben; Jean Gommire (1620—1702); Leonhard Frizon 
(1628—1700); Noel Etienne Sanadon (1676—1733) durch vor— 
zügliche Inrifche Gedichte; Jacques VBaniere (1664—1739) durch fein 
Lehrgediht Praedium rusticum, ein Seitenftüd zu Vergils „Georgica” ; 
Louis Gellot (1588—1658) durch eine „Mauritiade“, lyriſche und 
dramatiihe Gedichte. Charles de la Rue (1643—1725) verherrlichte 
die Kriegszüge Ludwigs XIV. in lateinischen Verſen, die Gorneille ſelbſt 
ins Franzöſiſche übertrug, und erwarb ſich mit feinen Tragödien, unter 
welchen „Agapit“ hervorragt, wie mit feinen „Lyrica“ in hohem Grade die 
Bewunderung des Haffiihen Zragiters. Francois Joſeph Desbillons 
(1711—1789) woetteiferte als Fabeldichter erfolgreih mit Lafontaine. 
Merkwürdigerweife fällt eine Art Blütezeit diefer lateiniſchen Dichtung 
mit der Hocblüte des franzöfiichen Klaſſizismus zufammen. Als ihr 
Hauptvertreter gilt Jean de Santeul (1630—1697), der fih unter 
die regulierten Chorherren von Saint-Bictor aufnehmen ließ, aber nur die 
Subdialonatsweihe empfing. Auf einer Sammlung feiner Gedichte, die 
nur zwei Jahre vor feinem Tode erſchien, nennt er ſich jelbft „Fürſt der 
Dichter dieſes Jahrhunderts“. Seine Hauptleiftung find Kirhenhymnen 
in ganz antikem Stil, wie fie der Erzbiihof von Paris bei ihm für eine 
Revifion feines Diözefanbrevierd beftellte, an Stelle der altehrwürdigen, 
ihlichteren und frömmeren, welche bereit3 eine lange Vergangenheit geheiligt 
hatte. Sie entipradhen aber dem Zeitgeſchmack, und jo gingen ihn aud andere 
Kirchen, ſowie die Gluniacenfer um ähnlihe Hymnen an. Mit Unter 
ſtützung feines älteren Bruder Claude de Santeul (1628—1684), der 
auch jelbftändig Hymnen dichtete, Fam er all diefen Wünſchen entgegen. 
Daneben jchrieb er Oden, Elegien, Gelegenheitägedihte und Inſchriften, 
welche über ihr Verdienft gewertet wurden. Er hat bei weiten nicht bie 
Gedanfenfülle und den Schwung Baldes, aber große Versgewandtheit und 
gefällige Eleganz. Prinzen von Geblüte, hohe Staatsbeamte, Gelehrte tie 
Menage, Jejuiten und Janjeniften feierten ihn um die Wette, und Gorneille 
hat mehrere feiner Gedichte ind Franzöfifche überſetzt. Wie jhon Chapelain 
1660 in einem Briefe an den geledrten Peter Daniel Huet bedauerte, 
daß der Hof von Verſailles nicht genug Latinität befähe, um in ihm einen 
neuen Doraz zu würdigen, jo meinte P, Commire in einer Ode an San: 
teul, daß der Ruhm der lateinischen Poeten all die gefeierten Hofdichter 
Ludwigs XIV, überleben würde. Dieſe Verheißung hat fi zwar nicht 


668 Siebtes Kapitel, 


erfüllt, aber die Pflege einer feinen Latinität hat au an dem berühmten 
Muſenhofe unzweifelhaft mitbeigetragen, künſtleriſches Formgefühl und feinen 
Geihmad zu nähren!. 

In Italien, der eigentlihen Heimat de Humanismus, bemwahrte die 
neulateiniijhe Poeſie den Charakter einer uralten Überlieferung, und die 
Schulübung mwedte mande Talente, welde die bloße Schablone und Routine 
durchbrachen und wirklich poetifche Erzeugniffe zu ftande braten. Noch 
dem 16. Jahrhundert gehört Francesco Benci an (1542—1594), Profeflor 
der Rhetorif in Rom, ein Schüler Murets. An ihn reihen fih Andrea 
Biandi von Genua, Konftantin Pulharelli aus Neapel (geft. 1610), Em: 
manuel Teſoro aus Turin, Giovanni Batt. Giattini aus Palermo, der 
hervorragende Drientalift Giov. Maria Campori, Franz Carrera aus 
Sizilien (1629 — 1706), Giov. Batt. Masculo aus Neapel (1583— 1656), 
Guil. Dondino aus Bologna (1606—1678), Aleffandro Donati aus Siena 
(1584— 1640), Leone Santi (1584—1651), Pietro Mloifi aus Neapel 
(1584—1667), Carlo Noceto (De Iride et aurora boreali, Romae 1747). 

Vicenzo Guinifi aus Lucca (geft. 1653), der außer kleineren Gedichten 
au ein Drama über den Hl. Ignatius ſchrieb, ftand mit Papſt Urban VII. 
in freundichaftlicher Beziehung. Nitolaus Parthenius Giannettafio aus Neapel 
(1648—1715) zeichnete fih duch friſche Schilderung des Fiſcher- und 
Schifferlebens aus (Piscatoria et nautica, Halieutica, Naumachia). 

Wohl die ſchönſte neulateiniſche Dihtung am Schluß des 17. Jahr: 
Hunderts (1699) ift der Puer lesus des Thomas de la Ceva aus 
Mailand (1648—1737), eines vorzugsweiſe in den exakten Wiſſenſchaften 
hervorragenden Gelehrten, der vierzig Jahre lang Mathematik dozierte. Nichts: 
deftoweniger ift fein idylliihes Epos mit dem Zauber der innigften Poeſie 
und Andacht verklärt. 

Der Jeſuit Raymund Cunich, aus Raguſa gebürtig (1734 bis 
1794), auch nad der Aufhebung des Orden: Profeſſor am Römiſchen 
Kollegium, lieferte eine treffliche metriihe Überjegung der griechiſchen An- 
thologie und verfuchte fih dann auf Anregung des Fürften Odescaldi mit 
nicht geringerem Glück an der Iliade Homers. Dieſe formgewandte über: 
tragung ift fpäter mehrmals mit dem Urtert, mit der lateinischen Proſa— 
überjegung Keynes, der deutſchen von Voß, der engliichen von Pope, der 
franzöfiihen von Wignan und der ſpaniſchen von Garcia-Malo heraus: 
gegeben worden. Sein Landsmann und Ordensgenoſſe Bernard 3a: 
magna (1735—1820) überjegte mit ähnlicher Gewandtheit aud die 


! Ioa. Bapt. Santolii Victorini poötaram huius saeculi principis Opera 
poötica, Parisiis 1695. — M. Dinouart, Santoliana: ouvrage qui contient la 
vie de Santeul, ses bonsmots etc., Paris 1764. 


Andere Neulateiner des 17. und 18. Jahrhunderts, 669 


Odyſſee, und fo ward denn nad vielen Jahrhunderten endlich jener Lieb- 
lingsgedanfe verwirklicht, der den großen Renaiffancepapft Nikolaus V. 
jo lebhaft beſchäftigt Hatte: einen lesbaren lateiniſchen Homer zu befiten !. 

England, wo die Gejeggebung jeden Jefuiten mit Kerker, Galgen und 
Vierteilung bedrohte, ſchien dem fatholifhen Humanismus jede weitere Ent: 
widlung abzufhneiden. Dennoch Hat aud hier Thomas Morus nicht nur 
als Märtyrer, ſondern auch als Humanift Nachfolger gefunden. Edmund 
Gampian (1539 in London geboren, 1581 ald Zeuge jeine® Glaubens 
daſelbſt hingerichtet), jchrieb zwei Tragödien „Abraham” und „Saul“, Die 
1575 und 1576 mit vielem Beifall in Prag, fpäterr auh in München 
aufgeführt wurden. Robert Southmwell, der, 1560 in der Grafſchaft 
Norfolf geboren, 1595 als Märtyrer zu Tyburn ftarb, verfaßte feine er: 
greifende Clegie „St Peters Klage“ und andere Gedichte, die noch im 
Jahre feines Todes erſchienen, in engliſcher Sprade; in neuerer Zeit find 
aber auch lateinische Gedichte von ihm aufgefunden und veröffentlicht worden, 
Zu Douay, als Verbannter um des Glaubens willen, verfaßte der engliſche 
Kartäufer Robert Clarke um 1650 feine „Chriftiade“, ein ergreifendes 
Seitenftüd zu derjenigen Vidas, voll der tiefften Andacht zu dem Leiden 
des Erlöfers?®, 

Der Portugiefe Francisco de Macedo aus Coimbra bdichtete einen 
„Stanz Xaver” und eine „Glifabeth von Portugal“ ; Andreas Moraguez 
aus Majorca (1560—1598) verfaßte gefhmadvolle Elegien. Der Pole 
Albert Ines (1626—1658) nahm fi) Sarbiewsti zum Vorbild und ver- 
Öffentlichte ein Liederbuch, das in feinem zarten Marienlob und feinen vater: 
ländifchen Oden lebhaft an denfelben erinnert. Ebenfalls als Sänger Marias 
zeichnete fi der böhmiſche Geſchichtſchreiber Bohuslav Aloys Balbinus aus 
(1621 zu Königgräß geboren, 1689 zu Prag geftorben). 

Die neulateinifche Dichtung ftellt aber nicht nur ein geiftiges Band dar, 
welches Deutjche und Franzofen, Niederländer und Engländer, taliener und 
Spanier, Polen, Böhmen, Ungarn vereinigte, ihre Grenzen reichten noch viel 
weiter hinaus. Bereits amı Ende des 16. Jahrhunderts dichtete der ehriwürdige 
Miſſionär Joſeph de Andhieta (1533—1597) in Brafilien, der erfte 
Grammatiker einer brafilianishen Indianerfprade, nicht nur in fpanifcher, 
portugiefifher und braſilianiſcher Sprache, fondern verfaßte auch ein „Marien: 
leben“ in 2086 lateinischen Diftihen. Bartholomäus Pereira beſang 


! De vita Raymundi Cunichii commentariolum, Romae 1795. 

® Christiados sive De Passione Domini et Salvatoris nostri lesu Christi. 
Authore Düo. Roberto Clarke, Brugis 1670. — Die Ehriftiade von Robert 
Clarke metriſch überjegt von U. KH. Walthierer, Ingolſtadt 1853. — Bol. 
K. Benkner, Die Clarkeſche Ehriftiade (Beilage zur Augsb. Poftzeitung, Nr 11, 
24. Februar 1900). 


670 Siebtes Kapitel. 


in einer formgewandten Epopöe (Paciecidos libri XII) das Leben und den 
Heldentod des Miſſionsbiſchofs Franz Pacheco, der 1626 in Japan als 
Märtyrer ſtarb. Mexiko erhielt feinen Dichter an Diego Joſeph Abad, 
der, 1727 in Mexilo jelbft geboren, als Opfer der Verfolgung 1779 ver- 
bannt zu Bologna ftarb. Seine ſchwungvollen Betrachtungen über Gott 
und das Erlöfungswerk find erft neuerlih zu Merito ins Spaniſche über: 
tragen worden !. 

Um Schluß der langen Reihe don lateinischen Dichtern aus der Ge- 
ſellſchaft Jeſu verdient auh P. Michael Denis ein Wort der Erinnerung, 
der durch feine deutſchen Gedichte jo treu und redlih an der Grundlegung 
unjerer deutichen Literatur mitgearbeitet hat. Vielleicht das ſchönſte Gedicht, 
das er je gejchrieben — es ift wie mit feinem Herzblut gejchrieben —, ift 
fein Gediht an „Meine unterdrüdte Gejellihaft“ (Exstinctae Societati 
meae). Er hat es 1799 verfaßt, als Greis von 76 Jahren, 26 Jahre 
nad der Unterdrüdung des Ordens ?, 


Pauca sodalitii superant iam membra beati, 
Cuius ego quondam pars quotacumque fui; 

Cuius in exeidium solers armavit Avernus 
Quidquid ei toto militat orbe mali. 

Venales pretio linguse, mordacia scripta, 
Confictique metus, livor opumque sitis 

Agmine nos facto circumfremuere; nec usquam 
Cura laborantes ulla levare fuit. 

Nil iavat ingenuis teneram formasse iuventam 
Artibus et mores edocuisse bonos; 

Tot claros genuisse viros, quos nescia mortis 
Innumeris loquitur fama voluminibus; 

Semina divinae legis sparsisse per urbes, 
Oppida et agrestis fumida tecta casae; 

Pulvillis regum morientum, inopumque grabatis 
Advigilasse pari nocte dieque fide; 

Tinxisse extremas sudore et sanguine terras, 
Quas oriens Phoebus lustrat et occiduus: 

Ut regio nusquam nostri non plena laboris 
Pro Christo et sancta religione foret. 





ı J. Anchieta, De Beata Virgine Dei Matre Maria, bei P. S. de Vas- 
concellos, Chronica do Brasil, Lisboa 1668, 481—528, und in desſelben 
Vida do Venerable P. J. de Anchieta, Lisboa 1672, 4483—593. — P.B. Pereira, 
Paciecidos libri XII (mit franzöfifcher Überjegung von X. Guihon be Grand: 
pont, Paris 1887). — D. J. Abad, De Deo, Deoque homine Heroica®, Cesens 
1780; Cantos epicos a la Divinidad y Humanidad de Dios, traducidos al verso 
eastellano por Enrique Villaseüor, Mexico 1896, 

» Michael Denis’ Literarifcher Nachlaß, herausgeg. von J. F. Freiherr 
v. Raßer, 2. Abteilung, Wien 1801, A. Pichler, 76 77; abgebrudt bei F. J. Li- 
powsty, Geſchichte der Jeſuiten in Bayern, Vorwort. 





Andere Neulateiner bes 17. und 18. Jahrhunderts. 671 


Nil iuvat. Exigimur laribus, disiungimur atque 
Fraterno inviti solvimur officio, 

Proh! tantum potuit vis coniurata malorum! 
Tantum hominum caecae pectora noetis habent! 

Scilicet aurea saecla tibi reditura putabas, 
Europa, a nostri clade sodalitii. 

Credula! tolle oculos, partem eircumfer in omnem, 
Et quae sit facies rerum hodierna vide! 

Adspieis infestos populos, agitataque regna 
Alterum in alterius proruere exitium; 

Templa profanata, et pollutas caedibus aras, 
Undique et horrenti diruta tecta situ; 

Cive domos vacuas, desertaque rura colono, 
Perfugium miseris vix super exulibus. 

Insultat caelo impietas; reverentia legum 
Nulla; fides cessit, fasque pudorque procul. 

Omne ruit temere frenum indignata iuventus, 
Et florem aetatis deterit ante diem, 

Non ego sum Nemesin qui caelo devocet, aut qui 

Cuncta haec de nostro funere nata velit. 

Sunt tamen, averti aut minui potuisse ruinam 
Qui nostro incolumi corpore stante putent. 

Signassemus enim praeclaram sanguine causam 
Aut populis nostra mens rediisset ope. 

Haeec alii. Mihi non tanta est fiducia nostri; 
Supremi veneror Numinis arbitrium. 

Quodque licet, tumulos obeo, sparsasque per orbem 
Complector fratram pectore reliquias. 

Queis ubi summa dies iam fesso iunxerit aevo, 
Haec erit ad tumulum spes mihi fida comes: 

Posteritas, quae non odio nee amore feretur 
Pensabitque mei gesta sodalitii: 

„Coetum hominum talem, dicet, nec prisca tulere, 
Nec conata licet, saecla futura ferent.“ 


Bon hohem geihichtlihen Intereſſe wie von literariſchem Wert ift der 
Anti-Lucretius des Kardinals Melchior von Polignac. Diejer hoch— 
begabte und vieljeitig gebildete ranzofe, der 1704 an Bofjuets Stelle Mit: 
glied der Franzöfiihen Akademie ward, Ludwig XIV. auf dem Kongreſſe 
zu Getrugdenberg (1710) und Utrecht (1712) vertrat, 1713 das Kardinal3- 
barett erhielt, lernte während feines Aufenthaltes in Holland den Steptiter 
Bayle kennen, der fi ihm gegenüber als guten „Proteftanten“ auffpielte, 
aber nur in dem Sinn, daß er gegen alles proteftierte und dabei jehr Häufig 
Lucrez zitierte. Dies veranlaßte Polignac, Lucretius genauer zu ſtudieren 
und in einem umfangreicheren Lehrgedicht zu widerlegen, welches zugleid 
Gott als höchſtes Gut des Menſchen und letztes Ziel der gefamten Schöpfung 
feiern follte. Diejes Ziel ift zum Teil im glüdlicher Weiſe erreiht; nur ift 


672 Siebtes Kapitel. 


die breite Ausführung allzuſehr auf die kosmologiſchen Meinungen Descartes’ 
gegründet und darum wiſſenſchaftlich nicht haltbar. Form und Sprache ver- 
einigen aber oft glüdlid die Kraft des Lucretius mit der Feinheit des Vergil. 
Der Kardinal ftarb 1741, bevor er das Gedicht ganz vollendet hatte. 
Dasjelbe wurde aber ganz in jeinem Stil von Rothelie und Lebeau ergänzt 
und jo im Jahre 1745 veröffentlicht. 

Da die bung im Iateinifhen Versbau ein Beftandteil des mittleren 
Unterricht blieb, jo Hat fih auch im proteftantiichen Deutſchland noch im 
17. und 18. Jahrhundert die Kunſt der lateinischen Verfififation in weiterem 
Umfang erhalten. Sowohl Martin Opitz von Boberfeld wie Paul 
Fleming haben fi nicht nur an antiten Muftern zu deutſchen Dichtern 
herangeſchult, ſondern auch lateiniſche Gedichte hinterlaffen, der leßtere jogar 
in anjehnlihen Sammlungen, welche eine gründliche Belanntfhaft mit den 
alten Dichtern und eine gewiffe Selbjtändigfeit der poetijchen Geftaltung 
verraten. Auch Leibniz, der univerfellfte deutſche Gelehrte des 17. Jahr: 
Hundert3, hat fi durch ein lateinifches Gedicht auf den Tod des Herzogs 
Johann Friedrih don Hannover als Schüler des älteren Humanigmus aus 
gewiefen. Fruchtbarer betätigte fi) auf diefem Gebiet Kaſpar v. Barth 
(1587—1658), doch nur in feinen jüngeren Jahren; jpäter wandte er ſich 
ganz eigentlich philologifhen Arbeiten zu!. An zahlreihen Schulen wurde 
das Lateinſprechen und das Abfaſſen Lateinifcher Verſe (wenn es ſich aud 
meift nur auf rein mechaniſche, metrijche Übung beſchränkte) auch während 
des 18. Jahrhunderts beibehalten, und noch der Philofoph Schelling glänzte 
1785 als zehnjähriger Knabe bei der Prüfung bauptfählih dadurch, daß 
er zu feiner lateinifhen und griehiichen Kompofition noch fünf lateinifche 
Diftiha „Über die Kunſt des Schweigens“ Tieferte?. Ein bedeutender Dichter 
in lateiniſcher Sprade ift indes an all den zahlreichen Schulen nidt erjtanden. 

Es würde den Rahmen unferer Aufgabe weit überſchreiten, wenn wir 
die bisherigen Umriffe mit noch meiteren Einzelangaben ergänzen wollten. 
Einer eingehenderen Monographie wäre diejer ganze Literaturzweig aber fiher 
wert, Es ift ungemein leicht, denjelben ala „totgeborene Kinder einer über 
Holten Zeit”, als „Gentonen-Quarf“, als „Rokoko-Muſeum“, als „erjtarrte 
Lavaſchlacken“, als „Formelkram einer unwiſſenſchaftlichen, überwundenen 
Schulperiode” von der Schwelle abzumeifen; aber mit ſolchen kühnen Phraſen 


PB, Slemings lateinifhe Gedichte, herausgeg. von J. M. Lappenberg 
(Bibliothek des Literarifchen Vereins LXXIII), Stuttgart 1863. — G. G. Leibniazii 
Epicedium in obitum loanuis Friederiei (Recentiorum poetarum Germanorum car- 
mina latina ex rec. OÖ. T. Roenickii I, Helmstad. 1748, 3 f). — C. Barthius, 
Iuvenilia, Silvarım, sermonum, elegiarum etc. (1607). 

? Friedr. Pauljen, Gefhichte des gelehrten Unterrichts auf dem deutſchen 
Schulen und Univerfitäten, Leipzig 1885, 471 472. 


Andere Neulateiner bes 17. und 18. Jahrhunderts. 673 


ift meiften® nur dargetan, daß diejenigen, welche fie im Munde führen, 
diefe neulateinische Poefie jo gut wie gar nicht fennen, in der humaniſtiſchen 
Literatur überhaupt wenig zu Haufe find. Für die Geſchichte der neueren 
Bildung und Literatur ift damit nichts erklärt und nicht gewonnen. Denn 
überall bei unſern Slaffitern wie bei jenen der Franzoſen, Engländer und 
Italiener ſtoßen wir auf die neulateinische Poeſie als ein Mittelglied zwiſchen 
dem Humanismus der Nenaiffancee und der neueren Geiftesentwidlung !. 
Voltaire, Windelmann und Lejfing haben noch mit manden dieſer Poeten 
zufammen gelebt. Die literarijhe Atmoſphäre, im der fie aufwuchſen und 
fih ſchulten, war noch ſtark von jenem Humanismus durchſetzt, den Die 
alte Lateinſchule weiter überlieferte. Was diefe Schule bot, war nicht alles 
Formelkram, Vedanterie, überlebte Schablone. Kein Geringerer als Gott: 
fried v. Herder Hat in feinfinnigfter Weife dieſes Vorurteil widerlegt: 
„Alles alſo, was den Geihmad der Alten unter uns befördert, jei uns 
wert, Ausgaben, Überſetzungen, Kommentare, Nahahmungen; unter diefen 
Nahahmungen au die neuere lateinifhe Poesie zu nennen, ſcheue 
ih mid nit. Sie war immer ein Zeichen, daß man die Alten fannte 
und liebte, daß man über neuere Gegenftände im Sinne der Alten dachte, 
dab man ihre Richtmaß an diefe neuen Gegenftände zu legen wagte. Sie 
bat viel Gutes gewirkt. Latein jagte man, was man in der Landesſprache 
nicht jagen konnte oder durfte; nahahmend ſprach man gleihjam die Alten 
nad und fagte ihnen feine Lektion auf; man freute fi, dab man fie aus 
ihnen gelernt und ungefährdet auffagen konnte. Über die Vorurteile feiner 
Zeit, feine Ordens, Volkes und Standes hob mander fi, ohne daß er 


ı Über den Nußen ber Übung in ber Anfertigung Yateinifcher Verſe fagt 
P. Brumon (M&moires de Trevoux, 1 Mai 1722) jehr treffend: Nous avons peine 
à sentir et à transmettre dans nos &crits toutes les finesses poétiques des anciens, 
malgr& le gönie et le travail; que serait-ce done si contents de lire leurs @uvres, 
nous ne composions pas dans leur langue et dans leur maniere? Combien 
de beautes s’eclipseraient a nos yeux?... Personne n’aura la clef ni de 
l’ingenieux Ovide, ni du sage Virgile, ni du galant Horace, s’il ne s’est, pour 
ainsi dire, naturalise dans le siècle d’Auguste, par une imitation du langage, 
des maniöres, des tours, de la cadence qui rögnent dans les &crits de ces illustres 
morts,... Sans le secours de la po6sie latine, on n’acquiert point intelligence 
parfaite des modeles latins.... La po6sie latine ne fait pas le genie; mais elle 
sert a le r6gler en lui faisant pendtrer ses modöles.... La poésie, générale- 
ment parlant, enseigne & faire un choix de mots, de pensdes, de tours; à re- 
trancher, à polir, à rimer, à donner de l’ordre aux idées et de l’'harmonie aux 
phrases; or ce que fait la poösie en general pour faconner le style, la podsie 
latine le fait bien plus sürement pour former le goft, puisqu’elle apprend seule 
a suivre les routes secrötes de la nature que les Anciens ont si bien trouvées 
(P. Camille de Rochemonteix, Le Collöge Henry IV de La Fleche III, 
Le Mans 1889, 71 72). 

Baumgartner, Weltliteratur, IV. 3, u. 4. Aufl. 43 


674 Achtes Kapitel. 


es wußte, auf Schwingen irgend eines alten Dichters empor; oder wenn 
er hierzu nicht Kraft genug hatte, kam er doch nahahmend dem Geſchmack 
und befjeren Verftändnis des Dichters, in deffen Weile er jchrieb, näher und 
ward, auch nadjlalfend, mit ihm vertraute. Endlich ſchloß fi durch die 
neuere lateinische Poeſie eine Gefellichaft zufammen, von der vorher nod 
feine Zeit gewußt hatte; in Italien, Spanien, Portugal, Franfreih, den 
britanniſchen Inſeln, den nordifhen Königreihen, in Livland, Polen, 
Preußen, Ungarn, in Deutjhland, Holland uſw. Hat man lateinisch nicht 
nur berfifiziert, fondern bie und da gewiß auch gedidhtet. Italien, Frank: 
reih, Deutichland, Polen, vor allen Holland Hat Männer gehabt, die mit 
dem Latein mie mit ihrer Mutteriprache umzugehen mußten und in ihm 
Gedichte gaben, die in jeder Landesſprache Aufmerkſamkeit gebieten würden. 
Selbft die vortrefflihen Dichter, die der Sprade und Poeſie ihrer Nation 
eine befjere Geftalt gaben, hatten diefe meiſtens im Lateiniſchen zuerft ver— 
ſucht, wie außer den talienern die Beifpiele Miltons, Cowleys, Grotius’, 
Heinfius’, Opitz' ufw. zeigen. Faſt alle Reformatoren, Erasmus, Luther, 
Zwingli, Melandtbon, Gamerarius, Beza uſw., waren Liebhaber der 
Alten, Liebhaber der griechiſchen und lateinifchen Dichtkunſt. Die gebildetften 
Staatämänner, wie Thomas Morus, de Thou, Höpital ufw., Botjchafter, 
Päpfte, Kardinäle waren lateinische Dichter. Ein Helilon vereinigte fie und 
wedte Stimmen vom Ätna bis zum Hella, vom Ausfluß des Tajo bis zur 
Weichſel und der Düna.” ! 


Achtes Kapitel. 
Die Sateinifhe Dichtung im 19. Jahrhundert. Seo XIII. 


Bei allem Anfehen, deſſen Gottfried d. Herder genoß, haben die An: 
fihten, die er 1796 in feinen „Humanitätsbriefen“ äußerte, wenig Ber: 
breitung gefunden. Die gewaltigen geiftigen wie materiellen Ummälzungen, 
welche feit der großen franzöfiichen Revolution über Europa dahingegangen, 
lentten das gejamte Geiftesleben nod viel weiter von den einftigen mittel: 
alterlihen Bahnen ab, al es die Glaubenstrennung des 16. Jahrhunderts 
getan. Der Staat riß nicht nur weite Ländergebiete an fi, welche fid 
bis dahin im Befite geiftliher YFürften befunden Hatten, ſondern eignete fid 
auch immer mehr Rechte an, namentlich in Bezug auf Schule und Unterricht, 
welche bis dahin die Kirche ausgeübt oder die jelbftändiger individueller und 





' Gottfr. v. Herder, Briefe zur Beförderung ber Humanität. 8. Samm: 
lung 91 (Werke [Hempel] XII 420 421). 


Die lateinische Dichtung im 19. Jahrhundert. Leo XIIL 675 


forporativer Tätigkeit freigelaffen waren. Eine vorwiegend weltliche Bildung 
drängte allüberall die religiöfe, geiftliche zurüd. Unter dem Einfluß der 
proteftantiihen Theologie gab mancherorts aud die fatholifche die biäherige 
lateiniſche Schulſprache ganz oder teilmeije auf und vertauſchte fie mit der 
betreffenden Landesſprache. Die neuere Philofophie warf von Kant an die 
altichofaftiihe Sprache völlig über Bord, die Baco und Descartes, Spinoza, 
Leibniz und zum Teil Wolff noch feftgehalten hatten. Nealiftiihe Wiſſens— 
zweige, bejonders die Naturwiſſenſchaften, entzogen übrigens der Bhilofophie in 
wachſendem Maße ihr Anjehen und ihren Einfluß und verdrängten das Latein 
aud aus den Sternwarten, den chemiſchen, phyſikaliſchen und mediziniſchen 
Laboratorien. Nur in den naturgeſchichtlichen Nomenklaturen und in der 
willenihaftlihen Terminologie jchleppten fi hier noch Trümmer und Andenten 
der früheren griechijchen und lateiniihen Bildung weiter. Schon während 
der Aufflärungsperiode nahm aud unter den Juriften die Kenntnis des 
Lateiniſchen ab!; ſpäter nahmen der Code Napoléon und andere neuere 
Gejegbücher vorwiegend das Jntereffe in Anſpruch, das früher fait aus: 
ihlieglih das alte Corpus Juris Civilis und Canonici behauptet hatte. 
Auf dem Gebiete der Geſchichtswiſſenſchaft ward das Latein ins Altertum 
und Mittelalter zurüdgedrängt. Selbft die Philologie vertaufchte in ihren 
gelehrten Differtationen, Kommentaren und Stritifen immer mehr das 
Zateinifche gegen die Landesſprachen, und wo fie e& beibehielt, pflegte fie 
nur die didaktische Proja, während fie die Übung der Iateinifchen Rede 
und Dichtung jelbft an den Gymnafien zujehends verfümmern lief. Denn 
weder die jeit Gottfried Hermann beftehende grammatiſch-kritiſche Richtung 
noch die an Auguft Bödh fih anſchließende hiſtoriſch-antiquariſche Nichtung 
nahm die Tendenz des alten Humanismus zur Nahahmung der altklaffifchen 
Sprade, zur praktiichen Aneignung derjelben, zur jelbftändigen Weiterpflege 
einer lateinifchen Literatur wieder auf. 

Die erjtere Richtung, melde fih hauptſächlich an die Forſchungen der 
niederländifchen und engliichen Philologie anſchloß, erblidte ihr Hauptziel in 
der kritiſchen Wiederherftellung der antiten Schriftwerke, in der möglichft 
genauen Erklärung ihres Sinne, in der Erforfhung der Einzelheiten, be- 
ſonders der Grammatif und Metrit. Die andere Richtung betonte die jog. 
Real: oder Sahforihung und ftrebte, im Anſchluß an die franzöfijche 
Altertumsforihung, die möglichſt allfeitige Erkenntnis des antiken Geiftes in 





ı &o klagt bereit? J. WU. Riegger (Opuscula ad Historiam et Iuris- 
prudentiam pertinentia, Frib. Brisg. 1773, 56): Verum ista antiquissimae simul 
atque nobilissimae linguae existimatio eo apud plurimos recidit, ut jam turpius 
videatur eam scire, quam neseire. ... Et sane quam parum illi prae ceteris 
apud plerosque tribuatur, praecipuas Europae gentes testes volo; quibus iam 
satis diu sollemne est, nec scribere quiequam latine, nec loqui, nec intelligere. 

48 * 


676 Achtes Kapitel. 


all jeinen Erſcheinungen, Religion, Recht, Literatur, Kunſt, Staatsleben und 
Privatleben an. Seine von beiden legte es aber darauf an, lateiniſche 
Redner oder gar Dichter heranzuziehen !. 

Schon im Laufe des 18. Jahrhunderts war übrigens die lateinische 
Poefie in Deutſchland auf ein Minimum zufammengefhmolzen, nicht jo ſehr 
zu Gunften deutjher als franzöfiiher Werke. Merkwürdig find in dieſer 
Hinficht die Angaben, die Fr. Paulfen aus den Meptatalogen zujammen: 
geftellt hat. Diefelben beziehen ſich lediglich auf poetifche Werke, welche in 
den betreffenden Jahren in Deutichland erjchienen find ?, 


Lateiniſch Franzöfiic Deulſch Summa 
1564-—1570 136 1 22 159 
1571—1580 243 23 39 305 
1581—1590 296 4 48 348 
1591— 1600 343 14 32 389 
1601—1610 508 18 114 640 
1611—1620 566 57 117 740 
1621—1630 360 15 129 502 
1631-1640 239 9 118 366 
1641—1650 230 10 287 927 
1651 — 1660 189 15 183 887 
1661 —1670 122 29 193 344 
1671—1680 101 19 187 307 
1681—1690 73 11 215 299 
1691 —1700 62 26 276 364 
1701 —1710 59 3 215 277 
1711—1720 24 20 243 287 
1721—1730 12 9 308 324 
1731-1740 14 60 366 440 
1741—1750 27 145 703 875 
1751 —1760 42 140 837 1019 
1761 -—1770 4 444 1480 1978 
1771— 1780 94 431 2627 3152 
1781—1790 98 421 4380 4899 
1791—1800 2 573 7645 8220 


As ein Zeihen, daß das ntereffe für neulateiniiche Dichtung doch 
nit ganz erlojhen war, mögen immerhin die wiederholten Neudrude gelten, 
welche einzelnen neulateinifhen Dichtern, beſonders Balde und Sarbiewsfi, 
zu teil geworden find. Neuerlih wurden aud die lyriſchen Gedichte des 
P. Simon Rettenbader zum erftenmal aus dem Dunkel des literarischen 
Nachlaſſes Hervorgezogen, eines Benediktiners, der, 1634 zu Aigen bei Sal; 
burg geboren, in Salzburg, Rom und Padua ftudierte, 1659 in das Kloſter 


€. Burfian, Geſchichte der Haffiihen Philologie in Deutichland, München 
1883, 665 666. 


’ Sriedr. Paulfen, Geſchichte bes gelehrten Unterrichts 788. 


Die lateinische Dichtung im 19. Jahrhundert. Leo XIII. 677 


Kremsmünfter trat und 1706 dajelbft farb. Seine Oden berühren fih in 
Stoff und Stimmung häufig mit denjenigen des etwas älteren und ihm 
befannten Balde. „Mag diejer au”, wie der Herausgeber meint, „genialer 
als Rettenbader jein“, jo ift doch auch diefer „ein Mann von großen 
dichteriichen Geiftesanlagen, feine Oden zeugen von echt poetijcher Begabung, 
jeine Sprade ift fiber und leicht.“ ! 

Die englifche Pädagogik hat das Abfafjen lateinischer Gedichte als eine 
überaus nüßlide Schulübung bis herab in die neuefte Zeit beibehalten, und 
e3 hat nit an deutſchen Schulmännern gefehlt, welche diefem fonjervativen 
Zuge ihren Beifall zollten 2. 

Die einftige begeifterte Pflege hat jedoch die lateiniſche Dichtung auch 
in den Schulen der romanifchen Länder, ſelbſt in jenen der wiedererftandenen 
Geſellſchaft Jeſu, nicht mehr gefunden. Nur vereinzelt begegnen wir da 
und dort noch einem wirklichen Dichter, der ſich einigermaßen mit den Zeit: 
genoflen Baldes mefjen könnte, und dieje können faum mehr auf ein größeres 
Bublitum rechnens. Bergeblih ſuchte in den vierziger Jahren ein reicher 
Amfterdamer, Jak. Heinr. Hoeufft, durch ein anjehnliches Legat einen Wett: 
ftreit im lateiniſcher Poeſie wachzurufen. Von 1845 bis 1868 konnten nur 
einige wenige Gedichte gekrönt werden; ein einziges zeichnete fih, nad dem 
Ürteil der Preisrihter von 1876, wirklih durdh Inhalt und Form aus. 
Erft ſeit 1870 wurde der Preis wiederholt, und zwar mit Auszeihnung 
gewonnen. „Die Satiren Ad iuvenem und Ad procum, die Musa 
und vor allem die Gaudia domestica find Elegien, melde wir ohne 
das mindefte Bedenfen neben die beiten lateinifchen Poefien des 17. und 
18. Jahrhunderts ftellen.“ So urteilten die niederländischen Kritiker“. Der 
Dichter aber war ein Schweizer, Peter Eſſeiva, der feine Bildung noch 
an dem befannten Jefuitenlolleg zu Freiburg in der Schweiz erhalten Hatte, 
jpäter Staat3auditor in päpftlihen Dienften und endlich Richter in feiner 
Heimat wurde. 

Dem hohen Zobe, das ihm 1876 die erwähnten holländifchen Gelehrten 
jpendeten, ſchloß ih in einem Breve vom 12, Mai 1890 Papſt Leo XII. 


ı P, Zaffilo Lehner O. 8. B., P. Simon Rettenbadhers Lyriſche Gedichte, 
Wien 1893, xxxır. — Vgl. die Befprehung von Dr Michael Gitlbauer im 
„Baterland”, Wien, 27. September 1891. 

* Wiefe, Deutiche Briefe über englifche Erziehung 56. — Vgl. Duhr, Die 
Studienordnung ber Gejellihaft Jeſu 93 94 121 122, — v. Helmholtz, in Ber: 
bandlungen über Fragen des höheren Unterrichts, Berlin 1891, 202 203 206. 

> In einer trefflihen Elegie hat R. van Oppenraay 8. J. ben P. Da— 
mian, ben Apoftel der Ausfägigen, befungen (Amor. Carmen elegiacum, Amstelo- 
dami 1890). 

* Bericht over den Wedstrijd in latijnsche Po&zie, Amsterdam 1876, Van 
der Post, 1. 


678 Achtes Kapitel. 


jelber an und hob bejonders hervor, „daß er die lateiniſche Literatur aus 
ihrem dermaligen gejunfenen Stande nit dur leere Klagen, jondern 
dur tatkräftigeg Beijpiel und die Erzeugnifje feines Geiſtes zu heben 
bemüht gemwejen“ !. 

Wirklich ift die Sammlung feiner Gedihte (vom Jahre 1894)? jo 
reih an poetiſcher Erfindung, erhabenem poetiihen Schwung, gemütlichen 
Humor, geiftvoller Behandlung älterer und neuerer Stoffe in jo gewanbter 
Form und Sprade, jo ganz von altklaffifher Färbung, daß fi fein moderner 
Dichter jolhen Reihtums, kein antiker folder Eleganz zu ſchämen hätte. Sie 
teilt fih in drei Gruppen, bon welden man die erfte vielleicht „Kleine 
bibliihe Epen“, die andere „Römifche Elegien“, die dritte „Moderne Kultur: 
und Lebensbilder“ betiteln könnte. Zur erften gehören: „Sujanna“, „Judith“, 
„Judas Mahabäus“, „Eſther“, „Die Reife des jungen Tobias”, „Brief des 
Knechtes Eliezer an Abraham“, „Der gute Hirt“. Zur zweiten dürfen wir 
rehnen: „Die römischen Ofterferien“, „Der Monte Pincio“, „Die Schladt 
bon Gaftelfivardo* (Pugna Nomentana), „Sibylla”, „Aufruf zur Ab- 
Ihaffung der Negerfklaverei”, „Die Mufe“, „An Papſt Leo XIII.“ (bei defjen 
Priefterjubiläum), „Die Lilien“. Am originellften ift die dritte Gruppe: 
„Die Eifenbahn“, „Urania“ (die moderne Aftronomie), „Satire an einen 
Jüngling“, „Satire an einen Freier”, „Satire auf die emanzipierten Damen“, 
„Die Flöhe“, „Häusliches Glüd“, „Klagen einer alten Jungfer“, „Zrefflicher 
Rat“, „Eitle Lift“ 8, 

Der Dichter Hat fih Hier daran gewagt, die allermodernften Stoffe, 
3. B. eine Eifenbahnfahrt, ein Meeting emanzipierter Damen, in echt alt: 
klaſſiſcher Sprache und Form höchſt lebendig und anſchaulich zu zeichnen. Es 
will uns bedünfen, daß das Latein in der Plaftit der Darftellung nit nur 
völlige Ebenbürtigfeit mit den modernen Spraden, fondern fogar eine gewifle 
Überlegenheit bewährt. Wie meifterlih ift 3. B. das Bild der Lokomotive: 

Ferri aerisque rigens stat monstrum immane metallo, 
Terra et Vulcano partum, nova forma Öhimaerae, 


Ferreis fulta rotis, cui perpetuo ordine centum 
Vineti a tergo haerent ingenti pondere currus, 


' Te in eorum numero esse, qui afflietam hoc aevo latinarum litterarum 
fortunam, non inanibus querelis, sed exemplo tueri conantur et monumentis 
ingenii sui. 

® Petri Esseiva Carminum libri IX, Friburgi Helvetiorum 1894. 

® Petri Esseiva Sibylla. Carmen, Frib. Helvet. 1871; Lilia. Elegia 
(ebd. 1876); Via Ferrata (ebd. 1878); Pugna Nomentana (ebd. 1879); Mons Pin- 
cius (ebd. 1880); Tobiae iunioris peregrinatio (ebd. 1882); Iuditha (ebd. 1884); 
Iudas Machabaeus (ebd. 1886); Susanna, Amstelodami 1888; Africana servitus 
abolenda, Frib. Helv. 1890; Ad Leonem XIII. (ebd. 1892); Carminum libri IX 
(ebd. 1894). 


Die lateinifhe Dichtung im 19. Jahrhundert. Beo XIII. 679 


Carnibus haud pecudum nec bellua pascitur herba, 
Sed prunae ardentes infusus et amnis iniquam 
Explent ingluviem. Magno vix corpore clausi 
Insolito adversas iungunt ex foedere vires 

Ignis et unda simul: tum creber anhelitus intus 
Auditur, surdisque ferae gemit ictibus alvus, 
Tum quoque nigrantem fumum mixtasque favillas 
Evomere, et tardo primum discedere motu; 

At eitius eitiusque fugit stimulo excita caeco, 
Agmen agens currum: fert impetus ipse ruentem, 
Emensumqgue atra spatium caligine signat. 
Cocyto eredas Stygiisve paludibus anguem 
Emissam, celeri tam magna volumina tractu 

Per campos sinuat, tam stridula sibila ventis 
Crebrescunt scissis, tanto ferit astra tumultu. 
Longinquo allapsum vix murmure prodidit et iam 
Transit, et ex oculis iam se servantibus aufert. 
Non abrupta loci praetentave flumina cursus 
Impediunt rectos, vastis non rupibus Alpes; 

Nam modo praeecipiti suspensum gurgite pontem 
Mole terit, volucrique tremunt sub pondere pilae, 
Adversum modo se illa furens immittit in antrum 
Horrifico sonitu: vocem cava elaustra volutant, 
Limite defosso penitus dum viscera terrae 
Scerutatur raptim Phoeboque loca invia visit. 
Exclusam interea revocant funalia lucem, 

Per varios paseit dum flammam adducta canales 
Aura levis, gravida qualem se vidimus olim 
Rumpere humo, cocto carbone imitamur et arte: 
Lumine nec iam audet pinguis contendere Pallas. 
Inde brevi rursus superas evadit ad auras 
Bellua, et inceptum per saxa, per arva, per urbes 
Pergit iter vento eitior vel fulminis alis. 

Nec picea quum telluri nox incubat umbra 

Lapsa polo, sopit stimulos agmenque moratur; 
Purpurea sed dira ferae stant lumina flamma 
Collustrantque viam longe geminamque rotarum 
Extantem normam, visuque animalia terrent'!. 


Nicht minder anihaulih und kunftvoll ift in dem Gedicht „Urania“ 
der merkwürdige meteorologijhe Apparat des P. Angelo Sechi bejchrieben, 
mit einem echt poetifhen Gruß an den greifen Aftronomen. In der Satire 
auf die „emanzipierten Damen“ aber läßt Efjfeiva mit wahrer Meifterhand 
eine foldhe gelehrte Dame die Darwinſche Selektionstheorie und Affentheorie 
auseinanderjegen, wie fie Haedel ausgebildet und mie fie noch heute in 
zahllofen Schriften, auch jozialpolitifchen, als populär-wiſſenſchaftliches Gejpenft 


ı Carmina 48 49, 


680 Achtes Kapitel. 


herumgeiftert und alle menjhlihen und fozialen Verhältniffe auf den Kopf 
ftellt. Das nichts weniger als jhüchterne, nach Herrenart frifierte, nur durch 
fosmetifche Mittel künftlich verjüngte Fräulein hebt aljo an: 


Imprimis mihi non tanta vos nocte teneri 

Certa fides, ut nutricum commenta secutae 
Humanum genus a gemino fluxisse parente 
Credatis, pomumque illis nocuisse comesum 
Uxoris monitu, mendax quam luserit anguis. 
lam satis atque super fieto pro cerimine poenas 
Pertulimus: ratio nos culpae absolvit avitae, 
Longe alia dum prognatas ab origine monstrat. 
Scilicet ut casu terrae concreverat, orbis, 

Sole tepente gravis tellus animantia fudit 
Imperfecta quidem, quae vix dignoscere possis, 
Sed tamen et motu et vitali praedita sensu; 
Non aliter quam tabenti de funere vermes 
Sponte sua prodire solent. Volvente sed aevo 
Naturae instinctus meliores quaerere formas 
Deque sua inter se iussit contendere vita. 

Dum gravitate sua quaedam labuntur in undas, 
Pars submersa perit, partem miser exitus egit 
Spirandi mutare modum: sic flumine pisces 
Illudunt, victumque petunt a pisce minori. 
Verum aliis, dum perpetuo nituntur in altum, 
Seu praedae studio, fieri seu praeda verentes, 
Succrescunt sensim plumae, rapidaeque volucres 
In liquidum sumptis evadunt aethera pennis. 

At quibus est calcare solum nativa cupido, 
Prosiliunt nexosque citant compagibus artus. 

Sic aliae atque aliae species in tempore surgunt, 
Et variis quae suppeditat natura novatrix, 

Arma movent; namque ut daxit sua quamque libido, 
Optarunt ungues pedibus vel cornua fronti, 
Libera quum rata sit cuivis selectio formae. 
Scorpius extremo minitatur acumine caudae, 
Lorica et gemina confidit forcipe cancer; 

At rigidis horret vallata hastilibus hystrix, 

Et glomerata canum rietus illudit hiantes; 
Praesidio est astus vulpi, fuga concita damae; 
Vasta elephas se infert mole atque proboscide tutus. 
Quid tigres memorem, quid semina dira leonum ? 
(Quos inter non mente minus quam corpore velox 
Cercopithecus adest: huic eia assurgite, matres: 
Humanae stirpis vobis ego trado parentem. 


Nah diejer Einführung des vierhändigen „Stammvaters“ folgt eine 
heitere Beichreibung des paradiefiihen Affenlebens, feines Übergangs zum 
Menjchenleben durch Ablegung der Schwänze, der Kultur der „Steinzeit“ 


Die lateinifhe Dichtung im 19. Jahrhundert. Leo XIII. 681 


und der weiteren menſchlichen Entwidlung. Das Haupthindernis des Fort: 
ſchritts erblidt die Rednerin in dem auf Religion und Ehe gejtüßten Vorrang 
des Mannes und fordert die Genojfinnen auf, das unwürdige Joh mit Lift 
und Gewalt endlih abzujhütteln: 


Fort, ihr Männer, von mir! Doc follte mich einer umwerben, 
Mich begehren zur rau, jo vernehme er meine Bedingung. 
Nimmer wage er es, zu flören mit häuslichen Sorgen 

Mich im gelehrten Beruf; er joll, fo oft ich's gebiete, 

Waſchen mit eigener Hand die wafjertriefenden Linnen, 

Hängen an fonnigem Plaß fie auf am Seile zum Zrodnen, 
Flicken, was etwa zerfeßt, und leicht beiprengend mit Waffer 
Glätten fie mit der Hand und mit heißem Eifen fie bügeln. 
Mit dem Bejen ſodann foll Zimmer und Gänge er fehren, 
Und mit dem ſchmutz'gen Geweb’ die Spinne holen vom Balfen. 
Nicht das letzte Geſchäft ſoll auch die Küche ihm werden, 
Sondern üben mit Fleiß foll er des Apicius Künfte. 

Menn, um Bater zu fein, ihm Zeit bleibt, Kinder zu hegen, 
Wiege er jchlaflos fie ein und rühre die kindlichen Klappern, 
Um zu bringen in Ruh das ohrzerreißende Schreien, 

Wenn im Munde das Fleiſch die erften Zähnchen durchbrechen. 
Kochen ſoll er den Brei, um die zarten Lippen zu päppeln, 
Und verjäume auch nit, was gnädig ich Lieber verfchweige. 
Doh wenn er alles getan, eradht’ er's als reihlihe Löhnung, 
Wenn er das Seine behält, nicht wird auf die Straße geworfen. 
Das iſt Sade des Manns, und töricht wahrlid das Weib, das 
Nicht das ſtlaviſche Joch der einftigen Ehe von fi) warf! 
Höher ift unfer Beruf: der Weſen Grund zu erforfchen 

Und zu veredeln ben Geift, den freien, mit jeglihen Künſten. 
Mögen fletihen fie nur, die Männer, und Himmel und Hölle 
Rühren zu wirrem Gemeng, fein Wiffen bleibt ung verſchloſſen, 
Und es gibt fein Geſetz, das nicht zu ändern bei uns fteht, 
Und weil fügen fih muß ben neuen Dingen die Sprache, 
Grüße als Ärztinnen uns das Volt, Profeffor- und Doktorinnen, 
Schriftſtellerinnen dazu, Philofophinnen und Yuriftinnen 

Und gewöhne das Ohr an die uns gebührenden Titel. 

Bald wo dann das Volt erneuert feine Berfaffung, 

Werden im Rat und Senat aud wir uns Site erobern. 

Dies ift das herrliche Ziel, zu dem wir ringen und ftreben: 
Eintracht führt uns dazu und wirb ung reihen bie Palme! 


Der einzige, allgemein bekannte lateiniſche Dichter der neueften Zeit ift 
der Nachfolger des Hl. Damafus und Urbans VII, Bapft Leo XII. ! 


! Leonis XIII. Pont. Max. Carmina, Roma 1885, I. Befani (Einleitung 
bon P. Enrico Balle 8. J. 9—22. — Poems, Charades, Inscriptions of Pope 
Leo XII. With English Translation and Notes, by H. T. Henry, New York, 
Philadelphia 1902. — Leonis XIU. P. M. Carmina. Inscriptiones. Numismata. 


682 Achtes Kapitel. 


Eine Skizze feines Lebens, von feiner Geburt (10. März 1810) bis zu feiner 
Erhebung zum Bontififate (20. Februar 1878), hat er ſelbſt in einer latei- 
niſchen Elegie an feinen Bruder Jojeph, den jpäteren Kardinal, entworfen : 


Frühling der Jugend! Wie traut floß mir im Haufe des Vaters 
Hoch am Lepinifchen Jod, jelig das Leben dahin! 
Mütterli dann umfing Piterbo den Knaben und nährte 
Mit der Liebe des Herrn mid im Loyoliſchen Haus, 
Nom warb drauf mein Gezelt; im hohen Palafte der Muti 
Feſſelt' als Kämpfenden mid blühender Studien Feld. 
Freudig gedenk' ich der Zeit, da Manera und anderer Väter 
Dielgefeierte Schar, leuchtend durch Wiffen und Geift, 
Dir aus lauterem Quell bie Schäbe irdiſcher Weisheit, 
Mir der Theologie göttliche Rätfel erſchloß. 
Reichlich kam aud der Lohn: es ſchmückte die Zierde bes Lorbeers, 
Mühſam erftritten im Kampf, frönend die freudige Stirn. 
Mut verlieh mir und Luft und Hilfe zu weiterem Streben 
Sala, der römische Fürft, prangend im Purpurgewand; 
Gönner warb er und Freund dem Beginnenden; immer nod dent’ ich 
Dankbar, o herrlicher Greis, deines berebteften Rats! 
MWohnfik ward mir fodann Benevent und das fühe Neapel, 
Und ber Hirpiner Geſchlecht lenkt’ ich nach gleichem Gefek. 
Willkomm bot mir und Haus Perugia, die ragende Zurmftabt, 
Feuriges Umbriervolt ward mir zu leiten beftimmt. 
Aber Größeres no harrt’ mein; gejalbt mit dem Chrisma, 
Zog ich auf päpftlihen Wink hin zu der Belgier Land 
Und verweilte bafelbjt, Anwalt bes römifhen Glaubens 
Und bes geheiligten Rechts, weldhes dem Petrus vertraut. 
Neu drauf ward mir gefchenft die Heimat. Vom Wintergeftade 
Nief mich erhabnes Gebot heim in das fonnige Land: 
Umbrien fah ih aufs neu, und wieder begrüßte die Stabt ich, 
Welcher mit göttlihem Hauch längft mich die Liebe vermählt, 
Ward ihr Gebieter und Hirt für dreißig Jahre und mehr noch, 
Und ber Herbe gebrach's nimmer an Segen und Heil. 
Feſtlich Schritt ich einher als Fürft im römiſchen Purpur, 
Und mit dem glänzenden Schmud belgiſcher Ritter geziert. 
roh wetteifernd bemüht’ fi die gottgewibmete Jugend, 
Volk und Prieiter zugleih um bes Erforenen Gunft. — 


Ed. J. Bach [föln 1903]. — Carme Secolare del Sommo Pontefice Leone XIll. 
tradotto in varie lingue, Roma 1901. — Leonis XIII. Pontif. Max. Inscrip- 
tiones et Carmina... germanice reddidit Edm. Behringer, Ratisbonae 1887. 
— Des Papftes Leo XII. Sämtlihe Gedichte, nebſt Infchriften und Denkmünzen, 
überjegt und umgebichtet von B. Barth, Köln 1904. — F. J. Schwerdt, Papft 
Leo XIII. Ein Blick auf feine Jugend und auf feine Dichtungen, Augsburg 1887. 
— FA. Muth, Kleines Leo-Buch, Breslau 1887. —S.D.N.Leonis Papae XII. 
Alloeutiones, Epistolae etc., Brugis et Insulis 1887 f (bis 1900 erichienen 6 Bbe) ; 
Epistolae Encyclicae I, Frib. i. B. 1881; II ebd. 1887. — Seo XII. als Dichter 
(Beilage zur Allgem, Zeitung 1903, Nr 162, [21. Juli). 





Die lateinifhe Dichtung im 19. Jahrhundert. Leo XI. 683 


Do der Ehren, warum gedenk' ih ihrer? — Sie fliehen; 
Nur die Tugend allein bleibt, ein beglüdender Schat! 
Ihr nur gelte hinfür an des Lebens Neige mein Streben, 
Sie nur auf fiherem Pfad führet zum Himmel hinan, 
Bis es uns endlich befchert, im ewigen Frieden zu raften, 
Selig im feligen Land, weldes die Sterne umglühn. 
Gönn mir Erbarmen, o Herr! und ſchenk mir ein glücliches Enbe! 
Neige, Maria, bein Ohr, Gütige, meinem Gebet! 


Das tönt wie ein Klang aus den kirchlichen Humaniftenkreifen des 
16. oder 17. Jahrhunderts, wie eine Elegie von Sadolet oder Kardinal 
Barberini. Den Mittelpuntt des Lebens bildet nicht die Poefie, fondern 
die großen religiöfen Intereffen, von denen auch die fozialen und nationalen 
bedingt find. Aufſchluß über die höchſten Lebensfragen wird nicht bei der 
PVoefie geſucht, Jondern bei Philofophie und Theologie. Die Poefie ift nur 
eine freundliche Zufpeife und Erholung im Ernfte des Lebens; aber indem 
fie von den höchften Idealen der Religion und Wiſſenſchaft durchtränkt ift, 
erjcheint fie feineswegs verächtlich, jondern jelbft in ihrem heitern Spiele 
al3 eine mwürdige Verbolllommnung und Vollendung des höheren Geiftes- 
lebens, als der Ausdrud echter, hriftliher Humanität. 

In diefem Sinne lernte Joahim Pecci die Literatur und Poeſie als 
Schüler des Jejuitenfollegiums von PViterbo ſchätzen und lieben; Trotz ber 
langen Unterbrüdung hatte fi bei den Jeſuiten die alte Schulüberlieferung 
erhalten, und die alten Erjefuiten weihten ihre Schüler auch wieder in die 
Geheimniffe des römischen Versbaus ein, zwar nicht mehr überall mit der 
früheren Gewanbtheit und Begeifterung, aber in Italien doch noch mit einem 
hohen Grade derjelben. Wie ehedem begünftigte diefe Übung das Verftändnis 
und den Gefhmad für die klaſſiſche italienische wie für die antite Literatur, 
Joachim Pecci ift in der Schule der Jeſuiten aud ein ausgezeichneter Ver: 
ehrer und Kenner Dantes geworden. Derjelbe P. Francesco Manera, welchen 
er in Rom zum Lehrer hatte, hielt am Athenäum zu Zurin ſehr geſchätzte 
Borlejungen über die Divina Commedia. P. Antonio Bresciani, welchen 
Karl Witte als italienishen Stiliften überaus hochhielt, wie der Hagiograph 
Giuſeppe Boero, der Hiftorifer Giufeppe Brunengo, der Grammatifer Giufeppe 
Paria, der Novellift Secondo Franco und andere hervorragende Mitarbeiter 
der Civiltä Cattolica madten alle mehr oder weniger diefelbe Schule dur 
und bildeten fi in der Übung des Lateinifchen zu Meiftern des Italienifchen 
heran!. Daß fih auf lateinifh noch immer nicht bloß Lobgefänge auf 
Maria und die Heiligen, jondern auch ganz moderne Themata, wie das 





! Bol. hierüber P. Salvatore Casagrandi, Saggio di Epigrafi e Poesie 
del P. Luigi Cerutti d. C. d. G., Torino 1897; und bon demſ., Isaiae Carmi- 
nati S. J. auditorum Cheriensium Carmina sacra, Aug. Taurin. 1898, 


684 | Achtes Kapitel. 


Papftjubiläum von 1893, eine Warnungstafel gegen Ernft Renan und die 
Kolumbusfeier von 1892 trefflih behandeln laſſen, zeigen die von Leo XIII. 
jelbft jehr Huldreich aufgenommenen Oben des P, Octavius Gagnacci, Rhetorik: 
profeffors in Fiume!, 


Dum silent fereque iacent litterae optimae, gratissima Nos in carminibus 
tuis tenuit oblectatio, ſchrieb ihm der Papft. 


Obwohl weder ſehr zahlreih noch umfangreih, laſſen die Gedichte 
Leo XII. doch eine ſehr umfaffende PVertrautheit mit der altklaffifchen 
Literatur erfennen, allerdings mit einem feinfühligen, wählerifhen Geichmad. 
Während Urban VII. und die mit ihm befreundeten Dichter fi nicht 
iheuten, ihre Sprade auch aus Seneca, Statius und andern jpäteren 
Schriftftelleen zu bereihern, hält ſich Leo XIII. ganz an die Vorbilder 
des goldenen Zeitalter. Sein Lieblingspdichter ift fichtlih Vergil; mande 
Stüde Hingen auh an Horaz, Tibul und Gatull an. Die Hunft des 
Epigramms hat er nicht bei Martial, fondern bei den feineren Griehen ber 
Anthologie erlaufht. Während nur zu viele Dichter die Poefie darin juchten, 
die römiſchen Grotifer vorwiegend in der Schlüpfrigfeit des Inhalts nad: 
zuahmen, hat der echt priefterlihe Sänger fih ihre Haffiihe Eleganz 
nur dazu angeeignet, um in feinfter künftleriicher Weife den zweideutigen 
Gehalt zu vermwerfen. So ruft er (1870) dem alten verliebten Sünder 
Gallus zu: 


Galle, quid insanis? quid te torpere veterno, 
Diffluere illecebris deliciisque iuvat? 

Puber adhuc, prima adspersus lanugine malas, 
Deperis incautam captus amore Chloen; 

Grandior ecce Bycen ardes mollemque Corynnam, 
Inque dies vulnus saevior ignis alit. 

lamque senescentem miseraque eupidine fractum 
Nune premit indigno vafra Nigella iugo. 

Ecquis erit modus? E coeno caput exere tandem, 
Tandem, rumpe moras, excute corde luem. 

Cunctaris, veteresque amens sectaris amores? 
lam spes heu misero nulla salutis adest. 

Praedam inhians rabidus lateri stat daemon, amara 
Te mors, te vindex Numinis ira manet. 


Allgemeine Bewunderung, auch in nichtkatholifhen Kreifen, Hat das 
allerliebfte jambifhe Epigramm auf die „Photographie” (Ars photo- 
graphica, vom Jahre 1867) gefunden: 








' Octavii Cagnacei e Soc. Iesu Odae, Venetiis 1894; Editio 2* auctior, 
Mediolani 1902. 


Die lateinifche Dichtung im 19. Jahrhundert. Leo XII. 685 


Expressa solis spiculo Dom ſcharfen Sonnenftrahl gemalt, 
Nitens imago, quam bene Wie gibft du wieder voll und treu, 
“ Frontis decus, vim luminum O herrlich Bild, der Stirne Glanz, 
Refers, et oris gratiam !. Der Augen Licht, der Züge Hulbd. 
O mira virtus ingeni O Menfchengeift, jo wunberbar, 
Novumque monstrum! Imaginem O neuerfundnes Zauberwerk! 
Naturae Apelles aemulus Apelles laufchte der Natur 
Non pulchriorem pingeret. Fürwahr ein ſchönres Bild nicht ab. 


In den liturgiſch gedachten Hymnen auf die Patrone von Perugia, 
die heiligen Märtyrer Herculanus And Sonftantius Hält fih der Papſt an 
die firengen Kunſtformen des hi. Ambrofius; in einem derjelben bedient er 
fih fogar der ſapphiſchen Strophe, fteht aljo nicht auf der Seite derjenigen, 
welche das Heil der liturgiſchen Hymnik ausfhließlih im Brud mit allen 
Formen und Erinnerungen des Haffiihen Altertums ſuchen. 

Indem wir uns freuen, an der Schwelle des 20. Jahrhunderts einem 
Papft-Dichter zu begegnen, der in Poeſie und Literatur noch die ehrwürdigen 
Überlieferungen eines Klemens von Alerandrien und eines hl. Bafilius, eines 
hl. Ambrofius und eines Prudentius aufrecht erhält, find wir weit entfernt, 
unfer Auge für die großartigen Leitungen zu verfchließen, welche die deutſche 
Philologie im Laufe des 19. Jahrhunderts aufzumweijen hat. Was in dieſem 
Zeitraum für Erforfhung der Inſchriften und Handſchriften, Herftellung ges 
fiherter und verbefjerter Texte, Erklärung ſchwieriger Stellen, grammatifche 
Durdarbeitung einzelner Schriftfteller und Zeitperioden, Unterfuhung des 
Hajfiichen Altertums nad) allen Seiten hin, äfthetiiche Würdigung der Dichter 
und Profajhriftfteller, Verwendung derjelben für die Zwede der Pädagogif 
wie der allgemeinen Bildung gejchehen ift, übertrifft an materieller Aus: 
dehnung alles, was jeit der Zeit der Alerandriner auf dieſem Felde geleiftet 
worden ift. Nie iſt eim ſolches riefiges Einzelwiffen über das klaſſiſche 
Altertum aufgelpeihert und, ſoweit möglih, auch methodiſch, dur die 
fompfiziertefte Schulorganifation verbreitet worden. 

Niemand wird indes verfennen, daß fich heute nur jelten jene fünft- 
lerifche, poetifche, nicht bloß bewundernde und rezeptive, fondern auch fruchte 
bare und nachſchaffende Begeifterung für die Alten zeigt, wie fie einſt die 
Männer der Renaiffance durchglühte, wie fie deutlich aus den Werfen eines 
Dante, Petrarca, Taſſo hervorbligt, wie fie Michelangelo und Raffael be- 
jeelte, wie fie gedämpfter in Galderon und Camoens ſichtbar ift, wie fie in 
ihren Nachwirkungen jelbft in Shakeſpeare beobachtet werden kann, eigenartig 
nationalifiert den franzöfiihen Klaffizismus beeinflußte, mit neuer Gewalt 


ı Nah der Handjchrift des Papftes phototypifch reproduziert bei N. Schneider, 
eo XIH., Kempten 1903. 


686 Achtes Kapitel. 


in Windelmann und Leſſing, Wieland und Herder, Goethe und Schiller 
aufloderte und zur Geftaltung der neueren deutichen Literatur weſentlich bei- 
getragen hat. Auch in England, wo fi die Liebe zu den altklaſſiſchen 
Studien in ehrwürdigen Schulinftitutionen nod mächtige Hiftoriiche Wurzeln 
bewahrt hat, herricht eine don Amerika herftammende realiftiihe Gegen- 
frömung, welche für die jahrtaujendalte europäiihe Bildung wenig Andacht 
fennt, jondern, gleihjam in der Luft wurzelnd, nur von verftreuten Trümmern 
älterer Bildungseinflüffe lebt, fie in buntem Gemengjel mit Wandereindrüden 
- aus Orient und Dccident verquidt, und mehr oder weniger ins Materielle 
verjunfen, alles Geiftesleben von den alten Idealen losreißt, verfladht und 
ins Geſchäftliche herabdrückt. Für diefe „Modernen“ ift die Antike feine 
ehrwürdige Erbihaft mehr, fondern nur eine der vielen Formen: und Farben- 
Ihablonen im ftet3 fich drehenden Kaleidoflop des Menjchheitälebens !. 

Ebenjo unverlennbar ift, daß auch bei denjenigen, welche das Studium 
der Alten noch hochhalten, dieje Verehrung fid) vielfah von den Schranten 
losgeſagt Hat, welche das Chriftentum im Laufe der Jahrhunderte der antik: 
griehiichen und römiſchen Bildung jehte. Das Neu-Heidentum, das ſporadiſch 
ihon in der Zeit der Renaifjance auftauchte, hat jeither mächtig um ſich 
gegriffen und die Haffiihen Studien, losgeriffen aus dem Boden der hifto- 
riichen Entwidlung, in Gegenjaß zur chriſtlichen Gefittung und kirchlichen 
Lehre geftellt oder einen Humanismus verfündigt, der vom Chriftentum nur 
die leeren Namen behielt, um eine tatjächlid heidniſche Lebensanjhauung 
äjthetiich zu maskieren. 

Diefer Richtung gegenüber hat fih in katholiſchen Völkern eine andere 
geltend gemadt, welche das natürlihd Gute und Schöne, das die Antike 

ı Wohl nit ganz aus ber Quft gegriffen dürfte die Klage bes Prof. Giacomo 
Zanella in Bicenza fein: Dacchö la linguistica prevalse all’ estetica: dacch& 
la minuziosa analisi della parola successe all’ artistica osservazione del pensiero: 
dacchö, a dir breve, gli scolari presero a sbadigliare ed annoiarsi delle filologiche 
tiritere del professore, ricco di sanscrito e d’ ariano, e brullo di sentimento e 
d’ immaginazione, il latino nelle nostre scuole divenne un vano scialacquo di 
tempo, di cui i giovani non veggon |’ ora, passando, all’ Universitä, di perdere 
ogni memoria. Dobbiamo ai tedeschi e ai loro metodi questo bel frutto. Se 
i giovani non si avezzano a comporre prosa e versi in latino: se non facciamo 
quello che han fatto i nostri padri, ed ha fatto il piü grande de’ moderni innovatori 
in fatto di lettere, il Manzoni; se non facciamo ciö che fanno e han sempre fatto i 
giovani inglesi, a’ quali negli ultimi tempi Roberto Peel, il grande economista e 
statista, proponeva in testamento una grande medaglia d'oro a chi di loro avesse 
seritti i migliori giambi puri in greco; senza questo ritorno a'nostri metodi 
antichi, io temo non lontano il giorno, che l’Italia „giä nutrice alle muse, ospite 
e dea“, non avra piü alcuno che sappia scrivere, non che una ode, una epigrafe 


in latino, Altro che alcaiche ed esametri in italiano! (Leonis XIII. Carmina 
149 150.) 





Die lateinifhe Dichtung im 19. Jahrhundert. Leo XIII. 687 


hervorgebracht, an fi ziemlich gering anjchlägt, noch geringer im Vergleich 
zu den Gefahren, welche die Schattenfeiten antifer Bildung mit ſich bringen, 
und melde fi darum mit einer bloßen Unterordnung der Hajfiihen Studien 
unter die chriſtliche Bildung nicht begnügte, jondern das Studium der 
Alten möglichſt durch das der Heiligen Schrift, der patriftifchen und mittel» 
alterlihen Literatur, die Vorbilder, Formen und Einflüffe antifer Runft 
ebenjo durch die Stile und Geftaltungen des chriſtlichen Mittelalters erſetzt 
zu ſehen wünſchte. | 

Mieder eine andere Gegnerſchaft ift der alttlaffiihen Bildung in einem 
ftark ausgeprägten germanischen Nationalgefühl erwachſen, das ſich von allem 
Romaniſchen als von etwas Feindlichem abgeftogen fühlt, die griehifche Bildung 
als eine freiere, dem deutſchen Wejen entjprechendere und verwandtere ſchon 
eher gelten läßt, aber, da diefe nun einmal dur Vermittlung der römischen 
zu uns gelangt ift, fie praktiſch auch nicht in vollem Umfang pflegen kann, 
weil eine gründliche lateinische Vorfhulung mangelt. Da zudem das Griechiſche 
viel ſchwerer zu erlernen ift und für die materiellen Zwede des modernen 
Lebens wenig Ausbeute gewährt, jo ift troß alles Enthufiagmus für einen 
deutjchen Hellenismus die Kenntnis des Griehiichen jehr zurüdgegangen und 
wird in den Edulplänen der lebten Jahrzehnte zufehends eingejchränft. 

Nimmt man das alles zufammen, fo ift es im Intereſſe der allgemein: 
menschlichen Bildung fiher nicht zu bedauern, dab es eine Inftitution gibt, 
duch melde nit nur die Yortdauer der Kriftlihen Bildung gemwährleiftet 
ift, ſondern einigermaßen auch diejenige der helleniſchen und lateiniſchen 
Sprache und Literatur, ſoweit diefelben nicht in unverſöhnlichem Widerſpruch 
zur Kriftlichen Bildung ſich befinden, jondern wirkliche Bildungsihäte von 
bleibendem Werte darftellen!. Eine foldhe Inftitution ift die katholifche Kirche 





! Das könnte auch dem internationalen wiſſenſchaftlichen Verkehr wieder zu 
gute kommen. Gegen den Vorſchlag, eine neue wiſſenſchaftliche Verkehrsſprache ein» 
zuführen, bemert Hermann Diels mit Redt: „Da möchte ich doch bie Frage 
aufwerfen, ob es nicht einfacher wäre, wieberum zum Altlatein zu greifen, das feit 
nun bald zweitaufend Yahren als Kulturträger erjten Ranges fi) bewährt und nur 
zeitweilig aus jehr begreiflihden Motiven im Gebrauch der Wifjenfhaft zurücdgetreten 
ift. Ich halte perfünlich das wiſſenſchaftliche Neulatein, d. h. das Latein eines Kepler, 
Leibniz, Linne, Gauß, auch heute no für durchaus geeignet zur internationalen 
Verftändigung in wiſſenſchaftlichen Fragen, wie e8 noch immer die gemeinfame Sprade 
ber katholiſchen Ehriftenheit if. Da die geſamte wifjenihaftlihe Nomenklatur fort: 
dauernd hauptfählih aus dem Latein oder dem latinifierten Griechiſch geſchöpft wird, 
jo liegt gar feine Schwierigkeit vor, fi auch jet noch in der Sprade Roms in allen 
Wiſſenſchaften zu verftändigen. Wenn man nur nicht den Hier völlig finnlofen An— 
Ipruch erhebt, daß dieſes Neulatein etwa mit dem Lerifon und ber Grammatif Giceros 
beftritten werden fol! Selbſt die alfermobernite Wiffenfhaft, die Chemie, läßt fi 
ohne jede Schwierigkeit Iateinifh behandeln, wie die immer noch lateiniſche Sprade 


688 Achtes Kapitel. 


mit ihrer lateiniſchen Kirchenſprache im Abendland, mit ihrer griehijchen 
Sprade in den Ländern des einftigen oſtrömiſchen Kaiſerreichs. 

Solange dieſe Kirchenſprachen bleiben — und fie werden jchmwerlich 
durch neuere Spraden des Abendlandes oder ältere des Morgenlandes ver- 
drängt werden —, jo lange werden Taujende von Brieftern in allen Yändern 
des Erdballs ih am Studium der alten Klaſſiker zum Berftändnis ihrer 
Kirchenſprache vorbereiten und durch ihre theologiihen Studien ſelbſt die 
ehrwürdige Überlieferung bewahren, welche die hiſtoriſche Entwidlung der 
chriſtlichen BVölter mit der Kultur der Hellenen und Römer verbindet. Die 
Spraden, in welchen Petrus und Paulus zu Rom und zu Athen gepredigt, 
in welden die Kirchenväter und Lehrer des Mittelalterd ihre großen Werfe 
geſchrieben, werden eine ftet3 lebendige Erbſchaft bleiben, und wie Gregor 
bon Nazianz ohne Homer und Demofthenes, Auguftin ohne Platon und 
Cicero unverftändlich bleibt, wird der Fatholiiche Priefter auch fürder der 
alten Klaſſikler nicht entraten können. Hängen die antifen Dichter mit der 
patriftiihen Literatur aud) weniger eng zufammen als die antiten Philoſophen, 
Geſchichtſchreiber und Redner, fo ift einige Kenntnis derjelben doch nicht zu 
vermiffen. Selbft in der liturgiichen Hymnik leben noch die antiten Formen 
zum Teil weiter und wurden bis herab ins 19. Jahrhundert erneuert und 
nachgeahmt. 

Die lateiniſchen Gedichte Leos XIII. ſind darum nicht bloß als eine 
ſubjektive Liebhaberei, als ein Spiel des Zufalls zu betrachten. Sie ver— 
förpern die hiſtoriſche Tatſache, daß der chriſtliche Humanismus von der 
Zeit, da der hl. Paulus den Aratus und Menander zitierte, die Kirche 
durch alle Stürme der Jahrhunderte bis auf den heutigen Tag begleitet hat 
und vorausſichtlich auch weiter begleiten wird. Trotz aller Stürme ſieht 
darum der Dichter-Papſt auch in Bezug auf die humaniftiide Bildung 
durhaus nicht peifimiftiih, fondern mit Heiligem Frohmut in die Zukunft. 
Als Vates hat er in einem jhönen Gediht vom Jahre 1885 der Kirche 
den Frieden, feinem geliebten Italien die Wiederaufnahme feiner großartigen 
Kulturmiffion verheißen. 

Meisfagen will ih: Sieh! Es flammen 

Am dunfeln Himmel Feuerzeihen auf, 

Und der Dämonen Brut bebt jäh zufammen, 
Sie fliehn dem Abgrund zu, dem fie entjtammen, 
In ſchnellem Lauf. 


Umfonft verſucht da8 Wunder zu dverneinen 
Ein gottentfremdetes Geſchlecht. 


ber Pharmafopöen beweift“ (Feſtrede zur eier des Leibnizichen Gebädhtnistags, 
29. Juni 1899. Sigungsberichte der Fönigl. preuß. Akademie ber Wiſſenſch., Berlin 
1899, 600). 


Die Iateinifhe Dichtung im 19. Jahrhundert. Leo XII. 689 


Es fann nicht mehr. In Klagen und in Weinen 
Gefteht es das verlegte Recht. 
Es finft der alte Groll, und frieblich Tegt ſich 

- Der lange Streit, 
Und in den grimmerfüllten Herzen regt fi) 
Der Liebe Zärtlichkeit. 
Aus der Verbannung fehrt bie alte Treue 
Nah langer Fludt, 

. Die jhnöd verfhmähte Tugend blüht aufs neue 

Und fledenlofe Zucht. 
Der Friede-naht, den Ölzweig in ben Loden, 
Und zieht die Künfte groß. 
Der Erbe Güter ſchüttet mit Frohloden 
Das Glüd aus feinem Schoß. 
Es leuchtet wieder auf Italiens Fluren 
Der alten Bildung reines Licht, 
Es fliehn des Irrtums troßige Lemuren 
Vor feinem Angefidt. 
Heil dir, Aufonien! Keiner kann dir rauben 
Die Siegespalme mehr; 
Bift du dir treu und deinem heil’gen Glauben, 
Strahlft mädtig du und hehr. 


Die Literaturen der modernen Bölfer, der romaniſchen wie der ger: 
maniſchen, haben von einer Neubelebung der klaſſiſchen Bildung nichts zu 
fürdten. Dieſe gehört mit zu dem fruchtbaren Wurzelftod, aus welchem fie 
hervorgegangen und von welchem fie fih nicht Iosjagen können, ohne mit 
ihrer eigenen geſchichtlichen Entwidlung zu breden. Homer und Bergil, 
Platon und Mriftoteles, Demofthenes und Cicero, die Kirchenväter und die 
Scholaftiter des Mittelalters bezeichnen geiftige Faktoren, mit welchen auch 
das 20. Jahrhundert wird rechnen müſſen. Alle Fortichritte des 19. Jahr: 
Hundert3 haben fie nicht zu verdrängen oder zu erjeßen vermocht. Böten 
fie nichts als ein Korreltiv gegen die Schranfenlofigfeit und Formloſigkeit, 
die vielfach die fiterariihen Richtungen der Neuzeit arakterifiert, jo müßten 
wir fie dankbar in Ehren halten. Aber fie bergen noch ſtets jchöpferijche 
Anregung in ji und bieten jeldft die edelften geiftigen Genüffe. 


Baumgartner, Weltliteratur. IV. 3. u. 4. Aufl. 44 


Namenregifter. 


Abad Diego Hofe 8. J., Dichter 670. Alberti Leone Battifta degli, Architekt 
Abälard, Philofoph und Dichter 412—422 und Humanift 484 491 497. 

440 445 446 457. Albrecht von Reims, Theologe 457. 
en 1 Mönch zu Paris, Epiker 355 Aldhelm, Abt von Malmesbury und Bifchof 

: von Sherbome, Theologe und Dichter 

—*8 der hl., Gründer bes Kloſters 274—279. 

Eorvey 355. Aldus Manutius, Buchdruder und Huma— 
Adam von Bremen, Geſchichtſchreiber — 561 562 602. 


357. Aler Paul S. J., Schuldbramatifer, Ver— 
— Eaſton, Kardinal, Spmnenbicher. fafier des Parnassus 634. 

455. Alemanni Nikolaus, vatifan. Bibliothekar, 
— von Masmünfter, KRalligraph 2938. Gräciſt 566. 
— von St Victor, Hymnendichter 440 Alerander von Hales, Scholaftiker 458. 

448-451. — Nedam, Theologe und Dichter 406. 
— Wernher von Themar, Hymnendichter — de Billa Dei, Grammatifer und Dichter 


440, 400 401, 

Adamnan, Abt von Hy, Hagivgraph 269 | Aleranderroman, ber griechiſche 556. 
270. Alerandros Georgios, grieh. Humanift 

Adelharb, Mönd in St Gallen 319. 561. 

Abdelmann, Lehrer zu Lüttich, Biſchof De Altuin, Lehrer zu York, Abt in Tours 
Brescia 871. 293—300 440. 

Agathias, byzant. Gefhichtichreiber 518. ats — vatikan. Bibliothekar, Gräciſt 

— von Myrien, Epigrammatiker 536. 566 5 

Benebiktiner zu Corvey, Dichter Altfrid, ilof von Münfter, Biograph 
313. des hi. Lindger 354. 

Agnellus von Ravenna, Hiftorifer 857. , Ambrofius, der hl., Biſchof von Mailand, 

Ugobard, Erzbiihof von Lyon, theolog. —— 100--102 114 129-134 
Scriftfteller 313. 

Agricola (Huysmann), — —*—* angry beuticher Humanijt und 
Humaniſt 5 | Buchdruder i 

Alathiftos, — 532—534. — oreifinus, Geihichtichreiber 

Alten der Märtyrer 15. | 

un Flandrenfis, Eiftercienfer, Theo» | | Anahafos Sinaits, Mönch, Theologe 
oge 392. 

ei —— Philoſoph und Dichter % Knafus von Antiohien, Theologe 
92 ⸗ 

— de — Ciſtercienſer, Theologe — ge Bibliothekar, Hiftorifer und Über- 


392. ſetzer 357. 
Albert d. Gr., Biſchof von Regensburg, Anchieta Joſeph de S. J., Dichter 669. 
Scholaftiter 458 469. Andrade, Payva db’, neulat. Dichter 646. 
— von Prag, Hymnendichter 440. jnbredns, Chorbiſchof von Sens, Legenden» 


— von Stade, Annalift, Dichter 402. dichter 312. 
Alberti Antonio degli, italien. Humanift , Andreas von Kreta, Theologe und Hymnen- 
484 497. dichter 512 534. 
44* 


692 


Andreas Pyrrhos, Hymnendichter 534. 

— Der Sohn des, griech. Epopöe 

Angilbert, Abt * St Riquier, Dichter 
293 300—302 

Annalen von Fulda 355. 

— don Hersfeld 355. 

von St Vaaſt 355. 

— von Xanten 355. 

Anjelm, der hl., Wera von Canterbury, 
Theologe 406 440 4 

Ansgar, ber hl., —5* — von Bremen, 
Hagiograph 355. 

Anthimus, Hymnendichter 63. 

Anthologie des Konft. Kephalas 545. 

— des Mar. Planubes 545. 

—— Gas Dfterfpiel vom 434 bis 


—— Mönch, asket. Schriftſteller 511. 

Antoninus, der hl., Biſchof von Dove, 
Theologe 487. 

Antonius Andreas, Theologe 487. 

Apollinaris von Hierapolis, Apologet 14. , 

— von Laodicea, ber Ältere, Dichter 64. 

— — ber Jüngere, Dichter, Irrlehrer 34 


64. 
Apoftolios Ariftobulos, gried. Humanift 
561. 


— Michael, grieh. Humanift 559. 

Apoftolifche Väter 11—-13. 

or. Diafon in Nom, Dichter 218 
400. 

Arhipoeta, der (anonymer Dichter) 416. 

Arculph, galliiher Biſchof 270. 

Argyropulos Johannes, grieh. Humanift 
562 563. 


Ariftides, Apologet 12. 

Arifto, Apologet 14. 

Arius, Irrlehrer 29 80. 

Arnobius, Kirchenichriftfteller 96. 

Ascellinus Adalbero, Biſchof von Laon, 
Satirifer 371. 

— ——— d. Gr., Kirchenlehrer 30 31 


—* von Bath, Mathematiker 406. 

Athenagoras, Apologet 14. 

Athenais ſ. Eudokia. 

Augier Edmond 8. J.. Humanift 666. 

Augitre Edmond d’ S. J., Dichter 666. 

Auguftinus, der. hl., Kirchenlehrer 102 bis 
110 130. 

Aureolus Petrus, Theologe 487. 

Aurifpa, italien. Humanift 498. 

Aujonius, 
145. 


Aurentius, griech. ———— 63. 

Avancinus Nikol, 8. J., neulat. Dichter 
634. 

Avianus, Fabeldichter 400. 


—— Biſchof von Vienne, Dichter 199 


Bacon Francis, 


Namenregifter. 


Lordkanzler, Philojoph 
626. 


Baerle ſtaſpar v., niederländ. Dichter 


628. 
Balbinus Bohuslav Aloys 8. J., Hifto- 
riker, Lyriker 669. 


Bu Yatob 8. J., Dichter 634 651 bie 
|Balbrid von Bourgueil, Hymnendichter 


440. 

Barga Angelo de, Epiker 602. 

Barkaam und Sofapdat, griech. Legenden: 
buch 513—516 

Barnabasbrief, aitchriſtliche Schrift 11. 

Barth Kaſpar von, Dichter, Philologe 
618 672. 

Bartolini Riccardo, Epiker 602. 

—— ios Digenis Akritas, griech. Epopöe 
57. 

Barilius db. Gr., hl., Kirchenlehrer 36 bis 


Sahıi Bofinio, italien. Humanift 497 
4 
Baude Dominik, niederländ. Humanift 


Bauhufius Bernhard 8. J., Dichter 666. 

Beaufort Henry, Kardinal, Gönner bes 
Humanismus 584. 

Bebel Heinrih, deutſcher Humanift 577. 

Becanus Wilhelm S. J., Elegiter 665. 

Beccadelli Antonio (Panormitano), italien. 
Humanijt 494. 

Beda Noel, Parifer Theologe 606. 

— ‚Benerabilis, Kirhhenlehrer 278—283 


— —F 8. J., Kardinal, Hymnen⸗ 
dichter 65 

Bembo — Kardinal, Humaniſt 563 
565 598 594. 

Benci Francesco 8. J., Schuldramatifer 
633 668, 

Benedikt XII., Papft, Hymnendichter 440. 
— von Nurfia, Orbenöftifter 235 240 
bis 241. 
Benvenuto be’ 

478, 


Benzo, Biihof von Alba, Dichter 371. 
Bernhard von Ehartres, Dichter 584 400 
401. 


Gampijani, Humaniſt 


— don Glairvaur, ber hl., Orbensftifter 
und Kirchenlehrer 412 416 440 447 
457. 

— don Geft, Satirifer 422. 


Nhetor und Dichter 136 bis | — von Morlas, Hymnenbdichter 440. 
| Bernowin, farolingifher Dichter 304. 
' Bersmann Georg, neulat. Dichter 618. 


— von Monte Eaffino, Dichter 


Beflarion, Kardinal, Gönner des Humanis« 
| mus 490 560. 
Beza Theodor, neulat. Dichter 607. 


Namenregifter. 


Bianchi Andrea S. J., Dichter 668. 

Bidermann Yatob 8. Schuldramatiker 
633 636. 

Biel Gabriel, Zheologe 487. 

Biondo Flavio, italien. Humaniſt 491. 

Birger, a ac von Upjala, Hymnen- 
dichter 45 

Birgitta, bie BL, von Schweden 455 467. 

Birk Sirt, Schuldramatiker 623. | 

Biskop enebitt, Gründer des SKlofters | 
MWearmouth 277 278. 

Bilfel Johann S. J., Dichter 665. 

Blittero von Flandern, Epifer 371. 

— Lorenz, deutſcher — 

Boccaccio Giov., italien. Humaniſt 484 


485 
Er , Poitofoph und Dichter 208 bis 





— italien. Humaniſt 478. 

Bonaventura, der hl., Kirchenlehrer 440 
458 4644867. 

Bonifatius (Winfried) Apoftel der Deut- 
ſchen 283—29 

Braulio, —— von Saragofja, Kirchen⸗ 
iriftfteller 244, 

Brecht Levin, Dramatiker 613. 

Brie Germain de (Brixius), franz. Hu— 


manift 606. 
an ſtaſpar, Schuldramatifer 620 


rg Pierre S. J., franz. Humanift 

41 

— Latini, Dichter, Dantes Lehrer 

Bruni Lionardo, italien. Humaniſt 490 
497 584. 

——— Georg, ſchottiſcher Humaniſt 608 

— —— franz. Altertumsforſcher 
565 605 6 


Burgundio * Piſa, überſetzer 510. 
_ Richard von, 


engl. Bibliophile 
zug Hermann vd. d., beutjcher — 
— Johann, Benediktiner, Humaniſt 


— griech. Hymnendichter 534. 





Cabillau Balduin 8. J., Schuldramatiker 
— Jakob, deutſcher Humaniſt 
Sampian Edmund S. J., Schuldramatifer 
— — Maria 8. J., Orientaliſt, 


Dichter 668 
— Hohannes O. Pr., A 


693 


Carmina Burana 406—417 662. 
m. Joſeph, römischer Dramatiker 


— Heiſterbach, Legendenſammler 
63 


Caſaubonus Iſaak, franz. Philologe 627. 

einge Johannes, asket. Schriftiteller 

Kar: Trage Senator, Polyhiftor 219 bis 

Eaitelletto Pietro de, Auguftiner, Humanift 
484 


Gaftigfionocahio Lapo di, italien. Humaniſt 
584, 

Casus Sancti Galli, gr a 855. 
—— Nikolaus S. J ‚ Schuldramatifer 


— ot Bois 8. J., Schuldramatiker 634 


Gelis Konrad, deutſcher Humanift 340 

572 573. 

Genci de’ Auftici, italien. Humanift 498. 

Gerceau Antoine du S. J., Schuldramatifer 
634 641. 

Gerifantes Mark Duncan, neulat. Epifer 
626. 

wi de la, Tommaſo S. J., Epiter 

Ehalfondylas Demetrios, griech. Humanift 
561 562, 

—— Auguſtinerprior, engl. Humaniſt 


Chaſtel Pierre du, franz. Humaniſt 607. 

Chintila, König ber We goıen 248. 

Ehriftine, Königin von Schweden 648. 

Ehriftodoros, griech. Epigrammatifer 536. 

Ehriftophoros aus Mytilene, byzant. Dichter 
54 


3. 
— patiens, griech. Drama 547 bis 
— Georgios, Dichter 
555. 


Clajus Johann, Schulmann, Poet 618. 
Ciainenais (Clemanges) Nikolaus von, 
— Theologe und Humaniſt 498. 

rg Robert SKartäujer, lat. Dichter 
nr 
Elaudianus Claudius, jpätröm. Dichter 
187—190 400. 
Claudius, Biſchof von Turin, Theologe 
313. 


byzant. 


Glemanges j. Clamengis. 


Codro Urceo, italien. Humanift 496. 
Codt Jakob de 8. J., Dichter 666. 


Golluccio de’ Salutati, italien, Humaniſt 


484 488, 
Golonna O. Pr., Theologe 487. 
Golumba, der hi. 269. 
Col umban, der hi. 284— 286. 
Gommire Yean 8. J., Lyriker 667. 
Commodian, altchriftt. Dichter 123 124. 


694 


Eopernicus Nikolaus, Aftronom und Dichter 


603 604. 

Eordus Euricius, Arzt, deutſcher Humanift 
977. 

Gorippus Flav. Gresconius, Grammatifer 
und Epiker 242, 

Eornaro Bincent, 
357. 

Eorraro 
497. 

Corycius (Gorik) Johannes, aus Lurem- 
burg, Humaniſt 601. 

Eramer Daniel, neulat. Poet 620, 


vulgär-grieh. Dichter 


Gregorio, italien. 


Crocus Cornelius S. J., Schulbramatifer ! 
613 


13. 
a. % Baul, 
un Luis de 8. I; 
633. 


Poet 620 
Schuldramatifer 
Kardinal 


neulat. 


Cues (Eufanus) Nilolaus, 
501. 

Cunich Raymund S. J., 
ſetzer 668. 

Eujpinianus (Spießmaier) Yoh., deutſcher 
Humaniſt 575. 

— der hl., Biſchof von ae 

— Dichter 120. 

Cyrillus, der hl. von Alexandrien, Kirchen⸗ 
lehrer 64. 

— ber hl., 
34. 


lat. Homerüber- 


von Serufalem, Ktirchenlehrer 


Dalanthus Gerhard, flandriſcher Schul-⸗ 


dramatiker 613. 
Dalberg Johann v., Biſchof von Worms, 
Gönner des Humanismus 575. 


Dalmatius von Konſtantinopel, Theologe 
65 


Damafıs, ber hl., Papft und Dichter 124 
125. 


Dante Alighieri 475—478. 

Dantiscus Johann, Biſchof von Ermeland, 
Sumanift 602 603. 

Dares Pbrhaiud, ſpätrömiſche Troja-Dich⸗ 
tung 

Decembrio Pier Candido, italien. Humanift 
497 534. 

Denis Michael S. J., Dichter 670 671. 

Depharanas Markos, 
556. 


Desbans Jakob S. J., 
641 


Desbillons of. 8. J., Fabeldichter 667. 

Deslions Antoine S. J., Dichter 666. 

Devaris Matthias, Gräcift 565. 

Dicuil, iriiher Mönch 298. 

Didade, althriftlihe Schrift 11. 

Didymus der Blinde, alerandrin. Theo- 
loge 65. 


Schuldramatifer 


Humanift — 


byzant. Dibaktifer 


Namenregifter. 


a Peter von, niederl. Schuldramatifer 


"Diober von Tharfus, Theologe 65 
 Diogenianos, Derf. einer Anthologie 
545 


Diognet, ber Brief an, altchriſtl. Schrift 


Dionpfins Areopagita (Pjeudo:) 65 510. 
— der Große, von Alerandrien 22. 
- ber Kartäuſer 487 502 4. 
Diugosz Johannes, poln. Geihichtichreiber 
>04 


Does a Jan van der, niederl. Hu— 
manift 6 

Donati — 8. J., Schuldramatiker 
633 668. 

Dondino Guilelmo 8. J., Dichter 668. 

Donizo, Biſchof, Epiker 371. 

Dorotheos, Archimandrit, Asket 511. 

Dracontius, altchriſtlicher Dichter 194. 

Dringenberg Ludwig, deutiher Humanift 
502. 


Dufas Demetrios, griechiſcher Humanift 
519 561. 

; Dungal, irif her Mönd 293. 

Duns Scotus Johannes, Theologe 487. 


| — von Canterbury, Geſchichtſchreiber 


— von Bethune, Grammatiter, 
Dichter 399 400 401. 

Ecbasis captivi, Zierepos 333 —335. 

Egbert, engliicher Glaubensbote 270. 

Eginhard (Einhard), alle Geſchicht⸗ 

ſchreiber 243 298 305 

Ekkehard (I.), Abt von St Gallen 319 

| 827 440. 

— (II), Dompropft in Mainz 319. 

— (IIL), Mönd in St Gallen 319. 

— (IV.), Lehrer zu Mainz, Geihicht: 
fchreiber 316 319 320 327 440. 

— (V.), Mönd in St Gallen, Hymno⸗ 
graph 320 440. 

— don Aura, Ehronift 358. 

' Elpis (Helpis), Didhterin 217 440. 

Enea Silvio Piccolomini ſ. Pius II. 

Engelbert von Salzburg, Hymnendichter 
440. 

| Ennodius, Biſchof von Pavia, Dichter 
204—208 440. 

Eoban Heſſus, Dichter, Humanift 577. 

Ephräm von Antiohien, Theologe 510. 

' Epiphanius, Kirchenſchriftſteller 64. 

Erasmus Defiderius von Rotterdam, Du: 

'  manift 579 581—584 588—591 606. 

Erhempert, Gefhichtichreiber 855. 

Erih von Auxerre, Scholaftiter 457. 

Ermenrih von Ellwangen, Dichter 311. 

Ermoldus Nigellus, Dichter 311. 

Ermulf, englifcher Geſchichtſchreiber 406. 








Namenregiſter. 


Erotofritos, 
557. 
a. Peter, neulat. 


Sfienn 9e Henry (Stephanus), franz. Philo- 
oge 608 
— von Lyon, Kirchenſchriftſteller 


Cubafi (Athenais), Kaiferin von Byzanz 
Eugenius - Erzbifhof von Toledo, 
Dichter 2 


Eulogius F Corduba, Dichter 314. 

Euſebius Pamphili von Cäſarea, Kirchen- 
hiſtoriler 32—34 64. 

Eufthatios Mafrembolites, byzant. Roman: 
ſchreiber 554. 

Eutyches, Arrlehrer 65. 

Evagrius, Kirchenhiſtoriker 518. 


Fabricius Andreas, Propft in Altötting, 
Schuldramatifer 613 633 638. 

— Georg, neulat. Dichter 617. 

— oh. Mlbert, Literaturhiftorifer 618. 

— Baul, Epiter 602. 

Falieri Marino, vulgär-griehiicher Dichter 
555. 


Falletti Girolamo, Epiker 602. 

Fardulf, karoling. Dichter 304. 

Ferretto di Vicenza, italien. Humaniſt 
8. 


Filelfo Francesco, italien. Gräcift 496 
493 559. 
Sitger — Biſchof von Rocheſter 588 


—* — Chalons, Hymnendichter 

440. 

— Merobaudes, Rhetor 197. 

Fleming Paul, Dichter 672. 

— Robert, engl. Humaniſt 585. 

Flodoard von Reims, Geſchichtſchreiber 
und Dichter 357 364-867. 

Florus von Lyon, Theologe 312, 

Fracoſtoro Girolamo, Arzt, Humanift 
802 


Free John, engl. Humanift 585. 

Friſchlin Nikodemus, deutiher Humanift 
623 —625. 

u. Andreas 8. J., Schuldramatifer 

Frizon Leonhard 8. J., Lyriker 667. 

Froumund von ZTegerniee, Dichter 328. 

— von Braga, Kirchenſchriftſteller 


Fulbert von Chartres, Hymnendichter 440 
457. 
Fufgentius Ferrandus, Kirchenichriftfteller 


— ara Ruſpe, Kirchenſchriftſteller 242. 
— Grammatiker in Karthago 202 203. 


vulgär » griehiihes Epos —: ber hl., 
Dichter 677 bis ii Zarquinius 8. J., Lyriker 650, 





695 


Glaubensbote 284 bis 


Gambara Lorenzo, Epiker 602. 
Gaza Theodor von, griechiſcher Humanift 


559 561. 
Dichter 


a (Gazäus) Angelin S. J., 
Oel I, Papft, Hymnendichter 120 
440. 


Genefos Joſeph, byzant. Geſchichtſchreiber 


Pre von Monmouth, Chronift 406. 

— Binfauf (De Vino salvo), Didaktiker 
398 8399. 

Georgios Alropolites, byzant. Geſchicht⸗ 
ſchreiber 518. 

— Lapithes, byzant. Didaktifer 554. 

— — byzant. Geſchichtſchreiber 


— enss, Geſchichtſchreiber 


— ifibes, byzant. Dichter 538— 541. 
— von Trapezunt, grieh. Humaniſt 


559. 
Gerberga, Abtiffin von Gandersheim 
340 


byzant. 


Gerbert von Aurillac ſ. Silvefter II. 

Gerhoh von Neicheröberg, Propft und 
Schulmann 432 458. 

Gerland, engl. Theologe 406. 

Germanos, Patriard) von Konftantinopel ' 


Gerold, Mönd in St Gallen 319. 

Gerſon (Eharlier) Johann, Theologe und 
Dichter 498 —500, 

Gesta Caroli Magni 363. 

— Henrici imperatoris 370. 

Gianetafio Nikolaus P. 8. J., Dichter 
668 


Giattini, Giambattifta S. J., Schuldrama- 
titer 634 668. 

Gilbert de la Porree, Scholaftiler 457. 

Gildas, altbritifher Schriftfteller 270 bis 
272. 


Giraldi Giov. B., Dramatiker 557. 

Giraldus Gambrenfis (Gerald du Barri), 
Diftorifer und Satirifer 406 418 
419. 

Glareanus Heinr. Loriti, ſchweizeriſcher 
Humaniſt 574. 

Gloceſter Humphrey von, Förderer des 
Humanismus 584. 

er Michael, vulgär-⸗griechiſcher Dichter 


—2 Wilhelm, niederländ. Humaniſt 


Gobetitaft, Kalligraph 293. 
Godfrid von Windefter, Epigrammatiler 


406. 
Goliarden 411423. 


696 


— Sigismund, deutſcher Humanift [a 


Namenregıiter. 


homas ſ. Thomas von 


mpen 
— von Viterbo, Chroniſt und Dichter | Heraflas von Alexandrien, Theologe 22. 
360. 


Gottihalf, Irrlehrer 313 314. 

Govea Andreas de, portug. Humanift 
606 607. 

— Jakob, portug. Humanift 606. 


Gratius Ortwin, deutfher Humanift 576 | Hermas, 


580 581 
Ark von ———— Theologe 511. 
— von Antiohien, Theologe 511. 
Gregorius I., der zu, Bupkı, Kirchenlehrer, 
Dichter 235 —241 44 


Herder Gottfried v. 652 653 673 674. 
Heribert von Eichſtätt, 
440. 
Hermannus ber Lahme (Eontractus), His 
ftorifer, Dichter 356 440 444 469. 
Der Hirt des, althriftliche 
Schrift 11. 

Hermias, Apologet 14. 

Herrad von Landsperg, Dichterin und 
Künftlerin 432 468. 

Heffe Eoban, deuticher Humaniſt 577. 


Hymnendichter 


— XIII., Papſt, Scherer der griechiſchen * von Jeruſalem, Kirchenhiſtoriker 


Studien 566. 
— von Nazianz, ber hl., 
Dichter 40—49 520 535 551. 
— Ar Nyfia, der hl., 


— Thaumaturgus, der hl. 22 40. 


Kirchenlehrer 39 —— der hl., 
s 114. 


Kirchenlehrer, —8 von Stein (a Lapide), deutſcher 


Humaniſt 574. 


Kirchenlehrer 110 
— * von Arles, Dichter 194. 


an Zours, Geſchichtſchreiber 255 bis | — ber hl., von Poitiers, Kirchenlehrer 98 


Grey William, engl. Humanift 585. 
Grimani, Kardinal 582. 


bis 100 114 129 253 440 
— Verfaffer von Myſterienſpielen 437. 
Hildebert, Mönd, Epiter 376, 


. "William, engl. Humanift 582 | — von Tours (Lavardin), Erzbiſchof, 


Snci Gerhard, Stifter der Fraterherren 


Grotius Hugo, Polyhiftor, Dichter 628. 

Guidacerio, Gräcift 607. 

Guido von Bazoches, Hymmendichter 440. 

Guinicci Vincenzo 8. J., Schuldramatifer 
633 668 


Gunther von Päris, Dichter 372374. | 
Gunthorpe John, engl. Humanift 585. | 


all Yojeph, neulat. Dichter 6 
alofis, Gedicht auf die — Kon: 
ftantinopels 557. 
Harmoniafos Konftantin, byzant. Dichter | 
556. 


Bat e VL ($lorisjon), N 582. | 


Hartmann, Abt von St Gallen, Hymnen» | 
dichter 319 440. 
— Libertus ab, Schuldramatiker 


deutſcher Humaniſt 


Heimburg Gregor, Juriſt 501. 
—— von Auxerre, Geſchichtſchreiber 


— von Mailand, Didaktiker 895. 
— von Rosla, Epifer 378. | 
— von Settimello, Dichter 395. | 
—— Daniel, niederländ. Philologe 


Hedi Alerander, 





| 


Heirie von Aurerre, Hagiograph 312. 
Heloife, Abtiffin 412 445 446. 
Helpidius (Elpidius), Dichter 218. 


Dichter 380—889 401 440 444 445. 
Hildegardis, die hl., Abtiffin 468. 
Hiltprand Michael, beuticher Schuldrama⸗ 

tiker 633. 

Hinderbach Johann, deutſcher Humaniſt 


502 
Hintmar, Erzbiſchof von Reims 313 
didheiytus, der hl., Kirchenſchriftſteller 
Sick Heinrich, deutſcher Schuldrama=- 


Hedfraen —— —* SJatob O. Pr., 
Theologe 
Hojus Be Schuldramatiker 614. 
Holonius Gregor, niederländ. Schul« 
bramatifer 613. 
Holftenius Lukas, Latinift 648. 
Homer, ber lateiniſche 400. 


Honoratus von Arles, Kirchenjchriftteller 


114, 
ar Peter van, Hiftorifer und Dichter 
Hose Sidronius S. J., Elegifer 665 


— Maurus, Erzbiſchof von Mainz 
308 440 457 468. 


Hroswitha von Gandersheim, Dichterin 


339—353. 

Huet Pet. Daniel, Gelehrter und Latinift 
667. 

' Hugo Hermann 8. J., Elegifer 666. 


— von Rouen, Theolog e 406. 
— bon St Bictor, Scolaftiter 458. 
Hukbald, Hagiograph 354. 


Namenregifter. 697 


Hunnius Ägidius, Schuldramatifer 620. Iſengrimus, Tierepos 336. 
Hutten Ulrich von, deutſcher Humanift 578 | Iſidor von Pelufium, Theologe 65. 
579. |— von Serie, Kirchenlehrer, Polyhiftor 
ir Konftantin, nieberländ. Poet 246—250 468, 
Yo, Mönd von St Gallen 316. 
Spt, ——⸗ zu Alexandrien 53 Itala, lateiniſche Bibelüberſetzung 84 85. 
JZuuian von Speier, Hymnendichter 440 
454. 


— von Toledo, Theologe, Grammatiker 
——— da Todi, Hymnendichter 440 244. 
663. AYunilius, Bibelerflärer 242. 


gatob a Voragine, Erzbiichof von Genua, | Junius Samuel, Schuldramatiter 620. 





Legendenfammler 361. Juſtinian I., Kaifer 63 510 
Janus Pannonius, Humanift und Dichter | Yuftinus, der hl., Apologet 12. 
497 504 — von Lippftadt, lat. Epifer 377. 


gr} Fran le 8. J., — — altchriſtlicher Epiler 118 bis 
120. 


— * hl., von Antiochien 11 12. 
— — von Loyola 606. 
Ildephons, der hl., Erzbiſchof von Toledo, —— Zacharias, griech. Humaniſt 
Kirchenſchriftſteller 244 245. 
rag und Margarona, byzant. Dich: Ratlifios Andronifos, grieh. Humanift 560 
565 


Su Albert 8. J., Lyriker 669. KRameniates — byzant. Geſchicht⸗ 
Innocenz IIL, Papfi Hymnendichter 440. ſchreiber 518 
— Anagnoftes , Geſchichtſchreiber rn Johannes, byzant. Geihicht- 
reiber 519. 
— fe hl., Apoftel 9. Kappel Hartung d., deutſcher Humanift 
— Venechini Prieſter, Hymnendichter 455. 502. 
— at ai ber hl., Kirchenlehrer | Karl d. Gr., Kaiſer 292— 305. 
50—52. Karod) Samuel, Humanift 503. 
— von Eornwall, Theologe 458. Kafia, byzant. Dichterin 543. 
— von Efezmicze | Janus Pannonius. | Katherinenspiel zu Dunftaple 438 
— von Damasfus, Kirhenlehrer 510 511 Keyſere, de (Cäſar) Franz, Epiter 378. 


513 535. Kinnamos — byzant. Geſchicht⸗ 
— Gallicus, Hymnendichter 440. ſchreiber 518. 
— de Garlandia, Grammatiker 400. Klemens von Aleranbrien, Kirhenjchrifte 
— von Dantville, Dichter 400. fteller 15—19. 
— von enftein, Erzbifhof von Prag, | — ber hl., von Rom, "aaa und Kirchen» 
Hymnendichter 440. ihriftfteller 11 12 84 
— SKamateros, byzant. Dichter 554. Knobelsdborf Euſtach von, Humanift 
— II, Kantafuzenos, Kaifer, Gefhicht: | 605. 
ſchreiber 519. Kolezawa Karl S.J., Dichter 634. 
— Satrares, byzant. Dichter 554. Kolluthos aus Eyfopolis, Epiter 77. 
— Klimakus, Asfet 511. Komnena Anna, byzant. Geſchichtſchreiberin 
— Kyriotes, byzant. Epigrammatifer 543.| 518. 


— Mauropus, Metropolit von Eudaita, | Konrad von Gaming, Hymnendichter 
Dichter 544. 440. 
— Moſchos, Astet 512. — von Haimburg, Hymnendichter 440. 
— von Salisbury, Bifhof von Ehartres, | — von Mure, V agifter 400. 
Theologe, Dichter 339—392 400 406. — Anagnoſtes, byzant. Dichter 
— Secundus (Jan Nicolai), niederländ. 


Humaniſt 609. — TI. Porphyrogennetos, Kaifer, byzant. 
John Pedham, en von Ganterbury, Geihichtichreiber 518. 

Hymnendichter 440 45 — Stilbes, byzant. Dichter 554. 
Jonas von Orleans, ——— 313. Kosmas Jaditopieufies Geograph 518. 


— * Exeter (Iſeanus), Dichter | — wor Melode, byzant. Hymnendidter 

— Scottus, faroling. Dichter 293 304. Rreibing Johann 8. J., Elegifer 665. 

Irenäus, der hl., Biſchof von Lyon, Kritobulos von Imbros, byzant. IR 
Kirhenfchriftfteller 15. fchreiber 519. 


698 


Kyprianos, Dichter 534. 
Tr von Skythopolis, Hagiograph 


Pia aus Panopolis, Epiler 77. 


Lactantius, Kirchenſchriftſteller 96. 
N von Hersfeld, Gejchichtichreiber 


Lanbini Brancesco, italien. Humanift 484 
8 


um Eriftoforo, italien. Humaniſt 


—— von Canterbury, Theologe 406 
* Rudolf von, deutſcher Humaniſt 


Laonikos Chalkondylas, byzant. Geſchicht-⸗ 
ſchreiber 519. 
— Janos, griech. Humaniſt 561 564 


— ‚Ronfantinos, griech. Humanift 561 
— Wilhelm, engl. Humaniſt 583 
5 


Latomus (Barthol. Steinmetz, Maſſon), 
deutſcher Humaniſt 607. 
— von Durham, Gpigrammatiter | 
6. 
Laurimanus Cornelius, Schuldramatifer 
613 620. 


Lauterbach Johann, neulat. Poet 618. 

Legenda aurea 361. 

Dee Gottfried Wilhelm von, Philofoph 
672. 


— Simon, ſchweizeriſcher Humaniſt 

621 A. 

Leo J., der hl., Papſt, Kirchenlehrer 114 
bis 117. 

— X. (Giov. Medici), Papft, Gönner des 
Humanismus 488 565 566 582 585 


591—594 596 598. 
— (Pecci), Papſt, Dichter 681 bis — 


— byzant. Geſchichtſchreiber 
Leontios von Byzanz, Theologe 510. 


Leto Pomponio, — Humaniſt 496. 
Libanius, Sophiſt 5 





Namenregiſter. 


Liudprand, Geſchichtſchreiber 356. 

ar Titus von Forli, italien. Humanift 
Loches Barth. de, Dramatiter 608, 
Loschi Antonio, italien. Humanift 497. 
— Petrus Secundus, neulat. Dichter 


sr "Peter aus Kißlau, Bagant 503. 
Lufas, der hl., Evangelift 5 9. 

duuu⸗ Raimundus, Theologe 487. 
Luther Martin 580 583 614. 

Luxorius, afrikaniſcher Dichter 218. 
— und Rhodamne, byzant. Roman 
557. 

Lyra Nikolaus von, Bibelerklärer 487. 





Macedo Francisco de S. J., Epiker 669. 

Maffei Joh. P. 8. J., Pe 645. 

Major Yohann, neulat. Poet 618. 

Makarius Magnes, Apologet 64. 

Mafropedius (Lankveldt) Georg von, 
Schuldramatiter 612. 

Malalas Johannes, byzant. Chronift 
öl 


8. 
re Karl 8. J., Schuldramatifer 
633 666. 


Mambrun Pierre S. J., Humanift 641. 
Manera Francesco S. J., Humanijt 683. 
— Gianozzo, italien. Humaniſt 


Manuel Holobolos, byzant. Dichter 554. 
— Philes, byzant. Dichter 554. 
Marbod, Biſchof von Rennes, Dichter 367 
379 380 400 444. 
Mearca Cornelius a, Dichter 614. 
Marcian, griedh. Hymnendichter 63. 
Marcion, Gnoftifer 14 89. 
Marius Mercator, Theologe 114. 
— Victor, Dichter 194. 
Markus Eremita, Theologe 65. 
— ber hl., Evanı elift 9. 
Mönd von nte Gaffino 240. 
— Luigi de’, italien. Humaniſt 483 
488, 
Marfiglio Ficino, italien. Humanift 490. 
— di ©. Sofia, italien. Humanift 484. 
0 ya Carlo, italien. Humanift 496 


Libens Jakob 8. 5 Ssubramatier Mais Gapella, Dichter 200-202 


634. 
Licinianus, Biſchof, Theologe 242. 
— Peter, niederländ. Schuldramatiker 
1 


Li 
Ligurinus, epiſche Dichtung 372. 

Lily William, engl. Humaniſt 585. 
A (Liobgyht), die hl. 290 291. 


| Martinus Dumienfi, Biſchof von Bracara 


—* 251 
n Tours, ber bi. 253. 


gno vitae, De, altchriſtl. Gebidht 121. Malen Jakob S. J., Schuldramatifter 634 


— der hl., Apoſtel 
— von Vendöme, Dichter do 401 402 


Lipfius — nieberländ. Sprachforſcher — Gorvinus, König don Ungarn 


609 610 
Biudger, der hl., Hagiograph 354. 


— Elegiker 400 401. 


Namenregifter. 


Maximos Eonfefjor, grieh. Theologe 510. 
— Planudes, Sammler der Anthologie 545. 
Marimus von Turin, Theologe 114. 
Mayron Jakob, Theologe 487. 
Mechtildis, die hl. 467. 

Medici Eofimo de’ 488, 

— Lorenzo il Magnifico 488. 
Melanchthon Philipp 615 616. 
Meleagros von Gadara 544. 

Melifjus Paul (Schebe), Dichter 619. 
Meliteniotes, byzant. Gedicht 555. 
Melito, Apologet 14. 

Diemnon von Ephefus, Apologet 65. 
Menander, byzant. Geſchichtſchreiber 518. 
rg von Tegernſee, DAmBenBIIBIeR 


Methodius, Biihof von Olymp 2229. 

Michael Gärularius, Patriarch 516. 

— Hapudleir, byzant. Dichter 554. 

Micyllus (Molter) Jakob, Dichter 617. 

Middleton Rihard von, Scholaſtiker 487. 

Milling Thomas O. S. B., engl. Humanift 
585. 


Milo von Tournai, Dichter 312. 

Miltiades, Apologet 14. 

u. Felir, Kirchenſchriftſteller 85 
is 87 

Mobdeitos von Jeruſalem, Theologe 511. 

— iriſcher Mönch in St Gallen 
16 


Moker Anton, neulat. Dichter 618. 
Monahus Sangallenfis, Ehronift 363. 


Montanus (van den Berghe) S. J., Elegifer 


666. 
Monte Pier del, 
Montmorency Franz von S 
666. 


italien. zann 584. 


Moraguez Andreas S. J., Elegifer 669. 

Morea, Chronik von 557. 

Morus Thomas, Lordkanzler, Humanift 
582 586—588. 


— Theologetos, byzant. Dichter Olympiodor von Alexandrien, 


—* Demetrios, grieh. Humaniſt 561 
wide Johann von Königsberg, Humanift | 


en Marc-Antoine, franz. Humanift 
6 

Murmellius Joh. Humanift 502. 
Mufaios, griech. Dichter 77 78. 


Muffato Alberto, italien. Humanift 478 


497. 

Mufuros rk griech. Humanift 561 
562 564 6 

Mutianus Rufis Konrad, deutſcher Hu—⸗ 
maniſt 577. 


Namatianus Rutilius, ſpätrömiſcher Dich— 
ter 190 -192. 


. J., Elegiker 


699 


Naogeorgius (Kirchmair Thomas), Schul- 


dramatiker 620 623. 
Naſo (pjeudon.), karoling. Dichter 304. 
Navagero Andrea, venetian. Humaniſt 
6602. 


Neophdtos von Cypern, Geſchichtſchreiber 
PR di Lippo, italien. Humanift 488. 
Neftorius, Irrlehrer 65. 

Neumayır Franz 8. J., Schuldramatifer 
ı 634, 

Niccoli Niccolo, italien. Humaniſt 490. 
Nikephoros Bryennios, byzant. Geſchicht⸗ 


ſchreiber 518. 
— — Geſchichtſchreiber 


— Kalliſtos, Kirchenhiſtoriker 511 518. 


byzant. 


Niketas Eugenianos, byzant. Roman— 
ſchreiber 554. 
Nikolaus V. —— — — 


Papſt, Humaniſt 491 5 

— von Bibera, — 401. 
— (Olahus), ungarifdher Humanift 
605 


Nilus, Abt 65. 
Noceto Carlo 8. J., Dichter 668. 
Noel Francois S. J., Schuldramatifer 


Ron, grieh. Dichter 69— 77. 


| Rotter Balbulus, der hl., Gelehrter und 
Dichter 316318 440. 
— Labeo, Überjeger 319 440. 
— ie (piperis granum) 319. 
Biſchof von rt 319. 


Odilo von Elugny, Hymnendichter 440. 
Odo von Elugny, Hymnendichter 440. 

| Demler Georg, neulat. Dichter 617. 
Dlesnidy Shignew, Erzbifchof von Krafau, 

ı Gönner des Humanismus 504. 

byzant. 

|  Exeget 511. 

‚nit Martin von Boberfeld, Dichter 672, 
—n (Rod) Vincenz, neulat. Poet 

Ordericus (Obericus) Vitalis, Geſchicht— 
ſchreiber 857 406. 

Orientius, althriftl. Dichter 194. 

Origenes, Kirhenichriftiteller 20 21. 

| Srofus Paulus, Kirchenhiftorifer 114. 

Dsborn von Gloucefter, Theologe 406. 

Ofteripiele 426-428 433—437. 

— Freiſing, Geſchichtſchreiber 358 


Owen John (Audoenus), engl. Epigram— 
matifer 626. 





— Drepanius, röm. Redner 186. 
alladas, griech. Epigrammatiker 536. 


700 


Palladius, Kirchenſchriftſteller 65. 

Pamphilus, Satiriter 400. 

Pantänus, Lehrer in Aleranbrien 15. 

Papaeus Petrus, niederländ. Schuldrama- 
tifer 613. 

Papias, Apoftelihäler 11. 

Parentucelli ſ. Nitolaus V. 

Pashafius Radbertus, Theologe 313. 

— der hl., Apoſtel von Irland 


ei III. Papſt 565 588. 

— IV., Bapit 565. 

Paulinus von Aauileja, Dichter 504 440. 

— von Nola, der hl., Dichter 135 137 
145 —154 440. 

— von Pella, Dichter 193. 

— von Perigueur, Epifer 195. 

— und Polla, tomiihe Epopde 404 405. 

Paullus Walter S. J., Elegiter 666. 

Paulus, ber BL, Üpoftel 459. 

— Albarus, Hymnendichter 440. 

— Diakonus, Hiftoriter, Dichter 293 304 
305. 

— Silentiarius, byzant. Dichter 536 bis 
538. 

Pelacani Biagio, italien. Humanift 484. 

Pereira Bartholomäus S. J., Epiter 669. 

Perotti Niccolo, italien. Humaniſt 491. 


redner 645. 
Petavius (Petau) Dionyfius S. J., Theo: 
loge, Dichter 633 640 641. 

Petrarca Francesco, italien. Humanift 479 
bis 483 486 582 584. 
Petrucci Girolamo 8. J., Latinift 650. 

Petrus, ber hl., Apoftel 9. 

— de Blarovico, Hymnendidhter 440. 

— von Blois, Humanift, Dichter 395 
397 398. 

— Gantor, Theologe 458. 

— GChryfologus von Ravenna, Kirchen— 
lehrer 114 424. 

— Damiani, Kardinal, Kirchenlehrer 440 
441— 444. 

— Lombardus, Scholaftifer 457. 

— von Pija, faroling. Dichter 293 304 
305. 

— von Riga, Dichter 377. 

— Venerabilis, Abt von Elugny, Hymnen 
dichter 400 444. 

Pettworth Richard, engl. Humanift 584. 

Peuerbaf Georg, Mathematiter, Humanift 
502. 


Biefferforn Johann 578 579. 
Philicinus Peter, neulat. Poet 613. 


logie 544. 
Bhiloftorgios, Kirdhenhiftorifer 66. 
Phlorios und Plakiaphlora, byzant. Did 
tung 557. 


| 
; Rabulphus be Diceto, 
406. 


Namenregifter. 


Phoenice, De, althriftlide Dichtung 122 
123. 


Phortios Leonarbos, byzant. Dichter 556. 
—— Patriarch, Polyhiſtor 516 bis 


Phyfiologos 558. 

Pico della Mirandola, Platoniter 563 
586, 

Pitatoros Johannes, byzant. Dichter 556. 

Pilato Leonzio, Überfeßer 484 559. 


‚ Pilihsdorf Peter von, Theologe 487. 


Virkheimer Charitas, Abtiffin 573. 
— Wilibald, Humanift 573 574. 

Piſano Ugolino, italien, Humanift 497. 
Pius Il. (Enea Silvio de’ Piccolomini), 
Papft, Humanift 491 497 501 572. 

Platina, italien. Humanift 496 585. 
Platon 22 23. 
— Matteo, 


italien. Humaniſt 


Biason Manuel Gemifihos, Platoniter 


— Etienne de, neulat. Dichter 646. 

Poggio Bracciolini, italien. Humanift 494 
501 584. 

Polignac Melchior de, Kardinal, Dichter 
671 672. 


ani Poliziano Angelo, italien. Humaniſt 563. 
Perpinian Petr. Joh. 8. J., Latiniſt, Schul: | 


Pollicarius Johann, neulat. Boet 618. 


Pontanus (Spanmüller) Jakob 8. J., La— 


tiniſt 633. 

Porikologos, byzant. Vollsbuch 558. 

Porree Charles 8. J., Schuldramatiker 
634 642 643. 

Poflel Johann, Humaniſt 618. 

Prätertatus Vettius 136. 

Priscianus, Grammatifer 218. 

Proba, Dichterin 124. 

Proflos von Eyzicus, Kirchenſchriftſteller 65. 

— neuplat. Philojoph 68. 

Profopios von Gaza, Theologe 64 511. 

— byzant. Geſchichtſchreiber 233 518. 

arg von Aquitanien, Kirchenſchriftſteller 
195 400. 

Prubdentius NAurelius, Dichter 154— 182 
400 440, 

— Chroniſt 355. 

Piellos Michael, byzant. Philofoph 519. 


‚ Piolemäus de Fiadonibus, Chroniſt 357. 


Pulcharelli Konjtantin 8. J., Dichter 668. 
Pulologos, byzant. Gedicht 558. 


Ouadratus, Apologet 12. 


Quintus Smyrnäus, Epiker 68. 
Philippos Sidetes, Kirchenhiſtoriler 66. 
— von Theſſalonike, Sammler einer Anthos | 
Barren 


Königin 258—259 
Geſchichtſchreiber 


die hl., 
263 


Namenregiiter. 


Ragewin, Geihichtihreiber 360. 

Rapin Rene S. J. 640 667. 

NRatbod, Legendendichter 867. 

Natpert, Mönd in St Gallen 316. 

Ratramnus von Eorbie, Theologe 313. 

Ravifi Terier de (Ravifius Tertor), franz. 
Humaniſt 607. 

Reccesvinth, König der Weftgoten 243. 

nn von Canterbury, Legendendichter S 


Begins Ehronift 355. 

Reinhardus Vulpes, Tierepos 337—839. 

Remigius von Aurerre, Theologe 457. 

Rejende Andrea de, Epiter 602. 

— Simon 0. S. B., 
676 6 


Reuchlin Johann, — Humaniſt 568 
572 579—581 6 
Neusner Nikolaus, — Poet 618. 
Rhodiſche Siebeslieder 556. 
— Laurenz, deutſcher Humaniſt 
61 


Richard von St Victor, Myſtiker 458. 

Riederer Ulrich, deutſcher Humaniſt 502. 

Rimbert, Hagiograph 354. 

Rittershaus Konrad, neulat. Poet 618. 

Robert, ... von Franireich Hymnen⸗ 
dichter 44 

— von Bincofn, Hymnendichter 440. 

— von Melun, Theologe 406. 

— Pullus (Pulleyn), Scholaftiter 406 457. 

— von Retines, Mathematiler 406. 

Roger von Hoveden, Geihichtichreiber 406. 

— Infans, Mathematiker 406. 

Röhrig Georg, neulat. Poet 620. 

Romanos, byzant. Hymnendichter 63 522 
bis 532. 

Noscellinus, Scholaſtiker 457. 

Nuccellai Giovanni, Dichter 601. | 

Rue Charles de la 8. J., Schuldramatifer | 
634 667 


Rufinus Tyrannius, Kirchenſchriftſteller 


Ruodlieb, Roman 328—332, 
Rupert von Deuß, Theologe 440 458. 
Rutilius ſ. Namatianus. 


| 


Sabinus Georg, neulat. Poet 617. 

— von Heraflea, Kirchenſchriftſteller 66. 
Sachetti Franco, italien. Humanift 488. 
Sadlifis Stephanos, byzant. Dichter 555. 

—n Yalob, Kardinal, neulat. Dichter , 


3 
Säldner — deutſcher Humaniſt 503. 
Salutati Golluecio de’, italien. Humanift | 
484 488, 
Salvianus, Kirhenichriftfteller 229— 232. 
Sanadon Noel-Etienne S. J., Elegifer 667. 
_—.. Jacopo, neulat. Dichter 598 
is 


"Seidl Joh. Bapt. 8 
634 


701 


Santeul Jean de, lat. Dichter 667. 

— Claude, Hymnendichter 667. 

Sarbiewsfi M. Gafimir S. J., Lyriker 
649 650 651. 

Saurius Andreas, Schuldramatifer 620. 

Sautel Pierre Jufte S. J., Dichter 667. 

Saro Grammaticus, Geihichtichreiber 361. 

— Joſ. Juſtus, Philologe 627. 

chedel Hartmann, deutſcher Humaniſt 503. 

Philoſoph 672. 

Schongaeus Cornelius, niederländ. Schul⸗ 
dramatiker 613 620. 

Schöpper Jakob, niederländ. Schuldrama— 
tiker 613. 

Seriverius Peter, niederländ. Philologe 
627. 

Secco Potentone, italien. Humaniſt 497. 

Secundinus (Sechnall), iriſcher Biſchof, 
Dichter 269. 

— altchriſtl. Dichter 195 196 


— ER ug 311 440. 
. J., Schuldramatifer 


Selling William O. 8. B., engl. Humanift 
585. 





Sernelli Biagio, italien. Humaniſt 488. 

Servatius Lupus, Erzbiihof von Sens 
314. 

Servius, Grammatifer 186. 

Seta, griech. Hymnendichter 63. 

Severus, Biſchof von Gartagena 244. 

Sidonius Apollinaris, Biſchof von Eler- 
mont⸗Ferrand, Dichter 197—199 400. 

| Sigebert von Gemblour, Geſchichtſchreiber, 

ichter 358 367 440. 

Signa Martin de, Auguftiner 484 437. 

' Silvefter II. (Gerbert von Aurillac), Papft 
457 469. 

Silvia von Aquitanien 127 128. 

Simeons Joſeph 8. J., Schuldramatifer 
634. 

Sifebut, König der Weftgoten 243, 

Sokrates, Kirdenhiftorifer 66. 


Solimani Julius S. J., Schuldramatifer 


633. 
Solymarius, Epos 371 372 400. 
— Ulrich, deutſcher Humaniſt 


— von Jeruſalem, Theologe, 
Hymnendichter 512 534. 
Southwell Robert 8. J., Dichter 669, 
Sozomenos, Kirchenhiftoriter 66. 
Spangenberg Johann, neulat. Dichter 
Spiegelberg Morig von, deutſcher Humanift 
502 u 
—— Joſeph 8. J., Schuldramatiker 
— John, Erzbiſchof von Canterbury 


702 


u Bernhard 8. J., Schuldramatifer 


—— und Ichnelates, byzant. Fabel⸗ 

u 

a ihr) Ehriftian, Schuldrama- 
tifer 6 

Sterder — deutſcher Humaniſt 503. 

Stigelius Johann, neulat. Dichter 617. 

Strada Famian 8. J., Hiſtoriker, Dichter 
650. 

Sturm Johannes, Pädagog 620. 

Sturmius, der hl., Abt von Fulda 291 808. 

Stymmelius (Stymmel) Chriftophorus, 
Dichter 622 623. 


Sulpicius Severus, Kirchenſchriftſteller 114. 


Surius Johann S. J., Schuldramatifer 
633 666. 

er... Nitolaus S. J., Schuldramatifer 
33 

— Brynjölfe, zn von Skaͤl⸗ 
holt, neulat. Dichter 6 

Symeon Detaphraftes, —— 512. 

— Stilites jun., Asket 511 

Symmadhus, Redner, Ehifiolograpf 167 
bis 177 184—186. 

—— Biſchof, Hymnendichter 52 bis 


— byzant. Fabelbuch 558. 


Tajo, Erzbiſchof von Saragoſſa 244. 
Tatian, Kirchenſchriftſteller 14. 
Taubmann Friedrich, neulat. Poet 618. 
Tertullian, Kirchenſchriftſteller 88 —96. 
Teſoro Emanuel 8. J., Dichter 668. 
Thalajfios, Astet 511. 


—— von Cyrus, Kirhenhiftorifer 


—— von Mopſueſtia, Kirchenſchrift⸗ 


— byzant. Dichter 547 558 
555 
— Eludita, der kr? — Theologe, Dichter 


511 512 541 
— Monachos, byzant. Dichter 552 


— von Ancyra, Theologe 65. 

Theodulf, Biihof von Orleans, faroling. 
Dichter 293 302 303 400. 

Theophil von Antiohien, Kirchenſchrift- 
fteller 14. 

Theophylaftos Simofattes, byzant. Ge- 
ſchichtſchreiber 518. 








Namenregiſter. 


Thomas von Kempen, Asket 502. 


— Walbdenfis, Jrrlehrer 487. 

Timokles, grieh. Hymnendichter 63. 

Zimotheus von Berytus, Kirchenſchrift- 
fteller 66. 

Ziptoft John, engl. Humanift 585. 

Zongern Arnold von, Theologe 579. 

Zortello Giovanni, italien. Humanift 491. 

Zoufjain (Zoffanus) Jacques, franz. Hu—⸗ 
manift 608. 

Traverjari Ambrogio, 
eneral, Humaniſt 490. 

Zrimberg Hugo von, Dibaltifer 400. 

ur Giangiorgio, italien. Humanift 


——— Johann, Abt, Polyhiſtor 575. 
Trutfetter Jodok, deutfcher Sumanift 577. 
Tryphiodoros, Ägypt. Dichter 77. 
Zurnebe Adrien, franz. Philologe 608. 
Zurrianus 8. J., Latinift 663. 

' Zutilo, Mönd von St Gallen 316. 
Tybinus, Magifter, Metriter 455. 
Zyrannius ſ. Rufinus. 


Kamaldulenſer⸗ 


Ulrich von Weſſobrunn, Hymnendichter 440. 
— VII. (Barberini), Papft, Dichter 


| urban, Gräcift 563. 


Balla Lorenzo, italien. Humanift 495. 

Danitre Jacques 8. J., Didaktiker 667. 

Vatablus Franz, Spradigelehrter 607. 

Vegetius, jpätröm. Projaifer 186. 

Vegio Maffeo, Humanift, Dichter 491 
197 498. 

— Fortunatus, Dichter 257— 268 


Verecundus, Biſchof von Byzacene, Dichter 

40. 

Vergerio Pier Paolo, italien. Humanift 
497 501 503. 

Vergil-Eentonen 124. 

Bicorinus, Rhetor und Dichter 120 bis 
123. 


— Markus Hieron., Biſchof von Alba, 


Dichter 594—598 600. 


Viktor, Mönd von St Gallen 319. 


Vincentius von Beauvais (Bellovacensis), 
Enchklopäbdift 469—474. 
— von Lerin, a a. 


' Vitalis von Blois, Dichter 400 


— von Merſeburg, Geſchichtſchreiber Vivarius Sn Diäter 618. 


bonn von Aquin, der hl., Kircdhenlehrer 
440 452 458—463. 

— von Celano, Hymnendichter 440 452 
468, 

— von Chantimpre, 
361. 


Voragine a ſ. Jakob. 
rn Ba, nieberländ. Philologe 
627 


Begendenfammler Walafrid Strabo, Mönch in Reichenau, 


Hagiograph, Dichter 308—310. 





Nanenregifter. 703 


Wallius Jakob 8. J., Elegiter 665, ı Wilhelm von Blois, Dichter 403 404. 
Walter von Chatillon, Epiker 374— 377 — Brito, Epifer 376 400, 
400 408, — bon Ehampeaur, Scholaftifer 457. 


— bon Compitgne, Epiker 376, — Fitzſtephen, Geſchicht ſchreiber 406. 
— Map, Satiriter 409 410. — von ra (St Thierry), Scholaſtiker 
— don Mauritanien, Theologe 457. 457 458. 

— bon Muda, Epiter Fi a — bon Malmesbur Geſchichtſchreiber 406. 
— bon Speier, Epiler 368 369. — von Tyrus, Gejhichtichreiber 359. 
Walthariuslied 320—327. Wimpheling Jakob, beutfcher Humanift 
Wamba, König der Weitgoten 243, 502 611. 


Wandalbert von rum, Hagiograph 311 | Winfrid f. Bonifatius. 

355. e ER Fr Didaktiter 306 U. 370. 
Weihnachtsfpiele 429—431. Wirefer Nigel, Satirifer 407—409, 
Weil Nikolaus v., ſchweizer. Humaniſt 508, Witeez Johann don, Erzbiſchof von Gran 
Meitenauer Ignatius S. J., Schuldrama:| 508. 

tifer 634, 

Werpäus Karl S, J., Dichter 666, 
Wichif, Irrlehrer 487. 

Widl Adam 8. J., Lyriker 664, 
— von Corveh, Geſchichtſchreiber 


Wilhelm von Apulien, Epiker 371. 


Zamagna Bernhard S. J., lat. Homer—⸗ 
überjeßer 668. 
— niederländ. Schuldra⸗ 


matiker 613. 





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