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Full text of "Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge"

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Sammlung gemeinverständlicher 
wıssenschaftlicher Vorträge 


Franz von Holtzendorff, Rudolf Ludwig Karl Virchow 





LIBRARY 


OF THE 


| UNIVERSITY OF CALIFORNIA. 


Class 











Sammlung 
gemeinveritändlicher wiſſenſchaftlicher 
Vorträge 


begründet von 
Bud. Virchom und Fr. v. Holbendorfl, 


herausgegeben von 


Rud. Birdomw. 
Deue Fofge. XIII. Serie. 


Heft 289-312. 


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Hamburg. 
Verlagsanftalt und Druderei Actien-Gejellichaft (vorm. J. F. Richter) 
Königl. Schwed.:Rorw. Hofbuchhandlung. 
1898. 


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372 


DEN, 


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Drud der Verlagsanfialt und Druderei Actien-Gejellichaft 
(vormals I. F. Richter) in Hamburg. 


Inhalts-Verzeihniß. 


 __ 
mn Schulteß, Dr. Carl, Bauten des Kaiſers 





294. Thümmel, Conrad, Mittelalterliche Volksſagen als Ausdrud 
religiös politiſcher Kämpfe ......................... 183— 220 


295. Weinfchent, Dr. €., Der Graphit, jeine wichtigjten Bor- 


kommniſſe und jeine techniiche Verwerthun 








297. Behrend, Gottlieb, Ueber künſtliche Kälteerzeugung und 
Kälteinduftrie ..... a ee 299 — 330 


298. Mandıot, Dr. mu ‚Der Chriftus Michelangelos in S. Maria 








Seejäugethiere. — Il. Die Größenverhältnifje zwijchen 
Männchen en Weibchen im Thierreiche 
302. % leib, Dr. Morig von Sachſen als proteftanti 


303. Delter, Dr. med. Hermann, Die Schug- und Kampfmittel 
des Or anismus ie; nfeftionsfrantheiten RN J 














110122 
| un Eu 


Bid, Dr. Albert, Erfurter Theatervorftellungen in der guten 








309. Blümlein, Carl, Detit und eine Fayencen. . . . . . ........ 765—810 
310, Sintenis Die eudonyme der neueren deutſchen 





Roth, Dr. E., Ueber blüthentragende Schmaroperpflangen . 843 —886 
= Nover, Dr. %, Die gehengeiingt und ihre poetijche 
887 — 921 





Kauten des Kniſers Hadrian. 


Von 


Dr. Carl Sdufteh, 


Brofeffor am Wilhelm-Gpmnafium in Hamburg. 





Hamburg. 
Berlagsanftalt und Druderei A⸗G. (vormals J. F. Richter), 
Königliche Hofverlagsbuhhandlung. 
1898. 


Das Hecht der Ueberjegung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 


Druck der Berlagsanftalt und Druderei Actien ⸗Geſellſchaft 
(vormals I. 5. Richter) in Hamburg. 


— —— 


Als der Kaiſer Trajan im Auguſt des Jahres 117 zu 
Selinus in Cilicien unerwartet geſtorben war, theilte die Kaiſerin 
Plotina ihrem Verwandten Publius Aelius Hadrianus 
mit, daß der Verſtorbene ihn auf dem Todtenbette adoptirt 
habe. Trajan hatte ihn zu ſo hohen Würden befördert, daß 
die Thronfolge eines Anderen unmöglich war, aber zur förm— 
lichen Adoption entjchloß ſich der vierundjechzigjährige Kaifer fo 
Ipät, daß fi) das Gerede bilden Fonnte, die Kaijerin und 
Hadrians Vormund Aitianus hätten fie erjt nach feinem Tode 
vollzogen. Hadrian empfing am 9. Auguft die Nachricht von 
jeiner Adoption, am 11. Auguſt 117 die vom Tode Trajans, 
ließ fich noch) an demſelben Tage in feiner Hauptjtadt Antiochia 
zum Imperator ausrufen und erhielt auch vom Senat ohne 
Schwierigkeit nachträglich die Beftätigung. Wenn er dann feine 
Regierung weder im Sinne jeine® Vorgängers noch nach dem 
Wunſche des Senats geführt hat, jo beginnt doch mit ihm und 
durch ihn für das römische Reich die Zeit, welche Ranfe ala 
die des äußeren Friedens und inneren Gedeihens bezeichnet. 

Hadrians Eltern jtammten beide aus Andalufien, und er 
jelbft wurde am 24. Januar 76 zu Italica geboren, wo 
er auch den erften Unterricht genoß. ALS fein Vater nach zehn 
Jahren ftarb, übernahmen fein Verwandter M. Ulpius Trajanus 
und der Ritter Cälius Attianus die VBormundfchaft. Für die 


nächſten fünf Jahre bejuchte er nun die Schule in * und 
Sammlung. N. F. XIII. 289/290. (8) 


4 

ſein vorzügliches Gedächtniß machte es ihm leicht, ſich auf allen 
Wiſſensgebieten gute Kenntniſſe zu erwerben. Daneben hatte er eine 
natürliche Vorliebe für körperliche Uebungen, anſtrengende Märſche 
und gefährliche Jagden; beſonders als er mit fünfzehn Jahren 
zu ſeiner Mutter nach Spanien zurückgekehrt war, betrieb er 
das Waidwerk mit ſolchem Eifer, daß ſein Vormund fürchtete, 
er könne alles andere darüber vergeſſen, und ihn veranlaßte, ſich 
in Rom um bürgerliche und militäriſche Aemter zu bewerben. 
So iſt er ſchon vor Trajans Thronbeſteigung Tribun der 
fünften Legion in Moeſien geweſen. Trajan verband ihn ſich 
dann noch näher dadurch, daß er ihm die Hand ſeiner Groß— 
nichte Vibia Sabina gab, ihn an ſeinen Feldzügen theil— 
nehmen ließ und ihm nacheinander die wichtigſten öffentlichen 
Aemter und Prieſterſtellen übertrug. Von 113-—117 war er 
Legat im Partherkriege geweſen, und beim Tode Trajans be— 
kleidete er die gerade damals ſo wichtige Statthalterſchaft in 
Syrien. 

In verantwortlichen Stellungen Hatte er die Verwaltung 
und Heerführung kennen gelernt und war auf die Regierung 
aud) dadurch vorbereitet, daß er als Geheimfchreiber Trajans 
für ihn Reden verfaßte. Zur Erholung Hatte er fich mit der 
ber Kunſt bejchäftigt, wobei ihn feine Neigung zunächſt zur 
Malerei führte, bei der ihn die damalige Beſchränktheit feiner 
Mittel feithielt. Auf dem Gebiete des Stillfebend, das auch in 
den pompejanijchen Gemälden joviel vertreten ift, jcheint er Be: 
deutendes geleiftet zu haben, aber Trajan begünftigte feine Kunſt— 
liebhaberei nicht. Bei feinen großen Bauten fragte er ihn nicht 
um fein Urtheil, und als Hadrian bei einer Berathung darüber 
mitjprechen wollte, durfte ihn der Baumeijter Apollodoros noch 
mit den Worten abfertigen: „Geh' weg und male Deine Kür: 
biffe, denn Hiervon verjtehit Du nichts.” ? 


Als ihn dann der Wunjch des fterbenden Trajan oder 
(4) 


5 


Plotinas Gunft auf den Thron berief, ftand er im ziweiund: 
vierzigiten Lebensjahre: in ſechsmal fieben Jahren hatte er nad) 
dem Ideal des griechiichen Weijen gelernt, ſich auf das Erreich— 
bare zu bejchränfen, und er ftand noch auf der Höhe körper: 
fiher und geiftiger Kraft. Die Medaillen, Münzen und Bild: 
fäulen aus Ddiejer und fpäterer Zeit zeigen eine ſchöne, Präftige 
Erſcheinung mit wohlgepflegtem Haar, flugen Zügen und durch— 
dringendem Blid. „Seine Augen find nur halb geöffnet, als 
müfje er alles jelbjt jehen, jein Kopf ift leicht geneigt, als wolle 
er bejjer hören.” Die Münzen der bedeutenden Römer vor ihm, 
von Pompejus bis Trajan, zeigen bartlofe Gefichter; mit 
Hadrian beginnt eine ganze Reihe bärtiger Köpfe, denn er läßt 
fih, unbefümmert um das Herfommen, den „PBhilojophenbart“ 
wachſen, der fir ihn bequemer ift und auch feine Narben verdedt.? 
Schlagfertig und wißig im Geſpräch mit Gelehrten und Ungelehrten, 
weiß er jeine Gedanken auch fchriftlih in Poeſie und Proja, 
griehiich und Tateinisch, gewandt auszudrüden. Einzelne Epi- 
gramme find noch erhalten, aud) Stellen aus Briefen und Aus- 
züge aus feiner Selbjtbiographie, jowie Theile von den Reden, 
die er im Jahre 119 zu Ehren feiner Schwiegermutter Matidia 
und im Jahre 128 vor den Soldaten in Afrifa Hielt.* So 
befähigen ihn Begabung und Erfahrung, in allen wichtigen 
Angelegenheiten jelbjtändig zu regieren, aber jcheinbar bleibt er 
dabei im Einvernehmen mit dem Senat, der auch die von ihm 
gewählten geheimen Räthe beftätigt. 

Hatte man Trajan als den zweiten Romulus bezeichnet, 
jo verlangte er nach dem Ruhm eines zweiten Numa, denn ein 
friedliches Regiment that dem Neiche noth, wenn es nicht durch 
fortgejegte Eroberungsfriege verarmen jollte. Die Kriege und 
Aufftände der legten Jahre Hatten die Finanzen jo zerrüttet, 
daß e3 jchwer war, eine Ueberficht über die verfügbaren Mittel 


zu gewinnen. Hadrian führte regelmäßige Nevilionen der Reft- 
(5) 


6 — 

forderungen und eine direkte Einziehung der Steuern ein, zunächſt 
aber erließ er die ſeit zehn Jahren rückſtändigen Schulden an 
den Fiskus im Betrage von mehr als 180 Millionen Mark. 
Das Andenken an dieſen Schuldenerlaß feiern Münzen, auf 
denen wir den Kaiſer ein Bündel Schuldſcheine anzünden ſehen, 
ein Vorgang, der durch die Umſchrift „Die alten Rückſtände 
von 900 Millionen Seſtertien geſtrichen“ erklärt wird. In 
einer Inſchrift zu Athen hat er ſich ſelbſt gerühmt, daß er frei— 
willig keinen Krieg geführt und nur die Empörung der Juden 
niedergeſchlagen habe.’ 

Die Länder jenſeits des Euphrat gab er ganz auf, begnügte 
ſich bei Armenien mit einem lockeren Lehensverhältniſſe und 
beendigte kleinere Grenzkriege ſchnell durch Nachgiebigkeit und 
die Furcht, die ſein wohlgerüſtetes Heer den Feinden einflößte. 
Die Heeresmünzen aus den Grenzprovinzen zeigen ihn, wie er 
zu Pferde ſitzend oder auf einer Rednertribüne ſtehend die Sol— 
daten anredet und ihre Leiſtungen beurtheilt. Auf anderen mit 
der Umſchrift „Disciplina Augusti“ ſehen wir ihn an der 
Spitze feiner Truppen marjchiren, die durch drei oder vier Sol- 
daten angedeutet find. So ift er unbededten Hauptes unter 
der Sonne Afrifas und auf den jchneebededten Feldern Bri— 
tanniens vor ihnen hergezogen, hat mit ihnen Felddienftübungen 
gemacht und fich perfünlid von dem Stande jeiner Befejtigungs- 
werfe überzeugt.® 

Ueber dieſe aufreibende Thätigfeit mochten die meijten 
Nömer hart urtheilen, härter als der Gelehrte Ylorus, der 
doh auch durch viele Länder geiwandert war. Cr redet 
ihn an: 

Kaiſer möchte ich nicht jein, 


Durh Britannien marſchiren 
Und im Schthenlande frieren, 


worauf der Kaiſer jchlagfertig erwidert: 
(6) 


7 


Florus möchte ich nicht jein, 
Nicht durch alle Schenfen reifen, 
Nicht in Winkelfneipen fpeijen, 
Wo die runden Müden beißen.” 


Uber die Legionen und der Grenzſchutz nehmen nur einen 
Theil feiner Aufmerkfamkeit in Anſpruch; er wollte ald Sohn 
einer ſpaniſchen Familie das Reich nicht nur von Nom aus 
regieren, jondern die Provinzen perjönlich kennen lernen, um für fie 
in richtiger Weiſe jorgen zu können. Auch ihre Landjchaftlichen 
Schönheiten und Jagdgründe, Hiftorische Merkwürdigkeiten, Kunft- 
werfe und Künftler interefjiren ihn. Er hat im Jahre 126 den 
Aetna und drei Jahre jpäter den Berg Caſius an der ſyriſchen 
Küfte beitiegen, er hat in der Troas die „riefigen Knochen des 
Ajax“, welche das Meer bloßgejpült Hatte, wieder begraben, 
dem Epaminondas in Arkadien eine neue Grabjchrift geſetzt, 
dem Alcibiades zu Melifja in Phrygien ein Denkmal errichtet 
und bei Trapezunt an der Stelle, wo die zehntaujend Griechen 
zuerft das Meer begrüßt Hatten, fein eigenes Bild aufgeitellt. 

Bon den einundzwanzig Jahren feiner Negierung hat er 
vierzehn zu Reiſen verwendet und fich deshalb meiſtens als 
Profonjul bezeichnet. Das Konfulat führte er nur dreimal, in 
den Jahren 108, 118 und 119, jpäter machte er ſich aus diejer 
Ehre nichts mehr und nahm auch den ihm öfters angebotenen 
Titel „Vater des Baterlandes” erft im Jahre 128 an. In 
Rom und Italien verweilte er anfangs nur vorübergehend, 
nämlih vom Juli oder Auguft 118 bis Ende 120 oder 
Unfang 121, jowie von Ende 126 bis 128, doch reijte 
er inzwifchen noch im Juli und Auguft 128 nad Afrika. Erft 
als er im Frühjahr 134 wiederfam, wollte er den 
Reit feines Lebens in größerer Ruhe verbringen und nahm 
von da an jeinen Aufenthalt in Rom und in feinem neuerbauten 
Landhauſe bei Tibur. 


(7) 


8 - 





Uber er war mit feinen neunundfünfzig Jahren früh gealtert 
und mit dem Alter mißtrauiſch und menjchenfeindlich geworden. 
Seine Ehe mit Vibia Sabina hatte er aus politifchen Gründen, 
hauptjählih aus Rückſicht auf feine Gönnerin Plotina ge 
Ihlofjen, und das Verhältniß zu Sabina war oft ein fo ge 
jpanntes, daß er e8 nur wegen feiner Stellung als Kaifer nicht 
zur Scheidung fommen ließ. Ihr Tod muß Ende 136 erfolgt 
fein, und wenn er den Kaijer auch nicht tief betrübte, fo ließ 
er ihn jeine Kinderlofigfeit, das Fehlen eines Thronerben noch) 
mehr empfinden. Bollends jeit er Ende 135 oder Anfang 136 
an der Wafjerfucht erkrankte, erbitterten ihn die Umtriebe Derer, 
die auf feine Nachfolge rechneten, und veranlaßten ihn zu grau- 
famer Beitrafung. Sie beftimmten ihn auch, den üppigen 
2. Verus und nach defjen baldigem Tode den ernten und ge- 
reiften Antoninus Pius zu adoptiren. Inzwiſchen führte er die 
Neaierung ohne Freunde und ohne wirkliche Vertraute weiter, 
am liebſten gab er fich feinen fünftlerifchen Neigungen Hin, und 
jeine Zärtlichkeit bezeugte er den Pferden und Hunden, ben 
Genofjen feiner Jagdfreuden, Einer aus feiner Umgebung jagt 
ipäter, er habe ihn bei aller Verehrung nicht zu lieben gewagt, 
er babe ıhn, wie den Gott des Kriege und der Unterwelt, 
mehr verjöhnlich und gnädig zu ftimmen gejucht, als lieb gehabt. 
Als dann bei dem weiteren Fortjchreiten der Krankheit ihm 
fein Arzt und fein Zauberer helfen konnte und man ihm auch 
verwehrte, jeinen Qualen jelbft ein Ende zu machen, da jchalt 
er auf die Aerzte, „die den Kaiſer umbrächten”, und machte ji) 
dem ganzen Hofe durd feinen Unmuth furchtbar. Endlich 
übertrug er die Regierung feinem Nachfolger und juchte an den 
Quellen in Bajä Linderung, ſtarb dort aber am 10. Juli 138.® 

Einem Kaiſer von der Bielfeitigfeit und der Arbeitsluft 
Hadrians Hatten beim Negierungsantritt alle Herzen entgegen« 


geichlagen; feine Regierung war noch ein unbejchriebenes Blatt, auf 
(8) 


9 


welches ein Jeder die Wünſche eintrug, die Trajan nicht erfüllt 
hatte. Den Umſchlag der Stimmung können wir am beſten bei 
den Verfaſſern der jüdiſchen Sibyllenorakel beobachten, die 
anfangs den Wiederaufbau des Tempels von ihm erwarten und 
von ihm, „dem Manne mit dem Silberhaar“, ſagen: 


Eines Meeres 
Namen trägt er, ein trefflicher Mann, der alles begreifet. 
Sa unter dir, du Trefflicher, Herrlicher, Dunkelgelockter, 
Und unter deinen Sproſſen wird Frieden ſein ewige Zeiten. 


Als der Kaiſer dieſe Hoffnungen getäuſcht und nach blu— 
tigem Kriege das heidniſche Aelia Capitolina an Jeruſalems 
Stelle geſetzt hat, frohlocken ſie über das Ende deſſen, der 
wegen ſeines Wortbruches mit Ausſatz geſchlagen iſt, und 
ſchreiben: 


Dann wird ein Herrſcher, ein Graukopf, erſtehn mit dem Namen des nahen 
Meers, der die Welt durchzieht mit beſudeltem Fuß und Geſchenke 
Häuft, der das Gold in Menge beſitzt und des ſchädlichen Silbers 

Mehr noch verſammelt, die Länder beſtiehlt und dann wieder heimkehrt.“ 


Von den anderen Provinzen des weiten Reiches feiern 
zwölf den Kaiſer auf den Münzen als ihren Wiederherſteller, 
und Griechenland beſonders erhebt ihn mit überſchwenglichen 
und doch nicht unverdienten Ehren. Aber was das Reich 
gewann, ging den Römern verloren, und ihre Anfichten haben 
das Urtheil feines Biographen beftimmt, der fagt, er jei der 
Dichtkunft und den Wiffenjchaften im Webermaße ergeben ge- 
wejen, habe viel von Arithmetit, Geometrie und Malerei ver- 
ftanden, habe fich viel auf feine Leiftungen als Zitherjpieler und 
Sänger eingebildet, jei aber doch auch jehr Friegserfahren und 
ein guter Fechter geweſen. Zuletzt jchreibt er: „Er war ernit 
und heiter, leutfelig und ftreng, muthiwillig und bedächtig, farg 
und freigebig, heuchleriih und offen, heftig und milde und 


(9) 


10 


immer in allen Verhältniſſen unberechenbar.” Er überzeugte 
fih eben bald, daß ſich auf die Dauer die Welt nicht mit 
Gnadenbeweijen und Milde regieren ließ, und wenn er in ge 
junden Tagen mit köftlihem Humor die unverjchämten Bitt- 
jteller ablaufen ließ, mag begründete Mißtrauen den alternden, 
mögen die Beängftigungen der Wafjerfucht und das Vorgefühl des 
nahen Todes den franfen Kaiſer oft hart gemacht Haben. Wie 
ihm fein eigenes Leben, jo war er in der lebten Zeit den 
Nömern verhaßt, jo verhaßt, daß die Bewohner der Hauptjtadt 
und der ganze Senat ihrer Freude über feinen Tod lauten 
Ausdruck gaben und feine Verfügungen umftoßen wollten.!? 
Und doch find es nur dieſe Erinnerungen aus den lebten, 
franfen Tagen, die das Andenken feiner Regierung entjtellen, 
während die jegensreichen Neuerungen, die er auf dem Gebiete 
der inneren Berwaltung und Gejeßgebung, der Rechtspflege und 
Heereseinrichtung getroffen hat, bi8 zum Untergange des Reiches 
und darüber hinaus fortgewirft haben. 

Sein vielgelejener Zeitgenoſſe Plutarch weiß ſich nichts 
Schöneres vorzuftellen, als politische Thätigkeit, und auf Grund 
der Erfahrungen in feiner Kleinen Vaterſtadt Chäronea rühmt 
er, daß die Staatsverwaltung die größten und ſchönſten Genüſſe 
gewähre, die jonjt nur den Göttern verftattet jeien und aud) 
dieſen die meijte Freude bereiteten. Hadrian nahm es mit 
feiner Pflicht als Selbjtherricher jo vieler Länder gewiß nicht 
leicht, aber er hatte die Wiljenichaften und Künſte von Jugend 
auf zu lieb gewonnen, um fie entbehren zu können. Und zu 
den Künsten, in welchen er früher dilettirt hatte, fam nad) 
jeiner Thronbefteigung die Baufunft, für deren Pflege ihm bis 
dahin die Mittel gefehlt Hatten. Auf feinen Reiſen begleitete 
ihn eine militäriich organifirte Schar von Zimmerleuten, Stein: 
megen und Baumeijtern, die zumächit militärische Neubauten 


unter Mitwirkung der Soldaten ausführten. Je nach Bedarf 
(10) 


1 
werden dieje dem Heere angehörenden Ingenieure auch) an den 
anderen großen Bauten im Innern des Neiches mitgearbeitet 
haben, die noch lange Zeit von feinem Intereffe für die Kunft 
und von feiner Fürſorge für das Neid) Zeugniß ablegten und 
an Mannigfaltigkeit und Ausdehnung alles übertreffen, was die 
Großen der Erde auf diefem Gebiete geleiftet haben.“ 


Unjere litterarijhen Quellen aus dem Alterthum 
theilen uns über Hadrians Bauten jehr wenig mit, obwohl 
der Kaijer für das Gedächtniß jeiner Thaten durch eine Injchrift 
in Athen und durch eine Selbjtbiographie jorgte. Die lehtere 
erjchien unter dem Namen feines Freigelaſſenen Phlegon wahr- 
jheinlich im Jahre 135, und was auf fie zurückgeht, gehört zu den 
zuverläffigjten Nachrichten über feine Regierung. Während aber 
dieſe Lebensbejchreibung, deren wirklicher Berfaffer nicht lange 
verborgen blieb, jeine Regierung unbedingt anerfannte und recht. 
fertigte, erjchien hundert Jahre jpäter ein Werf über die Kaiſer 
von Nerva bis Elagabal, dejjen Berfaffer 2. Marius Mari: 
mus (Konſul im Jahre 223) auf dem Standpunft jteht, Hadrian 
jei von Natur graujam gewejen und Habe viele8 Gute gethan, 
nur weil er fürdhtete, es fünne ihm ebenjo gehen, wie dem 
Domitian. Dieſe beiden ausführlichen Werfe find verloren, Doc) 
find fie jelbft oder Auszüge aus ihnen in jehr verfürzter Form 
um das Sahr 300 in die Lebensbejchreibung de Aelius 
Spartianus übergegangen, die nur dreißig Textjeiten umfaßt.'? 
Auch der griechiiche Schriftiteller Caſſius Dio hat im 69. Buche 
jeiner römischen Geſchichte unter anderen Hadrians Selbſt— 
biographie benußt, doch bejiten wir davon nur den zwanzig 
Seiten füllenden Auszug des Kiphilinos, der flüchtig angefertigt 
ift, die Eigennamen ungenau wiedergiebt und befonders boshafte 
und pifante Stellen aus dem großen Werfe Dios aufbewahrt 

Der hauptjtädtiiche Klatſch, der alles beſſer weiß, als Die 


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offiziellen Nachrichten und der den guten Thaten wenigſtens jchlechte 
Motive unterjchiebt, ift in Dios Werk durch jeinen Vater Apro- 
nianus direkt eingedrungen, und mehrere nur von ihm über: 
lieferte Nachrichten diejer Art verdienen deshalb wenig Glauben, 
wenn es auch jchwer ift, fein direktes Zengniß zu mwiderlegen.!? 
Bei Spartian wie bei Dio-Kiphilinos find die Berichte über die 
Bauten recht kurz, denn wenn auch Beide bis zum Jahre 135 
theilweife auf die Selbftbiographie zurückgehen, jo haben doch 
die Verfaſſer dafür weniger Interefje, als für pifante Anekdoten. 
Bon den zahlreichen anderen Schrifitellern, die Hadriang Bauten 
gelegentlich nennen, verdient das furze Kapitel bei Aurelius 
Biltor Erwähnung, und bejonder® Pauſanias, der in der 
Beichreibung Athens an einer Stelle alle in Athen befindlichen 
Bauten Hadrians aufzählt, aber leider ohne ihren Pla genau 
zu bejtimmen.!* Dieje litterarifchen Nachrichten bieten in der 
Regel nur trodene Namen und auch dieje nicht vollftändig und 
ohne ausreichende Zeitbeftimmung. Die Hauptquelle bilden 
zahlreiche Medaillen, Münzen und Infchriften, vor allem die 
Bauten jelbjt und ihre Beichreibungen, unter denen Winne- 
feld3 Bericht über die Billa bei Tivoli jetzt der wich— 
tigſte iſt.“ 


Als Antoninus Pius von Hadrian adoptirt war, ſagte er 
zu ſeiner Frau, er dürfe von nun an nicht freigebiger ſein, als 
früher, denn als Kaiſer babe er auch das verloren, was er 
früher gehabt habe. Damit befennt er fich zu dem Grundjaße, 
nach welchem feine legten Vorgänger regiert hatten, daß es feine 
durchgreifende Scheidung des Ffaijerlichen Privatvermögeng und 
der Staatäfafje gab und daR der Kaijer auch aus feiner Kafje 
wichtige Staatsausgaben beftritt.* Indem Untoninus einen 
großen Beitrag zu den von Hadrian begonnenen Bauten bergab, 


entiprach er deſſen Wünjchen, denn Ddiefer hatte die reichen 
(12) 


13 


Mittel, die ihm eine geordnete Finanzverwaltung bot, mit Bor: 
liebe auf die Ausführung von Bauten verwendet. Seitdem ein 
großer Theil der öffentlichen Einnahmen in die kaiſerliche Privat. 
kaſſe geleitet war, hätte fich ja fein Kaifer mehr den Aufwendungen 
für nothwendige Neubauten und Befjerungen entziehen Fünnen, 
Uber Hadrian baut und bejjert nicht nur, wo ein unabweis» 
bares Bedürfniß vorliegt, jondern er thut es aus Liebhaberei, 
weil ihm feine feiner Aufgaben größere Befriedigung gewährt. 
Der Malerei und Skulptur fonnte er jich bei feinem unruhigen 
Wanderleben nicht mehr jo viel widmen, wie e3 nöthig gewejen 
wäre, wenn er mit Künftlern wetteifern wollte; die Baukunft 
Dagegen gejtattet dem Baumeijter, der den Blan entworfen hat, 
jih anderen Aufgaben zuzuwenden und die Leitung des Baues 
einem anderen Meifter oder Gehülfen zu überlafjen. Ihre Pflege 
jet von allen Künften die größten Mittel voraus, fie it auch, 
weil fie viele Menfchen beichäftigt und Vielen Nutzen bringt, 
wirthichaftlich von jolcher Bedeutung, daß die für fie gebrachten 
Opfer an Beit und Geld dem ganzen Reiche zu gute kommen. 


Um nothiwendigiten waren die zahlreihen Anlagen, 
welche er zum Schuß der Reichsgrenzen machte. Das 
Ideal der Augufteilchen Zeit, daß des Kaiſers Ruhm bis an 
die Sterne, feine Herrjchaft bi8 an den Ozean reichen jollte, 
ließ fi) nur im Weſten verwirklichen. Im Norden, Oſten und 
Süden eine fichere natürliche Grenze zu gewinnen, war jelbit 
einem Trajan mit den größten Opfern nicht gelungen, wenigjteng 
glaubte Hadrian dem Neiche für diefen Zwed nicht noch größere 
zumutben zu dürfen. In weifer Beichränfung giebt er den Beſitz 
Armenien? und den Kampf gegen die Barther auf, nicht zur 
Freude der Römer, die höhnend fagten, am liebjten würde er 
nun auch Dacien wieder preisgeben, wenn dort nicht jchon jo 


viele römische Kolonisten wohnten. Dürften wir Dio glauben, 
(13) 


14 


— — — 


ſo hätte er ſogar den ſteinernen Oberbau der von Trajan er— 
bauten Donaubrücke abgebrochen, doch iſt ihm eine ſo weit 
gehende Aengſtlichkeit nicht zuzutrauen.“ Am meiften gefährdet 
waren damals Afrifa und Britannien durch die Angriffe ber 
barbarifchen Nachbarn, und nach Juvenals Meinung (14, 196) 
fonnte damals ein Offizier nichts Rühmlicheres thun, als die 
„Erdhütten der Mauren, die Feſten der Briganten zerſtören“. 
Hadrian verſprach fich Hiervon feinen dauernden Erfolg, fondern 
fiherte die bedrohten Gebiete durch Feſtungswerke. 

In Schottland Hatten jchon feine Vorgänger die Pläne 
Agricolas zur Unterwerfung des gebirgigen Nordens und die bereits 
bejegten nördlicheren Theile wieder aufgegeben. Die dort woh— 
nenden Galedonier gehörten einem anderen Stamme an, al® die 
Briten, und werben als wilde Barbaren gefchildert. Sie zu 
romanifiren, reichten die damaligen Kräfte Roms nicht mehr 
aus, und eine Anfiedelung in dem unwirthlichen Zande war 
von italienischen KRoloniften nicht zu verlangen; außerdem hat die 
Geſchichte gelehrt, daß Großbritannien ohne eine überlegene Flotte 
niemal3 durch das Meer gegen eine feindliche Invafion geſchützt 
it. Die großen Verlufte, welche die römischen Truppen unter 
Trajan und im erjten Jahre feiner eigenen Regierung erlitten 
hatten, beftimmten Hadrian, im Norden der Provinz den Bau der 
ungeheuren Feitung anzuordnen, die man früher Pikten wall 
nannte. Seht heißt fie gewöhnlich Römerwall und ift voll: 
ftändiger bekannt, als irgend ein anderer militärijcher Bau der 
Römer.!® 

Unter dem 55.° nördlicher Breite fließen von den nad) 
Süden fteil abfallenden Ausläufern der Cheviot Hill® zwei 
Flüſſe nach entgegengejegten Richtungen, der Tyne nad Oſten 
und der Jrthing in den Solway Frith nad) Weiten. In dem 
Tieflandsftreifen zwifchen Carlisle und Newcaſtle erbauten in 


den Jahren 122—124 drei Legionen unter dem Legaten Aulus 
(14) 


15 


Platorius Nepos den Wal. Er bejteht meiſtens aus einem 
Graben im Norden, einer jteinernen Mauer dicht dahinter 
und aus einer fchwächeren Verſchanzung im Süden. 

Der Graben im Norden ift etwa 2,7 m tief und oben 
10,4 m breit, an einzelnen Stellen in das härtefte Geſtein ein- 
gegraben. Wenn er am jteilen Abhange eines Hügels ent- 
behrlich ift, fehlt er ganz; wo er in der Ebene nicht genügenden 
Schuß verfpricht, ift er durch ein vorgelagerte® Glacis bis zu 
2,1 m Höhe verftärkt. 

Südlich von diefem Graben befindet ſich die ſteinerne 
Mauer, von der noch jegt überall Unterbauten und große Stüde 
aufrecht ftehen. Im jechzehnten Jahrhundert ſoll fie an einer 
Stelle 6 m Hoch geweſen jein, während jegt nur noch bei 
Houfefteads ein Stüd von faft 3 m Höhe fteht. Sie war 
1,8 bi8 2 m breit und bejtand auf der nördlichen Außenfeite 
aus ziemlich gleichmäßigen Sandfteinguadern von 50><25><20 cm, 
deren ſchmale Seite nach außen liegt. In der Mitte ift ein harter 
Guß aus Heinen und großen, durch Mörtel verbundenen Steinen; 
die füdliche Seite bejteht wieder aus Quadern, ijt aber nicht jo 
forgfältig ausgeführt, wie die dem Feinde zugekehrte Norbdjeite. 
An faft achtzig Stellen, in Entfernungen von etwa einer römijchen 
Meile (1479 m), jchließen ſich Schanzen und Wachthäuſer an 
die Mauer an, mit Thoren nad Süden für den gewöhnlichen 
Dienft und mit Thoren nach Norden für die Vertheidigung des 
Grabend. Zwijchen je zwei folhen „Meilenkaſtellen“ ftanden 
auf der Mauer vier Thürme, ungefähr 3 m im Quadrat, mit 
0,9 m diden Mauern, im Innern nur mit Holziwerf ausgebaut. 
Bon diejen etwa dreihundertzwanzig Thürmen ftanden zu Horgleis 
Beit (1685—1731) noch drei, jegt feiner mehr. 

Dritten? befand ih im Süden eine Befeftigung aus 
zwei Erdwällen von noch jegt 2 m Höhe und einem da- 


zwifchen liegenden Graben von 7,3 m Breite und 3 m Tiefe. 
(15) 


16 


Die Entfernung zwiſchen dem ftarfen äußeren Werfe im Norden 
und den jchwächeren Erbwällen im Süden ſchwankt zwijchen 55 
und 60 m und beträgt nur einmal, wo die Mauer über hohe 
Felſen, der Erdwall durch das Thal geführt ift, 150 m. 

Im Innern diejer riefigen, 125 km langen Feſtung be- 
findet ſich eine gutgepflafterte Militärftraße, welde auf 
Brüden die die Mauer kreuzenden Flüſſe überjchreitet und Die 
jiebzehn großen Kaſtelle (castra stativa) miteinander ver: 
bindet. Drei von ihnen liegen ſüdlich vom Erdwalle, vielleicht, 
weil fie fchon vor dem Bau des Römerwalles bejtanden, Die 
anderen lehnen fi) an die große Mauer an. Sie find 1,4 bis 
2,6 ha groß, haben je vier Hauptthore und werden in der 
erften Zeit nach ihrer Entjtehung jehr einfach ausgeſtattet ge» 
wejen jein, da Hadrian „aus den Lagerpläßen alles, was die 
Liebe zur Bequemlichkeit fürderte, Hallen, Grotten, Gartenheden 
und Speijezimmer, entfernte“. Aber neben ihnen entjtehen 
ftädtifche Anlagen, unter denen ſich Bäder, Heine Heiligthümer 
und einmal auch ein Amphitheater erkennen laffen. Die am 
beiten erhaltene Station, bei den Anwohnern Houſeſteads, 
bei den Gelehrten das englische Pompeji genannt, hieß Bor— 
covicus oder Borcopicium. Sie war, von den beiden End» 
ftationen abgejehen, die wicdhtigfte, denn von hier kann man 
noch die geraden Linien des Erdwalle® und der Mauer nad) 
DOften und Weiten joweit verfolgen, wie es das Auge und die 
Durchſichtigkeit der Luft gejtatten. 

Bielleicht ift Hadrian felbjt im Jahre 121 oder 122, als 
er von bier zur Nechten und zur Linken das Meer in nebliger 
Terne ſah, auf den Gedanken gefommen, durch eine Mauer 
zwijchen der Nordſee und der Iriſchen See dem gejegneten 
ſüdlichen England dauernden Schuß gegen die Barbaren des 
Nordens zu gewähren. Die drei Legionen, welde fie 
jpäter bejegt hielten (II, VI, XX), jcheinen fie jelbft erbaut 


(16) 


17 


zu haben, während Abtheilungen von drei anderen Legionen 
zur Vertheidigung bereit ftanden. Jede Centurie hatte eine be- 
ftimmte Strede fertigzuftellen, wodurd; der Wetteifer zwijchen 
den einzelnen Qenturien angefeuert wurde. Nach einer älteren 
Berehnung find 2865000 Arbeitstage erforderlich gewejen, 
d. h. 25000 Mann hätten vier Monate gearbeitet und jeder von 
ihnen hätte durchjchnittlich 5 m des ganzen Werkes fertiggeitellt. 
Bruce nimmt an, daß 10000 Mann je 400 Arbeitötage, aljo 
etiva zwei Jahre dabei thätig gewejen find. Im Oſten wurde 
Pons Aelius (Newcajtle) erbaut und dort eine Flotte und eine 
Kohorte Seejoldaten ftationirt. Unter den 466 Inſchriften 
vom Römerwalle, die meijtend nur aus wenigen Buchſtoben 
beftehen, hat Hübner die eine (498) jo ergänzt, daß fie einen 
Brief Hadrian? an die in der Ferne zum Grenzſchutz auf 
geftellten Truppen wiedergiebt. Der Kaifer lobt dieje, daß jie 
ohne Murren fich der Nothiwendigfeit gefügt haben, die fie 
hinderte, die Grenzen des Neiches bis zu den Enden der Welt 
zu tragen, und daß fie die vom Staate ihnen anvertrauten 
Grenzen vertheidigt Haben. 

10—12000 Soldaten werden zur VBertheidigung 
diefer Grenzburg des Neiches nöthig gewefen jein, doch 
follte fie nicht nur den römiſchen Beſitz abjchließen, jondern auch 
der weiteren Eroberung eine fejte Grundlage bieten. Darauf 
weilen die Thore und die drei Kaftelle an den nad) Norden 
führenden Straßen, und jchon Antoninus Pius hat einen ähn- 
lihen Wall 15 Meilen weiter nördlich zwifchen dem Clyde und 
Forth errichtet. Als Septimius Severus diejen legteren wieder 
aufgab, befjerte er den Wall Hadrians aus, und im Mittelalter 
waren einzelne Stellen noch jo gut erhalten, daß fie in den 
inneren Kriegen und in den Kämpfen gegen Schottland benußt 
werden fonnten und zu den Zeiten der Königin Elifabeth den 


Näubern eine Zuflucht boten. Erft jpäter hat man mit dem 
Sammlung. N. F. XIII. 289/290. 2 (17) 


18 
Bunehmen der Kultur die Gräben ausgetrodnet und bebaut, 
Mauern und Kaftelle auf Abbruch verfauft und die alte Römer: 
ftraße theilweije bei der Anlage einer neuen Chauſſee verwerthet, 
bi8 man neuerdings wieder angefangen hat, die ehrmwürdigen 
Neite des Römerwalles zu erhalten und wifjenjchaftlih zu 


durchforſchen. 


Der Wall in England iſt nicht der erſte und nicht der 
letzte geweſen, durch welchen ſich das römiſche Reich gegen Bar- 
baren jchüßte, deren Unterwerfung unmöglich oder nicht Tohnend 
war. Schon feit Domitian war an einem ähnlichen Werfe 
zum Schuße der ungededten Grenze von Obergermanien 
und Rätien gearbeitet, wo die Römer zwijchen Rheinbrohl 
am Rhein und Kehlheim an der Donau eine 542 km lange 
Grenzwehr errichtet Haben. Es iſt nicht unwahrſcheinlich, daß 
Hadrian vor der Reife nah Britannien im Jahre 121 in der 
Richtung dieſes Grenzwalles gewandert ift und vielleicht an 
Stellen, wo die Grenze bis dahin nur bezeichnet war, Anord» 
nungen für ihre Vertheidigung getroffen hat. Aber der Bericht 
feiner Selbjtbiographie ift von Spartian verftümmelt und fpricht 
hauptſächlich von der Wiederherftellung der militäriichen Zucht 
in Germanien. Wir lejen deshalb nur, daß er „während jeines 
Aufenhaltes (in Deutjchland ?) und auch ſonſt jehr oft an vielen 
Stellen, wo nicht Flüffe, jondern Grenzwege die Grenze gegen 
die Barbaren bilden, durch große, einer Mauereinfriedigung 
ähnliche, tief eingejenkte und miteinander verbundene Pfähle die 
Barbaren abjperrte.” Die Worte zeigen, daß er an dem Bau 
der eigentlihen Mauer nicht betheiligt gewejen ift, und da die 
Injchriften bisher feine beftimmtere Auskunft geben, bleibt ung 
fein Verdienft um den Bau des obergermanijch-rätiichen Limes 
dunfel. Dadurch, daß er bei einem germanischen Stamme einen 
König einſetzte, ſchützte er diefe Grenze gegen feindliche Einfälle, 


(16) 


19 


und die Städte der benachbarten Provinzen erfennen auf ihren 
Münzen feine Wohlthaten an.!? 

Deftlih von Regensburg Hatte die Donau bis zu ihrer 
Mündung den natürlichen Grenzgraben des Reiches gebildet, 
über den erjt Trajan bei der Eroberung Daciens hinüber- 
gegangen war. In jeiner Hauptitadt Sarmizegetuja ließ Hadrian 
im Jahre 132/133 eine Wafferleitung erbauen und bewies der 
ganzen Provinz anfjcheinend eine Fürſorge, die mit der ihm zu« 
gejchriebenen Abficht, fie aufzugeben, fich ſchwer vereinigen läßt. 
Auf der Donau jelbft jorgten zwei Flotten und die am Ufer 
jtehenden Garnifonen für den Grenzſchutz; einem batavijchen 
Reiter hat der Kaifer vielleicht ſelbſt in Diftichen die Grabjchrift 
verfaßt, in der er ihm nachrühmt, daß er zu Pferde in voller 
Rüftung dur) die Donau ſchwimmen und mit einem Pfeile 
den anderen in der Luft treffen fonnte. Auf jeiner Reife gründete 
Hadrian Städte oder gab den bereit3 beſtehenden Anfiedelungen 
Stadtredt. Bis dahin hatten ſich Marketender und Veteranen 
in ftadtartigen Flecken (canabae) neben den Lagern nieder: 
gelaffen, aber fie jtanden unter dem militäriichen Kommando ; 
erit Hadrian verlieh der Zivilbevölferung der . drei großen 
Lagerftädte an der mittleren Donau, von Carnuntum, 
Aquincum und Biminacium (Betronell, Altofen, Koftolag) Stadt« 
recht, und auch Murja (Eszeg) erhielt unter ihm Kolonialrecht. 
Zum Schutze der offenen Stelle zwijchen den Karpathen und 
der Donaumündung legte er eine Bejagung nah Troesmis 
(Iglitza), deffen Zivilbewohner ihm eine Ehreninjchrift widmen.?® 

Die Feltungen und die Flotte auf dem Schwarzen Meere 
und die neuen Uferfeftungen bi zur Mündung des Phaſis be- 
fihtigte in den letzten Jahren Hadrians der befannte Schrift. 
fteller Arrian, defjen amtlicher Bericht über die Umfahrt 
auf dem Schwarzen Meere uns noch vorliegt. 

In Afien hatte Hadrian durch Nachgiebigkeit, die vielen 


2 (19) 


Nömern nicht gefiel, den Frieden gefichert und den Handel der 
römischen Kaufleute gefördert; auh an der Südgrenze 
Aegyptens waren die Verhältniffe fo friedlich, daß es feiner 
bejonderen Anftalten zu ihrem Schuße bedurfte! Wohl aber 
lenkten die Unruhen im nordweftlichen Afrika die Aufmerkfamfeit 
des Kaiſers auf ſich und veranlaßten ihn zur Begründung der 
Stadt Lambäſis. 

Im algeriichen Departement Conftantine dehnt ſich etiva 
unter dem 36.° nördlicher Breite das Gebirgsland des Djebel 
Aures (Mons Aurasius) aus. Früher Hatte hier der Barbaren- 
ftamm der Mujulamier gegen Tiberius gekämpft; jpäter Hatten 
die Römer ihre Truppen an die Nordjeite des Gebirges vor: 
geihoben, und Trajan Hatte die Stadt Thamugadi gegründet. 
Nach jeinem Tode find hier Unruhen entjtanden, als deren Anftifter 
Hadriand Biograph die Mauren bezeichnet, wohl weil ihr Name 
in Rom befannter war, als der der Mufulamier, oder weil fie 
als Nachbarn mit ihnen im Bunde waren. Als Hadrian diejem 
Aufftande ein Ende gemacht hatte, verlegte er das Hauptquartier 
der numidiſchen Truppen im Jahre 123 von Theveſte nad) 
Lambäſis, das der bedrohten maurischen Grenze und dem 
Wege nad) der Oaſe Bisfra näher lag. Die drei Garnijonen 
am Rande des Uures haben denjelben Zwed, wie der britannijche 
Wall am Rande des ebenfall3 jchwer zugänglichen jchottifchen 
Grenzgebirges, und Hadrian erleichterte ihren Verkehr durch den 
Neubau einer Straße von Karthago nad) Thevejte.?? 

Die Legionen lebten anfangs in einem nur mit Erdwällen 
geichügten Lager, weldes de la Mare und Renier im Jahre 
1851 noch foweit erhalten fanden, daß fie einen Plan von ihm 
aufnehmen konnten. Später erbauten fich die Truppen, wie die 
britannifchen, ſelbſt ein feſtes Lager aus Stein, ein faft genau nad) 
den Himmelsrichtungen orientirtes Nechtef von 500 m Länge 


und 420 m Breite, mit vier Thoren und mit Thürmen an den 
(20) 


21 


Eden und anderen Stellen der Mauer. In feinem nördlichen 
Theile fteht noch wohl erhalten eine ziemlich große, rechtedige 
Halle von 30,6 m Länge und 23,3 m Breite, welche fich in 
zwei Stodwerfen etwa 15 m erhebt und durch große Fenſter 
erleuchtet if. Es iſt die Eingangshalle zum großen 
inneren Hofe des Prätoriums, aus der vier übermwölbte, 
breite Hauptthore in die mit Fußfteigen verjehenen Hauptitraßen 
des Lagers führen. Die mit korinthiſchen Säulen und einer 
Inſchrift vom Jahre 268 geſchmückte Worderjeite liegt nach 
Norden gewendet; von dem übrigen Theile des Prätoriums ift 
wenig zu fehen, doc läßt fich vielleicht noch manches durch 
Nachgrabung finden. 

Wenn man in nördlicher Richtung das Lager verläßt, 
fommt man in 1 km Entfernung zu der bürgerlichen Nieder- 
lafjung, die aus den Hütten der Marketender, des Trofjes und 
ber Solbdatenmweiber hervorgegangen ift und ſchon unter Antoninus 
Pius Stadtrecht erhielt. Die Wafferleitung, von der noch auf 
halber Höhe des Hügels Theile der Leitungsbögen zu ſehen find, 
jcheint bereit3 Hadrian angelegt zu haben, und viele Nefte von 
Tempeln und öffentlihen Bauten, fowie zahlreiche Infchriften 
zeigen, daß hier bis in das vierte Jahrhundert Hinein ein 
blühendes Gemeinwejen bejtanden hat.?? Nachher hat man be- 
gonnen, die Steine zu Neubauten zu verwenden, und jelbft unter 
franzöſiſcher Herrichaft ift noch vieles zerftört. Im Jahre 1870 
z. B. jollen die Nationalgarden die im Prätorium aufgeftellten 
Ulterthümer als Scheiben bei den Schiegübungen benußt haben. 

Als die Soldaten das neue Lager bezogen hatten, ftattete 
ihnen der Kaiſer im Juli 128 einen Beſuch ab, ließ die ein- 
zelnen Zruppentheile gefondert manövriren und fritifirte ihre 
Leiftungen, wie ed die Münzen auch von den Befuchen bei 
anderen Heeren bezeugen. Seine Anjprache verräth durch ihren 
Wortreihthum den Theoretifer, der den Befund mit den felbit- 


(21) 


22 


gegebenen Borjchriften vergleiht. Sie wurde auf dem Poſta— 
mente einer Säule verewigt, die zuerjt in dem alten Zager jtand 
und jebt im Parifer Mufeum nach Möglichkeit wieder zufammen:- 
gejeßt ift. Auf der rechten und linken Seite fteht der TagesbefeHl 
an die Hülfstruppen, mit denen die Führer Uebungen gemacht 
haben, welche ein wirkliches Gefecht3bild bieten; er lobt fie im 
allgemeinen, warnt jedoch vor dem Ausſchwärmen in aufgelöften 
Reihen, bei dem fie leicht in verdedte Gruben gerathen könnten, 
und empfiehlt ihnen im Kampfe gegen die Eingeborenen ein 
Vorgehen in gemäßigterer Gangart. Die Borderjeite der In— 
Ichrift ift im zwei Spalten gegliedert und enthält auf der linken 
die Anerkennung der dritten Legion, die zweimal unter jeiner 
Regierung das Lager gewechjelt oder neu erbaut Habe, ohne 
doch die militärifchen Uebungen zu vernadläffigen. Auf der 
rechten Spalte lobt er die Legionsreiter, die von allen ſchwierigen 
Uebungen die jchwierigfte machten, indem fie auf nach rechts 
wendendem Pferde mit dem Speer nad) dem Ziele warfen, und 
auch ſonſt eine rühmliche Schneidigfeit bewiejen haben. Das 
Berdienjt de Legaten Catullinus hat er hier ausdrücklich an- 
erfaunt und ihm für das Jahr 130 das Konfulat verliehen. 
So jorgte Hadrian perjönlich dafür, daß in feinen Grenz. 
feftungen Truppen lagen, die fich nicht auf Wall und Graben 
verließen, ſondern nur auf ihre militärische Tüchtigkeit. 


Durch dieje Feitungsbauten, welche feine Soldaten an ben 
Grenzen ausführten, ficherte der Kaijer die am meiften bedrohten 
Provinzen für lange Zeit gegen die Einfälle räuberijcher Bar- 
baren, für alle aber forgte er dur) den Neubau und Die 
Wiederherftellung von Straßen und Städten. Gute 
Straßen jcheint er in allen Ländern gebaut zu haben, befonders 
im nordwejtlihen Spanien und Afrika. Auf dem Iſthmus von 
Korinth richtete er die berüchtigte ſtironiſche Klippenftraße jo 


(22) 


23 
ein, daß zwei einander begegnende Wagen fie benugen konnten, 
und den im Frieden aufblühenden Handel nad) dem Parther: 
reiche förderte er durch Wachthäuſer an der Karawanenſtraße von 
Damaskus über Palmyra bis an den Euphrat.”* Die Ueber- 
fülle von gutem Wafjer, deren jih nad) dem Vorbilde Roms 
damals die italijchen Städte erfreuten, verjchafft er auch den 
Provinzialftädten, jo daß fein Biograph jagt, er Habe zahlloje 
Wafjerleitungen nad) feinem Namen benannt. Bereits erwähnt 
find die Anlagen in den neugegründeten Städten Sarmizegetufa 
und Lambäſis; in Griechenland machte die zehn Meilen lange 
Leitung Aufjehen, welche ohne Bogenjtellungen und nur mit 
einem Durchftich angelegt, Korinth mit Waffer aus dem ftym- 
phalifchen See verjorgte. Auf eine Aufzählung der von ihm 
nachweislich wiederhergeitellten und erbauten Theater, Tenipel- 
Denkmäler, Brüden und Bafilifen muß ich an diejer Stelle 
verzichten, aber was wir davon wifjen, macht es erflärlich, daß 
eine ganze Reihe von Städten ihm Ehrenfäulen errichteten und 
viele ihn als ihren „Wiederherjteller” oder „Gründer“ bezeich— 
neten.2° 

Manche Städte, welchen er dad Gemeinderecht verliehen 
oder große Gunſt bewiefen Hat, auch Theile älterer Städte, 
haben fi) zum Danke nad) dem Namen feiner Familie „Aelia“ 
oder nach jeinem Beinamen „Hadriane” oder „Adriane“ benannt, 
unter anderen die früheren Legionslager Murſa und Aquincum 
und die afiatiichen Städte Palmyra und Petra. Sie ver- 
theilen fich über alle Gegenden des Neiches und find faft jo 
zahlreich, wie die, welche den Namen des Herafles und Alerander 
tragen, aber die meiften von ihnen haben den Namen nad) feinem 
Tode wie einen werthlo8 gewordenen Titel wieder abgelegt. 
Neugegründete Städte, wie Pons Aelius am Biktenwall und 
Hadrianotherä, das er in Myfien zur Erinnerung an eine 
interefjante Bärenjagd anlegte, haben ihn bis zum Ende des 


(23) 


24 


römijchen Reiches bewahrt, und noch Heute trägt ihn Adrianopel 
an der Marita, das türfiiche Edirne, das er al3 griechijche 
Stadt an Stelle eines alten thrafifchen Ortes ausbaute.?® 

As er im Frühjahr 130 von Antiohia nah Arabien 
reifte, fam er auch nach der Stätte von Jerujalem, welche 
jeit der Zerjtörung durch Titus faft noch völlig verödet dalag. 
Natürlich dachte er nicht an die Wiederherftellung der jüdijchen 
Stadt oder gar des monotheiftiichen Gottesdienftes der nod) von 
Trajan in blutigen Kriegen befämpften Juden, jondern er wollte 
im Anſchluß an das Lager der zehnten Legion hier wieder eine 
ftarfe Feſtung errichten, deren das Reich nach dem Aufgeben der 
parthifchen Eroberungen bedurfte. Die wiederhergeitellte Stabt 
follte Aelia Capitolina heißen, Aelia nad) ihrem Wiederherfteller, 
Capitolina nad) dem capitolinischen Jupiter, an den die Juden 
jeit fechzig Jahren die frühere Tempeliteuer bezahlten. ALS der 
Bau begonnen hatte und auf der Stelle des alten Jehova— 
tempel3 fich ein Jupitertenipel erhob, empörten fich die Juden 
unter der Führung Simons, der fich Barkocheba, d. h. Sternen: 
john, nannte, im Frühjahr 132. Sie nahmen die neuerbaute 
Stadt ein, und da der Kaiſer durch das Verbot der Bejchneidung 
das Judenthum auszurotten juchte, wurde der Krieg von beiden 
Seiten mit namenlojer Erbitterung geführt. Dem Statthalter 
Tineius Rufus kam erjt der Legat von Syrien zu Hülfe, dann 
erfchien im Frühjahr 133 der Kaifer ſelbſt auf dem Kriegs. 
ichauplage. Erjt nad) zweijähriger Belagerung wurde Jeruſalem 
wieder genommen und der Krieg felbjt im Jahre 134 oder 135 
durch die Eroberung von Bettir zu Ende geführt. 580000 
Mann follen in diefem Kampfe gefallen fein, und jelbjt der 
Name Judäa muß dem alten Namen des Philifterlandes, Pa— 
läftina, weichen. Nun wird die vor dem Aufitande begonnene 
Militärktolonie von neuem in Angriff genommen und im Jahre 
137 eingeweiht; fieben Stadttheife, zwei Marktplätze, ein Theater 


(24) 


2 


und andere öffentliche Gebäude werden von ihr erwähnt, aber 
e3 hat ſich feine Injchrift mehr erhalten. In dem Heiligthum 
des Jupiter jtanden, wie in dem vorher vollendeten Zeustempel 
zu When, auch Bilder des Kaiſers. Noch andere Heibnifche 
Zempel erhoben fi im Lande, und über dem Thore von 
Bethlehem ftand, in Marmor gehauen, das Bild eines Schweines 
zur Berjpottung der Juden. Ihnen felbft wurde auch das Be: 
treten der heiligen Stadt bei Todesſtrafe verboten, und eine 
Milderung diefes Befehles, ſowie des Verbotes der Beichneidung, 
erreichten fie erjt unter feinem Nachfolger. Zu wirklicher Blüthe 
aber ift Melia Capitolina, deren Neugründung jo vielen 
Römern und Juden das Leben gefoftet Hatte, nicht gelangt, 
doch Hat der Name bis in das fiebente Jahrhundert fort: 
beitanden.?? 

Die interefjantefte von jeinen Neugründungen ift die, welche 
er im Jahre 130 in Wegypten anordnete. Auf feiner Reife 
nah dem alten Theben und der. Südgrenze des Landes war 
fein Liebling, der Bithynier Antinous, am 30. Dftober im 
Nil ertrunfen. Schon die Zeitgenofjen wiſſen nicht, ob er 
durch einen Unglüdsfall umgefommen ift, oder ob er fich für 
den Kaifer geopfert hat, weil diefer, wie er jelbjt und Antinous 
glaubte, eines freiwilligen Opfertodes zur Erreichung jeiner 
Zwede bedurfte. Wenn die auf ihm. bezügliche Injchrift des 
Barberinifchen Obelisfen in Rom von Erman richtig erflärt 
ift, jo jagt der Kaijer dort, Antinous habe fich wie ein Held 
gezeigt und ſei nach dem Befehl der Götter muthig in den Tod 
gegangen. Die Liebe zu dem jchönen Jünglinge und die Dank— 
barfeit gegen feinen Erretter machen den Wunjch des Kaiſers 
erflärlih, den Werftorbenen als Heros und Gott geehrt zu 
wiffen. Befonders die Griechen find auf feinen Wunjch ein. 
gegangen und Haben zu Ehren des Antinous zahlreiche Münzen 
geichlagen, ihm Qempel erbaut und Bildjäulen errichtet, über 


(25) 


26 


denen „es liegt, wie wehmüthige Trauer um den frühen Tod, 
wie leife Klage über das Vahinſchwinden der kurzen Blüthen« 
jhönheit des Lebens.“? 

Als Hadrian mit feiner Frau und der Dichterin Balbilla 
einen Monat jpäter an der tönenden Memnonsſäule „die gött— 
lihen Stimmen hörte,“ fam in ihm der Wunjch zur Reife, 
auch in Aegypten eine moderne Stadt zu gründen und dieſem 
nach der langen Kaiferherrihaft immer noch jo eigenartigen 
Volke die hellenische Kultur näher zu bringen. So entitand 
neben der Stelle, wo Antinous ertrunfen war, unter dem 
27° 48° nördlicher Breite, auf dem Plate der altägyptijchen 
Stadt Beja die Stadt Antinoe oder Antinoupolis. Der 
oben erwähnte Obelisf auf dem Pincio enthält darüber auf 
Seite D einen in ägyptifchem Stile abgefaßten Bericht. „Antinous 
iſt als Gott erkannt in den göttlichen Stätten von Wegypten. 
Ein Tempel wird ihm gebaut, er wird wie ein Gott verehrt 
von den Priejtern und Propheten von Dber- und Unterägypten, 
von den Bewohnern Aegyptens, jo viele ihrer find. Eine Stadt 
wird nach jeinem Namen genannt. Die Soldaten (Veteranen) 
der Griechen (d. 5. der Nicht-Wegypter) und die... Söhne... 
derer, die in den QTempeln von Wegypten find, fommen dahin. 
Ueder und Felder werden ihnen gegeben, um ihr Leben damit 
jehr Schön zu machen. Ein Tempel diejes Gottes ift darin, 
dejien Name „Oſiris Antinous der Selige“ ift, gebaut aus 
Ihönem Kalkjtein, mit Sphinxen um ihn ber und Statuen und 
vielen Säulen, wie fie vordem von den Vorfahren gemacht 
wurden und desgleichen wie fie von den Griechen gemacht 
werden.“ 

Die Stadt, deren Gründung bier gefchildert ift, wurde 
bald die Hauptjtadt einer Provinz und jpäter der Sig eines 
chriſtlichen Biſchofs. Damm ift fie allmählich verfallen und 


vom Wüſtenſande verjchütte. Die Franzoſen, welche vor 
(26) 


27 


100 Jahren das Land bereiften, bejchreiben fie als ein läng- 
liches Viered, dag von Süden nad) Norden 1600 m, von Weiten 
nad Oſten 1000 m lang ift. Am Hafen erhob ſich ein Triumph 
bogen mit wohl erhaltenen korinthiſchen Säulen und einer 
Utifa darüber. Zahlreiche Trümmer von Säulenhallen, die 
einjt an den Straßen Schuß gegen die Sonne gewährten, Reſte 
von einem Gymnafion und Bädern in der Stadt, einem Amphi— 
theater außerhalb der Stadt zeugten von dem Geſchmack und 
der Sorgfalt des Kaiſers und feiner Baumeifter. Wir dürfen 
vorausjegen, daß fich dort auch ein Tempel des Antinous und 
fein Denkmal befand, an dem in einer ung nicht befannten 
Weile das Nilboot dargeftellt war, das den zum Gott er: 
hobenen Jüngling in den Tod getragen hatte. Eine Inſchrift 
aus dem Jahre 137 bezeugt das Vorhaudenjein einer Straße 
nach der Küfte des rothen Meeres, von Koptos nach Berenike, 
wodurd der Handel der Stadt gefördert werden mußte. 

As Parthey im Jahre 1822 den Nil hinauf fuhr, waren 
eine Anzahl Uraber auf Befehl des Statthalter® von Ober: 
ägypten damit bejchäftigt, die legten 20—30 Säulen umzuwerfen 
und in Stüde zu ſchlagen. Andere Arbeiter ftiegen in langen 
Bügen zum Meere hinab, um die Trümmer in Eleinen Dattel- 
förben auf die bereitliegenden Schiffe zu bringen. Nach ſechs 
Monaten fuhr der Reijende wieder vorbei und jah, wie das 
Zerſtörungswerk faft vollendet war: die Reſte der alten Stadt 
waren in ben Salfofen gewandert, und nur ein paar Säulen 
ftanden noch aufrecht. Noch heute mögen unter dem Wiüften- 
fande im Schatten eines Palmenhaines die Grundmauern und 
umgeftürzte Theile der Gebäude geborgen liegen, bis fie, wie 
es im Jahre 1871 gejchehen ift, durch einen Orkan oder 
Wolkenbrüche wieder freigelegt werden.?? 

Es ift vielleicht ein Glüd für das Weich gewejen, daß der 


Kaijer Aegypten mit feiner eigenartigen, gebundenen Kunſt, mit 
(27) 


— — 


ſeinem emſigen, ungebundenen Volke und mit ſeiner Religion, 
die ſeit Jahrtauſenden den Herrſcher als Inkarnation des Landes- 
gottes bezeichnete, erſt im 54. Lebensjahre kennen lernte. Hier 
gewöhnte er ſich an den, auch von ſeinen Vorgängern erhobenen 
Anſpruch auf göttliche Verehrung, aber ſonſt iſt die Nachahmung 
ägyptiſcher Eigenart eine unſchuldige Spielerei geblieben, während 
der perſönliche Beſuch des Herrſchers und die als Wohlthat 
empfundene Gründung der Kolonie das abgelegene Land enger 
an das Reich feſſelte. 


Recht heimiſch fühlte er ſich nur in Griechenland, und die 
glücklichſten Tage verlebte er in Athen jelbit. Schon vor 
feiner Thronbefteigung war er für das Jahr 112 zum Archon 
diefer Stadt erwählt, und wenn er auch nicht perjünlich dies 
Ehrenamt verwaltete, jo hat ihm doch der Ureopag, der Rath 
und das Volk eine Ehreninfchrift im Theater des Dionyſos er- 
richtet. Dann beichloffen fie im Jahre 122 die Gründung einer 
neuen Phyle, die ihm zu Ehren Hadriani® genannt wurde, 
wahrjcheinlich, weil der Kaifer ihnen ſchon abweſend feine Gunft 
bezeugt Hatte.®! 

Sm Herbite 125 fam er zum erjten Male jelbit, 
ließ fi) im September die niederen Weihen bei den Eleufinifchen 
Myſterien ertheilen und führte im März 126 den VBorfig beim 
Feſte der großen Dionyfien. Damals errichteten das Volk und 
der Rath von Athen im Theater fein Bild unmittelbar Hinter 
dem Sitze de3 Dionyjospriefterd, und zwölf andere Bilder 
wurden in den anderen Keilen de3 Bufchauerraumes von den 
einzelnen Phylen aufgeftelt. Mehrere Inichriften rechnen ge- 
wiffermaßen von diefem Aufenthalt im Winter 125—126 eine 
neue Yera der Stadt, indem fie von einem dritten, vierten, fünf. 
zehnten und fiebenundzwanzigften Jahre „jeit der erften Anwefen- 


heit des Kaiſers Hadrian” fprechen.”? Dann kehrte er im 
(28) 


29 

Herbit 128 zurüd, und ließ fich die höheren Weihen im 
Eleufis ertheilen und verweilte wieder den Winter über bis 129. 
Wahrjcheinlich ift er auch noch ein drittes Mal 131—132 
oder 132—133 in Athen gewejen. Was über jeine Thätigfeit 
dajelbft berichtet wird, läßt fich nicht einem bejtimmten Jahre 
zuweijen, doch darf als ficher gelten, daß die beim erflen oder 
zweiten Beſuche begonnenen, größeren Bauten, erjt während 
feines zweiten oder dritten Aufenthaltes vollendet find.°® 

Das Leben in dem gejchäftslofen Athen und der un. 
gezwungene Umgang mit den dortigen Gelehrten und Kiünftlern 
hatten für einen Mann, wie Hadrian, einen bejonderen Reiz. 
Selbjt bei feftlichen Gelegenheiten erjchien er wie ein reicher 
Privatmann ohne die Toga in griechiicher Tracht, disputirte 
mit Vhilofophen, hörte Vertheidigungen des Chriſtenthums an 
und bethätigte fich ſelbſt als Maler, Erzgießer und Bildhauer; 
man rühmte ihm nad, er habe den Bolyflet und Euphranor 
faft erreiht. Auch für die praftiichen Bedürfniffe der Stadt 
forgte er durch Geſetze und die Ueberweiſung der Einkünfte 
von Kephallenia. Auf den Reifen von und nad Athen und 
auf bejonderen Ausflügen fommt er nach allen berühmten Orten 
Griechenlands; er wandert durd) dad Tempethal (132), fragt 
die Pythia in Delphi nad) der Herkunft Homers und erfährt, 
daß der Dichter der Sohn des Telemachos und der Bolyfafte 
fei. In Thespiä bejucht er das berühmte Erosbild des Praxiteles, 
und bier weiht der große Schütze Hadrian dem Heinen Schüßen 
Eros das Fell eines erlegten Bären mit einem Epigramm etwa 
folgenden Inhalts: „Du Knabe, der den Bogen der lieblichen 
(Hell tönenden) Kypris führt und zu Thespiä am Helifon wohnt 
neben dem Blumengarten des Narkifjos, fei gnädig. Dies 
Beuteftüd von einem Bären, den er jelbjt gejchoflen, giebt dir 
Hadrianus. Nimm es an. Verjchaffe du ihm dafür wohlgefinnt 
die Gunft der himmliſchen Aphrodite.“ ’* 


(29) 


30 


Un vielen Orten hat er auf jeine Koften bauen lafjen, 
bejonders aber that er für die Stadt Athen jo viel, daß feine 
Bauten fich denen der Perikleiſchen Zeit faft an die Seite 
ftellen laffen. Einen Bericht darüber ließ er „im Tempel aller 
Götter“ aufftellen, doch ift diefer leider bisher nicht wieder auf. 
gefunden, und wir fennen von mehreren Gebäuden nicht einmal 
die Lage, fo lange nicht weitere Ausgrabungen darüber Gewiß- 
heit verichaffen.'* 

Im Mittelpunkt der nördlich von der Burg gelegenen 
Stadt befindet ſich ein rechtediger Bau, etwa 130 m lang und 
80 m breit, der gewöhnlich als die Stoa oder als Gymnafion 
Hadrians bezeichnet wird. Erhalten find noch von der nörd- 
fihen Hälfte feiner Weſtſeite fieben korinthiſche Säulen aus je 
einem Stüd Karyftosmarmor, „9,42 m hoch und 0,97 m did, mit 
reichen korinthiſchen KRapitellen aus penteliſchem Marmor, welche 
die Marmorwand verkleiden.“ Die Reſte des dazu gehörenden 
Gebäudes find in der Kirche Megale Panagia verbaut, und 
jedenfall haben wir Hier die Bibliothek zu juchen. Sie 
war nach der Darjtellung des Pauſanias von Hundert Säulen 
aus phrygifhem Marmor umgeben, und aus demſelben Stein 
waren die Außenwände. Im Innern waren in dem einzelnen 
Bimmern die Deden vergoldet, die Wände mit Alabajter, mit 
Statuen und Gemälden gefhmüdt. Zu den genannten Statuen 
gehörten wahrjcheinlich die dort gefundene Büfte des Sophofles 
und die beiden Jungfrauen, welche Ilias und Odyſſee finn: 
bildlich darftellen. Aehnliche prächtige Bibliotheken hatte Trajan 
zu Rom in der Bafilica Ulpia angelegt, und es war ein glüd- 
liher Gedanke, auch in Athen neben der älteren Bibliothek im 
Gymnafion des Ptolemäos Bhiladelphos einen neuen Sammel. 
platz der Gelehrten und Gebildeten zu fchaffen.?’ 

Für andere große Bauten fehlte e8 in der dicht bebauten 


alten Stadt an Raum, weshalb er ſich zum Bau einer Vor- 
(80) 


31 


ftadt entichloß, die feinen Namen tragen jollte. Der 
von ihm gewählte Pla lag im Südoſten der Afropolis, an 
den Ufern des Iliſſos; hier zeigte man den Felsſpalt, durch 
den die beufalionische Fluth abgefloffen war, und die Stelle, 
wo König Kodros fich für fein Volk geopfert hatte; hier Hatten 
die Bififtratiden einen großartigen Tempel des olympifchen Zeus 
begonnen, der immer noch unvollendet war. Hadrian ließ die 
jüdöftlihe Stadtmauer abtragen und auf ihren Grundmauern mo» 
derne Villen errichten. Doch ift nach der Stadtjeite die Grenze der 
neuen Stadt durd ein prächtiges Thor bezeichnet, das an der 
Weitjeite auf dem Architrav des Thorbogens die metrijche In— 
Ichrift trägt: „Dies ift Athen, des Königs Thejeus alte Stadt“, 
und entjprechend auf der Dftjeite: „Dies ift des Hadrianus, 
nicht des Thejeus Stadt.“ Den 6,10 m breiten Durchgang» 
bogen umgeben vorjpringende korinthiſche Säulen, die rein defo» 
rativ an den Bau angelehnt waren, aber damit fie nicht ganz 
unorganisch daftänden, traten die Steinbalfen oben rechtwinklig 
hervor. Jetzt find fie auf der Dftjeite bis auf Stüde des 
Poſtaments verjchwunden, während das jcheinbar auf ihnen 
rubende, von ihnen zu tragende Gebälf an der Weitfeite un- 
verjehrt ift. Ueber dem Unterbau erhebt ſich eine jogenannte 
Attifa, ein zweites Stockwerk mit drei fenſterähnlichen Deffnungen, 
die ehemals mit dünnen Marmorplatten ausgefüllt waren, und 
darüber ein Giebel, deſſen Spitze 18 m über dem Boden 
hoch ift.?® 

Das Thor befand fich dicht vor dem Olympieion, das 
zugleich den Hauptjchmud des neuen Stadttheiles bildete. Es 
war bereit3 von den Bififtratiden auf einer uralten Kultusjtätte 
des Zeus begonnen, aber von den Athenern jpäter nicht weiter: 
geführt. Erſt im Auftrage von Untiohus IV. von Syrien 
(175—164) Hatte der römische Baumeifter Decimus Cofjutius 


die große Cella vollendet und dem Dipteros forinthijcher Säulen, 
(N 


32 


ſowie dem äußeren Schmude feine beftimmte Geſtalt gegeben. 
Seitdem hatte der Tempel an den beiden Giebeljeiten acht 
Säulen und ein offenes Dach mit Oberlicht. Danı war der 
Bau wieder liegen geblieben, und Sulla hatte jogar einige 
Säulen und die ehernen Thürfchwellen nad) Rom gejchleppt. 
Unter Auguftus bejchloffen mehrere Könige ihn zu vollenden 
und dem Genius des Kaiſers zu weihen, aber erjt Hadrian 
entichloß fi im Jahre 125, die bedeutenden Mittel für feine 
Tertigftellung Herzugeben, und wohnte bei feinem zweiten oder 
dritten Beſuche der feierlichen Einweihung bei.’ 

Zunächſt hat er den gewaltigen Tempelhof fertig gebaut, der 
fih 3,5—4,5 m über dem Bette des Iliſſos erhebt und mit 
einer Länge von 206,5 m und einer Breite von 130 m aus: 
gedehnter ift, als zwei Drittel der Akropolis. Er beiteht aus 
einer Folge von gemwölbten Gängen und iſt aus Bruchjteinen 
ausgeführt, aber mit Quadern aus Kalkſtein bekleidet, deren 
Borjprünge, in Zwijchenräumen von je 5,57 m, je einer Scheide. 
wand der Tonnengewölbe zum äußeren Ausdrud dienen. Dieje 
Mauer des Tempelhofes, welche von Norden zwei Bugänge 
gehabt zu Haben fcheint und hier ältere Bauten bededt, Hat 
Hadrian erbauen lafjen, da der Tempelhof für feine Pläne eine 
bejondere Bedeutung hatte. 

Was er für den Tempel ſelbſt gethan Hat, entzieht ſich 
unferer Kenntniß, doch kann dies nicht wenig gewefen fein, da 
jonft auch feine Vorgänger dazu im jtande gewejen wären. Er 
ift unten 120 m lang und 54 m breit, an der Oberftufe 107,75 m 
lang und 41 m breit, bededt alfo eine Grundfläche, die faft Doppelt 
jo groß ift, wie der Barthenon, und ift der größte Tempel des 
eigentlichen Griechenland. An den Schmalfeiten im Ojften und 
Weiten Hatte er drei Reihen von je acht Säulen, war alfo ein 
dipteros oktastylos, an den Qangjeiten hatte er je zwei Säulenreihen 


von neunzehn Säulen und je zwei Säulen zwijchen den Anten 
(82) 


33 


der Cella. Dieje hundertundvier Säulen find mit Kapitell und 
Bafis 20,16 m hoch und Haben einen Durchmefjer von etiva 
1,70 m. Das Sapitell ift oben 3 m breit, der Architrav 
2,25 m hoch und die Zwijchenräume zwijchen den Säulen be: 
tragen je 2,92 m. In der Cella befand ſich ein Kolojjal- 
bild des Zeus aus Gold und Elfenbein, wohl eine vergrößerte 
Nachbildung des von Phidias gemachten Bildes in Olympia. 

Im ZTempelhofe ftanden am Eingange vier Marmorbilder 
des Kaiſers und an anderen Stellen viele eherne Statuen, welche 
ihm griechifche Städte im Jahre 132 errichtet hatten. Die Bilder 
jelbft find verfchwunden, aber vierzehn Süulenfüße find noch 
erhalten mit Infchriften, wie „Dem Olympier Hadrian die 
Kyzikener“; wortreicher find die von Milet, Abydos und Thaſos, 
und die Stadt Abydos bezeichnet ihn zugleich als ihren Retter 
und Begründer. Die Athener überboten die anderen, indem fie 
hinter dem Tempel eine Kolofjaljtatue des Kaiſers aufjtellten. 
Dies muß dieſelbe Statue fein, welche ſich nach dem Berichte 
Dios „im Olympium” befand, doch geht aus jeinen Worten 
und den anderen Berichten nicht hervor, daß der Kaifer jein 
Bild neben das des Zeus fehte und fich durch den Zeuspriejter 
zugleich Opfer bringen ließ. Etwas räthjelhaft iſt die Bedeutung 
der aus Indien dorthin gebrachten Schlange, aber es jcheint, 
als jei fie „ein Gegenftüd der Erechtheusfchlange” und bedeute 
den Genius des Kaijers.?® 

Als beim zweiten oder dritten Bejuche des Kaijerd der 
Tempelbau beendet war und das erſte Opfer dargebracht wurde, 
hielt der bedeutendfte Prumfredner der Zeit, Polemon von 
Smyrna, auf dem Unterbau de Tempels eine Feſtrede. 
Die Athener ſelbſt Hatten das Werk der Bifijtratiden vor der 
Vollendung zur Ruine werden lafjen, weil der Tempel in diejer 
Geſtalt ein Wahrzeichen ihrer Freiheit war. Was die ein- 


heimiſchen Tyrannen begonnen Hatten, war durch fremde Könige 
Sammlung. N. F. XIII. 289/290. 3 (33) 


34 


weitergeführt und durch ben griechenfreundlichen Kaiſer fertig: 
geitellt. 

Als im Anfange des Mittelalter8 der gewaltige Tempel 
durch Naturgewalten zerftört war, joll auf einer der Säulen 
ein chriftlicher Säulenheiliger gehauft haben, der den heidnifchen 
AUthenern, die ihn darob verhöhnten, erwiderte, die Tonne des 
Diogenes habe nur ihren Standort verändert. Aus dem Ma: 
terial de3 Tempels ift eine Kapelle des heiligen Johannes erbaut, 
die der deutſche Reiſende Transfeldt noch im Jahre 1675 ge- 
fehen hat. Bon den damals erhaltenen fiebzehn Säulen haben 
eine im Jahre 1760 die Türken abgebrochen, eine zweite bat 
im Jahre 1852 ein Orkan umgerifjen, und jegt jtehen nur noch 
dreizehn Säulen der Südoſtecke und zwei Säulen der inneren 
Neihe und rechtfertigen die volksthümliche Bezeichnung des am 
Spätnachmittag vielbefuchten Platzes „unter den Säulen”.?? 

Soweit e8 im Rahmen des römischen Reiches möglich war, 
wollte Hadrian auch ein unerreichtes Ideal der Perikleiſchen Zeit 
erfüllen, da8 Plutarch den Beitgenofjen als einen Beweis „für 
die hohe und erhabene Gefinnung des Perikles“ ins Gedächtniß 
zurüdgerufen hatte. Alle Griechen jollten unter der Führung 
Athens geeinigt werden, und Athen, welches fich in dieſer Zeit 
rühmt, „die Gründerin jo vieler Städte zu jein”,*follte der Sitz 
des Synhedriond der Hellenen werden. Eine politifche Bedeu— 
tung konnten und jollten diefe panhellenifchen Pläne nicht Haben, 
aber e3 genügte für die Athener, dat in ihrer Stadt ein neues 
griechifches Nationalfeft entjtand und fie durch die Gejanbt- 
Ichaften, welche fich zur TFeitfeier aus vielen Städten einfanden, 
wieder Glanz und Leben erhielt. 

Die Griechen bezeugten ihre Dankbarkeit dadurch, daß fie 
dem Kaijer einen Tempel erbauten, den ein „Prieſter des Gottes 
Hadrian, des Panhelleniers“, verwaltete. Diejer Prieſter führte 
zugleich bei dem neuen Feſte der Panhellenien den Vorſitz und 


(34) 


35 


hatte vorn im großen Dionyjostheater einen Ehrenplaf. Bio 
nennt den Tempel des Kaiſers kurz „Panhellenion“, aber es ift 
wahrjcheinlich derjelbe, wie der der Hera und des panhelleni- 
jchen Zeus, und in diejem Tempel wird der Kaiſer wohl ge- 
meinfam mit Zeus verehrt fein. Das Panhellenion ift jo voll, 
ftändig verjchiwunden, daß wir nicht einmal jeine Lage kennen und 
nur vermuthen dürfen, daß es zum Schmude der neuen Hadrians- 
Etadt diente. Auch das von Pauſanias erwähnte Gymnafion 
joll jegt jüdlih vom Iliſſos an der nad) Sunion führenden 
Straße gefunden fein. Dort hat die engliſche Schule ein großes 
Gebäude freigelegt, das in feinem Plane und feiner Bauweije 
auffallend mit der obengenannten Bibliothek übereinjtimmt, und 
die planmäßigen Ausgrabungen werden vielleicht auch noch die 
andern öffentlichen Bauten des Kaiſers aufdeden.* 

Da Athen immer unter Mangel an Wafjer zu leiden Hatte, 
obwohl bereit# die Bififtratiden eine Leitung vom oberen Iliſſos— 
thale bi an die Puyr gelegt hatten, lieg Hadrian für feine 
Stadt eine großartige Wafjerleitung bauen, die das Wafjer 
vom fernen Benteliton über Chalandri und Ampelofipos zu dem 
die Stadt überragenden Lykabettos führte. Sie ift theild aus 
Biegeln gemauert und mit einem Qonnengewölbe überjpannt, 
theil3 auf weite Streden mit großen Koften in den Felſen ge- 
hauen. Am NRejervoir ift angegeben, daß jein Nachfolger das 
Werk vollendete. Die bleiernen Röhren, welche von dort das 
Waſſer in die Stadt leiteten, hat man noch im griechijchen 
Treiheitäfriege zum Gießen von Flintenkfugeln benugt; nur ein 
Stück, 0,18 m weit und V,03m in der Wendung jtarf, wird 
nod in der Demardie aufbewahrt.*! 

Noch andere Bauten wird er in der alten und neuen Stadt 
errichtet haben, aber jchon die ung befannten Wohlthaten recht‘ 
fertigen oder erklären wenigjtens die ungewöhnlichen Ehren, 


welhe man ihm erwies. Im Theater des Dionyjos, in der 
3* (85) 


36 


Königshalle und im Parthenon errichtete man ihm Standbilder, 
und von den noch erhaltenen Injchriften bezeichnen ihn 13 als 
Gott, 48 nad) dem Vorbilde des Zeus ald Olympier, einzelne 
als den Panhellenier und den Befreier. Hatte doch jeine Gnade 
die altberühmte Stadt von ihrer Niedrigfeit befreit und leuchtete 
der Stadt, die man einjt die ftolze Herrin aller Städte genannt 
hatte, „wie ein heller Sonnenblid vor dem Einbruch der langen 
Nacht des Mittelalters.*?? 


Für Italien Hatten alle Vorgänger des Kaiſers gejorgt, 
und weniger als Athen jchien Rom eines Herrichers zu bedür- 
fen, der bereit und im jtande war, die großen Mittel des Reiches 
mit Gejhmad auf feine VBerfchönerung zu verwenden. Außer 
dem Saijerpalafte auf dem PBalatin waren hier die Bäder des 
Titus und der Riejenbau des Coloſſeums entjtanden. Trajan 
hatte den Berg Uuirinal auf der Südweſtſeite abtragen laſſen, 
dadurch einen breiten Zugang zum Marsfelde eröffnet und dieſes 
mit dem alten Rom verbunden. Auf dem neuen Boden war 
das Trajand-Forum entjtanden, deſſen Herrliche Tempel, Säulen: 
ballen und Bibliotheken noch nad) Jahrhunderten die Bejucher 
Roms mit Staunen erfüllt haben. So war zum Nußen und 
zur Freude des Volkes genug gejchehen, und Hadrian, der jonjt 
die Hauptjtadt durch glänzende Spiele und großartige Gejchente 
erfreute, zeigte wenig Neigung, fi durch Neubauten bei ber 
Menge beliebt zu machen. Eine folche Abficht kann er höchſtens 
bei dem Circus auf dem rechten Tiberufer gehabt haben, der 
vielleicht das von ihm abgeriffene „Theater Trajans“ erſetzen 
follte. Für die Rhetoren und Dichter gründete er an einer 
jest unbelannten Stelle das Athenäum, in welchem fie ihre 
Werke öffentlich vorlajen, aber diefe Fürforge für die Gebildeten 
gab nur neuen Grund zu der Klage, daß er fich viel zu viel um 
die Litteratur befümmere. Ohne Rüdficht auf die Wünſche des 


(86) 


37 
Bolkes zu nehmen, ift er jeine eignen Wege gegangen und hat 
auch für die Hauptitadt durch die Weiterführung und Wieder. 
beritellung älterer Bauten, fowie durch den Neubau ihres größten 
Tempels und des Kaifergrabes ſehr viel gethan. 

Die Bauten an dem neuen Forum führte Apollodor in 
jeinem Auftrage zu Ende, und nad) wenigen Jahren war der 
Tempel Trajans und der Kaijerin Plotina fertiggeftellt und 
glänzend eingeweiht.*? Zwiſchen dem erprobten Baumeifter und 
dem Kaifer beiteht noch das befte Einvernehmen, denn Apollo» 
dor hat damals Kriegsmaſchinen konſtruirt und in einem Buche 
beichrieben, dejjen Einleitung fein gutes Verhältniß zum Kaijer 
bezeugt. Dann aber trat bald eine Entfremdung ein, ‚weil Ha» 
drian die Bauten nac) eigenen Plänen ausführte und dem Bau» 
meifter eine Kritik derjelben übelnahm. Apollodor Hat, frei« 
willig oder unfreiwillig, Rom verlaffen, und ald er auswärts 
jtarb, entjtand jogar das von Dio ald Wahrheit erzählte und 
nicht beftimmt zu widerlegende Gerücht, er habe ihn tödten 
laſſen.“ Außer Apollodor jcheint dann Decrianus oder Der- 
trianus die Arbeiten in Rom geleitet zu haben. Er und 
Andere werden, wenn ber Kaiſer die Zeichnung entworfen Hatte, 
die Einzelheiten ausgearbeitet haben. 

Außer der Vollendung des Trajans-Forums unternahm er 
auch die Weiterführung des flavijchen Kaijerpalaftes 
auf dem Balatin, feines eigentlichen Schlofjes in der Haupt: 
ftadt. Im Süden desjelben hatte Domitian einen 165m langen 
und 48 m breiten offenen Raum erbaut, deſſen hohe Mauern 
an der Südweſtſeite eine ſchwachgekrümmte Kurve bilden. Es ift 
nicht, wie man früher glaubte, ein Stadium für den Hof, jondern 
ein ausgedehnter, von Säulen umgebener Hofgarten, dem ber 
Baumeifter die Form einer Fahrbahn (Hippodromus) gegeben 
hatte. An jeiner Oftjeite ließ Hadrian, und zwar erjt nad) dem 


Jahre 134, während feines legten Aufenthalts in Rom, einen 
(87) 


— 


großen, nach dem inneren Garten geöffneten, halbkreisför migen 
Saal (Exedra) erbauen, deſſen noch erhaltene Ornamente auf 
eine verjchwenderiihe Ausstattung fchließen laſſen. Auch Die 
öftlih daran grenzenden Räume ftammen von ihm, unter denen 
ein mit einem Tonnengewölbe überjpannter Saal bejondere Be: 
achtung findet; die quadratiichen Studfaffetten feiner Dede 
find einft vergoldet gewejen. Alle diefe Bauten hat Septimius 
Severus (195— 203) nad) einem Brande wiederherftellen laſſen 
und den jüdlichen Theil des Palatin mit ausgedehnten Neu: 
bauten bededt. Diejelben Ziegel, welche die Erbauung dieſer 
Räume durch Hadrian beweifen, finden fi) auch im jüdlichen 
Flügel des Haujes der Beltalinnen (atrium Vestae) und 
zeigen, daß er dieſes vergrößern und den in Klauſur lebenden 
Priejterinnen einen Raum zu etwas freierer Bewegung und 
ihönere Wohnräume verjchaffen Ließ.** 

Nicht hoch genug können wir das Verdienſt anjchlagen, das 
er fi) durch die Wiederherftellung der bedeutenditen 
Bauten des Augustus auf dem Marsfelde erwarb. Durd) 
das Trajand-zorum war dem Verkehr dorthin ein neuer Weg 
eröffnet, und über da8 Marsfeld hinaus wies die zum neuen 
Kaifergrabe führende Brüde. Auf dem Wege zu ihr muß das 
Theater Trajans gelegen haben, das er num mit Rüdjicht auf den 
Verkehr abbrechen ließ und durch feinen Circus in den Gärten der 
Domitia erjegte. Nur aus Neid gegen feinen Vorgänger hat er 
das ficher nicht gethan, denn der Nachruhm bei den Römern ift 
ihm fo gleichgültig, daß er fich niemals bei einem Bau als 
Urheber bezeichnen Tieß, außer in der Widmungsinfchrift vom 
Tempel Trajans, tvo jein Name unerläßlich war. 

Mit kurzen Worten berichtet fein Biograph, daß er in 
Nom das Pantheon, die Säpta, die Bafilifa des Neptun, viele 
Tempel, das Forum des Auguftus und die Thermen des Agrippa 


wiederherftellen und unter dem Namen ihrer erjten Erbauer 
(38) 


39 
einmweihen ließ. Alle diefe Bauten ftanden auf dem Marsfelde, 
außer dem Forum des Auguftus, welches auf dem Wege vom 
alten Forum zum Zrajang- Forum liegt. 

Die Säpta Julia find Die großen, auf dem alten 
Stadtplane verzeichneten und in ihren Fundamenten noch heute zu 
erfennenden Hallen, welche Cäjar am jüdlichen Ende der via lata 
begonnen und Agrippa vollendet hatte. Urjprünglich für die Ab— 
ftimmung bei den Wahlen bejtimmt, dienten fie jpäter als 
Kaufhallen. Derjelbe Agrippa Hatte zum Andenken an jeine 
Seefiege ein Heiligthum und eine Halle zu Ehren des Neptun 
errichtet, welche das ausgezeichnetfte Denkmal der römischen 
Seeherrichaft blieben. An den Wänden diefer Bafilifa Julia 
ſah man die Abenteuer der Argonauten abgebildet. Was 
Hadrian für diefen Bau gethan Hat, bejonders ob etwa die elf 
auf der Nordjeite befindlichen, Forinthifchen Marmorjäulen erjt 
von ihm gejeßt find, läßt fich nicht mehr beurtheilen, weil jeit 
zweihundert Jahren die dogana di terra in die alte Halle 
hineingebaut ijt.*® 

Bis vor kurzem galt es als jicher, daß Agrippa im Jahre 
27 v.Chr. laut der Injchrift über dem Eingange das berühmte 
Pantheon in feiner jekigen Geftalt errichtet habe. Zwar 
wird berichtet, daß der Rundtempel im Jahre 22 durch den 
Blik, im Jahre 80 durch eine Feuersbrunſt bejchädigt und nad) 
feiner Wiederherjtellung von neuem im Jahre 110 „von Blitzen 
zu Grunde gerichtet” und von Hadrian dann ausgebejjert wurde, 
aber man gab auf diefe Nachricht nicht viel, weil man nicht 
einjah, wie das Teuer einen Bau aus Stein und Erz jo erheb- 
lich ſchädigen konnte. Als jedoch im Winter 1891 auf 1892 
der franzöfische Architekt Chedanne eine genaue Bermefjung 
des Gebäudes vornahm und gleichzeitig bei einer Ausbeſſerung 
der Kuppel der Kalkbewurf erneuert werden mußte, hatte Che- 
danne Gelegenheit, feitzuftellen, daß jämtliche Ziegel des Rund» 


(39) 


0 


baues, wenigjten® die, deren Stempel ohne Zerftörung des 
Baues zu erkennen waren, aus dem erjten Jahrzehnt von 
Hadrians Regierung ftammen. Die meilten Ziegel des Mauer- 
werf3 find allerdings von Eleinerem Format und enthalten feine 
injchriftliche Bezeichnung, aber die Entlaftungsbögen und Deden- 
wölbungen bejtehen aus großen PBlattziegeln, und von ihnen ift 
an zwanzig für den Bau bedeutungsvollen Stellen eine größere 
Unzahl herausgenommen, die troß der großen Berfchiedenartig- 
feit der Stempel alle au8 den Jahren 115—126 ftammen. 

Hieraus haben die neueren Forfcher den wohl kaum zu 
widerlegenden Schluß gezogen, daß Agrippa einen Rundbau auf 
derjelben Grundfläche, wie der jeßt noch jtehende, errichtete, aber 
bei Herjtellung des von Eorinthijchen Säulen getragenen Zelt- 
daches joviel Holz und Metall verwendete, daß feine Zerftörung 
durch Teuer möglich wurde. Wenn der Bau Agrippas bereits 
ganz aus Stein beitand, jo war er doch jo wenig widerftands» 
fähig, daß nad) dem Brande im Jahre 110 ein Neubau der 
Bantheonsrotunde und der anftoßenden Baulichkeiten ftattgefunden 
bat. Hadrian ließ den Rundbau lediglich aus Ziegeln und Mörtel 
beritellen, ohne Verwendung von brennbaren Stoffen; die be. 
fannte Kafjettendede erinnert an die Ausſchmückung des Tonnen- 
gewölbes im palatinijchen Palaſte. Allerdings hat Septimius 
Severus, derjelbe, welcher auch auf dem Balatin den dortigen 
Palaſt Hadrians theilweife durch einen Neubau verdrängt Hat, 
im Jahre 202 „das Pantheon, das durch Alter verdorben war, 
mit aller Bracht wiederherstellen laſſen“, aber von einem Brand- 
ſchaden ijt nicht mehr die Rede. Vielmehr muß jebt die Stein- 
fonftruftion des Pantheon, welche bisher „als die große That 
der Augufteiichen Baumeijter” gefeiert wurde, als ein glänzender 
Beweis für die technijche Fyertigfeit und den Geſchmack Hadriang 
und feiner Baumeijter gelten.“ 

Nach Chedannes Unterjuchungen hat die Borhalle, welde 


(40) 


41 


noch jet Agrippas Injchrift vom Jahre 27 v. Chr. trägt, früher 
eine zehnjäulige Faſſade gehabt, jo daß vielleicht ihre jeßige 
Gejtalt mit acht Säulen in der Front auch auf Hadrian zurüd. 
geht. Den jeit dem Brande verödeten Bau, in welchem vorher 
die Bilder vieler Götter aufgeftellt waren, benugte Hadrian als 
Gerichtsjtätte, wo er unter Hinzuziefung von Rathmännern 
Recht jprady.*? 

Bon dem großen Kuppelbau ift übrigens faft nur der aus 
Biegeliteinen bejtehende Kern erhalten, defjen werthlojes Material 
die Begehrlichkeit der Römer nicht reizen fonnte. Denn wenn 
auch Bonifacius IV. da8 Pantheon im Jahre 609 unter dem 
Namen Sta. Maria ad martyres al3 chriftliche Kirche einrichtete 
und durch viele Gebeine aus den Katafomben weihte, jo raubte 
doch jchon der griechifche Kaifer Conjtans II. (641—668) das 
vergoldete Erzdad) der Kuppel, welches jpäter durch Bleiplatten 
erjegt wurde. Während des dreißigjährigen Krieges ließ Papit 
Urban VII. im Jahre 1632 die ehernen Balken und das Dad) 
der Vorhalle im Gejamtgewichte von 450251 Pfund abnehmen 
und daraus mehr als Hundertundzehn Mörjer und vier große 
Säulen für den Hauptaltar der Peterskirche gießen. Mit an- 
erfennenswerther Offenheit brüftet er fi) auf einer Injchrift 
recht3 vom Portale damit, „daß er die alten Weberbleibjel der 
ehernen Dede zum Gufje der vatifanischen Säulen und ehernen 
Kanonen verwendet habe, auf daß jene unnügen und fajt der 
Fama jelbjt unbefannten Schmudjtüde in der Petersfirche als 
Bierden des Apoftelgrabes, in der Hadriansburg als Werkzeuge 
der Öffentlichen Sicherheit dienten“. Endlich ift im Jahre 1747 
der jchadhaft gewordene Marmorfries durch Stud erjegt, außerdem 
die Nifchen verändert und die ganze Kuppel weiß angejftrichen. 


Für eigene Bauten in der Nähe des alten Forums bot dem 


Kaiſer nur noch die Velia Raum, der niedrige Höhenrüden, welcher 
(41) 


42 


Palatin und Esquilin verbindet und das Forum Romanum von 
dem Thale des Kolofjeums jcheidet. Hier war nad) dem Tode 
des Titus der nach ihm genannte Triumphbogen vollendet, und 
an die großen Anlagen Neros erinnerte nur noch der 36 m 
hohe Koloß, den einft Zenodor hergeftellt hatte. Diejen Koloß 
ließ der Baumeifter Dertrianus durch vierundzwanzig Elephanten 
in die Nähe des ſpäter danad) genannten Koloſſeums bringen, 
und der Kaifer wollte auch auf den Rath Apollodors als 
Gegenftüc zu diefem, jett dem Sonnengott geweihten Bilde ein 
anderes für die Mondgöttin errichten, doch jcheint das letztere 
nicht ausgeführt zu fein.*? Vom alten römischen Forum führte 
die heilige Straße langfam anfteigend zur Velia hinauf, bog 
dann nach reht3 um bis zum ZTriumphbogen des Titus und 
führte durch diefen hindurch) und zum Colofjeum Hinab. Auf 
dem großen Plate links von der Straße ließ er den Doppel: 
tempel der Venus und Roma errichten. 

Durch den Bau eines Venustempel3 knüpft Hadrian, wie 
bei den genannten Bauten, an die Zeit des Auguſtus an, wo 
Benus und Mars zu römischen Stammpgöttern erhoben wurden, 
nachdem ſchon Cäſar im Jahre 46 für Venus, als die „Mutter 
der WUeneaden”, die Mutter des Juliſchen Gejchlechtes (Genitrir), 
auf jeinem Forum einen prächtigen Qempel geweiht Hatte. 
Heiligtümer der Roma, der perfonificirten Stadtgöttin, die der 
Minerva oder einer Amazone ähnlich ift und als Tochter des 
Mars gedacht wird, waren zuerjt in Sleinafien entjtanden. In 
Rom trug wahrjcheinlich das Bild des Fapitolinifchen Jupiter 
ein Romabild auf feiner Rechten, und in den Provinzen hatte 
jeit Augustus ſich die Sitte eingebürgert, die Kaifer mit ihr zu- 
jammen in einem Tempel zu verehren. Ein ähnlicher Gedante 
iſt eg, wenn die Stammmutter des erften Kaifergejchlechtes, deren 
Verehrung auf die fpäteren Kaifer übergeht, jet mit Roma 


zuſammen zum erjten Male in Rom ſelbſt einen Tempel erhält. 
(42) 


43 


Nicht bloß architektonische Rückſichten Haben die gemeinfame 
Berehrung beider in einem Tempel veranlaßt, jondern die geiftige 
Beziehung zwijchen der kaiſerlichen Göttin Venus und der 
Staatsgöttin Roma.’ 

Die Idee und der Plan dieje größten aller römischen 
Tempel find das geiftige Eigenthum Hadrians, der hier zeigen 
wollte, „daß er auch ohne Apollodor einen großen Bau ent- 
werfen könnte”. Während feines erften mehrjährigen Aufenthalts 
in Rom stellte er den Plan fertig und ließ den Grundftein um 
die Zeit feiner Abreife aus Rom im Jahre 121 legen, die 
Weihung bei feinem zweiten Aufenthalt im Jahre 128 vollziehen. 
Beide Male war dazu wahrfcheinlich der 21. April gewählt, 
das Feſt der Balilien, welches als Geburtstag Roms jchon jeit 
langer Zeit gefeiert wurde. Das Feſt wurde jpäter ald Grün. 
dungstag de3 Tempels mit dem der Göttin Roma verjchmolzen 
und auch nach ihr genannt. Welchen Werth Hadrian gerade auf 
dies Werk legte, zeigt der Umftand, daß er erft nach der Ein« 
weihung den vom Senat ihm ſchon wiederholt angebotenen 
Titel „Vater des Baterlandes” annahm und feiner Frau den 
Titel „Augusta“ verlieh.’! 

Um einen geeigneten horizontalen Bauplag zu erhalten, 
lieg er die heilige Straße vom Titusbogen bis zum Kolofjeum 
reguliren und einen großen Unterbau aufjchütten. Der ganze 
fünftlich hergeftellte Tempelhof von 167 m Länge und 103 m 
Breite erhob fich im Norden nur 2,2 m, im Often aber über 
8 m über der Straße und war von einer ftarfen Außenmauer 
umgeben, in ber ſich ein Stein vom Jahre 123 gefunden Hat. 
Die Vollendung des Unterbaues muß aljo mehrere Jahre in 
Anspruch genommen haben. Er war wahrfcheinlic; mit weißem 
Marmor gepflaftert und von etwa zweihundert Säulen aus 
Granit und Porphyr umgeben, deren Trümmer auf einen Durch 


mefjer von über I m und eine Höhe von 11—12 m jchließen 
(48) 


44 


laſſen. Eine breite, niedrige Treppe führte im Weſten vom 
Forum ber zu ihm hinauf, während auf der über 8 m hoben 
DOftfeite fi) fchmalere Treppen an den beiden Eden befanden. 
Apollodors Vorſchlag, im Unterbau des Tempels Räume für die 
Bufammenjegung der Dekorationen im Colofjeum herzuſtellen, 
hätte fi) bei der Höhe des Tempelhofes jehr gut ausführen 
lafjen, doch fehlt e8 darüber an ficheren Nachrichten. 

In der Mitte des Tempelhofes, etwa 25 m von der um- 
gebenden Säulenhalle entfernt, erhob fich das eigentlihe Podium 
des Tempels, zu dem man auf fieben Marmorftufen empor- 
ſtieg. Es beitand aus einer felfenhart gewordenen Gußmaffe 
von Mörtel und Steinen, war 110 m lang und 53 m breit, 
aber je nach der zu tragenden Laft von verjchiedener Stärke. 
Den Tempel umgab ein Säulengang von jehsundfünfzig 
fannelirten, faſt 2 m diden Marmorfäulen, je zehn auf den 
Schmaljeiten im Oſten und Weften und je zwanzig auf ben 
Langjeiten. An den gefundenen Reften vom Gefims jah man 
Löwenköpfe zum Abfluffe des Waſſers. 

Die äußere Geftalt zeigen Münzen Hadriang mit der 
Umſchrift „Romae aeternae“ oder „Veneri felici“, ſowie eine 
Münze mit der Umfchrift „Veneri felici* von Antoninus Pius, 
der den Tempel zu Ende geführt hat. Biel genauer find die 
Einzelheiten auf einem Marmorrelief im Studio Biti zu erkennen, 
da3 die Faſſade eines zehnjäuligen Tempels mit römijch-korin- 
thiichen Kapitellen und einem glatten Architrav zeigt. In der 
Mitte des ziemlich ſtark bejchädigten Giebelfeldes gewahrt 
man die Veſtalin Rhea Silvia, den rechten Arm auf den Felſen 
gejtüßt, den linken im Schlafe über den Kopf gelegt. Won der 
rechten Seite jcheint ich ihr Mars zu nähern, während auf der 
fleineren linken Hälfte die Wölfin mit den Zwillingen Romulus 
und Remus zu erkennen iſt, auf welche zwei Hirten zueilen. 
Die Eden der Giebeleinfafjung find zerftört, jo daß nicht mehr 


(44) 


45 


zu erfennen ift, ob die auf den Münzen Hadrians fichtbaren 
Figuren auf ihnen ftanden. An den anderen Stellen umgiebt 
den Giebel eine breite, palmettengeſchmückte Leifte, Hinter der 
ein Theil des Daches fichtbar wird. 

Unten, zwijchen der fünften und fechsten Säule, iſt auf 
dem Relief die nad) innen fich öffnende Doppelthür mit Metall- 
beihlag und Nägeln deutlich zu fehen, und zwifchen den anderen 
Säulen find die Marmorquadern der Tempelwand nicht zu 
verfennen. Der Tempel ſelbſt hatte auf den beiden Schmal- 
feiten zwijchen den Anten je vier Säulen, welche die Vorhallen 
umgaben, au8 denen man auf fünf Stufen zu dem 0,9 m höher 
liegenden Fußboden des Tempelhaujes hinauf ftieg. E83 war 
durch maſſive Wände in zwei ganz gleidhgroße Gellen getheilt, 
von denen die weftliche der Venus, die Öftliche der Roma ge- 
beiligt war. Jede Cella ijt quadratifch, aber dem Eingange 
gegenüber durch eine Halbrunde Apſis vergrößert, die dem 
monumentalen PBrofanbau entlehnt if. Die Apfiden berühren 
fi) mit den Rückſeiten, find aber durch ſtarke Ziegelmauern von« 
einander getrennt. Der Fußboden war mit diden Marmor: 
blöden belegt, die Wände bejtehen aus ftarfen Biegelmauern, 
die auf der Außenjeite mit weißem, parifchem Marmor, im 
Innern mit buntem Marmor, wie Serpentin und Giallo antico, 
verjtärft und befleidet waren. Auf jeder innern Seite war fie 
noch durch vier Strebepfeiler mit vorgejeßten Forinthijchen 
Vorphyrfäulen von gut 0,6 m Durchmefjer geftübt; zwischen 
ihnen blieben abiwechjelnd vieredige und gewölbte Nijchen frei, 
in denen Statuen ftanden. Die Strebepfeiler machten die Wände 
jtarf genug, ein kaſſettirtes Tonnengewölbe zu tragen, 
welches nach dem Hintergrunde in eine Halbkugel übergeht, jo 
daß Hadrian hier eine originelle Bereinigung des Gewölbe— 
baues mit dem Aeußeren eines griechijchen Tempel durchführte. 
Ueber dem Gewölbe erhob ſich da8 Dach aus breiten quadratijchen 


(45) 


46 
Bronzeplatten mit Dedziegelreifen. Won diejen Kern des 
Tempels ijt nur die dem Colofjeum zugemwendete Niſche des 
NRomatempel3 und die Nifche, jowie Stüde von den Seiten- 
mauern des Venustempels erhalten, die in das Kloſter Santa 
Francesca Romana hineingebaut find.? 

Das Innere der Tempel mußte ihrem prächtigen Yeußeren 
und ihrem Säulenſchmucke entjprehend mit Bildfäulen und 
Nelief3 geſchmückt fein, die ſich wenigſtens im Tempel der 
Roma auf die Vorgeſchichte Roms bezogen. Diefe Aus» 
ſchmückung iſt erjt längere Zeit nad) der Einweihung vollendet, 
nämlich unter Antoninus Pius, deffen Münzen aus den Jahren 
139— 143 Abbildungen vom Tempel und einzelnen Gruppen 
feiner Giebelfelder zeigen. Damals ftellte der Senat im Venus- 
tempel filberne Bilder des Antoninus und der Kaiferin Fauftina 
auf und verordnete, daß die jungen Ehepaare der Hauptjtadt 
auf ihrem Altare Opfer bringen follten. Den Hauptſchmuck 
der Tempel bildeten die Bilder der beiden Göttinnen, die den 
Thüren gegenüber auf Hohen Poftamenten faßen; es waren 
große Figuren, nad) Apollodors Meinung für den doch gewiß 
recht Hohen Raum zu groß, jo daß „die Göttinnen, wenn 
fie aufftehen und hinausgehen wollten, es nicht gefonnt hätten”. 
Mehrere gleichzeitige Münzen zeigen die Göttinnen in figender 
Haltung, und es ift anzunehmen, daß die jpäteren Künftler fich 
wejentlich nach den Vorbildern in diefem größten der römischen 
Tempel gerichtet haben. 

Eine jigende Venus befindet fih im Palazzo Bidoni, 
mit einem dünnen, auf der linken Schulter befejtigten Gewande, 
das die rechte Bruft und einen Theil der Seite bloß läßt. 
Die Beine dedt ein Mantel, dejjen einer Zipfel über die rechte 
Schulter von Hinten Hinüberreiht. Eine Abbildung unjerer 
Roma zeigt wahrjcheinlich ein Mofaif im Palazzo Barberini. 


Sie figt in jtrenger, faft jteifer Haltung auf einem goldenen, 
(46) 


47 





reich verzierten Throne und trägt ein weißes Unterfleid, darüber 
ein gelbes, wohl aus Goldbrofat gedachtes Gewand, ferner 
einen rothen Mantel mit goldenen Franſen, deſſen einer Bipfel 
über die rechte Schulter und den Oberarm nad) vorn herab» 
hängt. Den Hals jhmüdt ein goldene Armband, das Haupt 
bededt ein goldener Helm mit weißen Federn; auf den Schultern 
figen geflügelte Figuren; auf der rechten Hand trägt fie eine 
geflügelte Viktoria, in der Iinfen ein langes Scepter, das an 
einen Schild angelehnt iſt, Hinter welchem ſich nad) einer An- 
gabe bei Servius Schlangen befanden. 

So oder ähnlich haben wir ung die Kultusbilder der beiden 
Söttinnen zu denken. Im Volksmunde hießen die beiden Tempel 
jpäter nur der Tempel der Hauptftadt (Urbis), aber auch nad) einer 
Teuersbrunft im Jahre 307 dauert die Verehrung der beiden 
Söttinnen fort. Noch gegen Ende des vierten Jahrhunderts 
jagt der hrijtliche Dichter Prudentius: „Mit gleichem Giebel 
erheben fich die Tempel der Roma und der Venus, und zugleich 
wird dem Götterpaar Weihrauc angezündet.“ Mit der Herr: 
ichaft des ChriftentHums beginnt allmählich die Zerftörung, 
von der wir im einzelnen nur hören, daß Papſt Honorius I. 
die Bronzeziegel zur Bedeckung der Petersfirche im Jahre 626 
verwendete, und daß die Mönche des Kloſters Sa. Francesca 
Romana die diden Marmorblöde, mit denen der Fußboden der 
Gellen belegt war, für ihre Rechnung verfauften. Dem Kloſter 
und der Werthlofigfeit des maſſiven Ziegelmaterial3 um Die 
beiden Apfiden verdanfen wir aber überhaupt die Erhaltung 
der jtattlichen Manerrejte, die freilich de8 Marmorjchmudes und 
jeit einigen Jahrzehnten auch des grünen Pflanzenjchmudes ent: 
fleidet find. „Wenn irgendwo,” jagt Jakob Burdhardt, „jo 
äußert fi) Hier die dämonifche Zerjtörungsfraft des mittel 
alterlihen Roms, von welder ſich das jebige Rom jo 


wenig mehr einen Begriff machen kann, daß es beharrlich 
(47) 


48 


die nordijchen „Barbaren“ ob all der greulichen Verwüftungen 
anflagt.” 


Seit der Entzifferung des Barberinifchen Obelisfen auf 
dem Bincio kann es als ficher gelten, daß Hadrian feinen 
Antinous im „Orenzfelde der Herrin des Genuffes, Hrome,“ 
d. h. im Dften der Hauptjtadt, an der via Labicana, unweit 
der Claudiſchen Wafferleitung beftatten ließ und das großartige 
Denkmal über feinen Grabe dur den genannten Obelisken 
ſchmückte.“ Von dort ijt er 1633 in den Barberinifchen Palaſt, 
dann in den Garten des Vatikan gebracht und 1822 auf dem 
Pincio aufgeftelt. Auffallend ift allerdings, daß das Grab 
des Antinous fi auf einer ganz anderen Seite der Stabt 
befand, als das eigne Grab des Kaijers. 

Sein großes Grab, an dem er „wie ein ägyptiſcher Despot 
ein halbes Leben bauen ließ”, giebt neueren Schriftftellern einen 
erwünjchten Anlaß, feinen Egoismus zu tadeln, während wir 
doch ficher willen, daß das von den meijten Vorgängern benupte 
Maufoleum des Auguftus (auf dem Marsfelde) voll war und 
die jpäteren Kaifer bi8 auf Septimius Severus im Grabe 
Hadrians beigefegt find. Er erwählte zum Bauplab für jein 
Mauſoleum die Gärten der Domitia auf dem nördlichen 
Tiberufer und ließ dort zunächit einen quadratiichen Unterbau 
errichten, defjen Seiten je 104 m lang, mit Marınor befleidet 
und reich mit Weliefornamenten gejchmücdt waren. Auf ihm 
erhob fich ein cylindrifcher Aufbau von 73 m Durchmefjer und 
etwa 50 m Höhe, der mit weißem Marmor befleidet und von 
verjchiedenfarbigen Säulen umgeben war. Zu diefem gehört wahr: 
iheinlih ein in der Nähe gefundenes, rundes Friesſtück mit 
Rinderjchädeln (Bufranien) und Laubgewinden. In feinem 
Innern führt von der Eingangshalle ein durch Luftſchachte ven- 


tilirter, jpiralfürmiger Gang zu der nocd erhaltenen Grab» 
(48) 


49 

fammer, bie jedenfall auch mit Marmor und Mojailen 
ausgeftattet mar. Ueber diefem Hauptgejchofje befand fich noch 
ein, wahrfcheinlich freisrunder, Aufbau, der von vielen Bild» 
fäulen umgeben und mit einem großen Kunſtwerk gefrönt war. 
Vielleicht war dies ein Viergeipann, vielleicht auch eine Kolofjal- 
ftatue, aber jedenfall® nicht der im Vatikaniſchen Garten 
liegende eherne Pinienapfel, dem erjt im 16. Jahrhundert 
diejer Urfprung zugejchrieben wird. 

Hadrian hatte den Bau vielleicht erjt während feines lebten 
Aufenthalts in Rom begonnen, jo daß er jelbit feine Vollendung 
nicht erlebte und erſt ein Fahr nach feinem Tode durch feinen Nach— 
folger hier bejtattet werden fonnte. Sein Sarkophag ward 
damals in der großen Grabfammer beigeſetzt und joll jpäter durch 
Teuer zerjtört fein, aber den mächtigen Borphyrdedel glaubt 
man noch in dem Taufbecken der Zauffapelle in der Peters. 
firche zu erfennen. Almählich füllte fi) dann die dem Tiber 
zugewendete Südwand des vieredigen Unterbaues mit den zum 
Theil noch erhaltenen Grabjchriften der dort beitatteten 
Kaijer und ihrer Verwandten: über den bronzenen Thüren des 
Eingangs die von Hadrian und Sabina, daneben die jpäteren, 
bis im Jahre 192 der dafür vorgejehene Raum voll war. 
Commodus' Grabſchrift mußte in kleinerer Schrift am Frieſe 
angebracht werden, und mit Septimius Severus war die Reihe 
der hier Beigejegten abgejchlofjen. 

Yurelian nahm es als wichtigſte Baftion in die Befeſtigung 
der Stadt auf, und bei der Einnahme Roms durch Alarich jollen 
die Gräber von den Gothen geplündert fein. Den Dienſt einer 
Feſtung leiſtete das Grabmal wieder beim Angriffe der Gothen 
unter Bitiges im Jahre 537, der durdy Belifars Umficht und 
Tapferkeit abgejchlagen wurde. Als damals die Gothen unter 
dem Schutze ihrer riefigen Schilde heranrüdten, zertrümmerten 


die Bertheidiger die herrlichen Marmorftatuen, welche noch immer 
Sammlung. NR. %. XIII. 289/290. 4 (49) 


— 

oben auf dem Mittelbau ſtanden, und ſchleuderten die Stücke 
auf die Angreifer hinab. So iſt es zu erklären, daß unter Papſt 
Urban VIII. in den Gräben der ſogenannte Barberiniſche Faun 
gefunden iſt, der ſich jetzt in der Münchener Glyptothek befindet. 
Auch der tanzende Faun in den Uffizien zu Florenz und der 
koloſſale Kopf Hadrians in der Sala Rotonda des Vatikan 
ſtammen aus ihnen. 

Eine Viſion Papſt Gregors des Großen im Jahre 590 
gab Anlaß dazu, daß auf der Spitze des Mauſoleums erſt eine 
Kapelle, ſpäter eine Statue des Erzengels errichtet iſt und der Bau 
davon den Namen „Engelsburg“ erhalten Hat. Als unein— 
nehmbare Feitung hat fie den Römern und bejonders den Päpjten 
in den Tagen der jchlimmften Gefahr gute Dienjte geleiftet, dabei 
aber ihren äußeren Schmud volljtändig eingebüßt und auch im 
Innern große Veränderungen erfahren. Es ift nicht leicht zu 
unterjcheiden, was die mittelalterlichen Bejucher Roms von den 
Herrlichkeiten, die fie befchreiben, gejehen haben und was fie aus 
eigner Phantaſie oder auf Grund des ihnen Mitgetheilten Hinzu 
erfanden. So weichen die Nekonjtruftionsverjuche der Neueren 
nicht wenig voneinander ab, doch jcheint ed, als ob die auf 
gründlichen Meſſungen beruhende Arbeit des italienischen In— 
genieur-Offizierd Mariano Borgatti endlich) das Wichtige ge- 
troffen hat.°* 

Bur Verbindung der Stadt mit feinem Grabe und dem oben 
erwähnten Circus erbaute Hadrian im Jahre 136 die nad) ihm 
genannte Aeliſche Brüde, die direft vom Marsfelde auf die 
Mitte des Grabmals führt. Sie überjpannte das Flußbett auf 
drei großen Bögen, während drei Eleinere vom Marsfelde, zwei 
Heinere vom Grabmal aus zur Brüde Hinaufführten. Auch 
fie ift wahrjcheinlih mit Statuen reich geichmüdt gewejen, 
hat dann aber die Namensänderung der Engelöburg mit: 


gemacht, und ihrem neuen Namen „Engelsbrüde” entjprechend 
(60) 


51 


trägt ſie ſeit 1688 ſechzehn Engelsſtatuen nach Zeichnungen 
Berninig.’® R 


Bon den zahllojen Bauwerken, mit denen Hadrian fein 
Reich ſchmückte, war fat feines für feinen perfönlichen Gebrauch 
bejtimmt. Selbjt zur Weiterführung des flavischen Kaiferpalaftes 
auf dem PBalatin jcheint er fich erjt in den lebten Fahren ent- 
Ichlofjen zu haben, als das Alter ihn nöthigte, von feinen Reifen 
auszuruhen. Aber neben dem römifchen Kaifer und dem Aög’ 
ling des kunſtbegabten Griechenvolfes lebte in ihm eine ſchon 
beim Regierungsantritt ganz bejtimmt ausgeprägte Berjönlichkeit, 
die fih mit den Schlöffern feiner Vorgänger nicht begnügte, 
jondern eine Wohnung nad) eigenem Gejchmad bauen lief. Da 
er Rom niemals ehr liebte und feine Neigung zu Fußwande— 
rungen und zur Jagd in der glänzenden Kaiferrefidenz auf dem 
Palatin unter den Augen der Hauptjtädtifchen Bevölkerung nicht 
befriedigen konnte, wollte er auch während des Aufenthalts in 
Italien lieber vor den Thoren Roms wohnen. Aehnlich machten 
e3 jchon zu Cicero Zeit in den ungefunden Sommermonaten 
die reichen Leute, und der jüngere Plinius 3. B. bejaß an ber 
Küfte von Laurentum, 17 Millien von Rom, eine Villa, die er 
nad) der Zagesarbeit noch von Rom aus erreichen Fonnte. 

Villen in bevorzugter Lage hatte Hadrian von feinen Bor- 
gängern geerbt, und wir wifjen zufällig, daß er die bei Porto 
dD’Anzo (Antium) liegende bewohnt und die Ciceronifche zwijchen 
Bajä und Puteoli während feiner legten Krankheit aufgefucht 
hat.°° Aber er hatte feinen eignen Geſchmack und liebte weder 
die Lage am braujenden Meere, noch einen Pla auf der weit. 
ichauenden Höhe des Albanerberges oder bei Tibur (Tivoli), wo 
an den Wafjerfällen des Anio die Häufer des Manilius Vopis- 
cus ftanden. Er ſuchte fich eine gejunde, Liebliche Gegend mit 


weiter Ausficht auf Gebirge und Meer, von wo er die Haupt: 
4* (51) 


52 


ſtadt bequem erreichen konnte, ohne doc durch den Pöbel be 
läftigt zu werden, einen Pla, der erſt durch ihn befannt ge- 
worden und deshalb auch nach ihm wieder faft vergefien ift. 
Wer von Rom durd) die öde Campagna mit der Bahn 
nah Tivoli fährt, überjchreitet beim Ponte Lucano den Anio 
(Zeverone) und kommt nach einer Fahrt von im ganzen 27 km 
zur legten Station vor Tivoli, zur Villa Adriana.” Da iſt 
zwijchen dem Anio und den Abhängen der Berge Ripoli und 
Spaccato ein Hügelland, das durch Bäche in mehrere Zungen 
getheilt it. Von diefen Bächen, die im Sommer faſt aus: 
trodnen, aber einft durch Leitungen verftärft werden fonnten, 
heißt der bedeutendite jegt Fiumicino della Billa Adriana; er 
fommt von der Siüdweitjeite der genannten Berge, fließt nord» 
wejtlich, vereinigt fich mit einem noch Eleineren Bache und mündet 
jüdlih vom Ponte Lucano in den Anio. Zwiſchen den beiden 
Bächen, auf einer nad) Nordweiten gerichteten Zunge des Hügel: 
landes, erheben fich jeßt zwijchen filbergrauen Delbäumen und 
tiefdunflen Cypreſſen und Pinien die Trümmer der Billa, „die 
mit dem glühenden Roth ihrer Ziegel und dem warmen Braun 
des Tuffs ſich in die allgemeine Farbenjtimmung einfügen“. 
Von der Station zu Fuß gehend, überjchreiten wir nach einer 
Biertelftunde den größeren der beiden Bäche in einer Höhe von 
etwa 70 m über dem Meere und befinden ung den Reiten 
einer Billa gegenüber, die jüdlic) von ung etwa 40 m höher 
auf einer von Norden ziemlich jteil anfteigenden Höhe liegen. 
Daß fie zu dem von Spartian erwähnten Landfige Hadri- 
ang gehören, bezeugen die Stempel auf Ziegeljteinen und Wafjer- 
leitungsröhren, jowie die Grabjchriften von zweien feiner Be- 
amten. Die meiften der gefundenen Ziegeljtempel jtammen aus 
den Jahren 123 und 124 und beweijen, daß der Kaijer bei 
jeinem erjten Aufenthalt in Rom den Bau anordnete und ihn 


während feiner Reijen ausführen ließ, doch ift an einzelnen 
(52) 


ei 





Stellen auch noch während feiner Anmwejenheit, nad) dem Jahre 
134, gebaut. Auf der ſchönſten Stelle des Platzes, ganz im 
Nordoften, haben fi) die Grundmauern eines älteren Gebäudes 
gefunden, welches nun dem Neubau weichen mußte. 

Bei dem hohen Werthe, welchen die Baupläße in der Nähe 
von Tibur hatten, dürfen wir uns das Grundftüc des Kaiſers 
nicht gar zu groß vorftellen. Es würde einen natürlichen Ab- 
ſchluß gehabt haben, wenn es im Dften bis zum Monte Ripoli, 
im Weſten bi8 zum Bade S. Pittorino gereicht hätte, aber 
nachweisbar Hadrianiſche Bauten befinden fich, mit alleiniger 
Ausnahme des jegt verjchiwundenen „Lateinischen Theaters”, nur 
auf der Höhe zwijchen den beiden zuerjt genannten Bächen und 
beſchräuken fich auf eine Fläche von ?/s qkm. 

MWelhe Anſprüche ſchon ein römischer Senator Ddiejer 
Zeit an einen Landſitz macht, zeigen die beiden Briefe, 
in welchen der jüngere Plinius feine Landgüter bejchreibt.?® 
Schon das einfachere bei Zaurentum enthält Zimmer, Säle und 
Höfe, die im Winter warm und im Sommer fühl liegen und 
die verjchiedenjten Ausblide auf das Meer bieten, QTurnpläße 
für die Hausgenofjen, ein Badebafjin, von dem aus man das 
Meer jehen kann, und einen Ausfichtsthurm. Dabei ift dieſe 
Villa viel bejcheidener, als die größere, welche Blinius in Etru: 
rien bejigt, und als die, welche feine Nachbarn bei Laurentum 
haben. Die Bedürfniffe der kaiſerlichen Hofhaltung in bedeu- 
tender Entfernung von der Hauptjtadt find natürlich viel mannig» 
faltiger; hier erwarten wir außer den Wrivatgemächern des 
Kaijers große Säle und Anlagen für prächtige Feſte, eine An: 
zahl von Zimmern für das Gefolge und die vornehmen Gäjte 
und endlich viele einfache Kammern für Die Keibiwache und zahl: 
oje Sklaven. Daß ein Fürft mehr beanjpruchen fann und darf, 
al8 ein reicher Privatmann, lehren aud die Schlöfjer Friedrichs 
des Großen, der bei Potsdam außer dem Stadtjchloffe und 


(53) 


54 
Sansjoucinoc) das Neue Balais mit faft zweihundert Zimmern und 
dem früheren Dienerjchaftsgebäude der Communs erbaute. 

Seitdem Hermann Winnefeld eine genaue Bejchreibung 
der einzelnen Räume und einen Einblid in die Eintheilung der 
Billa Hadriang gegeben hat, bleiben noch manche Räthjel zu 
löſen übrig, aber die Ueberzeugung muß der Leſer gewinnen, daß 
das Einzelne und das Ganze jeinen vernünftigen Grund und 
Zwed gehabt hat und Niemand mehr von Hadrians Billa jagen 
fann, fie ſei „das bizarrejte Bauwerk, das ſich denfen läßt, ein 
Iprechendes Abbild feines unharmonifchen Seins“. Früher ift eine 
Stelle im jechsundzwanzigjten Kapitel Spartiang dem richtigen 
Berjtändnifje Hinderlich gewejen, welche jo lautet: „In jeinem Land: 
gute bei Tibur jchuf er ein Wunder der Baufunft, jo daß er 
in ihm die befanntejten Namen aus den Provinzen und Orten 
anjchreiben ließ und z.B. die Namen Lyceum, Akademie, Pry: 
taneum, Canopus, Pölile und Tempe gab. Er jtellte jogar, 
um nichts fehlen zu laffen, die Unterwelt dar.” Jeder Theil der 
Anlage mußte jeinen offiziellen Namen haben, und für die frem- 
den Bejucher war es auch wünſchenswerth, daß er äußerlich 
ſichtbar angeschrieben wurde. So jtand wahrjcheinlich an der 
jogenannten Pökile die verſtümmelte Injchrift, welche fie als 
Portikus (vielleiht porticus triumphi) von 1450 Fuß Umfang 
bezeichnete. 

Außer jolchen Gattungsnamen wählt der weitgereijte Kaiſer 
auch Eigennamen, bejonderd aus Griechenland, aber der Bio- 
graph jpriht nur von Namengebung und berechtigt uns nicht 
zu der Annahme, daß Hadrian die genannten Dertlichkeiten 
möglichjt getreu nachgeahmt habe, etwa wie es in unſeren 
größeren Städten mit Venedig und Kairo gejchehen iſt. Dazu 
würde e3 auch nicht paljen, daß ſich in den angeblichen Nad)- 
bildungen griechiſcher Bauten römische Gewölbe finden. Den von 


Spartian überlieferten Namen bat Pirro Ligoriv im 16. Jahr: 
(54) 


55 


hundert mit einiger Kühnheit in den vorhandenen Ruinen ihren 
Platz zugewiefen und jogar noch ein Kynojarges und Elyfium 
dazu erfunden. 

Dieje Bezeichnungen Ligorios werden noch heute gebraucht, 
obwohl er nur bei Canopus und Tempe das Richtige getroffen 
zu haben fcheint. Der Name des ägyptiichen Canopus fommt 
billig dem Theile der Villa zu, in welchem viele ägyptifche 
Skulpturen gefunden find, und wenn eine von den beiden 
Thälern das Tempethal hieß, jo muß es das größere im 
Norden fein. Freilich hält e8 einen ernjthaften Vergleich mit dem 
wildromantijchen Durchbruchsthale des Peneus nicht aus, aber 
feine Ufer fallen doch iiber 25 m ziemlich teil ab, und von 
dem Ausfichtsthurme an feinem Rande jah man in eine ziemlich 
bedeutende Tiefe. Die andern Namen werden ji), fall nicht 
injchriftliche Funde einen fichern Anhalt bieten, niemal® mit 
Sicherheit einzelnen Theilen der Billa zuweiſen laſſen. Wenn 
aber die Bejtimmung der Gebäude ihre Benennung veranlaßte, 
jo dürfen wir erwarten, daß ein Situngsjaal Prytaneum, zwei 
künſtleriſch ausgeſchmückte Gymnafien Akademie und Lyceum und 
eine auf der einen Eeite offene Halle mit Tafelbildern oder auch 
Freskogemälden Pökile hieß. Wie weit der Stil, die Größe 
und die Ausftattung der genannten Bauten ihren athenijchen 
Vorbildern entſprach und entjprechen follte, ift nicht zu jagen. 

Daß Hadrian jelbft den Plan feines Landfiges entworfen 
hat, unterliegt feinem Zweifel, und eben jo wenig, daß er während 
feiner Reifen auf Grund der neuen Eindrücde einzelnes geändert 
bat. Das zeigt vor allem „Sanopus”, denn Megypten, das er 
fi Hier zum Vorbild genommen hat, war ihm vor dem Jahre 
130 ganz unbefannt gewejen; aber auch fonjt ijt der ganze 
mittlere Theil der Billa gewiß anders ausgeführt, als er im 
Jahre 118 entworfen ift. Die meijten Vorwürfe, die bei ober- 
flählicher Betrachtung des Grundrifjes gegen die Negellofigfeit 


(65) 


56 


erhoben werden, widerlegt der Augenfchein an Ort und Stelle 
oder die Höhenlinien auf der Winnefeldichen Ueberfichtstarte. 
Hadrian verjtand ja regelmäßig zu bauen und hat die Sym- 
metrie beim Tempel der Venus und Roma und beim Kaiſer— 
grabe bis ins einzelne durchgeführt, aber bei jeinem Landfige 
bat er mit gutem Grunde das Schema des pompejanifchen 
Normalhaufes oder das ſonſt bei Schlöffern befolgte eines Huf: 
eiſens oder Roſtes verihmäht und ſich möglichft nach) dem 
einmal gewählten Bauplaße gerichtet. 

Die eigentlichen Wohngebäude find der große Sommer: 
palaft im Nordoſten, der fi auf der Höhe am Rande des 
nördlichen Baches Hinzieht und in feiner Richtung durch deffen 
Thal, das wir Tempe nennen wollen, bejtimmt ift, und ein 
fleinerer Winterpalajt im Südweften, am Abhange des 
Heineren Bades im Süden. Ein Blick auf die Höhenfchichten- 
farte zeigt, weshalb die Richtung beider eine etwas verjchiedene ift. 

Der große Balaft im Norden ift etwa 350 m lang 
und von Anfang an für den Aufenthalt in den heißen Monaten 
eingerichtet, die der Kaiſer nicht auf dem Palatin verleben 
wollte. Die Fenſter, Terrajjen, Balkone und die große äußere 
Eredra öffnen ji) nad) der im Sommer fühljten Seite, nad) 
dem ZTempethale, hin, und zahlreiche Fontänen im Innern, fowie 
Wafjerbeden zwijchendem Thale und dem Haufe jpendeten Kühlung ; 
jelbjt in den Unterbauten glaubt man noch Korridore zu finden, 
in denen der Kaiſer bei bejonders heißem Wetter ſpazieren 
gehen Fonnte. 

An feiner höchſten Stelle im Süden, ganz nahe an der 
Terrafie des Tempethales, liegen die eigentlihen Wohnräume 
de3 Kaijers hinter einem großen, offenen Hofe von 52 m 
Breite und 62 m Länge. Diejer ift vou einer zweiſchiffigen Säulen» 
halle umgeben, die niedrig genug war, um reichlich Luft und Licht 
einzulaffen. Die Säulen aus Granit und Cipollin, jowie der 


> 


57 


Marmorfußboden in der Halle find vollftändig verichwunden, 
aber wegen der hier gefundenen werthvollen Dekorationen hat 
der Hof den Namen Piazza d'Oro erhalten. An die Mitte 
feiner Südfpige grenzt ein ahtediger Raum, der nach den 
Unterfuchungen Daumets und Winnefelds von einer Kuppel 
überdedt war. Sie ift in ihren VBerhältniffen dem von Hadrian 
neuerbauten Pantheon gleich, aber natürlich viel Kleiner, denn 
bier beträgt die Gejamthöhe der Wand bis zum Kuppelanjag 
etwa 8,70 m und ijt dem Radius der Kuppel gleich, während 
beim Pantheon die Höhe der Wand 21,86 m und der Radius 
der Stuppel 21,77 m beträgt. Aber Hadrian hat hier und an 
zwei anderen Stellen der Billa das Problem zu löſen verjucht, 
die Kuppel auf einwärts geſchwungene Wände aufzufegen, die 
unten in Säulen aufgelöjt find und fich zu vier Pfeilermafjen 
vereinigen. Sein Licht empfing der Saal nur durch eine mit 
Glas verjchloffene Deffnung in der Mitte der Kuppel. In den 
vier Pfeilernifchen und in der Apfis befinden ſich Wafjerbeden, 
einjtmal® von zierlichen Statuen umgeben, zwijchen denen das 
Waſſer aus den noc) erhaltenen Röhren hervorraufchte. Fuß: 
boden, Wände und Säulen waren mit buntem und weißem 
Marmor bekleidet, über den Säulen befand fid) ein Marmorfrieg, 
der Eroten im Kampfe mit wilden Thieren oder auf Meeres» 
ungeheuern reitend zeigt. Der Fußboden läßt in der Mitte 
noh den Pla für eine größere plaftiiche Gruppe erkennen. 
Hier war der Raum, wo der Kaiſer fern vom Geräujche des 
Tages in behaglicher Kühle die heifen Stunden verbringen 
fonnte. Die ebenfall3 mit gewölbten Deden verjehenen Zimmer 
auf beiden Seiten des Stuppeljaales waren ebenjo Eojtbar aus— 
geftattet, wie diejer jelbjt, und dienten gewiß auch nur als 
Privatzimmer des Kaiſers ſelbſt. Bon dem großen Hofe der 
Piazza d'Oro aus gelangt man auf der Dftjeite zu einer großen 


Eredra mit Sigplägen im Freien, von denen man auf die im 
(57) 


58 


Tempethale liegende Gartenterrafje mit einem großen Wajjer- 
behälter und darüber hinaus auf das Gebirge jieht. 

Mit Abficht iſt die faiferliche Privativohnung von den 
übrigen Theilen des Nordojtpalajtes getrennt; nur eine Säulen« 
halle führt von der Piazza d'Oro in den mittleren Theil 
des Nordojtpalaftes, defjen jiidliche Räume einen vben mit flacher 
Dede gejchloffenen Pfeilerſaal (Bafilica) von 32,20 m Länge 
und 23,20 m Breite umgaben, der ſehr zierlich in koſtbarem 
Material ausgeführt war; daneben lag als Durchgangsraum 
zur Piazza d'Oro eine mit Wafjerbeden gezierte Gartenanlage, 
die man früher als Decus Corinthius bezeichnete. Eine größere 
Gartenanlage, die nad) Weiten bi8 an die Grenze des Pa— 
laites reicht, unterbricht weiterhin den Bau. In feiner nörd» 
lichen Hälfte liegt noch ein schöner Epeijefaal (Trielinium) 
mit Säulen aus Travertin und vergoldetem Studüberzug; 
von den fünf werthvollen Mojaiten des Fußbodens iii nur 
noch das Kentaurenmofaif ficher befannt, welches fich jet im 
Berliner Muſeum befindet, doc) jcheinen auch noch drei Thier- 
bilder des Batifan hierher zu jtammen. In unmittelbarer Ver: 
bindung mit dem ZTrielinium jteht eine Treppe, durch die man 
zu ſchön ausgejtatteten Subjtruftionsräumen gelangt, die bei 
großer Hige einen angenehmen Aufenthalt boten. 

Der von forinthiichen Marmorjäulen umgebene jogenannte 
Bibliothefshof von 65,75 m Länge und 49,35 m Breite läßt 
nur eine jchmale Verbindung des mittleren Theile8 mit dem 
nördlichjten übrig. Die vor ihm liegenden Räume ‚find un- 
regelmäßig gebaut und heißen Bibliotheken, weil fie viele 
Heine Nijchen haben, die fie zur Aufftellung von Büchern geeignet 
machten, und weil fie wegen ihrer Lage nach Nordojten ziemlich 
den Borjchriften entiprachen, die Vitruv für die Anlage von 
Bibliotheken giebt. Offenbar find fie nachträglich entſtanden 
und follen den Uebergang vom öjtlichen Theile der Faſſade zu 


(58) 


59 


der ganz ander ovrientirten fjogenannten Pökile vermitteln. 
Uebrigens trugen fie ein zweites Geſchoß, deſſen Reſte noch 
jest, weithin fichtbar, die niedrigen Trümmer der Billa über: 
ragen, und oſtwärts befand jich ein noch höherer, thurmartiger 
Bavillon, der weit über den Abhang des Tempethales vor» 
fpringt. Bielleicht diente er al® Sternwarte, bot aber auch am 
Tage den weitejten Blid auf das Thal und die Sabinerberge. 
BZwijchen den jogenannten Bibliothefen und dem öjtlichen Bau 
ift der Haupteingang des ganzen Nordpalaftes, denn die von 
Weiten her führenden Thüren waren für die Dienerjchaft oder 
wenigitens für den inneren Verkehr bejtimmt. Unmittelbar 
vor den Bibliotheken befindet fich die jogenannte Bibliotheks: 
terrajje, von der man auf mehreren Stufen zweier Treppen zu 
einer Gartenterrafje hinabjteigt; über fie hinweg hat man einen 
freien Blid nach Norden, den man jchmwerlich durch eine Säulen» 
halle beſchränkt haben wird. 

Diejer Hauptpalaft Hadrians ijt feit längerer Zeit wohl: 
befannt, und da der Pla von der italienischen Regierung 
zwangsweile im Jahre 1871 angefauft ijt, gründlich durch: 
forjcht und ftet3 der weiteren Forſchung und dem Beſuche der 
Fremden zugänglih. Der Eleinere Balajt im Südweſten 
dagegen, welchem Ligorio den unzutreffenden Namen Akademie 
beilegte, ijt no) im Privatbefig und in der Zeit, wo die Felder 
bebaut find, nicht immer zu betreten. Die meijten Fremden 
begnügen ſich damit, den am weitejten nach Norden voripringenden 
Ausjihtsthurm „Roccabruna”, der früher ein von jechzehn 
borifchen Säulen getragener Rundbau war, von unten zu bejehen. 

Diejer Ausfichtstäurm ift der nördlichjte Theil des Süd: 
weftpalaftes, den der Kaijer fich neben dem Nordpalajte mit 
wärmeren, nach Südwejten gelegenen Zimmern erbauen ließ. 
Er dachte wohl jhon damals daran, jpäter auh im Winter 


außerhalb Roms zu wohnen, vielleicht aber wollte er auch den 
(59) 


60 
Pla zu einer gejonderten Hofhaltung für jeine Frau oder 
feinen Nachfolger Schaffen, wozu der Norbojtpalaft nicht aus— 
reichte. Für einen längeren Aufenthalt des Kaiſers jelbjt würde 
der Südweftpalaft allein nicht groß genug gewefen fein, noch 
viel weniger aber würde er ſich als „Akademie“ zu Vorträgen 
der Philoſophen geeignet haben. 

Sein größter Raum ift ebenjo groß, wie die Piazza d'Oro 
des Hauptpalajtes, ein länglicher, von einer Säulenhalle um— 
gebener Hof, der im Weſten von der Gartenterrafje am Bache 
begrenzt und auf den drei anderen Seiten von Gebäuden um- 
geben war. In der Mitte feiner Nordjeite, nad) Südweſten 
gewendet und durch die Säulenhalle auch gegen den Wind ge- 
Ihüßt, liegt ein noch bi8 zum Kuppelanjag erhaltener Rundbau 
mit vielen angrenzenden Gemächern, die fir eine Brivatwohnung 
des Kaiſers pafjen würden. Ein anderer Kuppelſaal erinnert 
in der ganzen Anlage an das faiferliche Zimmer in der Piazza 
d'Oro und ragt wie dieſes aus dem Palaſte heraus auf Die 
Sartenterraffe. Dieje ift nach Weiten dur Mauern geftügt 
und reicht noch 300 m nad) Norden bis zu dem oben genannten 
Ausfichtsthurme. 

Weil man überall die Nahahmung griechiſcher Bauten 
witterte, hat man ihn als eine Nachahmung des Thurmes in 
der Nähe der athenischen Akademie betrachtet, auf welchen fich 
der Menjchenfeind Timon zurücgezogen haben fol. In Wirk: 
lichkeit ift er das Gegenftük zum Pavillon am Qempethale, 
denn man hat von feinem zweiten Stodwerf die jchönjte Aus: 
jiht über die Billa, Tivoli, die ganze Campagna und Rom 
jelbjt. Durch einen mäßig hohen Bau auf dem nur 100 m 
hohen Vorſprunge konnte der Kaiſer feinem Landfige einen 
neuen Weiz verjchaffen, den er jelbjt, der den Aetna und 
Caſius der Ausficht wegen beitiegen hatte, am beften zu jchäßen 
wußte. 

(60) 


61 


Außer den beiden Wohngebäuden befinden fi) auf dem 
Gebiete der Billa zahlreihe Einzelbauten, deren Beitimmung 
nit immer verſtändlich iſt. Die meiften find von beiden 
Schlöſſern aus gleich bequem zu benußen, doch jcheint jedes 
jein befonderes Theater gehabt zu haben. Am beiten erhalten, 
aber theilweije verfchüttet ift das, welches ganz im Südweften, 
etwa 140 m vom Wejtpalajte entfernt if. Seine Bühnenwand 
iſt 50 m lang, die Orcheftra bildet einen Halbfreis von 16 m 
Durchmefjer; die Bühne war mit Säulen gejchmücdt, bejonders 
aber mit plajtiichen Kunftwerfen, da zur Zeit Aleranders VI. 
bier neun jigende Mujen ausgegraben find, von denen ſich acht 
jegt wahrjcheinlih in Madrid befinden. Die Sipftufen und 
Treppen de3 Zujchauerraumes waren mit Marmor belegt, vor 
allem aber war die faijerliche Loge mit fojtbarem Marmor, 
einer Säulenhalle und einem Rundbau im Hintergrunde aus: 
geihmüdt. Etwas größer als diejes fcheinen die beiden Theater 
am nördlichen Eingange der Billa gewejen zu jein, die zum 
Nordoitpalaft gehörten, von denen aber das eine ganz ver- 
ſchwunden, das andere jehr zerjtört iſt. 

Die anderen Bauten liegen zwijchen den beiden Baläjten, 
und zwar jtehen die meiften in unmittelbarer Verbindung mit 
dem Hauptpalafte. Aus der Südweſtſeite des Bibliothekſaales 
beraustretend, fommt man in einen merkwürdigen Rundbau 
von 42,5 m Durchmefjer. An feiner Umfaffungsmauer befand 
fi eine überwölbte Säulenhalle, diefe umfchloß einen 4,80 m 
breiten und 1,27—1.47 m tiefen Kanal, der eine freisrunde 
Injel von 25 m Durchmefjer umgiebt, die als elegantes Haus 
mit einem Atrium in der Mitte eingerichtet ift. Früher hielt 
man den Kanal für das MWejentlihe und nannte den Raum 
ein Schwimmbaifin oder teatro marittimo; ſeitdem Spuren 
von Brüden gefunden find, durch deren Drehung man den 


Zugang von der Säulenhalle verjperren konnte, nimmt man nad 
(81) 


62 


dem Borgange Sebaftiani® an, ber Kaiſer habe hier irgend 
eine berühmte, aber nicht mehr zu bejtimmende Injel nachgeahmt. 

Der räthjeldafte Rundbau vermittelt den Uebergang zwiſchen 
der Borderjeite des Nordweitpalajtes und dem Bauwerke, das 
durch feine Ausdehnung die Aufmerfjamfeit jedes Beſuchers 
erregt und dem Ligorio den unpafjenditen von allen Namen gab, 
wenn er es als Pökile bezeichnete. Wir ftehen vor einer 
hohen, etwa 200 m langen Mauer von 0,75 m Dide, die ziemlich 
genau von Weiten nad Often geführt und nur in der Mitte 
durch ein breites vierediges Thor unterbrochen ift. Sie war 
die Trennungsmauer einer Doppelhalle, die im Norden 8 m, 
im Süden 7,3 m breit war und auf jeder Seite von vierzig 
Säulen getragen wurde. Die beiden Eden der Mauer find 
abgerundet, und die Halle war um fie im Dreiviertelfreife 
bequem herumgeführt. Es Handelt fi) hier natürlich nicht um 
eine Nachahmung der viel Fleineren, nur auf einer Seite offenen 
Gemäldehalle auf dem Markte von Athen, fondern um die auf 
der verjtümmelten Injchrift genannte „Säulenhalle von 1450 
Fuß Umfang” (S.54). Es war eine ausgedehnte Fahrbahn, 
die bei Plinius gestatio in modum circi heißt, in der man be- 
jonders bei jchlechtem Wetter mit Eleinen zweilpännigen Wagen 
Ipazieren fuhr. Auf der Nordjeite bot fie an heißen Tagen 
Schatten und Kühlung, auf der Südjeite im Winter volle Sonne 
und Schub geaen die Nordwinde. 

Unfangs vielleiht nur von einfahen Parkanlagen um— 
geben, ift fie auf der gegen die falten Winde gejchügten Süd— 
jeite durch eine rechtedige Anlage erweitert, deren Schmaljeiten 
ausgejchweift find und die gut 140 m breit if. Um für fie 
den Raum zu gewinnen, mußte das ganze ſüdweſtliche Viertel 
durch Unterbauten auf die gleiche Höhe mit der erjten Säulen» 
halle gebracht werden. Die Umfafjungsmauern, die jogenannten 


Cento Camere, jtiegen in drei oder vier Stocdwerfen vom Thal- 
(62) 


63 





boden an und waren zur SHerftellung einer Menge von ein. 
fachen Gelafjen benußt, in denen eine große Anzahl Sklaven 
oder auch die Leibwache unterfommen konnte. Durch die Unter- 
bauten aber war der Raum im Süden der Mauer ungefähr 
30000 qm groß geworden, und wurde dann in der Mitte mit 
Gartenanlagen und einem weiten Baſſin geſchmückt, auch von 
einer gededten Fahrbahn von fait 700 m Länge umgeben. 
Seit Hadrian hier auch den Winter verlebte und bejonders 
feit fein Leiden ihm das Gehen erjchwerte, muß die Anlage 
jüdblih von der „Pökile“ ihm den angenehmften Aufenthalt 
geboten haben. Mehrere Zimmer öffneten jih nah ihr Hin, 
und zu der großen Gartenanlage, die vielleicht den dafür üb» 
lihen Namen hippodromus trug, gehörten auch die anderen 
zwijchen der Pökile und dem Nordweitpalaft liegenden Bauten, 
deren Mauern diejelbe Richtung wie die Pökile haben, nämlich 
ein Stadium mit glänzenden Nebenräumen und der jogenannte 
heilige Bezirk. 

Die zweite Gruppe von Anlagen zwiſchen den beiden 
Baläften erhält ihre Richtung dur) das Thal, das fich von 
Norden nad) dem Südweitpalafte Hinzieht. Hier liegen zunächit 
zwei Babdeanlagen, von denen die nördlichen, die Kleinen 
Thermen, am beiten erhalten, aber theilweije noch verjchüttet 
find. Weiterhin ift das Thal von jeitlihen Stüßbauten gerad» 
linig eingefaßt und durch eine große Eredra abgejchloffen mit 
Flügelbauten, die bi8 an den Südweſtpalaſt reichten. Der 
ursprünglich hier begonnene Bau ift nad) der ägyptifchen Reife 
im Jahre 130 verändert und die Ausstattung des dann ent 
ftandenen Baues zeugt von dem tiefen Eindrud, den Das 
BVharaonenland auf den Kaifer gemacht hat. Noch erhaltene 
Münzen ftellen ihn dar, wie er mit der Iſisklapper einem Ibis 
gegenüberfigt oder wie er dem Jupiter Serapis die Hand reicht. 


Auch in diefem ganzen Thale haben fi) als Erinnerung an 
(68) 


64 
Aegypten eine Anzahl ägyptifirender Statuen von ſchwarzem 
Marmor gefunden, deren Anweſenheit die Uebertragung des 
von Spartian überlieferten Namen? Canopus auf diefen Theil 
ber Billa rechtfertigt. 

Nun aber erzählt Strabo (17,17) von der unterägyptijchen 
Stadt Canopus, fie befite einen berühmten Qempel bes 
Serapis, den jelbit viele angejehene Männer bejuchten, um dort 
im Traum Heilmittel gegen ihre Krankheit zu erfahren. Dann 
fährt er fort: „Sehr bedeutend aber iſt die Schar der Pilger, 
welche aus Wlerandria auf dem Kanal heranfahren. Tag und 
Nacht wimmelt e8 von Männern und Weibern, die theil in 
den Barken dem Flötenjpiel zuhören und tanzen nach Herzensluft 
in zügellojer Ausgelaſſenheit, theil® auch in Canopus jelbit 
in der Nähe des Kanals Wirthshäufer finden, die zu dergleichen 
Teiten geeignet find.“ Zwar befinden fi) in dem länglichen 
Thale Dekorationen, die fih auf das Waſſer beziehen, und 
viele Ausflußftellen für Wafjer, wie in allen Theilen der Billa; 
ed macht aber nicht den Eindrud, als ob fie dazu gedient hätten, 
den etwa 200 m fangen Raum unter Wafjer zu jegen. Wenn 
wir ung noch dächten, Hadrians erjter Adoptivjohn Verus 
hätte im Südweſtpalaſte rejidirt, jo fünnten wir ihn als Ber- 
anjtalter und belfebenden Mittelpunkt jolcher Feſtlichkeiten denken, 
durch die Canopus damals berühmt und beriüchtigt war. Im 
Hadrians Leben aber hatte das weibliche Element nie eine jo 
große Rolle gejpielt, am allerwenigjten feit dem Tode des An. 
tinous, und gerade dieſer Theil der Billa jtammt aus jeiner 
legten Zeit, wo der Wunſch nach Errettung und Heilung dem 
alternden und franfen Manne näher lag als die Nahahmung 
raujchender Feſte auf einem lächerlich engen Raume. 

So verdanft die an Aegypten erinnernde Anlage ihren 
Namen nicht den berühmten Feſten von Canopus, fondern dem 


dortigen Tempel des Serapis, in welchem ſich viele Leute zum 
(64) 


65 


Schlafen niederlegten, um im Traume für fi) und die Jhrigen 
die Mittel zur Genejung zu erfahren, ein jolches Serapis- 
heiliothum wird fi in dem füdlichen Rundbau von „Canopus“ 
gefunden haben. Canopus jelbit ijt dann eine bejonders für 
den Bewohner des Wejtpalaftes geeignete Gartenanlage, die 
durch ihre tiefe Lage und die umliegenden Bauten gegen Die 
Winde gut geihügt war. 

Wenn Spartiang Angabe richtig ift, kann ſich in einem 
der Kellerräume des Palaſtes oder in den unterirdifchen Gängen 
im Süden eine Nachbildung des Schattenreiches befunden 
haben. Die Trage nad) dem Scidjal feiner Seele hat den 
Kaifer natürlich auch viel bejchäftigt, und auf dem Sterbebette 
verfaßte er Verje, die fich wegen der zahlreichen Verkleinerungs— 
wörter nicht gut verdeutichen laſſen: 


Unitetes, zärtlihes Seelchen du, 

So lange des Leibes Gejellin und Gaft, 
Wohin, du arme, wanderſt du jeßt, 
Bleich, ohne Hülle, jhaudernd vor Froft? 
Bergibt du Scherzen und Kojen nun? 


Darjtellungen des Schattenreiches find ja im Alterthum 
nicht jelten, und ficher hat Hadrian das Bild Polygnots in 
Delphi gejehen. Wir können nicht errathen, ob er in der Billa 
die tröftenden Borjtellungen der eleufinischen Myjterien oder die 
Pedanterien eines ägyptiſchen Todtengerichtes darſtellen ließ, 
aber die Marterſcenen der Etrusker hat er gewiß verſchmäht, 
und ſicher war er nicht ſo geſchmacklos, daß er „durch das 
Klageſchrei gegeißeiter Verbrecher die Weherufe des Tartarus 
nachahmte“. “* 

Ueber den Grundriß der Billa und die wahrſcheinliche Be: 
ſtimmung ihrer einzelnen Theile ift vielleicht jchon mehr gejagt, 
als ohne die genauen Pläne Winnefelds verjtändlich iſt. Der 
Kaifer Hat eine regelmäßige Anlage nicht gewollt und hätte fich 


Sammlung. N. F XIII. 239/290. 5 (65) 


66 





für fie einen ganz anderen Bauplat ausjuchen müſſen. Die Lage 
der beiden Paläſte und von Canopus find durch die drei Thäler, Die 
Gartenanlage ſüdlich von der Pökile durd) die weftöftliche Richtung 
der großen Mauer bejtimmt. Für Ausjichtsthürme und Eredren 
find die günjtigjten Plätze ausgewählt, und jelbjt der unregel: 
mäßige Verlauf der Außenwände bietet den Bewohnern Geiegen, 
heit zum Ausblick nach den verjchiedenften Richtungen und dem 
Auge eine willlommene Abwechſelung. Suchen doch jogar die 
Wanddeforationen pompejanifcher Häufer die Täuſchung zu er: 
weden, als ob jid) an die bejchränften Innenräume des Stadt- 
haujes phantaftiiche und kühne Ausbauten anjchliegen und man 
durch die Fenſter ſchöne Landichaften Sieht. 

Wenn wir durch die einjamen, nur mit Grün belebten 
Trümmer Hlettern, haben wir Mühe ung vorzujtellen, daß hier einft 
bochragende, jäulengetragene Gebäude gejtanden habeu, etwa wie 
die, welche Daumets Fühne Rekonſtruktion veranjchauliht. Was 
ſich jegt den Blicken bietet, iſt Ziegelbau, ohne ausschließliche 
Berwendung einer der in den römischen Bauten fich findenden 
Arten, aber doch meistens „Retifulat mit durchbindenden Thon: 
ziegeljchichten”. Je nach dem Grade der verlangten Feſtigkeit ijt 
das Mauerwerk mehr oder weniger jtark, am ftärkjten bei den 
Grundmauern der großen Kuppelbauten. Einzelne Theile lajjen 
bei genauer Prüfung einen Umbau erkennen, andere eine eilige 
Entjtehung während der Anweſenheit des Kaifers. Der Ziegel: 
bau empfahl ſich nicht allein durch größere Billigfeit, er war 
auch gejünder. Uebrigens jah der Beſchauer die Ziegel nicht, 
da fie durch Platten von koſtbarem Gejtein, beſonders Marmor, 
oder durch Kalk: und Studverpuß verdedt waren, nicht aus- 
chließlich durch gemalte Dekorationen, die dem wenig be 
mittelten Beliger in Pompeji die Marmorjäulen, Tafelbilder, 
Statuen, Bronzen und Teppiche an die Wand zauberten. Dem 


Kaiſer lieferten die ägyptiſcheu Steinbrüche und andere, die in 
(66) 


67 
jeinem Befib waren, das fojtbarjte Material, aber die Hunderte 
von Säulen und Pfeilern, die der Verwitterung bis auf den 
heutigen Tag hätten widerjtehen können, find geraubt, um für 
andere Bauten verwendet zu werden oder in die Kalköfen zu 
wandern. Am wenigften verlodten zum Raube die Wandge- 
mälde, von denen noch im Jahre 1786 zehn gefunden jein follen; 
aber eine größere Anzahl ift hier nicht erhalten, weil fie nicht 
durch Erde oder Aſche plöglich verjchüttet und dadurch vor all- 
mählicher Zerftörung bewahrt find. Größer ijt die Zahl der 
Moſaiken, die ſich noc) in den römischen Sammlungen befinden, 
jo die drei Tauben auf dem Rande einer goldenen Schale, die 
augenscheinlich eine Nachbildung des einjt in Pergamon befindlichen 
Moſaiks find, ferner Thierbilder, Kentauren und fcenische Masken. 
Bon jelbftändigen Reliefs ift am befannteften das Antinous» 
Nelief in der Billa Albani und die Geburt des Erichthonios 
im Batifan. Die architeltoniſchen Ornamente, welche die ita- 
lieniſche Kommiſſion noch vorfand, find größtentheild in das 
Mufeum der Diokletiansthermen geſchickt und harren, dort ihrer 
Auferjtehung. 

Ganz bejondere Sorgfalt verwendete der funftfinnige Kaifer 
auch auf den beweglichen Schmud, wie Teppiche, koſtbare 
Vaſen, edle Steine, Bronzen und Statuen, aber da er an allen 
Orten des Reiches die Künftler bejchäftigte, find es nicht lauter 
Werle eriten Ranges gewejen, die in den lebten Jahren feiner 
Negierung in der Villa aufgeftellt wurden. Ganze Cyklen jcheinen 
auf feine Beftellung geliefert zu jein, Hermen berühmter Männer, 
Berjonififationen von Provinzen, die ung ja auch auf feinen 
Münzen und Medaillen fo oft entgegentreten. Bon Götter: 
bildern fcheinen Apollo und Dionyjos, der Neigung und dem 
Alter des Erbauers entiprechend, mehr vertreten gewejen zu fein, 
als Aphrodite, und den erjteren gejellte fich als neuer Gott und 


neues Kunftideal der Antinous Hinzu. Ueber die verjchiwende- 
5* (67) 


68 


riſche Fülle von Wafjer in den verjchiedenen Theilen des Palaſtes 
it Schon öfters gejprodhen, und die Ausjtattung der Gebäude 
mit kunſtvollen Mechanismen, der Gärten mit üppigen Pflanzen 
wird der der römischen Kaijerpaläjte und der von Plinius be- 
jchriebenen Villen nicht nachgejtanden Haben. 

Nah Hadrian wird die Villa als kaiſerliche Reſidenz nie 
mehr erwähnt, und bei ihrer Entfernung von der Hauptſtadt 
jcheint fie auch nur wenig benußt und allmählic) verfallen zu 
fein, bi im vierten Jahrhundert ein fleinerer Theil des Nord: 
palajtes mit Hilfe des vorhandenen Material3 ziemlich dürftig 
wieder zurecht gemacht wurde. Seitdem verjchwindet jie aus der 
fitterarifchen Ueberlieferung und ift im Mittelalter nicht allein 
durch die „Gothen“, welche unter Totilas Tibur belagerten, 
jondern viel gründlicher durdy die Nachbarn ausgeraubt und zer: 
ftört. In der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts gedenkt ihrer der 
große Humaniſt Papſt Pius II. in gefühlvollen Worten, aber 
die Nachgrabungen, die das wiedererwachte Intereſſe für das 
Alterthum veranlaßte, bezwedten nur die Auffindung möglichſt 
vieler beweglicher Gegenftände, und jolange das hier Gefundene 
Eigenthum des päpftlichen Fiskus werden follte, wurden die 
meijten Gegenstände heimlich entführt. Trogdem füllt das Ber: 
zeihniß der aus der Billa nachweislich jtammenden Kunſtwerke 
bei Winnefeld noch achtzehn Seiten und läßt ung die Bedeutung 
dejjen ahnen, was Hadrian durch jeine Bauten für die Kunjt 
des Alterthums gethan hat. Seit dem Jahre 1873 hat die ita- 
fienijche Regierung den größten Theil des bebauten Terrains an- 
gekauft und dadurch weiterer Verwüſtung und Berjchleppung zu— 
nächſt vorgebeugt. Der Südweſtpalaſt aber und die hinter 
ihm liegenden Bauten gehören zur Billa Bulgarini und find 
der wiljenjchaftlihen Durchforſchung immer noch wenig zu: 
gänglich. 


(68) 


69 





Soweit e8 ohne Bilder und Pläne möglich) war, habe ich 
die bedeutenderen Bauten Hadrians furz bejchrieben. Sie waren 
ohne Rückſicht auf die Kojten jo feft hergeſtellt, daß fie allen 
Unbilden der Zeit und des Wetters hätten troßen können, wenn 
nicht gerade die Koftbarfeit des Material3 die Menjchen ver: 
leitet hätte, da8 Erbe Hadrians zu berauben. Meiſtens find nur 
die werthlojeren Beitandtheile auf ihrem Plage geblieben, und die 
planmäßigen Ausgrabungen unferer Tage gefährden auch die 
bisher von der Erde gehüteten Schätze. Aber fie haben auch 
unjere Kenntniffe gemehrt, frühere Irrthümer aufgeklärt, uns 
einen höheren Begriff von ihrer Schönheit und Zweckmäßigkeit 
gegeben und die Zeit näher gerüdt, wo man fein ganzes 
fünjtleriiches Schaffen würdigen kann. 

Schon vor jeiner Regierung intereffirten ihn alle Zweige 
der Kunſt, aber als Herricher wendete er ſich hauptjächlich der 
Baukunst zu; er jtellte fi) und feinen Architeften im Gewölbe— 
bau die jchwerjten Aufgaben und Löfte fie in muftergültiger Weije. 
So hat er als begabter Dilettant die Mittel des wohl verwal« 
teten Reiches der Kunft zur Verfügung geftellt und ihr dadurd) 
zu einer neuen Blüthe verholfen, befjer als e3 irgend ein Bau- 
meijter von Beruf vermocht hätte. Und doc) würden die Bauten 
fein Ehrendenfmal für ihn fein, wenn fie ihn feinem eigentlichen 
Herrijcherberufe entfremdet hätten. Er jelbjt hat gewünjcht, ein 
riedenzfaifer, „ein zweiter Numa” zu werden, und im Tempel 
aller Götter zu Athen Hat er ſich gerühmt, das Glück feiner 
Unterthanen am beften gefördert zu haben. Dies Ziel hat er 
erreicht, darüber dürfen ung die einjeitigen Berichte über feine 
legten Lebens und Leidensjahre nicht täufchen; und ein wejent- 
liches Mittel zur Erreihung jeiner Erfolge waren neben ben 
Neuerungen auf dem Gebiete der Verwaltung, der Rechtspflege 
und des Heerwejens jeine Bauten. Durch fie hat er die Grenzen 


des Reiches gegen die Barbaren gejhüßt, neue Städte gegründet 
(69) 


70 


und die vorhandenen jchöner und wohnlicher gemadht. Auch 
abgejehen von feinen Verdienften um die Kunſt Hat fein anderer 
Kaijer, um mit dem Urtheil von Georg Ebers zu jchließen, die 
Hauptaufgabe feines Lebens, die Macht des Staates zu fejtigen 
und zu behüten und das Wohljein feiner Bürger zu fteigern, 
unbeirrter im Auge behalten als Hadrian. 


Anmerkungen. 


’ Von neueren Werfen find viel benugt: J. Dürr, Die Reijen des 
Kaijerd Hadrian. 1881. von Rohden in Pauly-Wiſſowa, Realencykl. ber 
Hafj. Alt.-Wiff. I. 1894. j. v. Aelius 65. 9. Schiller, Geſch. d. röm. 
Kaiferzeit. I. 2. 1883. Außerdem: V. Duruy, Hist. des Romains. V. 
1883. 5.0. Gregorovius, Der Kaiſer Hadrian. 1884. A. Hausrath, 
NReuteftam. Beitgeichichte. IV. 1877. ©. Hertberg, ©. d. röm. Raijer- 
reiches. 1880. ©. Griechenlands u. d. Herrſchaft d. Römer. II. 1868. 
E. Klebs, Prosopographia imperii Romani saec. I. II. III. pars 1. 
1897. TH Mommijen, Röm. Geſchichte. V. 1855. 2. von Rante, 
Weltgejchichte. III. 1885. Sittl, Ardyäologie der Kunft. 1896. Da die 
Beigabe von Abbildungen und Karten hier unthunlich war, iſt in den An« 
merfungen auf die am leichteflen zugänglichen Werfe vermwiejen. 

® Dionis Cassii historia Romana 69, 4, 2. 

’ Büften in vielen modernen Werfen, 3. B. Duruy © 5, Bau- 
meifterd Denfmäler. I. 621. Büſten der Heineren röm. Sammlungen 
bei 5. Map und Fr. dv. Duhn, Untife Bildwerfe in Rom. III. 1882. 
©. 258. Münzen bei 9. Cohen, Descr. hist. des monnaies frappees 
sous l’empire romain. II. 1859. Taf. 4—6. % Imhoof-Blumer, 
Borträtföpfe auf röm. Münzen. 1879. II. 34. W. Kubitſchek, Rund- 
hau über ein Quinquennium der ant. Numismatit. 1896. ©. 72. 

* Anthologia latina rec. Riese. I. nr. 392. 660. Epigrammata 
graeca ed. Kaibel nr. 811. Andere Stellen bei M. Schanz, Geſch. der 
rön. Litteratur. III. 1896. ©. 10 u. 11. Juhalt der Gedichte bei 
D. Ribbed, Geſch. der röm. Dichtung. III. 1892. ©. 316. 

® Reliqua vetera HS. novies mill. abolita. Eohen II. 1046—49. 
abgeb. Tafel 6. Paufanias I. 5 5. Ausgabe v. H. Hitzig u. H. Bluemner. 
1896. Auch die Anmerkungen jehr wertvoll. U. v. Wilamowip- 
Möllendorff, Hermes, Bd. 21. ©. 625. 

70) 


RL. 


® Eohen II. Taf. 6. 789, ähnlich 784—81l. Duruy ©. 18. 
Spartian 17, 9 u. 23, 1. Plew, Duellenunterj. 3. Geſch. des Kaijers 
Hadrian. 1880. ©. 93. 

? Spartian 16, 3—4, ambulare, der technijche Ausdrud für Marſch⸗ 
übungen. PBlew ©. 59, 1. Fr. Eyßenhardt, Hadrian und Ylorus. 
1882. S. 7, vielleicht pulices pati rotundos. W. Schurz, Militär 
reorganijation Hadrians. 1897 ergänzt als dritten Vers: latitare per 
rupinas. 

8 Reifen bei Dürr ©. 24—33. Thierliebe Spartian 20, 12. 
Aerzte Dio 69, 22, 4. Urtheil bei Fronto, Princ. hist. p. 25 ed. Naber. 

° Oracula Sibyllina V. 47 sq. VIII. 52 sq. Ich leſe mit ber 
Hdidr.: 53 wapw, 55 avilttes dvasvası. Meberjegung faſt wörtlid nad) 
Hausrath ©. 328—331. 

° Spartian 14, 8-11 (n. Marius Marimus); 17, 6-7; 20, 8; 
21.1, 
'ı Yurelius Victor, Caesares 14, 5, Fronto, Princ. hist. 206. 

? Baujanias I. 5, 5. Dürr ©. 73—88. Schanz ©. 9. 70. 
Peter, Die Script. hijt. Aug. 1892. ©. 49. 121—124. Plew ©. 6. 43. 
Spartian 20, 3. 

Theilweiſe Zerjtörung der Donaubrüde Dio 68, 13, 6. Adoption 
nad Zrajans Tode 69, 1, 3. Tödtung Apollodors 69, 4, 5. Plews 
Verſuch (S. 92), die Unrichtigkeit chronologisch zu beweiſen, mißlungen: 
Fabricius b. Pauly-Wifjowa, I. Ep. 2896. Tod des Antinous: Dio 
69, 11, 2 bezeihnet al8 Wahrheit, was Spartian 14, 6 ald Meinung 
Mehrerer bezeichnet. Vergl. auch Anm. 40. 

“ Pauſanias I. 18, 9, jummariih nad der Erwähnng des Dlym- 
pieion, weil fie ald neue Bauten in der von ihm benußten Periegeje nicht 
an der richtigen Stelle jtanden. A. Kalkmann, Paujanias der Perieget. 
1886. ©. 58. 

» Hermann Winnefeld, Die Villa des Hadrian bei Tivoli. 
Jahrb. d. Kaif. deutjhen Ardh.-Inft. Erg.-H. 3. 1895. 

ié Julii Capitolini Antoninus Pius 4, 8. Epartian 8, 3. 9. Sdiller, 
Röm. Alterthümer. 1893. ©. 107. 193. TH Mommſen, Röm. Staats- 
recht. III. 2. 1888. ©. 1144. Hirſchfeld, Unterj. a. d. Geb. d. röm. 
Berwaltungsgeihichte. S. 156. 291. 

” Dio 68, 13, 6. J. Jung, Römer u. Romanen in den Donau» 
fändern. 1887. ©. 22. Mommjen, R. ©. V. 208. Sdiller, R. © 
S. 553, 3. 607, 1. 

is E. Hübner, Römiſche Herrichaft in Wefteuropa. 1890. S 39—48. 
Die Eitate in dem von Hübner herausgegebenen fiebenten Bande bes 
Corpus Inscriptionum Latinarum. VII. 1873. nr. 486—952, und die 

(71) 


12 


Karte des Vallum Hadriani. Mommjen V. ©. 169. Duruy ©. 36, 
mit Plänen nad) bem mir nicht zugänglichen, aber von Hübner benußten 
Werk von Joh. Eollingwood Bruce, The Roman wall. 1867. C.I.L. 
VII. 660; Imp. Caes. Trajan. Hadriani Aug. Leg. II. Aug. A. Platorio 
Nepote leg. pr. pr. Ein im Jahre 1837 bei Borcovicium gefundenes 
Gefäß enthielt 3 Goldmünzen von Beipafian, 60 Denare von der Beit der 
Republik bis Hadrian, feine jpäteren. Spartian 11, 2. Seine Längen- 
angabe von 80 Millien = 118,3 km entjpricht ziemlih genau der wirk— 
lihen Länge von 125,6 km. 


 Epartian 12, 6. Dürr © 35. Mommſen V. 6.112 u. 141. 
Hübner ©. 82, 87, 91, 98. F. Dahn, Urgeihidhte d. germ. u. rom. 
Bölfer. II. 1881. ©. 167 u. 443, doch hat Hadrian in England die Haupt- 
jahe gethan, in Deutſchland nur an den Unfängen mitgearbeitet. In— 
ihriften und Münzen von Bedeutung find mir nicht befaunt. 8. Zange» 
meister, Neue Heidelb. Jahrb. V. 1895. ©. 60. 

» (6,1. L. III. nr. 1446 und ©. 415. III. 3676 oder Rieſe, 
Anthol. Lat. 606, und Dio 69, 9, 6. Mommſen, Hermes VII. 323. 
Yung ©. 79. Muria: C. J. L. II. ©. 415. Troesmis: III. 6166 
(Veteranen und cives consistentes ad canabas legionis V. Macedonicae). 
Phantaſtiſche Rekonftruftion von Baudry bei Duruy S.26. Dürr S. 35 

?! Arriani periplus Ponti Euxini 1. Mommſen V. 404. 595. 

» Daß Hadrians Maurenfriege hier geſchlagen find, ift nicht ficher, 
aber wahrſcheinlich. Zacitus II. 52: Mauros accolas. Gpartian 5, 2; 
5.8; 12,7. AJuvenal 14, 196. Mommjen V. ©. 646, A. 1. v. Rohden 
Sp. 505: im nÖrdlihen Mauretanien. Straße nad) Thevefte im Jahre 
124: C. I. L. VII. 10048, 10114. 


2 G Wilmanns, Die röm. Lagerjtadt Afrifa® (Comm. phil. in 
honorem Th. Mommseni. 1877). S. 190—212. Zu C.I.L. VIII. 2532 
(Ueberj. b. Eyßeuhardt ©. 12) ift die durch Burgolds Funde veranlafte 
Neubearbeitung im Suppl. II. 1894. ©. 1724 hinzuzuziehen. Stadtrecht 
ihon unter Antoninus Pius n, 18214, 18235. Bild des „Prätoriums“ 
b. Durun ©. 22. Zur Saderflärung: Phlew ©. 73 f. K. Schu- 
macder, Beilage der „Allgemeinen Zeitung”. 1897. Nr. 29. 


* Schiller ©. 624, 9. In Spanien in den Jahren 133—136; 
einzelne 121—123. Bon Merida nad Lifjabon (4633) und Salamanca 
(4656, 4658, 4659, 4661—64, 4668, 4669, 4678); von Braga nad Liffa- 
bon (4735—4739, 6211) und nad Aſtorga auf drei verjchiedenen Straßen 
(4779—80, 4521, 4825, 4839, 4841, 4849, 4857, 4867, 4877, 6231); 
in Braga (4747, 4743, 4752); in Bätica (4694); Straße von KRartagena 
nah Norden (6238). — Pauſanias 1, 44, 6. Dürr ©. 62, Nr 348. 

(72) 


73 : 


» Friedbländer, GSittengefchichte. III. 1881. ©. 131. Spartian 
20,6. Sarmizegetuja C.I. L. III. 1446. Bad beim Sager von Lambäfis: 
VIII. 2692, wahrjheinlih auch die Wafjerleitung in der Stadt: VIII. 
2657. Korinth: Pauſanias II. 3, 5. Hergberg, Griechenland II. 313. 

»* U. a. Spartian 20, 4. Dio 69, 12—14. Hausrath ©. 327 f. 
Sdiller ©. 612 f£ Mommfen V. ©. 544 f. Habdrianotherä: 
Spartian 20, 13. Dio 69, 10, 2. Die Münzen der thrafiihen Stadt 
zeigen Antinous m. d. Legende „Der gute Heros Antinous“: Head, Historia 
numorum. 1887. ©. 452. Lampridii vita Elagabali 7, 8. 

 Dio 69, 12—14. Hausrath S. 327 f Mommſen V. 
544—546 u. a. 

= Spartian 14, 5—8. Dio 69, 11, 2—4. Mitth. d. Arch. Inſt. 
Röm. Abth. XI. 1896. S. 113—121: U. Erman, Der Obelist des U. 
S. 122—130: Ehr. Hueljen, Das Grab des Untinous. Klebs I. 81. 
Palmyra C. I. G. 4482, 6015. Münzen b. Head: 290 Delphi, 437 
Bithynium, 439 Calchedon, 454 Kyzikus, 721 Nierandria. Schönjte Statue 
im Louvre, M. Eg. Zimmermann, Kunftgeihichte ©. 312. 

® Descr. de l’Egypte: IV. 1821. ©. 197—283. Tafeln 53—61. 
Barthey, Wanderungen. II. 513. Gregorovius ©. 473. Übers, 
Durch Goſen zum Sinai, ©. 606. 

” Hertberg Il. S. 299—358. €. Eurtius, Stadtgeihichte von 
Athen, 1891. ©. 265 f. und die Quellenfammlung. C. I. Atticarum 
III. 2, 319. €. Wachsmuth, Die Stadt Athen im Altertum. I. 1874, 
S. 2365 f. 

»1 O. IJ. A. III. nr. 464. Dittenberger im Hermes VII. 213. 
Hirjhfeld im Hermes VII. 55. 

” Spartian 13, 1. Dio 69, 16, 2. Dörpfeld und Reiſch, Das 
griehiihe Theater. 1896. ©. 98. C. 1. A. III. nr. 69a, 735, 1023, 
1120. Dittenberger |. c. 

» Dürrd Angaben auf ©. 46 u. 47 find durch zwei jpäter gefundene 
Anichriften ergänzt. von Rohden bei Pauly-Wiſſowa Sp. 507. 

* Areliuß Victor 14, 2. Dio 69, 16. Anthologia Palatina 14, 
102. ed. Dübner ©. 480. Kaibel, Epigr. Graeca, nr. 811. Kungıs Aıyein. 
Dürr, Anm. 300, Wr. 89, 90, Anm. 321. Pauſanias 8, 9, 7. 

** Pauſanias I. 18, 9. Ueberliefert: 120 Säulen. Schubarts Kon- 
jettur: 100. Xafel bei Duruy ©. 61. Eurtius ©. 266. 

» Rekonſtruktion bei Baumeifter I. ©. 286. Bei Duruy ©. 64 
mit faljcher Unterjchrift. C. I. A. III. nr. 401, 402. Belger im Archäol. 
Anzeiger 1896. ©. 44. 

»Thukydides VI. 54. Vitruvius VII. praef. 15. Vellejus Pat. 
I. 19. Plinius N. 9. 36, 4, 5. Sueton Aug. 60. 

(73) 


74 


” Mauer bed Beribolos: Semper, Der Stil, I. 361, 363. Pau- 
janias 1. 18,6. Wachsmuth ©. 689. Eurtius ©. 268. W. Dörp- 
feld, Mitth. d. d. Archäol. Inſt. Athen. 1886, ©. 332. 1891, ©. 334 
nah Penroſe. Bluemner zu PBaujanias ©. 214—217. 


* Philostrati vitae philosophorum 1, 25, 3. Gregoropius, 
Die Stadt Athen im Mittelalter, I. 1889. ©. 68. Beriht von 3. ©. 
Transfeldt, der den Tempel zuerſt erfannte, Mitth. d. d. Arch. Inſt. 
Athen. 1876. S. 109—112. 


Plutarch (Pericles 17) interejfirt fi) dafür als Zeitgenoſſe Hadrians. 
C.L.A. III. 12, 13, 15, 16, 17. Bauten norböftlih vom Marfte. Mitth. 
d. d. Arch. Zuft. Athen. 1890. S. 464. Dörpfeld, ebenda 1896. ©. 464. 
Dio 69, 16 verjteht unter „Olympion“ und „Banhellenion“ dasjelbe, was 
Paujania 1, 18, 6 u. 9 mit „Tempel des Zeus Olympios“ und „Tempel 
bed Zeus Panhellenios“ bezeichnet. 

don Duhn, Mitth. d d. Arch. Inſt. Athen. 1877. ©. 46. 
Biller, ebenda ©. 120—131. 

#2 0,1. A. III. 464—469. Pauſanias I. 3, 2; 24, 6. Ueberſicht 
C.1. A. III. 2. S. 309. Olympios zuerjt 131 (nad) der ägyptiſchen Reife): 
von Rohden I. Sp. 500. 

* Plan von Rom: Formae urbis Romae antiquae del. H. Kiepert 
et Ch. Huelsen, 1896 mit genauen Stellennadjweijen. Abbildungen u. a.: 
Arthur Schneider, Das alte Rom. 1896. Tafel 11 u. 12. F. Reber, 
Nuinen Roms. 1863. Richter, Topographie von Rom, im Hdbch. d. 
A.-W. II. 1889 (2. Aufl. im April 1898 noch nicht erjchienen), Middleton, 
The remains of ancient Rome. 2 Bde. 1892, H. Jordan, Topogr. d. Stabt 
Rom. 1.2. 1885, Dtto Gilbert, Topogr. d. Stadt Rom. III, Jahres- 
berihte von Ehr. Hueljeu in den Mitth. d. d. Arch. Inſt. Röm. 
Abth., alle an vielen Stellen. Spartian 5, 9. Dio 69, 2, 3. Athenäum 
vergl. Hueljen b. Pauly-Wiſſowa, II. Sp. 2023. Aurelius Bictor 14. 

“Dio 69, 7, 1: Gerichtsjaal. Hof. Sturm, Das faijerl. Stadium 
a. d. Balatin. 1888. Fr. Marx, Arh. Jahrb. X. 1895. ©. 129. 
Huelfen, Mitth. X. 1895. ©. 276. 

“5 Spartian 9, 1 meint mit theatrum vielleicht dasjelbe wie Dio 68, 7 
mit hippodromus. 

* Div 58, 27. Jordan II 125. Schneider IX. 9. 

7 Das Pantheon in allen Handbüchern. U. Michaelis, Preuß. 
Jahrb. 1893. Bd. 71, ©. 208. D. Richter, Arch. Anzeiger. 1893. ©. 1. 
%. Adler, ebenda ©. 125. Hueljen VII. 1893. ©. 3127. 

“ Dio 53, 27, 2; 69, 7, 1. GSpartian 18, 1. 

* GSpartian 19, 13. 

(74) 


75 


% Breller-Jordan, Röm. Mythologie. 1°. 444. Sueton, Aug. 94, 
Abſ. 7. Dio 45, 2. 3. Kenner, Gitungsber. d. Wiener Alad. 1857. 
24. S. 253. 

9. Nijjen, Templum. 1866. ©. 201 fließt aus der Tempelage, 
daß der Tempel am 28. April geweiht ift. Seine Theorie bleibt richtig, 
auch wenn wir nad Athenäus VIII. 361 den 21. April annehmen, da ein 
Irrtum von 3° fehr leicht möglih. Dio 69, 4. von Rohden I Sp. 508. 

= Tempel der Benus und Roma in der Beſchreibung der Stadt Rom 
von €. PBlatner III. 1. 1837 (von Niebuhr im Jahre 1820. Bau- 
meifter, Denkmäler, I, Tafel IV, zu S. 289 u.1490. 3. Burdharbdt, 
Eicerone, I’. 20. Münzen bei Middleton II. 221, Eohen II. 767, 
1146—1149. Fr. Map und F. von Duhn, Antike Bildwerfe in Rom, 
III. 1882. Nr. 3519. 

s Dio 71, 31. Cohen II. 460—463, 506, 507, 1093—1094. 
Mag und von Duhn I. 722 (BP. Bidoni) vergl. 711. III. 4111 (PB. Barbe⸗ 
rini) vergl. I. 661. Servius ad Aen. II. 227. Prudentius ad Sym- 
machum II. 221. 

*Engelsburg: Dio 69, 23, 1. C. I. L. VI. 984. Die Schrift von 
Mariano Borgatti, Castel $. Angelo in Roma, 1889, fenne ich nur 
aus Hueljen, VI. 1891, ©. 137, Middleton, II. 292 u. Schneider, 
XII. 20. $ordan II. 430. Friedrich Wolters, Gipsabgüfje antiker 
Bildwerke. 1885. Nr. 1401. 

55 Engelöbrüde bei Huelſen VII. 321. 

® Plinii epistolae II. 17, V. 6. Philostrati vita Apollonii Tyanei 
II, 8, 20 wohl übertrieben. Spartian 25, 5. 

* Meben dem überall benugten Buche Winnefelds (Aum. 15) 
find alle älteren wenig zu gebrauden. Doch vergl. 2. Meyer, Tibur. 
1883. Daumets Refonftruttion des Hauptpalaftes bei Duruy ©. 102. 
Bur Drientirung der Plan in Bädelers Mittelitalien. 

» Chr. Marz, Arch. Jahrb. X. 1895. ©. 138. Winnefeld, 
Arch. Anz. 1895. ©. 235. Hueljen, Ard. Anz. 1896. I. ©. 47. 

” GE. Rohde, Pſyche. 1894. ©. 293. Preller-Jordan, Röm. 
Mythologie II. 73. Pauſanias 10, 28, 5. 


Friedrich von Spee 


und die Hexenprozeſſe feiner Beit. 


Von 


Theodor Ebner 


in Heilbronn. 


Hamburg. 
Verlagsanftalt und Druderei A.G. (vormals 3. F. Richter) 
Königliche Hofbuchdruderei. 
1898. 


Das Recht der Ueberfegung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 


Drud der Berlagtanftalt und Druderei Mctien-Gehellichaft 
(vormals J F. Richter) in Hamburg, Königlihe Hofbuchbruderei. 


Nenn ich es verjuche, da3 Bild eines Mannes zu ent: 
werfen, auf den man von Fatholijcher und proteſtantiſcher Seite 
gleichberechtigte Anfprüche erheben kann, jo bin ich dabei weit 
entfernt, mich in ein Beurtheilen oder Abſchätzen diefer Anſprüche 
einzulaffen, hier, wo fi die Wege beider Konfeſſionen fo 
friedlich vereinigen auf ein Ziel, das eines werkthätigen Chriften- 
thums der Liebe und der Duldſamkeit. Denn der Jeſuit 
Sriedrih von Spee, von deſſen Leben und Wirken im 
Rahmen feiner Zeit ich heute gerne fprechen möchte, war neben 
jeinem edlen Glaubensgenojjen und Ordensbruder Vinzenz von 
Paula ein Mann, der in ftillem, menfchenliebendem Wirken 
wohl ſtets jeine Religion mit frommem Eifer vertheidigte, fich 
dabei aber feineswegs zum Haß und zur Verfolgung gegen 
Andersdenkende verleiten ließ. Der Hintergrund feines Lebens— 
bildes ijt freilich ein düjterer und grauenvoller. Inquifition 
und Hexenprozeſſe auf der einen, der dreißigjährige Krieg 
mit all’ feinen Greueln auf der anderen Seite, troftlofe Dede 
und Verblendung im wifjenfchaftlihen und geiftigen Leben, 
Noth, Elend und Armuth als die treuen Begleiter des Krieges, 
Verzweiflung und dumpfe Gleichgültigfeit neben moralijcher 
Verderbniß als eine Frucht der Inquifition, fürwahr ein weites 
und fruchtbares Feld für einen Mann von der Eigenjchaft und 


Stellung eines Friedrich von Spee. 
Sammlung. N. F. XIII 291. 1* (79) 


4 


Die Eigenjchaften, die wir an ihm bewundern, ehrliche und 
männliche Gefinnung neben unerjchütterliher Glaubensfeſtigkeit, 
waren bei Spee ein koſtbares Erbe von jeinem Vater. Leider 
iſt e8 bis jeßt noch nicht gelungen, das Jahr feiner Geburt, 
nad) einer Angabe 1591, nad) einer anderen 1592, feitzuftellen. 
Wir fennen nur jeinen Geburtsort, Kaiferswerth bei Düfjeldorf, 
von wo er nach einer forgfältigen Jugenderziehung in dem 
Sejuitengymnafium von den drei Kronen in Köln im Haufe 
jeine8 Vaters, des Hofichenfen des Kurfürften und Erzbijchofg 
Gebhard von Köln in den Orden der Gejellichaft Jeſu eintrat. 
Dem weich und ideal angelegten Jüngling mochte der Uebertritt 
in diejen Orden als eine Flucht und Rettung aus den troftlojen 
politischen und ſozialen Zuftänden Deutjchlands erjcheinen, und 
mit der ihm eigenen Treue und Gewifjenhaftigkeit widmete er 
ji feinen Pflichten, nachdem er in Trier hauptſächlich unter 
dem Einfluß jeines Lehrers in der Philoſophie, eines ſcholaſtiſchen 
Theologen, des Bater Chrijtianus Mayer aus Mengelrode, 
eines Mannes von gründlicher Bildung und glühendem Eifer für 
jeine Kirche, fein Noviziat abjolvirt Hatte Für den nun fol 
genden Zeitraum fehlen ung freilid; alle näheren Angaben. Es 
läßt fi) nur vermuthen, daß er 1613 als Magifter der jchönen 
Wiffenjchaften und der Grammatik im Jejuitengymnafium gewirkt, 
ſich dann nad) einer Thätigfeit von drei bis fünf Jahren noch 
einige Jahre ausjchließlic) dem Studium der Theologie widmete, 
mit dem dreißigften Jahre zum Priefter geweiht und unter die 
Zahl der Patres aufgenommen wurde, und wir jehen Spee erjt 
in den Jahren 1621—24 wieder als Lehrer der Philoſophie 
und Moraltheologie in Köln, eine Stellung, die wohl einen ge- 
nügenden Beweis für feine Hohe wifjenjchaftliche Befähigung 
bietet. Gegen Ende des Jahres 1624 wurde er von einem 
Orden mit einer wichtigen Miffion betraut, die ihn nad) 


Paderborn auf die dortige Domkanzel führte. Dort Hatte ſich 
(80)! 


5 


nämlich die Reformation zahlreiche Anhänger erworben, und 
infolgedefjen wandte fi) Kurfürft Ferdinand von Bayern an 
den Orden mit der Bitte um einen Mann, dem es gelingen 
würde, die Abtrünnigen wieder in den Schoß der Mutterfirche 
zurüdzuführen. Daß dies dann auch Spee mit Hülfe feiner 
binreißenden Beredſamkeit und feines perjönlichen Einflufjes 
gelang, verbürgen uns alle Nachrichten über feine dortige Thätig- 
feit, wie aud) die Thatjache, daß der größte Theil des Adels 
in und um Paderborn bald wieder zum alten Glauben zurüd- 
fehrte. In Paderborn blieb Spee bis zum Ende des Jahres 
1626, um anfangs 1627 einem Rufe des Biſchofs von Würz- 
burg, Philipp Adolf von Ehrenberg, zu folgen, der ihn als 
Profeſſor der Univerfität und als Beichtvater der zum Tode 
verurtheilten Hexen dorthin haben wollte. Was er in dieſer 
feiner Stellung als Beichtvater jah, erlebte und, dürfen wir 
wohl jagen, erlitt, das jagt uns in erjchütternder Weile ein 
Bud, das immer mit feinem Namen verknüpft bleiben wird 
und ihn als einen der edelften Menjchen zeigt, jeine Cautio 
criminalis. Nicht lange, aber lange genug, um in feiner Seele 
den Entſchluß zur Abfafjung dieſes Buches, das zu den bebeu- 
tendften Thaten des Jahrhunderts gerechnet werden darf, hervor- 
zurufen, blieb Spee in diefer feiner Stellung. Wie aus einem 
Briefwechjel mit drei Jungfrauen von Stein hervorgeht, denen 
er in einer Parabel die abjolute Richtigkeit des Fatholifchen 
Glaubens ar zu machen fucht, befand er fich im Jahre 1628 
wieder in Köln, wo er freilich keine lange Ruhe genießen jollte. 
Denn ſchon Ende des Jahres berief ihn, nachdem mancherlei 
Streitigkeiten vorausgegangen, die fatholifche Geiftlichkeit von 
Hildesheim nach Peine, damit er dort ebenfo wie j. 3. in Paber- 
born die von feiner Kirche Abgefallenen derjelben wieder zuführe. 
Dies gelang ihm auch hier mit denfelben Mitteln vollitändig, 


allein. nachdem er zulegt noch die Yauen, die am längften Wider- 
(81) 


6 


ftand Ieijteten, dem alten Glauben zurüdgewonnen, follte ihn 
doch ein am 28. April 1629 auf ihn gemachter Mordanfall 
belehren, daß feine Wirfjamfeit nicht überall günftigen Boden 
gefunden. Einer Einladung folgend, hielt er ſich nun eine Zeit: 
lang zu feiner Erholung in dem in der Nähe von Corney 
liegenden Dörfchen Falkenhagen auf, wurde aber im Jahre 1631 
aus der dortigen ländlichen Stille nad) Köln, wiederum als 
Lehrer der Philojophie und Moraltheologie an das dortige 
Jeſuitenkollegium berufen. Als jchönftes Zeugniß für den Erfolg 
feiner Vorleſungen theilt die Bibliotheca Coloniensis mit, daß 
Spee jeine Schüler nicht nur auf dem Gebiete der Wifjenjchaften 
durch feine Kenntniffe zu fördern fuchte, fondern namentlich auch 
dur) das Vorbild feiner eigenen Frömmigkeit und Tugend 
mehrere zu begeijterten Anhängern feines Ordens warb. 

Wie lange er in Köln wirkte, läßt fich nicht feititellen, 
und wir wiffen nur, daß er die legten Jahre feines Lebens in 
Trier zubradhte. Als dieſe Stadt am 6. Mai des Jahres 1635 
von den Franzoſen bejegt und von dem Faijerlich ſpaniſchen 
Heer überrumpelt wurde, verließ Spee fein Klofter, um un. 
erichroden feines Amtes bei Verwundeten und Sterbenden zu 
warten. Als der Kampf beendigt war, während dejjen es dem 
Einfluffe Spees nicht nur einmal gelang, Mißhandlungen und 
Plünderungen zu verhüten, nahm ſich Spee in echt chriftlicher 
Liebe der Gefangenen an, denen er Rückkehr in die Heimath 
erwirfte, und jorgte namentlich auch für die vielen Kranken in 
den Spitälern, denn ein peſtartiges Fieber raffte Taufende 
hinweg, und Spee jelbit brach unter den gewaltigen Anftren- 
gungen, die er dabei auf fich nahm, zufammen. Am 7. Auguft 
1635 ftarb er, in Mitte feiner Ordensbrüder, fröhlich in Hoff- 
nung und felig im Glauben, und fein Sarg mit der einfachen 
Inſchrift: Hic jacet Fridericus Spee fteht nun in der Gruft 


der ehemaligen Jefuitenkirche in Trier, während die Bibliothek 
(82) 


7 


des jetzigen Gymnaſiums zu Köln ein Bild von ihm auf 
bewahrt. 

Friedrich von Spee wurde, folange er lebte, nicht als 
Scriftfteller bekannt und genannt, denn von jeinen beiden 
Hauptwerfen, der „Cautio criminalis“ und der „Trutznachtigall“, 
erſchien das erfte aus mwohlbegreiflihen Gründen ohne Namen 
bes Verfaffers zu Rinteln, das zudem dem Proteſtantismus 
anhing, in lateinischer Sprache, und das andere, zugleich mit dem 
„Süldenen Tugendbuch“ erjt vierzehn Jahre nad) dem Tode 
des Verfaſſers, herausgegeben von einem jeiner Beichtkinder, 
dem Buchhändler Wilhelm Frießem. Ob ein in bemjelben 
Jahre mit der „Cautio criminalis“ und zu demjelben Zwecke 
erjchienene® Buch „Theologifcher Prozeß, wie mit Heren und 
zauberijchen Perjonen zu verfahren jei“, ebenfall$ von Spee 
ftammt, das läßt ſich wohl aus dem Geift dieſer Schrift ver- 
muthen, keineswegs aber läßt fich feine Autorjchaft feitftellen ; 
und es find ja auch doch nur die beiden erjten Werke, bie 
feinen Ruhm begründeten. 

Ich habe oben Spees „Cautio criminalis“ oder, wie der 
ausführliche deutfche Titel lautet, „Peinliche Warfchauung von 
Anftelung und Führung des Prozeſſes gegen die angegebenen 
Bauberer, Heren und Unholden. An die Obrigkeit teutjcher 
Nation ſowohl auch derofelben Räten, Reichsräten Comifjarien 
Inquifitoren Richtern Advokaten Prieftern und Predigern und 
andern jehr nüzlih und nötig. Durch einen unbenahmpten 
Römiſch⸗Katholiſchen an Tag gegeben” — ich habe dieſes Buch 
eine That genannt, und ich glaube mit diefem Ausdrud nicht 
zu hoc) gegriffen zu haben. Wir werden dieſe „That“ freilich 
erit dann in ihrer vollen Bedeutung würdigen können, wenn 
wir uns die Gejchichte der Hexenprozeſſe und alles, was damit 
zujammenhängt, kurz vor Augen führen. 

Die erjten Keime, aus denen fich im Laufe der Jahrhunderte 

(83) 


8 


der mittelalterliche Hexen- und Zauberglaube berausbildete, ent: 
wideln fich jchon mit dem im den meiften Religionsſyſtemen 
liegenden Dualismus des Guten und Böſen. Wie die alt: 
germanische Mythologie ald Repräfentanten des letzteren Loki 
zeigt und am Schluß ihrer geichichtlichen Entwidelung manche 
unverfennbare Repräfentanten und Vorläufer des mittelalterlichen 
Überglaubens aufweilt, jo finden wir dasjelbe auch namentlich 
in den altindijchen, altperfifchen und altägyptiichen Religions: 
ſyſtemen, deren jedes neben der jchöpfenden und erhaltenden 
Gottheit zugleich auch die Kehrjeite derjelben, eine feindlich zer- 
ftörende Macht zeigt. Die griechifche und die römifche Mytho— 
logie wifjen allerdings von einem jolchen Dualismus wenig; in 
dem heiteren, finnlich-frohen Denken der hellenischen Phantafie 
fand eine ſolche Vorjtellung feinen Raum, zumalen auch Die 
elementaren Naturgewalten in feiner jo zerjtörenden und furcht- 
baren Geftalt eines lichte und Tebensfeindlichen Gottes ſich 
hätten erhalten können. Dem Satan aber begegnen wir, wenn 
man von der Schlange im Baradieje abjehen will, in dem alten 
Teitament erjt verhältnigmäßig jpät und vereinzelt. Wohl mag 
der Bericht von den Kindern Gottes, die ſich mit den Töchtern 
der Menjchen verbanden, für die Borftellung eines Reiches von 
Dämonen fprechen, aber das alte Tejtament zeigt ihn noch nicht 
als den jelbftändigen Herricher, als welchen ihn das neue Teſta— 
ment jchon in der Geſtalt des Fürften, der über die Schäße der 
ganzen Welt verfügt, kennt. Hier erjt tritt er als der energijche 
und bewußte Widerjacher des ChriftenthHums und feiner Lehre 
auf, und hiernach beginntZjeine Ausbildung und Wandlung zu 
der mittelalterlichen Gejtalt des Fürften der Hexen und Zauberer. 
Um ihn jchart fi) das ganze Mei) der Dämonen und un« 
jauberen Geifter, und e8 war im Kampfe des Heidenthums mit 
dem jungen Chriſtenthum der Gedanfe etwas ganz Natürliches, 


daß fi in ihmen die ganze altheidnijche Götterwelt verkörpere 
(8) 


und zuſammendränge. Es ift nach der Lehre der Kirchenväter 
der Kampf der Wahrheit mit der Lüge, des Chrijtentsums mit 
dem Satan, und jobald einmal die Annahme zweier jelbftändiger 
Neiche Sich feitgejegt und ausgebildet hatte, mußte auch das 
Beitreben des Teufels, fich als einen Gott ebenbürtigen Fürften 
darzuftellen, hervorgehoben werden. Es entjtand jo bie im 
Laufe der Jahrhunderte fich immer mehr ausbildende Vorftellung 
von dem Teufel als dem Affen Gottes, der in all’ feinem Thun 
und Treiben die göttliche Thätigkeit nachzuahmen und, was 
dasjelbe heißen will, zu verbefjern bejtrebt if. Damit hängt 
denn auch jein Bemühen zujammen, dieſes fein Reich und die 
Zahl jeiner Untertanen möglichjt zu vergrößern, und erzeugt 
allmählich die Vorftellung von einem freiwilligen Bund mit 
dem Teufel, der al3 eine weitere Entwidelung der Borftellung 
von unfreiwilliger Bejejjenheit gilt und als eine Frucht der 
Lehre vom freien Willen bezüglich des moraliich Böſen zu be- 
trachten iſt. Als erjtes Beiſpiel für ein folches Bündniß bietet 
fih der Bericht von der Gejchichte des Theophilus, der aber 
durch Bermittelung der Jungfrau Maria wieder aus den Klauen 
des Teufel3 gerettet wird. Die Bhantafie des Volkes, das zwar 
hierin noch unbewußt an ben Erinnerungen aus der Zeit des 
lange Hinter ihm liegenden Heidenthums zehrt, jowie die For— 
ihungen der Geiftlichen waren natürlich ſtets gejchäftig, dieſem 
Fürſten der Hölle immer neue Eigenfchaften und dem Ehrijten- 
thum feindliche Funktionen zuzufchreiben, und was jchon in dem 
Volfsbewußtjein lebendig gewejen, dem gab man von der Kanzel 
herab ftet8 neue Nahrung, dem verlied man in einer Zeit, da 
neben der Wiſſenſchaft ja auch noch die Kunft volljtändig in 
den Händen der Geiftlichen lag, greifbare und fichtbare Gejtalt 
und machte jo ben Teufel, von den man, je mehr man ihn 
fürchtete, um jo häufiger auch ſprach, zu einem ſteten Genofjen 
der Menjchen. 


(85) 


10 


Je näher man darum dem jeinem ganzen Charakter nad) 
phantaftifchen Mittelalter fam, um fo phantaftifcher wurde auch 
die Vorftellung vom Teufel und erreichte im dreizehnten Jahr— 
hundert den Gipfel ihrer Ausbildung. Beweis Hierfür ift 
Cäfarius von Heiſterbach und das Zeugniß des Abtes Richalmus 
mit feinem Buche der Offenbarungen über die Nachitellungen 
und Tücken des Teufels; ebenſo für die Macht diefer Idee das 
Ende der Stedinger, die zulegt als Qeufelsdiener zu Grunde 
gehen mußten, und die Vernichtung der Templer, ſowie die da 
und dort auftauchende Borftellung von einem Herenfabbath. 
Lepterer namentlich zeigt und das Herenwejen in feiner reinen 
Geftalt, da bei den anderen Prozeffen der Faktor der Ketzerei 
doch noch vorwiegend gewejen war. 

Im vierzehnten Jahrhundert mag neben den Edikten 
Johanns XXI. gegen die Zauberei namentlich auch defjen per: 
ſönliche Furt vor dem zauberifchen Unweſen zur SHeren: 
verfolgung beigetragen haben; in Carcaſſonne wurden von 1320 
bi8 1350 jchon über vierhundert PVerjonen wegen Hererei ver: 
urtheilt und mehr als die Hälfte verbrannt. Daneben erhielten 
diefe Prozeffe ihren eigentlichen Charakter als Hexenprozeſſe 
auch infofern, al3 die Hauptthätigkeit der Inquifitoren fich gegen 
das weibliche Gefchlecht richtete. 

Das Herenthum findet für die bei weiten zahlreichere weib- 
lihe Anhängerfchaft des Teufels mancherlei Gründe; wejentlich 
in Betracht kommt dabei jedenfall3 die Sonderftellung, die der 
Frau von jeher im beutfchen Leben angewiejen war. Neben 
den Walküren und Waren der altgermanifchen Religion ijt es 
die nach allen Berichten dem germanischen Weibe zukommende 
befondere geiftige Hoheit und prophetifche Anlage, die e8 nament- 
lih zu dem Dienfte der Götter und dem fi) daran knüpfenden 
geheimen Kultus befähigt. Es ift eine nur natürliche Logik, 


daß den Dienerinnen diefer machtvollen Gottheiten von diejen 
(86) 


11 


jelbft auch wieder geheimnißvolle Gaben verliehen waren und 
daß fie, die allein das fchädigende oder jegnende Walten der 
Gottheiten kannten, zulegt nur als Werkzeuge derſelben er- 
ſchienen. Wenigſtens erkennen wir in ihrer nad) flandinavifchen 
Beugniffen überlieferten Thätigkeit bereits einzelne Funktionen 
der mittelalterlichen Here. Sie vermögen durch die Zaubermittel 
der Todesgöttin Unwetter über die Saaten herbeizuführen, Vieh. 
herden zu vernichten und Leib und Leben gegen Waffen ficher 
zu machen. Sie find es auch, die nach priefterlicher Anfchauung 
den altheidnifchen Kultus am längften und bartnädigften hüten 
und in nächtlihen Zufammenkünften die alten Götter wieder 
zurüdführen in das Land, aus dem fie des Kreuzes verhaftes 
Zeichen vertrieben. Briefterliche Verfolgungsmwuth und gemeiner 
Aberglaube vereinigen fi jo, um dem Bunde zwijchen dem 
Teufel und dem Weibe eine Weihe zu geben, aus der blinder 
Fanatismus fich eine verderbliche und zerftörende Waffe ſchmiedet. 
Die anjcheinend gegen Ende des vierzehnten und Anfang des 
fünfzehnten Jahrhunderts fich vermindernde Thätigfeit der Heren- 
richter erhielt zur Zeit des Bajeler Konzil neue Nahrung durch 
Sohannes Niders Buch über die Heren. 

Es ift nicht fowohl die Schwierigkeit eines barbarifchen 
Mönchslatein, welhe von der Lektüre zurüdjchredt, jondern 
neben dem Inhalt jelbft die abjolute Unmöglichkeit, etwas wie 
einen logifchen Zufammenhang darin zu finden. Roskoff Hat 
fih in feiner trefflichen Schrift „Geſchichte des Teufels“ Die 
gewiß anerfennenswerthe Mühe gegeben, den Inhalt des Buches 
anzugeben. Von bei weitem größtem Intereſſe ift natürlich der 
erite Theil, der fich mit der Frage nach der Erijtenz von Zau— 
berern und Heren bejchäftigt, während die beiden anderen Theile, 
wejentlich jnriftifcher und friminaliftifcher Natur, einen Einblid 
in das Dunkel abergläubijcher VBerirrungen und blinden Wüthens 
eröffnen. Wenn der allgemeinen Erfahrung zufolge bei diejem 


(87) 


12 





unheimlichen Treiben das weibliche Gejchlecht vorzugsweiſe be 
theiligt ift, jo ift neben einer befonderen organifchen Dispofition 
für derartige Einflüffe hauptſächlich auch ihre Leichtgläubigfeit 
und ihre jchlüpfrige Zunge Schuld, die fie das, was fie mala 
arte wiſſen, nicht verjchtweigen und zugleich wegen Mangels an 
phyfischer Kraft zu Heimlicher und heimtückiſcher Rache Zuflucht 
nehmen ließ. 

Es mag die Richter ſelbſt zur Genüge charakterifiren, wenn 
fie da8 Hauptgewicht bei dem Bunde der Weiber mit dem 
Teufel auf die Wolluft legen, und wenn danach der Papft in 
jeiner Bulle eine fiebenfache Thätigfeit der Heren unterjcheidet, 
nach der fie die Gemüther mit ungezügelter Liebe oder unbän- 
digem Haß erfüllen, neben manchen Schändlichkeiten die Menjchen 
in Thiere verwandeln, die Kinder dem Teufel darbringen u. a. m. 
Wie es ferner nach dem Herenhammer drei Klafjen von Hexen 
giebt, jolche die helfen, die Fraft eines bejonderen Ueberein— 
fommens mit dem Teufel nicht jchaden, folche die beichädigen, 
aber nicht wieder helfen können, und jolche die jchädigen, aber 
auch wiederum helfen können, fo theilten ſich auch diejenigen, 
die durch Gottes Segen vor der Macht der Heren gejchüßt 
waren, in drei Klaſſen, erftlich natürlich in die Gerichtöperfonen, 
die gegen fie des Rechtes pflegten, zweitens die Geiftlichen, bie 
durch den Gebrauch der Firchlichen Mittel ſich gewahrt Hatten, 
und drittens jolche, die durch Heilige Engel auf mancherlei 
Weile ganz bejonders begünftigt waren. Bei Anklage und Auf- 
findung der unglüdlichen Gejchöpfe, deren gemeinigliche Armuth 
nur zu einem weiteren Beweis ihrer Schuld wurde, laſſen fich 
ebenfall® dreierlei Arten unterſcheiden. Es klagt eines das 
andere des Verbrechens der Ketzerei oder Hererei an mit dem 
Bedeuten, den Beweis liefern zu wollen, widrigenfall3 Die 
Strafe der Wiedervergeltung zu tragen; oder es denunzirt eines 


das andere ohne Beweislieferung, fondern augenblidlih aus 
48) 


13 


Glaubengeifer, oder im Hinblid auf den Kirchenbann oder die 
zeitliche Strafe, womit Derjenige belegt wird, der nicht denun- 
zirt, endlich. Der Richter ftrengt ex officio den Prozeß an, auf 
das Gerücht Hin, daß es da oder dort Heren gebe, und wenn 
auf eine diejer drei Arten nun die fchuldige Perſon in den 
Händen ihrer PBeiniger und Richter ift, beginnt ein Verfahren, 
das, wenn es nicht einen jo düjteren und grauenvollen Hinter 
grund und Schluß hätte, eines der unmwürdigften Komödienjpiele 
genannt werben müßte. Hierauf des Näheren einzugehen, ver: 
bietet der Raum, zumal dasſelbe in feinen Hauptzügen Jeder: 
mann befannt und genugjam gebrandmarft if. In wieviele 
Klaffen und Unterabtheilungen der ganze Herenhammer getheilt 
ift, wie derſelbe durch unfinnige Anhäufung von Details zu 
einem jcheußlichen Gemifche wilder Bosheit und groben Aber: 
glaubens geworden, lehrt jchon ein Blid in die Inhaltsangabe, 
und wenn es auch gerade und am meiften dieſe Details find, 
die dem Buche feinen eigenthümlichen Reiz geben, jo mag bier 
eine Hervorhebung der Hauptpunfte über die Lehre von den 
Heren doch auch gerechtfertigt fein. 

Es beeinträchtigt die obige Charafteriftif von Spees Buch 
al3 einer geiftigen That keineswegs, wenn an diejer Stelle 
darauf hingewieſen wird, daß er ſich in das Verdienſt einer 
ehrlichen und energiſchen Oppoſition diefen Herenprozefjen gegen- 
über mit Anderen zu theilen hat. E3 wäre ja auch gewiß ein 
fchlechtes Zeugniß für den menjchlichen Geift, wenn wir nicht 
unter all’ dem Toben und Wüthen, mitten hinein in das Wechzen 
und Schreien der Unglüdlichen, da und dort Stimmen hören 
dürften, die fich gegen eine jo gräßliche Ausnugung diejes Aber- 
glauben? auflehnten. Da war es neben manchen Anderen 
namentlich der deutfche Theologe Ulrich) Molitor zu Konjtanz, 
der in feinem Buche „De lamiis et phytonicis muliebribus“ 
oder „einem ſchön Geſpräch über die Unholden“ dem Glauben 


(89) 


14 


an das Dafein folder Wejen und den angeblichen Werth der 
auf der Folter erpreßten Geftändniffe entgegentrat; neben ihm 
die Juriſten Alciatus und Ponzinibius, die ſich namentlich gegen 
die angebliche leibliche Ausfahrt der Heren auflehnten, und der 
ſonſt freilich ſelbſt im dunkelſten Aberglauben befangene Cor- 
neliu8 Agrippa von Nettesheim mit feiner direkt gegen das 
Herenwejen gerichteten Schrift „De occulta philosophia“. Auf 
ihn fällt jchon ein Strahl der Morgenröthe aus einer neuen 
Beit, und der Name des Erasmus von Rotterdam, der in 
einem Briefe von 1500 den Bund mit dem Teufel eine neue, 
erit von den Herenrichtern erfundene Mifjethat nennt, gemahnt 
uns an die Reformation und ihren Bundesgenoffen, den Huma- 
nismus. 

Wenn wir ſpäter denſelben im Kampf gegen die Hexen— 
prozefje in einer Perſon aufs jchönfte verkörpert jehen werben, 
jo mag e3 doc) auch hier ſchon am Platze fein, feine und die 
Stellung der Reformation hierzu zu charakterifiren. Wir dürfen 
in diejen beiden Elementen freilich feine ausgebildeten und jelbft- 
bewußten Gegner des Herenglaubens erkennen wollen; in ihnen 
und namentlich in der reformatorijchen Thätigkeit Luthers Tagen 
erit die Keine, aus denen fich im Laufe der Zeit die auf Grund 
der Thatjahen in der Natur und im Menfchenleben kühn 
fi) aufbauenden Gedanken einer neuen Zeit loslöſen mußten. 
Auch Hatte fih im Laufe der Jahrhunderte diefer Glaube jo 
feit mit dem ganzen Volksleben verbunden, daß ber Verſuch 
einer gewaltjamen Losreißung am Ende nur die enigegengejeßte 
Wirkung gehabt Hätte. Und zudem fand derjelbe eine Fräftige 
Unterftügung für das Volfsbewußtjein während der Periode des 
vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert? in der Zerrüttung 
und Gärung auf allen Gebieten. Die Kirche hatte unter der 
immer wachjenden Uneinigfeit der einzelnen Glieder zu leiden; 
dem Volke, deſſen geiftige Selbjtändigkeit fich in den denfbar 


(90) 


19 


engjten Grenzen bewegte, mußten allerhand jchredvolle Bor. 
gänge und Ereignifje, wie das Auftreten der Peſt und der 
Poden, die unheimlichen Heufchredenzüge und immer fich wieder. 
holende Theuerungen, als ein Zeichen dienen, daß Gott den 
Menjchen und deren tiefer Sündhaftigfeit zur Strafe dem Teufel 
und jeinen Helfershelfern, den Zauberern und Hexen, eine Zeit 
lang Macht und Herrichaft gegeben. Das Feithalten an diefem 
Gedanken entzog ihm auch neben dem Bann und dem Drud 
der firchlichen Autorität, die nur ein Denken und Glauben nad) 
ihren Formeln zuließ, die moralijche Kraft, ſich das Licht neuer 
Entdedungen und wifjenjchaftlicher Forſchungen für fein eigenes 
Leben und Handeln dienjtbar zu machen. 

Die Lehre von der allgemeinen und abjoluten Sündhaftig- 
feit der Menjchen hatte zu tief Wurzel in den Gemüthern gefaßt, 
als daß fie nicht eine Sühne und Heilung für fich in allerlei 
Heußerlichkeiten und Bußübungen gejucht hätte; fie Hatte Die 
Sehnſucht nad) Gott und dejjen Verſöhnung zu einer folch’ 
frankhaften Höhe gefteigert, daß diejelbe feinen Anjtand nahm, 
in der Bertilgung aller ihm feindlihen Mächte, die fi ja in 
den BZauberern und Heren leibhaftig greifen ließen, ein gott. 
gefälliges und feinen Zorn verjöhnendes Werk zu erbliden. 
Ihm gegenüber ftellte fich nun der gegen jede kirchliche Autorität 
gleichgültige, manchmal auch feindliche Humanismus, der freilich 
feinem ganzen, von ftolzgem Selbftbewußtjein getragenen Charakter 
nad) zunächjt nicht dazu berufen jchien, in die Kreiſe des Volkes 
zu dringen und hier jeinen Einfluß geltend zu machen. Außer: 
dem fuchte der Humanismus feine Nahrung ja auch ganz 
ander8wo; das einjeitige Sichverjenfen in die Zeiten und Ge- 
danken des klaſſiſchen Alterthums trennte feine Träger jo weit 
von jedem volfsthümlichen und allgemeinen Intereffe, daß Die 
Humaniften dadurch für das geiftige Leben Deutſchlands, das 


erft in der Theilnahme des ganzen Volkes feinen Boden finden 
(9) 


16 


konnte, am Ende nicht mehr Förderung gebracht Hätten, als Die 
von ihnen bejehdete flerifale Partei. Und doch trug der Huma- 
nismus die Keime in fich, die, wie auf anderen Gebieten, jo 
auch auf dem de3 Aberglaubens, für die Förderung und Be— 
freiung des geiftigen Lebens die jchönften Früchte zeitigen jollten. 
„Damals ftieg,” jo fchildert Carrier die geijtige Bewegung jener 
Beit, „die Menjchheit nicht bloß in das eigene Innere hinab 
und befhwor die eigene Vergangenheit wieder an das Licht, 
jondern fie wollte fi) num auch in der Natur heimiſch fühlen; 
neben die Phantafie, welche dieſe mit Geiftern bevölkert Hatte, 
neben die Meberlieferung und das Hörenjagen trat die Beobachtung, 
dort die nüchterne Forſchung. Zunächſt bleibt im Weltalter des 
Gemüths dieſe neue, verftändige Richtung noch mit der Ein- 
bildungsfraft und ihren Wundern verwoben, Aftrologie und 
Altronomie, Magie und Phyſik jpielen noch ineinander, aber 
Amerifa wird entdeckt, die Erde wird umfegelt, ja fie tritt felber 
al3 ein Stern in den Sternenreigen ein und ſchwingt fih um 
die Sonne troß des Augenjcheind und der Inquifition, und 
diefe Siege des Gedanken? und treuer Beobachtung des Ge- 
gebenen, wie die nach dem Geſetze juchende und eine allgemeine 
fefte Ordnung erjchließende Vernunft machen beide jelbjtändig 
und ſtark. So entjteht nun im Bunde mit der Mathematik, 
der ftreng folgernden und beweilenden, eine Erfahrungswifien- 
Ihaft. Sie jchärft nad) zwei Seiten Hin das Auge durch das 
Fernrohr und das Mikroftop, lehnt fich gegen die Scholaftif 
auf, welche mit überlieferten Satungen arbeitet, und wird Die 
feite Grundlage für die Subjeftivität, die fih nur auf die 
Selbjtgewißheit des eigenen Denkens ftellt. Sie bereitet der 
Philofophie den Weg neben der poetischen Begeijterung, welche 
die Lebensfülle der Welt in der Einheit des Göttlichen ergreift, 
neben dem myſtiſchen Tiefſinn, der fi in das Ewige verjentt, 


um alles in ihm zu haben.“ 
(92) 


Bi 


Dazu kam dann noc die Buchdruderkunft als mächtige 
Gehülfin, das erlöfende Wort in alle Schichten des Volkes zu 
tragen. Wohl jpielte, wie befannt, der Teufel auch noch bei 
Luther, als einem echten Kinde des Volkes, eine Rolle, und 
zwar eine jolche, die in manchen Zügen an altheibnifche Vor- 
jtellungen erinnert, nebenher geht aber eine eigenthümliche Ver— 
tiefung und Verinnerlihung von dem Begriff derjelben, wie fie 
im natürlihen Bujammenhang mit dem ganzen Zwed und 
Weſen der Reformation fteht. Luther felbft glaubte noch an 
Bauberer und Heren, allein feiner großen Seele war alles 
blinde Wüthen und Verfolgen verhaßt, und wenngleich es nicht 
in feiner Macht jtand, dem Treiben der Herenrichter und Inqui— 
fitoren ein Ende zu machen, jo hat er doch in feiner Lehre und 
in jeinem Wandel feinen Anhängern eine Waffe in die Hand 
gegeben, mit der fie dem düftern und jeinem Volke jo unbeil- 
vollen Aberglauben jcharf zu Leibe gehen und ihm zulegt ein 
Ende mit Schreden bereiten konnten. Es galt freilid) auch bier 
noch einen langen und jchweren Kampf, aber nun einmal die 
Rojung gegeben war und der Menjchengeift ſich gewöhnt hatte, 
in fühnem Fluge und eigenftem, von jeder anderen Wutorität 
außer dem reinen Gotteswort und feiner Lehre unabhängigen 
Walten feine Schwingen zu prüfen und zu kräftigen, drängte 
er auch Schritt für Schritt den wüſten WUberglauben und die 
ganze diaboliſche Schar zurüd in das öde Nichts, aus dem fie 
einst, unheimlichen Nachtgeijtern gleich, emporgejtiegen. 

Einer der erften und beredtejten Zeugen für die Stellung 
des Humanismus gegenüber dem Herenglauben ijt der Leibarzi 
des Herzogs Wilhelm von Cleve, Johannes Weyer. Ein ge 
borener Niederländer aus Crane an der Maas, war er nad 
dem geldrifchen Kriege aus dem Dienjte des Kaiſers in den des 
cleviichen Fürften übergetreten. An dieſem Hofe, deſſen Fürjten 
in der Gejchichte des Humanismus und Proteftantismus eine 

Sammlung. N. F. XII. 291. 2 (93) 


18 


achtungswerthe Stellung einnahmen, wirkte er als Zeitgenofje 
des Konrad von Heresbach und mancher anderer Humaniften, 
die dort Amt und Stellung fanden, und verfaßte hier aud) das 
Bud, defjenwegen wir ihn nennen: De praestigiis daemonum 
et incantationibus ac veneficiis libri V. Humaniftifch gebildet, 
hatte er, wie er von Wolter in dejjen Schrift über Konrad 
von Heresbad) charakterifirt wird, „mit dem gewöhnlichen Huma- 
nismus wenig gemein; fein Humanismus it fein Ehrijtenthum. 
Sein ganzes Denken hat einen religiöjen Hintergrund, jeine 
Philoſophie ift die Bibel und fein Leben ift ihm in die Arbeit 
aufgegangen, Gottes Weisheit mit dem, was er wußte und jah, 
in Beziehung zu bringen, an ihrer Hand die leibliche und 
geiftige Krankheit feiner Mitmenjchen zu heilen”. Es fonnte 
ihm nicht entgehen, wie tief die Gejchwüre, die jeine heilende 
Hand berühren wollte, in das Fleiſch des Staate® und der 
Kirche ſich eingefrejjen Hatten, und der Erfolg feiner Arbeit hat 
ihn in der traurigjten Weije davon überführt. Das ganze Land 
ſah man voll Gefpenfter; Hinter jedem Baum Iugten den irre: 
geleiteten Menjchen Fragengefichter hervor; feine Heide, feine 
Dede, wo nicht eime jchredliche Geftalt umging; fein einſamer 
Weg, wo nicht ein Kobold die Worübergehenden nedte, fein 
Dorf, das nicht alle, dem gewöhnlichen Verſtändniß fich ent: 
ziehenden Ereignifje irgend einer Here auflud, das nicht von 
Beit zu Zeit eine erjäufte oder verbrannte. Freilich, auch 
Weyer blieb ein Kind feiner Zeit, indem er die Herrichaft des 
Teufel3 und jeiner taufendfachen Gaufeleien und PBladereien als 
Thatjachen gelten ließ, „aber aus alledem entjteht noch bei weiten 
fein jo großes Elend,” wie er in feiner Widmung an den Herzog 
von Cleve jagt, „al® aus dem Uebel, das Satan einmal den 
Menjchen eingeflößt hat, aus der Meinung nämlich), daß kindiſche 
alte Weiber, welche ſich Heren nennen, Menjchen und Thieren 
Böjes anthun könnten. Niemand kann darüber richtiger urtheilen 


(94) 


19 


al3 die Werzte, die durch diefen Aberglauben gepeinigt werden. 
Faſt Alle, auch die Theologen, ſchweigen zu diejer Gottlofigkeit. 
Yerzte dulden fie, die Juriften hängen an ihren alten Vor» 
urtheilen; wohin ich auch blide, Niemand, Niemand, der aus 
Erbarmen mit der Menjchheit auch nur zur Heilung der tödt- 
lihen Wunde ſich anſchickt.“ So will es denn Weyer über- 
nehmen, den Schaden zu bejjern: „Mein Gegenjtand ijt zunächit 
theologijcher Art; ich Habe die Liſten des Satans nach den 
Beugnifjen der Bibel darzuthun und zu lehren, wie man fie 
überwindet; dann ift er philofophijch, indem er die Täujchungen, 
welche vom Satan ausgehen, und die verrüdten Einbildungen 
der jogenannten Heren mit natürlichen Gründen befämpfe; dann 
medizinisch, indem ich zu zeigen habe, daß die Krankheiten, 
deren Entjtehung man den Hexen zujchreibt, aus natürlichen 
Urſachen entipringen; endlich juriftiich, indem ich von Beitrafung 
der Zauberer und Hexen, ander® man gewohnt ijt, werde reden 
müfjen.” Und des weiteren bezeugt er, wie Niemand mit ihm 
in der Anficht, daß die Hexen auch durch den böſeſten Willen, 
durch die gräßlichite Beſchwörung Niemandem jchaden können, 
daß fie vielmehr in ihrer durch Dämonen in unbegreiflicher 
Weile erhigten Phantafie und wie von Melancholie geplagt fic 
nur einbilden, allerlei Elend erregt zu haben, mehr und inniger 
übereingeftimmt habe als fein Herzog, der mit Wort und That 
den Beitrebungen jeines Leibarztes allen Borjchub Ieiftete und ſich 
nicht durch die von allen Seiten gegen Weyer gerichteten Angriffe 
irre machen ließ. „Wenn der niederrheinische Humanismus,” 
lagt Wolter a.a.D., „es in manchem verjehen haben mag, hier 
war er im Recht. Ihm gebührt dad Lob des Borkämpfers 
gegen den Herenwahn und die Kegergerichte.” Der Rückſchlag 
der nächiten Zeit erdrüdte zwar für eine längere Pauſe den 
Streit, welcher, joweit er den Herenunfug betraf, zwei Menjchen: 
alter nach Weyer ein anderer Unterthan des cleviichen Fürſten, 
2° ; 


5) 


— 


Friedrich von Spee, anonym und erfolglos, trotzdem die vielen 
lateiniſchen und deutſchen Ausgaben des Weyerſchen Werkes den 
Boden gelockert hatten, wieder aufnahm. Zu Herzog Wilhelms 
Zeit aber wurde er ſo ſiegreich in beiden Beziehungen geführt, 
daß nur Verbrecher den Zauber zu fürchten hatten. Um ſeines 
Aberglaubens, Glaubens oder Unglaubens willen ſtarb, ſeitdem 
Weyer geredet hatte und ſolange Herzog Wilhelm mit vollem 
Bewußtſein die Herrſchaft führte, in den cleviſchen Landen fein 
Menjch mehr.“ 

Spee jelbft führt in feiner Cautio criminalis als feinen 
Meifter und Lehrer oftmals den Jejuiten Tanner an. Diejer, 
der wenige Jahre vor Spee aus dem Leben jchied und allen 
Beugniffen nah an trefflichem Charakter jeinem Schüler Spee 
ebenbürtig war, trat bald nachdem der hHolländijche Prieſter Loos 
wegen jeines Auftretens gegen den Aberglauben jchweres Un- 
gemach ausjtehen und fi) am Ende zum Widerruf hatte ent: 
ſchließen müfjen, in verjchiedenen jeiner Schriften, erjtmals in 
feiner Scholaftif, ebenfall® gegen das Herenunwejen auf und 
entwidelte darin feine humanen und das ganze Treiben ver. 
dammenden Ideen in der Form, wie fie fich wejentlich auch bei 
Spee wiederfindet. 

Daß aber feiner diefer Männer, wenn er auch noch jo 
energie und freimüthig dem Unweſen entgegentrat, einen durch— 
ichlagenden Erfolg erzielen oder gar erleben fonnte, hatte feinen 
hauptſächlichſten Grund in der allgemeinen Theilnahmlofigkeit, 
mit der man ihrem Wirken begegnete. Denn troß alledem 
wurden die Prozefje eifrig fortgejegt, und Spee hatte in feiner 
beichtväterlichen Stellung in Würzburg, wo der Eifer ein ganz 
befonderer war, reichlich Gelegenheit, alle Greuel und Graujam- 
feit dieſer Prozeſſe mit anzujehen. Was jeine edle und menfchen- 
freundliche Seele dabei litt, das fügt uns fein Buch. Seiner 
Ausjage nad) Hatte dasſelbe jchon lange vorher handjchriftlich 


(96) 


21 

unter feinen Freunden die Runde gemacht, und als er fich ent: 
ſchloß, dasjelbe in den Drud zu geben, war er vorfichtig genug, 
dasjelbe ohne feinen Namen, nur als von einem „Römiſch— 
Katholifchen” Herrührend, in proteftantifchen Landen erjcheinen 
zu lafjen. Daß er aber der Verfaſſer des Buches geweſen, 
willen wir von feinem Werehrer Leibniz, der e8 durch Philipp 
von Schönborn erfuhr. Derjelbe berichtet ung die Antwort 
Spee3 auf die Frage des Domherrn und nachherigen Kurfürften 
von Mainz, woher in folchem Alter jchon graue Haare kommen. 
„Der Sram hat meine Haare grau gemacht,“ antwortete er 
darüber, „daß ich ſoviele Heren habe müfjen zur Richtjtatt be: 
gleiten, und habe unter allen feine befunden, die nicht unfchuldig 
gewejen.” 

Wenn una jchon die Antwort zeigt, welche Stellung Spee 
zu dem DBerfahren gegen die Heren einnahm, jo jehen wir dies 
noch deutlicher aus dem Buche jelbft, deffen Motto: „So lafjet 
euch nun weiſen ihr Könige, und lafjet euch züchtigen ihr Richter 
auf Erden” neben einer Stelle aus Seneca: „Ich will dir jagen, 
an welden Dingen e3 fürnehmen Herren fürnemlich gebreche, 
und was denen welche alles bejigen, gemeinlich ermangle, nemlic) 
Diejenigen, welche ihnen die Wahrheit jagen”, Spees Urtheil 
treffend charakterifirt. Keineswegs beabjichtigt Spee mit feinem 
Buche den Glauben an das Vorhandenfein von Heren und 
Bauberern zu erjchüttern oder zu vernichten. Als bibelgläubigem 
Theologen gilt auch ihm die Einwirkung böjer Dämonen auf 
die Menjchen als Dogma, und fo beantwortet er denn auch die 
erjte feiner einundfünfzig Fragen, in welche das ganze Bud) 
getheilt ift, „ob auch in Wahrheit Zauberer, Heren und Un- 
holde jeien“, keineswegs in verneinendem Sinne, fondern hebt 
ausdrücklich hervor, er halte dafür, „daß in der Welt wahr: 
haftig etliche Zauberer und Unholde jeien und daß dasjelbig 


von Niemand ohne Leichtfertigkeit und groben Unverftand ge: 


(97) 
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* [3 T £ 2 a, 
> \ 


22 





feugnet werden kann“, womit freilich noch nicht bewiejen ift, 
daß auch alle Diejenigen, welche als Zauberer und Heren ver- 
brannt wurden, dies in der That gemwejen jeien. 

Bermag man auch bei der Lektüre des Buches nicht immer 
al’ den feinen Wendungen, allen logiſchen Sclüffen und 
juriftiihen Ausfällen zu folgen, jo giebt ung doch wieder Die 
hohe Wahrheitsliebe, der fittlihe Ernjt, der jeiner Entrüftung 
bald in beißendem Spott, bald in vernichtenden Schlägen Luft 
macht, den Muth, dem Berfaffer auf al’ den verjchlungenen 
und ſich freuzenden Wegen zu folgen, die uns ſchließlich auf 
da3 eine Ziel, das des Mitleids und chriftlichen Erbarmens mit 
den Unglüdlichen Hinführen. Vor allem wendet ſich Spee mit 
eindringlichen Ermahnungen an die Fürften und Herren, denen 
er räth, perjönlich die Prozefje zu leiten, damit fie einen Einblid 
in da8 Thun und Treiben ihrer Kommifjäre gewinnen. Denn 
eine große Verantwortung nehmen fie auf fich, wenn fie, ohne 
fi) mit Art und Weife der Prozeßführung vertraut zu machen, 
ohne al’ die technifchen Ausdrüde zu kennen, die unter un— 
ſchuldigem Gewand manche Grauſamkeit verbergen, einfach die 
VBerdbammungsurtheile unterjchreiben. Immer wieder und wieder 
wendet er fich mit diefen Ermahnungen an Fürſten und Herren, 
mit erjchredender Wahrheit jchildert er ihnen das Treiben der 
habjüchtigen, blutgierigen Inquifitoren und ihrer Henfersfnechte, 
verfolgt die Thätigkeit derjelben bis in die dunkle Folterfammer 
und weift alle Trugjchlüfje, mit denen fie ihre blutige Arbeit 
zu rechtfertigen juchen, nad) Gebühr zurüd. Unter diejen Trug: 
jchlüffen ift e8 namentlich der eine, daß unter allen Angeklagten 
und Berurtheilten Fein Unfchuldiger fein könne, weil ja Gott 
Berderben und Tod eines jolchen nicht zulafje, dem Spee wegen 
feiner Oberflächlichkeit und Haltlofigkeit befondere Aufmerkſamkeit 
ſchenkt und den er endlich) mit den Worten jeines oft citirten 


Lehrers Tannerus abweift: „Sollte Gott nad) feinem ernjten 
95) 


23 

Gericht joviel andere greuliche verwerfliche Laſter gejtatten ung 
geichehen Tafjen und allein in diefem Hexenprozeß ſich gleichjam 
mit einem Tejtament verbinden laſſen, daß er nicht zugeben 
wollte, daß einigen Unfchuldigen zu kurz gejchehen follte.“ 
Allein weil man weiß, daß in diefen Prozefien jo manche Un- 
ihuldige leiden müffen, ift es auch Pflicht der Richter, mit der 
peinlichjten Genauigkeit und gänzlich unzugänglich fir perjünliche 
Intereſſen irgendwelcher Art zu verfahren. Ja, Hat nicht im 
alten Tejtament Abraham den Herrn gebeten, daß um einiger 
Unjchuldiger willen auch die Schuldigen ungeftraft bfeiben, und 
im neuen Zejtament giebt in einem Gleichniß des Herrn der 
Hausvater den Knechten den Bejcheid, das Unkraut nicht aus» 
zujäten, damit nicht auch der Weizen dabei zu Grunde gehe. 
Spee jelbjt fügt Hinzu: Denn man fanıı nicht alles Aergerniß 
aus der Welt wegjchaffen, fondern was man defjen füglich nicht 
ändern kann, dasjelbig muß man gewehren lafjen, es iſt bejjer, 
dreißig Schuldige loszulaſſen, als einen Umfchuldigen zu ver- 
dammen. 

Wer aber ſind nun die Leute, welche dieſe Prozeſſe führen, 
die ihren Fürſten und Herren mit Drohen und Mahnen an— 
liegen, bis dieſelben ihnen Vollmacht zur Verfolgung der Un- 
glüdlichen geben. E3 ift gewiß ein ehrenvolles Zeugniß für 
Spee, wenn er als die erften unter diefen Unheitjtiftern, die er 
in vier Klaſſen theilt, die Geiftlichen und Prälaten nennt. 
Scharf geht er mit ihnen und den Nichtern, die lediglich um 
materiellen Gewinnes willen ſolche PBrozefje aufnehmen, ins 
Gericht, und man verfteht e8 wohl, wenn Spee angeficht® jolcher 
Thatfachen, die Deutfchland ärger verwüften als der Krieg, ſich 
nicht enthalten kann, fein deutsches Vaterland zu beklagen. „Ich 
ihäme mic; Teutſchlands,“ fo ruft der wadere Jejuit aus, „daß 
man in einer jo hochwichtigen Sache nicht befjer zu argumen- 


tiren und zu urtheilen weiß; was werden wohl andere Nationne 
(99 


24 





dazu ſagen, die unſerer Einfalt ſchon bereits lachen und ſpotten 
des Kindes, ſolltens ja erkennen, daß es unrecht ſei, ihnen die 
Hände gegen eine giftige Schlange zu binden, da man ihnen 
doch dieſelben gegen einige ohnmächtige Flöhe frei und un— 
gebunden läßt.“ 

Solche Worte laſſen und ahnen, wie es damals in Deutſch— 
land ausſah und welchen Händen die Leitung diefer für einzelne 
Menſchen wie für ganze Gemeinden verhängnißvollen Prozefie 
anvertraut war. Es erjcheint uns faſt al® ein Räthjel, wie 
fi) in eine Periode eine ſolch' wahnfinnige Verblendung, ſolch' 
ein finnlojes Wüthen zufammendrängen konnte, um aus Deutjc)- 
land eine Folterfammer, einen nie erlöfchenden Scheiterhaufen 
zu machen. Aber wir Haben nicht die geringjte VBeranlafjung, 
an der Wahrheit von Spees grauenhaften Schilderungen zu 
zweifeln, da e8 ung doc im Gegentheil billig wundern müßte, 
wenn jich in diefer Periode nicht ein Mann gefunden hätte, der 
mit einem jolchen Freimuth und einer jolchen, feinen Stand 
und feine Berjon verjchonenden Offenheit verjuchte, jein Volk 
emporzurütteln aus feiner unheilvollen Verblendung und Theil: 
namlofigfeit. Diefe war die natürliche Folge der Thätigfeit 
einer alle8 belauernden Inquifition. Und dieſe hatte ein Werk: 
zeug in Händen, mit deſſen Hülfe fie vou dem unjchuldigiten 
Menjchen die gräßlichiten Gejtändnifje erprefjen konnte, die Folter. 
Man weiß, in welcher Weife die Inquifition es verftand, die— 
jelbe zu gebrauchen; man weiß, wie fein Alter, kein Geſchlecht 
und fein Stand ficher war vor dem Arme der Inquifition, wie 
ein Wort, ein Zufall manchmal genügte, um einen Menfchen 
verichwinden zu Iafjen in einem Gefängniß, aus dem es nur 
einen Weg gab, den zum Sceiterhaufen. Verſchwindend Hein 
ift die Anzahl von Fällen, wo es menjchlichen Kräften gelang, 
allen Qualen der Folter zu trogen und fi mit einem ge- 


brochenen und zerjchundenen Leib Leben und Freiheit zu erfaufen. 
(100) 


25 





Die Folter hatte die Macht, den ſtummſten Mund beredt, das 
ſchwächſte Geſchöpf zum mächtigsten Zauberer zu machen, und 
die grauenvolle Art und Weije, wie fie gehandhabt wurde, mußte 
für Spee eine Hauptwaffe in feinen Angriffen gegen Richter 
und Inquifitoren geben. Meijterhaft aber handhabte er dieje 
Waffe. 

Mit der Frage: „Was man von der Tortur oder Folterung 
zu halten, ob aud) wohl dem Unjchuldigen dabei oftmals zu 
kurz gejchehen könne“, leitet Spee einen Kampf gegen dieje Aus 
geburt menjchlicher Graujamfeit ein, deſſen Gang zu verfolgen 
fi wohl der Mühe lohnen möchte. Er fieht in der Folter die 
einzige Urjache, „welche unjer liebes Teutſchland jo voll Zauberer 
gemacht und dasjelbig mit unerhörten Laftern erfüllet, und 
zwar nicht Teutjchland allein, ſondern aud) andere Nationen 
und Länder, fofern fie nur den Prozeß und die Folter zur 
Hand nehmen.” Denn Jedermann weiß mit dem Verfafjer, dem 
das auch noch „etliche ftarfe Kerlen“ beftätigten, daß die Qualen 
und Schmerzen, die einer auf der Folter auszuftehen hat, ſolche 
find, daß man unter denjelben fich eines jeden Laſters jchuldig 
befennen wird und gerne alle Fragen des Richters nach dejjen 
Wunſch beantwortet, nur um fi mit dem ficheren Tode von 
diefen Schmerzen loszufaufen. Sagt ja doc) Spee jelbit: „Was 
mich anlangt, bekenne ich frei, daß, wenn ich auf die Folterbank 
gejpannt werden jollte, ich nicht aushalten, ſondern lieber alle 
Bubenftücde über mich befennen und den Tod erwählen würde, 
als daß id) ſolche Schmerzen ausſtehen jollte,“ und er weiß es 
jehr wohl zu verjtehen, daß namentlich die Weiber vermöge 
ihrer Schwacdhheit zu allen möglichen Geftändnifjen getrieben 
werden. „Denn wer weiß nicht, wie ein ſchwaches Werkzeug 
die Weiber und wie unleidfam, wie leichtzungig und ſchwatz— 
baftig diejelben find,“ wenn nun Männer die Folter nicht aus» 


halten, „was follen dann die armen, ſchwachen Weibsbilder 
(101) 


26 





nicht thun.” Nebenbei wurde in den Hexenprozeſſen ein weit 
höherer Grad von Folter angewendet, als bei anderen Prozeß. 
verfahren, ja man ſann immer wieder auf Mittel und Wege, 
die Schmerzen noch zu erhöhen, und man darf fich jo nicht 
wundern, wenn im Bunde mit der allen Gejegen zumiderlaufenden 
Dauer die Unglüdlihen jo gejchunden und gemartert wurden, 
daß, „wenn fie endlich haben abgethan und eingerichtet werden 
jollen, der Henker fie nicht entblößen dürfen, weil er bejorgen 
müffen, daß, wenn es die Leute jehen würden, daß die an— 
gerichtet Perjon jo jämmerlich und unchriftlic) zugerichtet ge 
wejen, jie fih an ihm vergreifen möchten. Ja etliche find 
jolcher Geſtalt ausgefchunden gewejen, daß fie den Gerichtsplag 
nicht erreichen konnten und deßhalb unterwegs haben hingerichtet 
werden müſſen.“ 

Was aber verftehen Richter und Geiftlicde von der Folter ? 
Was verjtehen fie von den Ausdrüden, die dabei gebraucht, ſich 
in Akten und Wrotofollen jo mild und mäßig ausnehmen, 
während fie in der Folterfammer ganz anderes bedeuten, wijjen 
fie, durch welche Qualen dieje jogenannten „gütlichen Bekennt— 
niſſe“ erpreßt werden? Es jchaudert uns förmlich die Haut, 
und mit Spee müfjen wir ausrufen: „Iſt's nicht zu verwundern, 
daß man fich der Sprache jo weit mißbraucht,“ wenn er uns 
mit wenigen Worten jchildert, wie man zu dieſen Bekenntniſſen 
gelangt. Es werden da freilich nur die Beinſchrauben an- 
gewandt, aber an einer Stelle, „da dann die Empfindlichkeit 
und Schmerzen am größten ift, indem man damit den armen 
Menjchen das Fleiſch und die Schienbeine gleich einem Kuchen 
oder laden zujammenfchraubt, alio daß das Blut herausfleußt.“ 

Geirrt hat ſich Spee, wie er num erjt einfieht, in der An— 
nahme, daß die Nichter dazu dajeien, ihres Amtes nad) Recht 
und Billigkeit zu warten, allein er wurde durch Thatjachen 
belehrt, daß an manchen Orten die Scharfrichter deren Stellung 


(102) 


97 
einnehmen, und es ift von deren „Bosheit, Frevel und Ueber: 
muth” nicht zu erwarten, daß fie durch Milda die Richter be- 
Ihämen würden. Denn gar Mancher von ihnen mag fich 
rühmen, daß er noch Keinen unter den Händen gehabt, der nicht 
zufeßt durch feine Behandlung mürbe gemacht, die umfafjendften 
Geſtändniſſe abgelegt hätte. Die betreffenden Akten erzählen 
und von manchen ‘Fällen, wo ein bejonders hartnädiger An— 
geflagter den Richtern Veranlafjung gab, ſich einen in feiner 
Kunft beſonders gewandten Scharfrichter zu verjchreiben. Dabei 
wird freilich” dann aud von einem Fall berichtet, wo der ſich 
eines bejonderen Rufes erfreuende Scharfrichter von Biberach, 
al3 er zur Folterung einer Angeklagten nach Eßlingen berufen 
wurde, troßdem befennen mußte, daß aus diefem Weibe nichts 
herauszubringen fei. Und dem Henker, der zugleich Arzt war, 
fiel nun die Aufgabe zu, die durch feine Folterfünfte zerrijfenen 
Glieder der Angeklagten wieder zu heilen. 

Uber zurüd zu Spee, der ums nun berichtet, daß nicht 
allein Richter und Henker, jondern auch die „Schandbuben, die 
Büttel und Folterfnechte” ihre Kunft wohl ftudirt und e3 darin 
manchmal zu einer erftaunlichen Fertigkeit gebracht hatten. Nun 
mag man ja wohl begreifen, warum Deutjchland jo voll von 
Heren ift, denn wer einmal in die Hände der Henfer gefallen, 
der muß jchuldig fein, er mag wollen oder nicht. Es wird 
jih ja wohl ſchwerlich Jemand finden, der fich ftarf genug 
fühlte, durch einen Widerruf feiner Ausjagen auf der Folter 
jih von neuem Schmerzen auszuſetzen, von denen man weiß, 
daß „fein Edelmann in Teutjchland zugeben würde, daß man 
jeine Jagdhunde in folcher Geftalt zerreißen möchte”. Trotz 
alledem blieb e3 für Spee unglaublid), „was für Lügen und 
Unwahrbeiten über fich jelbjt und Andere durch die Schmerzen 
der Folter herausgepreßt werben, und muß endlich dasjenige 


wahr jein, was den Henkern und Beinigern gefällt; was die— 
(108) 


23 
jelbigen wollen, das müfjen die armen Sünder befennen, und 
weil fie e3 aus Furcht vor neuer Marter nicht widerrufen 
dürfen, jo wird es alsdann durd) ihren Tod verfiegelt.” „Ich 
weiß, daß ich die Wahrheit rede, und will® an jenem großen 
Gerichtstag, welcher den Lebendigen und den Todten zu erwarten 
jteht und woſelbſt viel wunderbare Sachen, die anio noch im 
Finftern liegen, werden offenbar werden, auch jagen: „Gott ijt 
befannt, wie manchen Seufzer ich aus dem Innerſten meines 
Herzens gelajjen habe, wenn ich bei meiner Nachtwache diejem 
Handel nahgedaht und doch fein Mittel habe finden können, 
welchermaßen man dem Teuer oder Strömen dieſes insgemein 
gefaßten, ungleichen, ungütlihen und hochſchädlichen Wahns 
jteuern oder hemmen möchte.“ Man kann es nicht umgehen, 
bei einem Berjuche, die Angriffe auf den Gebraud) der Folter 
zu jchildern, großentheil3 Spees eigene Worte anzuführen, weil 
diejelben das deutlichjte und ehrenvollite Zeugniß für den Frei— 
muth des Priejters find, und e8 war bei Erörterung der Frage, 
welche ſich auf die Folter bezieht, um jo weniger zu vermeiden, 
als diejelbe auch zugleid; den mächtigen Angriff gegen die 
Folter überhaupt bildet, während ſich die num folgenden Fragen 
mit den Einzelheiten ihrer Anwendung befaflen. Freilich, auch 
jie eröffnen uns einen Blick in die ganze Scheußlichkfeit eines 
jolchen Verfahrens, und Fragen, wie die, ob „Diejenigen, welche 
des Laſters der Zauberei bejchuldigt und deshalb angeklagt 
werden, mehr als einmal gefoltert werden follen,” oder die fol- 
gende: „woher e8 komme, daß viele Richter die Beklagten doc) 
nicht loslaſſen, ob fie fich jchon in der Tortur purgirt haben,“ 
in welcher Spee offen von ber heillofen Geldfucht und dem 
Glauben der Richter jpricht, ald ob ein Makel auf ihnen ruhe, 
wenn fie einen Angeklagten unverrichteter Sache freilaffen müfjen, 
bieten ung in manchem charakteriftiichen Zug noch eine nähere 
Ausführung der Hauptjahe. Der Willfür der Nichter ift mit 


(104) 


233 





Unwendung der Folter ein unumjchränftes Feld angewiejen, 
und daß fie dasjelbe nad) möglichiten Kräften ausbenten, vor 
allem in Löblicher Fürforge für ihre eigene Perſon und ihren 
Geldbeutel, dafür zeugt am kräftigſten die Art und Weije, wie 
fie leben. Der „Herenhammer” vor allem ift es, auf den fie 
ſich in Sachen der Folter als auf eine Autorität berufen, und 
den Vorwurf einer oftmaligen neuen Folter entkräftigen fie 
einfach dadurch, daß fie nicht von einer neuen, ſondern nur von 
einer fortgejegten Folter reden. Jedenfalls ijt ein möglichjt 
unmenfchliches Verfahren gegen die Gefangenen und reichliches 
Ausnugen aller auf der Folter gemachten Berjonalangaben erfte 
und heiligite Pflicht der Richter, denn: „Iſt etwa eine, die 
auf der erjten, zweiten oder dritten Folter nicht befennen will, 
wohlan, wieder zu Zoch mit ihr, in ein enges Gefängniß, an 
Feſſel und Ketten gelegt, daß jie wohl kalt werden in Stanf, 
Elend und Bekümmerniß . . . Es hat ja ein Geringes zu be- 
deuten, ob fie alfo jchon ein Jahr lang Elend jchmelzen muß... 
Fahr Du unterdejjen fort, fang und foltre andre, und wenn 
Du merkeft, daß fie die Schmerzen nicht ausftehen können, 
jondern ſchwazen und befennen mußen, alsdann frage fie...“ 
Bei einem folchen Verfahren wird ja wohl auch der ſtummſte 
Mund beredt und die Hülfe des Teufels, der feinen Anhängern 
auf der Folter Hilfe Ieiftet, vernichtet. Spee hat namentlich 
über das Stillichweigen der Gefolterten jeine eigenen Anfichten 
und Hält es durchaus nicht für unmöglich, daß aud dann 
und wann mit den eigenen menjchlihen Kräften alle dieje 
Qualen ohne den von den Richtern gewollten Erfolg getragen 
werden können. Warum muß es denn gerade der Teufel jein, 
der hier helfend auftritt? Dem Richter und Henker freilich, 
dem von vornherein die Schuld des Beklagten fejtjteht, kann es 
nit Gott fein; allein dem alltäglichjten Verſtande muß es 
dabei auch ar fein, daß fie damit fich der unheilvolljten In— 


(105) 


30 
fonjequenzen jchuldig machen, und jchon daraus erhellt deutlich, 
daß die Folter ihr Entjtehen nur der Blutgier und Mordluft 
der Richter verdanft. 

Ueber einige weitere Fragen hinweg, die ſich damit be- 
Ichäftigen, ob die Tortur ein bequemes Mittel jei, die Wahrheit 
zu erfahren, wie es mit den Gründen ausjehe, die man für den 
Gebrauch der Folter und die Wahrheit der durch diejelbe er: 
preßten Ausfprüche anführe, endlich, ob man die Tortur wegen 
der allzu großen Gefahr ganz abjchaffen joll, wobei Spee ent- 
jchieden für Aufhebung oder doc, mindeftend möglichite Ein- 
Ihränfung jpricht, fommen wir zu einem Abjchnitt, der ung das 
milde, echt chriftliche Wejen Spees in jchönften Lichte zeigt. 
Die 30. Frage bejchäftigt ſich nämlich damit, „weſſen ſich die 
Beichtväter vor den Gefangenen zu verhalten”, und jtellt dabei 
das Mufter eines Prieſters und Beichtvaters auf, das für alle 
Beiten al3 gültig betrachtet werden fann. Entgegen der gewöhn: 
lihen Praxis der damaligen Zeit, die zu Richtern und Beicht- 
vätern in den Hexenprozeſſen am liebjten Heftige, zudringliche 
und ungeftüme Menjchen, vor allem aber blinde und willenloje 
Werkzeuge jucht, betont Spee ausdrüdlich ein über alle jolche 
menjchlihen Schwädhen erhabenes, chrijtlich mildes Benehmen 
des Priefters, der den Gefangenen nicht durch Drohungen ein- 
Ihüchtern, jondern fein Herz durch verjöhnliche Milde, durch 
Hinweijen auf die Waterliebe Gottes, die ſich jo gerne des ver: 
(orenen Kindes erbarme, weich und empfänglic” machen folle. 
„Denn jolchergeftalt wirds gejchehen, daß, wenn die Sündenjtride 
nunmehr zerbrechen und die Herzen und Gemüther der Ge- 
fangenen durch ſolch' Heilfam Geſpräch der Beichtväter werben 
erweicht fein, fie hernach alles Sündengift nicht allein vor ihrem 
Prieſter, fondern auch vor den Richtern jelbjt und an der 
Gerichtsjtelle um fo leichter und eher herausgießen und offenbar 


werden.” E3 Handelt ſich ja bei diejen Gefangenen nicht allein 
(106) 


um ein Belenntniß, defjen Erprejjung bei den meijten Beicht— 
vätern der Hauptzwed ijt, jondern deren Pflicht ift es auch 
hauptjählih, ihnen zu nahen als ein Vater, welcher fie durch 
den Geiſt des Sohnes Gottes tröften wolle, eine Eigenjchaft, 
die eine wefentliche Grenze bilde zwijchen feinem Amte und dem 
eines Richters. Und andererjeit3 weiß ja der Prieſter recht 
wohl, wie er mit gutem Gewifjen jeined Amtes zu warten hat, 
er weiß, daß er fich der Gefangenen annehmen foll mit ganzem, 
erbarmendem Herzen, daß ihre Bekenntniſſe dem Prieſter nicht 
zu einer Anklage gegen, jondern zu einer Fürſprache für fie 
bei den Richtern dienen jollen. Ein jolches Benehmen ift nun 
allerdings nicht nach dem Sinne der Legteren, die im Gegentheil 
ein möglichjtes Ungejtüm des Prieſters und als Folge defjen 
Ichleunige Belenntniffe der Gefangenen erwarten, weswegen fich 
Spee, wie er in ironischer Weije erzählt, einmal einem Nichter 
gegenüber erboten hat, auch das unſchuldige Weib, das allen 
Qualen der Folter Troß geboten, durch ein jolches Benehmen 
zu allen nur möglichen Geftändnijjen zu bringen. Und wenn 
e3 jolche Leute nicht gäbe, wer wollte dann Fürſten und Herren 
bereden, daß ganz Deutjchland voll ſei von Zauberern und 
Heren. Jedermann weiß ja außerdem, welch” große Gefahren 
e3 auf fi) Hat, einem Gefangenen das Wort zu reden, da die 
Richter in einem folchen Falle mit Freuden bereit find, dieſe 
Kühnheit als Schuldbewußtjein aufzufafjen. 

Eindringlich legt Spee am Schlufje diejer wichtigen und 
in gewijjenhafter Weiſe behandelten Frage allen Beichtvätern 
ans Herz, jeine Worte oft und nicht allein oberflächlich zu leſen, 
noch manchen einzelnen Fall führt er auf, der dem echt chriit- 
lichen Briejter reichlich Gelegenheit giebt, fich als wahren Diener 
Gottes zu zeigen, er verwirft 3.8. vollftändig die Unwejenheit 
eined Priejterd in der Folterfammer, er warnt ernjt vor Miß— 
achtung des WBeichtgeheinmifjes und findet immer wieder neue 


107) 


32 
Worte und Wendungen, um die Angeklagten als dag zu em- 
pfehlen, was fie find, arme, unglüdliche Gejchöpfe. Deswegen 
erhebt ihn auch die hierdurd) ausgejprochene Gefinnung weit 
über fein Jahrhundert, und fein Bekenntniß am Schluß diejer 
Frage: „Ich ſage und betheure e8 bei meinem Eid, daß ich 
alles reiflich erwogen Habe, daß fie des Laſters in Wahrheit 
ihuldig gewejen wäre“ gewährt uns einen Einblid in die von 
Fragen und Zweifeln aller Art erfüllte Seele des Mannes, ber 
ſich erft durch diefe Kämpfe Iosringen fonnte von der unbeil- 
vollen Verblendung feiner Zeit. „Man trachte mit Fleiß,” jo 
räth er zuguterlegt, „daß ein anderes, überaus jchredliches, 
greuliche® Lafter, wodurch dem gemeinen Mann Schaden ge- 
ichehen fünnte und davon man vorher in Zeutjchland nichts 
gewußt, auch nicht weiß, zu finden wäre, man lafje das Gejchrei 
davon ausfommen, man jebe Inquifitoren und Kommifjarien 
darüber ein, man lafje fie auf die Maß und Weis procediren, 
wie fie bei den Herenprozefjen pflegen, wenn es nicht auf dieſe 
Weile dazu kommen wird, daß derjenigen, jo fich zu dieſem 
Rafter befennen, in kurzer Zeit ſoviel wird werden, als jegund 
Bauberer und Hexen fein jollen, jo will ih mid Kayſ. Maj. 
jelbft darjtellen, und follte fie mich lebendig ins Feuer werfen 
laſſen.“ Muß man hier nicht fragen: „Was bedürfen wir weiter 
Beugniß? Sind jolhe Worte, die aus dem Munde eines Zeit: 
genojjen kommen, nicht Hinreichend genug, um den in neuerer 
Zeit den Darftellern Ddiejer Periode gemachten Vorwurf des 
Schwarzjehens in Bezug auf die Thätigkeit der Richter voll- 
tändig zu entkräften? Spee, ber an jedem Menjchen gewiß 
Gutes jah und jchäßte, dem wir zweifellos ein unparteiisches 
Urteil zutrauen fönnen, hätte ja gewiß nicht unterlaffen, das 
zu Gunften der Richter und Geiftlichen anzuführen, was hätte 
angeführt werden können. Allein er jchweigt, er weiß namentlich 


auch nichts von einem rechten chriftlichen Benehmen der Priefter 
(108) 


33 


in diefen Prozefjen zu jagen, mas doch am eheſten noch — 
erwartet werden dürfen. 

Es muß dem roheſten Menſchen die Röthe der Scham ins 
Geſicht treiben, wenn er ſich von Spee ſagen laſſen muß, wie 
ber Menſch entarten und zum gemeinen Thier herabſinken kann. 
Seine Worte: „O des abergläubiſchen ſchändlichen Werkes und 
wie ſoll ichs nennen? Göttlich iſts nicht, engliſch iſts nicht, 
chriſtlich iſts nicht, jüdiſch, türkiſch, heidniſch iſts nicht, viehiſch 
iſts nicht, ſo iſts gewiß teufliſch, ja teufliſch und nicht menſchlich“ 
find hierbei leineswegs zu kräftig. Und wo bleibt bei ſolchen 
Handlungen das alte Zob der Deutjchen, „als welche vor anderen 
den Namen und Ruf der Keufchheit gehabt und verloren“. 
Wohl könnte man am Ende alle diefe Graufamleiten und Ab« 
jcheulichkeiten in einem etwas milderen Lichte betrachten, wenn 
die Schuld der Angellagten mit abjoluter Sicherheit feititände; 
diefelbe ruht aber gewöhnlich auf einem fo ſchwachen Grunde, 
daß die Richter mit ihrem Leichtfinn in Benutzung der Schuld» 
indizien eine unverantwortlihe Sünde auf fi laden. Die 
Natur der Folter bringt e8 mit fi), daß die Indizien, die zu 
einem folchen Verfahren veranlafjen müfjen, keineswegs nur 
ihwache fein dürfen, ſondern wenn folche, die zur Verdammniß 
führen, die allergrößten und ftärkften fein müſſen, fo ift daraus 
abzunehmen, daß die erfteren fich diefen jehr nähern, ihnen bei- 
nahe gleichen müffen. Sie follen „Start und Mar und beinahe 
gänzlich gewiß fein, aljo daß ein jedweder Verſtändiger den— 
jelben viel zutrauen könnte.“ Freilich iſt hier die landläufige 
Anſicht die, daß eine Beurtheilung der Indizien für dieſen 
Zweck Iediglich der Willfür der Richter zu überlafjen fei, allein 
Spee hält die Sache denn doch fir zu fchwerwiegend, als daß 
mit dem Urtheilsfpruch eines Einzelnen hier gedient wäre. Es 
ift im Gegentheil eine Pflicht desfelben, fich den Rath anderer 


Kollegen, wenn auch nicht für jeden einzelnen Yall, einzuholen, 
Sammlung. R. 3. XII. 291. 3 (109) 


34 


und wird dadurch auch der Prozeß in die Länge gezogen, fo 
hat man auf der anderen Seite doc) wieder das Bewußtſein, 
nad) bejtem Wiffen gehandelt zu haben. Won anderer Seite 
wird freilich ein ſolches Verfahren, das nur den rajchen Verlauf 
der Prozefje hemme, als „engherzig” bezeichnet, und felbit die 
höchſte Obrigkeit flimmt der feitherigen Art des Prozeßverfahrens 
bei. Da möchte Spee das Herz brechen, wenn er daran denft, 
wie fich einige Inquifitoren nicht fcheuten, feinen gottesfürdhtigen 
und frommen Lehrer Tannerus wegen feiner offenen Stellung- 
nahme gegen die Folter al3 ein willlommenes Opfer für die— 
jelbe zu bezeichnen. Und wiederum macht er fich bei diejer 
Gelegenheit erbötig, daß er, wenn er ein Inquifitor wäre, aud) 
alle Prälaten, Kanoniker und Priefter inquiriren wollte, „was 
gilts, fie jollten endlich befennen, alsdann wollte ich euch jagen, 
fehet ihr nun, wo die Zauberer fiten. Ic weiß in Wahrheit 
nicht, was dem lieben Teutjchland Hierin helfen könne, als der 
große Kayjer, denjelben mögen die Bebrängten anlaufen und 
Shut und Schirm anrufen.” 

Das einzige Indizium, das einen Anlaß zur Feſtnahme 
Berdächtiger bieten kann, find die böſen Gerüchte! Allein man jehe 
erjt, wie dieje entjtehen, von wem und wie fie verbreitet werben, 
man lerne alle die Eleinlichen Bosheiten, Eiferfüchteleien und 
Klatjchereien kennen, denen dieſe Gerüchte nur zu oft ihren 
Urjprung verdanken, man denfe an die böjen Zeiten, in denen 
wir leben! Iſts doch der Verleumdungen und des Schändens 
aller. Orten voll .. . . widerfährt ung etwas Widerwärtiges, 
jo muß gejtrads Dieje oder Jene uns bezaubert haben, da läuft 
man zu den Wahrjagern, und werden folchergeitalt die armen, 
ehrlichiten und redlichiten Perſonen in böfen Verdacht gezogen, 
da geht man zu Diefem oder Jenem ins geheim” ... . dem 
jtrengen Kritiker aber gelten feine Entjchuldigungen und keinerlei 


Berjuche des Einen, die Schuld auf einen Andern abzuladen..... 
(110) 


35 


Denn Fürften und Herren haben ja dazu ihre Diener, daß fie 
fi) von dieſen über alles wahrheitögetreue Berichte erftatten 
lajjen, und fie vor allem, in deren Händen die Sorge für das 
Wohl ihrer Unterthanen und ihres Vaterlandes liegt, follen 
alles bis auf die kleinſte Kleinigkeit hinaus genau prüfen und 
erwägen. } 

Sie dazu zu veranlafjen, ihnen ihre Pflichten vorzuhalten, 
find die Geiftlichen berufen. Sie jollen die Fürften und Herren 
aus ihrem Schlafe aufrütteln, und wach erhalten, fie follen 
durch ihren Einfluß dafür forgen, daß die Gerüchte über Die 
Angeflagten genau geprüft und auf ihren wahren Werth zurück— 
geführt werden, jo wird es wahrjcheinlich keinen Menſchen bei. 
fallen, den Richtern und ihrem Verfahren irgend etwas zur 
Laſt zu legen. Hat aber die Obrigkeit einmal erfannt, wie es 
ih mit all dieſen böſen Gerüchten verhalte, jo Hat fie aud) 
ſtracks al ‚die Verleumder und Lügner aus dem Wege zu 
räunien, weil fie alle8 zu bejeitigen bat, was einen Unjchul- 
digen in Gefahr bringen könnte,” fo fol fie auch darauf aus 
jein, daß fie die giftigen Zungen aus dem Wege räinıen, oder 
müfjens ja geftehen, daß ihre Prozefje auf nichts, als auf einem 
Haufen erdichteter Zügen gegründet ſeien.“ 

Macht fich aber die Obrigkeit hierzu nicht anheifchig, jo hat 
jeder Geiftliche noch ein anderes Mittel, die Läftermäuler zu 
ftopfen, nämlih das Wort Gottes. Allein eine beichämende 
und traurige Thatſache ift ed, daß, wenn man beginnen wollte, 
alle dieje Läfterer auszurotten, Hierbei das Wort Gottes bei 
Ezechiel: „Fahet aber an an meinem HeiligtHum“ eine nur, 
zu treffende Anwendung finden würde. Giebt es ja doch nament- 
lich unter den Geiftlichen Leute, die alles das, was böje Zungen 
ausftreuen, für ein Evangelium halten, und dadurch das Uebel, 
anftatt ihm zu fteuern, nur vergrößern und vermehren. „Wie 


ſoll oder kam man fi nun zu folchen Leuten verjehen, daß 
3* (im 


36 


die andere jtrafen jollen, die vor andern der Beitrafung würdig 
wären!” Wie aber fann man auch ſolchen Reden glauben, wenn 
man doch weiß, daß „viel arme unanjehnliche und verachtete 
Weiblein” nicht den Muth und die Kraft Haben, fich von einem 
einmal auf fie geworfenen Verdacht zu reinigen, von einem 
Berdacdht, der ihnen gar oft zum erften Male von „unachtjamen, 
unverftändigen Kindern“ angehängt wird. Der Verſuch, ſich 
von einem jolchen mit Hülfe der Gerichte zu reinigen, iſt auch 
ein jehr gewagter, da man von Obrigfeitswegen nur zu leicht 
geneigt ift, einen folchen als das Ergebniß eines böjen Ge- 
wiſſens anzujehen, und da das Belanntwerden eines folchen 
Verdachts, auch wenn derjelbe von Rechtswegen bejeitigt wurde, 
dennoch gar leicht einen Linglüdlichen in Verruf bringen kann. 
„Denn daß Jemand geläftert, gejchändet oder gejchmäht fei, daß 
entfällt Niemand jo leicht, daß aber ber Gefchmähete losge— 
Iprochen, und für fromm erfennet worden, dejjen vergißt ein 
Jeder bald, oder giebt man aud wohl dem Richter Schuld, 
daß er aus Gunft oder um ein Geſchenk willen das Urtheil aljo 
gefället Hat.” Wir jehen, Spee verftand fich gar wohl auf das 
menjchliche Herz! 

In einem früheren Abjchnitt war die Frage behandelt 
worden, ob das Lafter der Heren zu denjenigen zu rechnen jei, 
die man als aufßergewöhnlide auch mit außergemöhnlichen 
Mitteln bekämpfen mußte. Herenmeifter und Inquifitoren waren 
natürlich gerne bereit, eine ſolche Frage entichieden zu bejahen 
und damit auch ihrem ganzen Gebahren den Stempel der Gejet- 
lichkeit aufzudrüden. Eine ſolche Anficht, namentlih auch mit 
Bezug auf die unjchuldigen Gerüchte, hält Spee wohl ber Ueber: 
fegung für werth; zwar weiß er ſich auch hierbei im Wider: 
ſpruch mit manchen Rechtsgelehrten und Richtern feiner Zeit, 
allein er kann irogdem nicht anders, als eine dahingehende 


Frage im verneinendem Sinne beantworten. Denn aus einer 
(112) 


37 


von ihm angeführten Stelle folgert er, daß „wo das Geſetz 
feinen Unterjchied macht, da gebühret ung auch feinen nnnöthigen 
Unterfchied zu machen“. Und wie bei anderen Laftern das 
bloße Gejchrei durchaus feinen endgültigen Beweis bildet, warum 
ſoll dieſe in einem jolchen Falle geringe Bedeutung des Ge 
rüchts nicht auch für den Fall der Herenprozefje gelten. Ein 
ſolches Berfahren jteht ja an und für fich ſchon im jchreienditen 
Widerjpruc zu den Regeln der menfchlichen Vernunft, die lehrt, 
daß je größer und greulicher ein Lafter ift, je größer und 
jtärfer jollen auch die indicia fein, — fintemalen allhier eine 
größere Gefahr zu bejorgen fteht. Liegt die Regel für das 
ganze Verfahren ja doch jchon im Namen des Laſters, das ein 
ſchweres und verborgene? genannt zu werden pflegt. Wie aber 
für Spee die Hauptwaffe nur die chriftliche Liebe ift und bleibt, 
jo fann er es auch an diejer Stelle nicht umgehen, darauf hin— 
zuweifen, daß fie es gerade ift, die ben Richtern zur Pflicht 
macht, daß „eben von deswegen, dieweil die Zauberei jo ein 
graujames und verborgenes Laſter ijt, man defjen dejto mehr 
Grund haben muß, ehe man procedirt”. Und damit wird auch 
der Einwand zurüdgewiejen, daß mit einem langjamen und gar 
zu gründlichen Verfahren dem öffentlichen Nuten nur jchlecht 
gedient wäre. 

Wir find mit alledem unferem Autor auf ein Gebiet ge- 
folgt, das, abjeit3 von dem allgemeinen Intereſſe liegend, fich 
vielmehr jpeziell mit einigen juriftiichen Fragen damaliger Zeit 
beichäftigt. Sind auch die Ausführungen darüber ein ehren. 
volles Zeugniß für die Belejenheit und alles beachtende Ge» 
wifjenhaftigfeit Spees, fo bieten fie an und für fich Doch weniger 
Bedeutendes, da fie eine genaue Kenntniß der mittelalterlichen 
Zurisprudenz voransjeßen. Das Eine indefjen jehen wir auch 
heute noch daraus, daß Richter und Inquifitoren unbekümmert 
um das, was ihnen Geſetz umd Recht vorjchrieb, den Wortlaut 


(113) 


38 


desjelben ganz nad) ihrer Willfür drehten und bdeuteten, und 
daß die Stimme der reinen menſchlichen Vernunft einfach un— 
beachtet blieb oder gewaltjam unterdrüdt wurde. Obrigfeit und 
Diener jehen wir dabei einmüthig Handeln, und es ift darum 
auch ihre Antwort auf die Frage, „ob auch Eine, welche auf 
der Folter nichts befennet, fondemniret und verdammt werben 
möge”, ein einjtimmiges® „Ja“. Spee aber hat auch bier unter 
der ausdrüdlichen Vorausfegung, daß fein Angeklagter ohne 
ganz untrügliche Beweije für feine Schuld verdammt werden 
könne, feine bejonderen Anfichten, die ihm jagen, daß „Die 
jenigen, welche auf der Tortur nicht befannt haben, mit Recht 
und Billigkeit nicht verdammt werden können“. Das will 
freilich mit der Praris der Richter durchaus nicht Harmoniren, 
die fic) am bejten zeigt bei dem Beiſpiel einer Frau, die troß 
drei» und viermaliger Folter doch bei der Ausjage ihrer Un- 
ſchuld beharrte, auch dann noch, als man fie zum Scheiter- 
haufen führte. 

Kam es aljo vor, daß die Folter ihren Dienft verjagte, jo 
mag es auch des öfteren gejchehen fein, daß mande Ange— 
flagte noch auf dem Weg zur NRichtitatt, ja jelbft auf dem 
Sceiterhaufen, ihre auf der ‘Folter befannte Schuld widerrief, 
und es ergiebt fich daraus die Trage, ob auch einem folchen 
Widerruf noch Werth beizulegen jei. Natürlich lautet hier die 
Antwort der Inquifitoren „nein“, und fie haben dabei eine 
Stüße an der allgemeinen Praris. Allein troß aller Einwürfe 
von diejer Seite hält Spee die Anficht aufrecht, daß, „wenn 
einige arme Sünder, welche ſich zum Tod und Sterben wohl 
fürbereitet haben, ihr Bekenntniß widerrufen, man dasjelbige 
nicht allerdings verachten uud in Wind ſchlagen, jondern der 
Sade weiters nachdenken, die indicia von neuem und mit 
mehrerem Fleiß eraminiren, und die Nechtsgelehrten um Rath 


fragen jolle, und das zumalen und vorab beim Herenhandwerf, 
(114) 


39 


welches, weil ein ausgenommen heimlich) Laſter ift, nicht 
weniger, jondern mehr und größeren Fleiß und Nachdenken er- 
fordert. Aber wo ijt das jemals in Teutjchland gefchehen, jo 
zu diejen Zeiten etwa ein frommer gottesfürchtiger Mann fich 
unterjtehen jollte, den Richtern hierbei einzureden, und eins und 
anderes zu Gemüth zu führen, würde er bald hören müfjen: 
Was gehet Dich diefe Sache an, wir wifjen, was diesfalls die 
Rechte mit fich bringen; etwa als wenn es mit den Rechten fo 
ein verborgen Ding wäre, daß Niemand diejelben gelejen, als 
welche jich eben für Nechtsgelehrte ausgeben. Wollte Gott, daß 
fie alle, jobald fie zu diefem Handel gezogen werden, einen jo 
erleuchteten Verſtand und rein Gewifjen überfämen, daß fie 
nicht irren fönnten, jo dürfte man diefer Vermahnung und Sorge 
nicht, aber die Erfahrung giebt? anders, uud ijt3 gewiß, daß 
man damit umgehe, wie in unjerem lieben Teutichland nicht die 
Wahrheit, jondern die Scheiterhaufen leuchten und fcheinen 
mögen.“ Raſend und toll müßte demnach Einer fein, der vor 
den Richtern anders redete, als fie e8 haben wollen, denn er 
mag fich drehen und wenden, wie er will, er mag befennen 
oder leugnen, immer haben jie in der Folter dag Mittel, die 
Ausjagen zu befommen, die fie haben wollen. Daß dieſe An- 
nahme, wie jo manche andere, der gejunden Vernunft und dem 
Rechte jchnurgrade entgegenläuft, wenn dieje lehren, „daß ein 
Jedermann für jo lange für aufridhtig und fromm gehalten 
werden jolle, bi8 man ihn eines niedrigen mit gutem Grunde 
überweije”, und daß „wenn Jemand im Kerker todt gefunden 
wird, nicht gegen den ZTodten, jondern gegen Hüter und Auf 
jeher der Gefängniffe fich der erſte Verdacht zu richten hat, als 
ob dieje ein Verbrechen begangen”, daß ferner in den meiſten 
Fällen alles auf einen natürlichen Tod hinweift, den die körper- 
lihen und ſeeliſchen Schmerzen gar leicht herbeiführen, dafür 
find die meiften Richter blind und taub. Aber auch Fürſten 


(115) 


40 


und Herren find ebenſo in diefen Stüden blinde Werkzeuge in 
ber Hand der Henker, deren Ausſage, daß der Teufel den Ge: 
fangenen den Hals umgedreht, einfach und ohne jede Prüfung 
als Evangelium angenommen wird, während doch eine folche 
alles ala Züge erweijen würde. 

Es iſt genugjam befannt, welch großen Werth Inquifitoren 
und Richter auf die durch die Folter erpreßten Angaben weiterer 
Schuldiger legten, wie fie dabei nicht verfehlten, den Gefolterten 
die Angaben möglicht leicht, und die Perſonen, die fie angegeben 
wiffen wollten, möglichit Handgreiflich zu machen. Man weiß 
auch, welches Unglüc Hierbei durch die Angeklagten, die freilich 
dabei nur den kleinſten Theil. der Schuld zu verantworten 
haben, über mande Familie und manchen Bezirk gebradjt 
wurde, wie Neid, Mißgunſt und Rachſucht eine willlommene 
Gelegenheit fanden, fi) Luft zu machen, wenngleih die Ans 
geber jelbjt dies mit ihrem Leben bezahlen mußten. Spee hatte 
in feiner amtlichen Thätigkeit jedenfall® reichlich Gelegenheit, die 
verhängnißvollen Folgen jolcher Denunziationen kennen zu 
lernen, und die frage: „Ob ‚denn auch bei diefem Laſter auf 
die Befagung viel zu geben fei”, dünkt ihm wichtig genug, um 
fie nad) allen Seiten hin reiflich zu überlegen und zu erwägen. 
Er gelangt damit zugleich zum letzten Theil feiner Abhandlung 
und weiß noch einmal alle ihm zu Gebote ftehenden Mittel 
in Bewegung zu fegen, um dem Wahn und Aberglauben, der 
in Dentichland jo gräßlich wüthete, ein Ende zu jeßen. Kurz 
und bündig giebt er gleich im Anfang fein Urtheil ab: „Ich 
achte auf ſolche Bejagungen, wenn deren ſchon jo viele wären, 
fo viel al3 nichts, fintemalen fie wenig auf ihnen tragen, jon- 
dern es damit ein betrüglich, verführeriich und wenn man ver» 
nünftig davon urtheilen will, ein verdächtig Ding ift, und ge- 
ftehe nicht, daß folche derart jeien, daß man darauf einige Per» 


jonen, fie feien font eines guten oder böjen Gejchreys, wenn 
(116) 


41 


nicht andere ftärfere indicia dazu fommen, gefänglic einziehen 
und foltern könne”. Ihm genügt es nun freilich micht, wie 
jeinen Beitgenofjen, den Richtern und Inguifitoren, einfach jein 
Urtheil ohne jede Begründung auszufprechen, und Hinzuftellen, 
jondern er fucht nad allen möglichen Beweifen dafür. Die- 
jelben findet er einmal in der Meinung „ſehr vieler der für- 
trefflichjten Direktoren”, fodann in den Paragraphen des Ge 
ſetzes, wo von einer derartigen Denunziation gar nicht gejprochen 
wird, was doc) gejchehen wäre, wenn man diejelbe irgendwie 
für bedeutfam gehalten Hätte. „Sollte,“ jo jagt er, „die widrige 
Meinung ftattfinden, jo wirds dazu kommen, daß e3 in unehr- 
licher lafterhafter Menjchen Gewalt ftände, die Fama und den 
guten Namen ehrlicher frommer Leute ihres Gefallen® zu be 
ſchmuzen, und diejelben in Schand und Unehr zu jezen, welches 
ja in allerwege ganz ungereimt wäre, und den Unjchuldigen ge 
fährlich fallen würde. Doc jol man ihrer Verrätherei nicht 
glauben, weil der Teufel ein Lügner ift, e8 wäre denn, daß 
noch andere indicia und facta mit einftimmten.” 

Es gelten auch nach gewöhnlichem Recht die Ausfagen 
übel beleumundeter und lafterhafter Menjchen — und ſolche find 
ja doch wohl Zauberer und Heren — nichts; allein das hindert 
die Richter keineswegs, in diefem Falle jolhen Angaben Glauben 
zu ſchenken, weil der Angeklagte durch eine zweite Folter gleich. 
ſam wieder ehrlich gemacht wurde, wenn er auch erbötig war, 
fie ohne Anwendung der Tortur zu machen. Über e3 ijt doch, 
und zu diefem Schluß fommt Spee, nad) Zurücdweijung aller 
möglichen Einwürfe, „der Natur und aller Vernunft zumider, 
dab Du auf deffen Wort und Zeugniß etwas bauen wollteit, 
den Du weißt und fenneft, daß er ein verlogener Menſch jei, 
dieweil denn nur, wie ein Jedermann dasjelbig befennen muß, 
und e3 anders nicht fein kann, Fein Volk unter der Sonne zu 
finden, welches des Lügens und Unwahrheit halber höher und 


(117) 


42 


mehr bejchreiet fein möchte, als eben die Zauberer und Heren, 
als welche bei dem Meifter der Lüge, dem Teufel zur Schule 
gegangen, fo folget in Wahrheit, daß man feine bejchreiete und 
Iafterhafte Leute, weniger ala eben Heren und Zauberer zu 
Beugen führen follte oder könne“. Werden jedoch im weltlichen 
und im geiftlichen Gericht „die Weiber wegen ihres blöden Ber- 
Standes in peinlihen Sachen zu Zeugen nicht zugelafjen,“ wie 
will man denn in diefem Fall Zauberer und Hexen gelten 
laſſen „finds doc) gemeiniglich verachtete, ſchlechte, unverftändige, 
madelhafte, halbfinnige Weiblein“. Mancher nimmt hier freilich 
als Vorwand die ganz bejondere Urt des Verbrechens der Here, 
allein dies ift und bleibt eben ein Vorwand, um die aller Ver: 
nunft Hohnjprechende Art und Weife der Prozeſſe zu verbergen. 
Ein Widerfpruh um den andern fällt auch Hier den Richtern 
zur Laſt, und anftatt den Teufel auszutreiben, leiften fie dem— 
jelben mit einem jolchen Verfahren nur Vorſchub, denn ihm 
natürlich ift e8 eine Luſt, im Bunde mit jeinem Gefinde alle un- 
Ichuldigen Menſchen ind Unglück und auf die Folterbant zu 
bringen. Wer wollte ihn auch daran Hindern: „Sind doc) jezt 
in Teutſchland alle Turm und Stöde voll gefangener Leute, 
gejagt nur, daß diefelbigen alle miteinander Zauberer und 
Heren wären, bald jpannet man fie auf die Folter, damit fie 
ihre Gefellen und Geſpielen anjagen jollen, und weiß der Teufel 
wohl, daß alle diejenigen, welche fie bejagen werben, eben den: 
jelbigen Weg werben wandern müflen, was wird denn dieſer 
Mordgeift, jintemalen ein folcher von Anbeginn gewejen, wohl 
anders thun, al® daran fein, damit diejenigen bejagt werben 
mögen, deren Unheil und Untergang er längſt gewinjcht Hat. 
Sollte auch wohl diefer Schadenfroh einen näheren und 
befjeren Weg haben erdenfen können, feine mörderifchen Anfchläge 
in Zeutjchland ind Werk zu fezen.” Daß angefichts folchen 
Benehmens die Richter das ihnen von Spee ertheilte Lob „ein- 
(118) 


43 


fältiger Schafsköpfe” fi ruhig gefallen laſſen mußten, wird 
Jedermann zugeben, zumal wenn man Hört, welche weife und 
untrügliche Lehren fie den Beichtvätern über die Heren geben. 
Da iſt natürlich fein Name zu fchlecht, um ihn nicht diefen Un- 
glüdlichen beizulegen, feine Handlung zu niederträcdhtig, um 
derjelben nicht ein jo jchwaches Wejen zu bejchuldigen. „Fahret 
berwegen tapfer fort, ihr Inquifitoren, greift nur die Beſagten 
friih an, es darf feinem Zweifel, daß fie nicht Heren jein 
jollten, jpannet fie nur auf die Folter, bis fie befennen, wollen 
fie nicht bekennen, fo verbrennt fie lebendig, denn es find ja 
Heren, hats doch der Teufel gejagt, und zwar auf der Folter. 
D liebes Teutfchland was machſt du doch; dieſe einfältigen 
Schafsköpfe bejorgen ſich, daß die Geiftlichen von den Heren 
betrogen werden möchten, aber daß fie felbjt follten können be- 
trogen werden, das will in ihren Kopf nicht. Sie jagen: „Ei 
die Schandvetteln lügen und trügen auch mitten im Saframent 
der Beichte, aber auf der Folter da reden fie die Wahrheit, da 
fönnen fie nicht betrügen, ift das nicht ein verfehrter Lächerlicher 
Handel, und dennoch will die Obrigkeit in Teutjchland, ohn- 
angejehen, daß fie jo viele verftändige Räthe hat, dasjelbig noch) 
nich bemerken, wo ift denn Wunder, daß der Teufel Meifter 
fpielt, und feine Morbdpfeile jchießet, wohin er will.” Nach 
Ungabe der Richter ift freilich der Umftand in Betracht zu 
ziehen, daß fich ja manche Heren auf der Folter befehren und 
ihr fündiges Treiben verdammen, und es wird ſich daran die 
Frage knüpfen, ob man in einem folchen Falle ihren Ungaben 
nicht doch Glauben ſchenken fol, wenn man diejelben auch im 
gegentheiligen Falle unbeachtet ließe. Diejen Einwand zu machen, 
foftet aber nicht viel, wenn man weiß, daß alle Denunziationen 
gemacht und zu Protokoll genommen werden, ehe man den Ge 
fangenen einen Geiftlichen und dadurch zugleich einen äußeren 
Anlaß zu ihrer Belehrung giebt. Sieht ſich die Angeklagte 


(119) 


44 


aber nach Beichte und Buße veranlaßt, ihre zuvor gemachten 
Ausfagen, al3 durch die Folter erpreßt oder in der Todesangft 
gemacht, zu widerrufen, jo erhellt daraus, daß fie den Prieſter 
nur belogen und ihre Reue eine falfche und unaufrichtige war. 
Alſo giebt es auch in dieſem Falle auf feinem Wege ein 
Entrinnen! 

Uber wenn man nach Namen erſt nach gefälltem Urtheil 
fragt, jo würde man damit doch einen Weg betreten, auf dem 
man mancherlei Irrthümern nicht ausweichen fünnte, und bed» 
wegen am flügjten daran tut, auf alle diefe Angaben feinen 
Werth zu legen. Wer vermag zu fonitatiren, ob die Aus 
fagen nad) der Beichte glaubwürdiger find, als die vor der 
Beichte. „Ein Beichtvater kann wohl jagen, daß der Angeklagte 
ehrlich und aufrichtig Buße gethan babe, allein kann er nicht 
ebenjogut, da ja doch einmal der Teufel ein Vater und Meijter 
ber Lüge ift, mit Ddiefer Angabe jelbjt belogen und betrogen 
werben.“ Tür alle Fälle wußten es aber auch hier wieder die 
Herren jo einzurichten, daß es für die Angeklagten fein Ent» 
rinnen gab; denn, jagte der Prieſter: Die Here babe ben 
Richter belogen, jo jagen dieje, fie Habe den Prieſter belogen! 
und fie bleibt, wa8 fie war, eine Here. Eines wurde freilich 
bis jet nur ganz kurz erwähnt, daß namentlich folchen „Be 
ſagungen“ zum ‘großen Theil böswillige Abfichten von feiten 
der Angellagten zu Grunde liegen, die auf die einfache Rach— 
jucht Hinauslaufen ; wenn fich diefelben nicht gar der Hoffnung 
bingeben, durch erheuchelte Buße die zu erwartende Strafe zu 
mindern oder gar aufzuheben. — Und jelbjt auch dann, wenn 
anzunehmen wäre, daß die Buße eines Angellagten eine ernite 
und aufrichtige jei, muß man wohl davon abjehen, die Aus 
jagen desjelben für glaubwürdig zu halten, wenn man weiß, 
daß ein Widerruf der auf der Folter gemachten Ausſagen nur 


neue Schmerzen zur Folge hat, und es ift feineswegs unver: 
(120) 


45 


ftändlich und unverzeihlich, wenn ein Angeklagter, um jolchen 
Qualen zu entgehen, troß aufrichtiger nud ernfter Buße bei 
feiner Befagung beharrt. Denn die menjchliche Schwachheit iſt 
zu groß, noch größer aber, und für menfchliche Kräfte zu groß 
find die Qualen der Folter, und die Gefchichte der Heren- 
prozefje hat unzählige Beifpiele von Unjchuldigen, die durch 
folhe Bejagungen ins Gefängniß, auf die Folterbank und zum 
Sceiterhaufen geichleppt werden. Das verjteht freilich nur ber, 
dem die Qualen der Folter befannt find, und drum werden 
nur Wenige gefunden, die ihre Ausfagen widerrufen. Verſucht 
das aber einmal einer und glaubt, fein Gewifjen wenigitens in- 
fofern erleichtern zu können, als er bezüglich einiger Perjonen 
feine Ausfagen widerruft, jo mildert er weder für fich Die 
Strafe, noch erwächſt dem Angegebenen irgend ein Vortheil 
daraus, weil die übrigen, deren Namen nicht widerrufen wurden, 
um fo ficherer als fchuldig erkannt und demgemäß behandelt 
werden. Immer noch aber bleibt ein Grund, den Ausſagen 
der Heren ihre Glaubwürdigkeit zu nehmen, den die Heren- 
richter jelbft anführen, wenn fie jagen: daß die Heren nicht 
jedes Mal perfönlic; und wahrhaftig auf ihren Gejellfchaften 
und Tänzen zufammen kommen, fondern daß fie ſich defjen oft 
viel einbilden, der Geftalt, daß der Teufel ihnen entweder felbit 
einen jolchen blauen Dunft vormalt, oder durch jeine ver- 
zauberte Arznei ihre Phantaſie dermaßen verwirrt, daß fie 
meinen, fie feien dabei gemwejen, und gejehen, welchermaßen die 
Heren, nachdem fie ſich mit einer gewiljen Salbe angejtrichen, 
entjchlafen, auch unterdeffen von den Aujchauern wohl abge. 
prügelt, an eben demfelben Ort verblieben find, und dennoch, 
wann fie ausgejchlafen, von ihrer Ausfahrt, Reife und Bei- 
jammenjein muntere Schojen erzählt haben. 

Sollte er aber auf Mißtrauen oder gar Unglauben ftoßen, 
fo giebt Spee zu bedenken, daß ein ſolcher Vorgang, wie der 


(121) 


46 


von ihm gejchilderte, Feineswegs außerhalb der natürlichen Ge— 
jege liege, da wir ja etwas ganz Aehnliches bei Traum und 
Erwachen beobachten, und es außerdem von dem Teufel nicht 
zu verwundern ift, wenn er mit derartigen Künften den menjch- 
lihen Geift, zumalen den von „jo armen thörichten Weiblein“ 
zu verblenden fucht. Jedenfalls aber ift e8 Pflicht der Fürften 
und Herren, bei den Richtern darnach zu forjchen, wie es fich 
mit Rücficht auf die oben angegebenen Punkte mit den Aus 
jagen der Heren verhalte. Wie aber nun, wenn man annehmen 
wollte, der Teufel habe am Ende die Geftalt irgend eines 
MWeibes angenommen, um fich als folches auf den Herentänzen 
zu zeigen. Denn daß folches gejchehen kann, und thatjächlich 
auch ſchon gejchehen ift, läßt fich Teicht durch verbürgte That. 
jachen, namentlic) aus der Heiligen Schrift, beweifen, und in 
jedem Falle thut man billig daran, diefer Meinung und An 
nahme jeinen Beifall zu jchenfen, und nicht der gegentheiligen, 
bei der es fich um des Menfchen Leib und Leben Handelt, wäh. 
rend die erjtere nur warnen und belehren will. Darum darf 
auch Spee jelbjt von einem Beweife für diefe feine Behauptung 
abjehen, während es Pflicht feiner Gegner wäre, einen jolchen 
ohne Zögern anzutreten. Nach jeiner Gewohnheit ermangelt 
Spee nicht, dieſe Beweiſe feiner Gegner für ihre Anficht anzu- 
führen und auf ihren wahren Gehalt hin zu prüfen. 

Noch einmal wendet fi) dann Spee nad) längeren Aus: 
führungen kriminaliſtiſcher, juriftiicher und religiöfer Natur an 
jeine Leſer und giebt ihnen in kurzen Zügen ein treffendes Ge- 
famtbild von der Art und Weife der Herenprozeffe, unterläßt 
dabei aber nicht, darauf aufmerfjam zu machen, „daß bei uns 
Teutjchen der Aberglaube, die Mißgunſt, Läſtern, Afterreden, 
Schänden, Schmähen und Hinterliftige8 Obrenblajen unglaublich 
tief eingewurzelt fei”, Eigenjchaften, gegen die weder von geift- 


licher, noch von weltlicher Seite eingejchritten werde, während 
(122) 


47 


doch ihnen zumeist da8 Treiben und Thun der Heren jeinen 
Urſprung verdanke. Was Spee vorher des Ausführlicheren und 
Genaueren gebracht, faßt er nun noch einmal kurz zujammen 
und jchildert den Gang eines Prozeſſes nach gewöhnlicher Art 
und Weiſe, und damit einen Blick eröffnend in eine Zeit, 
grauenvoll und entmenjcht, wie wir fie ähnlich nur noch in der 
Periode der Chriftenverfolgungen unter den römifchen Kaijern 
fennen. In jeinem heiligen Eifer wendet er fi noch ein Mal 
an die Obrigkeit: „Dieſe will ich endlich, alle und jede Ge- 
lehrte, gottesfürchtige, verftändige und billigmäßige Urteiler und 
Richter (demn nach den andern frag ich nicht viel) um des 
jüngſten Gericht3 willen gebeten haben, daß fie dag, was in 
diefem Tractat gefchrieben ift, mit jonderbarem Fleiß Iejen, und 
aber Iejen und wohl erwägen ſollen. In Wahrheit alle Obrig- 
feiten, Fürften und Herren, ftehen in großer Gefahr ihrer 
Seligfeit, wofern fie nicht fehr fleißige Aufficht bei diefem Handel 
aufwenden. Sie wollen fi) auch nicht verwundern, wenn ich 
bierinnen bisweilen etwas hizig geweſen bin, und mich bisweilen 
der Kühnheit gebraucht, fie zu warnen, denn es gebühret mir 
nicht, unter derjenigen Zahl befunden zu werden, welchen ber 
Prophet vorwirft, daß fie ftumme Hunde feien, die nicht bellen 
fönnen. Sie mögen nun wohl Act haben auf fich und ihre 
Heerde, welche Gott der Allmächtige dermaleinft von ihrer 
Hand wieder fordern wird.” 

Welch ungeheures Aufjehen Speed Bud) — läßt 
fi bei der freimüthigen Sprache, die drin herrſcht, wohl be- 
greifen. Die erjte Auflage, obwohl in lateinischer Sprache, 
war in faum einem Jahre vergriffen. Sein Buch ift vor allen 
andern getragen von einer hohen Liebe zu feinem deutjchen 
Baterland und feinem deutjchen Volke. Er kann und will ben 
Jammer und das Elend nicht länger mit anjehen, ihm find 


über allem Greuel der Hexenprozeffe die Haare .grau geworden, 
(123) 


48 


aber in jeinem Herzen lodert die heilige Flamme echter Menjchen. 
liebe und flammt Hell auf in dem Buche, mit dem er dem 
Aberglauben feiner Zeit fühn in den Weg tritt. Er ift ehrlich 
genug, feines eigenen Standes nicht zu jchonen und ihm jogar 
einen Hauptantheil an der blutigen Schuld zuzuerfennen. Er 
verfteht e8, alle Töne menjchlihen Zorns von der falten 
beißenden Ironie bis zum lodernden heiligen Eifer über Lug 
und Trug anzuftimmen. Wohl ijt auch er noch manchmal be. 
fangen vom Mberglauben feiner Zeit, Hauptfählih in dem 
Glauben an die Eriftenz von Heren und an ihr Bündnig mit 
dem Zeufel. Allein, wenn er feiner Zeit damit den nothwen« 
digen Tribut entrichtet, jo entſchädigt er wieder durch echt 
priejterfiche Gefinnung, die fi, wie wir aus feinem Lebens» 
gang wiffen, nicht allein in Worten, ſondern Fräftiglich auch in 
der That ausſprach. Will man ihm den Vorwurf von Mangel 
an Muth machen, weil er es vermied, feinen Namen auf fein 
Bud) zu feben, jo läßt ſich dafür eine Entichuldigung in ber 
Mordluft der Richter finden, die nach jedem ander Denkenden 
gierig die Hände ausftredten. Schärfer noch als fein Meifter 
Tannerus trat Spee auf, der an der Stätte des Gerichts Gott- 
lofigkeit und an der Stätte der Gerechtigkeit Unrecht jah. Und 
die Lehre, die er den Königen gab, war fürwahr feine milde 
nnd ſanfte. Er, der als Dichter der „Trutznachtigall“, die 
weichlichiten, oft jogar weichlihe und jentimal-unverftändliche 
Töne zu finden wußte, redet bier eine Sprache, einfach und 
nüchtern, aber fräftig und Klar, feine Gedanken reihen fich an- 
einander, nicht in loſem, äußerem Zuſammenhang, jondern 
innerlich fejt und unlösbar. 

Der thatjächliche Erfolg entiprach freilich nicht dem des 
Buches jelbit. Zwar Philipp von Schörnborn, als er Kurfürft 
von Mainz geworden, buldete Hinfort in feinem Gebiet feine 
Herenverfolgung mehr, und feinem Beijpiel folgte der Herzog 


124) 


49 


von Braunfchweig, allein im allgemeinen ift ein unmittelbarer 
Umſchwung als Folge von Spees Buch faum zu finden. Wenn 
etwa vom Jahre 1660 ab doc eine Abnahme der Heren: 
prozefje zu bemerken ijt, jo ift das weniger einem einzelnen 
Buche, als dem neuerwachenden Leben Deutjchlands, das ſich 
vor allen Dingen an den Namen Leibniz knüpft, zuzujchreiben. 
Streitihriften für und wider erjchienen, und erjt dem kräftigen 
Auftreten eines Thomafius und Beder gelang es, dem Unweſen 
ein entjchiedene3 Ende zu machen. Wenn man mit gutem Ge: 
wiſſen von einem Ende reden kann. Der Prozeſſe ja wohl, 
nicht. aber de8 Glauben? am Hexen, der fortdauern wird, fo 
lange es Menjchen giebt, der für das Volfsbewußtjein eine jo 
nothwendige Zugabe ift, daß alle8 Denken und Mühen, den 
jelben augzurotten, vergeblidy fein wird. Und begegnen wir 
denn nicht auf Schritt und Tritt im Leben und Glauben unjeres 
Volkes Spuren, die und auf den mittelalterlihen Glauben 
zurüdweifen? Doc unjer Volk hat es verjtanden, diejen Aber: 
glauben in einer unjchuldigen und naiven Weife in fein Denfen 
und Glauben zu verweben nıd Hat dadurd) auch jeinerjeit® die 
Garantie geboten, daß eine neue Periode der Herenprozelje für 
ale Zukunft ein Ding der Unmöglichkeit jein wird. 


Sammlung. N. F. XIII. 291. 4 (125) 


Die deutiche Arbeiterverfiherung. 


Vortrag, 


gehalten am 9. Dezember 1897 zum Veen des Gufav-Adolph- 
Dereins im Altftadt-Rathhaufe zu Braunfdweig. 


Bon 


von Frankenberg, 


Stadtrath. 





Hamburg. 
Verlagsanſtalt und Druckerei A.G. (vormals J. F. Richter). 
Königliche Hofbuchdruckerei. 
1898. 


Das Recht der Ueberjegung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 


Drud ber Berlagsanftalt und Druderei Actien-@ejelichaft 
(vormals J. F. Richter) in Hamburg. 


Nenn dem Leſer durch diefen Vortrag in großen Um— 
riffen ein Bild der deutichen Wrbeiterverficherung vor Augen 
gejtellt werden ſoll, jo könnte e3 vielleicht auffällig erjcheinen, 
wie wenig Berührungspuntte diefe Einrichtung nach ihrem inner: 
ſten Weſen mit denjenigen Zweden und Zielen befist, die von 
dem Guftav-Adolph-Vereine erjtrebt und ſeit langen Jahren fo 
erfreulich gefördert find. 

Was den Verein groß und ſtark gemacht, was ihn durch 
alle Fährlichkeiten zu immer neuen Erfolgen geführt Hat, ift die 
freiwillige, feinen Zwang duldende, aus tieffter Herzensüber: 
zeugung entjprungene Gemeinjchaft feiner Mitglieder in der 
Liebe zu den bedrängten Brüdern und im Glauben an die un. 
vergänglichen Heilswahrheiten unjerer evangelijchen Kirche. 

Die Fürforge für die deutjchen Arbeiter konnte und durfte 
dagegen, wenn fie wirklich) etwas Wußsreichendes bieten, wenn 
fie in die ärmfte Familie, in das entlegenfte Dorf Hülfe und 
Beiftand bringen wollte, ſich nicht dabei beruhigen, daß der frei. 
willigen Betheiligung an den auf Selbjthülfe gegründeten Ge— 
nofjenfchaften oder der Wirkjamfeit der von Nächitenliebe getra- 
genen Vereinigungen weiter Spielraum gelaffen jei. 

Es gehörten breite, ftarfe, widerjtandsfähige Schultern da— 
zu, um bie Laften auf fich zu nehmen, deren Tragung die neue 
Geſetzgebung erforderte, damit dem Arbeiterjtande in Fällen der 


Noth eine ergiebigere Unterftügung als bisher gewährt würde. 
Sammlung. N. F. XIII. 292. 1? (129) 


4 


Die mannigfahen Kräfte unjeres wirthichaftlichen Lebens 
mußten energijch zujammengefaßt werden, um der Verarmung, 
der Unzufriedenheit mit den bejtehenden Werhältniffen einen 
dauerhaften Damm entgegenzufegen. 

Es iſt aus Wohlthätigfeit3-Beitrebungen aller Art Hin: 
reihend befannt, welche Stärke in der Einigkeit liegt, wie viele 
„Wenig“ ein „Biel“ ausmachen, wie vereinte Kräfte zum Biele 
führen. 

Wird jchon in privaten Kreifen Hier wie anderwärts auf 
dieje Weije großes und gutes geleiftet, ohne daß dem Einzelnen 
übermäßige Anfpannung zugemuthet zu werden braucht, jo wird 
man es um fo mehr verjtehen und würdigen, wenn die Gejeh: 
gebung ihr Ziel, die Sicherjtellung der Arbeiterfamilien, dadurd) 
am bejten erreichen zu fönnen glaubte, daß fie im Wege des 
durKhgreifenden Zwanges die Allgemeinheit, das ganze 
Volk, Arbeitgeber und nehmer zur thätigen Theilnahme an der 
Einrichtung verpflichtete. 

E3 gründet fich der Entjchluß zu diefem Schritte, mit dem 
das Deutjche Reich der ganzen gebildeten Welt vorangegangen ift, 
auf die großartige Auffaffung, die unfer verewigter Kaiſer 
Wilhelm I. von den Wufgaben des heutigen Staatd- und 
Volksweſens Hatte und in der unvergeßlichen Botjchaft vom 
17. November 1881 an den Neichstag zum Ausdrud brachte 
Wie die Hohenzollernfürften die unentwegten Vorkämpfer des 
evangelijchen Glaubens in- Deutjchland geweſen find, jo gebührt 
dem erjten Zollernfaijer auch das große Verdienft, daß er der 
Schirmherr geworden ijt für alle Beftrebungen, welche die Für: 
derung unſeres ſozialen Friedens zum Gegenitande Haben. 
Welches chriſtlich und menſchenfreundlich empfindende Herz 
Schlägt nicht Höher, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie 
damals durch den edelgefinnten Herrſcher die Unterftüßung 
der Berunglüdten und ihrer Hinterbliebenen, die Pflege ber 


(180) 


5 


Kranken, die Sorge für die Alten und Invaliden al3 eine An- 
gelegenheit bezeichnet wurde, deren Förderung der Staat in 
höherem Maße als bisher fich vornehmen müffe, weil die Be» 
theiligten gegenüber der Gejamtheit hierauf einen begründeten 
Anſpruch hätten. 

Indem dies dem Reichstage dringend ans Herz gelegt 
wurde, hieß e8 in ber Kaiferlichen Botjchaft weiter: „Für dieſe 
Fürſorge die rechten Mittel und Wege zu finden, ift eine jchwierige, 
aber auch eine der höchſten Aufgaben jedes Gemeinwejens, 
welches auf den fittlihen Fundamenten des chriſtlichen Volks— 
lebens ſteht.“ 

Das find goldene Worte; und es find nicht bloße Worte 
geblieben, jondern Thaten geworden, deren fjegensreiche Folgen 
ſich allenthalben feit num mehr als einem Dubend von Jahren 
fühlbar machen. 

Borfihtig, Schritt für Schritt, ift das damals aufgerollte 
Programm durchgeführt, und ein Theil harrt, wie wir jehen 
werden, noch heute jeiner Erledigung. 

Hätte man mit einem Schlage Alle, die durch Lohnarbeit 
fih und die Ihrigen ernähren, deren einziges Gut alſo ihre Ge- 
ſundheit und Arbeitstüchtigkeit ijt, gegen die Gefahren der längeren 
oder fürzeren Erkrankung und Dienftunfähigkeit, gegen plößliche, 
Leben oder Kräfte vernichtende Betriebsereigniffe, gegen das all- 
mähliche Schwinden des Verdienftes durch Alter oder Siechthum 
ficherjtellen und den Hinterbliebenen bei einem Berlufte des Er- 
nährer8 ebenfalls befjere Dafeinsbedingungen ſchaffen wollen, 
dann wären die Warnungen und düſteren Prophezeiungen der 
Gegner nicht unberechtigt gewejen, die jede Staatshülfe eine 
verhängnißvolle Verirrung, einen Sprung ins Dunkle nannten. 

Über man war fich defjen wohl bewußt, daß bei dem Be. 
ichreiten völlig neuer Bahnen nur ein allmähliches Erreichen 
des Endzieles der Urbeiterverficherung denkbar ei. 


(181) 


6 


So ift denn zunächſt im Jahre 1883 die Krankenverficherung, 
ein Jahr darauf die Unfallverficherung und erjt nach ferneren 
ſechs Jahren die Invaliditäts-. und Altersverfiherung in Kraft 
getreten. 

Inzwilchen ift durch ergänzende und erweiternde Gejebes- 
beitimmungen die Wohlthat der Fürſorge einer Reihe von 
Perfonen zugewendet worden, die man urfprünglich nicht mit 
berüdfichtigt hatte, weil e3 wünfchenswerth erjchien, vorderhand 
in einem enger begrenzten Kreife Erfahrungen zu jammeln. 

Beifpielsweije will ich erwähnen, daß die Krankenverficherung 
auf alle Transportgewerbe, die Unfallverfiherung auf die Bau- 
arbeiter, auf die Seeidhiffahrt und auf die Land und Forſt— 
wirthichaft, die Invalidenverficherung durch den Bundesrath auf 
die Hausweberei ausgedehnt iſt. 

Es ließ ſich nicht gut vermeiden, daß auf dieſe Weiſe die 
Verſicherung etwas ſchwer Ueberſichtliches, Zerſplittertes bekommen 
hat, und es iſt vollkommen erklärlich, wenn der Wunſch nach 
Vereinfachung, Zuſammenlegung lauter und lauter geäußert wird. 

Vielleicht bietet ſich am Schluſſe Gelegenheit, hierauf mit 
einigen Worten einzugehen. Einſtweilen müſſen wir, Jeder in 
ſeinem Kreiſe, ung bemühen, der geltenden Geſetzgebung Verſtänd— 
niß zu verſchaffen, damit ſie ihren Zweck, die Förderung des 
ſocialen Friedens, möglichſt gut erfüllt Und ſo will ich verſuchen, 
die gegenwärtige Entwickelung der Arbeiterverſicherung in ſo 
kurzen Zügen ſkizziren, wie es ber Rahmen dieſer Arbeit geſtattet. 

Man unterſcheidet drei Hauptabtheilungen: Ber: 
fiherung gegen Krankheit, gegen Unfälle, gegen Invali— 
dität; die Altersverficherung iſt nur ein Anhängjel, ein Neben- 
zwed der Invalidenverſicherung. 

Es iſt fein bloßer Zufall, kein willfürliches Herausgreifen 
eines Bruchftüces gewejen, daß zuert die Krantenverfiherung 
durch den Machtipruch des Gejeßgebers in Wirkjamfeit trat. 


(182) 


7 


Die Natur der Sache brachte es mit fich, daß man in aller: 
erjter Reihe auf diejenigen Gefahren Rüdficht nahm, denen jeder 
Urbeiter, jede Arbeiterin für längere oder fürzere Zeit aus: 
gejeßt iſt. 

Wenn e3 gelang, für den Fall einer Erkrankung dem 
Berficherten jofort ärztliche Behandlung und Arzneien frei zur 
Verfügung zu ftellen und ihm während der Zeit feiner Erwerbs. 
unfähigfeit die Einbuße jeines Verdienfles wenigſtens einigermaßen 
zu erjegen, jo war damit die Grundlage gefchaffen, auf der bei 
dauernder Schmälerung der Arbeitskraft der weitere Ausbau der 
Fürſorge erfolgen konnte. 

So ift denn vorgejchrieben, daß Jeder, der gegen Vergütung, 
mag diefe in Geld oder auch in Beköftigung, Wohnung, Kleidung 
u. ſ. w. bejtehen, in gewerblichen und gewiſſen anderen Be: 
trieben thätig ift, dem Krankenverficherungszwange unterworfen 
fein joll. 

Ausgenommen find nur die auf ganz kurze Beit, auf ein 
paar Stunden oder Tage, jedenfalls nicht auf eine volle Woche an: 
genommenen PBerfonen; ebenſo Yamilienangehörige, Hausgewerbe: 
treibende, die meiften ftaatlichen und ftädtifchen Arbeiter, ferner 
die Werfmeijter, Aufjeher, Techniker, Handlungsgehülfen mit mehr 
als 2000 Darf Yahresverdienft. 

Auch Tand: und forftwirthichaftliche Arbeiter, ſowie Dienſt— 
boten unterliegen reichsgeſetzlich nicht dem Verſicherungs— 
zwange; es hat aber befanntlich die Landesgejeßgebung im 
Herzogthum Braunjchweig es für durchaus angezeigt gehalten, 
diefen Berufsflaffen den Vortheil zuzumwenden, welchen andere, 
jozial ganz gleichgeftellte Perſonen ſchon feit Jahren genofjen; 
dasselbe gilt auch in Baden, den Hanfeftädten u. a. m. 

Der Zwang der Krankenverficherung ijt ein unmittelbarer 
und unwiderſtehlicher. Wohl kann der Arbeitgeber durch das 
Beriprechen, in Srankheitsfällen während des ganzen erjten 


(133) 


8 


Vierteljahres für den Wrbeiter ausreichend zu forgen, bejjen 
Befreiung von der allgemeinen Verſicherung bei der Kranfen- 
kaſſe erzielen; aber ein Vertrag, nad) welchem der Arbeiter über: 
haupt feine Rechte, der Urbeitgeber überhaupt Feine Pflichten 
für den Krankheitsfall Haben jollte, würde gegen das Geſetz, gegen 
die guten Eitten, die wohlmeinende Abſicht der ganzen Einrid)- 
tung verftoßen und deshalb null und nichtig fein. 

Auch Handelt es fich keineswegs bloß um die durch Straf: 
drohung verjchärfte Vorfchrift, daß der Arbeitgeber darauf bedacht 
fein müfje, die von ihm bejchäftigten Perfonen bei der zuftändigen 
Ortskrankenkaſſe oder jonftigen Stelle anzumelden. 

Hätte man fi) damit begnügt, jo wäre die Sache leicht 
auf dem Bapiere ftehen geblieben, und bei einer hier und da doch 
vorfommenden Säumigfeit der Dienftherrfchaft würde die Kaffe 
zunächft noch nicht zur Unterftügung des Kranken verpflichtet 
fein. 

Nein, viel einfacher und zwedmäßiger iſt alles geregelt: 
wer gegen Lohn arbeitet, iſt von ſelbſt Mitglied einer Kafie, 
fraft des Geſetzes, eben deshalb, weil er arbeitet. Nicht die An- 
meldung der Dienftherrichaft oder garerft eine Aufnahmeerflärung 
jeitens der Kaffe macht ihn zum Mitgliede: er ift es vielmehr 
vom erjten Augenblide an, in welchem er beginnt, gegen Lohn 
zu arbeiten, und er bleibt e8, bis er damit aufhört, doch kann 
er auch freiwillig Mitglied bleiben, wenn er die Beitragäzahlung 
fortjegt. 

Das Un- und Abmelden dur die Dienjtherrichaft, "die 
Arbeitgeber, hat nur den Zwed, der Kaffe die Buchführung, die 
Beitragseinziehung und die Kontrolle zu erleichtern; es ift der 
Ordnung wegen unentbehrlich, aber es ift nicht die Bedingung 
der Kafjenmitgliedichaft. 

Unterläßt der Arbeitgeber aus Verſehen oder gar mit Ab- 
fiht die Anmeldung, jo droht ihm polizeiliche Beſtrafung; 


(134 


9 


außerdem aber haftet er vom erſten Tage der Beſchäftigung an 
für die vollen Kaſſenbeiträge — ganz folgerichtig, denn die 
Kaſſe trägt ja ſeitdem, wie wir ſehen, das Riſiko —, und er iſt 
obenein verpflichtet, bei Erkrankung des ungemeldeten Mitglieds 
an die Kaſſe alle Aufwendungen zu erſtatten, zu denen dieſe ſich 
genöthigt ſieht. 

Es ſind alſo ganz wirkſame Mittel, welche dazu beſtimmt 
ſind, die rechtzeitige Anmeldung aller verſicherungspflichtigen 
Perſonen herbeizuführen. 

Was leiſten nun die Krankenkaſſen? Die Beant— 
wortung diejer Frage hängt aufs engfte mit der andern zufammen: 
welche Arten von Krankenkaſſen giebt es? 

Die urjprünglichfte, einfachite, aber auch bejcheidenfte Form 
ift die, daß die Gemeinde im Anſchluß an die Gemeindelafje 
eine Einrichtung unterhält, die bei Krankheitsfällen der in ihrem 
Bezirke beichäftigten verficherungspflichtigen Perſonen einzugreifen 
bat, die jogenannte Gemeinde-Krankenverjiherung. Zu 
diefer gehören dann alle Berjonen, für die nicht eine befondere 
Kaſſe geichaffen ift, und die Gemeinde-Kranfenverficherung forgt 
im erften Krankheitsvierteljahre für die Patienten, indem fie ihnen 
freie ärztliche Behandlung, freie Apotheke, freie Lieferung von 
etwaigen Kleinen Heilmitteln zur Verfügung ftellt. 

Das gilt ſowohl für jolche Kranke, die troß ihres Leidens 
noch ihrem Dienfte fi widmen fünnen, als aud) für die Erwerbs- 
unfähigen; Ießtere erhalten daneben für die Dauer ihrer Arbeits» 
behinderung, aber höchſtens für dreizehn Wochen Hintereinander, 
ein Krankengeld in Höhe des halben Tagesverdienftes, den an dem 
betreffenden Orte ein gewöhnlicher Arbeiter zu haben pflegt. 

Es ift alfo gleichgültig, ob der Kranke jelbjt in hohem 
ober niedrigem Lohne ftand, ob er ald Maurer 4 Mark und 
mehr täglich verdiente oder als Gelegenheitsarbeiter nur Halb 


foviel befam: wer in der Gemeindefranfenverficherung ift, er- 
(185) 


10 


Hält durchweg nicht mehr als den halben ortsüblichen Tagelohn 
eines gewöhnlichen Arbeitsmannes als Krankengeld. 

E3 leuchtet wohl ohne weitere ein, daß Durch dieſe 
Leitungen zwar der bitterften Noth vorgebeugt, aber noch feines» 
wegs eine allen billigen Anforderungen entjprechende Urt der 
Fürforge gejchaffen ift. 

Und deshalb haben jehr viele Gemeinden, bejonders die 
Städte, von der gefeglichen Befugnif Gebrauch gemadt, Orts: 
krankenkaſſen für ihren Bezirk zu gründen; durch dieſe wird 
die Gemeindefrankenverficherung entlaftet, ja ganz entbehrlich 
gemacht. 

In fat allen großen Städten, auch hier in Braunfchweig, 
beiteht 3. B. die Gemeindefranfenverficherung feit längeren Jahren 
nicht mehr. 

Seder Urbeiter gehört infolge feiner Beichäftigung irgend 
einer der Ortskrankenkaſſen an, die fiir die verjchiedenen Berufs» 
arten errichtet find (Tifchler, Buchdrucder, Baugewerbe, Fuhr— 
leute, BZuderinduftrie, SKonfervenfabrifen, Land- und Forſt— 
wirthichaft, Metallarbeiter, Uhrmacher u. a. ın.). 

Diefe Kaffen dürfen bedeutend mehr Ieiften, al3 die Ge: 
meindefranfenverficherung, ja fie müſſen jogar über die engen 
Grenzen, welche diefer gezogen find, mehr oder weniger hinausgehen. 

Sie bemefjen die Unterftügungen nad) dem wirklichen 
Arbeit3verdienfte des Einzelnen oder doch bejtimmter Gruppen 
und Lohnklaffen, fie können unter günstigen Verhältniſſen ftatt des 
halben Lohnes dreiviertel als Krankengeld gewähren, und zwar 
bis zu einem Jahre, aljo viermal jo lange al3 die Gemeinde: 
franfenverficherung, fie zahlen Sterbegeld im zwanzig: bis 
vierzigfachen Betrage des Tagelohns an die Hinterbliebenen 
des Verficherten, fie bieten den Erwerbsloſen noch drei Wochen 
nad) dem Ausscheiden aus der Kaſſe Mitgliedsrechte, fie leijten 
MWochenbett-Unterjtügungen auf vier bis ſechs Wochen in Höhe 


(186) 


11 


des Krankengeldes, und fie berechtigen die Verficherten und bie 
Dienftherrichaft zur Selbftverwaltung der Kaffe durch Mit: 
wirkung in der Generalverfammlung und in dem von biejer 
zu wählenden Kafjenvorjtand — Einrichtungen, die der Gemeinde- 
franfenverficherung vollftändig fehlen. 

In ähnlicher Weife, wie die Ortskrankenkaſſen, können 
Innungen oder bergmännijche Vereine vermittelt einer Innungs: 
oder Knappſchaftskrankenkaſſe diefelben Aufgaben für ihr Gebiet 
übernehmen; ebenjo find einzelne Betriebsunternehmer berechtigt, 
für ihre Arbeiter befondere Kaſſen (jogenannte Betriebs. oder 
Tabriffrankenkafjen) zu gründen; das gilt natürlich nur für 
große Betriebe mit genügender Leiftungsfähigfeit. 

Bei all’ dieſen Kaffen ift der Arbeitgeber ebenfo wie bei 
der Gemeindefranfenverficherung verpflichtet, ein Drittel der 
Beiträge aus eigenen Mitteln zu leiſten, während zwei Drittel 
von ben Arbeitern durch Zohnabzüge aufgebracht werden jollen; 
der Arbeitgeber haftet der Kafje für den Gejamtbeitrag. 

Will ein Arbeiter feiner derartigen Kafje angehören, bie 
man mit dem Namen „Zwangskaſſen“ bezeichnet, weil die 
Mitgliedfchaft in ihnen durch unmittelbaren Zwang, nicht durch 
Anmeldung erworben wird, dann hat er das Recht, einer ein 
gejchriebenen oder freien Hülfskaſſe beizutreten, in diejen find 
die Arbeiter regelmäßig ganz allein beitragspflichtig und zur 
Selbftverwaltung berechtigt, doch kann ſtatutariſch auch den 
Arbeitgebern eine Mitwirfung hierbei zugeftanden werben. 

Nur dann befreien indes dieſe Hülfsfafjen von der Zu: 
gehörigkeit zu einer Zwangskaſſe, wenn fie mindeſtens dasjelbe 
wie die Gemeindefrankenverficherung bieten, alfo Arzt, Arznei, 
halben ortsüblihen Tagelohn für ein Vierteljahr, und wenn 
ihnen durch das Minifterium ihres Bundesſtaats oder für das 
Neich durch den Reichskanzler ihr entjprechendes Vorrecht aus: 
drücklich anerfannt und beicheinigt ijt. 


(137) 


12 


Das einfachſte Mittel, fich hierüber zuverläffig aufzuklären, 
ijt für den Wrbeitgeber die Einforderung des Statutenbuchs; 
aus diejem ijt die betreffende Beicheinigung der Centralbehörde 
zu erjehen. 

Ulle genannten Kaſſen Haben das Recht, an Stelle der 
Krankengeldzahlung und ärztlichen Behandlung für die Erwerbs: 
unfähigen deren Aufnahme in einem Kranfenhaufe anzuordnen, 
und zwar bei alleinjtehenden Perjonen unbedingt, bei anderen 
nur, wenn die Sranfheit oder das Verhalten des Kranken es 
nöthig macht. Wer einer ſolchen jachgemäßen Anordnung nicht 
nahfommt und nicht ins Krankenhaus gehen will, hat feine 
weiteren Anſprüche auf Krankengeld und Behandlung. 

Für die Dauer der Krankenhausverpflegung befommen die 
Angehörigen de2 Patienten, die bisher von ihm unterhalten 
wurden, da3 halbe Krankengeld; es bezieht 3. B. die Familie 
eines Schlofjers, der 3—4 Mark täglich verdient hat und ins 
Krankenhaus aufgenommen werden muß, eine wöchentliche Unter: 
ftügung von 41/%—6 Mark, immerhin ein willlommener Eleiner 
Zufhuß, der es der Familie bei nicht allzulanger Krankheits- 
dauer erjpart, fi) an die Armenpflege wenden zu müſſen. 

Die Gewährung der Kranfenhauspflege kann aber — 
darauf will ich beſonders hinweiſen — gegenüber der Kafje 
nicht gefordert werden, jelbjt wenn die häuslichen Verhältniſſe 
dringend die Weberführung in eine Anſtalt wünjchen Iafjen 
jollten. Sie fteht im freien Ermeſſen des SKrankenkafjen« 
Vorftandes, und jelbft die Auffichtsbehörde kann fie nicht er— 
zwingen, obgleich anzunehmen ift, daß ein billig und verjtändig 
denfender Borftand die Anſtaltsbehandlung ſchon um deswillen 
nicht verfagen wird, weil fie viel nachhaltiger und jachgemäßer 
ift und viel rafcher die Wiederherjtellung zu bewirken pflegt als 
die häusliche Pflege. 

Wenn ich joeben von der Aufjichtsbehörde der Kranken— 

(138) 


13 = 





kaſſen ſprach, ſo möchte ich zur Ergänzung erwähnen, daß die 
Kaſſen in den meijten Städten der Aufjicht des Stadtmagijtrats 
unterliegen, während die ländlichen Kafjen von den Kreis— 
direftionen, in Preußen von den Landrathsämtern beauffichtigt 
werden. Klagen und Beſchwerden find alfo bei dieſen an- 
zubringen, und gegen deren-Bejcheid ijt regelmäßig die Anrufung 
des Berwaltungsgerichtshofes geitattet. 

Die Zahl der gegen Krankheit verficherten Perſonen läßt 
fih im ganzen Deutjchen Reiche nach den neueſten ftatiftischen 
Angaben auf über acht Millionen jchägen, e8 wird alſo jeder 
jech3te oder fiebente Menſch in KrankHeitsfällen entjprechend ver- 
forgt. Die jährlichen Leiftungen der Krankenkaſſen jtellen fich 
auf etwa 120 Millionen Mark, die Zahl der Empfänger auf 
drei Millionen. Seit Beſtehen der reich3gefeßlichen Kranken: 
verficherung ift nicht weniger als eine Milliarde Mark an 
Krankenunterftügungen verausgabt. 

Wenden wir und num von der Sranfen- zur Unfall 
verficherung, jo müfjen wir uns zunächit klar darüber werden, 
daß es fi) Hier um Fürforge in jolchen Fällen handelt, die 
nicht jo Häufig den Einzelnen betreffen als Krankheiten, die 
aber in ihrer Dauer und in dem Entjchädigungsbetrage meiſtens 
viel erheblicher find. 

Die Krankheiten der Verficherten erſtrecken ſich durchſchnittlich 
ouf zwei bis drei Wochen, die Folgen eines Unfalls währen 
oft lange Jahre hindurch. 

Darum wäre e8 bedenklich, dies große Rififo ebenfall8 der 
Krankenkaſſe des Verunglücdten aufzulegen, und es find als 
Träger der Unfallverficherung bejondere Genofjenjchaften gebildet, 
die fi) an die berufliche Gliederung des Erwerbslebens an- 
ſchließen und deshalb Berufsgenofjenjchaften heißen. 

So giebt es Baugewerk3-Berufsgenofjenjchaften, Fleiſcherei⸗, 


Fuhrwerks-, Miüllerei-, Brauerei: Berufsgenofjenjchaften u. j. w., 
(139) 


14 





zum Theil für das ganze Reich, zum Theil einzelne Bundes» 
Itaaten oder Provinzen umfafjend. 

Die Berufsgenofjenfchaften werden von den Unternehmern, 
die in ihnen vereinigt find, durch jelbjtgewählte Vorſtände ver- 
waltet, ebenjo wie die Aufbringung der jährlichen Beiträge hier 
ohne Mitwirkung der Arbeiter von den Unternehmern allein 
erfolgt. 

Dem Unfallverfiherungszwange unterliegen alle Fabriken, 
Steinbrüche, Berg. und Hüttenwerke, die Großinduftrie, bie 
Trangportbetriebe, die Land» und Yorjtwirthichaft, die See 
ihiffahrt, auch jedwede Bauarbeit und alle Dampfbetriebe mit 
Dampflefjeln oder mit ZTriebwerfen einer elementaren Kraft; 
ausgejchlofjen find einftweilen noch die Handwerfsmäßigen Klein. 
betriebe, der Handel, die Haushaltungen, die meiften Arbeiter 
in ftaatlichen, ftädtifchen, Kirchen- und Schuldienften, die Fifcherei 
und die Binnenſchiffahrt. 

Worin bejteht nun die Unfallverjiherung? Sie 
hat, wie der Name bejagt, dann einzutreten, wenn ein Arbeiter 
durch einen Unfall getödtet oder in feiner Gejundheit, feiner 
Erwerbsfähigkeit gejchädigt wird; fie ſoll in jolchen Fällen zwar 
nicht voll, aber doch annähernd Erſatz bieten. 

E3 muß jedoch der Unfall im Betriebe vorgefommen jein, 
aljo dem Gefahrenbereiche des betreffenden Unternehmens ent- 
jpringen. - | 

Wenn auf einem Spaziergange, oder in der eigenen Wohnung, 
bei häuslicher Thätigkeit den Arbeiter ein plötzliches Unglüd 
trifft, jo wird Hierfür feine Rente gewährt. 

Auch) der Weg zur Arbeitsftelle, die Rückkehr von der Urbeit 
gehört regelmäßig noch nicht zu dem Betriebe jelbit; erjt wenn 
das Grundftücd betreten wird, auf welchem die Beichäftigung 
erfolgen ſoll, greift die Verficherung ein. 

Sie gewährt Entjchädigung bei plößlichen, zeitlich 


(140) 


15 
abgegrenzten Ereignifjen, 3. B. Kefjelerplofion, fchlagenden 
Wettern im Bergwerk, Einfturz eines Gerüftes, Verlebungen 
durch die Arbeitäwerkzeuge oder den bearbeiteten Gegenftand 
und dergleichen. 

Sie tritt alfo nicht ein bei den Gefahren des gewöhnlichen 
Lebens, auch nicht bei einer allmählichen Beeinträchtigung 
der Gejundheit, felbjt wenn fie bedingt ift durch die bejonbere 
Schädlichkeit der verrichteten Arbeit (z. B. die Entwidelung von 
Rheumatismus bei Thätigkeit in Näffe und Kälte, die Tang- 
ſame, Tag für Tag erfolgende Aufnahme von Staub und giftigen 
Dünften in die Lunge). 

Welche Leiftungen bietet die Unfallverfiherung? 
Wenn durch Betriebsunfall der Tod eines Arbeiters herbeigeführt 
iit, jo erhalten die Hinterbliebenen vom Sterbetage an eine 
Rente, daneben auch Erſatz der Beerdigungskoſten im Mindeft- 
betrage von 30 Marf. 

Die Rente wird nach dem Jahresverdienfte des Verunglüdten 
bemefjen und beträgt für die Witwen 20 Prozent desjelben, für 
jedes Kind 15 Prozent. Büßt 3. B. dur) Sturz vom Thurme 
ein Dachdeder jein Reben ein, der 3 Mark täglich verdient hatte, 
jo erhalten feine Hinterbliebenen, eine Witwe mit zwei Kindern, 
zulammen 50 Prozent feines Verdienſtes, aljo 450 Marf jährlich) ; 
die Witwe allein würde 180 Mark jährlich erhalten. Sind 
mehr als zwei Kinder vorhanden, jo erhöht ſich die Rente noch, 
joll aber für alle Hinterbliebenen nicht über 60 Prozent betragen, 
aljo in unjerem Falle kann die Familie bi zu 540 ME. Jahres- 
rente befommen. 

Sobald ein Kind das 15. Lebensjahr erfüllt, fällt feine 
Rente fort; dasjelbe gilt für die Witwe, wenn fie fich wieder 
verheirathet. Sie befommt aber dann noch eine Abfindung im 
dreijährigen Betrage ihrer Rente, alfo in dem erwähnten Falle 
540 Marf. 


(141) 


16 





Hinterläßt ein verunglüdter Arbeiter bedürftige Eltern oder 
Großeltern, die bisher von ihm allein unterhalten wurden, jo 
muß ihnen eine Rente von 20 Prozent (alfo ebenſo viel wie der 
Witwe) bewilligt werden, und zwar auf Lebenszeit, es fei denn, 
daß ihre Bedürftigkeit durch irgend eine Verbeſſerung ihrer Ver- 
hältniſſe wegfiele. 

Iſt der Betriebsunfall minder ſchwer, wird alſo der Ver— 
ſicherte nicht getödtet, ſondern durch Verletzung in feiner Erwerbs» 
fähigkeit beeinträchtigt, ſo hat, wie wir oben geſehen haben, in 
den erſten dreizehn Wochen lediglich die Krankenkaſſe einzutreten, 
unbeſchadet des Rechts der Berufsgenoſſenſchaft, aus freien Stücken 
die Behandlung zu übernehmen und die baldige Wiederherſtellung 
durch geeignete Pflege anzuſtreben. 

Iſt aber das erſte Vierteljahr nach dem Unfalle vorbei, 
und die Erwerbsfähiakeit bis dahin nicht vollſtändig zurück— 
gekehrt, ſo muß die Berufsgenoſſenſchaft nicht nur die Koſten des 
etwaigen ferneren Heilverfahrens voll und ganz tragen, ſondern 
auch dem Verletzten eine Unfallrente nach folgenden Grundſätzen 
gewähren: 

Für volle Erwerbsunfähigkeit re zwei Drittel des bis: 
herigen Verdienſtes gezahlt; büßt alſo 3. B. ein Bergwerks— 
arbeiter, der 3 Mark Tagelohn bezog, durch Erplofion vollftändig 
jein Augenlicht ein, jo wird ihm eine Rente von 2 Mark täglich, 
eine jogenannte Vollrente, gegeben. 

Sit die Beeinträchtigung des Erwerbs feine volle, jondern 
nur eine bejchränfte, jo kann der entjprechende Theil einer Voll 
rente gefordert werben; wer 3.8. nad) Verluſt eines Beins 
noch Halb foviel als früher verdienen kann, hat die Hälfte einer 
VBollrente zu beanfpruchen, aljo in unjerem Beifpielsfalle 
1 Mark täglid). 

Beſſert oder verjchlechtert ſich nach der Rentenfeſtſetzung der 


Buftand, jo ijt die Rente entjprechend zu ändern. 
(142) 


17 


Tritt ſchließlich doch noch der Tod als eine Folge des 
Unfalls ein, jo haben die Hinterbliebenen fortan diejelben An- 
jprüche, als ob der DVerficherte jofort getödtet wäre. 

Die Entjcheidung über die Rente und über deren Höhe 
erfolgt durch den Vorſtand der Berufsgenojjenichaft; auc können 
bejondere Entſchädigungsausſchüſſe gebildet und für einzelne 
Bezirke Sektionen gejchaffen werden, welchen die Feſtſetzung 
überlafjen bfeibt. 

Fremd ift der Unfallverfiherung, wie jchon erwähnt, Die 
Mitwirkung der Arbeiter bei der erjten Entjcheidung über 
die Rente. 

Wer fi) aber mit dieſer Enticheidung nicht beruhigen will, 
fei e8 daß ihm die Rente ganz verweigert oder eine Rente be- 
willigt ift, die feiner Meinung nach nicht genügt, der hat binnen 
vier Wochen Berufung an ein Schiedögericht zu verfolgen, 
welchem außer einem Beamten als Vorfigendem je zwei Arbeiter 
und zwei Unternehmer angehören. 

Auch das Urtheil des Schiebsgerichts ift, abgejehen von 
ganz geringfügigen Fällen, durch ein gleichartiges Rechtsmittel 
anfechtbar: Rekurs an das NReichdverficherungsamt; in letzterem 
wirken ebenfall3 Arbeitgeber und »nehmer bei der Entjcheidung mit. 

Das Reichsverficherungsamt ift überhaupt die Auffichts: 
behörde in den Angelegenheiten der Unfallverficherung, während 
e3 bei der Kranfenverficherung jo gut wie gar nicht betheiligt it. 

Es hat die Genehmigung zu den Statuten der Berufs: 
genofjenschaften zu ertheilen, es entjcheidet über Bejchwerden 
gegen Berfügungen derjelben, über die Zugehörigkeit bejtimmter 
Betriebe zu diefer oder jener Genofjenjchaft, über die Beitrags: 
höhe u. |. w. | 

Troß der Buntjchedigfeit des Bildes, welches die mannig- 
fahen Berufsarten in ihrer Vertheilung auf die genofjenjchaft: 
fichen Gruppen des ganzen Deutjchen Weiche darbieten, fehlt 


Sammlung. N. F. XIII. 292. 2 (148) 


18 


e3 alfo nicht an einem gemeinfamen Mittelpunkt, einer einheit- 
lichen Spitze. 

Uud- das iſt ſehr viel werth: die ganze Rechtſprechung in 
Rentenjachen wird dadurch beeinflußt und zu gleichmäßiger Ent- 
widelung veranlaßt. 

Allenthalben, auch in folchen Wrbeiterfreijen, welche den 
Segnungen der reichsgejeglichen Fürſorge fühl bis ans Herz 
hinan gegenüberjtehen, läßt man doch der Thätigkeit des Reichs— 
verficherungsamts Anerkennung widerfahren, und als vor einem 
halben Jahre der Bräfident dieſer oberften Spruchbehörbe, 
Dr. Böbdifer, aus feinem Dienfte jchied, da wurde dies Er: 
eigniß von allen Seiten, und nicht zum wenigften in ber 
Mrbeiterfchaft, Tebhaft bedauert. - 

Die Urt und Weije, wie vom Neich3verficherungsamt Die 
Unfallverfiherungsgejege gehandhabt find, hat in der That dem 
Geifte derjelben, dem wohlwollenden Grundgedanken der faifer: 
lichen Botſchaft, den Bedürfniffen der Praris vortrefflich Rech— 
nung getragen. Eine Unmenge von Beijpielen fünnte ich dafür 
anführen, wie weit dieje Rechtſprechung ſich von juriftischen 
Spikfindigfeiten entfernt gehalten und in folchen Fällen, in 
denen ein jtrenges Haften am Wortlaute des Gejeges zu großen 
Härten geführt haben würde, durch verftändige Auslegung ein 
brauchbares, der Billigfeit genügendes Ergebni gewonnen hat. 

Der Trage des HZujammenhanges zwiichen dem Unfalle 
und der verbliebenen Erwerbsminderung ift befondere Aufmerf: 
jamfeit gewidmet; das NReichöverficherungsamt Hat es verjtanden, 
in engjter Fühlung mit dem ärztlichen Stande, der ja ganz 
hervorragend bei der Anwendung der fozialpolitiichen Geſetz- 
gebung betheiligt ift, feine Schlußfolgerungen zu ziehen, es hat 
aber auch den Induſtriellen und den übrigen Arbeitgebern bei 
der Einrihtung und Berwaltung der einzelnen Berufögenofjen- 


ihaften jo viel Spielraum gelafjen, al$ irgend möglich war. 
(141) 


19 


Werfen wir einen Rüdblid auf die geſamte Unfallverfiche- 
rung. Die Bahl der gegen Unfall verficherten Perſonen beträgt 
im ganzen Deutjchen Reiche zur Zeit über achtzehn Millionen, e3 
wird alfo jeder dritte Menſch bei Unfällen reichsgeſetzlich verforgt. 
An Entjhädigungen find bisher etwa 300 Millionen Mark 
gezahlt, und zwar an 450000 Berjonen. Von tauſend Ber: 
fiherten erleiden jährlich fünfzehn einen Unfall, aber nur bei 
drei oder vier davon find die Folgen derart, daß der Tod ein- 
tritt oder daß über die dreizehnte Woche hinaus Fürſorge 
gewährt werden muß. 

Die dritte und lebte der drei großen Fürjorgeeinrichtungen 
ift die Invaliditäts. und Altersverfiherung. Sie befteht 
jeit faft fieben Jahren, jeit dem 1. Januar 1891. 

Ihr Hauptzwed ift der, Invalidenrenten zu zahlen, 
alfo Denjenigen, welche dauernd erwerbsunfähig geworden find, 
eine Entjehädigung zu gewähren. 

Als dauernd erwerbsunfähig, als invalide gilt, kurz gejagt, 
wer feine Ausficht mehr hat, wenigjtens ein Drittel des früheren 
Verdienſtes durch Zohnarbeit zu erwerben, weil jein Körper: 
oder Geilteszuftand dies nicht mehr zulaffen will; auf das 
Lebensalter fommt es dabei nicht an. 

Die Invalidenrente hängt der Höhe nad) von der Zahl 
und Urt der geleifteten Beiträge ab, fie jegt mit 110 Mark 
jährlich mindeftens ein und jteigt für jedes Jahr, daß in ber 
Verficherung verbracht war, durchſchnittlich um 3 Mark jährlich, 
Sie beträgt im Mindeftfage etwas über 9 Mark monatlich); 
gegenwärtig werden aber fchon Nenten in Höhe von 12 Mart 
monatlich und darüber bewilligt; je höher der Verdienſt des 
Invaliden war, deſto höher ift auch feine Rente. 

Eine ſehr wichtige und wohlthätige Gejegesbejtimmung 
giebt den Verficherungsanftalten das Necht, auch ſolche Auf: 


wendungen zu machen, welche dem Eintritte der Invalidität 
2° (145) 


20 


vorbeugen jollen. Bon diefer Befugniß iſt ſeitens der An- 
ftalten ausgiebiger und erfolgreicher Gebrauch gemadt. Der 
Vorſtand der Braunfchweiger Verficherungsanftalt Hat feit ver- 
flofjenem Sommer eine jehr günjtig gelegene, einfach, aber 
zwedmäßig eingerichtete Heimftätte fir Genejende, bejonders 
für Qungenfranfe, bei Stiege im Harz eröffnet, in welcher vor: 
läufig vierzig Perfonen Aufnahme finden fünnen; eine Erweite- 
rung der Anlage fteht zu Hoffen und wird auch vorausfichtlic) 
bald erfolgen. 

Neben der Fürforge für die Invaliden ijt die Alters» 
verjicherung Wufgabe der Anjtalten. Altersrente, und zwar 
im Betrage von 9— 16 Mark monatlich, je nach der Höhe des 
bisherigen Berdienftes und Beitrages, erhalten die Berficherten, 
fobald fie fiebzig Jahre alt werden. Vorausſetzung ift aller- 
dings, daß fie ziemlich regelmäßig Beichäftigung gehabt oder 
Beiträge geleiftet haben. 

Als fernere Nebenzwede der Invaliditätsverficherung find 
zu nennen die Gewährung von Beihülfen zur Ausfteuer an 
beirathende weibliche Berficherte und von Zujchüffen bei Todes- 
fällen an die Hinterbliebenen. 

Der Antrag auf NRüdzahlung der halben geleifteten Bei: 
träge im Falle der Heirat muß binnen drei Monaten nad) der 
Eheſchließung geftellt werden; wird dies überjehen (und das 
geichieht leider noc, immer nicht ganz felten), jo erlijcht das 
Recht volljtändig. 

Stirbt ein verficherter Ehemann, dem noch feine Rente be: 
willigt war, jo erhält feine Witwe oder in deren Ermangelung 
jeine Kinder unter fünfzehn Jahren die für ihn gezahlten halben 
Beiträge zurüd. 

Es iſt ja feine jehr große Summe, die auf dieſe Weije 
geboten wird, aber es find doc Beträge von 25—35 Marf, 
die gegenwärtig jchon in Menge den Ehefrauen und Witwen 


(146) 


21 


gezahlt find und bei der Begründung eines eigenen Hausftandes 
oder bei dem Berlufte des Familienhauptes recht willfommen 
fein mögen. Vorausſetzung iſt Erfüllung von 235 Beitrags 
wochen, wie bei der Invalidenrente. Es ijt bisher über eine 
halbe Million Invaliden- und Altersrenten bewilligt; im vorigen 
Jahre find mehr als 50 Millionen Mark von den Anftalten 
gezahlt, und zwar 21 Millionen Mark für Invaliden-, 28 Mil: 
lionen Mark für Ultersrenten, 2 Millionen Mark für Beitrags. 
erftattungen. Gegenwärtig beziehen 402000 Perſonen im 
Deutjchen Reiche Invaliden- oder Altersrente. 

Wer ift nun gegen Invalidität verfichert? Alle gegen 
Lohn beichäftigten Arbeiter, Gejellen, Gehülfen, Lehrlinge, Dienft- 
boten, Aufjeher, Betriebsbeamte aller Art, Handlungsgehülfen 
bi8 zu 2000 Mark Fahresverdienft, die Bejagung der See- 
und der Binnenfahrzeuge, alle vom vollendeten jechzehnten 
Lebensjahre an ohne Unterfchied des Alters und Geſchlechts, 
auch ohne Rückſicht, ob verheirathet oder ledigen Standes. 

Auf die Art der Beichäftigung und des Betriebes kommt 
e3 im allgemeinen nicht an. Nur die Perſonen, die eine höhere 
Urt von Ausbildung genofjen haben, die Akademiker, die Reichs-, 
Staats, Kommunal. und jonftigen öffentlichen Beamten (aber 
legtere nur bei Penſionsberechtigung) find verjicherungsfrei ; 
ebenjo natürlich die WBetriebsinhaber jelbit, doch können Die 
Unternehmer von Sleinbetrieben und die Hausgewerbetreibenden 
für verficherungspflichtig erflärt werden. 

Das hat der Bundesrath gethan in Bezug auf die Haus- 
induftriellen der Tabakfabrifation und die Hausweber; es ift ja 
befannt, in welcher traurigen Lage dieje Induftrie ſich beſonders 
in manchen Gebirgsgegenden befindet, und wie dringend Die 
Weber deshalb der jozialpolitiichen Fürſorge bedurften. 

Wer aus der Pflichtverficherung für längere oder kürzere 
Beit ausfcheidet, kann fich freiwillig weiter verfichern, um jeine 

(147) 


22 


Anrechte fi zu wahren und durch jeden Beitrag noch zu 
erhöhen. 

Die Berficherung erfolgt bekanntlich durch Einklebung von 
Marken für jede Kalenderwoche in eine Duittungsfarte, Die 
früher 52, jet 56 Felder enthält. Es giebt Beitragsmarken 
zu 14, 20, 24 und 30 Pfg., und diefelben find je nach ber 
Lohnklaſſe des Betreffenden zu verwenden (Klaſſe I bi8 350 Mark 
jährlich, Klaſſe IT bis 550 Mark, Klafje III bi8 850 Marf, 
Klafje IV über 850 Marf). 

Die Laft der Verficherungsbeiträge ift bier halb dem 
Arbeitgeber, Halb dem Arbeiter auferlegt, alfo abweichend wie 
bei der Unfall- und bei der Krankenverficherung. 

Sehr vereinfacht fan die Mühe und Verantwortung für 
die Dienftherrfchaft werden, wenn der Verſicherte einer Orts 
frankenfafje oder einer ähnlichen Zwangsfaffe angehört. Für 
diefen Fall darf durch die Behörde der Kafje die Pflicht des 
Einklebens übertragen werden, wie die mit beftem Erfolge im 
ganzen Herzogthum Braunjchweig jeit Beſtehen der Invaliden- 
verficherung gejchehen ift. Unſere biefige Berficherungsanftalt 
würde jchwerlich eine ftändige Jahreseinnahme von über einer 
Million Mark haben, wenn nicht diefe Angliederung der neuen 
Verſicherung an die ſchon beftehenden, eingearbeiteten Stellen 
der Krankenfürſorge die Richtigkeit und Pünktlichkeit der Beitrags: 
entrichtung gewifjermaßen garantirte. 

Bur Gewährung der Renten verpflichtet find die Verſiche— 
rungsanftalten, deren es 31 im ganzen Reiche giebt; in Preußen 
für jede Provinz, im übrigen meiſt für einen oder mehrere 
Bundesstaaten eine Anjtalt. Die Verſicherung wird aljo auch 
hier durch große Verbände durchgeführt, aber nicht nad) Berufs. 
gruppen, wie bei der Unfallverficherung, jondern nach geogra: 
phifchen Bezirken, weil man damit den bei Berufswechjeln ſich 


ergebenden Schwierigkeiten aus dem Wege ging. 
(148) 


23 


Zu jeder Rente giebt das Deutjche Reich 50 Mark, der 
übrige Theil, alfo die größere Hälfte, wird durch die Verſiche— 
rungsanftalten aufgebracht je nach Verhältniß der Beiträge, die 
im Gebiete der einen oder der anderen geleiftet find. Die 
Beiten, in denen das Wrbeitsverhältniß durch Krankheiten oder 
durch militärische Dienjte unterbrochen ift, werden als Beitrags. 
wochen mit angerechnet. 

Ueber die Gewährung der Renten hat, ähnlic wie bei den 
Berufsgenofjenschaften, die zahlungspflichtige Anftalt, auf deren 
Namen die zulegt geflebte Marke lautet, als erſte Inftanz zu 
entjcheiden; gegen ihren Bejcheid ift Berufung an ein Schieds: 
gericht, dagegen wiederum Revifion an das Reichsverficherungs- 
amt gejtattet, das auch hier als Auffichtsbehörde thätig ift. In 
den beiden leßtgenannten rechiiprechenden Körperjchaften wirken 
Arbeitgeber und nehmer mit; dem Vorjtande der Verficherungs- 
anftalten gehören fie gleichfall3 an, ebenjo dem Ausſchuſſe, der 
den Anjtalten zur Führung der Selbjtverwaltung beigegeben ift; 
die laufenden Gejchäfte, auch die Nentenbejcheide, werden von 
Beamten bearbeitet, und als Vertreter des allgemeinen Interefjes 
it den Verjicherungsanftalten ein Staatsfommifjar beigeordnet, 
dejien Stellung ſich etwa mit der eines Staatdanwalt3 im ge: 
rihtlihen Verfahren vergleichen läßt. 

Es ijt ein Riejenapparat, der für die Zwecke der Arbeiter: 
verficherung in Bewegung gejeßt wurde; er arbeitet Tag für 
Tag ununterbrochen, ein Heer von Beamten iſt ihm Ddienjt- 
bar, die Koften feiner Verwaltung find jehr beträchtlich, und 
man nimmt an, daß für die Arbeiterfürforge täglich im ganzen 
Neiche zujammengenommen etwa 1 Million Mark an Beiträgen 
erhoben wird. Davon entfällt die Hälfte auf die Kranken. 
verjicherung, während von dem Reſte die Invaliden- etwas mehr 
al3 die Unfallverficherung erfordert. Seit dem Bejtehen der 
Arbeiterverficherung find reichlich 1’/. Milliarden Mark Ent: 


(149) 


24 


Ichädigungen gezahlt, davon 1 Milliarde für Sranfen-, über 
300 Millionen für Unfall:, über 200 Millionen für Invaliden- 
und Alteröverficherung. 

Ungeficht3 jolcher gewaltiger Summen ift die Frage fait 
überflüjlig: Hat denn wirklich dieſe ſozialpolitiſche Geſetzgebung 
etwas genügt? Hat fie Erfolge erzielt, die es der Mühe werth 
jcheinen lafjen, derartige Koften und Laften dem deutjchen Volke 
auch fernerhin aufzuerlegen ? 

Ih glaube, e8 wird jet faum noch ernftlich beftritten, 
daß die Verjicherungsgejege ſehr wejentlih und günftig Die 
Lebenshaltung des Arbeiterjtandes beeinflußt und ganz bedeutend 
zur Entlaftung der Armenpflege beigetragen haben. 

E3 find über dieje Frage jeitens der deutjchen Regierungen 
und durch Vereine umfangreiche Unterfuchungen angeftellt, die 
zu dem Ergebnijje führten, daß ſich die ganze Lebensweiſe der 
Urbeiterbevölferung inzwijchen gehoben habe, und daß die Armen: 
pflege in der That jet namhafte Summen erjpare, weil die 
Organe der Arbeiterfürjorge einzutreten verpflichtet find. Und 
dann bedenfe man, welde Förderung des Selbſtgefühls, der 
Zufriedenheit und der Gejundheit des Urbeiterftandes darin 
liegt, wenn in Nothfällen nicht ein kümmerliches Sichhinhelfen 
oder ein Bitten um Unterjtühung erforderlich iſt mit al’ feinen 
demüthigenden Folgen, wenn vielmehr ein begründeter Anjpruch 
an die Gejamtheit erhoben werden kann, deren gejeßlich ver: 
bürgte Pflicht e3 geworden ift, für die Kranken, die Alten, die 
Berunglüdten und ihre Hinterbliebenen ergiebige Hülfe zu ſchaffen. 

Was aber den Armenkafjen hiernach zu Gute fommt, das 
it auch für die Entwidelung der chriftlichen Liebesarbeit, der 
MWohlthätigfeitsbejtrebungen in Stadt und Land von Bedeutung: 
jie brauchen fich nicht mehr bei einem Webermaß von Anforde— 
rungen nach allen Richtungen Hin zu zeriplittern, die reichsge— 
jegliche Fürjorge nimmt ihnen viele Einzelfälle ab, fie können 

(150) 


25 


zwar hier und da die Verficherungsorgane wirkſam unterftüßen 
und Hand in Hand mit ihnen die Wohlfahrt des Arbeiterjtandes 
fördern, aber in der Hauptjache ift es ihmen nur möglich, fich 
anderen, nicht minder wichtigen Zwecken auf dem Gebiete des 
firchlichen Zebens, der inneren und äußeren Mifjion, der Volks— 
bildung und Erziehung, der Pflege verjchämter Armer, der 
MWohnungsfrage u. j. w. zuzumenden. 

Auch) darauf will ich hinweiſen, daß die Arbeiterverjicherung 
einer ganzen Reihe von wifjenjchaftlichen Fächern die Veranlaſſung 
gegeben hat, fich viel eingehender und gründlicher mit den Ar— 
beiterverhältnifjen zu bejchäftigen, als dies bisher nöthig war: 
der Arzt hat dadurch, daß die Verficherten ſich nun regelmäßig 
hülfeſuchend an ihm wenden, ein erweitertes Gebiet für jeine 
Beobachtungen erhalten, und wir verdanfen, wie erjt kürzlich bei 
der bier ftattgehabten Naturforjcher- und Aerzte-Verſammlung 
von berufener Seite anerfannt wurde, diejem Umſtande manche 
jehr jchäßenswerthe Erfahrung in der Volksgejundheitslehre, der 
Unfallheiltunde und der Kranfenbehandlung überhaupt. 

Dem Statijtifer, dem Volkswirthſchaftslehrer find die Jahres: 
überfichten und Gejchäftsberichte der Berficherungsorgane eine 
wichtige Quelle für eingehende Forſchungen, dem Juriſten 
Öffnet fi) der Blid in das bunte Getriebe unjere® Erwerbs. 
lebend und in die eigenartigen Verhältniffe der einzelnen Be- 
fchäftigten, er lernt die Grenzlinien zwijchen den Arbeitgebern, 
ben Zwifchenunternehmeen, den Betriebsauffehern, den technifch 
gefchulten und den gewöhnlichen Hülfskräften, den Hausindu- 
ftriellen und Heimarbeitern erkennen, ihm erwächſt die Aufgabe, 
dafür zu forgen, daß die Anwendung der wohlgemeinten Gejebe 
num auch wirklich dem Geijte entjpreche, in welchem fie erlafjen 
wurden, und jo bietet fi) oft Gelegenheit, dem rechtsunfundigen, 
ungewandten Arbeiter, der in jeiner Noth nicht aus noch ein 


weiß, helfend und berathend zur Seite zu ftehen. 
(151) 


26 


Etwas allerdings bleibt dabei zu wünfchen übrig: eine 
Bereinfahung der Arbeiterverficherung einerjeits, einer Aus: 
dehnung derjelben andererjeit3 auf alle Betriebe, die noch nicht 
von ihr erfaßt werden. Das eine wird micht gut ohne das 
andere erfolgen fünnen, wenn man fich nicht auf Halbe Arbeit 
bejchränfen will. 

In der Kranfenverjicherung jtehen, wie wir jehen, vielerwärts 
noch die land. und forjtwirthichaftlichen Arbeiter und die Dienit- 
boten außerhalb des Fürforgezwanges, ebenjo die Hausinduftri- 
ellen, die ftaatlichen, die jtädtifchen Hülfsarbeiter u. ſ. w. 

Die Unfallverficherung bedarf dringend der Ausdehnung 
auf das Handwerk, den Handel, die Haushaltungen und Die 
behördlich bejchäftigten Werfonen. Wenn ein Dienjtmädchen 
durch Sturz beim Fenjterpugen ſich ſchwer verlegt und zeitlebens 
nicht wieder ganz gejund wird, jo fehlt es an jeder inneren 
Berechtigung, weshalb nicht auch fie die Unfallrente haben follte; 
und ebenjo unhaltbar jcheint es auf die Dauer, daß der Scloffer: 
gejelle, dem bei der Arbeit jeines Handiwerfes ein Eiſenſtückchen 
ind Auge fliegt, dafiir nicht entjchädigt werden kann, wenn er 
nicht in einer Fabrik oder Baujcjlofferei thätig war. 

Die Invalidenverficherung hat ja im allgemeinen wohl den 
weiteſten Umfang. Aber bei ihr wie bei den andern Verſiche— 
rungen wäre vom Standpunkte einer gejunden Mittelftandspolitif 
aus auch die obligatorische Einbeziehung der Unternehmer von 
Kleinbetrieben jehr ernitlic) zu erwägen, da mit dem echte 
freiwilliger Betheiligung an den VBerficherungseinrichtungen 
praktiſch verſchwindend wenig erreicht wird: denn läßt man die 
Sadje gehen wie fie geht, dann befinnen fich die meijten Leute 
auf die Verſicherung erjt dann, wenn es jchon zu jpät ift. 

Am beften dazu geeignet, die übrigen VBerficherungen in ſich 
aufzunehmen, ijt die Invalidenverficherung, deren überfichtliche 


Organiſation gegen diejenige der Berufsgenofjenjchaften den Bor: 
(152) 


27 


zug verdient, weil aud) die Arbeiterfchaft an der Beitraggleiftung 
und der Verwaltung gleihmäßig Antheil hat, und weil Beamte 
de3 Staates an ihrer Spiße jtehen. 

Ein Zweig der Arbeiterverjicherung wird dann wohl erſt 
zur vollen Entwidelung gelangen fünnen, der jetzt nur bei der 
Fürſorge gelegentlich; eines Unfalles in Betracht fommt: Die 
Unterjtügung der Witwen und Waijen aller Arbeiter, die er- 
folgen müßte, ohne Unterjchied, ob deren Tod durch ein plößliches 
Unglüd im Betriebe, durch Krankheiten, durch) allmählich auf- 
reibende Thätigkeit oder andere Urſachen eingetreten ijt. 

Erjt wenn dies Biel erreicht ift, wird das Progranım der 
faiferlihen Botſchaft von 1881 erfüllt fein. 

Es ijt neben dem Ueberblick über die bisherigen Ergebnifje 
ein weiter Ausblid, die wir auf die fernere Geftaltung der Ar- 
beiterverficherung geworfen haben. 

Bei allem Streben nad) ausreichender Entjchädigung der 
arbeitenden Bevölkerung für die wirthichaftlichen Gefahren, denen 
fie ausgejegt ift, wollen wir nicht vergejjen, daß die Wurzel 
vieler Uebelftände an anderer Stelle fich befindet. Die vorbeu- 
gende Bolfsgejundheitspflege muß Hand in Hand mit der Ar— 
beiterverficherung gehen, der Arbeiterihug und feine Bedeutung 
muß fortgejegt mit Nachdrud betont werden, damit in bejonders 
gefährlichen Betrieben die unbedingt nörhigen Maßregeln zur 
Bekämpfung drohender Krankheiten und Unglüdsfälle getroffen, 
und damit ganz allgemein die Arbeiter vor übermäßiger Anjtrengung 
und frühzeitigem Verbrauch ihrer Kräfte bewahrt werden. 

Sehr erfreuliche Erfolge haben auf diefem Gebiete die Be- 
rufsgenofjenfchaften mit ihren Vorfchriften zur Verhütung von 
Unfällen erzielt; ebenſo die Verjicherungsanftalten mit der För— 
derung des Baues von Arbeiterwohnungen durch billige Hypo— 
thefen; aud) von der Thätigfeit der Fabrik- und Gewerbe ⸗In— 


ipeftoren, von den Anordnungen des Bundesraths, der einzelnen 
(158) 


28 


Zandesregierungen und der Polizeibehörden über die Einrichtung 
der Betriebe, die Beichaffenheit der Arbeiterfajernen und Schlaf. 
gängerwohnungen, über die Beichränfung der Frauen: und 
Kinderarbeit läßt fich viel Gutes erwarten, fall3 man den einmal 
als richtig erfannten Kurs, unbeeinflußt durch Gegenftrömungen, 
mit Eifer weiter verfolgt. 

Wenn Ieder fernerhin an feinem Platze joviel ald angängig 
für das gefundheitliche Wohlergehen des Arbeiterjtandes thut, und 
wenn die Lleberzeugung von der Bedeutung und dem Nugen unjerer 
deutſchen Arbeiterverficherung, wie ich Hoffe, in immer weiteren 
Kreifen Eingang findet, dann wird unſer liebes Vaterland eine 
wejentliche Kräftigung in feinen Grundfeften erfahren, zum Seile 
für das geiftige und leibliche Wohl der arbeitenden Bevölkerung, 
zum Nußen für die Erhaltung unſerer Wehrkraft und unjerer 
Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkte, zum Segen für die 
Wahrung unjeres Friedens nach außen wie nach innen. 


(154) 


Dei den Mönchen auf dem Athos. 


—__ — 


Otto Kern, 


a. 0. Profeſſor in Roftod. 


Hamburg. 
Berlagsanftalt und Druderei A.G. (vormals 3. F. Richter), 
Königliche Hofverlagsbuhhandlung. 
1898. 





Tas Recht der Ueberfegung in fremde Spraden wirb vorbehalten. 


Drud der Berlagsanftalt und Druderei Actien-Wefellichaft 
(wornule RB. Richter) in Hamburg, Königliche Hofbuchdrucerei. 


Mer auf dem thrafifchen Meere von der dürren, fahlen 
Hephaiftosinjel Lemnos nad) der Marmorinjel Thaſos Hinüber- 
fährt, auf der die Fichten grünen, wie in unferen beutfchen 
Wäldern, der fieht recht? und links von feinem einfamen Boot 
aus zwei hohe Bergfegel in den dunfelblauen Himmel ragen, 
die ihn wie zwei mächtige Wahrzeichen zu begleiten fcheinen.! 
Links erhebt fih auf der öftlichen Landzunge der Chalkidike 
bi8 zu einer Höhe von faſt 2000 Metern der Athos; rechts 
liegt die hohe Teldwarte von Samothrafe, von der aus Pofeidon 
nad) dem Lied des bomerijchen Sängerd auf die Kämpfe ber 
Griechen und Troer um Jlion herabfieht. Beide Berge bedeuten 
zwei Markfteine in der Gefchichte der Weligion. Unzählige 
PVilgerichiffe Haben bie Fluthen des thrafiichen Meeres durch— 
freuzt, — und es wird noch Jahrhunderte dauern, bis dem 
Athos die Bedeutung genommen wird, der Hort der griechijch- 
orthodoren Chriftenheit zu fein. Daran hat auch die Herrichaft 
der Türken nicht3 ändern können: ſeit länger als einem Jahr: 
taujend ift der Athos das Hagion Oros, der heilige Berg. 
Samothrafe freilich ift verödet. Wer es heute betritt, findet 
ein verlaffenes Eiland, von wenigen Menjchen bewohnt, die hier 
nothdürftig ihr Leben friften, ſich aber einer ſchon im Altertfum 
Iprihwörtlichen Gefundheit erfreuen. In dem romantijchen, 
üppig wuchernden Gejtrüpp, das die geringen Trümmer des be- 


rühmten Kabirenheiligthums umgiebt, findet fi) der Wanderer 
Sammlung. N. F. XIII. 298. 1* (157) 


4 


ſchwer zurecht. E3 gehört Wifjen und Phantafie dazu, ſich auf 
den durch zwei öfterreichiiche Expeditionen wieder aufgededten 
Ruinen Har zu machen, daß hier namentlich in der Zeit nad 
Alerander dem Großen ein frommer Myſteriendienſt geblüht 
bat, zu dem aus allen Ländern und Städten griechijcher Zunge 
die Frommen heranfamen, um den Weihen der großen Götter, 
der Kabiren, beizumohnen. Der jtolze Berg von Samothrafe, 
der heilige Hain an feinem Fuße mit dem wundervollen Aus: 
blid über PBlatanenwaldung und Meer nach deu thrafifchen 
Bergen Hin Hat feine Bedeutung verloren; Fein Bilgerjchiff 
landet mehr an feinen fteinigten Ufern: fein veligiöjes Leben ift 
verraujcht für alle Zeiten. Deſto feſter Hält der andere Bergriefe, 
der ihm gegenüberliegt, an jeiner Heiligen Tradition. 

Bom Berge Athos möchte ich hier den Lejern erzählen, 
fie für eine Weile der Gegenwart entreißen und ihnen ein 
noch heute lebensvolles Stüd Mittelalter zeigen, wie es ſich 
erhalten hat in der alten, ftarren, urfprünglichen Form, um, 
berührt von dem Strom der Jahrhunderte. Die Wellen des 
ewigen Meeres bejpülen den Athos wie damals, als an feinem 
Abhange der Heilige Athanafios das erjte Klofter gründete; die 
Wellen der gejchichtlichen Entwidelung, die jonjt alles berühren, 
heben und mitnehmen, find an diejer Stelle Europas ohne 
Wirkung geblieben. In den Klöftern des Athos hat man den 
Eindrud, als träte man plößli in eine andere Welt ein, in 
eine Periode, die lange Zahrhunderte hinter uns liegt, in dem 
Dämmerlicht des frühen Mittelalters. 

Der Athos Liegt in ftolzer Einjamfeit, fern von allem 
Verkehr, weltabgewandt. Die großen Dampferlinien berühren 
den Ort Dafni nicht, an dem man den heiligen Berg zu betreten 
pflegt. Kleine Zofaldampfer legen wohl hier und da an; aber 
meiſt jind es Segelboote, Bilgerjchiffe, welche die Frommen 


nad) den einzelnen Klöftern bringen, in denen fie oft ihr ganz 
(158) 


5 


— — — 


dem Götterdienſt gewidmetes Leben beſchließen. Der große 
Schwarm der Reiſenden kommt nicht hierher; dieſe heilige Ein- 
ſamkeit wird fein Stangen oder Riejel jemals ftören. Nur 
bejondere Fügungen bringen einem Fremdgläubigen den Befuch 
des Athos. Der Eintritt in das Gebiet der Athosmönche wird 
uns erjchwert. Es bedarf der direften Empfehlung des Pa— 
triarchen in Konftantinopel. Der Grund der Reife muß genau 
angegeben werden, und mit dem Schreiben des Patriarchen ver: 
jehen, muß man vor die heilige Synode treten und Zweck und 
Ubficht feines Aufenthalts auseinanderſetzen. 

Bor fünf Jahren, in den erften Tagen des Auguft, betrat 
ich die Athoshalbinfel, um im Auftrage der Berliner Akademie 
eine Handſchrift des SKirchenvater8 Hippolytos zu unterfuchen, 
die in dem Kloſter Vatopädi der verdiente Theologe Philipp 
Meyer, früher Prediger der deutjchen evangelifchen Gemeinde in 
Smyrna, entdedt hatte? Sechs Wochen bin ich auf dem Athos 
gewejen, in verjchiedenen Klöftern, die legten acht Tage in Ge» 
meinſchaft mit dem damaligen Generalkonſul von Smyrna, 
Herrn Dr. Stannius, in defjen Vaterſtadt ich mit bejonderer 
Freude von dem Aufenthalt bei den Mönchen des Athos erzähle, 
weil diejer jchöne Beziehungen zwijchen uns weiter pflegte, bie 
da3 gaftlihe Konfulatshaus in Smyrna, die Ausgrabungen von 
Magnefia am Mäander und die gemeinjame, herzliche Ver: 
ehrung für unjeren großen Landsmann, den unvergeklichen Karl 
Humann, geknüpft Hatten. 

Neite des klaſſiſchen Alterthums fann man auf dem Athos 
faum erwarten; eine nichtsjagende Infchrift, ein ſpätrömiſches 
Grabrelief im Klofter der Iberer find eigentlich alles, was ich 
gefehen. Der Traum, in den reichen Kloſterbibliotheken Die 
Neite der griechischen Lyriker oder die Komödien des Menandros 
wiederzufinden, ift verflogen: der Wüftenjand Aegyptens, aus dem 
jest alljährlich neue, ungeahnte Schäge gehoben werden und der 


(169) 


6 


uns eben die Gedichte des Balchylides wiedergefchenkt hat, iſt 
die beite Bibliothek, für die Alterthumsſtudien unendlich wich. 
tiger, als alle Bibliothefen des Athos zufammengenommen. 
Denn faſt alle wirklich bedeutenden Handjchriften griechischer 
Schriftjteller, die ed auf dem Athos im Mittelalter ohne Frage 
gegeben hat, find jet verfhwunden; zu günftiger Stunde haben 
fie die Ruſſen nah Moskau,’ die Franzoſen nad Paris 
entführt. 

Im Alterthume bat die Athoshalbinfel niemals eine große 
Rolle gejpielt, die größte damals, als die ftolze Flotte des 
Mardonios an ihren Felswänden zerjchellte und die Ufer Mafe- 
doniens mit Tauſenden von Perjerleichen bededt waren. Berühmt 
it dann der Kanal geworden, den Kerze an der jchmaljten 
Stelle der Halbinfel anlegen ließ, um eine zweite derartige 
Kataftrophe zu verhindern. Ob diefer Kanal je ganz fertig ge- 
worden ift, weiß man nicht. Die Spuren, die man heute. von 
ihm fieht, jcheinen gering zu fein. Lange Zeit ift der Athos 
von Nichthellenen bewohnt gewejen, und im Gegenſatz zu den 
beiden anderen Zungen der Chalkidike, — großes ftäbtifches 
Leben Hat Hier in dem meift unmwegjamen Waldgebirge nie 
geherrſcht. Die Städte, deren Namen wir hören, haben nur 
Iofale Bedeutung gehabt und find mit Olynth, Potidaia, Torone 
nicht zu vergleichen. Sie werden meift da gelegen haben, wo 
heute die Klöfter ftehen, über die ganze Halbinfel verjtrent. 
Die Klöfter Batopädi und Jviron zeichnen fich noch heute durch 
eine jo vortreffliche, natürliche Hafenanlage aus, daß man es 
jchwer begreifen fünnte, wenn das für jeden Wortheil, den Die 
Natur bietet, fo vorzüglich geſchulte Auge der Alten hier achtlos 
vorbeigefchweift wäre. Auch ein religiöjeg Centrum ift der 
Athos niemals im Altertum gewejen. Nur befand ſich auf 
jeiner Höhe ein Altar des Zeus, wie auf den meiften hohen 
Bergen Griechenlands, und als Sitz des Zeus kennt ihn auch 


(160) 


7 


ſchon Aiſchylos in der grandiofen Rede der Klytaimejtra, in 
der fie die Hellleuchtende Fackelpoſt jchildert, die den Fall von 
Troia, von Berg zu Berg, bis zu dem Königspalaft in Myfenai 
verfündigt. ALS anekdotenhafte Erzählung aber jtreichen wir 
wohlgemuth die Nachricht, daß einmal das Projekt aufgetaucht 
fein fol, den Athos in eine Kolofjaljtatue Alexanders des 
Großen umzugeftalten, und damit ift wohl das Wejentlichite 
gejagt, was wir über die Bedeutung des Athos im griechischen 
Alterthum wiffen. 

Eine Geſchichte der Athosklöfter, eine Entwidelung des 
Mönchsthums in ihnen, wenn man hier überhaupt von einer 
Entwidelung jprechen darf, kann ich nicht geben. Ich müßte 
da aus Büchern jchöpfen, würde überall im Dunklen tappen und 
nur Übgeleitetes bringen, ‚weil mir bier die Kenntniſſe fehlen. 
Was für die Gefchichte der chriftlichen Kultur Hier zu lernen 
ift, muß einmal ein Berufener jchildern. Für meine Aufgabe 
betrachte ich e8, aus meinen Aufzeichnungen das zujammen- 
zuftellen, was von weiterem Fulturgefchichtlichen Intereffe iſt, 
und die Folgerungen daran anzufnüpfen, die mir für den 
beidnijch-griechifchen Kultus unabweislich fcheinen. Denn auch 
ein Altertbumsforjcher findet auf dem Athos jeine Rechnung, 
wenn er fich nur entjchließt, den Blid von den alien Steinen 
und Büchern wegzuwenden zu dem Leben, das ihn umgiebt, 
und überzeugt ijt, daß es Dinge giebt, die niemals ganz unter: 
gehen, die in anderen Formen, aber oft ebenjo fräftig wieder: 
auftauchen — in dem Wechjel der Zeiten. 

Auf der Kuppe des Athos, der, ein ſteiler Marmorkegel, 
die äußerfte Südſpitze der Halbinjel bildet, befindet ſich fein 
Klofter. Da oben wohnt fein Menſch, und jelbjt viele Mönche 
haben dieſe Höhe nie erjtiegen, treu dem neugriechijchen Volks— 
charakter, der jede Anjtrengungen jcheut, giebt es doch 3.8. in 


der Stadt Bergama viele Leute, die niemals die Burg von 
(161) 


8 





Pergamon erjtiegen haben, die ihnen täglich” unmittelbar vor 
Augen liegt. Auf halber Höhe etwa nahm uns für die Nacht 
eine Heine ruffifche Anſiedelung Keraſiä, das Kirfchendorf, auf, 
in der mehrere junge Mönche wohnten, die aber die ganze 
Naht mit lautem Gebet ausfüllten, jo daß wir nur jchwer 
etwas Schlaf finden konnten. Am nächften Morgen, noch vor 
Sonnenaufgang, machten fich Herr Generalfonjul Stannius und 
ih auf den Weg, begleitet von einem Laienbruder, der uns 
führte. Zuerſt ging es hinauf durch wundervolle Waldungen 
noch von verjchiedenem Gehölz, hier und da vorbei an einer 
zadigen Feldnafe, — dann gelangten wir zu einem Haufe, das 
völlig leer ftand, auf einem wundervollen, freien Plate erbaut, 
von dem der Blick auf das tief unter ung liegende Meer fällt. 
Hier wohnt kein Mönch mehr; unfer Führer aber fand es gut, 
bier auf die weitere Begleitung zu verzichten und wies uns als 
auf ein nahes Ziel auf die über uns liegende Athosipige Hin, 
die von einer kleinen Kapelle gekrönt if. Der Weg wurde 
immer mühſamer, die Wegetation immer jpärlider. Das 
Geröll der Marmorfplitter gab unjeren Füßen feinen Halt. 
Endlich waren wir oben, wo es eilig falt war. Tief unter 
uns lag das Meer, an dem dad Gedächtniß der Perſer für alle 
Zeiten haften wird, und in ihm, leider von Nebel faft ganz 
umbüllt, die vier Injeln des thrafischen Meeres, am meiften 
fenntli) und hervorftechend die Bergkuppe von Samothrafe. 
Die Kapelle der Banagia, zu der einmal im Jahre, am 6. Auguft, 
eine befchwerliche Wallfahrt ftattfindet, macht einen armjeligen 
Eindrud; ohne jeden Schmud, vernacdhläffigt, Falt, öde. Wir 
eilten aus dem fellerartigen Raume bald wieder heraus und 
jegten una auf einen Felſen nieder, den Blid nad Norden 
gewandt, um die ganze Halbinjel, jomweit es der Nebel zulieh, 
zu überjchauen. In einigen Schlüften lag noch Schnee; jonft 


waren e3 meijt die mit Wäldern bededten Höhen, auf die unfer 
(162) 


9 


Bli fiel, weldhe die ganze Halbinfel von Norden nad Süden 
durchziehen und hier in dem fteilen Athoskegel, auf dem wir 
jaßen, ihren imponirenden Abjchluß finden. An einzelnen 
Stellen Teuchtete ein weißer Flecken auf, die Gebäude eines der 
zwanzig Klöſter, die, auf beide Seiten der Halbinfel vertheilt, 
bald dicht am Meere, bald im Grün der Wälder verftedt auf 
den Höhen liegen. Bei Harem Wetter muß man bier alles 
überfchauen und weit nad) Makedonien hinüberbliden können. 
Für mi war dieje Befteigung des Gipfels faft der Endpunkt 
meiner Reife, für Generallonful Stannius der Anfang feines 
mehrtägigen Aufenthalts bei den Mönchen. 

Einundzwanzig Klöfter zählt die Mönchsrepublik, abgejehen 
von zahlreichen Einfiedeleien und Filialen der großen Klöſter, 
in denen meift die Mönche wohnen, denen die Bejtellung des 
Ackers ald ihre Arbeit zugefallen if. Siebzehn Klöfter gehören 
den Griechen; eines, das neueſte und prächtigfte, nicht weit vom 
Landungsplatz Dafni, den Auffen; je eins den Serben, Ru— 
mänen und Bulgaren. Man fchäßt die Zahl der in den ver- 
ſchiedenen Klöftern lebenden Mönche auf dreitaufend und auf 
ebenjoviel Zaienbrüder, Koſmiki, die den Mönchen die gewöhn— 
lichen Gejchäfte abnehmen. Denn der griechiiche Mönch, wenigſtens 
der vornehmere in den großen Klöftern, lebt nur dem Gottes: 
dienste und dem Nichtsthun. Den Sinn von Goethe Wort: 
„Des echten Mannes wahre Feier ift die That” würde ein 
Athosmönd nie verftehen. Früher ift das vielleicht anders ge- 
wejen, als hier bie SKlofterbibliothefen entftanden, als die 
Mönche Heilige und profane Werke ihrer Vorfahren eifrig ab- 
ſchrieben, um damit ihre Sammlungen zu füllen. Bon geringen 
Ausnahmen abgejehen, habe ich wifjenjchaftlichen Eifer auf dem 
Athos nicht entdeden können; ja gleih an dem erften Tage 
meine® Aufenthalt3 in VBatopädi trat mir ein Beifpiel häßlicher 
Gewinnfucht entgegen, indem mir ein junger Mönch eine aller- 

(168) 


10 


dings jehr junge Handjchrift des Neuen Teſtaments zum Kauf 
anbot, die er aus den Falten feines weiten, ſchwarzen Gewandes 
zujammen mit einigen römifchen Münzen in aller Heimlichkeit 
bervorholte. Man darf ſich überhaupt nicht der Erwartung 
bingeben, bier auf dem Athos lauter abgellärte Menjchen zu 
finden, die in feine Waldeinfamkeit geflüchtet find, um den 
Gottesfrieden zu finden, den die laute Welt nicht giebt. Sehr 
verjchiedene Erjcheinungen begegnen ung, ehrwürdige Geitalten, 
die und mit tiefer Ehrfurcht erfüllen, und deren freideweißen, 
fnochigen, ernften Gefichtern man es anfieht, daß ein Leben 
hinter ihnen liegt, welches von frühen Mannesiahren an aus: 
gefüllt war durch angeftrengte Nachtwachen und fortgejegtes 
Faſten. Neben diefen auch in ihren Klöftern Hochverehrten 
Greifen jehen wir kräftige Männer jchreiten, das reiche ſchwarze 
Haar in einen Knoten gebunden, weil es das Gejeh verbietet, 
das Haar je zu fcheren. Dieſen Männern fieht man es oft an, 
daß es ihnen nicht leicht wurde, auf die Freuden diejer Welt 
zu verzichten, daß ihnen der Seelenfampf jchwer geworden: ift, 
daß fie nun aber mit heiligem Ernſt und wahrer Freude 
Mönche und Knechte geworden find. Mancher von diejen Hat 
fih aus einer dunklen, oft jchandbefledten Vergangenheit in 
die ftille Einſamkeit des Athos geflüchtet, um durch Nacht- 
wachen, Falten und Gebet Fehler und Verbrechen zu jühnen. 
Auch ganz jugendlichen Mönchen, denen noch faum der Bart 
Iproßt, begegnet man, darunter manchem, dem das Feuer leiden: 
Ichaftlicher, inniger Frömmigkeit aus den dunklen Augen leuchtet; 
aber auch jolchen, an deren Aufrichtigfeit man zu zweifeln ge: 
nöthigt wird, wie an der jenes Mönches in Vatopädi oder an 
der eines anderen im Kloſter Isphigmenu, der ſich abmühte, 
eine in feine Zelle verirrte junge Schwalbe zu Tode zu ängjtigen. 

Die Bildung der Mönche ift meift eine jehr geringe. Die 
Mehrzahl thut Tag für Tag das, was das Kloſtergeſetz vor- 


(164) 


11 


jchreibt. Ein Mehr und ein Weniger giebt es nicht. Die freie 
Beit ift dem Nichtsthun gewidmet. Aber es giebt auch fehr 
rühmliche Ausnahmen, zu denen ich vor allem rechne die Biblio- 
thefare der beiden großen Klöfter Laura und Vatopädi, Aler- 
andros und Eugenios, welche die Schätze kennen, die fie hüten, 
und deren Namen den Hiftorifern des Byzantinismus ſeit lange 
wohlbefannt find. Es waren da3 zwei ehrwürdige Greife, deren 
Kenntniffe nicht gering waren, und die ſich auch über religiöfe 
Tragen gern unterhielten. Eugenios zeigte mir in einem Raume 
der in einem Hohen Thurm untergebrachten Bibliothef von 
Batopädi eine Ausgabe des Heinen Katechismus: feine Augen 
leuchteten Leidenjchaftlih, und der Yanatifer in ihm konnte mir 
nicht entgehen. Trogdem war alles, was er fagte, fo aus. 
gedrüct, daß es nicht verlegen fonnte, daß es mich nur mit 
Achtung vor der erniten, religiöfen Ueberzeugung diejes Greijes 
erfüllen konnte. 

Zwei Tugenden zieren die Athosmönche, Duldſamkeit und 
Gaftfreundfchaft. Wer einmal von ber heiligen Synode die 
Erlaubniß erhalten Hat, von Klofter zu Klojter zu wandern, 
der wird überall, wohin er fommt, auch in der abgelegeniten 
Einfiedelei, mit Freundlichkeit aufgenommen werden. Die Gajt- 
freundichaft ift eine der wenigen Tugenden, die fi) von den 
Männern des Altertfums auf die Neugriechen übertragen hat 
und bie gerade in den Klöjtern des Athos geübt wird als ein 
heiliges, von den Vätern ererbtes Gut. Die Klöfter liegen bald 
wenig, bald weit voneinander entfernt. Nie aber wird es ge- 
ihehen, daß der Fremdling von dem einen zum anderen zu 
Fuße gehen muß. Ein gutes Pferd wird gejattelt, ein junger 
Zaienbruder wird als Führer bezeichnet, und an dem Thore 
des Kloſters erjt nimmt der Fremdling von feinen Gajtfreunden 
Abſchied; ein freundliches Kalnv avrapwarv, „Auf Wieder: 


jehen”, geleitet ihn auf den Weg zu dem anderen Kloſter. 
"165% 


12 


Die Klöfter zerfallen in zwei Klafjen, in die Eönobitijchen 
und idiorrhythmiſchen. Die könobitifchen haben ihren Namen 
daher, daß alle in ihnen wohnenden Mönche gemeinjchaftlich 
ihre Mahlzeiten einnehmen und daß Niemand bejonderes Ver: 
mögen bejigen darf. Es giebt eine große Klofterfaffe, aus der 
Alle gleihmäßig verjorgt werden. Das Leben ift hier bejonders 
ftreng und feft geregelt. Kein Fleiſch darf in dieſe Klöfter 
gebracht werden. Mit derjelben Wehmuth, mit welcher der 
junge Helmuth von Moltke einst feine letzte Rheinweinflaſche 
im Euphrat ſchwinden ſah, blicte ich der legten Fleiſchkonſerve 
nad, die mein griechijcher Diener beim Kloſter Isphigmenu ver- 
ſchwinden ließ, weil er fich nicht entjchließen konnte, fie mit ing 
Klojter zu nehmen, und mir dabei auf das Entjchiedeufte be- 
tonte, daß durch fie das Klofter für alle Zeiten entweiht werden 
würde. Der Aufenthalt in den könobitiſchen Klöftern gehört 
gerade nicht zu den behaglichiten Stunden meines Lebens. Es 
jcheinen auch meift die ärmften aller Klöfter zu fein. Die Koft 
ift mager; den feurigen Athoswein vermißt man bejonders 
ſchmerzlich. Hier leben die Mönche nur von Waſſer, Brot und 
Gemüfe. JIsphigmenu war das erjte von mir betretene Klojter, 
und als ich die jchwindlichte, morfche Treppe in das Fremden— 
zimmer binaufgeführt wurde, konnten meine Erwartungen nicht 
hoc) geipannt fein. Als ich dann aber des Abends, wie Alles 
um mich herum in tiefem Schlafe ruhte, von dem Hochgelegenen 
Zimmer Hinabjah auf das Meer und weiter hinaus auf die 
mafedonifchen Berge Hinter dem Schlachtfeld von Philippi, von 
dem ich gefommen war, als da vor mir eine Mondlandichaft 
ohne gleichen lag, das böſe thrakiſche Meer jpiegelglatt und 
heil beleuchtet von dem glänzenden Sternenhimmel, dieſe 
Stimmung fann nur eines Dichter? Mund ausdrüden, und fo 
lafje ich Ehilde Harold ſprechen: 


(166) 


13 


„Der Klausner führt ein glüdlicheres Leben, 

Der einfam dort vom Athos nieberfieht, 

Er darf am Abend auf der Höhe ichweben, 

Un deren Fuß die blaue Welle zieht. 

Wem einmal hier ein ſolches Stündlein flieht, 

Der wird entzüdt auf diefem Flecke fäumen 

Und ungern jcheiden aus dem Quftgebiet 

Mit heißem Wunſch, Hier bis and End’ zu träumen, 

Dann nen umfahn die Welt, die fchon zerrann zu Schäumen.“ 


Anders als in den Fönobitifchen ift das Leben in den 
idiorrhythmiſchen Klöftern geſtaltet. Dieje Klöfter, darunter 
die beiden wichtigften, die heilige Zaura, die Gründung des 
Athanafios, und VBatopädi, verfügen offenbar über große Neid): 
thümer, und fie vor allen werden es fein, die e8 möglich machen, 
daß die Mönchsrepublit auf dem Athos der hohen Pforte noch 
heute einen jährlichen Tribut von etwa 40000 Francs zahlt. 
In den idiorrhythmijchen Klöftern lebt jeder Mönd für fich 
allein in jeiner Zelle, nach feinem Wohlgefallen. Nicht ein 
Abt fteht an der Spite des Kloſters, wie bei den Könobiten; 
fondern mit jedem Jahre wird eine aus drei oder vier Mönchen 
beitehende Behörde neugewählt, die namentlich für die Ber: 
waltung der reichen Kloftergüter Sorge zu tragen hat. Jeder 
Mönch Hleidet und beföftigt fich jelbit. Die einzelnen Bellen 
fehen ganz wohnlidh aus. An den Wänden hängen bier und 
da Bilder, meift Ausschnitte aus illuftrirten griechifchen Zeit- 
chriften, die Porträts des griehijchen Königs, des Kronprinzen, 
des ruffiichen Kaiſers und ruffiiher Großfürſten. Jetzt wird 
man bier und da wohl auch den Bildern des deutjchen Kaiſers 
begegnen, und zwar jolchen, die auf Veranlafjung des General. 
konſuls Stannius ihren Weg auf den Athos gefunden haben. 
Ganz verjtohlen zeigte mir der alte Eugenios in Vatopädi eine 
Photographie der Kronprinzeſſin Sophie, die er aus einem Ge 
wahrjam hervorholte. Denn dem weiblichen Gejchlecht ijt der 


(167) 


14 


Zutritt zum Athos verwehrt; ſelbſt die Bilder von Frauen 
dürfen nicht an den Wänden hängen. An der mafedonifchen 
Grenze jtehen Wächter, die darauf achten müfjen, daß fein weib- 
liches Wejen das Reich der Klöfter betrete; auch feine Kuh 
fein Huhn. Die Eier, welche man mir in der Faſtenzeit als 
bejondere Freundlichkeit geftattete, famen fernher aus mafedonifchen 
Dörfern. In einem Klofter wurde mir erzählt, daß vor hundert 
Jahren eine als Mann verkleidete Engländerin auf den Athos 
gefommen wäre. Man hätte aber den Trug gemerkt und fie 
ergrimmt todtgefchlagen. Auch die Türken müfjen dies Gejeg 
achten. Der Paſcha, der in dem Städtchen Karyäs mit wenigen 
Beamten und Soldaten die Souveränität der Pforte vertritt, 
darf jeinen Harem nicht mitbringen. Aber Eines muß ich hervor- 
heben. Als ich mit den Vertretern des Kloſters der Iberer, 
die mich bejonder® herzlich aufgenommen Hatten, die Ießte 
Mahlzeit einnahm auf der nach dem weiten, ftillen Klofterhof 
gerichteten Veranda, da hielt der Erzbifchof mehrere längere 
Reden, von denen die eine den deutjchen Frauen galt. Das 
Lob der deutfchen Frau ift auch in die Einfamkeit der Athos: 
mönche gedrungen. Sonft ijt der Name Deutjchlands gerade 
fein beliebter. Denn wie könnte ein Athosmönch je das Kanzler: 
wort vergefjen, daß die ganze orientaliiche Frage nicht Die 
Knochen eines pommerfchen Grenadierd werth fei! Das Wort 
babe ich in meinen ſechs Athoswochen in mehreren Variationen 
oft gehört. 

Das Centrum der Athoshalbinfel ift das Städtchen Karyäs, 
das feinen Namen von den Nußbäumen herleitet, die es rings 
umgeben. Der Athos ift ſehr reih an den verjchiedenften 
Baumarten und Pflanzen und wird deshalb von Botanifern 
oft bejucht. Neben der Eiche die Platane, neben der Linde der 
Delbaum, Kaftanien, Binien, Nußbäume, Cypreffen, blühenbes 
Keujchlamm, das Lieblingsgewächs der Hera, und überall ein 


(168) 


15 


üppiges Schlinggewächs, auch Epheu, dem man im Orient fonft 
jelten begegnet. Der etwa zwei Stunden lange Weg von Vato— 
pädi nad) Karyäs ift bejonders herrlich, und wer würde nicht 
an die Farbengewalt Bödlinjcher Gemälde erinnert, wenn aus 
diefem jchwarzen Didicht ſich dann plötzlich ein Ausblick bietet 
auf das dunfelblaue Meer, eben von einer Farbe, wie fie von 
allen Malern nur Arnold Böcklin Hat nachſchaffen können. Der 
Ort Karyäs gehört zu dem Merkwürdigften, was ich in meinen 
Wanderjahren gejehen Habe, und treffend find die Worte, die 
der Berfafjer der Fragmente aus dem Orient darüber gefchrieben 
hat: „In Karyäs ift Niemand zornig, Niemand laut; es ift 
wie im Mohnpalafte des Schlafes.” Wie follte e3 in dieſer 
Stadt, in der fih nur Mönde und einige türfifche Soldaten 
aufhalten, auch laut zugeben! Ich durchwandle die Tange 
Straße, an deren beiden Seiten ſich lauter Magazine befinden, 
in denen die Mönche an beftimmten Bazartagen das Wenige 
faufen, was fie brauchen. Keine Frauengeſtalt begegnet dem 
Wanderer, feine mit dem rothen Schleier tief verhüllte Drien- 
talin; feine Kinderftimme jchallt an mein Ohr. Fürwahr, diefe 
Stadt erfcheint wie der Mohnpalaft des Schlafes. Sie ift der 
Mittelpunkt des Athos. Hier joll nach einer Tradition das 
ältefte Heiligtum gegründet fein. Die Kirche des Ortes, Die 
durch werthvolle byzantinifche Malereien ausgezeichnet ift, führt 
daher den Namen Protaton. In Karyäs wohnen die Vertreter 
der Klöfter. Jedes Klofter hat hier feinen palazzo oder xovdx, 
wie der Türke jagt, in dem der dvsınooownos wohnt. Dieje 
jährlich wechjelnden Vertreter bilden die heilige Synode, die ſich 
um die inneren Angelegenheiten der einzelnen Klöfter nicht 
fümmert, aber vor allem die Beziehungen zur Pforte zu regeln 
hat und gewifjermaßen äußere Politik treibt. Hier muß jeber 
Fremde eingeführt werben; hier giebt man den Brief des Pa— 


triarhen ab und erhält dafür ein jummarijches Schreiben, das 
(169) 


16 


an alle Klöfter gerichtet ift und den Reiſenden der Gaftfreund- 
ſchaft derjelben empfiehlt. Wer neugriechijch fprechen kann, 
muß gewifjermaßen eine Eleine Antrittsrede Halten, und wie 
freuten fich die ſchwarzgewandeten Geftalten, die um mich herum 
an den Wänden faßen, als ich für die Werke ihrer großen 
Ahnen von Herzen eintrat Sie fanden foviel Geſchmack daran, 
dag wir im Geſpräch fat die ganze Litteraturgejchichte durch. 
gingen. Dieje avrınooowno, find überhaupt die Gebildetiten 
der ganzen Mönchsgejellihaft. Dazu werden immer die Ge- 
jcheidteften gewählt, die Wahl kann diefelben auch mehrere Jahre 
hintereinander treffen. Ich wohnte bei dem Vertreter von Vato— 
pädi, einem wirklich gebildeten Deanne, der in feiner Jugend 
auch in Paris gewejen ift und, was ich nie vergejjen werde, — 
einen trefflihen Pariſer Koch Hatte, deffen Speifen die fajt ent- 
Ihwundene Erinnerung an europäijche Genüffe in mir belebten. 
Nur einmal an einem Faftentage war es auch hier jhlimm, 
und ich jehe noch das jchalkhafte Lächeln meines Gajtfreundes, 
als er jah, mit welcher Todesveradhtung ich die in einer Del- 
juppe ſchwimmenden Zintenfifche herunterſchlang. 

Keine Kirche lehnt den Gedanken einer Reformation ener: 
giicher ab, als die griechijch-orthodore. Hier gelten die alten 
Sapungen, unberührt von dem Wechjel der Jahrhunderte. 
Nirgends wird uns dies aber unmittelbarer vor Augen geführt, 
als auf dem Athos. In der Nähe von Vatopädi liegt auf 
einem Hügel die jtattlihe Ruine eines gewaltigen Gebäudes, 
dag an einen türfiichen Han erinnert. Es find die Reſte einer 
Klofterjchule, die im achtzehuten Jahrhundert Eugenios Bul- 
garis gegründet hat, der feingebildete Grieche, der fich rühmen 
konnte, zuſammen mit Voltaire an der Tafelrunde Friedrichs 
des Großen in Sangfouci theilgenommen zu haben. Er fuchte 
zu reformiren durch die Gründung einer großen Klofterjchule, 


zu der die Sünglinge aus allen griechifchen Landen herbeieilten. 
(170) 


17 


Aber er mußte unverrichteter Sahe aus Vatopädi abziehen, 
und heute liegt das ftolze Gebäude in Trümmern, zerbrochen 
der Stein mit der Injchrift, die das Jahr 1757 als Gründungs- 
zeit der Schule angiebt und einjt über dem Portal jtand. 

Hier in den Klöftern des Athos gelten die alten Saßungen; 
es find diejelben Melodien, in denen die Hymnen erklingen wie 
vor taujend Jahren. Man fieht die alten Pjalterien mit den 
Noten, die vergilbten Pergamenthandjchriften, die dem Kultus 
zu Grunde gelegt werden wie damals, als in der abgelegenen 
Wildniß des Athos die erjten Klöjter gegründet wurden. Darum 
fann auch der altchriftliche Kultus nirgends bejjer jtudirt werden 
als in dieſen alten Klojterfirchen, und aus einer jorgfältigen 
Betrahtung der jakralen Gebräuche wird der Kirchenhiftorifer 
wohl mehr Gewinn ziehen als aus den Handjchriftlichen Auf: 
zeichnungen, die in den Bibliothefen bewahrt werden. Bei jeder 
Kultushandlung, der man beivohnt, hat man den Eindrud, daß 
fie aus alter, durch Jahrhunderte überlieferter Gewohnheit jtammt. 
Die große Gaftfreundfchaft aber, die dem Fremdling in allen 
Stüden auf dem Athos geleiftet wird, ſpricht fich nirgends ſchöner 
und ernjter aus als in der Kirche. Die Mönche jchließen den 
Andersgläubigen nicht von ihrer Gemeinjchaft aus, jondern fie 
laden ihn zum Eintritt in den Hauptraum der Kirche ein, den 
während des Gottesdienftes außer den Priejtern Niemand be- 
treten darf. 

Mein Aufenthalt in Vatopädi fiel in die vierzehntägigen 
Tasten der Panagia, in die der Mutter Gottes im Monat Auguft 
geweihten Feſtwochen. So war mir oft die Gelegenheit gegeben, 
den Kulthandlungen aus nächjter Nähe, an bevorzugtem Plate 
beizuwohnen. Sehr lehrreich war mir die Theilnahme an einem 
feierlichen Nachtgottesdienft. Im tiefer Nacht weckte mich Gloden: 
läuten aus dem Sclafe. An meine Thür Elopfte der Mönch, 
dem für den Aufenthalt in Vatopädi mein leibliches Wohl und 


Sammlung. ®. 5 XIII. 293. 2 (171) 


18 


Wehe anvertraut war. Er bedeutete mir, daß die Feier bald 
beginnen würde. Ueber den dunklen Klojterhof, in dem viele 
ſchwarzgekleidete und halbverfchleierte Geftalten umherzogen, ging 
ic) in die Kirche. Aus der dunklen Nacht trat ich in den hell 
erleuchteten Raum, in dem die vielen Bilder der Heiligen mit 
ihrem Gold und ihren Edelfteinen Heute bejonderen Eindrud 
auf mich machten. Alle Kandelaber und Leuchter waren ange- 
zündet, die Kirche erjtrahlte in wunderbarem Glanze, und in 
ihren weiten Räumen jchritten die dunklen Geftalten langſam 
umber oder jaßen jchon auf ihren Pläten, das Prieſterperſonal 
im Hauptraum, die Mönche und Laienbrüder im Vorraum. Mir 
war als dem Bekenner einer anderen Religion ein Ehrenplaß 
angewiefen neben dem Hohepriefter, der in farbenprächtigem Ge— 
wande neben mir jaß auf einem mit rothen Teppichen geſchmückten 
Throne, auf dem in früheren Jahrhunderten manch' byzantinijcher 
Prinz gejeffen haben ſoll. In der linken Hand hielt er das Scepter. 
Schon die Tracht dieſes Prieſters allein, eine wahrhaft könig— 
lihe Tracht, mußte mid an das Koftüm der altgriechifchen 
Priefter erinnern. Vor dem Hohepriejter ftand, etwa in der 
Mitte des Raumes, lange Zeit gejenkten Blickes ein junger 
Mönch, ganz verfchleiert, jchwarz wie die Nacht. Nur ein Heiner 
Theil des freideweißen, dur Falten und Nachtwachen offenbar 
ganz abgezehrten Geſichts blidte aus der Gewandung hervor. 
Nach einer halben Stunde, während der die Priefter mit näjelnder 
Stimme ihre Hymnen fangen und das Weihrauchbeden fortwährend 
an und vorübergetragen wurde, winfte der Hoheprieſter, der 
Mönch küßte feine Hand, fiel dreimal nieder auf den prächtigen 
Moſaikfußboden, befreuzigte fich und ſprach dann ein Gebet- 
Auf meine jpätere Frage, was dieje Ceremonie zu bedeuten hätte, 
erfuhr ich, daß diefer Mönch geweiht worden jei, daß er nun 
Priefter werden könne. Wie jollte da einem Kenner der grie- 
chiſchen Religion nicht die Heilige Nacht der Myiterien in Eleufis 


(172) 


19 


ins Gedächtniß kommen, da in dem großen Weihetempel, in dem 
von Säulen dicht belebten Saale der Hierophant die Weihung 
an den Myjten vollzog, da nach den Zeugnifjen der Alten dort 
ungeheure Lichteffekte jtattfanden! Solche Lichteffekte gab es num 
auch in jener Nacht. Die gewaltigen Kronleuchter, die von der 
Kuppel herunterhingen, wurden fortwährend bewegt durch Stride, 
welche die Mönche auf und nieder zogen. Ich blieb etwa zwei 
Stunden in der Naht da und hörte dem Hymnenſingen mit 
Andacht zu, und vor mir ftiegen die Weihrauchdüfte hinauf in 
den hohen, hellen Raum. 

Die Mönche beteten und jangen während der ganzen Nadıt. 
Auch mein Schlaf währte nicht lange; denn bereit3 um halb 
ſechs Uhr weckte mich wieder Bapas Klemes. Eine halbe Stunde 
darauf ertönten die Schläge auf einem jchmalen Brette vor der 
Kirche, die zu der großen Liturgie einluden. Jetzt mußten auch 
alle Greiſe erjcheinen, die vom Nachtgottesdienft zum Theil ent- 
bunden find. Der Vorraum der Kirche war dicht gefüllt. Nicht 
nur Schwarze Mönche ftanden in ihm und Zaienbrüder. Auch von 
der gegenüberliegenden Inſel Thaſos waren fie während der 
Nacht herübergejegelt, um der Feier beizumohnen. Der Hohe: 
priefter jaß noch da, an bderjelben Stelle, in derjelben jteifen 
Haltung. Bald begann die große Liturgie. An dieſer erjchien 
mir nun als bejonders bedeutungsvoll der Moment, wo der 
Hohepriefter aus dem durch Vorhänge abgejchloffenen Altarraum, 
den er furz vorher betreten hatte, heraustrat und an der Schwelle 
mit hoch erhobenen Händen das Heilige Buch zeigte. Denn dies 
Beigen einer heiligen Sache, die derkıs av isowv, bildete einen 
Haupttheil der eleufinifchen Myiterien. Der oberjte, priejterliche 
Beamte in Eleufis, der Hierophant, Hat von diejer Thätigfeit 
feinen Namen, und wer fi) das eleufinifche ZTelejterion im 
Geifte wieder aufbauen kann, den Säulenwald in der Mitte des 
gewaltigen Saales, ringsherum auf den Stufen fitend die Zahl 


3° (173) 


20 


der Geweihten, den weiten Raum erhellt durch Fackelglanz und 
bunten Lichterfchein, der wird es nachfühlen fünnen, daß es für 
ein frommes Griechenherze die weihevollite Stunde jeines Lebens 
war, in der ihm die heiligen Symbole in den Händen des 
Hierophanten offenbart wurden. Died Zeigen von heiligen 
Bildern, Büchern und Reliquien, das auch im römisch-fatholischen 
Kultus eine große Rolle jpielt, und defjen mächtigen Eindrud 
auch der niemals vergefjen wird, der auf der Treppe von Ara— 
celi den Moment erlebt hat, da der verjammelten, taujendföpfigen 
Nömermenge bei Sonnenuntergang zum letzten Male im Jahre 
der Bambino gezeigt wird, welcher vom Weihnachtsfeſte an tage- 
lang der Gegenftand andächtiger Verehrung geweſen ift, — dies 
Zeigen bat feinen Urfprung in der Handlung des Hierophanten 
in der heiligen Bucht von Eleuſis. Der griechiich- orthodore 
Kultus hängt in viel höherem Grade von dem althellenischen 
Ritual ab, als viele heute annehmen. 

Alle Religionen des Alterthums überragt an Gehalt und 
Tiefe die Religion der Myfterien von Eleufis. Das auffeimende 
Chriſtenthum hat mit den Göttinnen von Eleufis den jchwerften 
Kampf ausgefochten, und erjt als kurz vor Alarichs Einzug in 
Athen der perfiiche Mithrasdienit den Kult der beiden hehren 
Göttinnen, die viel länger als ein Jahrtaufend an der heiligen 
Bucht gewaltet haben, verdrängt hatte, war es mit dem Anjehen, 
mit der Würde dieſer Myjterien vorbei, in denen Millionen von 
Menjchen ihr Seelenheil gejucht und gefunden haben. Nicht die 
Gothen find die Zerjtörer der eleufiniichen Religion, jondern das 
Myſterienweſen iſt in fich zerfallen in dem WUugenblid, da die 
alten heiligen Saßungen befledt waren und ein perfifcher Gott 
von einem aus Boiotien jtammenden Hierophanten bedient wurde. 
Das Gericht, das die Eleufinier traf, war ſchwer; wie dann das 
Heiligthum zerjtört worden ift, in zügellojem Fanatismus, jo daß 


feine Säule mehr von feiner Pracht verkündet, das lehren heut 
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die wiederaufgededten Ruinen, die in jtrahlendem Sonenglanze 
daliegen, diht am Meere, gegenüber den Bergen von Salamis, 
und die auch jo noch eine vernehmliche Sprache reden. Aber 
ehe der Tag des Untergangs fam, hat der altchrijtliche Kultus 
mit weijer Berechnung, in dem Bewußtjein, daß die eleufinijchen 
Myſterien eine große geiftige Macht gewejen find, von dem Ri— 
tual der Weihen genommen, was in fein Geremoniell hineinpaßte. 
Auf den Klöftern des Athos, wie auch in vielen römijch-katholifchen, 
verliert der neue Mönch den alten Familiennamen, — aud) der 
Hierophant verlor jeinen bürgerlichen Namen; es hieß, die Wellen 
des Meeres hätten ihn weggeipült. Durch das Wafler des 
Bojeidon erhielt er jeinen neuen Namen. Er wurde durch 
Waſſer geweiht: das Meer jpült alle Schuld des Menjchen fort, 
jagt die Iphigenie des Euripides. Es ift geleugnet worden, daß 
der althellenifche Gottesdienit das Faſten kennt, mit Unrecht und 
wider die Weberlieferung. Das alten, das gerade auf den 
Athosklöſtern eine ganz bejondere, uns nad) feiner Ausdehnung 
faum verjtändliche Bedeutung hat, jpielte eine große Rolle aud) 
in Eleujis. Dem Schauen der Heiligen Symbole ging ein 
Faſten voraus, wahrjcheinlid) am Tage, wie auch heut noch die 
Bekenner des Islam während des Ramaſans nur am Tage 
fasten, und jofort, wenn von den Minarehs der Jmäm Teier- 
abend verkündet und das Gebet an Allah vollendet ift, ihre 
Mahlzeit einnehmen und dann faft die ganze Nacht mit Schmaufjen, 
Gejang und Lujtbarkeit verbringen. Das Falten ift auch eine 
wichtige fultlihe Handlung, hier auf dem Athos, wie dort im 
griehiichen Altertum bei den Eleufiniern. 

Auch im Klojter der Fberer konnte ich einer Ceremonie bei- 
wohnen, die ihre Analogie im Altertfum hat. In der Mittags- 
ftunde war ich den fteilen Bergweg von dem Städtchen Karyaes 
nad Iviron hinabgeritten, in großer Sonnengluth. Im Klojter 
berrichte tiefjte Stille; die Mönche hielten Mittagsichlaf. All— 


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mählich aber wachten die Leute auf; ein Greiß hieß mich mit ein 
paar Broden Italieniſch willlommen und gab mir dann einen 
jungen Mönd als Führer mit, der mich im Klofter orientiren 
ſollte. Wir durchjchritten den weiten, leeren Raum zur Klofter- 
firche, aus der gerade das Muttergottesbild in feierlicher Pro: 
deffion nach einer Kapelle getragen wurde. Die Gloden läuteten; 
die Prieſter fchritten voran in langen, gelben Gewändern; ein 
Prieſter trug das goldbededte Muttergottesbild heraus. In 
langer Reihe folgten die Mönche. Aber fie blieben alle vor der 
Kapelle ftehen. Nur die Prieſter jchritten hinein und ftellten 
das Bild der Banagia unter vielen Gebeten an feinen Pla, an 
dem es bis zu dem nächſten großen Feſt verbleibt. Auch diejer 
Brauch ift antik, auch diefer führt ung vom Athos nad) Eleuſis. 
In langem Zuge wurde an einem Septemberabende in jedem 
Jahre das Bild des Gottes Jakchos nad; Eleuſis getragen, 
geleitet von der jungen, waffenfähigen Mannjchaft, die hier den 
Ehrendienft hatte. Bier Stunden lang, an vielen Heiligthümern 
vorbei, ging e8 auf der heiligen Straße von Athen nad) Eleufis, 
unter feierlihem Hymnenflang, aber bie und da auch mit nedi- 
chen Gejängen. Das Bild des Gottes wurde dann feierlich von 
dem Briefterperjonal empfangen, wundervolle Gejänge ertönten, 
die Euripides und Ariftophanes nachgedichtet haben, und es begann 
die erjte, dem Fremdling Jakchos geweihte, heilige Nacht. Nach 
der Beendigung der ganzen Myſterienfeier wurde dann das Bild 
des Jakchos wieder nad) Athen zurücgebracht, wo es im Jak— 
cheion feinen Plat Hatte. Wir wifjen nichts von den dabei ge- 
übten Geremonien; aber viel ander als bei jener Panagia- 
prozefjion im Kloſter der Iberer wird es da auch nicht zuge: 
gangen fein. 

Es wäre gewiß lehrreich, wenn ein Forſcher fich einmal zur 
Weihnachtszeit in die Einjamkeit der Athosmönche begäbe und 


genau beobachtete, unter welchen Riten dort die Geburt Ehrifti, 
(176) 


23 


die Xosorovyora, gefeiert wird. Denn die Vermuthung liegt 
jehr nahe, daß ſich auch da Reſte vom eleufinischen Kultceremo- 
niell erhalten haben. An dem Myſterienfeſt wurden in einer der 
Nächte auch Heilige Dramen aufgeführt, von deren Inhalt wir 
leider jehr wenig wiſſen und von deren Beziehung zu der 
im Dionyjosfult entjtandenen Tragödie wir gar nichts jagen können. 
Uber wir willen do, daß die Myiten durch die Darftellung 
von religiöjen Dramen in eine gefteigerte Ilufion verjegt wurden. 
Man nimmt gewöhnlich an, daß es fic Hier nur um pantomi- 
mijche Aufführungen Handle. Sicher bezeugt ift die Begleitung 
des heiligen Dramas durch Hymnen, die der Hierophant jang, 
dejjen jchöne, Elangvolle Stimme oft gerühmt wird. Der Kirchen: 
vater Hippolytos hat und noch ein Wort aufbewahrt, das ber 
Hierophant während der heiligen Nacht in dem durch Fadelglanz 
hell erleuchteten Raume laut gerufen haben fol: „Einen heiligen 
Knaben hat die Hehre geboren, den Brimos die Brimo.“ Mit 
Brimos kann nur Jakchos, mit Brimo nur Demeter gemeint 
jein, die unter diefem Namen auch fonft verehrt wird. Es war 
aljo in einer Scene des heiligen Dramas aller Wahrjcheinlic)- 
feit nach die Geburt des Jakchoskindes dargeftellt, und es jcheint 
jo, daß fi ein Nachklang davon auf einer vor mehreren Jahren 
auf der Injel Rhodos gefundenen, jest in Konftantinopel befind- 
lichen, leider noch immer nicht veröffentlichten Vaſe erhalten hat. 
Sit aljo für die eleufinifchen Myſterien die Darftellung der 
Geburt eines göttlichen Kindes bezeugt, fo liegt es nahe anzu- 
nehmen, daß der griechifch-orthodore Kultus in den die Geburt 
Ehrifti betreffenden Geremonien von jener eleufinifchen beeinflußt 
ift. Wohl würde fi) alfo ein Beſuch des Athos zur Weihnachts. 
zeit lohnen. Aber während des Winter ſoll es da in ben 
Klöftern für einen Nordländer ganz unerträglich ſein. Mächtige 
Gießbäche ftürzen von den Feljen herunter und zerftören all» 
jährlich das die Klöfter umgebende Gelände. Die Kommunikation 


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zwifchen den einzelnen Klöftern ift aufgehoben, und noch weniger 
als jonft fommen die Mönche aus ihren Behanfungen heraus. 
Mein greifer Freund, der Bibliothefar Eugenios, hat die durch 
einen reißenden Gießbach angerichtete Zeritörung im Gebiet von 
Batopädi in einem längeren Gedicht bejungen und mir unter 
anderen gleichartigen Poömen als Erinnerungsgabe mitgegeben.* 

Eine Geſchichte der griechifchen Religion müßte mit einer 
Darftellung des Kultceremoniells jchließen, wie es fi) aus dem 
Alterthum erhalten hat und in den griechischen und ruſſiſchen 
Kirchen fortlebt bi auf unjere Tage. Wem klingt das Lied 
„Stille Nacht, Heilige Nacht“ nicht in den Ohren, wenn er von 
dem Auf des Hierophanten über Brimo, die den Brimos gebar, 
heute hört, und wer kann leugnen, daß der Kultus hier abhängig 
ift von den Riten der heidnifch-griechifchen Kirche. Dieſe Auf: 
fafjung berührt unferen proteftantifchen Glauben und unjer 
Dogma nicht, — aber fie weift den Weg nad) Rom und nad) 
dem Athos. E38 it feitgejtellt, daß die Verehrung der Madonna 
von dem fünften Jahrhundert n. Chr. an einen immer jteigenden 
Auffhwung nimmt, alfo gerade in der Zeit, da das Myjfterien- 
weien in Trümmer ging, da e3 zu Ende war mit der Herrlich 
feit in der Bucht von Eleufis. Alles Lebensfähige aber, alles, 
was zum Herzen der Menjchen jprach, haben die Eugen Priefter 
des Chriſtenthums für ihren Kultus verwandt, — Fleine und 
große Züge, — und dag Mächtigfte, Wichtigſte war dod), daß 
fie die Madonna bereits vorfanden, die Mutter mit dem Finde 
an ihrer Bruft, und fo ift von den elendefien kleinſten Terrakotten, 
die eine Frau darjtellen, wie fie ein Kindlein auf den Armen 
trägt, und von der Eirene des Kephifodots, der demetergleichen 
Friedensgöttin, eine einzige Entwidelung bis zu den Heiligen. 
bildern der griechiſch und römiſch⸗katholiſchen Kirche und bis zu den 
Madonnen Raffaeld und weiter bis in unjere Tage. Wer die in 
den fatholifchen Kirchen aufbewahrten Heiligenbilder fieht, mit 

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25 


ihrem Schmud aus Gofdbleh, mit den Gewändern, die fie an 
Feſtestagen erhalten, der muß fich erinnern an das Kultbild 
des Alterthums. Die methodijche Forjchung hat hier noch faum 
angejegt, und e3 wäre eine allerdings nur in Griechenland und 
Italien auszuführende, verheißungsvolle Aufgabe, wenn ein 
Kunfthiftorifer, der auch Geſchichte und Religion kennt, energisch 
und vorurtheilslos an die Arbeit ginge, das antife Gut in den 
Bildern des Byzantinismus und der Nenaifjance aufzuzeigen. 
Die befannte Darftellung der Geburt Chrifti 3. B., die in den 
verjchiedenjten Variationen fi in den Werken der Renaiffance 
findet, ift ein den Alterthumsforſchern wohlbekannter Typus. 
Die geihichtliche Entwidelung ift ungehemmt ihren Lauf gegangen. 
Oft jcheint es freilich, daß fie unterbrochen ift. Etwas Neues 
jcheint aufzutauchen. Aber es iſt demjelben Quell entjprungen. 
In Griechenland giebt es Flüſſe, die ganze Streden lang einen 
unterirdiichen Lauf haben, dann aber mit doppelter Gewalt aus 
dem Felſen hervorbrechen. Staunend jteht der Wanderer davor und 
betrachtet fie al3 ein Wunder. Aber es ijt fein Wunder, nichts 
Neues. Es iſt derjelbe Fluß, vor dem er jchon einmal jtand. 
Sp, ganz genau jo geht e8 auch mit der Wirfung einer großen 
Religion, wie es die der Mutter von Eleufis, der antifen Ma: 
donna gewefen ift. Und weil fie ſich an rein menjchliche Gefühle 
wendet, weil fie verheißt, was Aller Sehnſucht und Wunſch iſt, 
darum hat fie gezündet und darum hat fie allein ihren Weg ge- 
macht bis in unjere Zeit. 

Schiller hat in feiner akademiſchen Antrittsrede mit Nach— 
drucd darauf Hingewiejen, daß die Methode, nad) Analogie zu 
ichließen, wie überall, jo auch in der Gejchichte ein mächtiges 
Hülfsmittel fei. Diefer Grundjag ift heut allgemein anerkannt, 
und durch feine Anwendung find in der Darftellung der Geſchichte 
der Menfchheit jchon große umd bleibende Reſultate erzielt.’ 
Denn das allgemein Menjchliche ändert und wechſelt ſich nicht. 


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26 


Wer fi bemüht, die Gejchichte einer Neligion zu verjtehen, ihr 
Werden, Wachſen und Vergehen, fommt ohne Analogien nicht 
aus, wobei es zunächſt völlig gleichgültig ift, ob er den Islam 
zur Bergleichung heranzieht oder den Glauben der Dakota-Indianer. 
Aber durch eine Bergleichung des altgriechijchen und des griechijch- 
orthodoren Kultus müſſen wir für beide Religionen noch jehr 
viel mehr lernen, weil hier der gejchichtliche Zufammenhang nicht 
zu verfennen ift. Die hellenifche Religion feunt fein Dogma: 
fie wirft auf ihre Gläubigen durch den Kultus, auf dejjen Aus: 
geitaltung fie den höchiten Werth Iegt. Selbit in den Myſte— 
rien von Eleufis, wo man nody am erjten von einer Kirchen: 
bildung im Altertum jprechen könnte, war das Wejentliche das 
Zeigen des Hierophanten, das Schauen der geweihten Menge. 
In den alten, von Jahrhundert zu Jahrhundert zäh fortge- 
pflanzten Kultformen liegt auch allein die Lebenskraft der 
griechiſch orthodoxen Kirche. Von den ältejten Zeiten her war 
das im heutigen Hellas wohnende Volk an bejtimmte Kultusformen 
gewöhnt, und es hat von ihnen nicht gelafjen, auch damals nicht, 
als eine neue Religion vom Oſten her ihren fiegreichen Lauf begann. 

Was ich hier heute nur andeuten kaun, e8 würde an Be: 
weisfraft und an Deutlichkeit gewinnen, könnte ich noch fhildern, 
wie treulic) auch das moderne griechiiche Volk in Aberglauben, 
in Märchen und in Sagen die antife Tradition bewahrt Hat, 
wie diejelben Spufgejtalten heut in der Kinderftube eines attijchen 
Bauer walten, wie vor zweitaufend Jahren, als Lamia und 
Mormo die Schredbilder der Kinder waren. Selbſt die Namen 
find geblieben. Mit faſt denjelben Gebräuchen wird die Geburt 
eines Kindes heute in Neugriechenland begrüßt, wie in Althellas. 
Gewaltige Bölferverjchiebungen haben auch nach der klaſſiſchen 
Zeit noch in Griechenland ftattgefunden. Das jlaviiche Element 
it vom Norden hineingebrochen und hat die meisten Landjchaften 
des alten Hellas zu feinem Unheil überfluthet. Uber Himmel, 


(180) 


27 


Sonne, Mond und Sterne, Wafjer und Luft, Berge und Höhen 
find diejelben geblieben, — an fie nüpfen ſich Sagen und Ge: 
bräuche, Aberglaube und Religion an, — und folange Homers 
Sonne da unten noch leuchtet, werden dieſe Spuren des antiken 
Geiftes nicht vergehen. 


Anmerkungen. 


Diejer Vortrag ift am 13. Dezember 1897 in der Aula der Uni— 
verfität Roftod gehalten worden. Ich habe nur hier und da einiges 
Hinzugefügt, was auszujprehen die Kürze der Zeit nicht erlaubte. In 
ausführlicherer, die perjönlichen Erlebnifje mehr hervorhebender Darftellung 
habe ich über meinen Aufenthalt auf dem Athos in der , Voſſiſchen Zeitung“, 
Auguft 1894, berichtet. In dem Vortrage fam es mir vor allem darauf 
an, die Beziehungen des altchriftlihen Kufts zu dem griechiſch-römiſchen 
aus Autopfie zu betonen, ohne ihn mit gelehrtem Ballaft zu beichweren, 
was einer anderen Gelegenheit vorbehalten bleibt. Ich werde dann auch 
das reiche Material zu verwerthen juchen, was in Tredes vierbändigem 
Verf über das Heidentgum in der römiichen Kirche aufgeipeichert Liegt, 
über das W. Kroll in diefer Sammlung, Heft 278 (Antiker Aberglaube), 
©. 43 zu Hart geurtheilt hat. Die moderne Litteratur über den Einfluß 
des antifen Myfterienwejend auf das Chriſtenthum Habe ich für diejen 
Zweck mit Abſicht nicht berüdfichtigt. H. Ujeners bahnbrechende religions- 
geihichtlihe Unterjuhungen bier noch bejonders zu erwähnen, wird heute 
faum mehr nöthig jein. 

' Darüber vergl. audy Alexander Conzes Reife auf den Anjeln des 
thrafiihen Meeres. Hannover 1860. ©. 45. 

Jetzt benugt in der im Auftrage der Alademie von N. Bonwetſch 
beiorgten Ausgabe des Danielfommentars von Hippolytos. Leipzig 1896. 
Bergl. ©. VI. 

’ Die in Moskau befindliche wichtige Handichrift des Periegeten Bau: 
janias jtammt z. B. aus dem Klofter der Iberer (Iviron), was die neuejten 
Herausgeber des Pauſanias nicht erfannt haben. 

* Das Büchlein führt den Titel: Megeypayn Luusrgos 155 dv Adam 
sous zei orßeouias usyiorms kevpas tod Baronsdiov yıhostoryteioe uro 
Evysviov uoydyov Baronsdivov Zauoiv. ’Ev Adjveis &% 100 Tetoyorysiov 
AlsE. Heneyswpyiov 1891. 

° Einer der jchönften in diejes Gebiet fallenden Aufſätze ift der von 
B. Erdmannsdörffer, „Das Zeitalter der Novelle in Hellas.“ Preußiſche 
Jahrbücher XXV (1870) ©. 121—141, 283— 308. 

— — ——⸗ Ban = 


(181) 


Mittelalterliche Vollsſagen 
als Ausdruf religiös-politiſcher Kämpfe. 


Von 


Konrad Thuemmel, 
Amtögerichtärath in Görlig. 
—e oo 0 —. 


Hamburg. 
Verlagsanftalt und Druderei U.-G. (vormals J. F. Richter), 
Königlihe Hofverlagshandlung. 
1898, 


Das Recht der Ueberjegung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 


Drud der Berlagsanftalt und Druderri Actien ⸗Geſellſchaft 
(vormals J. F. Richter) in Hamburg. 


ir Kinder der heutigen, an Hülfsmitteln des geiftigen 
Verkehrs jo überreichen Zeit fünnen uns nur fchwer in die 
Gedanfenjtrömungen jener Zeiten verjegen, in denen die Arten 
jowohl als die Mittel geiftiger Mittheilung jo durchaus ab- 
weichend waren von demjenigen, die heute unjer tägliches Brot 
bilden faſt in jeder Beziehung des Einzel» jowohl ‚wie des 
Öffentlichen Lebens. Die Thatjache an ſich ift ja unbeftreitbar, 
daß es auch in jenen zeitungslojen Zeiten und felbjt in ben 
Sahrhunderten vor Erfindung der Buchdruderfunft jene im 
Volke Lebende uud wachjende und in feinen breitejten Schichten 
wurzelnde geijtige Macht gab, die wir Heute mit einem jehr 
abgejhwächten Ausdrud die „öffentliche Meinung” nennen und 
die man vielmehr das Denken und Fühlen des Volkes als 
Ganzes betrachtet, der Wolksjeele, nennen ſollte. Daß dieſe 
außer durch das Mittel der Sprache fih nur wie durch ein 
geheimnißvolles Fluidum mittheileuden Empfindungen und Ueber- 
zeugungen fich nicht wie heute in täglichen, millionenfach ver- 
breiteten Druderzeugnifjen äußern fonnte, bedingte zwar einen 
langjameren Schritt der Ausbreitung, diente aber ſicherlich and) 
dazu, ihnen bei langjamerem Wachsthum eine Stärke und 
Widerjtandsfraft gegen entgegenwirkende andere Mächte zu 
geben, zu deren Dauer und Zähigfeit die oft jo ſchnell wechjeln- 
den Anjchauungen unjerer immer fchneller Tebenden Zeit kaum 


ein Gegenjtüd liefern dürften. 
Sammlung. R. F. XIII. 29. 1* (185) 


4 
Allerdings Hatten jene Zeiten, wenn wir im bejonderen 
bier auf die des früheften germanischen Mittelalters jehen wollen, 
ganz unverhältnigmäßig jchwerere Arbeit als die heutige. Denn 
das Suchen nach dem Neuen, welches gerade unjere neuejte Zeit 
auf fait allen Gebieten des geijtigen Lebens kennzeichnet, verhält 
fi wie ein leichter und angenehmer Spaziergang zum Strom: 
aufwärtsziehen ſchwerer Schiffsfahrzeuge gegenüber der Aufgabe, 
fih mit einem aufgedrungenen Neuen auf allen Gebieten 
des Lebens ab» und zurechtzufinden. 

Diejed Neue war die Einführung des ChriftentHums in 
die Welt der germanischen Völker, deren gejamter Anfchauungs- 
und Denfweije dieſes Neue, bald für ihre Staatenbildung als 
maßgebend erklärte Weltprinzip eine vollftändige Aenderung und 
Umfehrung auferlegte. Seine faſt ausnahmslos durch die fich 
gleichzeitig neu bildende Staatsgewalt erfolgte zwangsweife Ein- 
führung verfchärfte nicht nur den Drud, den jene neue an die 
Stelle der alten Einzelfreiheit getretene Macht empfinden ließ, 
jondern erhielt auch nad) rein pſychologiſchen Naturgefegen die 
Erinnerung an den alten Glauben als die einer glücdlicheren 
und befjeren Zeit noch jahrhundertelang troß aller eben nur 
auf dem Boden des ChriftenthHums möglichen Kulturfortfchritte. 

Dies fand nun vor allem feinen Ausdrud in der treuen 
Weiterüberlieferung der alten Göttergefchichte und »fage in mehr 
oder weniger dichterijcher Yorm in Mund und ‚Herzen des 
Bolfes, wenn es auch dabei ein Knie vor dem neuen Gotte 
beugte. Die durchgängige und durchgreifende Vermiſchung von 
allem Weligiöjen mit dem, was wir heute politifches Leben 
nennen, die das ganze Mittelalter kennzeichnet, bot hierzu den 
fruchtbaren Boden. Erhoben die damaligen Staatögebilde aller 
heutigen Kulturvölfer im Mittelalter den Anfprud, auf dem 
Gedankenboden des ChrijtentHums zu ftehen und in ihm zu 
wurzeln (ein Anſpruch, den der Heutige Staat3begriff volljtändig 


(186) 


5 


fallen läßt, wie am fürzeften ja ein Blick auf die Injel Kreta 
beweift), jo mußte fi) die Unzufriedenheit mit jtaatlichen uud 
innerpolitiichen Zuftänden aud) gegen das wenden, was damals 
Ehrijtentfum zu repräjentiren den ausjchlieglichen Anſpruch 
erhob: die Fatholifche Kirche. Dies konnte nun nach zweierlei 
Richtungen Hin feinen Ausdruck finden: einmal in dem Zurück— 
verjegen in den Gedanfenfreis des alten Götterglaubeng oder 
bei den Gebildeten unter Anlehnung an das Heidenthum des 
klaſſiſchen Altertfums; oder zweitens in dem Streben nad) 
einem vergeiftigten, höheren Begriff des Chriſtenthums, wie es 
ſich in den Neformationsbeftrebungen darftellt. 

Dieje beiden Strömungen finden wir nun als den innerjten 
Kern zweier Sagen, die anjcheinend jo verjchieden voneinander 
find, daß es auf den erjten Blick jchwer zu fallen ſcheint, über- 
haupt einen gemeinjfamen Gefichtspunft für fie zu entdeden: die 
vom Ewigen Juden und die vom Ritter Tanhäufer. Beide find 
jedoch, um uns in der Sprache der heutigen Zeit auszudrüden, 
Agitations- und Tendenzjtoffe von bejtimmt erfennbarer religiös: 
politiiher Richtung. Dabei Hat die erjtgenannte noch zwei 
deutlich zu unterjcheidende Seiten. Einmal ift in ihr die alte 
Bolfsüberlieferung zu erkennen, welche den Dogmeninhalt des 
alten Heidenthums liebend weiterträgt, und dann die gejchicte 
Bemächtigung diejes Stoffes durch Bearbeitung und Umfleidung 
von firchlicher Seite zu kirchlichen Machtzweden. Dem entgegen 
bietet die Tanhäuferfage den Kern entjchiedener Abwehr Hier 
gegen aus der Mitte des deutjchen Volkes mit dem deutlichen 
Ausdrud der Unzufriedenheit mit den beftehenden Zuftänden der 
Kirche und der Sehnjucht nach einem höheren Standpuntte bes 
geijtigen Volkslebens überhaupt. Wir können aljo in diejen 
beiden Sagen jchon drei gejonderte Stadien des Kampfes 
zwifchen der verweltlichten Kirchenherrfchaft und dem nad) Frei— 
beit und höherer geiftiger Entwidelung ringenden Volksgeiſte 


(187) 


6 





erfennen: in der erjten die liebevolle Erinnerung an den alten 
Glauben unter dem Drude de3 neuen; dieſen Angriff parirt 
und verdedt durch den geſchickten Gegenftoß der Umarbeitung 
der alten Wotansſage in eine chriftliche Legende von freilich 
jehr zweifelhafter fittlicher Berechtigung und innerer Wahrheit. 
Dann folgt in der zweiten Sage der fräftigere, auf ein Neues 
binzielende Vorſtoß des Volksthums, der allerdings abjchließt 
mit dem Tone ergebungsvoller Entjagung, die vorläufig jelbit 
den Sieg verloren giebt, nicht jedoch) ohne die Hoffnung auf 
ein fiegreiches Wiederaufflanımen der Bewegung nach geiftiger 
und politischer Freiheit durchbliden zu laſſen, ebenfo wie dies 
in rein politifcher Beziehung die mit der Tanhäuferfage in 
engem Zujammenhang ftehende und in demjelben Boden wur: 
zelnde Kyffhäuferfage thut. Aber doch Hat die Kirche das lebte 
Wort zu finden und zu behalten gewußt. Es war eine Replif 
nöthig auf dieje beiden leßterwähnten Sagen, deren prophetiſch 
drohender Abſchluß einen jo nachhaltigen Widerhall in dem 
Herzen de3 Volkes fand, als erkenne es jchon in den elegijchen 
Schlußakkorden dieſer verjchmolzenen Sagen vom Tanhäufer 
und der von dem genialjten Träger neuer Ideen auf Deutjch- 
lands Kaijerthrone, Friedrich dem Zweiten (nicht Barbarofja), 
die Motive der dröhnenden Trompetenflänge, welche die Gedanken» 
freiheit der neuen Zeit anfündigten. Als diefe Replik ſchuf die 
Kirche eine dritte, von den beiden erfterwähnten wiederum ſchein— 
bar jo grundverjchiedene und doch wiederum nur eine neue 
Bariation desjelben Thema darjtellende: die Gralfage. Im 
Gegenjab zu den beiden erjterwähnten trägt dieſe alle Kenn— 
zeichen nicht volfsthümlicher Entftehung, jondern des Fünftlich 
Geſchaffenen, des Kunftgedichtes im guten wie im — gegenüber 
der jpontanen Entjtehung im Volke jelbft — minderwerthigen 
Sinne des Worted. Wenn man aud ihren erjten Dichter 


ebenjowenig mit Namen zu nennen weiß, wie den des alten 
(188) 


7 


Kerns der Sagen vom Ewigen Juden, vom Ritter Tanhäujer 
und dem BZufunftshelden im Kyffhäufer, jo haben wir ihn doc 
unzweifelhaft ebenjo in der Kutte eines Mönches und der Belle 
eines Klojter3 zu juchen, wie den Bearbeiter der alten Wotans. 
jage; während dieje jelbjt und die beiden anderen ganz unver: 
fennbar nicht in düfterer Klofterzelle oder von einer einfeitig im 
den Legenden und Myſterien der Kirche jchwelgenden Bhantafie 
erdacht, ſondern in einem, feine alte Freiheit zurüdjehnenden, 
alter, von der Erinnerung verfchönter Zeiten wehmüthig ge 
denkenden Naturvolfe entjtanden find. Für das Kunftmäßige 
der Gralfage jpricht jchon die Geſchichte in ihrer engliich-fran- 
zöfiichen Entjtehung, ebenfo wie bei der Sage vom Ewigen 
Juden die ältefte englijche Duelle die Bearbeitung alten, rein 
germanischen Stoffes im Dienfte einer über den damaligen 
Nationalitäten jtehenden univerjellen Weltmacht andeutet. Die 
damalige Kirche durfte zudem gerade folche, in das Gebiet des 
Uebernatürlichen hineinjpielende und durch ihre Entjtehung und 
Berbreitung im Volke die Macht einer geiftigen Bewegung ge- 
winnende Sagen nicht ohne Antwort lafjen, da fie ja eben ihre 
Macht in der Vorftellung des Volkes auf ihre Allein- oder 
wenigjtens über alles Uebrige triumphirende Herrichaft im Ge— 
biete des Webernatürlichen ftügte. 

Stellen wir zunächſt feit, um unſerer joeben entwidelten 
Anſchauung über das gegenfeitige Verhältniß der genannten 
Sagen die feite Stüße zu geben, welches der gemeinjame Kern 
ihrer aller ift. Das ift bei dem Ewigen Juden, wie bei Tan- 
bäujer und der Graljage die Fortdauer der Verfönlichkeit eines 
Menichen, gewährleiftet und bedingt durch unmittelbaren Verkehr 
mit dem Ueberirdifchen über die Schranken des menjchlichen 
Dajeins hinaus: eine Unfterblichkeit, aber feine unbedingte, 
jondern eine an gewiffe Bedingungen gefnüpfte, ja mit dem 


Hintergrunde eines an die Erfüllung eines großen Zieles ge: 
(189) 


fnüpften Aufhörend. Wir müffen uns bei dieſem eigenthüme 
thümlichen Begriff der bedingten Unfterblichkeit daran erinnern, 
daß auch die Götter der altnorbijchen und germanifchen Heiden: 
welt feine abjolute Unfterblichkeit in fich tragen; ihnen allen 
fteht, wenn fie auch die Weberirdifchen, an feine Schranfe von 
Beit und Raum Gebundenen find, ein Ende bevor — Die 
Götterdämmerung. Aber Hinter diefem drohenden Untergange 
leuchtet da8 Licht einer ganz neuen Zeit auf. Der Wotand- 
fang, der auf einfamer Felſenhöhe erjchallt, wenn er dort als 
„wilder Jäger” endlich Raſt macht, erzählt von der feligen 
Beit, in der aller Kampf auf Erden vorbei fein wird, in der 
Götter und Menfchen, ja die ganze Natur fried- und freudvoll 
mit: und nebeneinander wohnen werden. Denn auch der wilde 
Jäger ift ja fein Anderer, ald Wotan, der ewige Wanderer — 
zu Pferde; und jelbft in der Iofalen Anfnüpfung auch diejer 
Sage an den Hörfelberg als ihren vornehmften Sig finden wir 
ſchon wieder den Zufammenhang mit der ausfchließlih an diejen 
alten Sagenfig geknüpften Tanhäuſerſage. Auch Tanhäufer 
ift den Schranken des irdijchen Daſeins entrüdt durch jeinen 
Verkehr mit Ueberirdiſchem, mögen wir in der Frau Venus, 
die ihn umfangen hält, die alte germaniſche Göttin Hulda 
erbliden oder eine volkspoetiſche Neubelebung des altklafjiichen 
HeidentHums. In der Gralfage tritt diefe Bedingtheit der 
Unfterblichfeit am deutlichften und fchärfiten hervor: fie liegt in 
dem täglichen Anjchauen des Wundergefäßes, welches hier, echt 
katholiſch⸗kirchlich, das Ueberirdiſche verkörpert, das heißt, im 
einem Natur. oder Kunjterzeugniß darftellt. Und die Thatjache 
der Neihe von aufeinanderfolgenden Gralkönigen zeigt ja weiter, 
daß von der darinliegenden Möglichkeit, die Unfterblichkeit frei: 
willig aufzugeben, auch regelmäßig Gebrauch gemacht wird. 
Darin tritt der Gedanke zu Tage, daß hierin aud) eine Er: 


löfung liegt; und jo ift wieder der Ring gejchloffen durch An— 
(190) 


9 


fnüpfung an die im Ewigen Juden als Hauptgedanfe hervor: 
tretende tief weltjchmerzliche Auffafjung von dem Fluche, der 
für das Einzelweſen in der Unfterblichfeit auf Erden liegen 
muß. Diefer auch der Grundftimmung der altnordijchen Götter- 
jage durchaus nicht fremde Gedanke zeugt, wie gejagt, von 
einem Hauche der Weltverneinung, der hier gerade am leichtejten 
und nächſten die Annäherung an den weltflüchtigen Kern des 
ChriftentHums erleichtert. Sehr treffend verbindet Hamerling 
daher in feinem Ahasver dieje beiden hier in Frage fommenden 
Seiten der Unjterblichkeit, indem er fie feinem Kain- Ahasver 
von dem Tode jelbit zu theil werden läßt zugleich als Lohn 
und als Strafe, daß er ihn, den allmäcdhtigen Menjchenbezwinger, 
zuerjt in die Welt gebracht Hat. 

Am ftärkiten ausgeprägt ift dieſe für die menschliche Natur 
grauenvolle Seite, der Fluch der Unjterblichkeit, in der erjten 
Sage vom ruhelojen Wanderer Wotan oder in der chrijtianifirten 
Form vom Ewigen Juden, während in der vom Tanhäuſer 
offenbar die freundliche Seite mehr in den Vordergrund tritt, 
und beim Gral vollends zugleich mit diefer im chriftlich-firdh 
lihen Gewande einherjchreitet. In der Abart der zweiten 
endlich von dem im Berge lebenden Kaijer bat fie das rein 
ftaatlich-politiiche Gepräge angenommen. Aber in allen diejen 
Sagen wurzelt ihr Kern darin, daß eine menjcliche Einzel- 
perjönlichkeit durch eine Verbindung, in die fie mit überirdijchen 
Wejen oder Mächten tritt oder gebracht wird, als der zeitlichen 
Begrenzung des Menſchendaſeins entrücdt erjcheint. Sehen wir 
ung daraufhin zunächſt nun die Sage vom Emwigen Juden an. 

Troß des rein legendären Charakters, den diefe Sage in 
der chriftlichen Einkleidung erhalten hat, fpricht jchon die ver- 
hältnigmäßig jo jehr ſpäte Beit ihres erjten Auftauchens im 
Schriftthum auch gegen die bloße Möglichkeit eines Zufammen» 
banges mit der Legendenbildung aus den erjten Jahrhunderten 

(191) 


10 
des Chriſtenthums. Erft gegen die Mitte des dreizehnten Jahr: 
hunderts finden wir die erfte auf fie bezügliche fchriftliche Auf- 
zeichnung, und zwar in der Historia major des 1259 ver- 
ftorbenen englischen Mönche und Chronijten Matthias Paris 
(Parisiensis), welcher in der Geſchichte Englands dort unter 
dem Jahre 1228 berichtet, daß ein im der Begleitung eines 
armenijchen Erzbiichof8 nad) England gelommener Ritter aus 
Antiohia, der, der franzöfiihen Sprache mächtig, den. Dol- 
metjcher ſeines Herrn, des armeniſchen Erzbijchofs, machend, 
einmal erzählt habe, es Habe zuweilen an der Tafel jeines 
Herrn ein Mann gefpeift, der jchon zur Zeit des Leidens Chriſti 
gelebt habe. Allerdings ift die nun folgende Gejchichte dieſes 
Mannes eine etwas andere, als wir fie aus noch jpäterer Zeit 
von dem Schuhmacher von Jeruſalem, Ahasverus, kennen, der 
dem vom Tragen feines Kreuzes ermüdeten Heiland die gejuchte 
Raſt auf feiner Hausſchwelle verwehrt. In der Erzählung des 
armenijchen Nitter-Dolmetjchers heißt er Cartaphilus und ift 
Pförtner bei Pontius Pilatus gewejen. Als Chriftus, von 
Jenem den Juden überliefert, aus dem Palaſte des Pilatus 
geführt worden jei, da habe ihn diejer Pförtner von Hinten mit 
der Fauſt in den Naden geftoßen und ihm zugerufen: „Gehe 
bin, Jeſus, immer gehe fchneller, was zögerſt Du?“ worauf 
ji) Jejus umgewendet und ihm erwidert habe: „Ich gehe, aber 
Du jollft warten, bis ich wiederfomme.” Dieje Worte erinnern 
allerdings in etwas auffälliger Weile an die nach dem Evan- 
geliſten Johannes von Chriftus kurz vor feinem Leiden zu 
jeinem Lieblingsjünger gejprochenen, die nach demjelben Evan- 
gelijten Urjache zu dem fich unter den Jüngern verbreitenden 
Gerede gaben: „Diefer Jünger ftirbt nicht“ (Evang. Johannis 
Kap. 21, Vers 22 und 25). In Zufammenhang mit diejem, 
allerdings nach einer ganz anderen Seite deutenden Anflange 


mag es dann auch ftehen, daß diejer Pfürtner, der übrigens 
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11 


in allen ihn erwähnenden Quellen als fpäter von Ananias auf 
den Namen Joſeph getauft erfcheint, im jener älteften, auf 
Armenien zurüdführenden Duelle in höchſt auffälliger Weije 
verwechjelt oder identifizirt wird mit jenem Joſeph von Ari: 
mathia, der doch im Evangelium, wie jpäter in der Legende als 
einer der treueften Anhänger und jogar al, wenn auch heimlicher, 
Sünger Chriſti erfcheint und der auch gerade, wie wir unten 
noch jehen werden, mit der Graljage in jo enger Beziehung 
jteht. Denn er iſt der erjte Befiger des föftlichen Gefäßes, 
welches Chriftus bei der Abendmahlseinjegung benußgte und in 
dem jpäter das Blut feiner Wunden aufgefangen wurde. Und 
diefer Anklang iſt ficher fein zufälliger, wie wir aus der unten 
noch nachzuweifenden Gleichzeitigfeit der erjten Anfänge der 
Graldihtung ebenfalls durch einen Kleriker jchließen können. 

In ähnlicher Faſſung und mit dem gleichen Namen finden 
wir diefe Erzählung dann auch bei dem ungefähr gleichaltrigen 
flandrifhen Reimchronijten Philipp Monskes (1220—1282), 
und erjt viel fpäter, nämlich als dieſer „Ewige Jude” nun in 
Europa jelbft auftauchte, erſt zu Anfang des jechzehnten Jahr— 
hundert3, wird jeine Geſchichte in der jeßt befannteren Form 
erzählt und er ald der Schuhmacher (auch Gerber) von Jeruſalem 
mit dem Namen Ahasverus bezeichnet. Dabei ift zu bemerken, 
daß diefer Name weder aus dem Hebräiſchen zu erklären, nod) 
überhaupt ein jüdifcher ift, wenngleich er in den Büchern des 
alten Teſtaments (Propheten Esra und Daniel, Buch Ejther) 
mehrfach vorfommt. Dort dient er aber zur Bezeichnung per- 
ſiſcher, alſo heidnijcher Könige, und zwar namentlich derer, die 
ung unter den Namen Gambyjes, Ajtyages und Xerres be. 
fannter find. 

Auch die Erzählung von der Begegnung dieſes vor den 
Thoren Jeruſalems wohnenden Schuhmacher Ahasver mit 


Ehriftus erjcheint gegen die erjte Form weſentlich verändert. 
(193) 


12 


Nach diejer zweiten, die ihn, aber erjt zu Anfang des jechzehnten 
Jahrhunderts, zuerft in Europa auftreten läßt, Hat er mit 
jeinem Finde auf dem Arme vor der Thür jeine® Häuschens 
geitanden, als Chriſtus, fein Kreuz tragend, zum Berge Golgatha 
hinausgeführt wurde. Von der Laſt ermübdet, habe ſich Jeſus, 
an dem Haufe anlehnend, ausruhen wollen, worauf ihn Ahasver 
aber barjch angefahren: er jolle fich verfügen, wohin er gehöre. 
Und darauf Habe ihn Jeſus „ſtracks“ angejehen mit den Worten: 
„Sch will allhier ftehen und ruhen, aber Du folt gehen biß an 
den Züngften Tag.” Darauf von einer unerflärlichen Unruhe 
ergriffen, habe er jein Kind niedergejeht, fei dem Kreuzigungs— 
zuge gefolgt, Habe Chriftus leiden und fterben jehen und ſei 
von dort, ohne Weib und Kinder wiederzujehen, als Pilgrim 
in der Welt umbergezogen, auch erjt nach vielen, vielen Jahren 
wieder nad) Jeruſalem gefommen, wo er e8 vollftändig zerjtört 
gefunden Habe. Dies berichtet ausführlich ein von Chryſoſtomus 
Duduläus, Wejtphalus, unter dem 1. Auguſt 1613 heraus» 
gegebenes jog. „Fliegendes Blatt” unter dem Titel „Neue 
Zeitung von einem Jüden von Jeruſalem, Ahasverus genannt, 
welcher die Creugigung unjer® Herrn Iheſu Chriſti gejehen 
und nod) am Leben ift, aus Dankig an einem guten Freunde 
geſchrieben.“ Nicht viel jünger find die Chronifenberichte aus 
jener Beit über fein erſtes Auftreten in Deutjchland, welche 
Th. Gräſſe in feiner verdienjtlichen Heinen Schrift (Dresden, 
Schönfeld, 2. Aufl., 1861) zufammengeftellt hat und wonad) er 
zuerjt 1505 zu Königinhof in Böhmen, 1547 in Hamburg und 
dann in Danzig, 1575 in Madrid, 1599 in Wien und 1601 
in Lübeck gejehen und gejprochen fein jol. Bon dort hat er 
einen Abſtecher nach Rußland über Reval, Krafau und Moskau 
gemacht, ift dann aber 1604 in Paris, 1633 wieder zu Hamburg, 
1640 in Brüffel, wo ihn zwei in der Gerberftraße wohnende 
Bürger gaſtlich bewirthen, wobei er aber den der holländijchen 


(194) 


13 

Form der Sage eigenen Namen Iſaac Laquedem (ftatt Ahasver) 
angiebt und 1642 in Leipzig. Die letzte beglaubigte Nachricht 
von ihm fcheint die Thorwache zu München unter dem 22. Juli 
1721 gegeben zu haben. Auch in England ift er zu Ende des 
fiebzehnten und Anfang des achtzehnten Jahrhunderts wieder 
mehrfach gejehen worden, hier aber merfwiürdigerweije wieder 
an die erſte urjprüngliche Form der Sage anfnüpfend, nur daß 
er vom Pförtner des Pilatus zu einem Offizier des Hohen 
Nathes zu Jerufalem vorgerüdt if. Man erkennt leicht aus 
diejer in dem verjchiedenen Ländern germanijcher Abjtammung 
fih leicht an bejondere örtliche Geftaltungen anfchmiegenden 
Berjchiedenartigfeit der Form die Gemeinſamkeit der Wurzel 
diejer Sage in dem altgermanijchen gemeinfamen Götterglauben 
von dem rubelojen, ewigen Wanderer Wotan. 

Auch in den Einzelheiten über das vielhundertjährige Leben 
des Wanderer3 finden ich manche Abweichungen. Häufig wieder. 
fehrend iſt der Bericht, daß er alle hundert Jahre in einer tod» 
ähnlichen Ohnmacht befallen werde, aus der er dann jedesmal 
wieder in dem Alter jtehend erwache, in welcher er fich zur 
Beit des Todes Chrijti befunden. Dieſe Einzelheit war jeden: 
falls erjprießlich, wenn ein unternehmender jüdischer „Schnorrer“ 
einmal dieje gewiß oft jehr einträgliche Rolle zu jpielen unter: 
nahm, ohne im Befig eines ausgeſprochen greijenhaften Ausjehens 
zu fein. Mehr vertrauenerwedend ijt die zuweilen vorkommende 
Eigenheit, daß er nur Speije und Trank, aber fein Geld an- 
nimmt: fie ift jedoch jelten, ebenjo wie die, daß er nur jtehend 
ejjen und trinken dürfe (während er ja jchon bei dem armenijchen 
Erzbiſchof an der Tafel Jigt). 

Das nad) der langen Pauſe vom dreizehnten Jahrhundert 
her jo überaus häufige Auftreten des wunderbar graufigen 
Wanderers ijt wohl unzweifelhaft mit als eine Folge der in- 


zwijchen entjtandenen und jungen Kunſt des Buchdrucks zu 
(195) 


14 
ſuchen. Die ſich ſchnell vermehrenden Jünger dieſer neuen Kunſt 
mußten danach ſtreben, ſich neue Gebiete für ihre Bethätigung 
zu ſchaffen. Von dem, was erſt nach und nach aus ihr ent— 
ſtanden und dem wiederum ſie ihre heutige weltumſpannende 
Bedeutung verdankt, dem Zeitungsweſen, gab es nur ſchüchterne 
Vorläufer in den ſogenannten „fliegenden Blättern“, welche 
einzelne wichtige Zeitereigniſſe zur möglichſt allgemeinen Kenntniß 
zu bringen ſuchen. Es wird nun wohl ſeit dem Entſtehen der 
Sage oder vielmehr ihrer Ausprägung in der Form der chriſt— 
lichen Legende nicht an, wohl meiſtens jüdifchen, vereinzelt auch 
wohl anderen Schwindlern und Übenteurern gefehlt haben, 
welche die Leichtgläubigkeit jener Zeiten in Bezug auf alles, 
was dem Gebiete des „Glaubens“ anzugehöreu jchien, zu ihrem 
Bortheil auszubeuten verjtanden. Uber in den engen Kreiſen, 
in denen fich daS Leben des Mittelalter bewegte, mußte der 
Betrug doch wohl immer nachträglich zu Tage kommen und 
der Wanderer aljo jchon wieder jeines falſchen Ruhmes ent- 
Heidet fein, ehe e3 zur Aufzeichnung fam. Aber die fchnell ent- 
jtehenden (wenn auch gegen heute außerordentlich langſam fich 
weiter verbreitenden) „fliegenden Blätter” bewahrten, ſobald fie 
einmal die Buchdruderwerkitatt verlaffen Hatten, jedes jolches 
Auftreten für immer umwiderjproden auf. Denn bei dem 
Mangel periodijch erfcheinender Preßerzeugnifje konnte es auch 
überhaupt feine „Berichtigungen” (gefchweige denn im Sinne 
des jchäßenswerthen 8 11 des Neichögejeßes vom 7. Mai 1874) 
geben, und jo verfiel jeder einmal aufgetauchte „ewige Jude“ 
wenigftens auf dieje Weiſe jedenfalls der Unfterblichkeit in den 
Büchern der Chronifenjchreiber. Und fo wurde da3 chriftliche 
Gewand immer dichter gewebt um die Geftalt des uralten 
Wanderer Wotan, der rajtlos die Welt durchzieht, um zu er: 
jpähen, ob und wo der Götterwelt der Ajen Gefahr droht und 
fi) Anzeichen bemerkbar machen ihres dereinjtigen Unterganges, 


(196) 


15 


der Götterdämmerung — aljo des jüngjten Tages der alt: 
germanijchen Götterzeit. 

Noc deutlicher erkennbar find diefe Spuren diefer alten 
Götterwelt in der Tanhäuferfage. Dieje ift im Gegenjag zu 
der erjten von dem die ganze Welt durchziehenden Wanderer 
ftreng an eine bejtimmte Dertlichfeit gebunden: den thüringifchen 
. Hörjelberg. Aber wir dürfen nicht überjehen, daß dieje jtrenge 
Ortsbeziehung eine nothiwendige Folge davon ift, daß die Sage 
bier eine jehr allgemeine typiiche Sagenfigur in einer ganz 
beitimmten bejonderen Richtung ausarbeiten will. Sie hebt 
bier einen der vielen im Berge verborgenen, mit Ueberirdijchen 
verfehrenden und ihre Wiederkehr zur Erde zu einer bejonderen 
Sendung abwartenden Helden heraus, um eben dieje Sendung 
al® eine ganz beſonders eigenartige zu Fennzeichnen. Der 
Schlachtenheld im Berge iſt in allen germanijchen Ländern eine 
jo allgemein verbreitete und überall an die jedesmal am nächiten 
fi) darbietende Dertlichkeit gefnüpfte Sage, daß ſich heute noch 
eine lange Reihe von Bergen und eine nicht unbedeutende von 
Volkshelden und »lieblingen aufftellen läßt, die alle diejelben 
wejentlichen Züge tragen, wie der Kaiſer Rothbart im Kyff— 
bäufer. Bekanntlich ift durch die neuere Forſchung volljtändig 
fejtgeftellt, daß mit diefem Kaijer, von dejjen Wiederkehr die 
glänzende Wiedererjtehung des Deutjchen Reiches zu erhoffen 
war, nicht Friedrich J. Barbarofja, von der jchaffenden Volks— 
ſage gemeint war, jondern fein Enfel und fjpäterer Nachfolger 
Friedrich II. — und aud Hierin drüdt fi) die jcharf anti: 
klerikale Kennzeichnung diefer Sagenbildung aus. Nicht in dem 
Kaijer, der dem Papſte den Steigbügel zum Auffigen hielt, der, 
was für den Gefchichtsfchreiber wichtiger ift, die Kreuzzüge ganz 
im Sinne der nad) dem Blute der Uugläubigen dürjtenden 
Hierarchie auffaßte und durchführte, jondern in dem weit- und 


hochherzigen Herricher, der jelbjt feinen jarazenifchen Unterthanen 
(197) 


6 





ein ebenſo wohlwollender und gerechter Beſchützer geweſen war. 
wie den chrijtlichen, und der das außer ihm nur einmal noch 
unter unzähligen Verſuchen erreichte praftiiche Endziel aller 
Kreuzzüge, den Befig des Heiligen Grabes und Jeruſalems, 
ftatt durch Ströme von Blut durdy friedliche Staatskunſt zu 
erreichen verjtanden hatte — beides Umjtände, die ihm vom 
Papſtthum als ebenjoviel Verbrechen angerechnet wurden —, 
jah oder hoffte erjtehen zu jehen das deutjche Volk den Mann, 
der die geiftige Bedeutung feines Reiches emporheben wiirde 
über die beengenden und dumpfen Schranfen einer herrichjüchtigen 
und immer mehr verfnöchernden Hierarchie; der ein Reich jchaffen 
würde, deſſen Geiſtesmacht und glanz die jchwarzen Naben 
verjcheuchen follte, deren Gekrächz dem Volke nicht nur Lebens: 
luſt und »freude nahm, ſondern ihm vor allem die Freiheit des 
Denkens .und Glaubens bejchränftee So war der firdhlich-frei- 
finnige Friedrih II. die Hoffnung auch feiner Deutjchen ge- 
worden, für die er leider ſelbſt bei jeinen Lebzeiten nicht viel 
mehr als eine Sage fein fonnte, da ihn Apulien und Sizilien 
mehr bejchäftigten als feine deutjchen Lande. Die innere Ber: 
wandtichaft der jo zu verftehenden Kyffhäujerjage mit der von 
Ritter Tanhäufer giebt fih auch in der Geijtesähnlichkeit der 
beiden Helden zu erfennen. Iſt Doch Friedrich II. nicht nur 
im wirklichen Leben ein Bekenner der Lebens: und Liebesluft, 
die bei Tanhäujer in feinem ununterbrochenen Verkehr mit der 
Göttin der Liebe jelbjt verkörpert wird, jondern auch über die- 
jelben Stoffe ein Dichter und Sänger, dem das Volk Unter. 
italiens ja heute noch von ihm gejungene Liedchen als Urheber 
zufchreibt: ganz wie der Nitter Tanhäufer, dem dieje Eigen- 
Ihaft und diefer Hintergrund von der Sage dadurch verliehen 
wird, daß fie ihn in unmittelbare Beziehung zu dem Sänger: 
friege auf der Wartburg bringt. Endlich jcheint aber jogar die 


Beitrehnung einen unmittelbaren perjönliden Zuſammenhang 
(198) 


17 


zwijchen den Helden diefer beiden Sagen zu erweilen. Wenn 
nämlich) die Sage vom Tanhäufer eine ebenjo bejtimmte Zeit. 
beziehung zu enthalten jcheint, wie dies bezüglich der Dertlich- 
feit durch ihre ganz ausſchließende Anknüpfung an den Hörjel- 
berg der Fall ift, jo fann dies freilich bei der recht ungejchicht- 
lichen Bejchaffenheit jenes „Sängerkrieges“ weniger aus der 
mehr gelegentlichen Herbeiziehung dieſes Umſtandes, als aus 
anderen, wejentlicheren gejchlofjen werden. Die Sage enthält 
aber einen anderen bejtimmten und wejentlichen Umftand, der 
eine genaue Beitbejtimmung erlaubt. Das iſt die genaue Bezeichnung 
des in der Volksſage eine wejentliche Rolle jpielenden Papſtes 
ald „Urban“. Die Bergleichung der diefen Namen führenden 
acht Päpſte ergiebt dann aus verjchiedenen Umftänden, daß hier 
nur Urban IV,, al3 welchen ihn übrigens auch eins der Lieder 
bejtimmt bezeichnet, gemeint fein kann, der von 1264 bis 1268 
regierte. Dieje Zeit ift num mit der des ziemlich nebelhaften 
Wartburgfrieges (1207) nicht zu vereinigen. Dafür ftimmt fie 
ziemlich gut überein mit der des Minnefängers aus dem öjter- 
reichifchbayerifchen oder dem fränkischen Geſchlecht derer von 
Tanhuſen, dejfen Tod um 1266 angenommen wird. Und diefer 
„Tanhuſer“, ein Minnefänger, hat in perjönlichem Verkehr mit 
Friedrich II. jowohl, wie mit deffen Söhnen geftanden, wenn 
er ihrer freigebigen Gunft auch nicht joviel irdijche Güter ver. 
dankt zu Haben jcheint, wie jeinem erften Gönner, Friedrich dem 
Streitbaren von Defterreich, defjen er oft dankbar gedenkt in feinen 
„Leichen“.! Diejer gejchichtliche Zufammenhang erhält nun aber 
erit Werth für unfere Würdigung der Sage, wenn wir berüd- 
fihtigen, daß er erft durch die etwa zwei bis drei Jahrhunderte 
jpäter erfolgte Faffung der Sage rüdwärts in dieje hinein— 
gebracht ift, mit anderen Worten, wenn wir von ihm aus Die 
Tendenz dieſes Werfes der dichtenden und fchaffenden Volks— 


jeele verftehen und wirdigen lernen wollen. Dieje Tendenz 
Sammlung N. %. XIII. 29. 2 (199) 


18 





zeigt fi nun bei der Schöpfung der Tanhäuferjage im fünf- 
zehnten und fechzehnten Jahrhundert als eine entjchieden kirchen⸗ 
feindliche, wenigftens als eine Feindin der Kirche, die damals 
fhon jo lange von den beiten und führenden Geiftern als 
reformbedürftig anerkannt wurde. Der tragijche Abſchluß der 
Sage vom Tanhäuſer erjchien als eine äußerſt geeignete Hand: 
bube, um den Widerftreit zwijchen der zelotijchen und eigen: 
mächtigen Berwaltung der Heildgüter der chriftlichen Lehre durch 
eine herrjchjüchtige Priefterfafte und den Forderungen einer auf 
höherem Standpunkte ftehenden geläuterten Sittenlehre und der 
reinen Menschlichkeit in ein helles Licht zu ſetzen. Daher jpigen 
die die Sage behandelnden Lieder aus jener Zeit vor, während 
und nach der Reformation in Deutjchland die Erzählung voll. 
ftändig auf den Abſchluß in Rom zu, bei dem der höchſte chrift- 
liche Briefter jelbft dem feine Sünde reuig Belennenden Ablaß 
und Losſprechung hartherzig verweigert. Und die Lieder be- 
gnügen fich nicht damit, die Weberhebung des hartherzigen 
Prieſters durch das göttliche Wunder des wiedererblühenden 
dürren Stabes Lügen ftrafen zu Iaffen, ſondern fie fnüpfen an 
dieje anfcheinend doch genügende und volljtändige Widerlegung 
noch den jcharfen Ausdrud einer in die Form einer „Moral“ 
geffeideten jentenzenhaften Mikbilligung — eine Form des Aus- 
druds, die Doch ſonſt gerade in der naiven Volksſage äußerſt 
jelten ift und da, wo fie in feltenen Fällen unerwartet durch. 
bricht, von einem tiefen zu Grunde liegenden „altuellen“ Intereſſe 
zeugt, davon, daß es fich bier um Fragen handelt, die gerade 
zur Beit der Entjtehung und Bildung diefer Form der Sage 
den Geiſt de3 ganzen Volkes in jeinem tiefften Innern auf: 
wühlen und bewegen. 

Es ift fennzeichnend, daß diefe polemiſche Nutzanwendung 
am Schlufje den ältejten Liedern fehlt, ſich dann erſt ſchüchtern 


bervorwagt in einer Einzelbetrachtung über die von Urban durch 
(200) 


19 
jeine Hartherzigfeit begangene Sünde und dann endlich dazu 
übergeht, diefe al8 drohende Warnung für den ganzen Stand 
der Prieſterſchaft zu verallgemeinern. 

Das erjte Lied in der von Gräffe (j. die oben angeführte 
Einzelihrift S. 33—73) gegebenen Bufammenftellung unter 
Nr. III, welches einen ſolchen Schluß enthält, ift das mit den 
Worten beginnende: 


Nun will ich aber heben an 
von dem Danhaufer fingen 
und was er wunders hat getan 
mit Benus der edlen Minne. 


Hier lautet der Schlußvers: 


Da was er wiederum in den berg 

und het jein lieb erforen, 

des muoß der vierte bapft Urban 
aufewig fein verloren. 


Schon in dem unter Nr. V mit dem Anfangsverſe: 


Wele groß wunder fhauen mil 
Der gang in grünen wald uffe, 
Danhujer war ein ritter guot, 
groß wunder wolt er jchauen. 


fommt die Verallgemeinerung und Nutzanwendung: 


Drum jol kein papft, fein fardinal 
fein jünder nie verdammen; 

der fünder mag jein jo groß er mil, 
fan gottes gnad erlangen. 


Und am energifchiten Elingt diefer Schluß in dem Liede, 
welches ſich durch feine Sprache als das jüngft entftandene 
fennzeichnet (unter Nr. VI der oben bezeichneten Sammlung) 


mit dem Anfangsverjfe: 
2 (201) 


20 


Nun wil ich aber heben an, 

Bon Tanhäufer wöllen wir fingen, 
Und was er wunders hat gethan 
Mit Frau Benuffinnen. 


Hier lautet der Schlußvers: 


Das joll nimmer fein Briefter thun, 
Dem Menſchen Mißtroft geben; 

Wil er dann Buß’ und Neu’ empfan 
Sein Sündt jeyndt ihm vergeben. 


Sprit nicht aus diejen aus dem Volke jelbjt heraus im 
Beitalter eine® Johannes Huß und des Streben? nad all: 
gemeiner Sirchenverbefferung „an Haupt und Gliedern“ ent: 
Itandenen Gejängen diefelbe Stimmung, wie fie ji noch durd 
Sahrhunderte in der Humaniftenbewegung zeigt? 

Und gerade dieſe geijtige Bewegung, die für ung ja be 
jonder8 in den glänzenden Namen eine? Erasmus, Ulrich von 
Hutten u. U. verkörpert erjcheint, dürfte noch in einer viel weiter, 
gehenden Weije ebenfall3 in der volfsthümlichen Bearbeitung 
und Berbreitung dieſer Sage eine Stelle gefunden Haben, Die 
freilich nur in ganz allegorifcher und finnbildlicher Auffaffung 
zu verjtehen ijt. 

Das Bolfsgefühl fieht in dem edlen Ritter Tanhäufer, 
dem Minnejänger, der in der Sprache feines eigenen Volkes 
fingt und dichtet, feine eigenen beften und ebelften Söhne, die 
führenden Geifter, von denen es Beſſerung und Höherhebung 
feines ganzen geijtigen Lebens erhofft. Aber es fieht diefe im 
Kampfe mit der allmächtigen Kirche zwar nicht unterliegen, aber 
zurücgewiejen und gejcheitert mit der Hoffnung, den ihnen inne- 
wohnenden Geijt auch dort. zur Geltung zu bringen; und es 
fieht mit Schmerz, wie diefe beften Geifter fich nun, tief ent: 
täujcht, auch) von ihm, dem Wolfe, dem lebendigen Leben der 


Gegenwart, abwenden und fich vergraben in dem Schachte der 
(202) 


21 





Erinnerungen und Schäße des heiteren, lebensfreudigen klaſſiſchen 
Alterthums, wie fie e3 vorziehen, fih an den nur Wenigen zu- 
gänglichen geiftigen Genüffen jener Welt zu vergnügen und 
dadurh für ihr Volk, die Oberwelt verloren und vergraben 
find. So ift die Frau Venus zwar eine Urania; aber wer in 
ihren Genüſſen jchwelgt, der ijt fein Bahnbrecher mehr in dem 
rauhen Dornengeftrüpp der geiftigen Wildniß, in der das ganze 
übrige Volk zu leben durch die Saßungen eines erjtarrten, Die 
ganze Welt in Feſſeln jchlagenden Dogmatismus verurtheilt ift. 
Und jo wird die obige Schluß: und Nutzanwendung jener Lieder 
wieder eine Verwünſchung gegen den Geijt der Hierarchie, der 
die Verföhnung mit dem der reinen Menjchlichkeit ſchroff und 
herriſch abgewieſen hat. 

So erhielt der urſprüngliche uralte Sagenſtoff des drei— 
zehnten Jahrhunderts eine auch für jene Zeit (das fünfzehnte 
und ſechzehnte Jahrhundert) ganz „moderne“ und „aktuelle“ 
Spitze und wurde zum Werkzeug und zur Waffe in den Kämpfen 
der Parteien. Immerhin aber blieb auch in dieſer neneſten 
Faſſung manches, was an den älteften Urjprung aus altnordifcher 
Heidenzeit erinnert und ung daran denfen läßt, daß ja auch der 
„wilde Jäger”, dejjen Wohnfig neben zahlreichen anderen Bergen 
in deutſchen Gauen auch der Hörjelberg, der „Venusberg“ des 
Tanhäufer ift, ganz und gar fein Dajein den Jagdritten 
Wotans durch die Luft verdankt. So giebt e8 in der fcheinbar 
verchriftlichten Fafjung der Tanhäuſerſage einen kleinen, un: 
iheinbaren Zug, der mitten aus der ftolzeften Kirche der katho—⸗ 
liſchen Ehriftenheit, der St. Vetersfirhe in Rom, heraus auf 
die düſteren, altheidnifchen, gottesdienftlichen Gebräuche des 
hohen Nordens Hinweift. Das ift eine anjcheinend unerklärliche 
Beigabe des Papftes, die zwar zuerſt nmebenfächlich zu fein 
iheint und doc nicht entbehrt werden kann, weil fi) an fie 
eben das die Grundjäße der Hierarchie gleichſam durch göttliche 


(208) 


22 

Obermacht verdammende Wunder knüpft: das ift der dürre 
Stab, den der Papft in der Hand hält. Wie kommt der 
„Papft Urban“ zu diefem Stabe? Dem Nichtkatholifen und 
Laien wird gewöhnlich die hier zu Tage tretende Unwahr- 
icheinlichkeit oder Schwierigkeit der Erklärung nicht leicht auf: 
ftoßen, da er im guten Glauben an die Allgemeinheit des 
Biſchofſtabes auch diefen oder einen ähnlichen dem Papſte ohne 
weiteres zutheilen wird. Das ift aber gänzlich falſch; der 
Papft, obgleich urfprünglich ja nichts anderes ala Biſchof von 
Rom, führt in jener feiner allmählich entjtandenen höheren 
Würde nichts Derartiges; und der Mangel des jogenannten 
Krummiftabes bei ihm troß feiner bifchöflichen Herkunft erjcheiut 
jo fennzeichnend und bedeutfam, daß eine eigene Legende dazu 
erfunden ift, um den Mangel auf folhem Wege herzuleiten und 
zu erflären. St. Betrus Habe nämlich einmal, als er zu einem 
Schwertranten fommen follte und nicht Zeit dazu hatte, nur 
feinen Stab hingefandt, damit diefer auf die Bruft des Kranken 
gelegt werde. Dies fei nun auch bei dem inzwilchen Ver— 
jtorbenen gejchehen, und habe den Todten wieder zum Leben 
erwedt. Da nun aber St. Peter jo feinen Stab weggegeben, 
führten auch feine Nachfolger keinen mehr. 

Man hat verfuht, die Schwierigkeit fo zu löſen, daß, da 
der Papſt jelbft unmöglich einen jolchen dürren Stab bei der 
Hand Haben kann, er den von Tanhäuſer ſelbſt geführten 
Bilgerftab ergriffen und an ihn feine abweijende Betheuerung 
angefnüpft habe. Aber das Gezwungene diejer Auslegung leuchtet 
um jo mehr ein, al3 dann doch weiter ganz unerflärlich bleibt, 
wie der Papſt dazu kommen follte, diefen Stab dann auch 
no dazubehalten, offenbar nur zu dem Zwecke, damit ſich 
nad) drei Tagen das Wunder des Wiederergrüneng ihm fichtbar 
daran vollziehen kann. Das Natürliche wäre doch jedenfalls, 
daß der zurückgewieſene Pilger feinen Stab wieder mitnimmt, 

(204) 


23 


den er jet vielleicht nocd) möthiger braucht, als auf der 
Herreije. 

Die einzige natürliche Erklärung der Schwierigkeit ift in 
einem altnordifchen, heidniſchen Zauberbrauche zu finden. Bei 
der Berwünfchung, die dabei von den Prieftern insbejondere 
gegen einen Feind ausgeſprochen wird, bedienen fich dieſe als 
iymbolifcher Zuthat der jogenannten „Neidftangen” (nidstang), 
bölzerner Stäbe, auf deren Spite ein Pferbefopf mit auf: 
gejperrtem Maule geftedt war. und die in der Richtung gegen 
den zu verwünfchenden gehalten werden (Grimm, Deutſche 
Mythologie, ©. 625). Nimmt man diefe Erflärung an, jo 
wäre daraus zu folgern, daß die Sage in heidniſchen Kreijen 
entitanden ijt, oder wenigften® im folchen, die noch eine ganz 
deutliche Kenntniß von den im Heidenthum üblichen Gebräuchen 
hatten und diefe dann auch in der halb unbewußten Naivetät 
der Volksdichtung auf das chriftliche, das Fatholifche Gebrauch. 
thum übertrugen, mit dem ber Held ihrer Sage in einen Zu— 
jammenhang mehr oder weniger feindlicher Natur gebracht wird. 
Die Verweigerung der Losjprehung des ſich des Zufammen- 
lebens mit einer heidnifchen Gottheit jelbft anflagenden Ritters 
wirft thatfächlich als eine Verfluhung gegen ihn; und jo giebt 
die Sage auch die ihr bekannte Heidnijche Beigabe einer jolchen 
auch dem chriftlichen Oberpriefter in die Hand. 

Daß um die Zeit der Entjtehung diefer Sage joldje Heibd- 
nischen Gebräuche auch in Mitteldeutichland allgemein befannt 
fein fonnten, darf ung nicht Wunder nehmen, wenn wir 3. B. 
in der „Handfefte dev Preußen” (einer den Weftpreußen von 
deutichen Ordensrittern gegebenen Art Berfaffungsurfunde) vom 
7. Februar 1249 (Preuß. Sammlung, Danzig 1747, Bd. I, 
©. 650) die ausführliche Schilderung aller bei einem heidnifchen 
Begräbnißplag vortommenden Ceremonien finden, die, al8 Damals 


nod) häufig vorfommend, bei fchwerer Strafe verboten werden. 
(265) 


24 

Wie man fi) nun aber auch dieje Kleine, immerhin auf- 
fallende Einzelheit der Sage mag erklären wollen, immer leitet 
fie über zu dem in allen Lesarten gleichen Abjchluß, der den 
an der Menschlichkeit der Kirche verzweifelnden Ritter zu feiner 
übermenjchlichen Gefährtin und ihren Geuüſſen tief im Berge 
verjtedt zurüdkehren läßt. Auch eine Hoffnung auf dereinftige 
Rückkehr an die DOberwelt leuchtet aus dem Schluffe dieſer 
Sage nicht wie aus der des Kyffhäufers hervor: das Volk hat 
endgültig feine Hoffnung auf eine Verſöhnung zwijchen genuß- 
frober, freier Menfchlichkeit und dieſer Kirche aufgegeben. 

Unzweifelhaft hat nun gerade die Kirche aber auch die 
Wirkung einer jo polemifch fich zujpigenden, jo weit verbreiteten 
und in jo alten Weberlieferungen wurzelnden Sage jehr un. 
angenehm empfunden und daher nad) einem Gegenmittel gejucht, 
das natürlich nad) homöopathiſchem Rezept gebraut von dem 
Grundjage ausgehen mußte: Similia similibus (Gleiches durch 
Gleiches). Der Sage von dem einen Ritter im Berge, ver 
fehrend mit zwar übernatürlichen, aber doc; Weſen von etwas 
zweidentigem Rufe, wurde die Sage von einer ganzen Schar 
von Rittern auf einem Berge gegenübergeftellt, von denen 
wenigjtens Einer, ihr König, ebenfall3 die Unjterblichkeit haben 
konnte, jolange er wollte, durch das bloße Anjchauen eines 
Gegenjtandes, der zu der chriltlichen Gottheit jelbjt in unmittel- 
bare Beziehung gebracht wurde, dem Gral. Die Sage vom 
heiligen Gral trägt den Stempel kunſtmäßiger Bildung und 
Entjtehung im Gegenja zu der rein volfsmäßigen des Tan- 
häuſer deutlih an der Stim. Volksmäßig und frei erwachjen 
ift nur der Kern in ihr, der in der Artusjage, der Sage der 
Nitter von der ZTafelrunde des Königs Artus wurzelt. Allein 
die Gralßritter find zu. etwas ganz Anderem umgemodelt worden, 
als die Helden der alten gäliſch normänniſchen Volksſage vom 


König Artus. Wenn die eriten Dichter oder Bearbeiter der 
(206) 


Gralſage deren Ritter einfach mit den viel früher befannten und 
gefeierten Namen der Artusritter zu verjchmelzen unternahmen, 
jo zeugt die nur von der Willfür, mit der überall die Kunft- 
dichtung fich der vollsmäßigen und volksthümlichen Sagenftoffe 
bemächtigte. In der dem Arrodian von Köln zugejchriebenen 
angeblichen Chronik der Thaten der Ritter von der ZTafelrunde 
findet fih nod) fein Wort von ihrem Aufenthalt auf Montjal- 
vatſch als Hüter des Grals, der auch jchon räumlich mit ihrem 
Sitze an der nur duch Zauberei zu bewegenden fteinernen 
Tafel in Wales nicht zu vereinigen wäre. Es iſt fchon jehr 
beachtenswerth, daß diefe Tafel, nicht nur der Sig, jondern 
gewifjermaßen auch das Wahrzeichen diefes Nitterordens, von 
dem Zauberer Merlin gefertigt und nur von ihm zu bewegen 
it. Diejer Zufammenhang mit der. von der Kirche ja immer 
jchwer verfolgten Zauberei deutet immer auf die Herkunft aus 
der alten heidnijchen Zeit Hin; und in diefe haben wir aljo den 
Urjprung der Artusfage zu verlegen. Im Gegenjab dazu ift 
die Gralfage jchon ihrer Natur und ihrem Stoffe nach von 
vornherein ausgeprägt chriftlichen Urfprungs, ja wir müfjen 
anerkennen, daß ihr ebenfo von Anfang an die Berherrlichung 
des Prieſterthums als geiftiger Nitterfchaft als Tendenz zu 
Grunde gelegt ift. Wenn wir auch nicht jo weit gehen wollen, 
wie der Sefuitenpater Gietmann, der in einem ſehr gut und 
mit großer Quellen- und Sachkenntniß gejchriebenen Aufjage? 
nachzuweiſen verjucht Hat, entgegen den von ihm befämpften 
„proteftantiichen” Auslegungen von Wolfram von Eſchenbachs 
Parzival, daß in Parzival jelbft geradezu das Fdealbild des 
fatholifchen Prieſters gejchildert werden, jo iſt für. unjere Dar- 
ftellung um jo werthvoller das auch von ihm gegebene und be 
gründete Zugeftändniß, daß die ältejte Bearbeitung der Gral- 
fage von der Artusfage nichts wiffe und unabhängig von ihr 
daftehe. ‚Allerdings jtammte der Stoff und die Quelle, welche 


(207) 


26 
die ältefte und befannte franzöfiiche Graldichtung benußgt hat, 
aus demjelben Zande und derjelben Zeit, aus dem und in der 
auch die „Romane“ des Artusjagenkreijes nach Frankreich famen 
und dort in Verſe gebracht wurden. Chreftien de Troyes ver- 
faßte jeinen „PBarceval” etwa um 1175 nad) einem „Buche“, 
wahrfcheinlich einem englifch-normännischen Gedichte, welches ihm 
Philipp von Elſaß, Graf von Flandern aus England mit 
gebracht Hatte. (Vergl. Gafton Paris: „La literature frangaise 
au moyen äge.* Paris 1890. 88 57, 59 u. ff.) Hier ift 
noch von feiner Verſchmelzung der beiden Stoffe die Rede; „la 
quete du saint graal“ (wie der Titel eines älteren, im fran- 
zöfiichen Original verloren gegangenen, aber in portugiefiicher 
Ueberfegung erhaltenen Proſaromans, vielleicht wieder eine 
Ueberjegung der anglo-normännifchen Duelle, lautet) ijt der 
Inhalt und Endzielpuntt der Abenteuer des Ritterd Berceval 
(„Perceval le Gallois“, wie ein anderer Romantitel lautet; 
gäliich Heißt der Name Peredur; man fieht, daß die ziemlich 
gewaltjame Umtaufung Ric). Wagners in „Parfifal” geſchichts— 
etymologijch ohne jede Stüße iſt). Aber das Werk Chreitieng 
von Troyes blieb unvollendet; dem beijpiellojen Erfolge, den 
er trogdem mit ihm gehabt hatte, war wohl zu verdanten, daß 
nicht weniger als drei Fortſetzungen uns erhalten geblieben find. 
Die erjte, von Gaucher de Dourdan unternommen, ließ das 
Werk ebenfalls unvollendet; die andere, von Mennejfier, wurbe 
1220 vollendet, und die dritte, von Gerbert de Montreuil, ijt 
uns in einer Handjchrift erhalten, welche diefe Fortſetzung zwiſchen 
den legten Vers Gaucherd und den erſten Menneſſiers einjchaltet. 
Erſt in diefen fpäteren Fortfegungen ift die Anfnüpfung an die 
chrijtliche Legende, an Joſeph von Arimathia mit ber urjprüng- 
lihen „conte du graal mysterieux“ zu bewirken verjucht 
worden. Gajton Paris bemerkt mit Hecht, daß hierdurch der 
ganze urjprüngliche Plan und die Anlage des Werkes Chreſtiens 


(208) 


27 

von Troyes geändert worden fei. Durch die Einfügung diejes 
hriftlich-biblifchen Zufammenhanges wird der wunderbare und 
wunderthätige heilige Gral zur Hauptfache und das rein menſch— 
liche, tieffinnige Mitleidsmotiv der unterlafjenen Frage Percevals, 
auf dem in der urfprünglichen Dichtung der ganze innere 
Aufbau der Entwidelung beruht, zu einer Nebenjache, allenfalls 
zur Bedeutung eines „retardirenden Moments“ herabgebrüdt. 

Noh gründlicher nahm nun aber die Verfchmelzung der 
alten Artusjfage mit neuchriftlicher, das heißt neuerfundener 
biblifcher Legende und die Umwandlung der ganzen Graljage 
in diejem Sinne vor ein anderer, mit den beiden Leßtgenannten 
ziemlich gleichzeitiger Troubadour aus der TFranche-Comte: 
Robert de Boron (um 1215). Er fchrieb eine Trilogie: Joſeph 
d’Arimathie — Merlin — Barceval. Allerdings bedurfte der 
alte Zauberer Merlin, um in dieſer Gejellichaft erjcheinen zu 
können, einer durchgreifenden Aenderung und Befjerung; und 
daran Hat es denn auch dieſes Gedicht in der beiten Abficht 
nicht fehlen laſſen. Nun Hatte freilich Schon faft ein Jahrhundert 
früher ein englifcher Bifchof verfucht, dieſe uralte Gejtalt der 
gälischen Volksſage (derem Name von dem eines Baubererd und 
Propheten Myrddhin abzuleiten fein foll) etwas für den chrift- 
lichen Gefchmad und Gebraud) zuzuftugen. Es war dies ber 
1154 als Bifchof von St. Aſaph (der Kleinen Biſchofsſtadt in 
Wales) verftorbene Ganfrei von Monmouth in feiner „Historia 
regum Britanniae“. Darin läßt er Merlin, dem er den chrift: 
lichen Vornamen „Ambrofius” beilegt und den er ganz ohne 
Vater geboren fein läßt (offenbar um ihn auf dieje radikale 
Weiſe von der ihm durch die Volksſage beigelegten Abjtammung 
vom Teufel ſelbſt zu befreien), dem im fünften Jahrhundert 
lebenden Könige Wortigern alle Schidjale Britanniens bis zum 
Jahre der Abfaſſung dieſes Buches (1135) vorausjagen — 
wobei natürlich die gläubigen Leſer der damaligen Zeit zu 

(209) 


28 


ihrem Erſtaunen finden mußten, daß alles ſo richtig eingetroffen 
ſei. Die ganze Geſtalt des auf ſo billige Weiſe zum Rufe 
eines unfehlbaren Propheten gekommene Merlin iſt aber, wie 
geſagt, keineswegs eine Erfindung des waliſiſchen Biſchofs, 
ſondern wiederum nur eine in beſter Abſicht (zum Beſten des 
Chriſtenthums) geſchehene Adoptirung (und theilweiſe Adaptirung) 
eines hervorragenden und charakteriſtiſchen Erzeugniſſes des alten 
heidniſchen Götterglaubens. 

Bei Robert de Boron iſt die Beſſerung Merlins nun eine 
noch gründlichere, als bei Ganfrei; er verwendet die ihm an— 
geborene umfaſſende Kenntniß aller vergangenen, gegenwärtigen 
und zukünftigen Dinge dazu, um den Gralsrittern ſowohl wie 
Perceval ſelbſt alle möglichen guten Rathſchläge zu geben, die 
natürlich nicht wenig zur Ueberwindung aller Fährlichkeiten und 
Abenteuer beitragen. | 

Die Geichmadtofigkeit diejer ‚gewaltfamen Verbindung jo 
verjchieden gearbeiteter Stoffe hat die deutjche Dichtung Wolframs 
von Ejchenbady mit ebenjoviel richtigem Gefühl vermieden, als 
fie andererjeit? wieder das oben erwähnte rein menfchliche 
Mitleidsmotiv wieder ftärker hervortreten läßt. Allein der An. 
fnüpfung an die nun einmal jo berühmte „Zafelrunde des 
Königs Artus” ‚(oder Arthur) glaubt auch fie nicht entbehren 
fönnen: im Gegenſatz zu jeinem Vorgänger Albrecht von 
Scharfenberg, der in feinem „Ziturel”, vielleicht in Anknüpfung 
an ältere uns nicht mehr befannte franzöfiiche Quellen, Die 
Gralſage fat ganz ohne Anknüpfung an den SKönig-Artus. 
Sagentreis behandelt. 

Und in der That dürfte es auch ftofflic kaum zmei 
Sagenkreiſe geben, die ihrem innerften Grunde nad) einander 
jo fremdartig, ja feindlich gegenüberftehen — faſt jo feindlich, 
wie nationales Heidenthum und römijch.internationales Chriften- 


thum im jener Zeit. Während die Graljage unmittelbar an die 
(210) 


29 
Darjtellung der bibliihen Urkunden über die legten Tage und 
den Tod des Heilandes und an eine Perſon des neuen Teſta— 
ments (Joſeph von Arimathia) anfnüpft, verdankt König Artus 
nit nur feine ganze Bildung und Erziehung dem Zauberer 
Merlin, jondern fein Dafein ſelbſt und feine Geburt einem 
durch defjen Zauberkunſt ermöglichten und vermittelten Ehebruch! 
Allerdings erjcheint feine Mutter, Igerna, Gemahlin Gorlas, 
Herzogs von Cornwallis, hierbei jchuldlos; denn Uther Ben: 
dagron hat ſich ihr in Abwefenheit des Gemahls in defjen ihm 
von Merlin Kunſt verliehener Gejtalt genähert. Allein die 
bloße Thatjache einer jolchen Abjtammung Hätte nach) der in 
der gejamten Graldichtung des Mittelalter vertretenen all» 
gemeinen Grundanjchauung genügt, um den Sproß einer jolchen 
Berbindung mindeftend als Haupt einer ritterlichen Gemeinjchaft 
unfähig erfcheinen zu laſſen. Und König Artus verdankt nicht 
nur fein Dajein einem — wenn auch auf einer Seite unwiffent: 
tihen — Ehebruch, jondern er geht auch an einem folchen zu 
Grunde. Denn jeine eigene Gemahlin, deren eigentlichen fel- 
tiichen, für andere Zungen allerdings faft unausfprechbaren 
Namen Gwenhmwymwar die romantiiche Dichtung in Ginevra 
wandelte und die mit der Gralkönigin die äußere Aehnlichkeit 
bat, daß fie wie dieje als das einzige Weib im Kreiſe der 
Männer neben ihrem Gatten thront, ift nicht frei von Schuld 
und Eünde. Sie läßt fid) von Artus eigenem Neffen Modred 
ver: und entführen, und König Artus fällt im Kampfe um fie 
gegen Modred, wenn aud) mit diefem. Offenbar fonnte eine 
Kunftdichtung mit der Tendenz der Gralädichtungen mit einem 
ſolchen Hintergrunde wilder, ungezügelter Zeidenjchaften nichts 
anfangen. Es bleibt eine rein äußerliche Herübernahme, wenn 
fie Namen und Geſtalten aus der im Volke lebendigen Tafel: 
rundenjage zu verwerthen jucht. Doch aber erjcheint es nicht 
unmöglich, daß die Gralsdichter ſich durch einzelne Motive jenes 


(211) 


30 


aus rauher, wilder Urzeit eines fraftitrogenden Volkes jtam- 
menden Sagenkreijeg anregen ließen, entjprechende Gegenftüde 
dazu mit ihnen zujagender und in ihren Plan fich einfügender 
Tendenz zu jchaffen. So könnte man das abgejhwächte 
Gegenjtüd zu jener Untreue der Königin Ginevra in der nur 
furzen und bald bereuten Sünde des Königs Anıfortas finden, 
die ja der Grund feiner unheilbaren VBerwundung geworden ift. 
Die Abſchwächung liegt natürlich darin, daß auch ſchon wie 
noch heute in den beiden Hier in Frage kommenden Kultur: 
epochen: ber keltiſchen und der jfandinavijch-germanifchen Reden- 
zeit, wie in der des mehr internationalen, chriftlichen NRitter- 
thums der Ehefrevel der Frau fo ungleich jchwerer wiegt, als 
der de Mannes. 

Ebenjo kann Merlins Perſon (mit der fich übrigens auch 
eines der apofryphen, Shafejpeare zugejchriebenen, in der zweiten 
Foliv-Ausgabe jeiner Werfe enthaltenen Schaufpiele „Merlins 
Geburt” beichäftigt, das ihn direft vom Teufel mit einem 
braven Dorfmädchen Hanne Willig erzeugt fein läßt), offenbar 
das Vorbild für den Inhaber und DBeherricher de Chäteau 
merveil, des Zauberſchloſſes geliefert haben. Uber während 
der Zauberer in der Artusſage einer der erjten Faktoren der 
Dichtung bildet, ift er in der Gralsdichtung Wolframd von 
Eſchenbach nur dazu da, einerjeit, um mit feiner Burg ein zu 
ihrem Nachtheil ausfallendes Gegenftük zu der Gralsburg zu 
bilden, andererjeit, um als Nebenfigur in der Handlung ver- 
wendet zu werden. 

Indes, jo grundverjchieden nad) Tendenz und Entjtehung 
alſo diefe beiden Sagen waren, jo mußten ſich doch der alte, 
von heidnifchem Zauberſpuk umgebene König Artus und Die 
Ritter feiner vom Höllenſohn Merlin gefertigten ZTafelrunde 
gefallen laſſen, von dem chriftlich- oder priefterlich-ritterlichen 
jpäteren Nachdichtern der Gralſage mit in ihre Ritter- und 

(212) 


31 
Prieſterthum in durch letzteres beherrjchter Vereinigung verherr- 
lichende Tendengdichtungen Hineingezogen zu werden, wenngleich 
ihnen in feiner Weife eine entjcheidende Stelle in der eigent- 
lihen Handlung oder für die Tendenz des Gedichtes eingeräumt 
wurde. 

Dagegen finden wir in diefer das geiftliche Ritterthum 
(oder wie der Pater Gietmann S. J. meint, den katholiſchen 
Priejter als ſolchen im Bilde des Ritterthums) feiernden Kunft- 
dichtung das als dem inneren Kern, aus dem die ganze Hand- 
fung entjpringt, wieder, was wir bei den zuerjt befprochenen 
Volksſagen als den inneren Kern fanden: Verfehr von Sterb- 
lihen mit Webernatürlihem und dadurd) gewährleiftetes Leben 
über die Schranken der Sterblichkeit und Menjchlichkeit hinaus, 
Allein was dort in den Volksſagen als einfache Wirkung eines 
jolhen Verkehrs unvermittelt eintritt, das wird hier vermittelt 
durch eine an die chriftlichen Symbole und den Kernpunkt des 
chriſtlichen Glauben? anfnüpfende Thätigkeit: da3 Anſchauen 
des heiligen Gral. Diejes Gefäß, dem natürlich auch phyfiich- 
wunderbare Eigenjchaften zugejchrieben werden, erinnert un: 
mittelbar an den gejchichtlichen Opfertod Chrifti und gleichzeitig 
an das von ihm gejtiftete Symbol des Abendmahls, welches 
die Kirche in der Mefje zum Kern. und Brennpunkte des ganzen 
Kultus gemacht hatte. Da die gejamte Gralsritterjchaft ihren 
Dafeinszwed nur in dem Schuge und Dienfte dieſes Gefäßes 
ſucht und findet, jo ift auch die der Dichtung äußerlich zu 
Grunde liegende Allegorie von der Kirche überhaupt, in deren 
Schuß und Dienft alle weltlihe Macht (die ja damald das 
Ritterthum verkörperte) allein ihre Dajeinsberechtigung zu juchen 
und zu finden Hat, klar erjichtlih; damit aber auch die Kenn- 
zeichnung der Dichtung ald Tendenzdichtung. Bemerkenswerth 
hierfür ift ferner auch der Umjtand, daß ſowohl Chreſtien von 
Troyed, ald auch jein Fortſetzer Mennefjier in „hohem Auf- 


(213) 


32 


trage”, aljo gewiſſermaßen „auf Beftellung“ gearbeitet haben. 
Wie Chrejtien dur Philipp von Flandern, der ihm das zu 
Grunde liegende englijch-normännifche „Buch“ übergab, zum 
Beginn des Werkes veranlaßt wurde, jo jchrieb Menneffier 
direkt (wie ſich Gafton Paris ausdrüdt, S. 99 a.a.D.) „für“ 
Sohanna von Flandern, die Großnichte Philippe und that- 
kräftige Herrjcherin von Flandern (jeit 1205), Gemahlin’ Ferdi: 
nands von Portugal and in zweiter Ehe des Grafen Thomas 
Savoyen (1237). Johanna hatte neben äußeren Kriegen auch 
mit inneren Unruhen zu fämpfen, die ihren Ausdrud in dem 
Auftreten eines Kronprätendenten Bertrand fanden, der ſich für 
ihren in Griechenland verjtorbenen Vater Balduin (IX.) ausgab 
und den fie fpäter in Lille hängen ließ. Derartige Bewegungen 
haben in jenen Beiten immer einen religiöjen Hintergrund; und 
wo das niedere Volk derartigen Kronprätendenten im Gegenſatz 
zu den in der Herrſchaft Befindlichen zufällt, da liegt e8 nahe, 
bei jenen einen Zujammenhang mit nationalen altheidnijchen 
Ueberlieferungen zu juchen, denen diefe die neue, überwältigende 
Macht des Chriſtenthums entgegenhalten. So ift es wohl 
denkbar, daß die Förderung diejer, gegenüber dem altheidnijchen 
Artusfagenkreife in jo ausgeprägt chriftlichem Gewande auf: 
tretenden und jenen fi) noch dazu aneignenden und unter: 
ordnenden Dichtung vom Heiligen Gral von politifchen Gründen 
mit diftirt wurde. Man darf nicht vergefien, daß das ganze 
geiftige Leben jener Zeit, ſoweit es nicht von rein religiös: 
dogmatijchen Stoffen beherrjcht wurde und fich überhaupt „pro» 
fanen” Stoffen zumwandte, von jenen Dichtungen und Ritter» 
romanen in Vers und Proja ausgefüllt war; daß in ihnen 
alſo alles das jeine Befriedigung finden mußte, was heutzutage 
Brefje, Vereinsleben und jchöne Litteratur ins Leben ruft und 
unterhält. So gut alfo, wie heutige politifch-firchliche Parteien 
auch in der Tagesprefje, in Bergnügungs- und. gejelligen Ber: 


(214) 


33 





einen eine Stüße und ein Werkzeug für ihre Zwecke fuchen, fo 
war man damals auf den Weg tendenziöfer Beeinflufjung der 
Sagen: und Abenteuerdichtung gewieſen, wenn man einerjeits 
für feine Partei wirken, andererjeits die jchädlichen Einflüffe 
ber alten Ueberlieferungen befämpfen wollte, die um fo gefähr- 
licher waren, als fie für große Volksmaſſen den Weiz des Alt- 
heimifchen, der verflofjenen „guten alten Zeit” Hatten. 

Es iſt hier nicht der Ort, Unterfuchungen darüber an: 
zuftellen, ob und wieweit eine Tendenz in der Dichtfunft mit 
deren innerjtem Weſen verträglich oder ihr zuträglich ift; feft- 
halten fann man wohl, daß fie nicht gehindert hat, in jedem 
Beitalter große Kunftwerke entjtehen zu jehen, die gar nicht 
ohne fie verjtändlich find, und doc) noch volle und reine dichterifche 
Wirkung ausüben, wenn das Biel jener „Tendenz“ längft einer 
todten Bergangenheit angehört. So gut wie Xriftophanes’ 
Luſtſpiele ihre zu jener Zeit ſehr „aktuelle“ politiiche Tendenz 
hatten und wir uns heute an ihnen ergögen, obgleich wir oft 
zweifelhaft und z. B., was Gofrates’ Perſon anbetrifft, gar 
nicht zweifelhaft jein können, ob wir und auf Seite des Spötters 
oder des Berfpotteten ftellen jollen, jo gut wie wir Dantes 
erhabenes Gedicht bewundern, obgleich der Gegenjag zwijchen 
Guelphen und Ghibellinen in diefer Form wenigjtens für Stalien 
gänzlich todt ift, ebenfowenig fünnte ung der Verdacht tendenziöjer 
Entjtehung Hindern, an dem deutſchen „Barcival” unſeres 
Wolfram von Ejchenbach reinen dichterifchen Genuß zu finden. 
Und Ddiejer wird erhöht durch die Beichaffenheit und Behandlung 
des inneren Motivs, welches Wolfram allerdings nicht zuerft 
hineingelegt hat, weil e3 fich jchon im der erften franzöfijchen 
Bearbeitung auch findet, welches er aber als einen gerade dem 
beutjchen Volksgemüth außerordentlich naheliegenden Zug mit 
einer ganz bejonderen Kraft und Kunft hervorgehoben und in 


den Mittelpunkt des dichterifchen Planes gerüdt hat: das Motiv 
Sammlung. R, F. XIII. 29. 3 (215) 


34 


ver unterlaffenen Frage, welche das Mitleid zu fordern, die 
ichablonenhaft angemwendete höfiſche Sitte aber zu verbieten 
fcheint. Es liegt aber noch ein Drittes in diefem Motiv der 
unterlaffenen Frage, eben das, was wir als eine dem deutjchen 
Volksgemüth bejonders naheliegende Bejonderheit bezeichneten: 
Es ift die Schen davor, innere ſeeliſche Zuftände ohne Noth 
durch Ausfprechen gewiffermaßen zu profaniren: die Schämig- 
feit, welche das nicht nad) außen treten lafjen mag, was Die 
innere Seele doch ftarf erfüllt und bewegt. Es ift diejelbe 
Grundſtimmung, welche der große britiiche Dichter in feiner 
Cordelia jo verhängnißvol für fie zum Wusdrud bringt. 
Parzival ift in diefer Hinficht zwar nicht etwa ein Seitenjtüd 
zu jener tragijchen Geftalt, aber das Urbild des troßigen und 
doch jo weichen und, eben weil er fich diefer Weichheit bewußt 
ift und fich ihrer ſchämt, nach außen hin rauh oder gleichgültig 
ericheinenden echt deutjchen Fünglings, jo wie ihn noch die 
Dichter der „Freiheitskriege“ ſchildern. Diefe „Schämigfeit” — 
eine Eigenjchaft der Unreife und doch zugleich eine folche, die 
bei gejunder Entwidelung und Eintreten der Reife den Keim 
hervorragender Charaktereigenfchaften in fich ſchließt — wird 
denn ja auch bei PBarzival nicht durch die Kraft des Mitleids 
überwunden, jondern durch eine nach und nad) eintretende, von 
außen geförderte und von innen eriwachjende Erfenntniß, die 
ihn dann bei feiner zweiten Wiederkehr die einfache und doc) 
jo folgenreihe Frage thun läßt. 

Dieje „Frage“ Hat nun befanntlid den Anknüpfungspuntt 
geboten, um der deutſchen Dichtung eine Tendenz nad) ganz 
entgegengejegter Seite beizulegen. Man hat Wolframs Barcival 
von proteftantijcher Seite in Anfpruc genommen: ala Aus: 
drud einer ſchon in dieſer Zeit des Mittelalters vorhandenen 
Stimmung in Glaubensjachen, die nahe verwandt mit der der 


jpäteren Reformatoren gewejen jei. Man will in diefer „Frage“ 
(216) 


35 





das jelbjtändige Forſchen einer das ewige Heil fuchenden 
Menfchenjeele jehen. Diefe Deutung jcheint mehr einem geift- 
reihen Spiele mit Bergleichungen entjprungen zu fein, als daß 
fie dem rein menſchlich und in der Charafterzeichnung national 
gedachten Motive gerecht würde; fie findet aber auch vor allem 
feine Stüge in der gejchichtlichen Forſchung, weder in der nad) 
Herkunft und Entjtehung der Dichtung, noch in der über die 
Perjonen ihrer Sänger. 

Nun haben wir allerdingd bloß bei einem der oben. 
genannten Quellenjammler, bei Gaufrei von Monmouth, den 
priejterlichen Charakter in feiner Bezeichnung als Biſchof (von 
St. Ajaph) gemwährleiftet. Aber die Vermuthung diejeg Cha- 
rafter8 liegt auch bei Manchem der nachgenannten nahe, 
wenn auch die bejondere Hervorhebung unterbleibt, weil fie 
es jedenfalls nicht zu einer jo hohen Stufe in der Hierarchie 
gebracht haben, wie jener erjte Sammler der Artusjagen. Und 
jelbft wenn, wie bei unjerem deutjchen Sänger Wolfram von 
Eſchenbach, jein nachgewiefener Ritterftand die Vermuthung des 
geiftlichen ausſchließt, jo weiſt doch das Gedicht ſelbſt zahlreiche 
unverfennbare Spuren eines es durchwehenden und belebenden 
Geiftes auf, der nicht bloß der des Chriſtenthums, jondern der 
des Klerus ift. Und diejer Klerus des dreizehnten Jahrhunderts 
fannte noch nicht weder Befürworter noch Bekämpfer einer Re- 
formation der Kirche „an Haupt und Gliedern“. Dieje ſelbſt 
hatte noch jo viel damit zu thun, in den Ländern der nordiſchen 
Welt um ihr eigenes Dafein zu ringen und fich in den im der 
großen Mafje noch von ganz anderartigen Vorſtellungen er 
füllten feltijchen, normännijchen, germanijchen und ſtandinaviſchen 
Bölfern erjt einen Boden für ihre Geifteswelt zu jchaffen, daß 
fie feine Zeit zu Neflerionen über ſich ſelbſt finden konnte. Die 
der großen Volksmaſſe ſchwer verftändliche philoſophiſche Tiefe 
und weltumfafjende Bedeutung der von ihr vertretenen Gedanken 

3° (217) 


36 


und Grundanſchauung bedingte, daß jie diefen Kampf nicht nur 
mit der Aufftellung und Verkündung ihrer Dogmen führen 
fonnte und durfte. Sie mußte auch die ethijchen Grundlagen 
und Folgefäge der neuen Weltreligion in ein Gewand Heiden, 
welches den unterworfenen Völkern jchon bekannt und lieb war; 
und hierzu bemächtigten fich ihre zu ſolch' geiftigem Kampfe 
geſchickten Vertreter und Anhänger, mochten dies Kleriker oder 
Nitter fein, mit Erfolg der von ihnen nach und nach in Ritter: 
romane umgewandelten alten Reden: und Heldenfagen: Sagen, 
die man felbft auf diefer Seite wohl gläubig für Geſchichte 
nahm. Wo e3 nun irgend anging, wurden die Helden der 
alten Sage dann auch zu Trägern der neuen Ideen gemacht 
oder durch Zweitheilung auf der einen Seite als Vertreter, auf 
der anderen al3 wirfjame Gegenſätze dazu Hingeftellt. So fam 
der ethiſche, der philojophiich:chriftliche Gedanke des Mitleids, 
der Selbftverleugnung, ja jelbjt der Askeſe in die dichterische 
Darjtellung der urjprünglic) diefen Gedanken ganz fremden 
Sagen hinein, falls fich diefe nur irgend dazu zu eignen jchienen. 
Unter dem Borftehenden darf nun natürlich keineswegs ver: 
ftanden werden, al3 jeien die alten anglo-normännijchen Helden: 
jagen jedes ethijchen Inhalts bar, als werde in ihnen nur die 
Gewaltthat, der Ehebruch und Raub gefeiert. Uber ihre fitt- 
lichen Ideale find andere, als die oben berührten der neuen 
Hriftlichen Geiftesrihtung; es ift die herbe, trogige Männlich. 
feit, das Teithalten an gelobter Treue und an den von der 
Natur gegebenen Banden des Blutes, die Unterwerfung unter 
das einmal gegebene Manneswort und unter einen jener heidnijc)- 
nationalen Welt entjtammenden Ehrenkodex, deſſen Forderungen 
ja bis heute noch mit einer Stärfe nachwirfen, die durch die 
jahrhundertelange Alleinherrichaft der chriftlichen Gedanken: und 
Borjtellungswelt nur wenig gemindert erjcheint. 


Dieje Ideale indes, ſowohl diejenigen, welche wir heute 
(218) 


37 


noch voll anerkennen, al3 auch diejenigen, welche wir vom 
heutigen Kultur: und Sittenftandpunft aus zurückweiſen müffen, 
werden am fittlicher Höhe unzweifelhaft überragt von den in 
der Barzivaldichtung zur dichteriichen Begründung und Dar- 
ftellung verwendeten. Was aber über diejen inneren Aufbau hinaus 
zur Ausihmüdung und Verherrlichung des ſpezifiſch chriftlichen 
Ritterthums Hinzugefügt wird, das fcheint ung allerdings dem 
obenerwähnten Jejuitenpater wohl darin Recht zu geben, wenn 
er in dem Gralöritter- und bejonders königthum geradezu die 
Idealiſirung oder eine Verherrlichung des katholiſchen Priefter- 
thums fieht. Und gerade hierin tritt die Tendenz der ganzen 
von Angehörigen des Klerus hervorgegangenen oder beeinflußten 
Um: und Neugeftaltung der alten Sage hervor, die jie geradezu 
als ein geiſtiges Kampfmittel gegen das zwar äußerlich über: 
wundene, innerlich aber in der großen Mafje des Volkes noch 
urgewaltige nationale Heidenthum erjcheinen läßt. 

Alſo jedenfall auch in diefem Punkte glauben wir eine 
innere Verwandtſchaft der drei oben vorzugsweije behandelten 
Sagen: der vom ewigen Juden, vom Ritter Tanhäufer und 
der Barzival:Graljage nachgewiejen zu haben. Hierfür jpricht 
auch noch der aus der äußeren Geſchichte der Verbreitung diejer 
drei Sagen fi) ergebende gemeinjame Urjprungsort. Alle drei 
ftammen aus England; denn auch bei der anjcheinend doc an 
den Boden des deutſchen Landes, den Hörjelberg, gefefjelteu 
Zanhäuferfage wird ung von einem alten Schrifiteller (Korn- 
mann: De miraculis mortuorum. 1610. L.1I. c. 47) berichtet, 
daß die unheilvolle Eigenjchaft gerade dieſes Berges als Eingang 
zum Fegefeuer von der Witwe eines englijchen Königs, 
Reinswiga, entdedt worden jei, der ihr Gemahl im Traume 
erichienen ſei und ihr verkündet habe, daß feine Seele fih in 
diefem Berge Thüringens befinde. So würde nad) diejer 


zwar alleinjtehenden, aber immerhin beachtenswerthen Angabe 
(219) 


38 

auch hier der Weg angedeutet fein, den dieſe Sage aus dem 
die frühefte Blüthe einer eigenartigen nordijchen Vollspoeſie 
bergenden angelſächſiſch normänniſchen Infelreiche nad) dem Theile 
des europäilchen Feſtlandes Hin genommen bat, der auch die 
Wiege eines großen Beftandtheil3 der Einwohner des Inſelreichs 
gewejen war. Daß diejer Urfprungsort für die Herkunft der 
beiden anderen Sagen feftfteht, haben wir oben an der Hand 
unbezweifelter Nachweije dargethan. 

In allen drei Sagen aber haben wir mannigfach in den 
wechjelnden Formen ihrer Gejtaltung das anziehende Beiſpiel 
dafür, wie eine in einem Volke neu auftauchende mehr oder 
weniger tendenziöje Kunjtdichtung die Stoffe alter Volksdichtung, 
deren erjter Sänger Namen „kein Lied, fein Heldenbuch” meldet, 
fi anzueignen, für ihre Zwede umzugeftalten und auszubilden 
ſucht: alles zu dem Zwecke, um dadurd) wieder zu wirfen auf 
das, woraus dieſe Stoffe jcheinbar ſelbſtſchöpferiſch entjtanden 
find, die ewig dichtende, fingende und ſagende Volksſeele ſelbſt! 


Anmerkungen. 


* Daß biejer Ritter ſich wohl zu einem ſolchen Abenteuer eignete, 
geht auch aus feinem eigenen poetijchen Geftäudniß hervor, daß er alle 
jeine Güter habe verpfänden müſſen, weil ihm „die jhönen Frauen, der 
gute Wein, der ledere Imbiß und möchentlih zweimal Baden“ zuviel 
Geld gekoſtet hätten. 

? Die Idee der Graljage, Bd. VIII, Heft 9 der „Frankfurter zeit- 
gemäße Brojhüren“. Frankfurt a. M. und Quzern 1887. 


(220) 


Der Graphit, 


feine wichtigſten Vorkommniſſe und feine tehnifche 
Derwerthung. 


Von 


Dr. €. Weinfdenk. 


Privatdozent in Münden. 


Hamburg. 
Berlagsanftalt und Druderei A.G. (vormals J. F. Richter). 
Königlihe Hofbuchdruderei. 
1898. 





Das Recht der Ueberjegung in fremde Sprahen wird vorbehalten. 


Trud ber Berlagsanftalt und Druderei A.-®. (vorm. I. F. Richter) in Hamburg. 
Königliche Hofbuchbruderei. 


Weit zurück in prähiſtoriſche Zeiten datirt die Bekannt— 
ſchaft der Menſchheit mit dem Graphit; hin und wieder 
wurden ſchon in Hünengräbern, zumal in Franken, Stücke von 
Rohgraphit und mit Graphit beſtrichene Gefäße aufgefunden, 
welche beweiſen, daß ſelbſt auf jener niederen Stufe der Kultur 
das eigenthümliche, ſchwarze, glänzende Mineral Beachtung ge— 
funden hat. Aber ganz anders liegen die Verhältniſſe, wenn 
es ſich um die Frage handelt, ſeit welcher Zeit der Menſch es 
verſtanden hat, die mannigfaltigen Eigenſchaften des Graphits 
ſich dienſtbar zu machen, welcher heute in unſerem Kulturleben 
eine ſo wichtige Rolle ſpielt, daß er uns geradezu unentbehrlich 
dünkt. Sicher iſt das eine, daß die Völker des Alterthums, 
wenn ſie auch den Graphit als Mineral wohl ohne Zweifel 
gekannt haben, ihn doch nicht zu bearbeiten verſtanden und ihn 
jedenfalls nicht von dem ähnlich ausſehenden Molybdänglanz 
unterſcheiden konnten, mit welchem übrigens der Graphit noch 
bis zu Anfang unſeres Jahrhunderts häufig genug verwechſelt 
wurde. 

Die älteſten, zuverläſſigen hiſtoriſchen Nachrichten über die 
techniſche Verwendung des Graphits datiren etwa vierhundert bis 
fünfhundert Jahre zurück, zu welcher Zeit ſchon im Markte 
Hafnerszell bei Paſſau die Fabrikation der ſogenannten „Paſſauer 
Tiegel“ ausgeübt wurde, welche daſelbſt auch heute noch in 
Blüthe ſteht. Dieſe feuerfeſten, aus Graphit und — her- 


Sammlung. N. F. XIII. 295. (228 


4 


geſtellten Tiegel waren in den Laboratorien der Alchymiſten 
die aktiven Zeugen der abenteuerlichen Verſuche, den Stein 
der Weiſen zu finden, und wie manches Mal blickten wilde, 
goldgierige Augen auf den in feuriger Lohe ſchwebenden Tiegel, 
und von Habgier zitternde Hände zerbrachen das kaum erkaltende 
Gefäß in der ſtets getäuſchten, ſtets erneuten Hoffnung, endlich 
einmal das größte Juwel in Händen zu halten, welches alle 
Schätze der Erde mit einem Schlage ſpendet. 

Vorüber ſind die Zeiten jener blinden Verſuche, vorüber 
al’ jene abenteuerlichen Pläne; die Alchymie hat den Grund- 
jtein zur modernen Chemie gelegt, welche uns in Harer Sprache 
die Grenze zeigt, bis zu welcher Menjchenwig in der Zerlegung 
und Umwandlung der Materie fortjchreiten farnn. Uber heute 
noch, vor allem in den Münzjtätten, den Zaboratorien der mo— 
dernen Alchymilten, wo das rothe Gold gejchmolzen wird, find 
die Bafjauer Tiegel geradezu unentbehrlich, wenn fie heute aud) 
nicht mehr wie damals ausschließlich in der Bafjauer Gegend 
erzeugt werden. 

Viel wichtiger aber als die Verwendung des Graphit3 zu 
Tiegeln erjcheint dem Nichteingeweihten die Herftellung der 
Bleiftifte, welche dem modernen Menjchen von den erften Zeichen: 
verjuchen auf der Schulbank das ganze Leben hindurch unzer: 
trennliche Begleiter find. Auch die Fabrikation der Bleiſtifte 
ift feine alte Kunft, und kaum dreihundertfünfzig Jahre find 
verflofjen, jeitdem die erjten Graphitftifte in England angefertigt 
wurden, wozu die Auffindung eines ganz vorzüglich reinen und 
gleichmäßig feinen Material im Borrowdale bei Keswik in 
Eumberland den Anlaß bot. Und Zahrhunderte hindurch be- 
wabrten die aus engliſchem Graphit gefertigten „echten“ Blei. 
ftifte ihren Weltruf, welcher auch in dem Preife derjelben feinen 
Ausdruck fand, bis fie erjt in meuerer Zeit theild durch das 
Nachlaſſen des GraphitreichthHums in Cumberland jelbit, theils 


(224) 


5 


durch neue, vorzügliche Funde und vervollkommnete Fabrifations- 
methoden, zumal von deutichen Fabrifaten mehr und mehr in 
den Hintergrund gedrängt wurden. 

Der Name „Bleiftift“ oder „Neißblei” (— Zeichenblei, im 
Gegenjag zum Wafferblei, dem Molydänglanz) rührt einestheils 
davon her, daß man vor der Verwendung des Graphit3 zu 
Schreibitiften fih hin und wieder fleiner Stäbchen von Blei 
zum Schreiben auf Papier bediente, anderentheil® aber ver: 
muthete man in dem Graphit, defjen chemijche Zufammenjegung 
man erjt gegen Ende des verfloffenen Jahrhunderts kennen 
lernte, wegen feiner bleiähnlichen Farbe und jeine® Glanzes 
einen Gehalt von Blei, und dementjprechend führt auch heute 
noch der Graphit im Franzöfiichen den Namen plombagine, 
im Englijhen plumbago oder blak lead. 

Der Name Graphit ſelbſt wurde erjt von dem berühmten 
Mineralogen U. ©. Werner in der zweiten Hälfte des vorigen 
Jahrhunderts in die Wilfenfchaft eingeführt und Hat ſich von 
da an, wenigſtens joweit da8 Mineral felbit, ſowie die Roh— 
ware in Betracht fommt, allgemein eingebürgert, während für 
die Bleijtifte der alte Name geblieben ift. 

Erſt im legten Viertel des vorigen Jahrhunderts zeigte der 
Chemiker Scheele, daß der Graphit im Sauerftoffitrom zu 
reiner Kohlenjäure verbrennt, aljo aus Kohlenftoff bejteht, aber 
noch lange wurde über die wahre Zufammenjegung desjelben 
gejtritten, da die natürlichen Vorkommniſſe des Minerals in 
höherem oder geringerem Maße unrein find und bei der Un- 
volltommenheit der damaligen Unterfuchungsmethoden kaum die 
Möglichkeit geboten war, das mechaniſch Beigemengte von dem 
eigentlichen, chemijchen Beſtande zu trennen. 

Erſt al8 man allmählid) die Widerftandsfähigkeit des 
Graphits gegen alle möglichen Reagentien fennen lernte und es 


gelungen war, nach Zerftörung der Beimengungen den Graphit 
(225) 


6 
jelbjt rein darzujtellen, erjt da ward feine Natur als elementarer 
Kohlenstoff allgemein anerkannt. 

Graphit und Diamant find zwei Modifikationen eines 
und desjelben Elementes, des Kohlenſtoffes, jener das weichite 
aller Mineralien, ſchwarz, undurchſichtig und unanjehnlich, diejer 
der härtefte Edeljtein, Mar, glänzend und jtrahlenprächtig. 

Und doch — troß feines bejcheidenen Ausſehens — über: 
trifft der Graphit den leuchtenden Bruder um ein Bedeutendes, 
wenn es fich um die technijche Verwendbarkeit handelt und um 
die Wichtigkeit, welche beide für den Kulturfortichritt der Menſch— 
heit befiten. Denn nicht nur die große Menge, in welcher der 
Graphit in der Natur vorkommt, verglihen mit der Spärlid): 
feit de3 Diamants, ift e8, welche jenem die höhere Stufe in 
unferer Werthihäßung fichert; in bedeutenderem Maße noch 
durch feine mannigfaltigen, technifch wichtigen und werthvollen 
Eigenjchaften ijt der Graphit der Sieger im Wettbewerbe mit 
dem Diamant, welcher nur durch feine hohe Lichtbredung und 
jeine Härte für die Technik in Frage fonımt. 

Bon den Eigenjchaften des Graphit3, welche diejen zu 
einem technijch wichtigen Mineral machen, find vor allem zu 
nennen: der metallartig glänzende, rein jchwarze Strid und 
jeine äußerſt geringe Härte, welche beide zufammen den Gebrauch 
desjelben zur Anfertigung von Zeichenftiften ermöglichen. Aber 
die wenigjten der in der Natur vorfommenden und feine der 
fünftlich hergeftellten Graphitvarietäten eignen ſich ohne weiteres 
zu diefem Zweck, ja eine große Anzahl ſelbſt jehr reiner Bor- 
fommnifje läßt ſich überhaupt nicht zu Bleijtiften verarbeiten. 

Die erjten „echten“ englijchen Bleiftifte wurden aus dünnen 
Stäbchen gemacht, welche aus dem Nohmaterial, wie e3 die 
Natur bot, direkt herausgejchnitten und zwiſchen Holzitreifen 
eingelegt wurden, und noch lange Beit war dies das einzige 


Verfahren, wirklich gute Bleiſtifte herzuftellen, denn die aus 
(226) 


T 


erdigem Graphit oder aus den Abfällen bei der Fabrikation 
der „echten“ Bleiſtifte mit irgend einem Bindemittel, wie Leim, 
Eolophonium, Schwefel ꝛc. dargejtellten Stifte erfreuten fich, 
aus leicht begreiflichen Gründen, einer jehr geringen Beliebtheit. 
Erjt als vor gerade Hundert Jahren etwa gleichzeitig Conde 
in Paris und Hartmut in Wien fanden, daß man durch 
Mengen des Graphit? mit Thon und nachherige® Ausglühen 
bes Gemijches beliebige Abftufungen in Härte und Farbe erzielen 
fan, und gleichzeitig auch den übrigen Anforderungen, welche 
an einen guten Stift geftellt werden müfjen, gerecht wird, konnte 
die Bleijtiftmanufaftur ſich zu der Ausdehnung entfalten, in 
welcher fie heute daſteht. 

Über auch jo ift die Zahl der Graphitvortommnifje, welche 
für die Bleiftiftfabrikation in Frage fommen, eine jehr bejchränfte, 
und die meiften und reichten Graphitvorfommnifje können aud) 
heute nicht zu diefem Zwecke verarbeitet werden. 

Ein zu folder Verarbeitung geeigneter Graphit muß 
nämlich jchon im Naturzuftande außer der unter allen Um— 
jtänden nothwendigen Reinheit einige bejondere Eigenjchaften 
haben, wenn er jeinen Zwed erfüllen jol. Die wichtigfte von 
diejen Eigenjchaften ift die richtige Größe der einzelnen Graphit: 
blättchen. Ganz dichte Graphite Haben zwar ein ziemliches 
Färbungsvermögen, aber dafür einen matten, jchwarzen Strich, 
und das Pulver derjelben haftet weniger feſt auf dem Papier. 
Grobblättrige Vorkommniſſe andererjeit? find zur Bleijtift- 
fabrifation nicht verwendbar, weil die einzelnen Graphitblättchen 
auf ihrer Tafelfläche eine eigenartige, fettige Beichaffenheit Haben 
und daher über das Papier Hingleiten, ohne mehr als einzelne 
metallglänzende Schüppchen zu verlieren und zumal ohne einen 
Strid zu Hinterlaffen. Wenn daher das zu Bleiftiften ver: 
wendete Graphitmaterial nicht fein gepulvert und von voll» 


fommen gleichmäßiger Beichaffenheit ift, jo wird jedes derartige 
(227) 


8 





Spaltblättchen, welches in der Mafje vorhanden it, ein Aus. 
gleiten und Verſagen des Stiftes zur Folge haben. Anderen: 
theil8 Hat aber der Graphit einen jo geringen Grab von 
Sprödigfeit, daß er gegen Stoß und Drud äußerft widerjtands- 
fähig ift und daher nur mit großer Mühe zerkleinert werden 
fann, jo zwar, daß es viel leichter it, ein Korn des mehrere 
hundert Mal härteren Diamant3 zu zertrümmern, als ein 
Blättchen vom Graphit zu zerfleinern. Zu Bleiftiften fann man 
daher nur ganz gleihmäßig feinblättrige Varietäten verarbeiten, 
während die in viel größerer Mafje und an einer größeren 
Anzahl von Punkten vorfommenden gröberjchuppigen ebenjo wie 
die dichten Abarten zu diefem Zwecke fo gut wie unbrauchbar find. 

Man hat zwar jchon mehrfach Verfuche gemacht, auf Grund 
einer eigenartigen Reaktion, welche jolche blättrige Graphite 
geben, eine Zerfleinerung des Materials zu ftande zu bringen, 
um jo den weniger koſtſpieligen Schuppengraphit zur Bleiſtift— 
fabrifation brauchbar zu machen. Wenn man nämlich jolche 
Graphite mit rauchender Salpeterfäure befeuchtet und erhibt, 
jo entjtehen aus den einzelnen WBlättchen infolge einer 
ftarfen Oxydation des Graphitd durch die Salpeterfäure in 
der erhöhten Temperatur und der dabei fich entwicdelnden 
Gaſe eigenthümliche, wurmförmige Aufblähungsformen, welche 
nah ihrem Entdeder als Brodiejher Graphit bezeichnet 
werben. Diefelben befigen oft das hundertfache Volumen des 
urjprünglichen Graphit3 und find zufammengejeßt aus einer 
Hülle von äußerſt fein zerriffenem Graphit und zahlreichen 
Bwifchenböden, welche aus einzelnen kompakten Graphitipalt- 
blättchen bejtehen. Diefe wurmförmigen Gebilde find äußerft 
feiht und fchwimmen auf dem Wafjer; man wendet daher 
die Darftellung von Brodiefhem Graphit gern zur möglichit 
volljtändigen Reinigung eines blättrigen Graphit3 an, indem 


man denfelben in Wafjer einträgt, wobei die fremden Bei— 
(226) 


9 


mengungen unterſinken und der reine Graphit abgeſchöpft werden 
kann. Zur Bleiſtiftfabrikation dürfte das Verfahren aber kaum 
je im Großen Anwendung gefunden haben, weil das entſtehende 
Produkt immer noch zu ungleichmäßig iſt und zahlreiche größere 
Blätthen von Graphit enthält, welche wieder mechanijd) zer- 
trümmert werden müßten. 

Wirklich gute Bleiftifte werden daher nur mit den im 
Naturzuftande ſchon feinfchuppigen Vorkommniſſen hergeſtellt, 
welche ein um ſo werthvolleres Material darbieten, je reiner 
und je gleichmäßiger ihre Beſchaffenheit iſt. Im übrigen fällt 
der hohe Preis des Rohmaterials nur bei den feinſten und 
daher ſehr theuren Sorten von Graphit einigermaßen ins 
Gewicht, da der Materialverbrauch ja ein äußerſt geringer iſt, 
ſo daß die geſamte Bleiſtiftfabrikation der Welt heutzutage noch 
nicht 4% der Geſamtproduktion an Graphit abſorbirt. 

Da es bis heute fein im Großen anmwendbares Verfahren 
giebt, um feinvertheilten Graphit aus einem Geftein zu ijoliren 
oder auch nur in demielben einzureichern, jo kann man auch von 
denjenigen Vorkommniſſen, in welchen der Graphit die richtige 
Beichaffenheit Hat, nur diejenigen gebrauchen, welche jchon im 
Naturzuftande jehr rein find. 

Graphite, welche für die Bleiftiftfabrifation zu dicht find, 
oder welche eine zu grobfchuppige Beichaffenheit haben, dienen 
hauptjächlich zu Zwecken der Metallurgie, vor allem der Stahl. 
induftrie, jowie zum VBronzeguß und in den Edelmetalljchmelzereien. 

Der dichte Graphit, welcher 3. B. den größten Theil der 
Produktion von Oeſterreich ausmacht, wird in feingemahlenem 
Zuftande in den Handel gebradt. Da es jedoch für alle metal. 
furgifchen Zwecke von großem Nachtheil ift, wenn Schwefel, 
jelbft in Spuren, vorhanden ift, müffen diejenigen Vorkomm— 
nilfe, welche mit Schwefelkies vermengt find, und das ift der 


häufigere Fall, zuerft auf das forgfältigfte von diefem Mineral 
(229) 


—* 





befreit werden. Dies geſchieht durch umfangreiche Schlemm— 
vorrichtungen, wie ſie z. B. im ſüdlichen Böhmen angewandt 
werden, in welchen das feinzermahlene Geſtein mit Waſſer auf— 
bereitet wird. Das ſchwerere Erz fällt in den erſten Setzkäſten 
zu Boden, und ſchließlich erreicht man durch dieſe Behandlung 
ein völlig ſchwefelfreies Produkt. 

Die Verluſte an Graphit ſind natürlich dabei ziemlich be— 
deutend, und außerdem wird durch die ganze, ziemlich umſtänd— 
lihe und zeitraubende Manipulation nicht3 weiter erreicht, als 
eben die Entfernung des jchwefelhaltigen Erzes; im übrigen ift 
der Graphitgehalt des Rohmateriald wie der „Raffinaden“ 
ziemlich derſelbe. Daß man daher jolche Eojtjpielige Vor: 
bereitungen dort unterläßt, wo der Graphit jchon im Natur: 
zuftande frei von Schwefel ift, liegt auf der Hand. 

Derartige jchwefelfiesfreie Graphite, wie z. B. die Bor: 
fommniffe aus Steiermarf, werden einfach jortirt und dann ge- 
mahlen; die jo erhaltenen „Mehle” find den bejten böhmijchen 
Raffinaden völlig gleichwerthig, wenn auch in vielen Fällen der 
an die Form der Raffinaden gewöhnte Abnehmer denjelben viel 
Mißtrauen entgegenbringt. Auch unter den dichten Graphiten 
jelbjt kann man noch einige Abjtufungen unterjcheiden; jo laſſen 
3. B. die Vorkommniſſe des Böhmerwaldes bei mikrojfopijcher 
Betrachtung die einzelnen Graphitindividuen noch als Kleine, 
aber wohlausgebildete Kryitalle erkennen, während man in 
anderen Varietäten jelbjt bei jtarfen Bergrößerungen nur einen 
gleichmäßig feinen, ſchwarzen Staub erkennt, welcher das ganze 
Gejtein erfüllt. Die erjteren haben noch einen verhältnigmäßig 
glänzenden Strid,, während der Strid der am feinjten ver- 
theilten Graphitjerten ganz matt und rußartig ijt und diejelben 
aud ein viel geringeres ‘Färbungsvermögen befiten. Sie er- 
ſcheinen daher bei gleichem Graphitgehalt viel weniger anjehnlich 
als die nicht jo volljtändig dichten Sorten und werden im All: 


(230) 


11 


gemeinen auch weniger gern gekauft und jchlechter bezahlt. 
Thatjählic find aber für die in Betracht kommenden Zwecke 
die verjchiedenen, dichten Varietäten ziemlich gleichwerthig. 

Die Hauptjählichjte Verwendung finden die dichten Gra- 
phite bei der Gußjtahlfabrifation, indem fie einestheild zur 
Heritellung der Tiegel verwendet werden, anderentheil® zum 
Auslegen der Stahlformen dienen. Die Schmelztiegel, welche 
aus feuerfeitem Thon unter Zujag von dichtem Graphit ber: 
gejtellt werden, haben allerdings durchaus nicht alle werthvollen 
Eigenſchaften in gleihem Maße, wie diejenigen, zu deren SHer- 
ftellung Schuppengraphit verwendet wurde. Aber da die Tiegel 
bei den enorm hohen Temperaturen, welchen fie zum Schmelzen 
des Stahls ausgeſetzt werden, doch nicht öftere Schmelzungen 
aushalten würden, und die Preisdifferenz zwijchen dem dichten 
und dem jchuppigen Graphit eine jehr bedeutende iſt — der 
legtere fojtet das ſechs- bis achtfache des erjteren —, jo benußt 
man in der Stahlinduftrie fait ausjchließlich dichte Graphite zur 
Anfertigung der Ziegel. Diejelben Halten im Allgemeinen nur 
einen bis zwei Güfje aus. Große Mengen von jolhem dichtem 
Graphit werden auch zum Auslegen der Gußformen verwendet, 
um ein leichteres Ablöjen des Guſſes von der Form zu ermög- 
lichen. Endlich benugte man derartige dichte Graphite zum 
Anjtreichen eijerner Gegenjtände gegen das Roſten; namentlich 
eijerne Defen werden mit einem Schußanftricdy von Graphit ver: 
jehen, welcher fich hierzu wegen feiner jchweren Berbrennbarkeit 
bejonders eignet. Beſſer ijt allerdings auch zu ſolchen Zweden 
ein feinjchuppiger Graphit, da derjelbe einestheil3 noch viel 
langjamer verbrennt als die dichten Varietäten, und weil er dem 
betreffenden Gegenjtande infolge jeines glänzenden Striches ein 
jehr viel jchöneres Ausjehen verleiht. Die Differenz im Preije 
läßt aber auch hier zumeijt die Verwendung der minderwerthigen, 


dichten Sorten geeigneter erjcheinen. 
(231) 


12 


Während man mitteljt techniſch möglicher Verfahren den 
Graphit in einem Geftein weder ijoliren noch ihn auch nur 
fonzentriren kann, wenn er in feiner Wertheilung zugegen ift, 
und daher von den dichten Graphiten nur die reicheren technifch 
verwerthet werden können, ift dies bei den Schuppengraphiten 
anders. Einestheils wird der jchuppige Graphit, welcher in der 
Hauptjahe zur Anfertigung von Tiegeln für den Bronzeguß, 
fowie für die Schmelzung der Edelmetalle dient, nur in jehr 
viel reinerem Zuftande dem Thon hinzugefügt, als dies bei den 
dichten Varietäten der Fall ijt, anderentheils läßt er fich leicht 
von der Hauptmafje feiner Verunreinigungen befreien. Zumal 
die Aufbereitung der Gejteine, welche an ſich verhältnigmäßig 
graphitarm find, auf trodenem Wege liefert im Paſſauer Graphit- 
diftrift gute Nejultate, und der auf dieſe Weiſe hergeftellte 
„Flinz“ Hat zum Theil einen jehr hohen Gehalt an Graphit 
gegenüber dem urjprünglic” angewandten Rohmaterial. Zu 
diefem Zwecke werden die graphithaltigen Geſteine zeritampft, 
wobei die fteinigen Gemengtheile zu Staub werden, die Graphit- 
blättchen aber fich nur wenig verändern, und dann bläft oder 
fiebt man den Staub ab und erhält weitaus den größten Theil 
des Graphits in jehr gleichmäßiger Größe und ziemlicher Rein- 
heit, wie er für die Tiegelfabrifation gebraucht wird. Je größer 
und gleichmäßiger die einzelnen Graphitichuppen in einem der- 
artigen Gejtein find, dejto reiner wird der „Flinz“ und defto 
größer ift die Ausbeute, welche die Verarbeitung liefert. Bei 
der ungleihmäßigen Ausbildung aber, welche der Graphit häufig 
in einem und demſelben Gejtein hat, wäre nichts verfehrter, als 
aus dem Gejamtkohlenftoffgehalt eines ſolchen Gefteind auf 
jeinen technifchen Werth zu jchließen, vielmehr ift eine jolche 
Werthſchätzung ſtets eine rein jubjeltive, und es erfordert viel 
Erfahrung, um ohne eingehende Verſuche zu beftimmen, welchen 
Werth das Nohmaterial für diefe Art der Aufbereitung befikt. 


(232) 


15 


Unter Umftänden liefert ein Gejtein mit nur 25° Graphit 
eine bejjere und größere Ausbeute als ein jolches, welches im 
Naturzuftande 50—60 °/o aufweilt. 

Zum Behuf der Tiegelfabrifation und namentlich zur Her- 
jtellung einer Primaware muß der Graphit möglichjt vollkommen 
von allen denjenigen Beimengungen befreit werden, welche geeignet 
find, die Feuerbeftändigkeit des Thons, mit welchem er jpäter 
vermengt wird, zu gefährden. Schlecht gereinigte Schuppen: 
graphite ebenjo wie die gejamten dichten Graphite fann man 
nur zu minderwerthigen Sorten verwenden, in welchen der 
Graphit aber auch oft durdy Abfälle von Retortentohle, ſowie 
durch Kokes erjegt wird. 

Der Unterjchied, welcher bei der Tiegelfabrifation zwijchen 
der Brauchbarfeit eines ſchuppigen und derjenigen eines ebenjo 
reinen, dichten Graphit3 bejteht, ijt merfwürdigerweije ein jehr 
bedeutender; die mit leßterem hergejtellten Ziegel bejigen nicht 
den zehnten Theil der Widerjtandsfähigfeit der erjteren. Eine 
Erklärung der Urſache diefer Berjchiedenheit ift aber doch nicht 
zu jchwierig. Der jchuppige Graphit, welcher innig mit dem 
Thon gemengt ijt, bildet innerhalb desfelben nad) dem Brennen 
eine Urt von mehr oder weniger zujammenhängendem Gerüft, 
welchem der Thon feine Feitigkeit giebt. Da nun die einzelnen 
Graphitblättchen ſich nad ihren Spaltflähen außerordentlich 
leicht verjchieben, erhält der Ziegel einen Hohen Grad von 
Elajtizität, welche ihn gegen rajchen Temperaturwechjel un- 
empfindlich macht. Dagegen ijt im anderen Falle Thon und 
Graphit mehr gleichmäßig gemengt; die einzelnen Graphit: 
individuen treten nicht in Kontakt miteinander und der Tiegel 
bat nur eine geringe Widerftandsfähigfeit gegen das Zerjpringen. 

Zur Fabrikation guter Graphittiegel, wie fie namentlich 
für die Edelmetallichmelzereien, aber auch zum Bronzeguß ıc. 
gebraucht werden, wird der Graphit zunächſt möglichit gleich. 


233) 


mäßig zerkleinert, was bis zu einer gewifjen Grenze nicht allzu 
ſchwierig, aber immerhin ziemlich langwierig ift, und dann mit 
dem viertel bis halben Volumen eines möglichft feinen, feuer- 
feften Thons zuſammengebracht, mit welhem er durch eigene 
Miſchmaſchinen möglichit gleichmäßig gemengt wird. Die jo 
vorbereitete Mafje wird auf der Töpferfcheibe oder in Formen 
gedreht und dann der geformte Ziegel im Ofen gebrannt. Die 
oberflähliche Graphitichicht verbrennt im Flammofen ziemlich 
leicht und die Tiegel brennen fich daher leicht weiß, ohne dabei 
aber ihre Eigenjchaften zu ändern, da der in der Thonmaſſe 
gleichmäßig vertheilte Graphit vor der Oxydation geſchützt bleibt. 

Gute Graphittiegel find nicht jo porös, wie andere feuer- - 
feite Ziegel, fie jchluden daher weniger Metall ein als Die 
anderen, was namentlich; beim Schmelzen von Edelmetallen in 
Trage fommt. Bei richtiger Behandlung geht ein guter Graphit. 
tiegel eigentlich erit dadurch) zu Grunde, daß allmählich die 
feuerfefte Thonmaſſe an den oberen Theilen abjchmilzt uud die 
Wandungen bier daher allmählich jo dünn werden, daß fie das 
Gewicht der Metallmafje nicht mehr aushalten. Die beiten aus 
Schuppengraphit hergeftellten Sorten laſſen fünfzig, jechzig, ja 
fiebzig Güffe von ſehr Schwer jchmelzbaren Metallen zu, während 
die aus dichtem Graphit hergeftellten nach zwei bis vier Güfjen 
zerberften. Bor der Verwendung eines jolhen Tiegels jollte 
man aber ftet3 die Vorficht gebrauchen, denjelben durch Aus- 
ichmelzen von einem ſehr geringen, aber fajt jtet3 vorhandenen 
Gehalt an Schwefel zu reinigen, da jonft die erjte Schmelze 
gern brüchig wird. 

Der Graphit verleiht den Tiegeln noch eine Anzahl anderer, 
für die technische Verwendung werthvoller Eigenjchaften, welche 
hauptjächlich in dem hohen Leitungsvermögen de3 Graphits für 
Wärme und Elektrizität begründet find. Dadurd erhalten die 
Graphittiegel einige bejondere Vorzüge metallener Tiegel, ohne 


(234) 


15 


gleichzeitig deren Fehler zu bejigen, welche vor allem in ber 
leichten Legirbarfeit der Metalle begründet find und metallene 
Ziegel für alle in Betracht kommenden Zwecke der Metallurgie 
unmöglid) machen. 

Die Eigenjchaften eines guten Graphittiegel3 find daher 
neben der nöthigen Feſtigkeit und Feuerbeſtändigkeit, welche Durch 
die Auswahl des Thons bedingt werden, eine hohe Widerjtands- 
fähigkeit gegen jchroffen Temperaturwechſel und gute Leitungs: 
fähigkeit für Wärme und Elektrizität. 

Die Verwendung des Graphit? in der Galvanoplaftif 
ift gleichfalls tecyniich von hohem Werthe, indem man Gegen» 
ftände, welche die Elektrizität nicht leiten, wie Gipsformen ꝛc., 
durch einen dünnen Graphitüberzug leitend machen fann, ohne 
dadurch ſelbſt das feinjte Detail im Relief der Form zu ver: 
wilchen. Der Graphit haftet infolge feiner fettigen Beichaffen- 
heit in einer äußerjt dünnen, zufammenhängenden Haut auf dem 
beftrichenen Gegenstand und geftattet jo, Formen aus verjchieden- 
artigftem Material auf galvanoplaftifchem Wege zu reproduziren, 
wobei gleichzeitig durch die dünne Graphitfchicht ein Teichtes 
Ablöjen des Abdrudes von der Form ermöglicht wird. Zu 
diefen Zwecken allerdings ift bejonders reiner Graphit von fein. 
blättriger Beichaffenheit noihiwendig, damit der Ueberzug möglichft 
zufammenhängend wird, und man verwendet daher hierzu mit 
großem Nuten den obenerwähnten Brodiejhen Graphit. 

Eine weitere Berwerthung findet der Graphit als Schmier- 
mittel zur Verminderung der Reibung von Majchinentheilen, 
wozu ſich das Mineral infolge feiner fettigen Beichaffenheit und 
jeiner Weichheit vorzüglich eignet. Auch das Hierzu verwerthete 
Material muß natürlich auf das jorgfältigfte von allen, nament- 
lid) härteren, fandigen Beimengungen befreit werden, und man 
erzielt auch bier mit dem Brodieſchen Graphit die beſten Reſul— 


tate. Die Graphitichmierung haftet außerordentlich lange auf 
(235) 


16 





den betreffenden Metalltheilen und befigt jchon dadurch einen 
großen Vorzug gegenüber anderen Schmierungsverfahren. Auch 
als Dihtnng von Dampftefjeln werben graphithaltige Kitte mit 
großen Nuben verwendet. 

Endlich ift der Graphit ein für viele Zwede brauchbares 
Polirmittel, welches namentlich in der Bulverfabrifation 
verwendet wird, aber auch in einer Reihe anderer Induſtrie⸗ 
zweige, jo 3.8. zur jogenannten Glanzvergoldung von Bilder- 
rahmen und anderen Qurusgegenftänden viel benugt wird. Die 
Verwendbarkeit de3 Graphit in der Technik ift jomit eine jehr 
mannigfache, aber weitaus am wichtigſten, weil er da überhaupt 
unerjegbar ift, bleibt jeine Verwendung zur Anfertigung von 
Dleiftiften und Graphittiegeln. Je nad) der Verwerthbarkeit 
und der Menge der Vorkommniſſe ift der Preis der verjchiebenen 
Graphitjorten ein äußerſt verfchiedener. Am wenigjten gejchägt 
find die ganz dichten Graphite, welche von der Stahlgießerei in 
jehr bedeutenden Quantitäten verbraucht werden und die zum 
Theil in Form von Raffinaden (Böhmen) oder Mehlen (Steier- 
mark) in den Handel kommen und vor allem die Eigenſchaft 
bejigen müſſen, neben einem nicht unter etwa 50°/o herab» 
gehenden Gehalt an Graphit völlig frei von Schwefel zu jein. 
Gute Produkte diefer Art mit einem durchſchnittlichen Gehalt 
an Graphit von 60 bis 70% — 80P%/oige find jehr jelten — 
werden nur mit 35—65 Mark pro Tonne bezahlt. Die Beur- 
theilung ſolcher Vorkommniſſe nach) dem äußeren Anjehen ijt indes 
jehr jchwierig, da der feinvertheilte Graphit ein jtarfes Färbungs- 
vermögen beſitzt. Namentlich) der Laie wird Leicht jchlechte, 
graphitarme Raffinaden für reines Material anjehen und aud) 
dem Geübten giebt die wünjchenswerthe Sicherheit in der Beur: 
theilung nur die quantitative Beſtimmung des Gehalts an Kohlen: 
ſtoff. Wie ſchon aus dem niederen Preis der Verkaufsware 


hervorgeht, jind derartige Graphite am weitejten verbreitet, und 
(236) 


17 


diejelben finden fich in äußerft mächtigen Ablagerungen. Da 
aber eine Reinigung ſolcher Vorkommniſſe von ihren Beimengungen 
in der Technik nicht ausgeführt werden fann, eignen ſich die— 
jenigen, in welchen der Gehalt an Graphit unter 40 bis 45°/o 
herabſinkt, zur Verarbeitung überhaupt nicht mehr, und dieje 
find daher auch dann, wenn die Gewinnungetoſten ſehr niedere 
ſind, ziemlich werthlos. 

Sehr viel theurer ſind die Schuppengraphite, welche in ge— 
reinigtem Zuſtande faſt zehnmal ſo hoch bezahlt werden, wie 
jene, wobei allerdings zu bedenken iſt, daß die Ware dann 92 
bis 980/0 Graphit enthält. Die Vorkommniſſe der Inſel Ceylon, 
welche ſchon im Naturzuſtande dieſe reine Beſchaffenheit auf— 
weiſen und daher auch faſt ausſchließlich als Naturware in den 
Handel kommen, ſtellen daher bei der enormen Menge, in welcher 
dort Graphit gewonnen wird, außerordentlich hohe Werthe dar; 
aber auch die Gewinnung des ſchuppigen Graphits aus Geſteinen, 
welche nur 25 bis 30°/, davon enthalten, rentirt ſich noch recht 
gut, wie die Berhältnifje im Gebiete von Paſſau beweifen, 
zumal wenn die Förderung eine wenig Eojtjpielige iſt. Bei der 
Beurtheilung des technifchen Werthes eines Gefteines, welches 
Schuppengraphit enthält, verfällt man leicht in dem entgegen: 
gejegten Fehler, wie bei der Betrachtung der dichten Graphite. 
Während man dort zu leicht den Gehalt von Graphit über: 
ſchätzt, iſt man bier viel eher geneigt, nod) wohl verwerthbare 
Geſteine al3 -minderwerthig zu betrachten, da diejelben ein oft 
ganz unanjehnliches Ausjehen bejigen. Der in Schuppen auftretende 
Graphit bewirkt erjt bei einem ziemlich hohen Gehalt eine Schwarz- 
färbung des Gejteins. Uber auch die quantitative Bejtimmung des 
Kohlenjtoffgehaltes giebt hier fein genaues Bild des technijchen 
Werthes eines jolchen Gejteins, da bei der Aufbereitung je nad) 
der mehr oder minder ungleichmäßigen Beichaffenheit des Graphits 


ein größerer pi geringerer Theil desjelben verloren geht. 
Sammlung. N. 5. XIII. 295. 2 (237) 


18 


Am höchſten im Preife jtehen die für die Bleiftiftfabrifation 
geeigneten Vorkommniſſe, welche entweder eine jehr feinichuppige 
oder eine feinfajerige Bejchaffenheit haben müfjen und die dazu 
ihon im Naturzuftande den nothwendigen Grad von Reinheit 
aufweifen. Wenn auch heutzutage die früher für den englijchen 
Graphit bezahlten Preije bei weitem nicht mehr erzielt werden, 
für welchen bis zum zehntaujendfachen des für den dichten 
Graphit heute bezahlten Preijes erreicht wurde, jo jtellen bie. 
jelben doch immer noch ein ſehr fojtbares Material dar, deſſen 
Werth allerdings je nad) der Qualität des Graphit und der 
Lage des Marktes jehr bedeutenden Schwankungen unterliegt. 

Die wichtigſten Produftionsgebiete für Graphit find: 
Dejterreich, wo in den Kronländern Böhmen, Mähren, Nieder- 
Öfterreih und Steiermark an zahlreichen Punkten mehr oder 
minder reiche Zagerjtätten von Graphit ausgebeutet werden, von 
welchen allerdings die meiften — mit Ausnahme ganz ver- 
einzelter böhmiſcher Bleiftiftgraphite — eine dichte Beichaffenheit 
haben und daher fajt nur für Gießereizwede, ſpeziell für den 
Nohguß in Frage kommen. Die Jahresproduftion beträgt 
zwiichen 25000 und 30000 Tonnen, wodurd ji), was die 
Menge des NRohmaterials betrifft, Defterreih in gleiche Linie 
neben Ceylon ftellt. Die Produktion auf Ceylon beziffert fich 
gegenwärtig gleihfal8 auf etwa 30000 Tonnen* pro anno, 
aber Geylon liefert faft ausſchließlich großblättrigen bis grob» 
ftengligen Graphit, welcher für die Tiegelfabrifation das werth— 
vollite Material bildet, da fi) der „Ceylon-Graphit“ außer 
durch feine großblättrige Beichaffenheit durch einen hohen Grad 
von Reinheit auszeichnet, welcher koſtſpielige Reinigungsprozefje 
völlig unnötig macht. „Prima“ Graphit von Ceylon enthält 

* An den legten Jahren ift ein äußerjt rapides Sinken der Ceyloner 
Produktion zu verfolgen, welches mit einer ſtarken Preisfteigerung Hand 
in Hand geht. 


238) 


19 





95 bis 98”, Kohlenftoff, während minderwerthige Sorten immer 
noch 80 bi8 85° aufweilen. Im Gegenjab dazu ergeben die 
beiten in Defterreich produzirten Sorten nur 36 big 88%, Kohlen. 
ftoff, und dieje bilden einen jehr geringen Theil der Geſamt— 
produftion, während die meiften nur etwa 50 bis 70°, Kohlen. 
ftoff enthalten. Die Menge des in dem Rohmaterial gewonnenen 
reinen Graphits ift daher in Dejterreich jährlich etwa 15. bis 
18000 Zonnen, während in dem auf Geylon im Verlaufe eines 
Jahres geförderten NRohgraphit über 25000 Tonnen reinen 
Sraphites vorhanden jind. 

Neben diejen beiden, für die Graphitproduftion wichtigiten 
Gebieten, iſt die Bedeutung der übrigen graphitproduzirenden 
Länder eine jehr untergeordnete. Die Produktion an Roh— 
graphit, welche Deutjchland aufweilt, beträgt im jährlichen 
Durhichnitt den zehnten Theil derjenigen in jedem der beiden 
vorher erwähnten Gebiete, aljo etwa 3000 Tonnen. Es fommt 
dafür ausschließlich Bayern in Betracht und auch von Ddiejem 
nur ein furzer, jchmaler Streifen nächſt der öjterreichijchen 
Grenze nordöftlic) von Paſſau, welcher eine reiche und ergiebige 
Graphitlagerftätte umfchließt, die ſchon jeit mehreren Jahr— 
hunderten ausgebeutet wird, ja vermuthlid) das ältejte Vor— 
fommniß darjtellt, welches überhaupt Graphit für technijche 
Zwede geliefert Hat. Leider ijt hier Heute, wie vor Jahr: 
hunderten, im Allgemeinen von einem ſyſtematiſchen Betrieb Feine 
Rede; die Förderung des Graphits, welche fich jelbjt bei den 
ungünftigen gejeglichen Verhältniſſen vorzüglich rentirt, wird 
von den einzelnen Grundbejigern bewerkjtelligt, und uur ein 
einziges, der Firma Befjell in Dresden-Neuftadt gehöriges 
Bergwerf in der Kropfmühle bei Hauzenberg wird im berg: 
männifchen Sinne geleitet. Dasjelbe zeigt zur Genüge den 
hohen nationalöfonomifchen Werth, welchen die Bafjauer Lager: 
ftätte bei fyftematifcher Ausbeutung befigt. 


9 (239 


20 





Der bier gewonnene Graphit ift ein guter Tiegelgraphit; 
im rohen Buftande allerdings jehr unrein, 25 bis 50% E., wird 
er durch trocdene Aufbereitung zu einem hohen Grade von Rein: 
heit gebracht (92 big 94°, E.), und der jo gewonnene „Flinz“, 
welcher zur Anfertigung der Paſſauer Tiegel dient, jtellt ein 
durchaus dem Geyloner Material ebenbürtiges Produkt dar. Der 
Ichlehte Ruf, in welchen der in Pafjau gewonnene Graphit 
namentlih auch durch wiſſenſchaftliche Unterfuchungen gebracht 
wurde, erjcheint durch die thatjächlichen Verhältniſſe in nichts 
gerechtfertigt, und das Uebergewicht des Ceylon-Graphites beruht 
nicht in der bejjeren Qualität des jchlieklich zur Verwendung 
fommenden Produktes, jondern hauptſächlich auf der großen 
Mafje der dortigen Produktion, fowie darauf, daß der für Die 
Tiegelfabrifation nöthige Grad von Reinheit, welchen der Bafjauer 
Graphit* erft durch mehr oder weniger foftipielige Reinigungs. 
verfahren erhält, den Geyloner jchon im Naturzuftande aus. 
zeichnet. Während daher Ceyloner Rohmaterial mit 300 bis 
400 Mark, die allerreinjten und grobftengligen Varietäten 
jelbjt mit 600 Marf pro Tonne loco gezahlt werben, koſtet 
die Tonne PBafjauer NRohgraphit nur 55 bis 65 Marf. Ges 
ringere Mengen von Graphit produziren in Europa noch Frank: 
reich, Italien und Spanien, während England, welches früher 
durch das Vorkommen des beiten, ja damals einzigen „Bleiftift”: 
Graphit ausgezeichnet war, heute feinen Bedarf ausſchließlich 
durch Import dedt. Die vermuthlich ziemlich reichen Graphit- 


* Die abjprechenden Bemerkungen, welche namentlih in englijchen 
Schriften über das „German blak lead“ enthalten jind, beziehen fich 
zumeift gar nicht auf den Paſſauer „Flinz“, jondern auf die dichten Vor— 
fommnifje von Böhmen, Steiermarf ıc., welche, wie jchon oben bemerft, 
für die Tiegelfabrifation ein minderwerthiges Material darftellen. Deutich. 
land jelbit produzirt ausjchließlih Schuppengraphit, und dieſer ift, wenn 
jorgfältig gereinigt, für alle Zwecke der Tiegelfabrifation dem von Ceylon 
fommenden Material durchaus gleichtverthig. 

(240) 


21 


lagerftätten Rußlands, welche aber Heutzutage für die Produktion 
ohne Bedeutung find, liegen zumeiſt auf ajiatischem Boden. 
Von außereuropäiichen Vorkommniſſen find außer Geylon einige 
Punkte in den Vereinigten Staaten von Nordamerifa, 
fowie in Canada zu nennen, doch ijt die Produktion aud) 
dort eine verhältnigmäßig geringe, am bedeutendjten jcheint noch 
die Ausbeute in Sonora, Taolumne Cy., Californien, zu fein, wo 
ein guter Bleijtiftgraphit gewonnen wird (wurde?), fodann in 
Triconderoga, New York, welches jährlich einige Hundert 
Tonnen eines grobjchuppigen, dem Geyloner ebenbürtigen Ma- 
terial3 liefert. 

Ebenjo wie da8 berühmte englische Graphitvorfommen 
erlegen iſt auch dasjenige in den Batougolbergen bei 
Irkutsk an der fibiriich-mongolifchen Grenze, welches als 
„Nbiriicher Graphit“ oder „Alibert- Graphit” * bezeichnet wird. 

Der dort geförderte Graphit war das feinjte und bejte 
Material, welches jemals zur Bleiftiftfabritation diente, und 
übertraf auch das englifche Vorkommniß um ein Bedeutendes; 
die mächtigen Blöde von 97—98°/oigem, ganz gleichmäßig 
feinfajerigem Graphit, welche dort gewonnen wurden, find ung 
noch in zahlreihen Trophäen erhalten, welche, von dem Ent: 
deder mit funftvollen Schnigereien verjehen, auf den verjchiedenen 
Ausftellungen feiner Zeit berechtigte8 Aufſehen erregten; eine 
technische Wichtigkeit aber dürfte das Vorkommniß ſchon feit 
langen Jahren nicht mehr beſitzen. 

Die natürlihen Borfommnifje von Graphit find in mehr 
oder weniger hohem Maße verunreinigt, und es finden fich von 
den reinjten Graphitjorten, wie Ceylon- und Alibertgraphit, bis 





* Diejed Vorkommniß wurde 1838 von Tunkinsker Koſalen auf: 
gefunden, deren Chef Ticherepanomw dasjelbe 1847 um 300 Rubel an den 
Franzoſen Alibert verlaufte. Seit 1856 ift es in die Hände Fabers über- 
gegangen. 

(241) 





zu jolchen Gejteinen, weldhe den Graphit nur in einzelnen 
Blättchen oder in ganz feiner Vertheilung als Pigment enthalten, 
ale möglichen Uebergänge. Die Unreinigfeiten beftehen aus 
verjchiedenen Silikaten, aus Sarbonaten, aus Eiſenkies und 
endlich aus Rutil, welch letzterer der konſtanteſte Begleiter des 
Graphits ift. Chemifch rein erhält man den Graphit nur durd) 
öfters wiederholtes Schmelzen mit Kaliumhydroxyd, durch welches 
die ſchwer zerjeßbaren Beimengungen allmählich zerftört werden. 
Der jo dargeftellte Graphit verbrennt im Sauerftoffjtrom ftarf 
erhigt mit hellleuchtender Flamme ohne Rückſtand zu Kohlen- 
jäure, während „Rohgraphite“ und „Raffinaden“ ſtets mehr oder 
minder bedeutende Mengen von „Aſche“ zurüdlafen. Im 
übrigen ift der Graphit nicht jo ſchwer verbrennbar, als man 
gewöhnlich annimmt; es gelingt vielmehr durd) lange genug an— 
dauerndes Glühen über dem Bunfjen’schen Brenner bei Luft: 
zirfulation jede Graphitjorte in Kohlenſäure zu verwandeln, 
wobei allerdings die Orydation jehr langjam und nur bei den 
am feinjten vertheilten Varietäten unter Aufleuchten vor fich 
geht. Die Schnelligkeit der Verbrennung iſt dabei nicht nur 
von der Feinheit der Bertheilung, jondern ebenfo von der Menge 
der Verunreinigungen abhängig. 

Ringsum ausgebildete Kryitalle von Graphit find in der 
Natur ziemlich jelten. Sie finden fich zumeiſt eingewachjen 
in förnigem Kalt. Aber auch unter Beobachtung der äußerjten 
Vorſichtsmaßregeln gelingt es nicht, dieſelben unverleßt zu ifo: 
liren, da das weiche, jpaltbare und äußerjt biegjame Mineral 
bei der leiſeſten Berührung ſchon Deformationen erleidet. Daher 
ift auch die Frage nad) dem Kryſtallſyſtem des Graphit3 noch 
nicht ficher entjchieden, doch iſt es wahrjcheinlih, daß derjelbe 
rhomboödriſch Eryftallifirt. 

Häufiger als in Kryſtallen findet fi) der Graphit in fry- 
jtallinifchen Aggregaten, welche bald eine jehr grobblättrige, bald 


(242) 


eine mehr jchuppige und endlich eine ganz dichte Bejchaffenheit 
haben. Weit verbreitet find auch Iangjtenglige bis fajerige 
Aggregate, welche gewöhnlich aus bejonder8 reinem Graphit 
beitehen. Diejelben haben meift eine feitere Beichaffenheit als 
die blätterigen und jchuppigen Varietäten und pflegen auch eine 
viel gleichmäßigere Struftur aufzuweifen. Die Härte des Mi— 
nerals läßt ſich bei feiner jchuppigen Beichaffenheit nur jchwer 
feititellen, indes dürfte fie fich nicht allzu weit von 1 entfernen; 
der Graphit gehört jomit zu den weichjten Mineralien. Das 
Ipezifiiche Gewicht des volljtändig reinen Graphits ift 2,262 bis 
2,254, die Angaben darüber variiren indes jehr jtarf, da zu 
den Wägungen mehr oder minder unreine® Material verwendet 
wurde, weshalb die meilten Beſtimmungen zu hoch erjcheinen. 

Die Spaltbarfeit des Graphit3 nad der Bafis ijt höchſt 
vollftommen. Spaltblättchen zeigen hohen, diamantähnlichen 
Metallglanz und befigen eine eigenthümlich jchlüpfrige Beichaffen: 
heit. Die Farbe dichter Aggregate von Graphit, welche meift 
wenig anjehnlich find, ebenfo wie deren glänzender Strich ijt 
jchwarz; auf größeren Spaltblättchen dagegen erjcheint infolge 
des hohen Glanzes die Farbe etwas wechjelnd vom reinjten 
Eiſenſchwarz bis zu bläulichem Bleigrau. Der Graphit ift auch 
in dünnfter Schicht vollftändig undurdhfichtig: für die X-Strahlen 
aber gehört er ebenjo wie der Diamant zu den durchläſſigſten 
Körpern, und es iſt interefjant, wenn man bei einer folchen 
Durchleuchtung von Graphittafeln, welche Einjchlüffe anderer 
Mineralien enthalten, dieje legteren als Schatten aus dem lichten 
Grunde hervortreten fieht. Auf die hohe Leitungsfähigkeit des 
Graphits für Wärme, welche höher iſt als diejenige des Diamants, 
jowie für Elektrizität, welche beide Eigenjchaften jeine Verwendung 
zu Ziegeln bedingen, wurde jchon hingewieſen. Reiner Graphit 
fühlt fich jehr kalt an. Durch Reiben wird der Graphit, wenn 
ifolirt, negativ eleftriih. Daß der Graphit unfchmelzbar iſt, 


(243) 


24 
dürfte befannt fein, ebenfo wenig läßt er ſich als ſolcher ver- 
flüchtigen, wenigjtens nicht bei Temperaturen, welche im gewöhn- 
fihen Gebrauh in Trage fommen. Nur in der Hitze des 
eleftrifchen Flammenbogens jcheint er einen geringen Grad von 
Flüchtigkeit zu befigen. Gewifje jchuppige und blättrige Graphit- 
jorten geben, wie jchon oben -bemerft, eine höchit bemerfens- 
werthe Reaktion, indem fie fich beim Erhiten mit Salpeterjäure 
oder anderen jtarf orydirenden Mitteln, zu dem fogenannten 
„Brodiefchen” Graphit aufblähen. 

Dieje Erjcheinung, welche darauf beruht, daß die von dem 
Blättchen Fapillar aufgefangene Säure in der erhöhten Tempe— 
ratur unter gleichzeitiger, kräftiger Oxydation des Graphits eine 
große Menge von Dämpfen entwidelt, die das Blättchen auf- 
treiben, zeigen die Dichten Vorkommniſſe nicht, und man 
bat verjucht, auf Grund derjelben zwei verjchiedene Modifika— 
tionen des Graphit als eigentlichen „Graphit“ und ala „Gra, 
phitit” zu unterjcheiden. Doch ift diefe Trennung in der Natur 
der Sache nicht begründet. Die beiden Arten von Graphit 
unterjcheiden ſich nur durch die Art ihrer Vertheilung, find aber 
an fi durchaus identisch. Hier muß ferner bemerkt werden, 
daß vielfah von „amorphem” Graphit die Rede ijt; auch dieje 
Bezeihnung ift völlig unberechtigt, indem fie fi) auf Varietäten 
bezieht, welche durch dichte Struktur ausgezeichnet find, im 
übrigen aber ebenjo wie die grobjchuppigen aus Aggregaten 
fryitallifirter Individuen bejtehen, alſo durchaus nicht amorph 
find. Sehr Häufig allerdings findet ſich der Graphit in ftaub- 
artig feiner Vertheilung (jog. Graphitoid) und es ift dann oft 
recht jchwer, feine kryſtalliniſche Natur jelbft unter dem Mikro: 
ſtop zu erfennen, aber in allen Fällen ift die Grenze zwijchen 
dem fryftallifirten und dem amorphen Kohlenftoff eine durchaus 
ſcharfe, von Uebergängen zwijchen beiden kann nicht die Rebe jein. 

Bejonders bezeichnend ift in diefer Beziehung der Unterjchied 


(244) 


25 


zwijchen den verjchiedenen Arten des Kohlenſtoffs gegenüber der 
Einwirkung eine Gemenges von hlorjaurem Kali mit rauchender 
Salpeterfäure. Aller amorphe Kohlenftoff von der Retorten- 
fohle bis zum Kienruß wird dadurch ziemlich leicht zu einer 
braunen Flüfjigkeit aufgelöft, während der Graphit dagegen eine 
ganz almählihe Ummandlung in eine gelbe, durchicheinende 
blättrige Subjtanz erleidet, welche in Salpeterfäure unlöslich ift, 
und die ein Orydationsproduft des Graphit darjtellt, das in 
jeiner Zuſammenſetzung und Konftitution allerdings noch jehr 
wenig befannt ift. Dieſes ftet3 kryſtalliniſche Produft, welches 
bis jegt überhaupt nur aus Graphit erhalten wurde, wird 
Graphitjäure genannt, und die Bildung dieſer Graphitfäure 
ift die ficherfte Reaktion auf Graphit, welche wir kennen. Die 
Graphitjäure behält in allen Fällen die Form des urjprüng- 
lihen Graphits bei, indem die Schüppchen des Minerals, ohne 
ihre Geftalt zu ändern, ganz allmählich gelb und durchicheinend 
werden. Man kann daher an denjelben durch Unterjuchung im 
Polarijationsmikroflop in allen Fällen den Nachweis liefern, 
daß der urjprüngliche Graphit kryſtalliniſch und nicht amorph 
war, auch wenn dieſer Nachweis an dem unveränderten Mineral 
nicht gelingt, da dies eben undurchfichtig ift und daher bei feiner 
Bertheilung eine Sicherftellung der Eryftallinichen Struktur nur 
jchwierig zuläßt. Durch ein Gemenge von hromjaurem Kali und 
Schwefelfäure dagegen wird der Graphit direkt zu Kohlenfäure 
orydirt. 

Die künſtliche Darftellung des Graphits gelingt auf mancherlei 
Weije: jo entfteht derjelbe ald Nebenproduft bei einigen technifchen 
Prozeſſen, unter welchen die Gewinnung des Eiſens in eriter 
Linie fteht. Der in dem jchmelzflüfjigen Eijen gelöfte Kohlen. 
ftoff kann von der erftarrenden Mafje nur zum Theil in Ver— 
bindungen zurücdgehalten werden, während der Ueberſchuß fich 


ın elementarer Form und zwar wahrſcheinlich bei normalen 
(245) 


26 





Berhältnifjen ſtets als Graphit ausjcheidet. Er bildet dann 
zum Theil größere Blättchen, welche aber auf dem Bruche des 
Eiſens wegen ihres metallähnlichen Ausjehens nur wenig hervor: 
treten, jo namentlich im weißen Roheiſen, welches bis über ein 
Prozent Graphit enthalten kann, oder er ift mehr gleich— 
mäßig in feinfter Vertheilung ausgejchieden, wodurch die lichte 
Farbe des Eiſens in Grau übergeht; man bezeichnet ſolche 
Eijenjorten als graues Roheifen, welches hin und wieder 2"/a 
bis 2°/4 Prozent Graphit führt. Indes ift, namentlich -in dem 
legteren Fall, eine Trennung des ald Graphit vorhandenen 
Kohlenstoffs von demjenigen Kohlenstoff, welcher ſich erſt beim 
Auflöfen des Eiſens durch Zerſetzung der Eifentarbide bildet, 
nirgends durchgeführt werden, obgleich derjelbe nicht allzu 
jchwierig jein dürfte, da durch das orydirende Gemenge von 
rauchender Salpeterjäure mit chlorjfaurem Kali die amorphe Kohle 
aufgelöft wird, bevor der Graphit noch merklich angegriffen: ijt. 
Auch die Schladen, welche bei Eijenhüttenprozefjen fallen, 
find nicht jelten, namentlich in den oberen Lagen, in hohen 
Maße graphithaltig, indem ſich der Kohlenitoff ebenjo wie in 
dem jchmelzflüfjigen Metall auch in dem Silikatſchmelzfluß löſt 
und von demjelben beim Erfalten als Graphit ausgejchieden 
wird. Im einzelnen Fällen findet man aud in den Blajen- 
räumen der Schladen in größerer Menge aufgewachjene Kryftalle 
von Graphit und auch Höhlungen und Rifje der Gejtelljteine* 
des Hocofens find Hin und wieder von Graphitkryftallen aus» 
gekleidet, welche ihrem ganzen Auftreten nah an Ort und 
Stelle auskryſtalliſirt find, alfo nicht als fertiger Graphit hinein- 
geblajen wurden. Dieje Bildungen weilen darauf hin, daß der 
Graphit beim Hochofenprozeß nicht nur durch Ausscheidung aus 
* Die Graphitbildnng dringt auch in die Geitellfteine jelbft ein und 
bildet Knötchen namentlih um Heine Schwefeltiestheile, wodurd die Steine 
geiprengt werben. 
(246) 


27 


dem Schmelzfluß entjteht, jondern daß er aud) aus irgend einer 
gasförmigen Verbindung durch Zerſetzung hervorgehen Fann. 

Noc viel deutlicher aber wird dieſe Erjcheinung in den ſo— 
genannten „Eijenfauen,“ welche ſich in den Hochöfen als ſchwer 
ſchmelzbarer Bodenjaß bilden. Dieje find oft jo reich an großen 
Graphitlamellen, daß es nicht wahrjcheinlich gemacht werden 
fann, daß all diejer Kohlenftoff in der geringen Menge des mit 
vorkommenden Metalls gelöſt gewejen wäre, ganz abgejehen davon, 
daß die meijt zahlreich vorhandenen Hohlräume der Mafje mit 
ichlechten, aber frei ausgebildeten Kryftällchen von Graphit be» 
jet find. Hier tritt der Graphit namentlich) auch mit dem fo- 
genannten Stidjtoffeyantitan zufammen auf, welches gleichfalls 
als bei hoher Temperatur verflüchtigt angejehen werden muß. 
Ferner jcheint mir die Bildung des ald „Garſchaum“ bezeich. 
neten Hochofengraphits beweifend für die Entjtehung des Graphit3 
aus gasfürmigen Subftanzen zu fein, welcher oft in enormer 
Menge niederfällt, jobald fich beim Aufmachen des Hochofens 
Gelegenheit zum Eindringen von Luft zu den über dem gejchmol- 
zenen Eijen lagernden Gajen bietet. 

Außer beim Eifenhüttenprozeß wurde früher wenigjtens 
ziemlich viel Graphit als Nebenproduft bei der Sodafabrifation 
bergeftellt. Wenn man nämlich die Cyannatrium enthaltenden 
Rückſtände des Leblancihen Verfahrens eindampft, jo findet 
plöglich ein Aufiprudeln der Lauge ſtatt und aus dem zerjeßten 
Eyannatrium jcheidet fi) Graphit in Menge auf der Oberfläche 
der Flüffigkeit ab. Heute wird Graphit für eleftriiche Zwecke 
namentlih durch Einwirkung ftarfer eleftriicher Ströme auf 
amorphe Kohle hergeitellt und in der allerlegten Zeit wurde 
ein Verfahren zur Darftellung von Graphit patentirt, welches 
auf der Bildung dieſes Mineral3 durch Zerjegung von Acetylen 
durch Wajjerjtoffjuperoryd unter hohem Drud beruht. 

Auch ſonſt fennen wir noch einige Methoden zur Darftellung 


(247) 


25 


von Graphit. Bejondere Wichtigkeit für die Kenntniß der 
Prozefje, durch welche der Graphit in der Natur entjtanden jein 
dürfte, befigt dabei die Erfahrung, daß der Graphit ſich außer 
durch Zerſetzung der Eyanverbindungen nur durch die Einwirkung 
von Kohlenoryd auf erhigte Metall», jpeziell Eijenverbindungen 
darjtellen läßt. Dabei bilden ſich vermuthlich die Kohlenoryd- 
verbindungen der Metalle, die jogenannten Karbonyle, welche bei 
verhältnigmäßig niederer Temperatur flüchtige und dabei leicht 
zerjegbare Stoffe find. Durch geringe Aenderungen in den um 
gebenden Faktoren zerjegen fich diefe Verbindungen, wobei fich 
unter befonderen Umftänden ein Zerfall in Metalloryd und Graphit 
einjtellt. Auf ganz ähnliche Verbindungen dürfte auch das plöß- 
liche Einfallen des als Garſchaum bezeichneten Graphit3 beim 
Eifenhüttenprozeß, jowie jeine Bildung innerhalb der Geitell. 
jteine zurüdzuführen fein, da dort gerade die günftigften Be— 
dingungen zur Entjtehung von Eijenfarbonylen gegeben find. 

Demgegenüber ift zu betonen, daß durch Zerjtörung der 
normalen Kohlenwafjerjtoffe und analoger Berbindungen niemals 
Graphit, jondern ftet3 nur amorpher Kohlenjtoff erhalten wurde, 
wenn die Zerfegung nicht in der hohen Temperatur des elektriſchen 
Flammenbogens oder unter gleichzeitigem Auflöſen des gebildeten 
Kohlenſtoffs in einem Schmelzfluß vor fi) ging, aus welchem, 
wie jchon oben angeführt, derjelbe bejunders leicht ald Graphit 
kryſtalliſirt. 

Denn die bei der Gasfabrikation ausfallende, ſogenannte 
Retortenkohle, welche wohl auch fälſchlich als Retortengraphit 
bezeichnet wird, iſt nichts weiter als eine ſehr feſte, aber amorphe 
Kohle und hat mit dem kryſtalliniſchen Graphit nichts zu thun. 
Wenn fie auch jchon eine höhere Leitungsfähigkeit für Wärme 
und Elektrizität bejigt, al andere, weniger kompakte Arten der 
amorphen Kohle, jo ift dieje Leitungsfähigfeit doch bedeutend 


niedriger als beim Graphit jelbjt und nur auf Kojten der fom- 
(248) 


pakten Beichaffenheit der Retortenkohle gegenüber den anderen 
Kohlen, wie 3.8. Holzkohle, Cokes ꝛc. zu jchreiben; ferner Löft 
fie fih in dem Gemenge von chlorſaurem Kali und Salpeter— 
fäure ziemlich leicht zu einer braunen Flüſſigkeit ohne Die 
Bildung einer Spur von Graphitjäure. Außerdem unterjcheidet 
fi) die Retortentohle vom Graphit durch ihre bedeutende Härte, 
welche ihre Verwendung zu Schleifiteinen, ſelbſt für den härteften 
Stahl, gejtatter, durch ihre völlig amorphe Beſchaffenheit und 
durch ihr niedrigere jpezifiiches Gewicht, welches etwa gleich 
1,8—1,85 ijt. Erſt durch die QTemperatur der eleftrijchen 
Bogenlampe läßt fie fich in eigentlichen, dichten Graphit ver: 
wandeln, welcher dann ebenjo wie der natürliche Graphit durch 
Oxydation Graphitjäure liefert. Schon daraus folgt, daß troß 
der Uebereinftimmung in der chemijchen Zuſammenſetzung des 
Graphit3 und der amorphen Kohle ein bedeutender Unterjchied 
in der Konftitution beider vorhanden ift, welcher die Verwand— 
lung der leßteren in erfteren nur unter bejonder8 gearteten, im 
der Natur jelbjt jelten in Betracht kommenden Berhältnifjen 
möglich erjcheinen läßt, jo daß man alſo nicht a priori an- 
nehmen darf, daß der Graphit ein normales Endglied in der 
Reihe der Kohlengejteine ijt, welche von Lignit und Braunkohle 
durch allmähliche Uebergänge zu den Eohlenftoffreichjten Anthra— 
eiten führt. So nahe die Uebereinjtimmung diejer letzteren mit 
dem Graphit in quantitativer Beziehung auch fein mag, fo ilt 
der in den natürlichen Kohlen vorhandene freie Kohlenftoff doc) 
ebenfo wie die Netortenfohle amorph, und fteht daher dem 
Graphit in jeinem ganzen Verhalten fern. Man wird aber 
nad) dem ganzen Verhalten des amorphen Kohlenftoffs nur unter 
beſonders intenfiv wirkenden chemisch-geologischen Verhältniſſen 
eine Umwandlung von Ktohlenablagerungen in Graphit erwarten 
dürfen. 

Der kryſtalliſirte Kohlenitoff, der Graphit, bildet einen 


(249) 


30 





häufigen Beftandtheil in denjenigen Gefteinen, welche man als 
kryſtalliniſche Schiefer zujammenfaßt, in jenen Gefteinen, die 
allenthalben als unterjtes, älteſtes Glied in der Reihe der 
geologischen Formationen erkannt find, und welche fi) außer 
durch ihre kryſtalliniſche Beichaffenheit auch dadurch von allen 
jüngeren Schichtgefteinen unterjcheiden, daß deutliche Reſte orga- 
nifcher Wejen in denjelben vollflommen fehlen. Wenn auch Hin 
und wieder die Nachricht auftauchte, daß in den Gefteinen der 
kryſtalliniſchen Schieferreihe erkennbare Foffilrefte gefunden wurden, 
jo ergab in allen Fällen eine genauere Unterſuchung, daß ent- 
weder die Webereinftimmung jolcher Gebilde mit organifirten 
Weſen nur eine jcheinbare war, und es fi) um eigenthümliche, 
aber ficher nicht auf organifcher Struftur beruhende Aggregationg» 
formen von Mineralien handelte; oder aber daß die kryſtalliniſchen 
Gejteine, in welchen unzweifelhafte Foſſilfunde gemacht worden 
waren, nicht als eigentliche, kryſtalliniſche Schiefer im engeren 
Sinne, aljo als Bejtandtheile der ältejten Formationen, angejehen 
werden dürfen, jondern daß fie, wie fchon aus der völligen 
Uebereinftimmung der in denjelben beobachteten Foffilrefte mit 
jolhen aus viel jüngeren Schichtenſyſtemen hervorgeht, um— 
gewandelte, den jüngeren, aus Trümmermaterial aufgebauten 
Gejteinen äquivalente Bildungen find, deren heutige kryſtalliniſche 
Beichaffenheit auf jekundäre, chemijch » phyfitaliiche Prozeſſe 
zurüdzuführen ift. Das erjtere war der Fall mit dem joge- 
nannten Eozoon aus der graphitführenden Gneißformation 
Canadas, Bayerns und Böhmens, das Iegtere mit den Petrefakten- 
funden in den fteirifchen Graphitlagerjtätten und in den „Eryitalli- 
niſchen Schiefern der Halbinjel Bergen in Norwegen. 

Wir müſſen fomit Heute fejthalten, daß die ältejten Ab- 
lagerungen, welche die Jugend unjerer Erde bezeichnen, Eryftalli- 
nische Gejteine find, in denen erkennbare Reſte organischer 
Wejen irgendwelcher Art nicht aufgefunden wurden, und daß 


(250) 


3l 
über dieſer Formationsreihe erſt das Auftreten organijchen 
Lebens in ziemlich hochentwickelten Formen zu beobachten iſt. 
Das Anfangsglied in der Entwicklungsgeſchichte, die Baſis, auf 
welcher ſich die ganze Theorie von der Entſtehung der Lebe— 
weſen aufbaut, iſt von der geologiſchen Forſchung bis heute 
nicht nachgewieſen worden. Man hat daher verſucht, in den 
mächtigen Ablagerungen kryſtalliſirten Kohlenſtoffs, welche uns 
die Graphitlagerſtätten darbieten, einen Beweis für die Exiſtenz 
eines großartig entwickelten organiſchen Lebens zu finden, welches 
in jenen weit zurückliegenden Epochen der Erdbildung ſich ab— 
geſpielt Hätte, und dem wir die Entſtehung der Graphitlager— 
ftätten zufchreiben müßten. Wie von den Braunfohlen in den 
jüngften zu den Steinfohlen in den mittleren und den Anthra: 
citen in den ältejten fojjilführenden Formationen mit dem Alter 
eine fortdauernde Zunahme des Gehalts an Kohlenjtoff in den 
aus den Reſten einer mächtigen Vegetation entjtandenen Kohlen- 
ablagerungen verfolgt werden kann, jo nahm man an, daß die 
in den allerälteften Gefteinen, den kryſtalliniſchen Schiefern ein- 
gelagerten Vorkommniſſe von Graphit nur als dag Endglied 
diejer Reihe der Kohlengejteine angejehen werden dürfen, welche 
in der langen Zeit, die feit dem Untergang der fie produzirenden 
Begetation vergangen ift, weitgehenden Umwandlungen ausgejegt 
waren und endlich) durch völligen Verluſt des Gehalt? an 
Wafjerftoff und Sauerftoff in den Eryftallifirten Kohlenftoff, den 
Graphit, übergehen mußten. Das Fehlen von deutlichen Spuren 
der urfprünglichen Organismen, welche ſonſt in allen Kohlen: 
ablagerungen in jo außerordentlicher Fülle beobachtet wurden, 
jollte einestheil3 damit zufammenhängen, daß die niedere Stufe 
der Entwidlung, welche die damaligen Organismen bejaßen, 
zu einer Erhaltung ihrer Form wenig geeignet war, und daß 
anderentheil3 durch die weitgehenden metamorphijchen Prozeſſe, 
die zur Bildung des Graphit nach diefer Anſchauung führen 


(251) 


32 


follten, auch ſolche Theile, welche vielleicht etwas erhaltungs: 
fähiger waren, durch die Umbildung des ganzen Gejteines 
zerftört wurden. 

Uber jchon der Unterjchied zwiſchen der NRetortenfohle und 
dem Graphit, auf welchen früher aufmerkſam gemacht wurde, 
und der al3 ein grundlegender bezeichnet werden muß, macht 
die eben ausgeführte Annahme wenig wahrjcheinlih,; denn es 
wird durch das Berhalten diejfer beiden Mopdifilationen des 
Kohlenjtoffes zur Evidenz bewiejen, daß die Ueberführung einer 
verhältnigmäßig Fohlenjtoffarmen Kohle in reinen, amorphen 
Kohlenftoff unter den verichiedenartigiten Bedingungen um vieles 
leichter vor fich geht, al8 die Umwandlung des Iehteren in 
Graphit, jo daß man aljo erwarten müßte, bei der gleich. 
mäßigen und langjamen Wirkffamfeit, welche wir den normalen 
Ummwandlungsprozejjen in der Natur zujchreiben müfjen, wenig- 
ſtens als Zwifchenglied zwijchen dem Anthracit und dem Graphit 
jolhe Ablagerungen amorpher Kohle in weiterer Verbreitung 
zu finden. Mit Ausnahme des fjogenannten Schungits aus 
dem Gouvernement Olonetz in Rußland wurde aber bis jeßt 
niemals von derartigen Bildungen berichtet, und auch für diefes 
Vorkommniß jcheinen die geologijchen Werhältniffe nicht Har 
genug zu fein, um dasſelbe als direften Beweis für den hypo- 
thetijchen, allmählichen Uebergang von Kohle in Graphit ver- 
werthen zu können. In allerhöchitem Maße aber jprechen die 
geologischen Beobachtungen in den Graphitlagerftätten ſelbſt, 
welche im Folgenden ausführlicher behandelt werden jollen, gegen 
die Unficht, daß fic) der Graphit durch eine Art von allgemeinem 
Metamorphismus aus Kohlengejteinen entwideln kann. Es 
ericheint jomit die Hypotheje völlig unhaltbar, daß das Vor: 
handenjein von Graphiteinlagerungen in den älteften Formationen, 
in welchen jonjtige Reſte von Lebeweſen fehlen, ebenfo als 


Beweis für die Eriftenz eines mächtigen, organijchen Lebens 
(252) 


33 


angejehen werden dürfen, wie etwa die Ablagerungen von Kohle 
in den jüngeren Bildungen. Alle Folgerungen, welche aus 
folhen Anfchauungen für das erjte Auftreten organischen Lebens 
auf unjerer Erde gezogen und für die Entwidlungsgejchichte jo 
vielfach ausgebeutet wurden, entbehren eines thatfächlichen Funda- 
mentes volllommen. Man erkennt gerade bei einem eingehenden 
Studium der Graphitlagerftätten aufs klarſte, welch' geringes 
Maß kritiſcher Beobachtung jelbjt bedeutenden Forſchern übrig 
bfeibt, wenn e3 fi) darum handelt, Vorausſetzungen, die be- 
wiejen werden jollen, zu beweijen. 

Im Gegenjaß zu der heute noch allgemein gemachten An: 
nahme, daß in den Graphitlagerjtätten ung die weitgehend um: 
gewandelten Reſte organijcher Gebilde erhalten geblieben wären, 
daß dasjenige, was uns heute ald Graphit vorliegt, aus dem 
urjprünglichen Holze riefiger Wälder während der allererjten 
Epochen unjerer Erdgeſchichte entftanden, die verjchiedenen Sta: 
dien von Braunkohle, Steinfohle und Anthracit durchgemacht 
hätte, um endlich nach weiteren Millionen von Jahren in den 
reinen, kryſtalliſirten Koblenftoff überzugehen, im Gegenſatz dazu 
finden wir bei einem einigermaßen fritiihen Studium der 
Grapphitlagerftätten, daß überall da, wo eine ſolche Umbildung 
organischen Material in Graphit nachgewiejfen werden fann, 
diefer Uebergang Fein allmählicher, durch lange Zeitläufe ſich 
vollziehender gewejen ift, jondern daß vielmehr unter den Ein- 
flüffen benachbarter vulkaniſcher Thätigfeit wie mit einem 
Schlage die Kohlen zu Graphit geworden find. Noch viel 
häufiger aber ijt die Erjcheinung zu beobachten, daß der 
Graphit den Gejteinen, in welchen er auftritt, nicht als pri- 
märer Gemengtheil angehört, jondern vielmehr — wiederum 
ſtets im Zuſammenhange mit vulfanischer Thätigfeit — wohl 
nad Art der Fumarolen in leicht zerjegbaren gasfürmigen Ver: 


bindungen aus der Tiefe der Erde, dem inneren vulfanischen 
Sammlung. NR. F. XII. 295. 3 (253) 


34 


Herde, hervorgebracht wurde und jomit rein anorganijcher Ent: 
ſtehung iſt. 

Die Art des Vorkommens von Graphit in der Natur iſt 
ſehr mannigfaltig und kaum in irgend einem anderen Kapitel 
der Geologie haben ſich ſo viele Irrthümer eingeſchlichen und 
unrichtige Anſichten ausgebildet, wie in der Lehre von den 
Graphitlagerſtätten. Plutoniſten und Neptuniſten ſtehen ſich 
hier am ſchroffſten gegenüber, ohne daß weder die einen noch 
die anderen Beweiſe für ihre theoretiſchen Anſchauungen durch 
ein eingehendes Studium der natürlichen Vorkommniſſe geſam— 
melt hätten. Denn ſeit ſo langer Zeit auch die techniſche 
Wichtigkeit des Graphits erkannt iſt, und obwohl an zahlreichen 
Punkten, welche inmitten von geologiſch aufs Genaueſte unter— 
ſuchten Gebieten liegen, Graphitlagerſtätten in großem Maße 
ausgebeutet werden, und daher die geologiſchen Verhältniſſe ge— 
rade dieſer Bildungen beſonders gut aufgeſchloſſen ſind, ſo iſt 
doch heute noch unſere Kenntniß der geologiſchen Bedeutung 
derſelben eine äußerſt lückenhafte. 

Es lohnt ſich daher wohl der Mühe, das wenige, was 
bisher über die Art des Vorkommens dieſes intereſſanten Mi— 
nerals bekannt geworden iſt, mit eigenen Beobachtungen zu— 
ſammenzuſtellen, welche der Verfaſſer bei einem detaillirten 
Studium einiger beſonders wichtiger Lagerſtätten von Graphit 
zu machen in der Lage war. 

Verhältnißmäßig ſelten iſt der Graphit als Gemengtheil 
vulkaniſcher Geſteine, und er iſt in denſelben wohl meiſt durch 
Umwandlung kohliger Fragmente entſtanden, welche von der 
ſchmelzflüſſigen Maſſe bei ihrer Eruption umſchloſſen wurden. 
daher findet er ſich hier auch kaum je in gleichmäßigerer Ver— 
theilung, ſondern vielmehr ſtets in einzelnen größeren Putzen von 
dichter Struktur vor wie z. B. in einem Porphyrgeſtein von 


Elbingerode am Harz; etwas gleichmäßiger verbreitet ſcheint er 
24) 


3 





nur in den diamantführenden Gejteinen am Cap, dem jog. Blue 
ground zu jein, über dejjen genauere petrographiiche Stellung 
aber eine völlig befriedigende Entjcheidung nicht gegeben wurde. 

Aufs engjte Schließen fic) hieran die Vorkommniſſe von Graphit 
in den Meteoriten, welche in ihrer Zujammenjetung joviel Ana» 
logie mit jenen diamantführenden Geſteinen aufweijen. Der 
Graphit ift in dichter Ausbildung ein äußerjt weitverbreiteter 
Gemengtheil derjelben, welcher allerdings zumeift nur in den meteo- 
rıichen Eifenmafjen in größerer Menge vorhanden ijt, aber aud) 
den eijenarmen Steinmeteoriten nicht zu fehlen jcheint. In ein- 
zelnen Meteoreiſen finden fich verhältnigmäßig große, rundliche 
Bartieen von Graphit, und man wird wohl zu der Annahme 
berechtigt jein, daß derjelbe hier, wie in unjerem Roheiſen, durch 
Ausfryjtalliiation aus dem Metall bei feiner Erfaltung ent- 
jtanden iſt. Es mag betont werden, daß in dem Meteoreijen 
wie in den Meteoriten der Diamant in vereinzelten Fällen als 
Begleiter des Graphits auftritt, und daß manchmal aud) völlig 
in Graphit umgemwandelte größere oder kleinere Diamant-Kry— 
italle in Meteoreifen beobachtet werden. 

In geringen Uuantitäten ijt Graphit in dem Bereiche der 
kryſtalliniſchen Schiefer und der durch die Berührung mit einem 
Eruptivgeftein umgewandelten jog. fontaftmetamorphijchen Ge: 
fteine ungemein häufig und die dunfle big jchwärzliche Färbung 
jolcher Gebilde läßt fich in den meijten Fällen auf den Graphit 
zurüdführen, welcher zum Theil in feinjter Vertheilung (als 
jog. Graphitoid) das ganze Gejtein imprägnirt, zum Theil aud) 
in mifrojfopifchen, aber wohl ausgebildeten Kryſtällchen vor» 
handen ift. Seltener ijt der Graphit in folchen Vorkommniſſen, 
in welchen er in untergeordneter Menge auftritt, deutlich jchuppig 
ausgebildet, und verhältnigmäßig größere Kryitalle finden ich 
nur in grobipäthigen Kalfen, welche im allgemeinen ihre jeßige 
Beichaffenheit durch Kontaktmetamorphoje erlangt haben; in ſolchen 


3* (255* 


36 
Geſteinen trifft man anderentheils dag Mineral aud) in rundlichen, 
tropfenförmigen, jehr dichten Aggregaten, welche aus bejonders 
reinem Graphit beftehen, wie 3. B. bei Wunfiedel im }Fichtel- 
gebirge. Die Vorkommniſſe in den förnigen Kalfen find aber 
meist von ganz untergeordneter Bedeutung, jo daß fie für die 
Tehnit faum in Frage fommen; dagegen kann der Graphit. 
gehalt in den ſilikatiſchen Schiefern oft jo bedeutend ſich an- 
reichern, daß abbaumwürdige, ja jehr reiche Graphitlagerftätten 
ſich entwideln, welche ftellenweije einen Graphitgehalt bis 90 ®/o 
aufweijen können, im allgemeinen allerdings viel ärmer (50 bis 
70 %/o Graphit) find. Derartige graphitreihe Vorkommniſſe 
führen bald ſchuppigen Graphit, welcher durch geeignete Be— 
handlung aus denjelben in ziemlicher Reinheit ijolirt werden 
fann, bald ift der Graphit hier jehr dicht, und die technijche Be— 
arbeitung des Rohmaterials bejchränft fi) dann auf eine Raffi— 
nirung, welche im allgemeinen eine Klonzentrirung des Graphit: 
gehaltes nicht zur Folge hat. Dieſen Typus der Lagerjtätten 
zeigen bejonder3 die öfterreichiichen Graphitlager, welche weitaus 
in der Hauptſache dichten Graphit in Schiefergefteinen verſchie— 
dener Art angereichert enthalten, jowie das Vorkommniß in 
der Umgebung von Paſſau, wo Schuppengraphit in der gleichen 
MWeije auftritt. Diejelben haben insgejamt gemeinfam, daß der 
Graphitgehalt in einzelnen Schichten bedeutend hervortritt, welche 
in einigen Fällen außerordentlich raſch ihre Mächtigfeit ändern, 
jo daß fie mehr als Aneinanderreihungen ftarfer „Linjen“ an- 
zujehen find, in anderen Fällen aber wieder im Streichen auf 
lange Streden in ziemlich gleihbleibender Mächtigkeit und ohne 
weitergehende Wenderungen in der Graphitführung aushalten. 
Ueberall aber find jolche Lager in mehreren Reihen neben ein- 
ander angeordnet, welche durch äußerjt graphitarme bis völlig 
graphitfreie Schiefergeiteine von einander getrennt werden, und 
eigentliche Uebergänge durch ein allmähliches Nachlafien des 


(256) 


37 


Graphitgehaltes find kaum je zu beobachten. Bejonders charaf- 
teriftiich ijt es für diefe Lagerftätten, daß fie häufig in Gejell- 
ſchaft Eryftallinifcher Kalfe auftreten, welche dann meijt auch in 
jehr geringem Maße graphitführend find. Und namentlich die 
Verbindung der Anhäufungen des Eryftallifirten Kohlenftoffs mit 
Kalkiteinen, welch leßtere ja jo häufig durch Organismen gebildet 
werden, wurde als Hauptftüge für die Anjchauung hervorgehoben, 
daß organische Weſen zur Entjtehung diefer Art von Lagerjtätten 
die Veranlafjung begeben haben. Bei der genaueren Betrach— 
tung der genetijchen Verhältniffe derjelben muß man die jchein- 
bar zujammengehörige Gruppe aber in zwei Abtheilungen zer: 
legen, von welchen die eine durch die jteirifchen Graphitlager- 
ftätten am öftlihen Ausläufer der Zentralzone der Alpen 
zwiichen St. Lorenzen und Kaijfersberg weſtlich von Leoben 
in Steiermark repräjentirt wird, während die andere ihre ſchönſte 
Ausbildung an der bayerifch-öjterreichischen Grenze zwijchen 
Hauzenberg und Obernzell nordweitlich von Pafjau erreicht, 
weniger typijch aber auch in den Lagerjtätten von Graphit am 
Südabhang des Böhmerwaldes vorliegt, wo eine Reihe graphit: 
reicher Streihen von Stuben und Schwarzbad in Böhmen 
in einem leicht gefrümmten Bogen über die Ausbiegung der 
Moldau Hinüberjegt und bei Budweis ihr Ende erreicht. 

Die Gefteine, in welchen die fteirifchen Ablagerungen auf: 
treten, find ficher nicht kryſtalliniſche Schiefer im eigentlichen 
Sinne, jo jehr ihre heutige mineraliſche Zuſammenſetzung mit 
derjenigen echter kryſtalliniſcher Schiefer übereinftimmen mag. 
Das nicht jeltene Vorkommen von Pflanzenreften, welche der 
Karbonformation angehören, in den eigentlichen hochkryſtallini— 
ihen Graphitichiefern, das Auftreten von Einlagerungen Stein. 
fohle-ähnlicher Bildungen, welche aus reinem Graphit beftehen, 
in ihrem Ausſehen und ihrer Struftur aber von echtem An- 


thracit nicht unterfchieden werden können, machen es Har, daß 
(257) 


38 

wir e3 hier mit weitgehend umgewandelten Ablagerungen der 
Karbonformation zu thun haben. E3 ift fomit in denfelben der 
direkte Beweis gegeben, daß kohlehaltige Schiefer, ja dat eigent: 
liche Steinfohlen einer Umwandlung in Graphit fähig find. 

Wenn man fich die allgemeinen Gefichtspunfte über den 
geologischen Aufbau jener Gegend zu eigen macht, welche die 
Aufnahme der k. £. geologischen Neichsanftalt in Wien ergeben 
haben, jo fommt man zu dem Schluß, daß in Ddiejen Lager: 
ftätten ein Syftem von Gneißen, Glimmerjchiefern, Graphit. 
ichiefern, kryſtalliniſchen Kalken 2c. vorliegt, welche durch allge: 
meinen Metamorphigmugs, durch gebirgsbildende Brozejje, lange 
Beiträume oder Aehnliches aus urſprünglich Haftischen, organijche 
Nefte enthaltenden Schichtgeiteinen entjtanden find. Wer möchte 
dann noch in Abrede jtellen, daß das, was an verhältnigmäßig 
jo jungen Gebilden ohne eine direkte Iofale Urjache vor ſich 
ging, an den um jo vieles älteren Borfommniffen aus dem Ge: 
biete der fryftalliichen Schiefer als wahrjcheinlich oder wenigſtens 
möglid angenommen werden muß? Eine Verallgemeinerung 
der hier gemachten Erfahrung auf die ganze in Betradht fom- 
mende Gruppe von Grapbitlagerjtätten müßte jchließlich zu der 
oben befämpften Anſchauung führen, daß die VBorfommnifje von 
Graphit in der Formation der kryſtalliniſchen Schiefer als letzte 
Reſte einer untergegangenen organischen Welt anzujehen find, 
daß aljo das organische Leben auf unjerer Erde weit über jene 
entlegenen Zeiträume zurüddatirt, aus welcher ung wohl erhaltene 
Reſte von Lebeweien erhalten blieben. Eine zujammenfafjende 
geologische Unterjuhung führt aber zu ganz anderen Rejultaten 
und zeigt aufs deutlichjte, daß hier feine ungewöhnliche, zu weit 
gehenden Schlüfjen berechtigende Bildung vorliegt. Wie in der 
ganzen Zentralzone der Alpen, jo wird auch in dem öftlichen 
Ausläufern derjelben, welche hier in Betracht kommen, der Kern 


des Gebirges nicht von einem „Gneiß“, wie die öfterreichifchen 
(258) 


39 


Geologen annehmen, aljo von einer den umgebenden Gefteinen 
gleichaltrigen Bildung, fondern von einem echten, intrufiven 
„Granit“ gebildet, welcher erjt nach der Ablagerung der Schidt- 
gejteine, hier aljo der Karbonformation, innerhalb welcher er 
auftritt, in jchmelzflüffigem Zuftande heraufgepreßt wurde, unter 
gleichzeitiger weitgehender Umänderung diefer Schichtgejteine, 
welche bier, wie überall, wo ähnliche geologische Berhältnifje zu 
beobachten find, eine rein Eryjtallinische Struktur angenommen 
haben. Dabei wurde die organische Subjtanz in Graphit um: 
gebildet, was gleichfall8 überall im Bereiche der Kontaftmeta- 
morpboje, aber joweit unjere Erfahrungen reichen, aud) aus: 
ichließlich in diefem Bereiche der Fall ift. Der Nachweis, daf 
dag für Gneiß angefehene Geftein, welches die Graphitlager- 
jtätten der Steiermark begleitet, ein eigentlicher Granit ift, und 
daß die Entjtehung der Graphitlagerftätten aus den urſprüng— 
lichen Kohlengefteinen den chemiſchen Prozeſſen der Kontaftmeta- 
morphoſe zugejchrieben werden muß, welche einen ſolchen Mafjen- 
erguß begleiten, läßt die Eigenart diefer Vorkommniſſe bedeutend 
weniger merkwürdig erjcheinen. Und jedenfall ijt man nicht 
beredhtigt, in den hier beobachteten Ummwandlungen organijcher 
Gebilde im Graphit einen Beweis für eine gleichgeartete Ent: 
ftehung aller Vorkommniſſe zu fuchen, welche innerhalb der 
eigentlichen kryſtalliniſchen Schiefergefteine auftreten. 

Die anderen gleichfall3 in Form von Lagern auftretenden 
Borfommnifje von Graphit, welche in der Paſſauer Gegend 
am bejten ausgebildet find, finden fich nicht wie die eben be- 
jprochenen in nachweisbar jüngern, durch fpätere Prozefje erit 
fryftallinich gewordenen Schichtenfyitemen, jondern vielmehr in 
echten, kryſtalliniſchen Schiefern, welche man wohl allgemein der 
eigentlichen Gneißformation zuzählt. Im Paſſauer Gebiete find 
e3 in bejonders ausgezeichneter Weiſe raſch anjchwellende und 


raſch wieder ausfeilende „linſen“förmige Einlagerungen, welche 
(259) 


40 


fi) zu langen Ketten aneinander jchließen, in denen ein höherer 
Gehalt an Graphit auftritt. In dem benachbarten böhmischen 
Territorium dagegen pflegen die einzelnen Glieder diejer Reihen 
im Streichen etwas mehr auszuhalten und nehmen 3. Th. die Form 
regelmäßiger Lager an. In beiden aber häufen fich dieſe Lagerzüge 
gerne in größerer Anzahl zu Kompleren zufammen, welche durch 
weniger mächtige, graphitfreie Zwijchenmittel getrennt find. Daß 
aber auc hier fontaftmetamorphijche Einflüffe fi) bemerkbar 
machen, daS beweijt die mineralifche Zufammenjegung der Kalfe, 
welche oft ganz ungewöhnlich reich an Kryftallen ſolcher Mine- 
ralien find, die man nur als die typilchiten Vertreter Eontaft- 
metamorphijcher Umbildung kennen gelernt hat. Im Bafjauer 
Graphitgebiete ijt die Urjache diefer Ummwandlungsvorgänge aufs 
Harjte vor Augen liegend in einem mächtigen Granitmajliv, 
welches die graphitführende Gneißjcholle gegen die öfterreichifche 
Grenze zu abjchließt, und es ift im höchjten Maße bezeichnend, 
daß der grobjchuppigfte Graphit ſich in bejonderer Weife mit 
der Annäherung an den ‚Granit anreichert, und daß dort Die 
meijten und reichjten Graphit» Linfen“ auftreten. In Böhmen 
ift diefer Zufammenhang weniger Elar, indem die Graphitlager 
ji weit von dem an der Oberfläche anftehenden granitijchen 
Maſſiv entfernen, aber zahlreiche Kleine Granitpugen, welche man 
im ganzen Streifen beobachtet, beweijen ebenfo wie die charak— 
teriftiichen Kontaktmineralien der Kalke, welche die Granitjchiefer 
überall begleiten, daß der granitiiche Herd in der Tiefe nicht 
allzu entfernt liegt. 

Die graphitführenden Gefteine im Paſſauer Gebiete wie 
im jüdlichen Böhmerwald find mitfamt ihrer Umgebung oft jehr 
ſtark umgewandelt, und allenthalben beobachtet man in der Be- 
gleitung des Graphit mehr oder weniger mächtige Qager von 
Kaolin, welche aus dem benachbarten Gneiß und defien filifati- 


ſchen Einlagerungen entjtanden find. 
260) 


41 


Ferner find an zahlreichen Stellen in der Nähe der Gra: 
phitlinjen die Gefteine in ein loderes, gelblichgrünes Aggregat 
(„Srünling“) von Nontronit, einem wafjerhaltigen Eijenoryd- 
filifat, oder in einem braunen Mulm („Mog“) von vorherr- 
ihendem Manganjuperorydfilitat umgewandelt, was auf eine 
Zufuhr ziemlich bedeutender Mengen diejer Metalloryde jchließen 
läßt, da diejelben in den urfprünglichen Gefteinen nur in ſehr 
geringer Menge enthalten find. 

AN dieje intenfiven Ummwandlungen, welche in jeder Tiefe 
gleichbleibend vorhanden find, find feine Verwitterungserſchei— 
nungen, jondern weijen auf intenjive Fumarolenthätigfeit Hin, 
durch. welche allein jo weitgehende Umbildungen erklärt werden 
fünnen und die fi im Zufammenhang mit dem Mafjenerguß 
des benachbarten Granites abgejpielt haben dürfte. Wenn man 
dann noc die graphitführenden Gneiße genauer im Mifrojfop 
durchmuftert, jo kommt man zu der Ueberzeugung, daß der 
Graphit in denjelben durchaus nicht gleihmäßig, wie die übrigen 
Beitandtheile, verbreitet ift, jondern fich vielmehr da in bejon- 
derer Menge findet, wo das Gejtein von Riſſen und Klüften 
durchzogen wird, auf welchen es dann zur Ablagerung des 
Graphites fam. Der Graphit trägt hier ſomit gegenüber dem 
Geftein, in welchem man ihn beobachtet, den Charakter einer 
jüngern Bildung, er ift ficher nicht auf irgend einem Wege durch 
Umwandlung eine® urjprünglichen, organischen oder anorgani- 
ſchen Beftandtheiles der Gneiße entjtanden, jondern vielmehr durch 
ipätere chemische Vorgänge in dem fertigen Gneiß abgejegt 
worden, welche das ganze Gejtein in Mitleidenjchaft zogen und 
oft in feinem ganzen urfprünglichen Beſtande vernichteten. Wir 
haben es hier ganz unzweifelhaft mit einer Yeußerung des 
Vulkanismus zu thun, welche durch die aus der Tiefe aufitei- 
genden Gaje und Dämpfe die Zerjegung des Nebengejteing be- 


wirkte, unter gleichzeitiger Zuführung von Kohlenftoffverbin- 
(261 


42 


dungen, die unter den veränderten Bedingungen der höheren 
Regionen zur Abſcheidung von Graphit Anlaß geben. 

Die Vorkommniſſe der Paſſauer Lagerſtätten gehören aus: 
Ichließlich zu den Schuppengraphiten und werden faft nur zum 
Bwede der Tiegelfabritation ausgebeutet. Der Gehalt an 
Graphit in den zahlreichen „Linjen” ift äußerft wechjelnd, ebenjo 
wie die Größe der Schuppen, welche um jo bedeutender zu jein 
pflegt, je mehr man fich der Grenze gegen den Granit nähert. 

Bwifchen einem Gehalt von 25 %0 und einem ſolchen von 
etwa 70 °/o treten alle möglichen Abjtufungen auf; über 50 %s 
findet man allerdings ziemlich felten und der Werth des Roh— 
material ijt daher im Vergleich mit demjenigen von Geylon 
ein ziemlich geringer, zumal jehr häufig noch eine innige Durch» 
dringung des ganzen graphithaltigen Geſteins mit Schwefelfies 
die Ausbringung guten Materials für Schmelztiegel bedeutend 
erjchwert. Aber die Leichtigkeit der Gewinnung desfelben aus 
dem zerjegten Nebengejtein, die geringe Tiefe, aus welcher im 
allgemeinen gefördert wird und die große Zahl der vorhandenen 
Graphiteinlagerungen bedingen den hohen nationalöfonomijchen 
Werth diejer Vorkommniſſe. 

Im Gegenſatz dazu find die ſüdböhmiſchen Graphite zumeijt 
ganz Dicht, nur jelten feinjchuppig, und die Lager find hier 
mächtiger und auf längere Erjtrefung gleihmäßig aushaltend. 
Diefe dichten Varietäten werden erjt bei einem Gehalt von 45 
bis 50 °/, Graphit verwerthhar und erreichen einen ſolchen von 
70 %/ nur jelten. Ginen höheren Gehalt (85—88 0) weiſt 
nur der ſogenannte „fette” Graphit aus den fürſtlich Schwarzen- 
bergſchen Werfen zu Schwarzbad auf, eine weiche, zerreibliche, 
äußerſt gleichmäßig feinfchuppige Varietät, welche das werth- 
vollfte Material darftellt, das heute für die Bleijtiftfabrifation 
im Großen gewonnen wird. Die Mächtigkeit des Lagers, das 


diefen Graphit liefert, welches inmitten mehrerer gewöhnlicher 
(262) 


43 
Graphitlager eingejchaltet ijt, erweist fich als ziemlich bedeutend, 
und auc im Streichen ift dasjelbe jehr aushaltend, jo daß es 
wohl die werthvollite von jämtlichen, heutzutage ausgebeuteien 
Graphitlagerftätten darftellt. 

Um vieles vorzüglicher aber und reiner als der in diejen 
lagerförmigen Borfommnifjen auftretende Rohgraphit ift derjenige, 
welcher fi auf Gängen findet, die zum Theil in granitifchen 
Eruptivgefteinen jelbft, zum Theil in der nächjten Umgebung 
beobachtet werden. Wenn nicht, wie bei Paſſau, das ganze 
Gejtein im Innerſten zermalmt ift und jo eine gänzliche Durd)- 
dringung desjelben durch die graphitbildenden Agentien ermög- 
licht wird, ſondern vielmehr einzelne mehr oder weniger weite 
Klüfte durch dasjelbe hindurchjegen, jo wird der von der Tiefe 
aus gebildete Graphit auch nicht das ganze Geftein imprägniren 
fönnen, jondern ſich vielmehr in diejen Klüften abjegen, welche 
er in mehr oder minder vollfommener Weiſe ausfüllt. Alle im 
Naturzuftande über 90 %/o Graphit aufweifenden, techniſch ver: 
werthbaren Borfommnifje gehören diefer Art von Lagerjtätten 
an, und nur jelten ift es, daß der Gehalt an Unreinheiten in 
denjelben 5 °/o erreicht. Hierher gehört da8 Graphitvorfommen 
im Borromwdale bei Keswik in Cumberland, welches den be- 
rühmten „engliihen“ Graphit lieferte, die Lagerjtätte in 
den Batougolbergen bei Irkutsk in Sibirien, von welcher der 
fogenannte „Alibert-Graphit“ oder „ſibiriſche Graphit“ 
ftammte, ferner die zahlreichen Vorkommniſſe auf Ceylon, 
der jogenannte „Ceylongraphit”, und endlich diejenigen von 
Triconderoga in New-York, von Sonora in Californien, 
zahlreihe Vorkommniſſe in Canada und noch eine Anzahl 
weniger wichtiger LZagerjtätten. 

Ueber das Vorkommen der beiden zuerſt genannten, welche 
das vorzüglichite Material für die Bleiftiftfabrifation geliefert 


haben, ſtehen und nur jpärlihe Nachrichten zur Verfügung. 
(263: 


41 





Nach diefen fand fi) der Cumberländer Graphit in mäch— 
tigen und außerordentlich reinen Buben zufammen mit Braun- 
ſpath auf Gängen in einem Felfitporphyr und wurde daſelbſt 
in großen Blöden von jehr feinſchuppiger bis dichter Bejchaffen- 
heit gebrochen. Da in den erſten Zeiten England durch diejes 
Borlommni das Monopol für die Bleiftiftfabrifation bejaß, 
war der Bergbaubetrieb und der Handel mit Cumberländer 
Graphit geſetzlich aufs eingehendite geregelt und die Vorſichts— 
maßregeln, mit welchen die Gruben im Borrowdale umgeben 
wurden, erinnern lebhaft an die Art und Weije, in welcher 
heutzutage bei Gewinnung der Diamanten am Gap das Bor: 
fommen von Unterfchleifen unmöglich gemacht wird. 

Es wird dies einigermaßen verftändlich, wenn man erfährt, 
dab das Kilogramm dieſes Graphites durchſchnittlich auf 7O bis 
80 Mark zu ftehen kam, und daß bejonder8 ausgezeichnete 
Sorten bi8 300 Mark pro Kilo eintrugen. Die Gruben waren 
daher von feftungsartigen Bauten umgeben mit Scießicharten, 
vergitterten Fenſtern und 1'/s m diden Mauern, welche von 
Soldaten bewadyt wurden, und die Bergleute und Sortirer 
mußten nach vollendeter Schicht fich einer Leibesvifitation unter- 
ziehen, damit fie auch nicht Eleinere Mengen des fojtbaren Mi- 
neral3 entwenden konnten. Um den Preis des NRohmaterials 
in der Höhe zu halten, wurde jährlich nur etwa 6 Wochen lang 
Graphit gebrochen, und man fann fid) von der Ergiebigkeit der 
Lagerftätte ein Bild machen, wenn man bedenkt, daß das in 
diefer Ffurzen Friſt gewonnene Material, welches in London 
verjteigert wurde, in der beiten Zeit bis nahe 1 Million Marf 
jährlich einbrachte. Des Ferneren war der Erport von Roh— 
graphit aus England bei ſchweren Strafen verboten, jo daß auch 
die ganze Fabrikation der Bleijtifte dem Lande verblieb. Aber 
nachdem die Hauptadern abgebaut waren, erwies fi) das Vor: 


fonımen als jehr unzuverläffig, die Gewinnungstoften fteigerten 
(264) 


45 


ſich infolge des geringen Aushaltens neu aufgededter Klüfte, 
während gleichzeitig ſowohl die Quantität al aud) die Qualität 
des Materiald eine Abnahme zeigte. Als dann vollends durd) 
Alibert das ſibiriſche Vorkommniß nad) Europa gebracht wurde, 
war das Urtheil über dieje Graphitlagerftätte geiprochen, welche 
durch faft drei Jahrhunderte eine ſcheinbar unerjchöpfliche Quelle 
des Reichthums gewejen war. Schon vor Jahrzehnten erinnerten 
nur nod die aufgejchütteten Halden, die Trümmer der mächtigen 
Befeitigungswerfe an einen Bergbaubetrieb, welcher für unjer 
ganzes Kulturleben einen nicht zu unterjchägenden Einfluß ge: 
wonnen hatte, und heute ijt jelbjt der Eingang zu der welt: 
berühmten Grube im Hochthal Borrowdale im dichten Gejtrüpp 
faum mehr aufzufinden. 

Uebertroffen wird der im Borrowdale geförderte Graphit 
nur noch von dem jog. jibirijchen, dejjen Vorkommen von 
1847 an durch mehrere Jahrzehnte hindurch reihen Ertrag 
lieferte. In einem granitiichen Maſſiv wurde ein 11/.—2 m mäd)- 
tiger und eine größere Anzahl jchwächerer Gänge aufgededt, welche 
von einem ungewöhnlich reinen und namentlich jehr gleihmäßig 
dichten Graphit erfüllt waren, aus dem in großer Menge mäch— 
tige Blöde direkt verwendbaren Material3 gewonnen werden 
fonnten. Die bejjeren Sorten diejes Graphites enthalten nicht 
mehr als 1,5—3 °% an Unreinheiten; dabei ijt die Beichaffen- 
heit desjelben eine äußerſt feinfajrige, jo daß das Robmineral 
bei aller Weichheit und Milde doc einen Hohen Grad von 
Feſtigkeit befigt. Die Faſern des Graphites, welche ſich auf 
dem Bruche jchon mit bloßem Auge deutlich erkennen laſſen, 
jtehen jenfrecht auf den Wänden der Kluft und ſetzen manchmal 
durch die ganze Mächtigfeit derjelben in ziemlich gerader Rich— 
tung hindurch. Meiſt aber ift durch die Faltungen, welche das 
Gebirge betroffen haben, auch der Graphit in Mitleidenschaft 
gezogen; die Bruchflächen desjelben befigen dann eine leichte, fein- 


(265) 


46 





wellige Fältelung und zeigen Verbiegungen der Fajerrichtung, jo 
daß diejer Graphit gewöhnlich im unbearbeiteten Zujtand eine holz. 
fajerähnliche Struftur befigt, welche zu der Anficht führte, als 
habe man es mit foffilem Holze zu thun. Gegen diefe Hypo- 
theje, welche vielfach vertheidigt wurde, ſpricht aber jchon die 
Urt des Auftretens diejes Graphites auf Gängen innerhalb eines 
Eruptivgejteins. Auch in dem dieſem granitiichen Gejtein be- 
nachbarten und jedenfalls fontaftmetamorphijch beeinflußten, kör— 
nigen Kalk fand fich reiner, ſehr dichter Graphit in ziemlich 
großen Mafjen, welcher aber immerhin nur einen geringen 
Bruchtheil der gefamten Ausbeute lieferte. 

Diejes für die Bleiftiftfabrifation ungewöhnlich vollfom- 
mene Material wurde von der Firma A. W. Faber in Stein 
bei Nürnberg feiner Zeit durch einen Vertrag mit Alibert monopo- 
lifirt, und derjelbe war [mit die Urſache des Weltrufes diejer 
Firma; aber die weite Entfernung der LZagerjtätte von Europa 
und die Schwierigkeit de8 Transportes größerer Mafjen durch 
die moorigen Tundren, welcher überhaupt nur im Winter be- 
werfitelligt werden konnte, machten diejen Graphit, troß der be- 
deutenden Menge, in welcher er an Ort und Stelle auftritt, zu 
einem ſehr Eoftipieligen, und jchließlich wurde auch Hier der 
Berrieb eingeftellt. Uber es trug nicht wie in Cumberland die 
Erijhöpfung der Lagerftätte die Schuld an diejem Verfall, jon- 
dern vielmehr die Schwierigkeiten, welche durch die klimatiſchen 
Verhältniſſe einestheils, durch die rufjische Regierung anderen- 
theil8 einem gewinnbringenden Betriebe entgegengejeßt wurden. 
Heutzutage dürfte auch das Vorkommen des „fibiriichen”“ Gra- 
phites ausschließlich Hiftorische Bedeutung bejigen. 

E83 mag bier bemerkt werden, daß außer in der erwähnten 
Zagerjtätte noch an einer Anzahl von Punkten in Sibirien, jo 
bei Turuchanst im Gouvernement Jenifjeist, an der unteren 


Tungusfa u.a. O. reihe Vorkommniſſe von vorzüglichem Graphit 
(266) 


47 


entdedt wurden, in bedeutenderem Maße wurde aber nirgends 
die Gewinnung dieſes Minerals betrieben, und jo verjteht man 
heute unter dem Namen „ſibiriſcher“ Graphit fchlechtweg die 
Produkte der Alibertihen Minen. 

Während der Graphit diejer beiden, früher jo wichtigen 
Lagerjtätten durch feine gleichmäßige und dichte Beichaffenheit 
das vorzüglichſte Material für die Bleiftiftfabrifation lieferte, 
ift das dritte der hierher gehörigen Vorkommniſſe dur ein 
bejonder8 grobblätterige8 und großftengeliges Produft ausge» 
zeichnet und liefert das befte Material für die Tiegelfabrifation. 
Die Graphitgänge auf Ceylon, welde in einem majligen 
Granit und in Gneißgejteinen auftreten, die dieſem benachbart 
find, haben oft ebenjo wie diejenigen der erwähnten Vorkomm— 
nijje eine ziemlich bedeutende Mächtigkeit, und die Blätter oder 
Stengel de Graphits ftehen auch hier ftet3 ſenkrecht auf den 
Wandflähen der Klüfte. Mannigfaltige Verbiegungen und 
Stauchungen derjelben find feine Seltenheit, bei der groben Be- 
ichaffenheit der einzelnen Individuen tritt aber die Aehnlichkeit 
mit der Faſerung des Holzes bedeutend weniger hervor. Ein 
ausgedehnter, aber ziemlich primitiver Bergbau bejchäftigt ſich 
mit der Ausbeutung diefer Gänge und liefert, wie jchon oben 
angeführt, die größte Menge von reinem Graphit, welche über- 
haupt ein Land der Welt produzirt. Doc Hat namentlich 
im legten Jahre die Graphitproduftion auf Geylou jehr be- 
deutend nachgelaffen, da infolge des Raubbaues, welcher viele 
Jahre lang betrieben wurde, die Gewinnungskoſten ſich mehr 
und mehr erhöhen, und eine technifche, bergmännijche Bildung 
bei den Unternehmern abjolut mangelt. Das auf Geylon ge 
wonnene Material ift ganz vorzüglich; gute Qualitäten, welche 
einfach durch Ausleſen der reineren und namentlich großblätterigen 
Stücte gewonnen werden, enthalten 96—98 Kohlenjtoff und 


find nad einfacher Zerfleinerung zur Tiegelfabrifation direkt 
(267) 


43 





verwendbar. Unreinere, meijt aus Abfällen zujammengejeßte 
Barietäten, die gewöhnliche Handelsware, enthalten bis zu 20°. 
Aſche, und diefe müffen vor dem Gebrauch zur Tiegelfabrifation 
erjt gereinigt werden, da durch die Menge der Unreinheiten die 
Teuerfeftigfeit der Tiegel leiden würde. 

Un dieje verſchiedenen Typen von Graphitlagerftätten dürften 
ſich die übrigen anjchließen, und joweit die jpärlichen geologischen 
Bejchreibungen derjelben erkennen lafjen, find die bei den ein: 
zelnen Typen von Lagerftätten im Obigen ausführlicher ausein: 
andergejegten Grundzüge auch an den übrigen, technijch aber 
weniger wichtigen Vorkommniſſen zu verfolgen. Bemerkt joll 
nur noch werden, daß gangförmige und lagerfürmige Borkomm- 
nifje von Graphit Häufig in nächjter Verbindung miteinander 
auftreten; fo beobachtet man in den Paſſauer Lagerjtätten ver: 
einzelte Gänge mit großblätterigem oder ftengeligem Graphit, 
welche, abgejehen von ihrer geringen Mächtigfeit, mit denjenigen 
von Geylon aufs genauejte übereinjtimmen. Anderentheils pflegen 
dann auch wieder an ſolchen Punkten, wo hauptſächlich Gänge 
von Graphit vorfommen, Imprägnationen ganzer Schichten mit 
diefem Mineral vorhanden zu fein, welche an folchen Orten 
allerdings wegen der viel geringeren Reinheit nur wenig Beach— 
tung finden. Jedenfalls aber ijt zu betonen, daß, mie bei 
anderen Mineralvorkommniſſen, auch bei denjenigen des Graphits 
ein prinzipieller Unterjchied zwijchen „Lagern“ und „Gängen“ 
von genetijchem Standpunkte aus nicht befteht, jondern daß 
diefer Unterjchied in der Art des Auftretens vielmehr durch die 
verjchiedenen Berhältnifje bedingt wird, welche das Geftein, in 
welchem die Ablagerung erfolgt, den dieſelbe bewirkenden 
Agentien darbietet. 

Ein gemeinjamer Grundzug ferner in all’ jenen Lagerftätten, 
in welchen der Graphit als jefundär eingeführt angejehen werden 


muß, ijt die ftändige Begleitung desjelben durch Hutil, eine 
(268) 


4) 





fyitallifirte Form der Titanjäure, welche in den Bafjauer Bor- 
fommniffen ebenjo wie in dem böhmischen, im Gumberländer 
Graphit ebenjo wie im fibiriichen, im Geylon-Graphit wie in 
dem von Triconderoga jtet3 vorhanden ift, und deſſen Bildung in 
Zuſammenhang mit der Bildung des Graphits gebracht werden muß. 
Wenn man jo den allgemeinen Grundzug, welchen die 
meiſten und wichtigjten Graphitlagerjtätten darbieten, etwas ein- 
gehender betrachtet, jo fommt man zu dem Schluffe, daß der 
Graphit ſich als ein Produft vulfanischer Thätigkeit daritellt. 
Durch zahlreiche Begleiterfcheinungen, die man bei einem ge: 
naneren Studium derartiger Borfommnifje beobachtet, wird in 
vielen Fällen die Bildung desjelben aus gas- und dampffürmigen 
Erhalationen nad) Urt der Fumarolen außer Zweifel geftellt, 
und es frägt fi) nur, welcher Art die Verbindungen gewejen 
find, die, von dem vulfanischen Zentrum ausgejtoßen, zur Ent- 
ftehung des Graphits Anlaß geben. Wie die Berjuche im Labo- 
ratorium, jo weijen auch alle Erjcheinungen in der Natur darauf 
hin, daß es nicht Kohlenwafjerjtoffe gewejen find, die ald Graphit: 
bilder fungirten, wie überhaupt Kohlenwaſſerſtoffe in den eigent: 
lichen vulfanischen Erhalationen und in den Abjägen derjelben 
faum je mit Sicherheit nachzuweijen find. Dagegen finden wir 
in denjelben die Orydverbindungen des Stohlenftoffs, die Kohlen: 
ſäure und das Kohlenoryd, in weiterer Verbreitung, und durch 
die reichliche Imprägnation der den Graphit begleitenden Geſteine 
mit Metalloryden werden wir an die Entjtehung des Garjchaums 
und ähnlicher Graphitbildungen bei unferen Hochofenprozeſſen 
erinnert, welche, wie früher betont wurde, durch Zerjegung der 
flüchtigen und wenig bejtändigen Kohlenorydverbindungen der 
Metalle entftanden fein dürften. Die ftändige Begleitung des 
Graphits durch Titan, welches Element eine jo große Ver: 
wandtichaft zum Cyan befigt, läßt vielleicht auf die Mitwirkung 
Hanhaltiger Dämpfe mit dem Kohlenoryd ſchließen. 


Sammlung. R. F. XIII. 295. 4 (269) 


50 


Neben diefen im ftrengften Sinne anorganifchen Kohlenftoff- 
ablagerungen bilden diejenigen, welche aus organischen Bildungen 
hervorgegangen find, eine verjchwindend kleine Gruppe, aber 
auch bei diejen ijt durchaus nirgends von einer allmählichen 
Umbildung organijchen Materiald in Graphit die Rede, von 
einem langjamen Verkohlungsprozeß, wie derjelbe angenommen 
werden müßte, wenn man die Bildung des Graphit den während 
ungeheuer langer Zeiträume wirkenden Prozeſſen des allgemeinen 
oder regionalen Metamorphismng zufchreiben wollte. Vielmehr 
ift der Uebergang von Kohle in Graphit ein plößlicher, wie er 
nur durch bejonders intenfiv wirkende chemifche Ugentien hervor- 
gebracht werden kann. Und foldhe im Großen wirkende, die 
ganze Beichaffenheit eines Geſteines wie mit einem Schlage 
verändernde Prozefje, bieten und nur mächtige vulkaniſche Maffen- 
ergüfje dar, welche durch ihre erhöhte Temperatur und durch 
die großen Mengen gas und dampfförmiger Subjtanzen, die 
in einem ſolchen Schmelzfluß gelöft find, die benachbarten Ge» 
fteine von Grund aus umzuwandeln im ftande find. Im allen 
Fällen ift aljo die legte Urjache zur Entjtehung des Graphits 
in einer intenfiven vulfanifchen Thätigkeit zu juchen, und das 
Borfommen ausgedehnter Lagerjtätten dieſes Minerald bietet 
nit den geringften Anhaltspunkt dafür, daß das organifche 
Leben auf unjerer Erde über jene Zeiten zurüdreicht, in deren 
Ablagerungen wir die erjten wohlerhaltenen Reſte von Orga- 
nismen auffinden. 


(270) 


Heymann Steinthal. 


Don 


Dr. 86. Adelis 


in Bremen. 


Hamburg. 
Verlagsanftalt und Druderei A.“G. (vormals J. F. Richter) 
Königlihe Hofverlagsbuhhandlung. 
1898, 


Das Recht der Ueberjegung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 


Drud der Verlagdanftalt und Druderei Actien ⸗Geſellſchaft 
(vormale J. F. Richter) in Hamburg, Königliche Hofbuchbruderei. 


Zwiſchen den Bedürfniſſen des Gemüths und den Ergeb— 
niſſen menſchlicher Wiſſenſchaft iſt ein alter, ungeſchlichteter 
Zwiſt. Jene hohen Träume des Herzens aufzugeben, die den 
Zuſammenhang der Welt anders und ſchöner geſtaltet wiſſen 
möchten, als der unbefangene Blick der Beobachtung ihn zu 
ſehen vermag: dieſe Entſagung iſt zu allen Zeiten als der 
Anfang jeglicher Einſicht gefordert worden. Und gewiß iſt das, 
was man ſo gern als höhere Anſicht der Dinge dem gemeinen 
Erkennen gegenüberſtellt, am häufigſten doch nur eine ſehnſüchtige 
Ahnung, wohl kundig der Schranken, denen ſie entfliehen, aber 
nur wenig des Zieles, das ſie erreichen möchte. Denn aus dem 
beſten Theil unſeres Weſens entſprungen, empfangen doch jene 
Anſichten ihre beſtimmtere Färbung von ſehr verſchiedenartigen 
Einflüſſen. Genährt an mancherlei Zweifeln und Nachgedanken 
über die Schickſale des Lebens und über den Inhalt eines doch 
immer beſchränkten Erfahrungskreiſes, verleugnen ſie weder die 
Eindrücke überlieferter Bildung und augenblicklicher Zeitrichtungen, 
noch ſind ſie ſelbſt unabhängig von dem natürlichen Wechſel der 
Stimmungen, die andere ſind in der Jugend, andere nach der 
Anſammlung mannigfaltiger Erfahrungen. Man kann nicht 
ernſtlich hoffen, daß eine ſo unklare und unruhige Bewegung 
des Gemüths den Zuſammenhang der Dinge richtiger zeichnen 
werde, als die beſonnene Unterſuchung, mit der in der Wiſſen— 


ſchaft das Allen gemeinſame Denken beſchäftigt iſt. Dürfen wir 
Sammlung. N. F. XIII. 296. 1* 276 


+ 


dem menjchlichen Herzen nicht gebieten, feine jehnjüchtigen Fragen 
zu unterdrüden, jo wird es gleichwohl ihre Beantwortung ala 
eine nebenher reifende Frucht jener Erfenntniß erwarten müfjen, 
die nicht von denjelben Fragen, jondern von leidenfchaftslojeren 
und darum klareren Anfängen ausging. Diefe Worte, mit 
denen Zoe feinen Mifrofosmus einleitet, Lafjen ſich als Prinzip 
und Motto für die Lebensarbeit eines jcharffinnigen Denkers 
verwerten, dem es ebenjo wie jeinem Gefinnungsgenofjen um 
die Heritellung eines ehrlichen und dauerhaften Friedens um 
Wiffenihaft und Gemüth zu thun ift, nämlih H. Steinthals, 
Profefjor für allgemeine Sprahwifjenihaft in Berlin. Biel. 
leicht könnten wir fir ihn in diefer Begründung auch dasjelbe 
Biel in Anſpruch nehmen, das dem verjtorbenen Göttinger 
Philoſophen vorjchwebte, nämlich den Nachweis, wie ausnahms- 
108 univerjell die Ausdehnung und zugleich wie völlig unter: 
geordnet die Bedeutung der Sendung fei, welche der Mecha: 
nismu3 in dem Bau der Welt zu erfüllen Habe. 

Der Lebenslauf eines deutjchen Gelehrten bietet meiſt Feine 
bejondere Ueberrajchungen und glänzende Höhepunkte für den 
Betrachter, und jo findet der Biograph auch hier Feine reiche 
Ernte. Steinthal wurde geboren am 16. Mai 1823 in Gröbzig, 
einer Ortichaft im Anhaltiſchen; er ftudirte in Berlin 1843 
Philologie und Philoſophie und Habilitirte fi) 1850 an der 
dortigen Univerfität, wo er über Sprahwifjenichaft und Mytho— 
logie las. Um tiefer in die chinefiiche Sprache und Litteratur 
einzudringen, blieb er drei Jahre (1852—55) in Paris, wurde 
dann 1855 WBrofefjor der allgemeinen Sprachwiſſenſchaft in 
Berlin, wo er jeit 1372 auch an der Hochſchule für die Wifjen- 
ichaft des Judenthums Religionsgefhichte und Religionsphilo- 
jophie lehrt. Daneben geht eine rege wifjenjchaftlicd)-Kitterarijche 
Produktion einher, jei e8 in Form abgeichlofjener, jelbjtändiger 
Werfe, jei es als Vorträge und Abhandlungen. Ein bejonderes 

274) 


5 





Verdienſt erwarb fich der Forſcher durch die Gründung der vor: 
trefflichen Zeitichrift für Völkerpſychologie und Spracdhwiljen- 
fchaft im Verein mit feinem Freunde Mor. Lazarus (1860), 
weil hier zum erjten Male, wie wir jpäter jehen werden, der 
erfolgreiche Berfucd) unternommen wurde, die bejchränfte Grenze 
individualpfychologifher Betrachtung zu verlafjen und dag große 
Gebiet des Völkerlebens unter ſozialpſychologiſcher Perjpeftive 
aufzufafjen. 

Die Ergebniffe der modernen Sprachvergleichung beginnen 
Ihon, wenn man von jpezielleren linguiſtiſchen Problemen ab- 
fieht, ein Gemeingut unferer Bildung zu werden, und das mit 
vollem Recht; denn es verdient die fchärfite Aufmerkjamfeit und 
das nadhhaltigfte Intereffe, daß es gelungen ift, ung über Zu— 
ftände und Vorgänge in der Gejchichte oder, beſſer gelagt, in 
der Vorgeſchichte der menschlichen Raſſen aufzuflären, in die bis- 
lang noch fein Licht der Forſchung gedrungen war. Aber ab» 
gejehen von diejen Entdeckungen auf prähijtorijchem Felde — 
ih rechne dahin, was troß aller weiteren Kontroverjen uns 
erjchütterlich feititeht, den indogermanischen Stammbaum, einerlei 
wo er urjprünglich Wurzel gejchlagen hat —, iſt die pſychologiſche 
Seite diejer Studien nicht zu überjehen; denn jegt erſt konnte 
die alte, jo vielfach behandelte Frage nad) dem Urjprung und 
der Entwidelung der Sprache unter einigermaßen glüdlichen 
Ausfichten wieder aufgenommen und ihrer Löſung nahe gebracht 
werden. Daß dabei auch phyfiologiihe Momente (Refler: 
bewegungen, Lautnahahmungen, Geberden, einfachite Wahr: 
nehmungen u. j. w.) in Betracht fommen, verfteht ſich von jelbft. 
Während bei anderen Forjchern die Aufgabe dahin ging (jo bei 
dem genialen Lazarus Geiger), das Werden der Sprade vom 
Uranfang bis Heute in einem organijchen Zufammenhang zu 
verfolgen, ift bier der rein piychologijche Gefichtspunft map: 
gebend. Für mich, wie Steinthal jagt, handelte es fih um die 


(275) 


Lage des Bewußtjeind und um die dasjelbe beherrichenden Ge- 
jege bei der Erzeugung der Sprache im Uranfange wie im 
Kinde und wie im jedesmaligen Augenblide der Rede. Für 
mid) war die Frage eine der empirischen Biychologie (Urjprung 
der Sprade ©. 351). Zunächſt wird an der Hand mathe 
matifcher Formeln (die jpäter von einem, nun jchon verjtorbenen 
Schüler Steinthals, Glogau, weiter entwidelt find) eine pjychiiche 
Mechanik gegeben, dann die vorſprachliche Stufe der Seelen. 
entwidelung, die Stufe der thieriihen Wahrnehmung oder An: 
ſchauung näher charakterifirt, aus der ſich die Vorjtellung oder 
die menjchliche Sprache entfaltet, jo daß in gewijjem Sinne für 
das Problem die Anjchauung der Descendenztheorie über den 
Urſprung des Menſchen aus dem Thiere maßgebend bleibt. 
Genauer bejchreibt unſer Gewährsmann jein Verfahren jo: Ich 
jah von aller höheren Seelenthätigkeit des Menjchen ab und 
prüfte nur die menſchliche Wahrnehmung. Ich erhebe allerdings 
noch heute den Anſpruch, daß ich den Vorzug des Menjchen 
vor dem Thier vorjichtiger dargejtellt habe, als jemal® vor mir 
geſchehen. Ich führte nicht Religion, Zahlen, jtaatliches Zu- 
jammenleben u. |. w. als Specifica des Menjchen vor, jondern 
ich redete wejentli) nur von den Empfindungen der Sinne. 
Hier, in der unterjten ſeeliſchen Sphäre, juchte ich den Unter. 
ihied auf. Ich leitete den Vorzug des Menfchen, da wir vom 
Gehirn nichts Beitimmtes wifjen, fajt ganz von der aufrechten 
Stellung des Menjchen ab: daher die Beweglichkeit des Leibes 
und jeiner Glieder, namentlicd) des Kopfes und des Armes mit 
der Hand und den Fingern, bejonder® dem Daumen. Damit 
hängt die unbehaarte Haut zufammen, von ihr und der Hand 
hängt der feine Taftjinn ab. Dazu kommen die anderen Sinne, 
welche jämtlich ertenfiv jchwächer, aber intenjiv jtärfer wirken, 
d.h. fich zwar über geringere Entfernungen erjtreden, aber mehr 


qualitativ verjchiedene Eindrüde erfahren, aljo an den Dingen 
(276) 


7 
mehr Eigenjchaften entdeden und die gleihartigen Eigenjchaften 
mehrerer Dinge genau unterjcheiden. Dadurch entjteht in dem 
Menſchen eine größere Intellektualität, theoretijches Intereſſe, 
wenn auch zunächjt nur im Dienfte der nugbringenden Arbeit, 
welche aber wiederum die Kenntniß mehrt. Beides nun, Arbeit 
und Kenntniß, ſchwächt die Leidenjchaft, die Gier und hebt die 
Bejonnenheit. Damit aber erzeugt ſich auch das äfthetifche 
Intereffe, das Wohlgefallen am Schönen wie am Sittlichen. 
Die Arbeit wedt neue Bedürfniffe und das Bedürfniß treibt zur 
Arbeit. Dieje, ihre Ziele immer fteigernd, verlangt Vereinigung 
der Menjchen und führt zur Gejellichaft, die einen neuen Keim 
zur Erweiterung des Intellekts und namentlich zur Schöpfung 
der Sprache abgiebt (a.a.D. ©. 553). Trogdem wird die rein 
naturwiſſenſchaftliche Unterſuchung des Problems nicht a priori 
zurüdgewiejen, — umgekehrt erfahren Darwin und Guft. Jäger 
eine eingehende, theilweije recht anerfennende Behandlung —, 
aber der zeitige Stand der Forſchung geftattet noch feine ficheren 
Schlüſſe auf die Bildung und Entftehung der Sprade, will 
man nicht der phantaftiichen Hypotheje 3. B. Kleinpauls Huldigen, 
der mit überredender Anfchaulichkeit aus dem ſprachloſen Ur: 
menjchen, dem Alalos Hädels, die Sprache auf dem Wege der 
Lautnahahmung ableitet (vergl. Das Leben der Sprache, Leipzig 
1892, ©. 52 ff.). Steinthal befennt: So ficher mir der Ge. 
danke der Descendenz überhaupt (als Hypotheje) ift, jo wenig 
ift es heute ſchon möglich, ihn zu einer Thatjache, betreffend 
das Werden und die erjte Entwidelung des Menjchengeichlechts, 
zu gejtalten. Dazu fehlen noch die erften ficheren Anſatzpunkte. 
Immer noch find die Grundfragen nicht mit Sicherheit zu beant: 
worten: Iſt das heutige Menſchengeſchlecht in Wirklichkeit (nicht 
bloß ideell) eine® und desſelben Urfprunges? Iſt ihm eine 
Menjchenrafje oder find ihm gar mehrere Menjchenrafjen, welche 


ausgejtorben find, vorangegangen? Wie waren legtere oder wie 
(277) 


8 


waren die erften Menfchenfamilien leiblich geartet, wie geiftig 
begabt? Ueber alles diejes iſt bis heute eine begründete Anficht 
nod unmöglich. Friedr. Müller in Wien, ausgezeichneter Ethno- 
log und Sprachforſcher, nimmt an, daß zwölf Raſſen des 
Menichengejchlecht3 ji) vor der Schöpfung der Sprache ent: 
widelt hätten. Dann hätte auch alle menfchliche Entwicdelung 
fih ohne Sprache vollziehen müfjen. Darwin nahm freilich 
umgefehrt an, daß die erfte Sprachbildung älter fein müfje als 
die Spaltung in Raſſen. Das eine wie das andere ijt Ver: 
muthung und die Gründe find nicht zwingend (a. a. O. ©. 355). 
Indem jede prähiftoriiche Dichtung (als ſolche kann man in der 
That die mythiſche Figur des fingulären Urmenjchen wohl be 
zeichnen) von vornherein abgelehnt wird, drängt jich der piycho- 
logiſche Gefichtspunft immer mehr in den Vordergrund. Mag, 
wer will (jo ruft Steinthal aus), glauben, er könne den Ur« 
menschen als folchen ertappen und zeichnen, jehen und hören — 
ich leugne fürs erjte noch diefe Möglichkeit, wie ich fie immer 
geleugnet habe. Ich will nicht zeigen, wie die Sprache geworden 
ist, jondern nur, welche Gejege in ihrem Werden wirkfam waren; 
meine Beiſpiele jollen erläutern, nicht beweifen, und find feine 
Thatjachen der Urgejchichte. Der Urſprung der Spracde, ala 
Hiftorisches Faktum gefaßt, ift Aufgabe der Völkerpſychologie; 
ih Habe mich zunächft und bisher darauf bejchränft, nur die 
allgemeinen pjychologifchen Geſetze zu erforjchen, welche ſich in 
der Schöpfung der Formen des Denkens und des Gedanken: 
ausdrudes bewähren. Freilih wird mir immer Flarer, daß 
auch bieje Formen, weil fie eine Gejchichte haben, ohne Völter- 
piychologie nicht genügend erflärt werden können. Die Sprache 
zumal ift ein Organ des Geiftes, welches in feinem ganzen 
Weſen geſchichtlich ift (a. a. O. ©. 359). 

Richtete ſich die Thätigkeit unſeres Forſchers zunächſt auf 
das ſprachliche Gebiet, jo war doch immer, wie aus dieſen Aus» 


(278) 


führungen fich ergeben dürfte, für jede Detailunterjuchung der 
pſychologiſche Gefichtspunft maßgebend, und dieſer wurde in 
dem Programm der mit Lazarus gemeinjfam herausgegebenen 
Beitjchrift für Völkerpſychologie einer erheblichen Erweiterung 
über die gewöhnliche Faſſung hinaus unterworfen. In einem 
befannten charakteriftiichen Ausspruch des Sofrates bezeichnet er 
als das eigentlihe Studium des Menjchen den Menjchen jelbit; 
der Baum 3. B. lehre ihn nichts, und damit war für unfere 
abendländifche Wilfenichaft das Objekt für die Unterfuchung ge 
funden. Uber fichtlih war dadurch über den Begriff dieſes 
Material3 ebenjowenig etwas bejtimmt, wie über die Methode 
der Forſchung, und deshalb kann es nicht vermwundern, wenn 
troß der prinzipiell richtigen Formulirung des Problems durch 
Aristoteles in dem befannten Satze: Der Menſch ift feiner Natur 
nad) ein joziales Weſen, die mannigfachiten, faft einander wider: 
Iprechenden Anläufe verjucht wurden, jenen Begriff kritiſch zu 
realifiren. Dieſe Schwankungen mußten jolange anhalten, als 
in diefer Unterfuhung noch wejentlid) die Spekulation (etiva 
über das Wefen, die Beitimmung des Menjchen u. j.w.) das 
Wort führte, und nicht die Induktion, jolange es eben an einer 
ougreichenden, über den ganzen Erbball ſich erjtredenden und 
deshalb allgemein gültigen Erfahrung, wie fie erjt im vollen 
Umfang die moderne Völkerkunde geliefert hat, fehlte. Damit 
verſchob fi) aber auch naturgemäß das Prinzip der Forſchung; 
ſuchte diejelbe bislang (jelbft bis in die Zeit des modernen 
Idealismus hinein) in einer analytiichen Begriffszergliederung 
die Bedeutung der einzelnen ſeeliſchen Funktionen und Erjchei- 
nungen zu ergründen, fo wurde nunmehr umgekehrt die Gejamt- 
heit geiftiger Prozeffe nad) ihrem einheitlichen Zufammenhange 
einer ſynthetiſchen Betrachtung unterworfen, das Sch nicht mehr, 
wie bislang, al3 der allmächtige, ſouveräne Schöpfer des ganzen 


Getriebes aufgefaßt, fondern der Einzelne in einer organischen 
(279) 


— 


Wechſelwirkung mit Anderen ſeinesgleichen, ohne welche eine 
individuelle Exiſtenz ſchlechterdings hinfällig und unbegreiflich 
ſein würde. Der Entwurf dieſer neuen, vielverſprechenden Welt: 
anſchauung lautet folgendermaßen: Die Pſychologie lehrt, daß 
der Menſch durchaus und ſeinem Weſen nach geſellſchaftlich iſt, 
d. h. daß er zum geſellſchaftlichen Leben beſtimmt iſt, weil er 
nur im Zuſammenhang mit ſeinesgleichen das werden und das 
leiſten kann, was er ſoll, ſo ſein und wirken kann, wie er zu 
wirken und zu ſein durch ſein eigenſtes Weſen beſtimmt iſt. 
Auch iſt thatſächlich kein Menſch das, was er iſt, rein aus ſich 
geworden, ſondern nur unter dem beſtimmenden Einfluſſe der 
Geſellſchaft, in der er lebt. Jene unglücklichen Beiſpiele von 
Menſchen, welche in der Einſamkeit des Waldes wild auf 
gewacdjen waren, hatten vom Menſchen nicht? als den Leib, 
dejjen fie fich nicht einmal menjchlich bedienten; fie ſchrien wie 
das Thier und gingen weniger als fie Mletterten und krochen. 
So lehrt traurige Erfahrung felbit, daß wahrhaft menjchliches 
Leben der Menjchen, geiftige Thätigkeit nur möglich ift durd) 
das Zujammen- und Ineinanderwirken derjelben. Der Geift 
ift das gemeinjchaftliche Erzeugniß der menſchlichen Gejellichaft. 
Hervorbringung aber des Geiftes ift das wahre Leben und die 
Beitimmung des Menfchen; alfo ift diefer zum gemeinfamen Leben 
beitimmt, und er, der Einzelne, ift Menſch nur in der Gemein- 
jamfeit, durch die Theilnahme am Leben der Gattung (Zeitjchrift 
für BVölferpfychologie I, 3). Daher wird die Grenze zwilchen 
der individual. und der völferpjychologifchen Betrachtung in 
folgender Weije gezogen: Es verbleibe der Menjch als feelijches 
Individuum Gegenjtand der individuellen Piychologie, wie eine 
ſolche die bisherige Piychologie war; es jtelle ſich aber ala 
Fortſetzung neben fie die Piychologie des geſellſchaftlichen Menjchen 
oder der menschlichen Gejellichaft, weil für jeden Einzelnen die 
jenige Gemeinjchaft, welche eben ein Volk bildet, ſowohl die 


(280) 


11 


jederzeit hiſtoriſch gegebene, als auch im Unterſchied von allen 
anderen Kulturgeſellſchaften die abſolut nothwendige und im 
Vergleich mit ihnen die allernothwendigſte iſt. Einerſeits nämlich 
gehört der Menſch niemals bloß dem Menſchengeſchlecht als der 
allgemeinen Art an, und andererſeits iſt alle ſonſtige Gemein: 
Ihaft, in der er etwa noch fteht, durch die des Volkes gegeben. 
Die Form des Zujammenlebens der Menjchheit ift eben ihre 
Trennung in Bölfer, und die Entwidelung des Menjchengejchlechts 
it an die Verjchiedenheit der Völker gebunden (a. a. D. ©. 5). 
Es erhellt aus dieſen Ausführungen, daß das Gebiet diejer 
neuen Wiſſenſchaft das Gefamtleben der Menjchheit bildet, jofern 
ſich diejelbe ſchon in beftimmte Völfergruppen mit irgendwelcher 
jozialer Ordnung differenzirt hat. Die ganze Fülle des jchaffenden 
Volksgeiſtes, die fi) in Sprache, Mythologie, Religion, Recht, 
Sitte und Kunjt offenbart, gehört in Ddiefen weiten Rahmen 
hinein, es ift eine Kulturgefchichte idealen Stils, um die e3 ich 
bier handelt, indem zugleich in und mit dem Detail der Ent. 
widelung die herrſchenden Gejege mit zur Darjtellung gelangen. 
In diefer pſychogenetiſchen Perſpektive, welche die Völker als 
Organismen gleihjam höherer Potenz betrachtet, erjcheint die 
Bölferpfychologie als die „Erforjhung der geijtigen Natur des 
Menichengejchlechts, der Völker, wie diejelbe zur Grundlage zur 
Geihichte oder dem eigentlich geijtigen Leben der Völker wird.” 

Unfeugbar jchon ein gewaltiger Yortfchritt gegen früher; 
denn während die rationaliftijche Anficht Roufjeaus z. B. Die 
Sitten und Geſetze aus einer ad hoc gejchehenen vertrags: 
mäßigen Verabredung (Contrat social) hervorgehen ließ oder 
während man unbedenklich von einem Beſitz uriprünglicher, an- 
geborener moralifcher Ideen ſprach, unternahm es die Völker: 
piyhologie, unterftügt von der vergleichenden Sprachwiſſenſchaft, 
den pfychologijchen Entwidelungsgang irgend einer Anjchauung 


oder Sitte nachzuweiſen. Man verzichtete von vornherein auf 
(281) 


12 





den wohlfeilen Ruhm, Geſetze zu defretiren, welchen hinterher 
die Erjcheinungen zu gehorchen hätten, jondern man fuchte um— 
gefehrt durch vorjichtige Vergleichung ähnlicher Vorgänge die 
Kaufalität diefes geiftigen Wachsthums zu ergründen. Ganz 
bejonders gilt das von den beiden großen Gebieten der Mytho- 
logie und Religion, welche bislang meist als ein wüjter Tummel⸗ 
plag jchranfenlofer Phantaſtik angejehen waren. Daß unjer 
Gewährsmann andererjeit3 die in manchen naturwifjenjchaftlichen 
Kreiſen herrichende Anficht, NReligion und Mythologie ftellten 
nur einen großen, zujammenhängenden Fehltritt des menschlichen 
Intellekts dar, nicht theilt, bedarf wohl feiner bejonderen Be— 
gründung. Es handelt ſich aud) in erfter Linie nicht um haar- 
ſcharfe begriffliche Definitionen -—— gerade durch jolche, öfter auch 
durch dogmatiſche Rüdfichten mitbedingte Erklärungen ift ſchon viel 
Verwirrung und Unheil angeitiftet —, fondern um die Firirung 
des richtigen Standpunkte und Verjtändnifjes, um jolchen Bro» 
blemen nicht befangen gegenüber zu treten. Auch Hier kann erft 
eine einfichtige piychologiiche Auffafjung uns den rechten Weg 
eröffnen, wie es die folgende Betrachtung verfucht: Unter dem 
Begriff Mythos befaffen wir die gejamte Vorftellungswelt der 
Völker auf ihrer erjten Entwidelungsitufe, welche von den 
Völkern der Weltgejchichte längſt überftiegen ift, auf welcher 
aber die fulturlofen Stämme heute noch verharren, auf welcher 
die Kinder immer ftehen werden. Das Bild, welches fich der 
Menſch auf der erjten Stufe geiftiger Bildung von dem AN 
entwirft, wie er fich die Geftalt und Einrichtung der Welt als 
eines Ganzen vorftellt und wie er fich die einzelnen Vorgänge 
in der Natur und im Menfchenleben erklärt, wie er fi) den 
Grund alles natürlichen und geijtigen Dafeins und der Be 
ihaffenheit aller Wejen begreiflihh macht: das alles ift Mythos. 
Er denkt mythiſch, und darum wird jeder Gedanke zum Mythos, 
jede Anſchauung zum Symbol. Was Heißt das nun aber — 


(282) 


13 


mythiſch denken? Um dies zu verftehen, müfjen wir verjuchen, 
uns in das Bewußtſein der ältejten Gejchlechter zu verjeßen. 
Denken wir uns aljo die Menjchheit im Alter der Kindheit. 
An Geift iſt fie ein Kind, fie ift noch ohne jede Erfenntniß. 
Sie liebt das Licht, denn das Auge ift ja jonnenhaft, und 
alles liebt jeinesgleihen. Auch die Wärme fühlt man wohl: 
thuend. Es ift Tag. Nun aber ſinkt die Sonne zufjehends, 
ſchwindet gänzlich und es wird Nacht, dunkel und fühl. Das 
Auge fieht nicht mehr Mar; auch das Gethier Hat fich zurüd- 
gezogen, und nur das übelflingende Gejchrei von Nachtvögeln 
und Raubthieren wird in der Stille um jo graufiger vernommen. 
Ein feuchter Wind erkältet den Leib und zerjtreut den angezün: 
beten Neijerhaufen, die Flamme ift erlojchen. Je weniger Be: 
ftimmtes die Sinne wahrnehmen, um fo lebhafter gejtaltet fich 
der innere Sinn, angemefjen der unbehaglichen Stimmung, in un« 
heimlichen Formen. Man iſt müde und fühlt die Schwäche der 
Lebenskraft; man fühlt ſich in Gefahr, angegriffen von unficht- 
baren, graufigen Mächten, welche jhon Licht und Wärme und 
Leben hingerafft haben. Dann ſinkt man in Schlaf, in Er: 
ftarrung; das Bewußtjein ift hin. Und darauf erwacht man 
wieder und man fieht, wie das Licht wieder da ijt und immer 
mehr wiederfommt, die Sonne fteigt und Pflanzen und Thiere 
leben wieder auf. Man hat einen Tod und eine Auferjtehung 
des Als und jeiner jelbit erfahren, man war dabei ganz un: 
thätig und fühlte fich ganz ohnmächtig, man war dahin. Man 
hat nichts abwehren fünnen und man Hat nicht? dazu gethan, 
das geichwundene Leben wieder zu erweden. Mit welchem 
Gefühl muß dieſer Menſch die im majeftätifcher Pracht auf: 
gehende Sonne begrüßen, — jetzt, da er fich wieder in frifchejter 
Kraft erhebt? Es war Sommer, nun wird es Winter. Die 
Mächte der Nacht find gewachjen, fie verdrängen Licht und 
Wärme immer mehr, fie jcheinen ganz de8 Tages Herr zu 
(233) 


14 





werden, Herr zu fein; das Licht verhüllt von dunklen Wolfen, 
die Pflanzenwelt abgejtorben; jet ericheint alle8 dem ficheren 
Untergange nahe. Und nun lommt der Frühling: das Licht 
hat wieder gefiegt und wiederum lebt alle neu. Und der 
Frühling kommt in füdlicheren Gegenden, wo jene Menjchen 
wohnten, unter furdhtbaren Gewitterftürmen und Regengüſſen, 
mit ganz anderer Gewalt und Majeftät, als bei ung. Wie 
jo der kindliche Menſch das faſſen? Und das alles gejchieht 
abermals um ihn, — um ihn, räumlich und urſächlich, iu feiner 
Umgebung und um jeinetwillen, jo muß er glauben. Und er 
hat gar nicht® dabei gethan. Aljo andere Wejen haben gewirkt, 
um ihn gefämpft; einige haben ihn bedroht und andere haben 
ihn gerettet. Er fühlt fi als Gegenitand eines Kampfes 
zwiſchen Wejen, die ihn Hafen und lieben, die ihn verfolgen 
und die ihn ſchützen. Was find das für Weſen und wie joll 
er fich zu ihnen verhalten? Hier ift, ich fage nicht der Quell, 
aber die Veranlafjung zu Mythus und Religion; denn der 
Quell fpringt im Innern des Menſchen, bei ſolchen Anläfjen 
bricht er hervor. (Zu Bibel und Religionsphilojophie S. 130.) 

Man mag in diejer poetifch geftimmten Schilderung einen 
gar zu Hohen, dem einfahen Naturmenjchen unzugänglichen 
Schwung finden, foviel ift Mar, daß der Menſch durch die Er- 
eigniffe der Natur und feiner Umgebung, ſofern diejelben für 
jein Wohlergehen von entjcheidender Bedeutung find, unmittelbar 
in jeinem ganzen Denken und Empfinden beeinflußt wird, und 
daß er überall dasjelbe Gejchehen oder, wenn wir einen vor— 
nehmeren Ausdrud vorziehen, diefelbe Kaufalität vorausſetzt, 
die er in und an fich jelbjt wahrnimmt. Deshalb fieht er in 
allen Naturvorgängen Handlungen beftimmter, ihm gleichjtehender, 
bezw, übergeordneter Weſen, — denn einen leblojen Mechanismus 
fennt er nicht —, und fo entwidelt fich auf diejem fruchtbaren 
animiftiichen Nährboden mit Hülfe einer gejchäftigen, gejtaltungs- 

(284) 


5 





freudigen Phantafie eine buntjchillernde Welt von Göttern und 
Göttinnen mit ihrem ganzen Gefolge von Dienern und Boten, 
wie fie den Olymp der verjchiedenen Völker füllt. Natur: 
verehrung geht mit dem uralten Ahnenkultus in diejer anthropo— 
morphen Zeichnung der Welt Hand in Hand, und fo finden 
wir in der Berjonificirung der elementaren Gewalten, der Um— 
Heidung mit rein menjchlichen Zügen und Eigenjchaften, der 
Dramatifirung der Natur und der daran fich anjchließenden 
Einordnung der verjchiedenen Götter in ein mehr oder minder 
lückenloſes Syſtem, in den Kampf der einzelnen Dynajtien mit- 
einander? u. ſ. w. den überall hervortretenden Prozeß der 
Theogonie aus dem großen Untergrund des Fosmogonijchen 
Glaubens. Dieje Zerjegung des urfprünglichen mythiſchen Ge— 
haltes in die poetifchen Formen der Sage und des Märchens 
bei abjterbender Kraft der mythologischen Phantafie und Naivetät 
bier weiter zu verfolgen (für dag Märchen kommt die uralte 
Verwandtichaft der Thier- und Menfchenwelt, von welchem 
Ölauben die Naturvölter ſämtlich durhdrungen find, jehr in 
Betracht), ift nicht wohl möglich; es mag genügen, auf das 
uns nächjtliegende Beifpiel des Chriſtenthums zu verweilen, das 
die wichtigsten Geftalten des altheidnifchen Glaubens mit ge 
ringeren oder ftärferen Abweichungen und Umbildungen in feinem 
Pantheon aufnahm, fo daß einem fchärferen Blid manchmal 
durch den jpäter aufgetragenen Firniß die urjprünglichen Züge 
ſich deutlich entjchleiern. 

Wie verhält fih nun Neligion und Mythus zu einander, 
oder ijt jeme vielleicht erjt ein verhältnigmäßig ſpätes Kultur- 
produft, wie uns einige naturwifjenjchaftliche Forſcher zuweilen 
glauben machen wollen? Das wäre jehr voreilig gedacht, es 
hat ſich noch ftet3 bei derartigen Urtheilen nachträglicd) heraus» 
geitellt, daß entweder mangelhafte Beobachtungen zu Grunde 


lagen oder einjeitige, dogmatiſche Begriffsbeftimmungen, die wohl 
(285) 


16 


gar der chrijtlichen Sphäre entnommen waren. Geht man aber 
von rein jpefulativen Ariomen aus oder verlangt man einen be» 
ftimmten Gottesdienft und Ritus, einen Priefterjtand u. j. w., jo 
wird man freilich bald zu dem traurigen Ergebniß fommen, eine 
Menge von niedrig ftehenden Völkerſchaften für religionslos zu 
erklären. Steinthal nimmt deshalb einen möglichjt weiten Spiel« 
raum an: Religion ijt nichts anderes und nichts weiter als das 
Gefühl der Erhebung, welches zunächſt die Jdeale und dann aud) 
alle wirflihen Dinge in ung erweden, injofern und in dem Maße, 
als fie das deal verwirklichen, Begeijterung für das Gute, 
Wahre, Schöne, das hervorgebradt ijt, oder für irgend etwas 
Vorhandenes, injofern es gut, wahr, ſchön ift. Der Menſch 
bat nicht nur den falten Trieb, Alles um fich her und fich jelbit 
zu erfreuen und die äußere Natur zu feinem Nugen und zum 
Beiten aller Anderen zu bearbeiten; audy gewährt nicht nur 
dieſe Thätigkeit des Forſchens und Erfennens und der Unter: 
werfung der Natur dasjenige Gefühl der Befriedigung, welche 
jede Uebung einer in uns innewohnenden Kraft herbeiführt, jon- 
dern, hiervon noch abgejehen, Liegt im Menjchen ein Drang, 
über jedes Gegebene, über Alles, was er vorfindet, hinwegzu— 
gehen, von jedem Beſchränkten vorzujchreiten zum Unendlichen, 
zum Vollkommenen ohne Fehl. . . Religion, Jdealismus, Be: 
geifterung ift das Gefühl für das Umendliche ſchlechthin und für 
das Enbdliche, injofern es eine Darftelung des Unendlichen ift. 
Darum jegt die Religion immer ein Höchjtes, was wir Gottheit 
nennen, einen unauslöjchlichen Herd der Begeijterung, von dem 
die Strahlen abwärts? gehen. Daher ift der religiöje Ausdrud 
für die Religion der: Gefühl für die Gottheit und alles Seiende, 
injofern uns dies volllommener oder unvolllommener die Gott: 
heit darftellt. (a. a. O. S. 141.) Wir jahen aber jchun vorher, 
daß der naive Menjch, einem unentrinnbaren Drange und Triebe 
folgend, mythiſch denft. „Solange der menschliche Geift aus 


(286) 


17 


jeder Erjcheinung einen Mythos bildet, jolange er feinen Gegen- 
ftand anders als im Mythos erfaßt, jolange muß nothwendig 
die religiöfe Werthichägung der Dinge, da3 Meſſen am Unend- 
lihen jih um Mythen bewegen und fid) mythiſch ausdrüden, 
Nicht nur jedes einzelne Ding, jondern zu allermeift das, was 
als das Umendliche, als Gottheit gilt, und das BVerhältniß, in 
welchem alle8 Endliche und namentlich der Mensch fich zur 
Gottheit befindet, wird mythiſch geftaltet. Solange alfo ber 
Menſch von den Naturerjcheinungen noch jo ergriffen ift, daß 
jeine Sinne in hohem Grade davon geblendet find, und daß er 
folglich die unvollfommenften Wahrnehmungen ganz phantaftiich 
fombinirt und ergänzend ausgeftaltet, folange wird er in ben 
erichütterndjten Erjcheinungen das Unendliche am ficherjten zu 
erfafjen meinen, und in den Gejftalten, welche er im Gewitter 
und im MUebergang von der Nacht zum QTage jo eindringlid) 
fennen lernt, feine Gottheiten jehen.” Durch dieſe innige Be- 
ziehung des mythiſchen Empfindens zu dem religiöfen Gehalt 
werden nun die verjchiedenen Entwidelungsftufen bedingt, welche 
diefer Prozeß bekanntlich vom Bolytheismus an aufweift. „Mythen 
veranlafjen urjprünglih mit Nothiwendigfeit Vielgötterei, aber 
obwohl der eine Gott nur im jchärfiten Widerſpruch gegen 
Götzendienſt hervortreten kann, jo verträgt fi) doch auch er mit 
dem Mythos; und wenn er im findlichen Gemüth entjprungen 
it und kindlichen Geiftern gepredigt wird, jo nimmt auch er 
nach Lage der Sache mythiiche Form an. Wie Hoch und rein 
auch ihrem Inhalte nach die Religiofität des alten hebräischen 
Propheten ift, jo iſt er doc an Bildung des Verſtandes noch 
völlig Kind. Das eigentliche Weſen des mythiichen Denkens, 
daß e3 den Gegenftand nicht im Begriff und in Abjtraktionen 
erfaßt, jondern in Anfchauungen aus dem Kreiſe der irdijchen 
Natur und dem Leben und Verkehr der Menjchen: das bleibt 


beim Aufgange und jelbit noc während der Entwidelung des 
Eammlung. N. 5 XIII. 296. 2 (287) 


Monotheismus beftehen. Man merkt es dem Propheten klar 
genug an, wie jehr er ringt, für die Darjtellung eines unend- 
lichen Gottes alle Banden und Schranken der finnlihen Natur 
zu durchbrechen, und diefes Streben macht ihn zum größten, zum 
erhabenjten Dichter: aber er ift Dichter geblieben, er war noch 
nicht logifch gebildet. Bejonders aber das Verhältniß des End- 
fihen und des Menjchen zu Gott, obwohl im Monotheismus in 
feinem Vergleich tiefer erfaßt als im Polytheismus, wird doc) 
auch hier ganz mythiſch gedacht: Schöpfung, Offenbarung, Bünd- 
niß oder Verlobung mit dem augerwählten Volke, jüngiter Tag, 
Meifias, Sohn Gottes, Opfer, das Alles ift Mythos. (a. a. O. 
©. 146.)? 

Es leuchtet für jede unbefangene Auffafjung ein, daß gerade, 
je mehr der Mythus den religiöfen Kern der Ideen überwuchert 
hat (wie das ja meijtens im Laufe der Zeit zu gejchehen pflegt), 
es um jo mehr eine gebieterifche Pflicht der wifjenfchaftlichen 
Forſchung wird, dieje verjchiedenen Strömungen und Schichten 
nad) Möglichkeit zu jcheiden. Dieſe Kritik, jofern fie nur vom 
Geifte echter Toleranz und unbeftechliher Wahrheitsliebe erfüllt 
ift, kann nur Gutes wirken, indem fie zugleich Neues jchafft 
und Irrthümer entfernt, ohne dem frommen Glauben zu nahe 
zu treten. Wären nicht in dieſer Beziehung in unmittelbarer 
Gegenwart jo ſeltſam jchiefe und widerjprechende Vorftellungen, 
jelbjt bei hochgebildeten Leuten, im Umlaufe, jo verlohnte es 
fi faum der Mühe, auf diefe Bedeutung wiſſenſchaftlicher 
Prüfung Hinzumweilen, die man geradezu mit Gteinthal als 
religiöje Pflicht bezeichnen Fann. (vgl. Zu Bibel und Religions: 
philojophie, Neue Folge, S. 11, und Ueber Toleranz, Bibel und 
Religionsphilojophie, S. 189 ff.) 

Während Steinthal erfenntnigtheoretiiche Fragen nie im 
Bujfammenhang behandelt hat, war für ihn neben der Pſychologie 
die Ethif immerfort ein Gegenjtand eifrigjten Intereſſes, das 


(832) 


19 
ftieg, je mehr neuerdings die frühere Weltanſchauung und ihre 
Ideale durch naturwifjenjchaftliche Skepſis und wuchtige Angriffe 
nicht wenig erjchüttert wurden. Als er die Hand an den Ausbau 
einer umfafjenden Sitten. und Pflichtenlehre legte, jchilderte er 
feinem Freunde M. Lazarus, dem er das Werk widmete, dieje 
Stimmungen und Motive mit anerfennenswerther Offenheit: 
Wir Haben die Schwelle des Greijenalter8 überjchritten, und 
vielleicht reicht für Jeden die Feier eines fünfzigften, eines 
jechzigiten Geburtstages ſchon hin, um ihm Gedanken an die 
Flüchtigkeit des körperlichen Daſeins aufzudrängen und einen 
Vergleich der Vergangenheit mit der nach Wahrjcheinlichkeit noch 
zu erhoffenden Zukunft, des Geleifteten mit dem Aufgegebenen 
nahe zu legen. So dürfte e8 wohl fein, aud) wenn das Leben 
ruhiger dahingeflofjen ift, und fein Stoß eine härtere Mahnung; 
erteilt oder ein jtärferes Bedürfniß erwedt hat; und da würde 
wohl Feder Klarheit über Aufgabe, Zwed und Werth des Lebens 
wünjchen, welche er bisher vielleicht fich zu jchaffen noch gar 
nicht ernftlich verfucht hat. Wenn uns aber das Schickſal nicht 
jo mild war, wenn Schlag auf Schlag folgte (der zweite härter 
als der erjte, weil er eben der zweite), und wir dann plötzlich 
inne werden, daß die Säulen unſerer Weltanſchauung, deren 
Teftigfeit wir nie oder lange nicht mehr geprüft hatten, jemals 
neu prüfen zu müfjen nicht gefürchtet hatten, morjch und wurm- 
ftihig find und daß fie dem Ziehen und Stoßen der jungen 
Weltſtürmer nicht Stand halten können, und endlich, wenn wir 
mit Schreden gewahren, daß über unjerem Vaterlande die 
Ihönften Sterne fittliher Bildung zu verlöfchen drohen, dann 
fann e8 wohl nur heißen: Neu .aufrichten, was zerfallen ift, 
eine neue Ethik. Und zwar eine durchaus ideale Ethik, weil 
e3 feine andere giebt, welche aber allen Angriffen jeiten® ber 
mechanischen Natur- und Geifteswifjenfchaften dadurch entzogen 
iit, daß fie ganz innerhalb der Mechanit* bleibt, diefer nirgends 


a (289) 


20 
widerſpricht und feinen transcendenten, noch trangcendentalen 
Schritt thut. Die idealen Gefühle, wie ich hier ihr Wejen be- 
jtimme, find eine alltägliche, leicht nachweisbare pſychologiſche That- 
ſache; die Freiheit, wie ich fie faſſe, bewegt fich ganz empirisch, 
ganz gejeßlih in dem Mechanismus des Bewußtjeind, und ob- 
wohl ganz der Erfahrung anheimfallend, bietet ſich ein Ausblid auf 
ein dem Einzelnen unfaßbar Erhabened. Wo Anlaß zu Schmerz 
oder Freude ijt, joll der Menſch auch jolche fühlen, wem nicht 
jener wie dieje fittlichen Gewinn bringt, dejjen eigene Schuld ift 
«3. Dieje Ethif aljo ift mir ein Kind des Schmerzes. Sie 
ift der Bund, der Friede, den ich mit dem Leben gejchlojien 
babe. Sie joll und fie wird, hoffe id), mein Herz kindlich er- 
halten, d. h. frei von jeder Bitterfeit gegen die Menjchen oder 
das Scidjal, wie bisher joll auch ferner fein Tropfen Gift in 
mein Blut kommen. Sie wird mich mit Kraft und Hoffnung 
erfüllen zum Ertragen und zum Wirken, zu Kampf und zu 
Liebe. In ihre habe ich meinem Gemüth ein Heim gejchaffen, 
in welchem ic) die Ereignifje und Bewegungen um mich her mit 
Ruhe und bejonnener Theilnahme verfolgen fann. (Worrede zu: 
Allgemeine Ethik.) Daß aber der in allen Tonarten jpielende 
und gegenwärtig wieder jehr graflirende Peſſimismus bei unjerem 
Denker, der übrigens feinen Blick nicht gegen die vielen frejjenden 
Schäden der Zeit verjchliekt, auf feine Zuftimmung zu rechnen 
bat, bedarf wohl feiner nachdrüdlichen Betonung. „Wollen wir 
mit dem Peſſimismus die Feigheit vertreten, das Nichts für das 
abjolut Gute zu Halten, aber doch den Sprung ins Nichts zu 
unterlafjen, dies bejchönigend mit dem Vorwande, daß wir ja 
doch nicht Alle bereden könnten, mit ung zu gehen? und echt 
jophiftiich fortfahrend, daß, wenn fi) auch alle Menjchen mit 
uns in das Nichts ftürzten, vielleicht nach ung, früh oder jpäter, 
ein neues Menjchengejchlecht entjtehen würde, das unter den- 


jelben Uebeln Iitte, an denen wir kranken? Wollen wir uns 
(490) 


— 


dem neueſten peſſimiſtiſchen Mythos hingeben von einem leidenden 
Gotte, der, um ſich von einem Schmerz zu heilen, die ſchlechte 
Welt geſchaffen hat, in der Weiſe und Abſicht, wie wir uns 
gelegentlich eine ſpaniſche Fliege auflegen, eine Fontanelle 
machen? und wollen wir uns dabei heimlich mit der Hoffnung 
figeln, daß, ſolange wir leben, der Gott das Heilmittel, Welt 
genaunt, nicht von fi thun werde?” (Ethik ©. 18.) 

Wir fönnen ung hier nicht in das Detail ethiſcher Syftematif, 
wie fie bier, häufig unter Anlehnung an Herbart (jo in ber 
Aufitellung der fünf für die Weltanfchauung maßgebenden Ideen), 
verjucht wird, einlaffen, aber an einigen bejonders wichtigen 
Problemen dürfen wir nicht theilnahmlos vorübergehen, jo au 
der heiflen Frage von der Allgemeingültigkeit unferer fittlichen 
Vorjtellungen. Die Unverträglichkeit der einzelnen empirischen 
Normen, wie fie eben im Laufe der fulturhiftorifchen Entwidelung 
entjtanden find, oft genug auch durch rein äußere geographijche 
Bedingungen mit hervorgerufen, mit einem jchlechthin jeder Zeit 
und überall anerkannten Geſetz fteht feit und wird zum Ueber- 
fluß durch die neuere Völkerkunde immer mehr beftätigt; jomit 
it eine rein jpefulativ» dialektiiche Ableitung aus einer um: 
Ichließenden Zentralidee den jchwerjten Bedenken ausgejebt. 
Anders jtellt fi) die Sache, wenn man, wie e8 hier gejchieht, 
von vornherein auf die Zuſtimmung jeitens indultiver Inftanzen, 
auf die etwaige Uebereinſtimmung mit der Wirklichkeit verzichtet. 
Indem die Ethik, vom Wejen des Willens ausgehend, Ideen 
entwidelt, zeichnet fie Verhältniffe, welche die Mujterbilder? 
aller fittlichen Wirklichkeit in begrifflicher Form enthalten. Dieje 
reinen Bilder des Willens an fich find zwar nicht anſchaulich, 
da ihnen die Objekte fehlen; aber, obwohl fie von aller Wirf- 
lichkeit abjehen, find fie von allgemeinfter Gültigkeit. Sie find 
nirgends und überall. Keiner Wirklichkeit entnommen, ijt ihnen 
jede That unterworfen. Ob alles Wirkliche vernünftig ift, wifjen 


(291) 


22 





wir nicht und brauchen wir wenigſtens bier nicht zu entſcheiden 
gewiß aber ift, daß alles Wirkliche der Beurtheilung der Ber- 
nunft unterliegt. Aber nur, wenn die Ethik bloß der Vernunft 
entftammt und nicht der Wirklichkeit entnommen ijt, kann fie 
den allgemein und nothwendig gültigen Maßſtab für alles Wirk. 
liche abgeben“ (S. 84). Selbjt die Umverträglichkeit einzelner 
Namen mit diefer behaupteten allgemeinen Faſſung des Ideals 
wird nicht als hinreichend triftiger Gegengrund anerfannt: „Nicht 
bloß darauf will ich hinweijen, daß ja aud die Geltung ge 
wiſſer logijcher Geſetze beftritten worden ijt, — die Hauptjache 
ift, daß, wie bei der Logik, jo auch bei der Ethik trog der un— 
beitrittenen Anerkennung der logiichen Gejege und der ethiſchen 
Ideen, in der Anwendung auf die wirklichen Erkenntnifje und 
auf das wirkliche Leben ſich Bedingungen geltend machen, welche 
das Ergebuiß verjchieben. Was die fittliche Beurtheilung betrifft, 
jo fommt es darauf an, daß der Beurtheilende alle pathologiichen 
und jogar die formal-äjthetiichen Gefühle zum Schweigen bringe 
und nur das formale ethijche Gefühl jprechen Iafje; das vermag 
nicht Jeder, das vermag oft ein ganzes Volk, ein ganzes Beit- 
alter nicht. Ferner muß die zu beurtheilende That oder Sitte 
in Vollſtändigkeit ihrer Berhältnifje in voller Klarheit vor dem 
Bewußtjein jchweben, wenn die Beurtheilung eine alle Seiten 
des Objekts umfafjende, aljo eine völlig zutreffende jein joll. 
Wenn diefe unerläßlichen Bedingungen einerjeit3 der Unparteilid)- 
feit und Objektivität und andererjeits der jubjektiven Befähigung 
flaren Zujammenhaltens aller Theile des thatjächlichen Bildes 
nicht völlig erfüllt find, jo kann bei der ethifchen, wie bei der 
äfthetiichen Beurtheilung und der wifjenjchaftlichen Erfenntniß 
ein genügendes, wahrhaftes Ergebniß ſich nicht Herausjtellen“ 
(a. a. O. S. 86). Will man hier nicht in unlösbore Widerfprüche 
verfallen, jo wird der wichtige Unterjchied zwifchen materialer 


und formaler Beurtheilung nicht zu vermeiden fein; materiell, 
(292) 


23 


inhaltlich begegnen wir der bunteften Fülle rechtlicher und fitt- 
licher Gebote, bezw. Verbote, und es bejteht faum eine Hoffnung, 
dieſe Berjchiedenheit als den organischen Prozeß einer imma» 
nenten Entwidelung, eine® dem höchften Urbilde zuftrebenden 
Fortſchritts auffafien zu können. Dagegen find wir vollauf 
befugt, von einem formellen Gefühl, von einer aprioriſchen Dis: 
pofition und Anlage des Menfchen zu jprechen, je nach Lage 
der Umjtände in einem bejtimmten Falle jo oder anders zu 
handeln. Dieſe urſprüngliche Funktion, welche jede That 
bedingt, iſt jomit etwas der Erfahrung vorausgehendes und 
Tann nicht nachträglid) aus ihr entlehnt werden, und dieſe An: 
gemefjenheit des Individuums an irgendein und jei es noch jo 
primitives und dürftiges Jdeal, an eine joziale Norm, ftellt das 
Moment der Pflicht,“ das Sollen dar, dem ja Kant einen jo 
begeifterten Zobgejang gewidmet hat. Dazu kommt dann nod) 
der fo Häufig überjehene Gegenſatz von Natur: und Sitten: 
gejegen, der für die Ethik jo maßgebend iſt. Sie ehrt nicht 
{heißt e3 Hier), wie die mechanijchen Gejege, was unter ge- 
gebenen Bedingungen nothwendig gejchieht, gejchehen muß und 
nicht ausbleiben kann, jondern die Ideen, als Pflichten und 
Geſetze gedacht, jprechen bloß aus, was gejchehen joll, ohne 
Rückſicht darauf, ob es gejchieht oder nicht, und aljo allerdings 
felbft für den Fall, daß es niemals geſchehe. Die Gejehe des 
geihichtlichen Lebens drüden aus, was unter gegebenen Bedin- 
gungen überall nothwendig eintreten muß; die Gejchichtjchreibung 
zeigt, was dieſen Gejegen gemäß wirklich eingetreten ift, fie 
erzählt das Geichehene und führt dies auf Gejehe als noth- 
wendig Eingetreienes zurüd. Die Ethif lehrt ohne Rückſicht 
auf Gefchichte, was überall und immer eintreten jol. Das 
Geſchichtliche ift durch die an beftimmtem Orte und zu beftimmter 
Zeit gegebenen Bedingungen und ihre Gejehe nothwendig hervor: 


getreten, die Ethif iſt unbefümmert um örtliche und zeitliche 
(293; 


— 


Verhältniſſe, die am Objekt haften, und lehrt die ewigen Formen 
des Willens mit dem ihnen innewohnenden Sollen, ohne Rück— 
fiht auf Müſſen und Können. 

Für die ethiiche Betrachtung trifft ſodann jener jozial- 
pſychologiſche Gefichtspunft und Zufammenhang ebenfall® zu, 
den wir ſchon früher für die Völferpfychologie andeuteten, wenn 
e3 fi) um die Wechjelwirtung des Individuums mit jeiner 
Umgebung und der jozialen Organifationgjtufe überhaupt handelt. 
E3 entjpricht nicht dem wahren Sachverhalt, das Ich als jouve- 
ränen Schöpfer des ganzen feelifchen Lebens au die Spitze der 
Entwidelung zu ftellen, wie es eine befangene Spekulation 
gethan; umgekehrt, jo wenig wie fid) überhaupt unfere gejante 
geiftige Welt mit dem jchmalen Ausjchnitt des Bewußtſeins 
dedt, reift das Ich als ſelbſtbewußte Potenz erjt im Laufe einer 
langjamen immanenten Entfaltung, und zwar nur unter ftetiger 
Beeinfluffung durch die Gejellihaft, in der wir aufwachien. 
Nur jo ift eine wirffich ungetrübte Vervollkommnung des Ein- 
zelnen zu einer fittlich ausgereiften Perfönlichkeit, zu einem ge- 
prüften Charakter zu erwarten. Das Ih (jo leſen wir am 
Schluſſe der Ethik) ift nicht gegeben, jondern wird entwickelt, 
erworben — in verjchiedenem Grade, und wo es jchon in hohem 
Grade geftaltet ift, kann e8 auf Augenblide und für längere 
Zeit durch bejondere Veranlafjung getrübt, geſchwächt, vernichtet 
fein. Es ift nicht mehr bloß der pſychologiſche und grammatifche 
Ausdrud für die Verjönlichkeit des Individuums, nicht bloß 
Ausdruck der gegenfeitigen Beitimmung aller Elemente des Be— 
wußtfeind. In diefem Sinne kann es, wenn auch nur wenig 
gebildet, feinem menfchlichen Individuum fehlen; denn in jedem 
werden logijche Motive des Denkens, ſachgemäß wirkende Zwecke 
und, vereinzelt, ethijche Motive vorhanden jein. Wenn es aber 
in diefer Beziehung jchon mit der geiftigen Gejundheit gegeben 
ift, welche ja auf der gegenfeitigen Reizbarkeit der Borftellungen 


(294) 


beruht, jo fünnen wir nun nad) dem Borftehenden aud) ein 
fittfihes Ich ausjcheiden, d.h. wir können den Kreis des Ichs 
jo eng faffen, daß wir darunter nur die bejtimmende Macht der 
ethiſchen Normen verftehen, dann ift Ich nur der perfönliche 
Ausdrud für den Charakter (S. 451). In diejem idealen Sinne 
fommt dem Umfittlihen, der jich wider die Weltordnung auf- 
lehnt, fein Charakter, fein wahrhaftes ethifches Ich zu, weil 
ihm das Typijche, das Normale, das Allgemeingültige abgeht, 
dem gegenüber er nur eine beflagenswerthe Ausnahme bildet. 
Eine gründliche, gediegene wifjenjchaftliche Erfenntniß pflegt 
in den meiften Fällen eine leidenjchaftslofe Stimmung und 
Haltung des Gemüths hervorzurufen, welche nicht durch Die 
bin» und berfluthenden Wogen der jog. öffentlichen Meinung 
berührt wird. Das Ideal der alten Stoifer, die Unerjchütter: 
lichkeit des Charakters, läßt ſich aber aud) auf die feineren 
Nüaneirungen der Weltanjhauung anwenden, wo es ſich um 
eine Entäußerung der für die große Menge jo bezeichnenden 
Borurtheile und Schlagworte handelt, un die praftiiche Be— 
thätigung einer echt humanen Toleranz. Wir wiſſen zu gut, 
daß für unſere erleuchtete Zeit, die fich immerfort rühmt, es jo 
herrlich weit gebracht zu Haben, diefe Mahnung zur Duldung 
und Berträglichfeit nur zu begründet ijt. Bei einer pſycho— 
logiſchen Analyje zeigt es ji), daß es fich Hier meiſt um natio» 
nale und religiöje Borurtheile handelt, und gerade deshalb wird 
die ganze Leidenjchaftlichkeit des Gefühls jo erregt; das ijt von 
den Tagen des römischen Smperatorenthums und jeiner Juden: 
verachtung bis auf unjere Tage der Fall gewejen. So erklärt 
es fich denn, daß, wie unjer Gewährsmann ausführt, gar häufig 
aus der allgemeinen Lage der Verhältniſſe dasjelbe Vorurtheil 
in den Einzelnen immer neu durch eine gewijje generatio 
aequivoca hervorgebracht wird. Wehnliche Hiftoriiche Lagen er: 
zeugen im Einzelnen jelbjtändig ähnliche Vorurtheile, darum ift 
(295) 


26 
die Widerlegung reine Danaidenarbeit; das neunundneunzigmal 
als falſch Erwiejene wird vom Hundertiten ald etwas Neues 
vorgetragen, als weltrettende That. Indeſſen muß ja auch der 
Urzt, wenn er neunundneunzig von einer Krankheit Befallene 
geheilt hat, auch den Hundertjten zu heilen juchen (Zu Bibel 
und Neligionsphilojophie S. 227). Es verfteht fich Hierbei von 
jelbft, daß fich diefe Toleranz nur auf die Theorie, auf die 
freie Meinungsäußerung bezieht, nicht auf Handlungen, wodurch 
fih der Anarchismus leicht feine praftiiche Anerkennung er: 
jchleichen könnte. Verhängnißvoll ift die zügelloje Herrichaft 
jubjeltiver Stimmungen und Gefühle, welche eben jede nüchterne 
Prüfung des Thatbejtandes ablehnen; deshalb auch die jo be- 
zeichnende Sucht, durch vorjchnelle VBerallgemeinerungen (mobei 
die Superlative gewöhnlich eine wichtige Rolle jpielen) möglichft 
zu gewifjen abjchließenden Perjpektiven zu gelangen, zu Ariomen, 
über die hinaus es feine Berufungsinftanz giebt. Man jpricht 
nur den Namen Hellas oder Rom, Italien aus (jchreibt Stein. 
thal), und man glaubt jchon leibhaftig eine andere Bläue bes 
Himmel über unſerem Haupte gezaubert zu haben; es find 
eben die glänzendjten Erjcheinungen der Art, welche das Gefühl 
am mächtigjten weden. Und jo gejchieht es umgekehrt an den 
abjtoßendjten Geftalten. Vor dem überlieferten Bhantafiebilde 
des abjcheulichiten, feine innere Nichtswürdigfeit auf der Stirn 
tragenden Juden fragt man fi: wie kann dies Volk, ein jolches 
Volk Gemüth haben? Dichtung, Gejang und Mufif? gar Poeſie 
im Leben, fittlihe Grundfäße, Liebe aller Art? Wie Eönnen, 
fährt der Gebildete fort, Semiten deutjch fein? Wie fann in 
der jemitischen Raſſe hellenischrömisch.germanifches Gemüth fein? 
Verſtändniß fir Plato, Kant, Beethoven oder gar Fähigkeit, in 
deren Geiſt zu jchaffen? (a.a.D. S. 218). Eine gejunde, in 
ſich ſelbſt gefejtigte Gefittung kann auf ſolche Auswüchſe einer 
barbarijchen und theilweife frivolen Gefinnung nur mit Be 
(296) 


27 

dauern bliden, in der feiten Ueberzeugung, fie früher oder jpäter 
zu bejeitigen. Aber den Grundjtein diefer Zuverficht muß reiner, 
jelbjtlojer Idealismus bilden, der zugleich Herz und Kopf durd) 
dringt, verbunden mit einem feljenfeften Glauben an den end: 
fihen Sieg des Guten und Wahren, wie ihn Steinthal jo ſchön 
in den folgenden Worten ausfpricht, mit denen wir dieje Skizze 
ſchließen: Wir glauben an den Fortſchritt des Guten, weil der: 
ſelbe im bisherigen Verlauf der Gejchichte ſich offenbar voll: 
zogen hat; wir glauben an den Fortjchritt für die Zukunft um 
jo mehr, weil das Gute heute viel kräftiger iſt als jemals, und 
wir glauben an den Sieg des Guten, weil im Böfen eine Dis- 
harmonie liegt, oder weil dasjelbe nothiwendig eine Disharmonie 
Ichafft, an der es zu Grunde gehen muß. 

Am Schluß fügen wir noch ein Verzeichniß der Werke 
Steinthals bei, wobei wir uns auf die wejentlichiten bejchränfen: 
1. Die Sprahwifjenihaft Wilhelm von Humboldts und die 
Hegeliche Philojophie, 1848. 2. Die Klaffifitation der Sprachen, 
1850. 3. Die Entwidelung der Schrift, 1852. 4. Grammatif, 
Logik und Piychologie, ihre Prinzipien und ihr Verhältniß zu. 
einander, 1855. 5. Der Urjprung der Sprache im Zujammen- 
hange mit den legten Fragen alles Wifjens, 2. Aufl., 1858. 
6. Charakteriſtik der hauptſächlichſten Sprachtypen, zweite Bear- 
beitung der Klajjififation der Sprachen, 1860. 7. Allgemeine 
Ethik, 1885. 8. Zu Bibel und Religionsphilojophie, 1890 
und N. %., 1895. 


Anmerkungen. 


* Dazu vergleihe man folgende Ausführung: Die allgemeine Piycho- 
fogie hat es nur mit den abjtraften Gejegen und Formen der geijtigen 
Prozeſſe zu thun, fie gehört zu den jogenannten rationalen Disziplinen, 
wie die Phyſik. Die Darftellung jeder fonfreten hiftoriihen Schöpfung 
ala eines piyhiihen Geſchehens hingegen ift Gegenjtand der Völker— 
pinchofogie. Soll alſo die Sprache nad ihrem geichichtlichen Auftreten 


(297) 


28 

erfannt werden, jo muß zwar bie allgemeine Pſychologie die Prinzipien 
und Grundgejege hergeben, fann aber damit nicht ausreichen. Dabei ift 
die Theorie der Reflerbewegung und der AUpperception, wie ich fie in meinem 
Abriß ald Kapitel der allgemeinen Piychologie gegeben habe, für jene 
Aufgabe unzulänglid, nämlich bloß konftitutiv; die regufativen Prinzipien 
müffen aus der Bhilologie und Völkerphſychologie gewonnen werden 
(a.a.D. ©. 375). Im übrigen vergleiche man noch: Geichichte der Sprach— 
wifienichaft bei den Griechen und Römern, Berlin 1863, ©. 2 ff. 

*® Hier jegt ein Hiftorifches Moment, wie Steinthal richtig hervorhebt, 
ein: das, was vordem mit einer gewiſſen NRegelmäßigfeit wiederkehrte und 
eine typiihe Bedeutung beanjprucden konnte, wurde jegt zu einer ein 
maligen Handlung eines beftimmten Gottes, in deſſen überirdiſchem Lichte 
fi irgend ein mächtiger König oder Häuptling verflärte. So thöricht es 
ift, den ganzen Mythus mit Euhemeros und feinen modernen Anhängern 
aus ſolchen geihichtlichen Umdeutungen erflären zu wollen, jo wenig fann 
man u. €. dieje freilich jpäteren LZofalifirungen, die meift zu einer, wenn 
auch jehr umficheren Chronologie führten, völlig von der Hand weiſen. 
Am übrigen denfe man nur an Figuren wie Giegfried, Kyros, Perſeus, 
Romulus u.a., um fich das Verhältniß des Mythus zu einer jagenhaften 
Form näher zu veranjchaulichen. 

Steinthal wendet ſich nahdrüdlich gegen einen von Anfang an be 
jtehenden Monotheismus, auch etwa in der Form, wie ihn Renan dur 
Berufung auf einen angeblichen monotheiftiihen Suftinft zu ermeijen ſucht 
(vergl. Zu Bibel und Religionsphilojophie S. 180 ff. und Beitichrift für 
Völkerpſychologie II, 155 ff.). Was die pigchologiihe Frage vom Ber- 
hältni des Individuums zur Gejamtheit anlangt, jo hat unjer Gemwährs- 
mann Diejelbe zunächft bei den Griechen einer eingehenden gejchichts- 
philojophiichen Erörterung unterzogen: Der Durchbruch der jubjeltiven 
Berjönlichkeit bei den Griechen (Zeitichrift für Völkerpſychologie II, 279 ff.). 

* Hier berührt ſich Steinthal fichtlid, wie am Eingang diejer Schrift 
bemerft war, mit den Gedanken, welche Loge zur Bearbeitung feines 
Mikrokosmus veranlaßten. 

»Sichtlich ein rein platoniiher Gedanke, wo die Ideen als para- 
deigmata, al3 ewige Urbilder alle8 Seienden gelten. 

° Bergl. Hierzu Windelband, Präludien, Auffäge und Reben zur 
Einleitung in die Philojophie, Freiburg 1884, ©. 285 ff. Der Inhalt 
diejed formalen Pflichtgefühl® wird durch Ken betreffenden Kulturzuftand 
bedingt. 


— — 


(298 


Ueber 
künſtliche Kälteerzeugung 
und Kälteinduſtrie. 


Von 


Gottlieb Vehrend, 
Ingenieur in Hamburg. 
— — — — —— — — — 


Hamburg. 
Verlagsanſtalt und Druckerei A.G. (vormals J. F. Richter), 
Königliche Hofbuchdruckerei. 
1898. 


Das Recht der Ueberfegung in fremde Sprachen wird vorbehalten 


Trud der Rerlagdanftalt und Druckerei Actien«Welellichaft 
(vormal& 3. F. Rirhter) in Hamburg. 


Die Kätteinduftrie ift ein Kind der allerneueften Zeit, hat 
aber bereit3 eine jehr große Bedeutung und Wichtigkeit, einen 
großen Umfang und einen erheblichen Grad von Volltommen- 
heit erreicht. 

Man pflegt die unter dem Gefrierpunfte des Waſſers, dem 
Nullpunkte des gewöhnlichen Celſiusſchen oder Reaumurfchen 
Thermometers, liegende Temperatur Kälte, auch wohl negative 
Wärme zu nennen. Daher bezeichnet man denn auch gewöhnlich 
mit Kälteinduftrie die fünftliche Erzeugung ſolcher unter 0° Tie 
genden Temperaturen. Die Kälteinduftrie befaßte ſich urſprünglich 
mit der Herjtellung von Eis. Nachdem man aber gelernt hat, die 
zu fühlenden Gegenjtände direkt auf künſtliche Weiſe abzulühlen, 
fommt man vielfach mit Temperaturen aus, die über dem Ge- 
frierpunft des Wafjers liegen. Troßdem hat man aber die Be- 
zeichnung der Kälteerzeugung oder Kälteinduftrie beibehalten, und 
zwar mit Recht, indem man die Abkühlung oder Erkältung als 
den Gegenſatz zu der Erwärmung anfieht. Das eine ift eine 
Erniedrigung der Temperatur, das andere eine Erhöhung. Die 
Kälteinduftrie ift daher die mit Fünftlichen Mitteln hervorgerufene 
Abkühlungsinduftrie, und zwar auf Temperaturen, welche unter- 
halb der gewöhnlichen Zuft- und Wafjertemperatur liegen. Der 
Nullpunkt unjerer Thermometer ijt ganz willfürlich angenommen ; 
die Wiſſenſchaft kennt nur die eine Bezeichnung Wärme (nicht 


Kälte), und nennt die Erhöhung derjelben Erwärmung, die Er: 
Eammlung. N. F. XIII. 297, 1° (301) 


4 
niedrigung Abkühlung. Wir befinden und daher mit obiger 
Auseinanderjegung mit der Wiſſenſchaft nicht in Widerfpruch, 
wenn wir die Abkühlungsinduftrie mit Kälteinduftrie bezeichnen. 
Natürlich befist die Wärme einen Nullpunkt, nämlich die tiefite 
Temperatur, welche überhaupt vorfommt oder möglich ift; diejer 
abjolute Nullpunkt der Wärme ift derjenige des freien 
Raumes im mit Weltenäther erfüllten Weltall, das frei von Ma— 
terie it. Er iſt um 273 Celſiusſche Grade tiefer als der Ge- 
frierpunft des Wajjer8 und wird mit — 273° Celſius bezeichnet. 

Die Beitimmung diefer tiefften Temperatur ift auf rechne: 
riſchem Wege erfolgt, auf verfchiedene Weifen, von denen ich 
aber nur eine anführe. 

Die Gasarten, wie Sauerftoff, Stidjtoff, Waſſerſtoff, aljo 
auch Luft, die eine Mifchung aus den erften beiden Gaſen ijt, 
dehnen fich bei jedem Grad Erwärmung und bei konſtantem 
Drud ganz gleihmäßig aus, ziehen fich bei jedem Grade Ab— 
fühlung ganz gleihmäßig zufammen, und zwar um 0,003665 
— Ygrs ihres Volumens bei 0°. Sie find aljo bei — 273° 
bei dem geringiten Volumen angelangt, das fie erreichen können, 
und befigen daher auch feine eigene Wärme mehr, d. 5. fie be» 
finden fi) bei dem abjoluten Wärme-Nullpunkt. 

Die Wiſſenſchaft betrachtet die Wärme als Schwingungen 
der allerfleinften, fajt mit unendlich Klein zu bezeichnenden Ma: 
terientheilchen, und die Schwingungen der Wethertheilchen als 
Licht und Elektrizität. Der Weltenäther beſitzt aljo feine Wärme, 
bei ihm ijt der abjolute Nullpunkt der Wärme, d. h. im 
Iuftfeeren Weltenraume. Der Fünftlichen Kälteerzeugung iſt es 
bereit gelungen — 220 bis — 230° E. zu erreichen und Sauer: 
ſtoff und Stidftoff flüffig zu machen. Es ift zu erwarten, 
daß ed auch mit dem dünnſten der befannten Stoffe, dem 
Waſſerſtoff,“ gelingen wird. 


* Soll thatjächlich ganz neuerdings von Demwar erreicht jein. 
(302) 





5 


Stellt man fich vor, daß alle Materie aus außerordentlich 
Heinen, von den menjchlichen Sinnen nur durch ihre Wirkungen 
wahrnehmbaren Theilen befteht, welche die Eigenjchaft befiken, 
einander anzuziehen ; ftellt man fich ferner vor, daß der Welten: 
äther aus noch kleineren Theilchen befteht, die einander abſtoßen, 
jo ijt es begreiflich, daß die Aethertheilchen in alle verborgenften 
Eden und Winkel des Weltalls eindringen und ſich auch zwijchen 
die Theilchen der Materie drängen. Es bejteht auf dieje Weije 
ein jeder Körper aus einem Gemiſch von Materien- und Yether: 
theilchen, die bejtändig einander entgegenwirken, und zwar in 
wellenförmigen Schwingungen. So eriftirt denn ein Zuftand 
der Unordnung der Theilchen, in welchen ein Gleichgewicht vor: 
handen ift. Die Anziehung der Körpertheilchen ift in dieſem 
Zuſtande der Abſtoßung der Wethertheilchen derart gleich, daß fie 
fi) frei aneinander verjchieben können und in der That unauf- 
hörlich verjchieben. Diefer Zuftand ift der flüffige. 

Wenn die Körpertheile fich einander weiter nähern, jo wird 
die Anziehung überwiegend, die Theilchen Schwingen nur nod) um 
bejtimmte Gentren, der Körper iſt dann feft. Wird die Annähe— 
rung der Theilchen endlich jo groß, daß fie überhaupt feine 
Zwilchenräume mehr zwijchen fi laſſen, jo können feine 
Schwingungen mehr vorfommen, und der Körper iſt feit und 
jtarr und todt. Das bildet den unteren Endzuftand der Materie, 
den Nullpunkt der Temperatur. 

Sobald dagegen in dem flüffigen Zuftande des Körpers die 
Abſtoßung der Aethertheilchen überwiegt, jo entfernen fich bie 
Materientheilchen immer weiter und weiter von einander, ber 
Körper wird zuerjt dampf- und dann Iuftförmig und erpandirt. 
Die Schwingungen der Materie gehen in Longitudinalfchwin- 
gungen über. 

Da nun die Körperjchwingungen von unfjeren Sinnen als 


Wärme empfunden werden, jo jagen wir, der ftarre fefte Körper 
(305) 


6 


in feinem Endzuſtande bejigt feine Wärme mehr, er ift 
— 273° kalt. 

Je weiter fi) die Materientheilhen von einander entfernen, 
dejto mehr und freier können fie Schwingen, dejto mehr innere 
Wärme befigen die Körper. Am größten und reichlichjten find 
die Schwingungen im gasfürmigen Zuftande, und je dünner das 
Gas durch die Ausdehnung wird, dejto mehr innere Wärme 
enthält es. Diejer Satz ijt ganz allgemein zu denken und be: 
zieht ſich ebenſo auf flüffige wie fejte Körper. Die Wärme: 
fhwingungen werden möglicherweile in erjter Linie durch 
Schwingungen des Weltenäthers hervorgerufen, fie fünnen aber 
auch von außen durch andere Körper mitgetheilt werden. So 
3. B. können dur äußere Mittheilung die Körper: oder Gas: 
theilchen in vermehrte Schwingungen verjeßt werden, wobei ſich 
die Materientheilchen etwas weiter von einander entfernen müfjen; 
das Volumen des Körpers oder Gaſes wächſt dann, der Körper 
dehnt ſich aus. 

Zur Hervorrufung und Aufrechterhaltung der Schwingungen 
einer Materie, einer Maſſe, gehört Arbeit, und es ijt Daher Elar, 
daß Arbeit in innere Atomjchwingungen, d. h. Wärme verwandelt 
werden kann. Das ijt das erjte Hauptgejeb der Thermodynamif, 
daß Wärme und Arbeit identijch find, oder vielmehr eines in 
das andere umgewandelt werden kann. 

E3 geht aus dem Vorjtehenden jchon hervor, daß die drei 
Aggregatzuftände — feit, flüffig und gasfürmig — ganz verjchiedene 
Eigenjchaften bejigen, die in der jedem Zuſtande eigenen An— 
ordnung und Schwingungsart der Atome ihren Grund haben. 
Beim Uebergange aus dem fejten in den flüffigen Zuftand ge 
braucht jeder Körper eine bejtimmte Menge von Wärme, die man 
latente Wärme nennt. Ebenſo nimmt er beim Uebergange aus 
dem flüjfigen in den gasfürmigen Zuftand eine weitere Menge 


fatenter Wärme auf. Es iſt erffärlich, daß dieje latente Wärme 
(30 1) 


7 

nur innere Schwingungsarbeit iſt, die nach außen gar nicht wahr: 
nehmbar ijt. Ein weiterer Theil der Schwingungsarbeit äußert 
jih in der Ausdehnung des Körpers bei Erhöhung der Tempe: 
ratur und heißt deshalb äußere latente Wärme. Diefe beiden 
Theile der inneren Schwingungsarbeit dienen hauptſächlich zur 
Aufrechterhaltung des Wggregatzujtandes, während der britte 
Theil der Schwingungsarbeit der Eigenwärme des Körpers ent- 
jpricht, alfo den Theil feiner Wärme darjtellt, der mit dem 
Thermometer meßbar ijt. Dieje Wärme fann ohne weiteres an 
einen weniger warmen Körper, aljo an einen Körper mit gerin« 
geren Schwingungen Wärme abgeben, d.h. ihn in vermehrte 
Atom. oder Molekülſchwingungen verjegen, während der wärmere 
Körper durch diejen Vorgang abgekühlt wird. 

Dies ijt der gewöhnliche Vorgang der Wärmeübertragung 
oder des Wärmeausgleiche. 

Am Beijpiel des Wafjers fei einmal die Gejamtwärme 
in den verjchiedenen Aggregatzuftänden fetgeftellt, und zwar in 
abgerundeten Zahlen. Dabei jei bemerkt, daß in der Wiſſenſchaft 
als Wärmeeinheit, d. h. als Maß der Wärme diejenige Wärme 
oder Schwingungsarbeit betrachtet wird, welche erforderlich ift, 
um ein Kilogramm deſtillirten Wajjerd von 0° auf ein Grad 
Geljius zu erwärmen. 

Bei verjchiedenen Körpern und Zuftänden ift die Wärme— 
menge, welche die Erwärmung um einen Grad zur Folge hat, 
eine andere. Man nennt fie jpecifiiche Wärme, die aljo bei jedem 
Körper anders iſt. So ift die fpecifilche Wärme gefrorenen, 
d.h. feiten Wafjerd oder Eijeg — 0,5. Es werden zur Erwär: 
mung um einen Grad nur 0,5 Wärmeeinheiten gebraudt. Der 
abjolute Wärmegehalt von einem Kilogramm Eis von 0° ijt da- 
her unter Annahme des fonftanten Druds von einer Atmojphäre 
nur 27% — 136,5 Wärmeeinheiten, unter der allerdings nicht 
jejtgejtellten ferneren Annahme, daß fich die jpecifiihe Wärme 


(305) 


8 


bes Eijes in der That bis zum abjoluten Nullpunkte nicht ändert. 
Zum Uebergange aus dem fejten in den flüffigen Zuftand werden 
bei Wafjer rund 79 Wärmeeinheiten auf ein Kilogramm gebraucht, 
jo daß Wafjer von 0° bereit? 136,5 + 79 — 215,5 Einheiten 
an Wärme enthält, von denen die 79 Wärmeeinheiten latenter 
Wärme nah außen nicht wahrnehmbar, nicht meßbar find. 

Das Wafjer fommt unter gewöhnlichem Luftdrud bei 760 
Millimeter Barometerftand erft bei 100° E. zum Sieden, es hat 
bis dahin daher nur 100 Wärmeeinheiten aufgenommen, enthält 
aljo im ganzen nun 315,5 Einheiten an Wärme. 

Was wir Sieden nennen, ift der Uebergang der Flüfjigkeit 
in die Dampfform. Die Dampfform aber ift ein Gemiſch von 
Flüffigkeit und Gas, oder ein Uebergang aus der Flüſſigkeit in 
die Gasform, die ganz charakteriftiiche Eigenjchaften befigt. Sie 
nimmt eine große Menge latenter Wärme auf, die mit Zunahme 
ber Temperatur geringer wird, doch jo, daß die Gejamtwärme 
des Dampfes mit der Temperatur in geringerem Maaße als dieje 
anjteigt. Endlih wird ein Punkt erreicht, welcher kritiſcher 
Punkt genannt wird, bei welchem die gejamte Dampfwärme 
glei) der Temperatur wird. In diefem Wugenblid tritt die 
volltommene Gasform ein. Der kritiihe Punkt liegt indefjen 
bei Waſſer recht Hoch, bei -+ 365° E. und 200 Atmojphären 
Drud. Der kritiiche Punkt der Kohlenſäure tritt bei + 31°. 
und 77 Atmojphären Drud ein, der des Sauerftoffs bei — 118° E. 
und 51 Atmofphären Drud. Kehren wir zu unjerer Berechnung 
zurüd, jo ergiebt fih, daß zur Verdampfung von Waſſer von 
100° €. unter den oben genannten Bedingungen an latenter 
Wärme 536,5 |Wärmeeinheiten nöthig find. Der gejamte 
Wärmegehalt von 1 Kilogramm Wafjerdampf von 100° E. iſt 
alſo 315,5 + 536,5 — 852 Wärmeeinheiten. 

Waflerdampf von 170° Wärme — 6°/s Atmojphären Ueber: 
drud über den gewöhnlichen Quftdrud enthält 659,5 Wärmeein- 


(306) 


9 


heiten Geſamtwärme über dem Gefrierpunkte abſolut, alſo 
215,5 + 659,5 = 875 Wärmeeinheiten. 

Obwohl aljo die Temperaturzunahme des Dampfes 70° iſt, 
jo enthält die gefamte Wärmezunahme doch nur 23 Wärmeeinbeiten. 
Dieje Unterjchiede nähern fich bis zum fritiichen Punkte einander, 
bi8 die Flüſſigkeitswärme gleich der gejamten Wärme des 
Gaſes wird und fich der Uebergang in reine® Gas vollzieht. 

Diefe 23 Wärmeeinheiten ftellen diejenige Wärmemenge dar, 
welche im Dampfkefjel jedem Kilogramm des Damıpfes zugeführt 
werden muß, um ihn von 100°E. auf 170° zu erwärmen und 
ihn in die entjprechende Spannung zu bringen. Außerdem ift 
natürlic) zur Bildung des Dampfes aus Wafjer für jedes Kilo» 
gramm die latente Wärme (536,5 Wärmeeinheiten) zuzuführen 
gewejen. 

Sit nun umgekehrt beabfichtigt, Waſſer in Eis zu verwandeln, 
jo ift zuerjt das Wafjer von angenommen 12°. Temperatur 
auf 0° abzufühlen, d. 5. es find ihm durch die Kältemafchinen 
12 Wärmeeinheiten pro Kilogramm Wafjer zu entziehen. Zur 
Erjtarrung müfjen 79 Wärmeeinheiten entzogen werden, und 
endlich zur Abkühlung des Eijes auf — 6° E., deſſen jpecifijche 
Wärme wie bemerft 0,5 ift, 6 x 0,5 — 3 Wärmeeinheiten. Die 
Kältemajchine Hat alfo zur Erzeugung von einem Kilogramm 
Eis von — 6°C. aus Wafjer von + 12° im Ganzen 12-79 
+3 — 94 Wärmeeinheiten aufzunehmen und abzuführen. Es 
werden nun verjchiedene Maſchinenſyſteme hergejtellt, um dies 
zu erreichen, von denen allerdings nur eines fi) erhalten hat, 
als das vortheilhaftefte und zuverläſſigſte. Die ganze Branche 
diejer Majchinen iſt eine jehr ingenieufe, und es lohnt fich wohl, 
näher auf die innere Beichaffenheit der Mafchinen einzugehen. 

Eine gründliche Berechnung und genaue Feſtſtellung der 
Vorgänge und Verhältniffe der Mafchinen und ihrer Leiftungen 
läßt fi) nur mit Hülfe der Thermodynamik (mechanische Wärme: 


(807) 


10 


Iehre) vornehmen, und dieje, wie auch ſchon aus den bisherigen 
Beiprechungen hervorgeht, beruht auf der Wirkſamkeit der fleinften 
Theilchen der Körper, der Körperatome oder Körpermolefüle. 
Das innere Wejen läßt ſich nur mit Hülfe derjenigen Wifjen- 
ſchaft erfennen, die ſich mit dem Unendlichkleinen bejchäftigt, 
nämlich mit Hülfe der Infinitefimal- (Differenzial: und Intregal.) 
Rechnung. An diefer Stelle werde ich mich daher mehr mit 
feftgeftellten Nejultaten, als mit tiefen mathematischen Unter- 
ſuchungen abgeben fünnen. 

Am leichteften zu verjtehen iſt die Kaltluftmaſchine. 
Sie ſoll deshalb kurz beſprochen werden, obwohl jie nur noch 
äußerft felten gebaut wird. Der Vorgang ftellt, wie bei allen 
diefen Majchinen, einen Kreislauf dar. Man denke ſich einen 
eifernen gefchlofjenen Eylinder mit einem fich darin hin. und her- 
jchiebenden Kolben, von ähnlicher Beichaffenheit, wie der Eylinder 
einer Dampfmajchine oder einer Pumpe. Während der Kolben 
fih von einem Ende des Cylinders nad) dem andern bewegt, 
füllt fi der Eylinder durch ein nach innen öffnendes Ventil mit 
Luft. Am Ende des Hubes fchließt das Ventil, jo daß die Luft 
im Eylinder feitgehalten wird. Nun geht der Kolben zurüd und 
preßt die Luft zufammen mittelft einer Mafchinenkraft, in der 
Regel einer Dampfmaſchine. Das Zuſammenpreſſen bejteht in 
der Annäherung der Luftmoleküle, die durch die Abjtoßung der 
Hethertheilchen auseinandergetrieben werden. Dieje Abjtoßungs- 
energie muß durd) eine andere Energie, die Arbeit der Dampf 
maschine, überwunden werden. Es gehört alfo Arbeit zu dem 
Bufammenprefien der Luft. Die Arbeit wird von der Luft 
während der Kompreſſion aufgenommen und in Schwingungs: 
arbeit der Luftmoleküle verwandelt, d. 5. in Wärme; oder mit 
anderen Worten, die Luft erhitt fi) während der Komprejjion, 
und zwar wird die Kompreſſion joweit getrieben, daß die erzeugte 
Lufttemperatur Hoch genug ift, um mitteljt gewöhnlichen Waſſers 


(308) 


— 





die Luft abkühlen zu können. Nachdem das geſchehen iſt, beſitzt 
die Luft zwar die Anfangstemperatur, aber die höhere, durch 
die Kompreſſion erzengte Spannung, 

Sobald man nun die komprimirte Luft unter Arbeits— 
leiſtung auf die urſprüngliche Spannung expandiren läßt, ſo 
giebt ſie während der Expanſion ſo viel Wärme ab, die in Arbeit 
verwandelt wird, wie fie vorher während der Kompreſſion auf- 
genommen hat, und die Temperatur der Luft ſinkt um jo viel, 
wie durch das Kühlwafjer vorher abgeführt wurde. 

Um dies deutlicher zu machen, jei die urjprüngliche Tem: 
peratur mit T, bezeichnet, die Durch Arbeitsleiſtung während der 
Komprefjion zugeführte Temperatur jei T,L, jo ijt die Tempera- 
tur nad) der Kompreffion T,-+4-T,L. Die durch das Kühlwaſſer 
abgeführte Wärme ſei T,W, dann ift die Temperatur nach der 
Abkühlung T,-+T,L—T,W. Nunmehr wird wiederum durch die 
Erpanfionsleijtung die entjprechende in Arbeit verwandelte Wärme 
T,L abgeführt, jo daß dann die Endtemperatur der Quft ift T, 
+T,L—-T,W—T,;,L oder glei T,—T,W. Den Fall alfo 
angenommen, daß die Luft von + 20° bis — 80° (alfo um 
60°) fomprimirt und dann bis +4 20° abgekühlt jei, jo wird die 
Endtemperatur der Luft fein -+ 20 — 60° — — 40°. Es gelingt 
leiht mit Hülfe diefer Kaltluftmafchinen jehr niedrige Tempera- 
turen zu erzielen, aber die Größe der Majchinen und Cylinder, 
die wegen der Dünnigfeit der Luft und ihrer geringen fpecififchen 
Wärme erforderlich ift, verurfacht große Reibungen, und daher 
großen Kräfteaufmwand; auch werden fie in der Herftellung jehr 
theuer. 

Noch ein anderer Umftand erfchwert die Brauchbarfeit diejes 
Syſtems, nämlich der Wafjergehalt der Luft. Es ijt befannt, 
daß die Luft dejto mehr Wafjer aufjaugt, je wärmer fie ift, daß 
fie während der Abkühlung fo viel Wafjer ausjcheidet, als ihren 
Sättigungszuftand überfchreitet. In der Majchine gefriert aber 


(309) 


12 





dieſes ausgejchiedene Wafjer zu Schnee und verjtopft als jolcher 
die inneren Betriebstheile, Ventile und Kammern. Dadurch wird 
die Mafchine in kurzer Zeit ungangbar. Diejer Uebelftand ift 
nicht volftändig zu befeitigen gemwejen, auch nicht durch Cirkula- 
tion derjelben Zuftmenge oder durch andere fomplizirtere Mittel. 

Ein anderes Kältemaſchinenſyſtem ift die Bacuum-Majchine. 
Bei ihr wurde von dem Umſtande Gebraud) gemacht, daß die 
Siedetemperatur der Flüffigfeiten abhängig iſt von dem Drud, 
dem fie unterliegen. Je geringer der Drud ift, defto niedriger 
liegt der Siedepunkt. Der gewöhnliche Atmojphärendrud ift, wie 
allgemein bekannt, in Meereshöhe 760 mm QUuedfilberjäule, 
und unter diefem Drud fiedet das Wafjer bei 100° C. So 
fiedet e8 3. B. unter '/s Atmojphäre Drud — 380 mm bei 
81°, unter 0,1 Atmojphäre = 76 mm bei 46°, unter 0,02 
Atmojphäre = 15 mm bei 18°, endlich fiedet e8 unter nur 
4 mm Luftdrud, gemefjen auf der Quedjilberjäule, beim Gefrier- 
punkt. Vorzügliche Zuftpumpen jtellen in einem gejchlofjenen 
Behälter diefe große Quftverdünnung Her, darauf wird durch 
feine Brauſen Waſſer eingeſpritzt, defjen einer Theil verdampft, 
indem er die erforderliche Verdampfungswärme aus dem übrigen 
Theile entnimmt, der dabei zu Eis erftarrt. Die latente Wärme des 
Dampfes ift etwa jechsmal jo groß, wie die latente Wärme des 
Waſſers, woraus einleuchtet, daß man jechsmal foviel Wafjer 
zum Gefrieren bringen fann, als bei der Gefriertemperatur 
verdampft. Die Wafjerdämpfe müfjen freilih mit Hülfe der 
Luftpumpe abgejaugt und jchnell entfernt werden, was dadurch 
geichieht, daß man fie auf ihrem Wege zur Luftpumpe über 
fonzentrirte Schwefelfäure ftreichen läßt, welche die Dämpfe be. 
gierig auflaugt. Auf diefe Weije verdünnt fi) die Schwefeljäure 
und muß daher durch Deftillation wieder eingedampft und kon— 
zentrirt werden. 

Auch dieſes Syftem ift jelten mehr zu finden. Die Her- 


(810) 


13 


ftellung von Luftpumpen im Großen mit jo weitgehender Leiſtung 
ift Schwierig und die Verwendung der konzentrirten Schwefel- 
fäure mit großen Webelftänden verbunden. 

Das durch die Bacuum-Mafchine erzeugte Eis jchießt in 
einzelnen Kryftallen an und wird daher recht Ioder. Alle dieje 
Uebelftände zufammen find wohl Urjache, daß dies Syſtem aus 
dem Verkehr verjchwindet. 

Weit mehr jchon haben die Abſorptions maſchinen um 
fi gegriffen. Sie arbeiten mit jogenannten Kaltdämpfen, die 
aber auch abjorptionsfähig durch Waffer find. Allgemeine Ans 
wendung hat hierbei Ammoniak gefunden, das als Salmiakgeijt 
(in Wafjer abjorbirte® Ammoniak) benußt wird. 

Kaltdämpfe find ſolche Dämpfe, deren Siedepunft bei ge: 
wöhnlihem Atmojphärendrud unterhalb des Gefrierpunftes des 
Waſſers liegt. Ammoniak fiedet z. B. bei — 32°, fchweflige 
Säure bei — 10°, Kohlenjäure bei — 78°. Der Kreislauf in den 
Ammoniak-Abſorptionsmaſchinen ift nun folgender: In einem 
Keſſel, der mit Salmiakgeift angefüllt ift, wird dieſer durch 
direfte8 Feuer oder Dampf erhitzt. Das Ammoniak wird da- 
durch ausgetrieben, während das Wafjer zurücbleibt. Die aus: 
getriebenen Ammoniatdämpfe werden beim Paffiren durch einige 
Nöhrenapparate mittelft Waffer gekühlt, ſammeln fich endlich in 
einem größeren Apparate, in welchem die Abkühlung dann bis 
hinab auf die Temperatur des ablaufenden Kühlmwafjers, etwa 
20° E., erfolgt. In diefem Kondenfator jollen die Ammoniak: 
bämpfe verflüffigt werden. Das ift aber bei der Temperatur 
von 20° nur unter Drud von 8'/. Atmojphären möglid. Es 
jei hierbei erinnert, daß der Kondenjationspunft (Siedepunft) 
mit der Spannung fteigt. So liegt er bei Ammoniaf bei -+ 20° 
unter 8,5 Atmojphären Drud, bei — 10° unter 2,8 Atmofphären 
Drud. Man muß aljo da3 Ammoniak aus dem Deftillations: 
fejjel mit einer Spannung von 8,5 bis 9 Atmofphären aus» 


(311) 


14 





treiben, das auch nach der Abkühlung noch die gleiche Spannung 
behält und bei 20° fich fondenfirt, wobei die latente Dampf: 
wärme an das Kühlwafjer übergeht. 

Bom Kondenjator ans läßt man das flüffige, wafjerfreie 
Ammoniak in den Verdampfer übertreten, in welchem dasjelbe 
in einem gejchlofjenen ARöhrenfyftem verdampft. Die Röhren 
find umgeben von einer Löſung von Salz in Waſſer, das durd) 
dieſes Mittel jehr ſchwer gefrierbar wird, und zwar defto ſchwerer, 
je mehr Salz in der Löfung ift. Salzwafjer mit 20%, Salzgehalt 
gefriert 3.3. erft bei — 14°. Wenn nun das Ammoniak in den 
Röhren verdampft, jo muß es die erforderlihe Dampfwärme 
jeiner Umgebung, nämlid) dem Salzwaffer, entnehmen, das da- 
durch abgekühlt wird. Die Temperatur ift abhängig von der 
Spannung im Verdampfer, und diefe kann wieder nach Belieben 
dadurch Hergeftellt werden, daß mittelft des Negulirventil® mehr 
oder weniger viel flüſſiges Ammoniak aus dem Kondenjator in 
den Berdampfer hinübergelaffen wird. So entipricht denn eine 
Spannung von 2,8 Atmojphären — 10° im Ammoniaf. Das 
Salzwafjer wird auf nahe diefe Temperatur abgefühlt und wird 
direft zur Eigerzeugung dadurch benußt, daß man offene Be— 
hälter mit gewöhnlihem Wafjer in die abgefühlte Salzlöfung 
hängt und dasjelbe durch gewöhnliche Wärmetransmiſſion zum 
Gefrieren bringt. 

Kehren wir zurüd zum Berdampfer. Die Ammoniakdämpfe 
gelangen von dort in den Abforber zu dem Wafjer, aus welchem 
fie vorher ausgetrieben waren, und werden von diefem, nachdem 
es durch Kühlwaſſer abgekühlt ift, abjorbiri. Dieſe Ammoniaf- 
löſung (Salmiakgeift) wird dann mitteljt einer Pumpe in den 
Deftillationskeffel zurüdgepumpt, und das bejchriebene Spiel 
beginnt von neuem. 

Die Ammoniak-Abſorptionsmaſchinen haben eine Reihe von 
Jahren hindurch faſt als die einzig brauchbaren Eismaſchinen 


(312) 


15 


gegolten, obwohl fie an vielen Webelftänden leiden, namentlich 
an großem Wärmeaufwand, viel Kühlwafjergebraud) und Ver— 
ringerung der Abjorptionsfähigkeit bei wärmer werdendem Kühl« 
waſſer. Durd Einführung geeigneter Gegenftromapparate hat 
man Dies zu mildern gejucht, hat aber jo weitgehende Bortheile 
doch nicht erreichen können, wie die nun folgend bejchriebenen 
Kompreffionsmafchinen haben. 

Diefe Kompreſſionsmaſchinen arbeiten ebenfall® mit 
Kaltdämpfen, aber nicht mit Löjungen in Waffer, fondern mit 
reinen, wafjerfreien Dämpfen, die im Verlaufe des Kreisprozefjes 
in der Majchine zu waſſerfreier Flüſſigkeit verdichtet werden. 
Man hat in diefen Mafchinen früher Aether benupt, der aber 
wegen feines hochliegenden Siedepunftes von -+ 35° bei Atmo— 
ſphärenſpannung (oder 0,15 Atm. bei — 10°) fich jchlecht eignet. 
Set wird nur verwendet: 

Schmweflige Säure, Siedepunft — 10° bei Atm. Drud 

(1,0 Atm. bei — 10°; 3,24 Atm. bei + 20°), 
Methyläther, Siedepunkt — 21° bei Atm. Drud 

(1,72 Atm. bei — 10°; 4,72 Atm. bei — 20°), 
Ammoniak, Siedepunkt — 34° bei Atm. Drud 

(2,8 Atm. bei — 10°; 8,5 Atm. bei + 209), 

Kohlenjäure, Siedepuntt — 78° bei Atm. Drud 

(26,7 Atm. bei — 10°; 58,8 Um. bei + 20°). 

Am häufigſten findet man mit Ammoniaf arbeitende Ma- 
ihinen. Die Konjtruftionen der Majchinen find für alle ge- 
nannten Dämpfe jehr ähnlich, die Abmefjungen richten fich aber 
nad) der Dichtigfeit der verjchiedenen Dämpfe, und dieje iſt um 
jo größer, je tiefer der Siedepunkt derjelben liegt. Zu den er- 
forderlihen Beſtimmungen find die phyſikaliſchen Eigenjchaften 
der Dämpfe und die mathematijchen Betrachtungen und Rejul- 
tate der mechanischen Wärmelehre (Thermodynamik) anzuwenden 
und zu berüdjichtigen. 

Die Beichreibung des Kreisprozejjes in Kompreſſions— 

(813) 


16 


maſchinen fei an der Ammoniatmajchine erklärt. Sie arbeitet, 
wie bemerkt, mit wafjerfreiem Ammoniaf, das in der voll- 
fommen gejchloffenen Mafchine zirkulirt, derart, daß von außen, 
bauptjächlich durch die Spannungen, welche die Meßapparate 
(Manometer) anzeigen, zu erkennen ift, mit welchem Kaltdampf 
die Mafchine arbeitet. An der Abforptionsmafchine ift bereits 
befchrieben, in welcher Weije das flüffige Ammoniak von circa 
8,5 Atm. Spannung nad) dem Verdampfer übergeleitet wird, 
um bort während der Verdampfung bei ca. 2,3 Atm. Spannung 
und — 10° Temperatur das Salzwafjer abzufühlen (Kälte zu 
erzeugen). Genau in der gleichen Weiſe wird hier verfahren; 
im Uebrigen aber ift der Prozeß ein anderer. 

Der Dampf wird nämlic vom Berdampfer in einen ähn- 
lichen Zylinder geleitet, wie bei Bejprechung der Kaltluftmafchinen 
beichrieben ift. Während des Hinganges des Kolbens wird der 
Eylinder angefüllt mit Dämpfen von ca. 2,8 Am. Spannung. 
Während des Rückganges jchließen die Saugventile, und Die 
Dänpfe werden fomprimirt bis zu ca. 8,5 Atm. (die Kondenjator- 
jpannung). Die Kompreffion gejchieft mit Hülfe und auf 
Koften der Betriebsarbeit, welche von einer Dampfmajchine ge: 
leiltet wird. Es wird hier ebenjo wie bei der Kaltluftmajchine 
die Betriebsarbeit in Wärme umgejeßt, welche von den Ammonial: 
dämpfen aufgenommen wird, die auf die Kondenfatorjpannung 
und Kondenfatortemperatur auf diefe Weile gebracht werden. 
Sobald dies erreicht ift, öffnen fich die Drudventile, und die 
Dämpfe werden in den Kondenjator gejchoben. Hier nun ver: 
flüffigen fi die Dämpfe unter dem Einfluß des Kühlwaſſers, 
indem dieſes die latente Dampfivärme des Ammoniak aufnimmt 
und abführt. Wenn dann das flüjfige Ammoniaf wieder in 
den Berdampfer übergeht zur WBerdampfung, jo beginnt ein 
neuer Kreislauf, der bei jedem Kolbenjtoß jich vollzieht. 


Der Kreisprozeß muß ein ganz geſchloſſener fein, in welchem 
(314) 


17 


ebenjoviel Wärme abgeführt werden muß, als zugeführt wird. 
Man nennt das die Wärmebilanz, die in jeder Wärmemajchine 
vorhanden jein muß. 

Benöthigt man eine Majchine für eine beftimmte Kälte 
feiftung, die mit Q, bezeichnet jei, jo muß der falten Salz: 
löfung während der Verdampfung des Ammoniaks die Wärme. 
menge (), entzogen werden, oder fie wird, anders ausgedrüdt, 
dem Ammoniak behufs VBerdampfung zugeführt. Es wird ferner 
zugeführt die der DBetriebsarbeit entjprechende Wärme während 
der Kompreffion, die mit Q, bezeichnet werden mag. Die ge: 
jamte zugeführte Wärme ift alſo Q, +0Q,. Durch das Kühl: 
wajjer wird die Wärme Q abgeführt, die ebenjo groß fein muß, 
wie die zugeführte Wärme, d.h. e8 muß fein Q=Q, + Q.- 

Q, wird durch Arbeitsleiftung zugeführt, die Geld koſtet. 
Für rationellen Betrieb ijt es daher nöthig, die Arbeitsleijtung 
AL=Q, foweit herabzuziehen wie möglih, im Verhältniß zur 
Kälteleiftung Q,. Die Thermodynamik jegt uns in die Lage, 
auf einfache Weije die geringjte Arbeitsleiftung zu beftimmen. 
Nach dem bekannten Carnotſchen Sreisprozeß verhalten fich die 
MWärmemengen Q und Q, wie die Anfangs und Endtemperaturen, 


T z 
d. 0 Q — 7} Qift J— Q,=AL iſt der = — C., 
— 
— 1— 


1 





es iſt daher auch AL = Ar — Q, ober ua 


Das ift das theoretiihe Minimum für die — 
AL, das in beſtimmtem Verhältniß zu der Kälteleiſtung Q, ſteht. 
Bei den angenommenen Qemperaturen von — 20° und 
— 10° find die abjoluten Temperaturen T = 293° und T, = 


30 
263°. Es wird daher AL—= 45 oder = 0,114 Q,. Tas 


ftellt aljo das Minimum der Arbeitsleijtung in Wärmeeinheiten 


ausgedrückt dar. Mit einer Wärmeeinheit fann jedoch 424 Meter: 
Sammlung. NR. 5. XIII. 297. 2 (315) 


18 


filogramım an Arbeit geleiftet (424 kg 1 m hoch gehoben) werden. 
Die Arbeit ift daher L=424 x 0,114 Q, = 48,336 Q, in 
Meterfilogrammen. Sei 3.8. die ftündfiche Kälteleiftung Q, — 
50 000 Wärmeeinheiten, jo ift die ftündliche Arbeitäleiftung 
48,336 x 50000 —= 2416800 Meterfilogramm. Eine jtünbliche 
Bierdefraft ift 270000 Meterfilogramm, daher wird? L = 
an — rund 9 Pferdefräfte. Das iſt aljo das Minimum 
270000 
der erforderlichen Arbeitsleiftung bei den Grenztemperaturen 
+ 20° und — 10°. An Kühlwafjer von 5.8. 10°, das im 
Kondenfator bis 20° erwärmt wird, ift aljo nöthig —— 
— 5570 1 Waſſer pro Stunde. 

— — 50000 

Mit 50000 Wärmeeinheiten Kälteleiſtung werden — 
— etwa 500 kg Eis pro Stunde hergeſtellt, wozu 5570 1 
Kühlwaſſer ſtündlich und 9 Wferdefräfte oder etwa jtündlich 14 
bi8 18 kg Kohle gebraucht werden. 

Borftehende Rechnung ijt eine reine Weberjchlagsrechnung 
mit Minimalrejultaten. Im Wirklichkeit wird bei weitem ge: 
nauer gerechnet, unter Berüdjichtigung aller Verluſte und Neben: 
umftände. An dieſer Stelle jollte nur ein ungefähres Bild 
gegeben werden, wozu die Angaben wohl ausreichen. 

Aus diejen Darftellungen geht hervor, daß, ganz allgemein 
geiprochen, bei der Kälteerzeugung diejenige Wärmemenge, welche 
durch das Kühlwafjer bei höherer Temperatur dem arbeitenden 
Medium entzogen wird, im Verlaufe des Kreisprozejjes ihm zum 
größten Theile bei niedrigerer Temperatur wieder zugeführt wird. 
Letzteres iſt die Kälteerzeugung. 

Es iſt übrigens nicht einerlei, welcher von den oben: 
genannten Kaltdämpfen in den Mafjchinen Verwendung findet. 


Zwar verhalten fich - allgemein theoretiih alle Dämpfe voll- 
(316) 


19 
fonımen glei); da aber die Arbeit in der Majchine fich bei fait 
denjelben Temperaturen mit allen Dämpfen vollzieht, jo ift zu 
berüdfichtigen, ob fic) alle Dämpfe gerade bei diejen Tempe» 
raturen auch gleich verhalten. Das ijt aber nicht der Fall. 

Wie bereits erwähnt, nimmt die latente Wärme deſto mehr 
ab, je weiter die Temperatur fi) dem kritiſchen Punkte nähert. 
Die Kälteleiftung, welche die latente Wärme vorwiegend erzeugt, 
wird aljo für die Gewichtseinheit (1 kg des Dampfes) deito 
geringer, je näher der kritiſche Punkt liegt. Fit die Kondenjator- 
temperatur gleich der kritiſchen Temperatur, jo iſt die latente 
Wärme gleich Null, oder mit anderen Worten, die Dämpfe 
fondenfiren jich nicht mehr zur Flüſſigkeit, vielmehr bleiben jie 
permanente Safe. Die Kälteleiftung fann aljo nicht mehr von 
latenter Wärme herrühren, ſondern fie kann nur noch derjenigen 
bei Komprejfion genannter Gaſe entiprechen. Das aber ijt wegen 
der Stleinheit der Kompreſſionscylinder im Vergleich zu der 
jonftigen Leiſtung jehr wenig. 

Hieraus folgt direkt, daß, je näher die fritiiche Temperatur 
de3 benutzten Dampfes der Sondenjatortemperatur liegt, deſto 
geringer die Sälteleiftung des betreffenden Dampfes ijt, während 
die aufgewendete Arbeit diejelbe bleibt. 

Nun ift die Eritiiche Temperatur der Kohlenjäure — 31°, 
die des Ammoniak aber etwa — 156°, der jchwefligen Säure 
etwa + 135". Für gleichen Arbeitsaufwand wird daher Die 
Kälteleiftung der Kohlenfäure am geringſten, des Ammoniaf am 
höchſten, oder anders ausgedrüdt, wird für gleiche Kälteleiftung 
der Arbeitsaufwand bei Kohlenjäure am größten, bei Ammoniak 
am geringften. Bei der angenommenen Kondenjatortemperatur 
von + 20° berechnet Zeuner den Wirkungsgrad der Kälteleiftung 
zu der aufgewendeten Arbeit bei Ammoniak zu 92/0, bei jchwef- 
liger Säure zu 90°, bei Kohlenfäure zu nur 52%. Gteigt 
die Kondenfatortemperatur auf — 30°, jo wird diejer Wirkungs- 

2° (81°) 


grad bei Ammoniak 86,4°/o, bei jchwefliger Säure 81,3°%o, bei 
Kohlenfäure aber nur 14,5 %/o. 

Hieraus ijt die ungünstige Stellung der Kohlenjäure zu 
erfenuen. Da das Kühlwaſſer unter dem Aequator 27° Wärme 
bejigt, jo ilt die Temperatur des Kältemittel3 im Kondenſator 
jo hoch, wie die Fritiiche Temperatur der Kohlenſäure (31°), 
und die Kälteleiſtung derjelben finft auf einen geringen Betrag 
zurüd, während Ammoniak feinen nennenswerthen Verluſt zeigt. 
Für Verwendung zur Slälteerzeugung in warmen Klimaten eignet 
fih daher die Kohlenſäure recht jchlecht, auch auf Schiffen, die 
die Linie pajfiren. 

Andererſeits ift die Dichtigfeit der Dämpfe um jo größer, 
je tiefer der Siedepunkt liegt. Daher werden die Dimenfionen 
des Kompreffionscylinders für Kohlenfäure am geringjten. 

Nachdem nun dargejtellt ift, in welcher Weife mitteljt Ma: 
ſchinen Kälte erzeugt werden kann, ijt es die Aufgabe, zu zeigen, 
in welcher Weije jie Verwendung findet. 

Es wurde bereit3 bejchrieben, daß im Verdampfer in der 
Regel zuerſt Salzwaſſer abgefühlt wird bis auf einige Grade unter 
Null (— 5 bis — 10°. Wenn man Ei8 erzeugen will, jo 

werden mit Wafjer gefüllte Mulden oder Behälter Hineingehängt, 
am das Wafjer darin gefrieren zu laſſen. Im Waſſer find 
vielerlei Verunreinigungen zu finden, die mit in das Eis ein- 
frieren, und ferner ift es mit Luft gejättigt, die während des 
Gefrierend nicht entweidht. Das Eis erhält dadurd ein un: 
durchlichtiges milchiges Anjehen. Um es kryitallflar zu machen, 
find, mit nur theilweijem Erfolg, mechanische Schüttel- und 
Nührverfuche verjchiedenjter Art gemacht worden. Vollen Er- 
folg hat man aber nur gefunden durdy Verwendung dejtillirten 
Waſſers. Dadurd bleiben alle Verunreinigungen zurüd, das 
Eis iſt vollfommen fterilifirt, und das Anſehen ift infolge Ab- 


wejenheit von Luft vollfommen kryſtallklar. Deſtillationseinrich— 
(318) 


21 
tungen, bei welchen der Dampf zur Beheizung des Dampfkeſſels 
benugt wird, reduziren den Brennmaterialaufwand joweit, wie 
e3 nur möglich ift, und daher aud) die Herſtellungkoſten des Eijes. 

In Amerika ift es beliebt, das Kondenjat der Waller: 
dämpfe, die in der Dampfmaſchine benützt worden find, zur Eis. 
erzeugung zu verwenden. Aber abgejehen davon, daß fie nicht 
ganz Iuftleer find, enthalten fie aucd) Dämpfe vom Schmieröl ꝛc., 
fo daß dieſes Eis nicht vollfommen rein ift. 

Hauptverwendung finden die Kältemaſchinen zur Abkühlung 
von Räumen. Die Anjprüche find dabei jehr verjchieden. 

Vielfach handelt es ſich Hauptfählih um Abkühlung der 
Räume ohne wejentliche Ventilation. Das ijt in VBierbrauereien 
der Fall, wo namentlid) Zager- und Gährfeler auf Tempera: 
turen von °/s, bezw. 4° abzufühlen und zu erhalten find. 

In Deutichland leitet man fait durchgängig durch Rohr: 
fyfteme, welche an der Dede der zu Ffühlenden Räume hängen, 
das im Verdampfer gefühlte Salzwafjer, und läßt es auf dieje 
Weije zirkuliren. In Amerika läßt man meiftens die Ammoniaf: 
röhren in ähnlicher Weife durch die Räume gehen und Täßt 
gleich darin das Ammoniak zur Verdampfung gelangen. Man 
erijpart dadurch den bejonderen Verdampfer, und durd Fort: 
lafjung des Zwiſchengliedes (Salzwafjer) auch an erzeugter 
Kälte; aber durd die ausgedehnten Rohrleitungen find Un— 
dichtigkeiten leicht möglich, welche ein Ausftrömen des Ammo— 
niaf3 2c. veranlafjen. Lebteres ijt der Grund, warun man in 
Deutjchland den Amerikanern darin wenig gefolgt ift. 

In Bierbrauereien und Molfereien, Butterfabrifen zc. wird aud) 
viel kaltes Süßwaſſer gebraucht, das bi8 +!/2° abgekühlt wird, aljo 
bis nahe an den Gefrierpunft. Die Einrichtung zur Abkühlung 
desjelben wird derart getroffen, daß durch ein Wafjerrejervoir 
ein Rohrſyſtem geleitet wird, das entweder Faltes Salzwafjer 


oder verdampfendes Ammoniak enthält. 
(319) 


22 

Das Salzwajjer wird durch Zirkulationspumpen zum 
Zirkuliren zwijchen den Rohrſyſtemen und dem Verdampfer ge: 
bracht, und die Zirkulationsmenge in jedem einzelnen Syjteme 
wird durch Trofjelhähne oder Ventile regulirt. Auf diefe Weije 
fanı die erforderliche Temperatur hergejtellt werden. Zur Ab- 
tühlung von Eßwaren, wie Fleiſch, Filche, Gemüfe, Früchte, 
Chokolade, Eier ꝛc. und deren Aufbewahrungsräumen ift meiftens, 
namentlich für Fleiſch und Fiſche, Luftwechſel neben der erforder: 
lichen Abkühlung nöthig. Es wird daher gewöhnlich von der 
Zirkulation von Salzwafjer abgejehen, dafür aber falte Luft 
dur die Räume befördert. Aus den Räumen wird mitteljt 
eines Erhauftors die Luft abgejaugt und durch den VBerdampfer 
geführt, wo fie fi) an der Oberfläche der Verdampferröhren 
abkihlt und abgekühlt in die Räume zurüdtritt. Sie treicht 
meiſtens durch hölzerne Rohrleitungen in Kaftenform, die mit 
Sciebern verjehen find, durch deren Deffnen oder Echließen 
mehr oder weniger der gefühlten Quft in die Räume eintritt, und 
mit deren Hülfe die Temperatur der Räume nad) Bedarf re- 
gulirt werden fanı. Nach Bedarf läßt man auch etwas frijche 
Luft von außen zutreten. 

Schon früher habe ich darauf aufmerkſam gemacht, daß die 
Luft bei der Abkühlung Waller ausfcheidet, mit dem fie in 
Dampfform gejättigt ift. Dieſes Wafjer jchlägt ſich auf den 
Verdampferröhren nieder und gefriert dort. Mit ihm frieren 
auch die fchädlichen Keime und Umnreinigfeiten der Luft an. 
Wenn dieje wafjerfreie kalte Luft fi in den Räumen erwärmt, 
jo nimmt fie auch wieder Wafjer auf, das dann wieder an den 
Berdampferröhren anfriert. Diefe Art der Abkühlung hat aljo 
eine ſtark austrodnende Wirkung auf die Räume und Die 
Waren (Fleiſch, Fiſche ze.) zur Folge. Bon Zeit zu Zeit 
(äßt man das Eis von den Verdampferröhren abthauen und 
jührt die Flüſſigkeit nad) außen fort. 

(320) 


23 

Um dieſer austrodnenden Wirkung entgegenzutreten, wird 
vielfah eine Einrichtung getroffen, bei welcher die aus ben 
Räumen zurücdtehrende Luft durch einen feinen Regen gefühlten 
Salzwafjers ftreicht, oder über Scheiben, welche fich drehen und 
nur zum Theile in gekühltes Salzwafjer eintauchen. An den 
Scheiben haftet dann etwas GSalzwafjer an und die darüber 
ftreihende Luft fühlt ſich daran ab, fättigt fich jehr ſtark mit 
Feuchtigkeit und wird gleichzeitig gewajchen. Die etwa mitge: 
führten jchädlichen Bakterienkeime und fonjtige Unreinigfeiten 
bleiben im Salzwafjer, und die Keime werden in demfelben ge- 
tödtet und unſchädlich gemacht. Dieſe Einrichtung ift bejonders 
empfehlenswerth in Fleiſchkühlräumen und Schladhtereien, weil 
die Zuft außerordentlich rein wird, jo daß das Fleiſch vor dem 
Berderben ganz und gar geſchützt ift und es nicht zu jehr aus: 
trodner. Aehnlich, wie bejchrieben, werden die Abkühlungen 
von Sciffsräumen zur Konfervirung der Schiffsprovifionen 
oder von zu befördernden Waren und Lebensmitteln auf Schiffen 
durchgeführt. Mit diefer Hülfe Hat fich der außerordentliche 
Umfang der Ueberführung von Fleiſch von Auftralien und Ur- 
gentinien nach England mit Erfolg durchführen lafjen mit ver 
bältnigmäßig geringen Kojten. Auch bei uns ift diejes Gejchäft 
in der Entwidelung begriffen. 

Man läßt in Deutjchland das Fleiſch nicht gefrieren, d. h. 
man hält die Kühltemperaturen etwas über dem Gefrierpunft. 
Das Fleiſch hält fi dann bei guter Einrichtung recht wohl, 
Berderben desjelben kommt faum vor, und es behält jeinen guten 
und reinen Geſchmack. Wenn das Fleiſch eingefroren ift, jo 
hält es fich ja ganz nach Belieben jahrelang. In Auftralien 
hat man enorm große Fleifchgefrieranftalten, in welchen das 
Fleiſch bei — 10° bis — 15° volllommen eingefroren wird. 
Alsdann wird es auf die mit Kältemafchinen ebenfall3 verjehenen 
Schiffe gebracht und in abgejchlofienen Räumen dort unter 


(321) 


24 

gleicher Temperatur gehalten. Bei der Ankunft in England 
gelangt das Fleiſch wiederum in Gefrierhäufer. Wenn das 
Fleiih dann vor dem Gebrauch aufthaut, jo fließen mit dem 
Schmelzwafjer eine große Menge Blut, gelöfte Salze und 
flüffige oder gelöfte Fleiſchbeſtandtheile ab, worunter der Ge. 
ſchmack des TFleifches leidet. E& wird fade und troden. Bei 
Nindfleifch ift dies jehr empfindlich, bei Hammelfleifch weniger. 
Trogdem wird in England das Fleiſch gerne gegejjen. Im 
Deutſchland iſt aber auch die arbeitende Bevölkerung empfind- 
licher und will diejes Fleisch nicht ejjen. ALS weiterer Uebel— 
itand kommt Hinzu, daß beim Einfrieren die Zellenwände aller 
Nahrungsmittel gefprengt werden und fie dadurch jchnell ver- 
erben. Das ijt auch bei gefrorenem Fleiſch der Fall und noch 
mehr bei gefrorenen Fiſchen. Dem Fleiſchgeſchäft ijt erft dann 
ein großer dauernder Erfolg zuzuſprechen, wenn das Fleiſch bei 
mäßig falten Temperaturen (—1 bi8 —2°) fonjervirt wird, 
wobei nur eine geringere äußere Schicht ftarr und feit wird. 
Auch dann hält es fich ausreichend lange in gutem und wohl« 
ſchmeckendem Zujtande. Die verjchiedenen Gegenftände erfordern 
zum Theil eine etwas verjchiedene Behandlung, auf welche hier 
nicht näher eingegangen werden mag. Aber mit Hülfe der be- 
ſprochenen Regulirjchieber kann man verjchiedene Räume in ganz 
verjchiedeneu Temperaturen halten. 

Die Berechnung über den jeweilig erforderlichen Kältebedarf 
jtellt man in ähnlicher Weife an, wie es bei Centralheizungen 
zu geichehen pflegt. Der Unterjchied ijt nur der, daß fich bei 
der Heizung außerhalb der Räume fältere Quft befindet, während 
bei der Abkühlung außen wärmere Luft vorhanden ift. Auf 
jolhe Art it der Einfluß der Wände und Thüren oder 
Fenſter 2c. auf den Kältebedarf feitzuftellen, und bei etwa jtatt- 
findenden Berdunftungen oder beim Gefrieren von Nahrungs- 


mitteln ift auch die latente Wärme zu berücfjichtigen. 
(322) 


25 

Räume lafjen fi, wenn fie gut abgejchlofjen find, in 
ähnlicher Weije abkühlen, wie e8 im Winter Gebraud) ift, fie 
etwa mitteljt Gentralheizungen zu erwärmen. Im diejer Hinficht 
ift für Kältemajchinen noch ein weites Gebiet, namentlich in 
warmen Klimaten, offen, wo die Kältemajchinen eine ähnliche 
Stelle in menjchlichen Wohnungen einzunehmen berufen fein 
werden, wie bei ung die Beheizung. Freilich ift dazu eine Ver- 
einfachung der Majchinen nöthig, was nicht ausgejchlofjen erjcheint. 

Man findet die Majchinen ferner angewandt, um Berg: 
werksſchächte auszufrieren, die durch jchwimmende Gebirge hin— 
durch geteuft werden müſſen. Um das zu erreichen, werden 
rings um den zu teufenden Schacht die Salzwafjer- oder Am: 
moniaf-Rohrjyfteme verjenkt, mit deren Hülfe das ſchwimmende 
Erdreich zum Gefrieren gebracht wird. Dann kann der Schadt 
ausgemauert oder mittelft Spundwänden verjenft werden. In 
Sibirien, in der Lena, wird im Winter aus dem gefrorenen 
Flußbett Goldftaub gejammelt, und da ſich die Arbeit nur auf 
den Winter erftreden kann, fo ift auch dort von der betreffen. 
den Gejellichaft bereits erörtert, im Sommer durch Ausfrieren 
mit Hülfe der Kältemajchinen den Betrieb durd) das ganze 
Jahr auszudehnen. Jetzt zerjtört der Sommer jtet3 die Ar- 
beiten, die im Winter mit Mühe gemacht worden find, mit um 
jo größerer Mühe, als der Winter in Sibirien entjegliche Kälte 
hat, bei der die Arbeiten vorgenommen werden müſſen. 

Künftlihe Eisbahnen im Sommer fieht man bereit3 zu: 
weilen. Die Salzwafjer-Rohriyfteme werden über den Fuß: 
boden der ganzen Bahn gelegt, mit Wafjer derart übergojjen, 
daß der Wafferfpiegel etwa 5 bis 10 Gentimeter über den Rohr: 
igitemen liegt. Das Wafjer wird mitteljt des Falten Salz 
wafjer® zum Gefrieren gebracht, und die Eisbahn iſt fertig. 

Man legt auch die ganze Eisbahn mit Vortheil in den 
Salzwafjerbehälter niederer Temperatur jtatt des Rohrnetzes. 


(328) 


26 


Endlich benugt man jegt die Mafchinen, um ſehr tiefe 
Kältegrade erzeugen, und es ift jchon gelungen, bis 220—230 
Grad unter Null zu kommen. Möglicherweife gelingt es noch, 
den abjoluten Nullpuntt (—273 0 C.) zu erreichen. Dieje Ar- 
beiten Haben nicht nur einen hohen wifjenjchaftlichen, jondern 
auch einen eminent praftiichen Werth. An den verjchiedenjten 
Stellen bejchäftigt man ſich mit derartigen Arbeiten, am umfang: 
reichiten dag Inſtitut des Profeſſors Pictet in Berlin. 

Die jehr tiefen Temperaturen werden dadurch erreicht, daß 
man mehrere Kältemafchinen Hinter einander thätig jein läßt, 
deren nächjte jedesmal mit einem Kältemittel arbeitet, deſſen 
Kondenfationspunkt (Siedepunkt) tiefer liegt, al8 der der vorher 
angewendeten. 

In der Pictetjchen Gefellichaft für flüſſige Gaje wird zu- 
erjt eine mit Kohlenjfäure arbeitende Komprejfionsmajchine be: 
nußt; die Kohlenjäure verdampft im Verdampfer joweit (unter: 
halb des Atmojphärendruds), daß —100 bis —110° Kälte 
entfteht. (Bei Atmofphärendrud verdampft flüffige Kohlenſäure 
bei — 78) Die Kompreifion und Verflüffigung wird bei 
+20 ° mitteljt Kühlwaſſers vorgenommen. 

Der Berdampfer der Kohlenfäuremajchine dient für die 
zweite Machine gleichzeitig als Kondenfator, indem Wethylen 
oder Stidjtofforydul unter einem Drud von etwa 8 Atmoſphären 
verflüffigt wird. Dabei nimmt die Kohlenfäure des Verdampfers 
die Stelle des Kühlwafjerd der Kohlenjfäuremafchine ein, d. 5. 
das Aethylen wird unter 8 bi8 10 Atmoſphären Drud bei 
— 100 bis — 110° Kälte zu Flüffigfeit verdichtet. 

Beim Uebertritt des flüffigen Aethylens in den Wethylen- 
Verdampfapparat verdunftet e8 bei —150 bis —155 °. 

Der weitere Vorgang ift nun jo, daß das zu verdichtende 
Gas wie Luft oder Sauerftoff oder Stidftoff ꝛc. verdichtet 
wird unter möglichiter Abkühlung, und dann dem Verdampfer 


(324) 


27 


der Wethylenmajchine, in derjelben Weile wie oben bei dem 
Kohlenjfäureverdampfer, zugeführt wird, wobei derjelbe als Kon: 
denjator für das zu verdichtende Gas dient. 

Soll ferner Luft oder Sauerftoff verdichtet werden, fo er: 
folgt die Komprejfion mittelft Glycerinpumpe bis 150—200 
Atmofphären, worauf bei der Abkühlung in dem kombinirten 
Kondenjator und Berdampfer mit —150 bi8 —155° Temperatur 
dad Gas zur Flüffigkeit verdichtet. 

Wenn man nun die Zuft wieder in einem weiteren Ber: 
dampfer verdampfen läßt, jo ift leicht eine Temperatur von 
— 210 bis — 213° ©. zu erreichen. 

Würde man nun mit Wafjerjtoff diefelbe Manipulation 
durchmachen, jo würde man auc) ihn verflüfjigen können. Dies 
iſt aber in größerem Umfange noch nicht gelungen (fiehe ©. 4), der 
kleinere Zaboratoriumsverjuc ergab für Waſſerſtoff den Siede- 
punkt unter Atmofphärendrud bei —243 0, während die kritische 
Temperatur bei —234 ° liegen fol. 

Es iſt unbedingtes Erfordernig zur Verflüſſigung, daß die 
Zemperatur bis unterhalb der fritiichen Temperatur des zu ver- 
dichtenden Stoffes erniedrigt werde, denn über derjelben find Die 
Gaſe auch durch keinen noch jo großen Drud zu verflüfligen. 
Daher muß für diefen Zwed Sauerftoff bi$ unter —118°, 
Stidjtoff bi unter —146 °, Wafjerjtoff bis unter —234 ° ab- 
gefühlt werden, wozu bei Sauerftoff 51 Atmoſphären, bei Stid:- 
jtoff 35 Atmofphären, bei Wafjerftoff 20 Atmojphären Drud 
gehören. Bei gewöhnlichem Atmojphärendrud gehören zur Ver: 
flüffigung von Sauerftoff —182 °, von Stidjtoff —194 °, dem 
Geſetze entiprechend, daß der Siedepunkt mit der ſinkenden Span- 
nung ebenfalls finft. 

Flüſſige Luft hat prachtvolle hHimmelblaue Farbe, ihr Ge: 
wicht ift ein wenig größer, al3 das Gewicht des Waſſers. Es 


wiegt nämlich) Sauerftoff in flüffigem Zuftande etwas mehr, 
(325) 


28 


Stidftoff etwas weniger als Waffer. Ich habe bereit? erwähnt, 
daß angenommen wird, daß die Dichtigkeit aller Körper bis 
zum abjoluten Nullpunkte der Temperatur größer wird, derart, 
daß jchließlich die Atome oder Moleküle jo nahe aneinander 
gerückt find, daß feine Bewegung mehr möglich ift. Die Ab— 
wejenheit von Schwingungen iſt eben der Begriff der Abwejen- 
heit der Wärme. Diefe Körperbeichaffenheir jchließt auch che— 
milche Veränderungen aus, die ja in anderer Gruppirung der 
Atome verjchiedener Grundftoffe beftehen. Und in der That ver: 
mindert fic mit der Abkühlung die hemijche Affinität der Körper. 

Dieje Thatjache wird in dem Pictetſchen Inftitut hervor« 
ragend benußt zur Herjtellung chemijch reiner Subftanzen, durch 
Scheidung der verjchiedenen Stoffe von einander, in Verbindung 
mit den verjchiedenen Siedepunften derjelben. 

Chemikalien mit niedrigem Siedepunfte werden in luft: 
verdünntem Raume bei niedriger Temperatur der Berdunftung 
ausgejegt. Bei richtiger Wahl der Temperatur trennen fie fich 
infolge der geringeren Affinität bei der Verdunſtung derart, daß 
der Jeichter flüchtige Stoff verdunftet, während die anderen 
flüffig bleiben. Das Deftillat wird dann aufgefangen als che» 
milch reiner Stoff. So wird Xether, Alkohol, Lachgas, Chloro- 
form ꝛc. volltommen rein hergejtellt, zum Theil auch bei jehr 
niedrigen QTemperaturen (3. B. Chloroform bei —120°) fry- 
ftallifirt. Aus Alkohol wird das Aldehyd auf diefe Weije ent- 
fernt, Efjenzen und Dele gereinigt. 

Chemijche Verbindungen, welche unter gewöhnlichen Tempe- 
raturen fich jehr ftürmifch vollziehen, fönnen durch Erniedrigung 
der Temperatur wegen der geringeren chemijchen Affinität lang- 
jamer und ruhiger vor fid) gehen. Es giebt für alle beftimmte Tem- 
peraturen, bei denen die Verwandtſchaft ganz aufhört, jo 3. B. 
zwijchen Aetznatron und fonzentrirter Schwefeljäure bei — 125° 


u. j. w. 
(326) 


29 

Diejes joll überhaupt nad) Pictet die untere Temperatur: 
grenze für chemifche Veränderungen fein, jo daß aljo in der 
Kälte das Mittel gegeben ift, alle Erplofionen zu vermeiden. 
Minder tiefe Temperaturen dienen zur ruhigen SHerftellung 
mancher Verbindungen, die bei höheren Temperaturen herzuftellen 
feine Schwierigkeiten hat. 

Man ift jeht lebhaft beichäftigt, den Einfluß der tiefen 
Temperaturen auf chemijche, phyſikaliſche, elektriſche und biolo— 
giiche, auf Thier- und Pflanzenverhältniffe zu unterfuchen, hat 
dabei jchon manche überrajchende Erjcheinungen gefunden und 
wird noch viele jolche finden. Erjchiwert werden derartige Ver: 
juche durd) die Schwierigfeit, die tiefen Temperaturen herzuftellen, 
zu erhalten und bei ihnen Verſuche zu machen, denn jo leicht 
und einfach, wie es bei der kurzen Bejchreibung erfcheint, verlaufen 
die Prozejje nicht. Es find gewaltige mechanische und technijche 
Schwierigkeiten dabei zu überwinden, namentlich betreffs Herjtellung 
und Erhaltung der hohen Spannung und der Wärmeifolirung. 

Es jcheint nad) den Verſuchen WPictets, daß Wärme: 
ijolirungen big — 70° &. etwa durchgeführt werden fünnen, bei 
lebenden Thieren mitteljt Pelzwerk zc., daß aber bei weiterem 
Sinten der Temperatur dieſelbe allen Stoffen ſich gleihmäßig 
mittheilt. Höhere Thiere, die zum Leben eine gewijje innere 
Eigenwärme gebrauchen, gehen dann zu Grunde durch Erfrieren, 
während Einathmen von Luft von — 100° bis — 110° feinen 
Schaden zu thun fcheint. Die Einflüffe kurzen Aufenthalts in 
Temperaturen von unter — 70° ſollen nad) PBictet günftig für 
die Gejundheit jein, und er begründet darauf eine, bisher freilich 
noch problematiſche Heilkunft, die Frigotherapie. 

Je niedriger die Thiere, deſto widerjtandsfähiger jcheinen 
fie gegen Kälte zu jein. Sporen und Balterienfeime, jelbit 
Samen höherer Bilanzen find bei — 213° noch lebens. und 
feimfähig geblieben. 


(327; 


30 

Flüſſiger Sauerftoff ift für die Erregung und den Verlauf 
mancher chemifcher Prozefje von großer Wichtigkeit, und die 
Verwendung desfelben dürfte einen großen Umfang annehmen, 
wenn e3 gelingt, ihn mit geringen Koften herzuftellen, denn auf 
dem bejchriebenen Wege verurfacht die Herftellung recht große 
Koften. Ein wejentliher Schritt nach diefer Richtung ift in 
ber jüngften Zeit durch Profeſſor Linde gemacht worden, ber 
eine Einrichtung konftruirte, mittelft deren Sauerftoff in flüffigem 
Zuftande in einem Fontinuirlichen Prozeſſe hergeſtellt wird. 
Das Verfahren beruht auf der auch jonft befaunten Thatjache, 
daß zur Erpanfion eines Gaſes größere innere Wärme nöthig 
ift wegen der vergrößerten Schwingungsarbeit infolge der Ent« 
fernung der Moleküle voneinander. Iſt das Gas einer joldhen 
Iſolirung ausgejegt, daß die Wärme nicht von außen zugeführt 
werden kann, jo muß es jelbjt die Wärme hergeben, d.h. es 
muß fälter werden, jeine Temperatur ſinkt. Diefe Abkühlung 
beträgt für je eine Atmofphäre Drudverminderung "4? E., wie 
ſchon jeit langem wiſſenſchaftlich feſtgeſtellt ift. 

Linde benugt zwei ineinanderjtedende Rohrſchlangen. In 
der inneren bewegt fi) in der Richtung von oben nad unten 
ftark fomprimirte und abgefühlte Luft. Beide Schlangen münden 
mit ihren Enden in ein untenftehendes, fejtverjchloffenes, ſtarkes 
Gefäß, die erjtere mit einem Regulirhahn oder Ventil verjehen. 
Indem man diefen Hahn etwas öffnet, erpandirt die gejpannte 
falte Luft in das Gefäß und fühlt dabei, der Erpanfion ent: 
iprechend, ab. Sie geht danı in die äußere Schlange auf dem 
Wege von unten nach oben, aljo in Gegenjtrömung gegen die 
im inneren Rohre ſich bewegende gejpannte Zuft, welche dadurd) 
weiter abgekühlt wird. Auf diefe Weije findet eine allmähliche 
fontinuirlihe Abkühlung dieler Luft jtatt, big fie endlich ich 
als ganz kalte, flüffige Luft in dem unteren Gefäße jammelt, 
jobald die Abfühlung bis unter die kritiſche Temperatur ge 


(328) 


fommen ift. Die Luft aus der äußeren Rohrſpirale wird ſtets 
dur) eine Komprefjionspumpe wieder auf den Anfangsdruck 
gebracht (der ganze Vorgang muß natürlich bei konſtantem 
Drud verlaufen) und in einem Kühler gefühlt, mitteljt der aus 
einer Kohlenfäure-Kältemajchine erpandirten Kohlenfäure niederer 
Temperatur oder mitteljt falten Salzwafjerd. In dem Augen- 
blid, in welchem in dem unteren Sammelgefäße die Verflüffigung 
der Luft beginnt, ijt es nöthig, friiche Luft dem Apparate zu: 
zuführen. Dies gejchieht, indem die Zuft in der Kohlenfäure- 
Kältemafchine ſoweit wie möglich abgekühlt ift. Die Luft muß 
natürlih vor Eintritt in den Apparat volllommen getrodnet 
werden, welcher Vorgang zwar durch Ehlorcalcium vorgenommen 
wird, doch aber mancherlei Schwierigkeiten bietet. Wird nun 
die Flüffigfeit auß dem Sammelgefäße abgelafjen, jo verdunftet 
ſehr jchnell der flüjfige Stidjtoff der Luft, weil dejjen Siede— 
punft etwa 12% (—- 194° gegen — 182° de3 Sauerftoffs) tiefer 
liegt, al$ der des Sauerjtoffs, und entnimmt feine Verdampfungs- 
wärme dem flüjjigen Sauerftoff, der infolgedejjen flüſſig bleibt. 
Auf dieſe Weije enthält der zurücbleibende Sauerjtoff nur etwa 
25 bis 30% Stidjtoff und hat jchon die erwähnte blaue ‘Farbe. 
Die Verſuche mit dem Apparat find volltommen befriedigend 
ausgefallen. Es dauerte allerdings 12 Stunden, bis die 
Temperatur von — 165° erreicht wurde, die dann aber konſtant 
fi) während der Verflüjfigung hielt und die beim Verdunften 
des Stidjtoffs auf — 192° janf. Neuerdings ijt e8 gelungen, 
die Zeit auf zwei Stunden zu reduziren und in der Stunde 
mit dem Verſuchsapparat 60 kg Luft zu verflülfigen. Sollte 
ji dieje Fabrikation in größerem Maßſtabe billig durchführen 
lafjen, jo könnte der flüjfige Sauerftoff überall dort gebraucht 
werden, wo e3 jich bei Verbrennungen um SHerjtellung großer 
Hitegrade Handelt, oder zum Schmelzen jtrengflüjfiger Metalle, 


auch in Hocöfen und bei dev Gußjtahlfabrifation, bei intenfiven 
(329) 


32 





Lichteffekten, für Leuchtthürme zc., zum Löthen und dergleichen, 
zu Inhalationen in der Medizin u. |. w. 

Die Temperaturmefjungen werden mit Wafjerjtoff- oder 
Heliumthermometern vorgenommen, röhrenförmigen Gefäßen, die 
mit Waſſerſtoffgas oder Helium gefüllt find und in die zu 
mejjende Flüffigkeit eintauchen. Sie find dann nad) außen 
dur Alkohol abgejchloffen. Die Ausdehnung und Zufammen- 
ziehung des Wafjerftoffgajes ift für je einen Grad gleich; daher 
fann denn auch leicht eine Skala angefertigt werden. Für ganz 
tiefe Temperaturen verſagt aber auch diefes Thermometer, weil 
dad Waſſerſtoffgas ſchließlich flüffig wird, und deshalb wird 
boh beim Mefjen folcher tiefen Temperaturen von der Beob- 
achtung Gebrauch gemacht, daß der eleftriiche Widerftand der 
Körper mit der Körpertemperatur ebenfall® abnimmt. Er wird 
‚mit dem Temperaturnullpunft gleich) Null. Eine QTemperatur: 
jfala läßt ſich daher leicht anfertigen, und ein mit derjelben 
ausgerüſtetes Galvanometer, defjen einer Schenkel in die Flüſſig— 
feit eintaucht, it al3 gute Thermometer zu verwenden, aller: 
dings unter der Vorausjegung, daß der Nullpunkt in der That 
bei — 273° liegt, was ja freilich als abjolut ficher nicht er- 
wiejen if. Es ift immerhin möglid, daß er nod etwas 
tiefer liegt. 

Ic denke mit vorftehender Schilderung dargethan zu haben, 
daß die Kälteinduftrie ſchon jekt eine große Wichtigkeit bejigt 
(in Deutjchland dürften wohl bereit? 5000 bis 6000 Kälte 
mafchinen im Betrieb fein), daß aber die Zukunft in noch er- 
höhtem Maaße Gebrauch) von den Hältemafchinen machen wird. 


(830) 


Der Ehriftus Michelangelos 


in 3. Marin ſopra Minerva in Rom. 


Von 


Sarl Manchot Dr., 
Paftor in Hamburg. 


Hamburg. 
Verlagsanftalt und Druderei A.G. (vormals 3. F. Richter), 
Königlihe Hofverlagsbuchhandlung. 
1898, 


Das Recht der Ueberjegung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 


Drud der Berlagsanftalt und Druderei Actien-Gejellichaft 
(vormals I. 5. Richter) in Hamburg. 


Der Ehriftus Michelangelos in S. Maria fopra Minerva 
in Rom gehört zu den merfwürdigjten Werfen chriftlicher Kunſt. 
Dem großen, aber ungeduldigen Meijter war dies Werk jo Lieb, 
daß er es gern zum zweiten Male ausführte, als bei der eriten 
Bearbeitung der Marmor in dem Geficht eine jchwarze Ader 
zeigte; ja er war bereit, dag ganze Werk noch einmal zu machen, 
als gegen einige legte Striche, die einer jeiner Schüler bei der 
Ablieferung ausführen mußte, ihm Tadel und Bedenken geäußert 
wurden. Won dem Beſteller wurde Michelangelos Anerbieten 
einer dritten Ausführung mit einem danfbaren Briefe abgelehnt, 
in welhem man lieſt: „Ihr zeigt Euren großen Sinn und 
Eure Hochherzigfeit, indem Ihr für ein Werf, das in der Welt 
nicht bejjer gemacht werden kann und das micht feinesgleichen 
bat, mir ein noch bejjeres liefern wollt.“ Als fichtbaren Beweis 
jeiner großen Dankbarkeit machte er dem Meifter ein werthvolles 
Reitpferd zum Gejchent. Auch von den Zeitgenoſſen wurde 
das Standbild mit hoher Bewunderung aufgenommen. Sein 
Ruhm ftieg jo Hoc, dat König Franz I. von Frankreich den 
Chriſtus abformen ließ, um ihn in Paris in Erz aufzuitellen. 
Diejer hohen Beachtung ift eine Zeit der eingreifenditen Kritik 
und Bemängelung gefolgt. Die Verwaltung der Kirche ging voran: 
um das Standbild Ffirchenfähig zu erhalten — e8 war von 
Anfang zur Aufitellung in diejer Kirche bejtimmt —, wurde ihm 
ein Strahlenfranz von Bronze über dem Haupte angebradjt und 

Sammlung. N. F. XII. 298. 1? (333) 


4 


die Lenden mit einem Bronzetuch umhüllt. Die Kritik der Kunft- 
fenner und Hiftorifer ift dem Urtheil der römischen Kirche ge- 
folgt; fie Hat das Standbild in den Tadel geiftverlafjener Formen 
und in die Entjchuldigung einer fachlich) auch) dem großen Manne 
unmöglichen Aufgabe jo dicht eingehüllt, daß die wirkliche Be: 
deutung, objchon fie dem Werfe Klar genug aufgeprägt ift, gar 
nicht mehr geahnt, gejchweige denn verftanden wird. Hermann 
Grimm jagt in allen Auflagen feines Wertes über Michel- 
angelo, dies ſei „die erjte Statue Michelangelos, die als 
manierirt bezeichnet werden muß”, und erflärt aus Anlaß der 
Beiprehung diejer Statue den Begriff der Manier, der auch ein 
großer Künſtler verfallen fünne. Weil der Meifter der gewohnten 
ruhigen Stellungen müde gewejen jei, „juchte er Schwierigfeiten, 
nur um fie zu überwinden, und ließ feine Gejtalten Wendungen 
machen, welche weniger die Bewegung des fie erfüllenden Geiſtes, 
als die Kühnheit und Kenntnig Michelangelos zeigen“. 
Gewiß, die äfthetiiche Kritik foll unabhängig ihres Amtes 
walten; nicht fragen, wem zulieb und wem zuleid fie rede. 
Doch jollte fie ganz bejonders vorfichtig werden, wenn ihr Ur- 
theil den fittlihen Menſchen im Kiünftler gegen jeine eigenen 
jonftigen Erklärungen und Erweifungen tief herabdrüdt. Hat 
das äfthetifche Urtheil mit diefem Tadel recht, jo muß der große 
Künstler, dem es gilt, eines jchlimmen Mißbrauches jeiner 
Kunſt für perjönliche Eitelkeit geziehen werden; und es ijt dann 
das Allerhäßlichite, daß er dazu die Geftalt des Erlöjers herab: 
gewürdigt hätte. Wenn ihm das möglich gewejen wäre, dürfte 
man kaum gegen Jemanden etwas einzuwenden haben, dem es 
einfiele, die befländigen und lauten Beugnifje eigener Frömmig— 
feit, die von Michelangelo vorliegen, für eitel Selbftbetrug und 
Heuchelei zu erflären. Aber mit den genaueften Kennern feiner 
in vielen Zeugnifjen uns beglaubigten edlen Geſinnung geht 


das naive Urtheil des frommen Gefühles der regelmäßigen Be- 
(334) 


2 


jucher der Kirche S. Maria jopra Minerva diefem verbammenden 
Urtheil geradezu entgegen. Denn das naive fromme Gefühl 
erzeigt diejem Bilde die höchite Verehrung. Und zwar nicht, 
weil ihm irgendwelche bejondere Bedeutung von jeiten der 
Kirche zugejchrieben würde, jondern obgleich nichts von alledem 
dort geichieht, was jonjt ein der Andacht empfohlenes Bild 
auszeichnet. 

Das Standbild ift auf einem Pojtamente aufgeftellt, das 
auf der rechten Geite der Treppe, die zu dem Hauptchor der 
Kirche führt, vor dem Wandpfeiler errichtet ift, welcher den ab-« 
ichließenden Triumphbogen des Chores trägt. Es fteht dort in 
jehr ungünftigem Lichte. Denn das jtarf gedämpfte Licht, welches 
nur matt in dieje Kirche dringt, die in dicht umgebende, hohe 
Häufer eingebaut ift, fann dieje Stelle nicht unmittelbar er— 
reichen; und auch das zerjtreute Licht des Kirchenraumes wird 
durch einen großen, an das Ende des Hauptjchiffes gebauten 
Hochaltar von dort zurücgehalten. Hinter diefem Hochaltar 
geht ein breiter Gang vor dem Chore vorüber, den Ein. und 
Uusgehende viel benugen. Fremde, die auf die ablehnende Kritik 
eingejchworen find, beeilen fich meijt vorüber zu fommen, um 
dem Küſter nach feinen jonjtigen Sehenswiürdigfeiten zu folgen. 
Wer aber einige Zeit verweilt, wird aufs höchjte überraicht durch 
die große, immer jpontan erjcheinende Verehrung, welche die 
meiften römischen Bejucher der Kirche diefem Bilde erweijen. 
Alte Frauen und junge Männer, Leute im mittleren Lebensalter 
aller Stände und aus beiden Gejchlechtern habe ich gejehen, wie 
jie dort den eiligen Schritt hemmten, zum Ungefichte des bar- 
geitellten Heilandes in die Höhe blidten und dann der Statue 
den Fuß füßten. Ich Hatte nie den Eindrud, daß dies in der 
gejhäftsmäßigen Weile geichieht wie in St. Peter vor der 
Petrusftatue, zu der die Pilger herandrängen wie an einen Billet— 
halter, um in eiliger Weije den Fußkuß abzumachen, ohne fich 


(385) 


6 


ſonſt um die Statue zu fümmern. Auch weijt Feinerlei äußere 
Beranjtaltung auf den Wunjch einer folchen Verehrung Hin. 
Die Statue hat feinen Altar; ihr Poftament ift nicht befonders 
geſchmückt; weder Fahnen noch Kerzen noch irgend andere Dra- 
perien find dabei angebradt. Sie jteht ganz allein für fich in 
der mit Altären und Bildern reich geſchmückten Kirche, ohne 
Dienft und Weihraud. Und trogdem dieje große Verehrung. Dem 
Metallichuh, der über den rechten Fuß gezogen ift, fieht man 
an, daß, wenn diejer vorjorgliche Schuß nicht wäre, die fromme 
Inbrunſt längjt den Marmor der großen Zehe diefes Fußes und 
mehr noch auf den Lippen davon getragen hätte. Dieje ftarfe, 
von dem Werke jelbjt ausgehende, nirgend durch Wunderlegenden 
unterjtügte Wirkung eines Standbildes, die fein SKirchendienit 
empfiehlt oder fördert, dazu in einer mit reichen Altären ge: 
ſchmückten Kirche ift vielleicht nicht bloß für den evangelischen 
Beobachter ein ſeltſames und merkwürdiges Schaufpiel. Iſt es 
Jeſus, der Herr, deſſen Namen auch ein ſchlechtes Werft noch 
immer jo hoch erhebt; oder bringt am Ende dag Standbild doc 
in feiner individuellen Beichaffenheit, feiner Haltung, dem Aus: 
drud feiner Züge und feiner Bewegung den Geijt und Die 
Richtung des Wirkens Jefu in einem beftimmten Moment 
ergreifender zum Ausdrud, als die Kritik zugeben will? 
Haben wir es wirklich nur mit der kunſtvollen Gejtaltung einer 
bewegten Figur zu thun, die man Chriftus genannt hat; oder 
giebt e8 am Ende doc) einen ganz bejtimmten Augenblid, eine 
fonfrete Handlung, in deren Verlauf Chriſtus ebenjo, wie er 
bier dargeftellt ift, zu denken ift und vielleicht gar nicht anders 
vorzujtellen war? 

Laſſen wir ung zuerft von Hermann Grimm das Werk 
beichreiben. „Die Statue des Chriftus in der Minerva empfängt 
an ihrem Plage das in ſolchen Räumen bergebrachte zerjtreute 
Licht, das eine richtige Anficht felten zuläßt. Die Geſtalt fteht 


(336) 


7 


aufrecht, da8 aus Jeichtem Rohr (Rohrftäben) gebildete Kreuz 
an ihrer Seite; die rechte Hand hält es mit herabgejenktem Arm 
unten leicht gefaßt, während die linke, über die Bruft übergreifend, 
e3 weiter oben berührt. Die Beine und der Unterförper find 
dabei in der Bewegung nad) links gewandt, indem das Tinte 
Bein ein wenig vor-, das rechte zurüdtritt; der Oberkörper jedoch 
dreht fich mit den Schultern nad) der andern Seite, und Dieje 
Drehung der Geftalt über den Hüften ift das Meifterjtüd der 
Arbeit. 

Die Stellung an ſich aber entjpricht nicht der Berjon defjen, 
den fie erjcheinen laſſen fol. Nehme ich den Abguß des Heinen, 
zart ausgeführten Modells in die Hand, wo Schultern und Kopf 
fehlen, jo glaube ich den Torſo eines Achilles zu jehen. Eine 
ſchlanke, fühne Vollkommenheit männlicher Kraft läßt dieſe Bildung 
ahnen: man denkt, das Haupt müfje ein Helm bededt und an dem 
fehlenden Arm ein Schild gehangen haben. Etwas Kriegerifches, 
Heldenhaftes liegt im Aufftehen der beiden Füße, das und be- 
fremdend erjcheinen muß bei einer Erjcheinung, die ſanft Hin- 
wandelnd über die Erde gedacht wird, als müßten fich die 
Blumen, auf die er getreten, wieder aufrichten nachher, wie wenn 
fie nur ein Windhauch beugte. Diejes Sanfte, Duldende war 
Michelangelo überhaupt nicht eigen; er konnte nicht in feine 
Werke legen, was er nicht bejaß.” 

Die 7. Auflage von Grimms Werk ift 1894 erjchienen; 
fie enthält bis auf die Heine in Klammer mitgetheilte Ab— 
änderung dieſelbe Beſchreibung wie die älteren Ausgaben. 
(I, ©. 421 f.) 

Es ijt intereffant, daß Springer! diejelbe Statue zur 
Begründung des entgegengejegten Urtheils über Michelangelo 
anruft. „Sie zeigt uns das Bild eines Mannes von ftattlichen 
Gliedern und edlem, ernjtem Ausdrud, fie Hilft, das Vorurtheil 


zerftreuen, als wäre Michelangelo zur Wiedergabe milder, maß- 
(837) 


8 





voller Geftalten unfähig gewejen, fie athmet aber nicht die Fülle 
des Lebens, welche Michelangelos Jehovah, feinen Propheten 
und Sibyllen in der firtinischen Kapelle die Unſterblichkeit 
fiherten.” Springer jucht die® mit einer ausführlichen Er- 
örterung über die Grenzen plaſtiſcher Darftellung zu begründen, 
welche die dDramatifche Handlung, die nothwendig fei, um Chriſti 
Weſen zur Darftellung zur bringen, in einer Einzeljtatue nicht 
zulaffe. Dazu komme: „ein nacdter Leib Hilft aber nichts dazu, 
die Geiftesrichtung und den Charakter einer Perfönlichkeit an- 
ihaulicher zu machen.” Bei Kämpfen, beim Ringen u. |. w. ſei 
das Nadte dazu da, die Wahrheit des ungebrochenen Naturlebens 
zu enthüllen. Hier jei es alfo weije von Michelangelo gewejen, 
daß er freiwillig auf ein reichere® Geberdenjpiel verzichtet und 
durch mannigfaltige Bewegung die Einheit und Wahrheit der 
plajtiichen Auffafjung nicht gejchädigt Habe. 

Günſtiger urtheilend, führt Philippi in feinem neuejten 
Werke aus: diefer Ehriftus ſei ein einfaches und edles Werf. 
„Sollte einmal Chriftus als Einzelgeftalt ohne Beziehung auf 
einen bejtimmten Vorgang, alſo ohne die Möglichkeit einer dra- 
matifchen oder tiefer begründeten geiftigen Belebung gegeben 
werden, jo war es jedenfall® die einzige künftlerifche Art, ihn 
aufzufafjen, wie Michelangelo ihn gab: von edfer, jchöner, aber 
man möchte jagen, ernfter Körperbildung und mit mäßig belebtem 
Gefichtsausdrud. Die Belleidungsfrage ift dagegen nebenjächlid). 
Denn wie nicht3fagend ift z. B. Thorwaldſens jegnender Chriſtus, 
und man frage fich überhaupt, wie viele einzelme (die nicht zu 
einer Scene gehören) Chrijtusbilder es giebt unter den gemalten, 
von denen man befriedigt ift. Und wie weile und richtig war 
e3 doch, daß Michelangelo hier von feinem Kontrapojto faum 
eine Andeutung machte.“? 

Knackfuß unterläßt alle tadelnden Bemerkungen. „Michel: 


angelo8 Chrijtus, der mit der Nechten das Kreuz umfaßt, mit 
(338) 


9 


der Linken den Eſſigſchwamm und die Stange hält und mit ge 
wendetem Haupte ernft und traurig auf den Beichauer herab- 
blidt, jteht auf einem viel zu niedrigen Unterfa und in ſehr 
ichlechter Beleuchtung. Daß eine jpätere Zeit, welche die unbe 
fangene Begeijterung der Nenaifjance für die Schönheit der 
Menjchengeitalt nicht mehr theilte, an der völligen Nadtheit der 
Figur Anftoß nahm, ijt begreiflich; leider aber ift dag bronzene 
Lendentuch, womit man diejelbe bekleidete, jehr ungeſchickt ange- 
ordnet; es liegt zu tief, jo daß es den jchon durch die Auf: 
jtellung hervorgerufenen Eindrud, als ob die Beine gegen den 
Oberkörper zu kurz wären, in empfindlicher Weiſe verſtärkt.“* 

In dem Vorwort zu Baedekers „Mittelitalien und Rom“ 
ſagt Springer: „Die nadte Chriſtusſtatue imponirt durd) 
edle Männlichkeit der Haltung und des Ausdruds, mag fie aud) 
anfangs durch die Abweichung von der Tradition befremdlich 
wirfen. (LXVIIL) 

Jacob Burdhardt im Eicerone (7. Aufl., S. 161) erklärt: 
„Es ift eines der liebenswürdigfien Werke; Kreuz und Rohr find 
zu der nadten Gejtalt geſchickt geordnet, der Oberleib eines der 
ſchönſten Motive der neueren Kunft; der fanfte Ausdrud und die 
Bildung des Kopfes mag jo wenig dem Höchften genügen als 
irgend ein Chriſtus, und doc wird man diefen milden Blick des 
„Sieger über den Tod“ auf die Gemeinde der Gläubigen ſchön 
und tief gefühlt nennen müſſen.“ 

Da Springer das mir hier nicht zugängliche und im 
Buchhandel im Augenblid vergriffene Werf von Symond3* an- 
führt, ohne eine andere Auffafjung, jei’8 auch nur polemijch, zu 
erwähnen, jo nehme ich an, daß mit den angeführten Urtheilen 
der Kreis, in welchem fich das Urtheil bewegt, genau bezeichnet 
it. Keiner diejer Kenner und Forſcher weiß eine bejtimmt ge- 
gebene Handlung anzugeben, in welcher Chriftus als nadte 


Gejtalt in dieſer Haltung vorgejtellt werden dürfte oder müßte. 
(339) 


10 


Vom jcharfen Tadel fchreitet indes die Beurtheilung, wie es 
ſcheint, unmerflich zur Entjchuldigung und weiter zur Anerkennung 
eigenartiger Borzüge, die für einzelne Theile der Gejtalt, namentlich 
für das Geficht, über die Anerkennung einer nur Schönen Menjchen- 
geitalt deutlich hinausgehen. 

Vergleicht man nun die Bejchreibung mit der Figur jelbit 
oder aud) nur mit einer getreuen Abbildung, die ohne Zuthat zeigt, 
was der geniale Bildhauer gejchaffen Hat, jo wird man nicht 
ohne Erftaunen ſtarke Ungenauigkeiten und Irrthümer der Be 
ichreibung wahrnehmen. Eine wenig bewegte Gejtalt, die mit 
beiden Füßen auffteht, wird bejchrieben; in Wahrheit aber fteht 
dieſe Gejtalt, die in der Minervafirche zu jehen ift, nur auf 
einem Fuße auf und ift mit dem anderen Bein und Fuß in 
einer nad) vorwärts gehenden Bewegung begriffen. Man hat 
nicht erjt den Marmor unten wegnehmen müfjen, um Die 
Metalljohle des Metallſchuhes auc unter den Fuß zu ziehen, 
diefer Fuß bewegt fich in der Luft; er fteht mit der Verftärfung 
durch die Metallfohle heute noch nicht auf; an der hochgehobenen 
Ferſe und dem nad) unten geſenkten vorderen Theil des Fußes 
erfennt man, daß die Gejtalt im Begriff ift, mit diefem Fuß 
niederzutreten. Folgt man der heutzutage meiſt angenommenen 
Bezeihnung nad) den Seiten des Beſchauers, jo ift zu jagen; 
die Gejtalt ruht auf dem rechten Fuß, d. 5. alſo dem Linken 
Fuß der Geftalt, und fie bewegt den rechten. Und zwar ge: 
Ichieht dies nach) vorwärts in einer etiwad drehenden Bewegung, 
welche auf ein Vorſchreiten nach der rechten Seite deutet, nad) 
welcher das Antlig mit großem Nachdruck gerichtet if. Mit 
diefer Bewegung fehrt der Körper aus der nad) der linken Seite 
zu dem Kreuze zurüdgewendeten Bewegung zurüd. Denn Die 
viel bewunderte und oft allein beſprochene Drehung des Ober: 
förpers über den Hüften jteht mit diejer Bewegung des Beines 


in organischer Verbindung. Die Muskeln des Leibes find in 
340) 


1] 


lebhafter Thätigkeit; e8 iſt gerade die beginnende Rüdbewegung, 
die ihr mannigfaltiges Leben bedingt, wie die einen Musfeln 
anfangen, ſich zurüdzuziehen, die anderen dagegen vorwärts 
drängen. Man merkt jelbjt, wie das Iebhafter in den Adern 
binftrömende Blut die Oberfläche des Körpers beeinflußt, und 
ſieht, einmal in diefe Beobachtung vertieft, faft unwillkürlich nach 
dem Herzen, das Iebhafter jchlagen muß; aber dies bewegte 
Herz, das Einzige, was er nicht darftellen kann, hat des Künſtlers 
Weisheit unter dem nach dem Kreuze gewendeten Arme verborgen. 
Aber wer ihn verjteht, der glaubt ihm, daß dort wirklich ein 
Herz Schlägt, da er die Wirkung jo beſtimmt dargejtellt jieht. 

Diefe Bewegung nad) der Seite des ruhenden Fußes, aljo 
für den Beichauer nad) rechts, die in dem Unterförper vor fich 
geht, ijt in dem oberjten Theile der Gejtalt, dem Kopf und 
Naden, bereit vollzogen. Mit einer Haltung, die auf eine eben 
ausgeführte, rajche, mit einem Male vollzogene Bewegung hin» 
deutet, find Kopf und Hals nach recht? gewendet. Ein be- 
jtimmender Entſchluß geht von dort aus, dem die übrige Gejtalt 
folgt; und wir jehen fie in der Ausführung diefer Bewegung. 
Das Antlig fieht nad) unten; und wenn der Links fich bewegende 
Fuß den Boden wieder berührt, fo wird fich nicht nur die ganze 
Geſtalt in der Richtung des Angefichtes vorwärts bewegen, jondern 
fie muß auch etwas Hinabfteigen, auf die niedrigere Stufe des 
Bodens, welche unten angedeutet ift. Wohin geht fie und was 
wird Dabei aus dem Kreuze, an dem die Arme und Hände be- 
ihäftigt find ? 

Der linke Arm greift nämlich vor der Bruft ber; der Arm 
it im Ellbogengelenf etwas nach unten gebogen, fo daß die obere 
Bruſt zu jehen, die Bruftwarzen bededt find und die Hand in 
der Höhe der Arelhöhle das Kreuz trifft, welches fie gegen den 
rechten Arm drüdt. Der rechte Arm greift von hinten um das 
Kreuz herum; er ijt im Ellbogengelenf ſcharf nad) oben gebogen, 


(341) 


12 


weil das Kreuz auf den Muskeln des rechten Ober: und Unter 
arms ruht. Die rechte Hand greift oberhalb der linken, etwa in 
der Höhe des Kinns, an das Kreuz, auf dem ihre Finger in 
getrennter Bewegung fichtbar find. Dieje Finger fcheinen fich - 
zu einem neuen Griffe zu rüften; die Adern der Hand jchwellen 
an, jeder Muskel bis zum Eleinften ijt angezogen und die Sehnen 
gejpannt. Die linke Hand dagegen ift noch mit anderen Dingen 
beichäftigt; fie hat einen Strid zu halten und einen Schwamm, 
drüct auch einen wie einen Pilgerftab großen und ftarfen Bam» 
busjtab mit dem Daunen an das Kreuz. Sie jcheint einen be: 
deutenden Drud ausgeübt zu haben, aber jet fichert fie mehr 
das in feinem Fundament geloderte, an den rechten Arm gelehnte 
Kreuz; infolge der geringeren Anjtrengung läuft das Blut zurüd, 
und man meint eine jtärfere Bewegung in den Adern an dem 
Ellbogengelenf wahrzunehmen. Das Kreuz jelbjt endlich, das 
Grimm aus Nohrjtäben, alſo jehr Leicht gebildet fein läßt, iſt 
in Wahrheit als ein jtarfes, maſſives Kreuz aus dem vollen 
Stein gehauen. Der Bejchauer, der die ganze Figur vor Augen 
hat, wird gar nicht in Zweifel darüber gelafjen, was gejchehen 
muß, wenn diefes Kreuz nicht mehr von den Armen des Mannes 
gejtüßt würde; es it in jeinem Halt am Boden gelodert und jteht 
ichief;z ohne Halt muß es fallen. Soll es aber bei diejer Be- 
wegung des Mannes von ihm weiter gehalten werden, jo muß er 
e3 mit ſich fortbewegen; er muß es anfafjen, um e3 vorwärts 
zu heben und Dort neben oder vor fich zu ftellen, wo er hin- 
Ichreiten will. Denn in der jegigen Lage kann er es in dem 
Augenblick nicht mehr Halten, in welchem jein Fuß den tiefer 
liegenden Boden vor ihm berührt. Das ift alles jo klar und deutlich 
in dem Marmor ausgeführt, daß Niemand über die Abjicht des 
Bildhauers im Unklaren bleiben fann, der das Vorurtheil aus 
den Augen gewijcht hat, daß Michelangelo, nur um zu zeigen, 


wie groß feine Kunft, den bewegten Menfchen darzuftellen, die 
(842) 





13 


ChHriftusgeftalt mißbraucht habe. Wem es nicht auf das Be- 
ſchauen Hin einleuchten will, der möge die Bewegung mit einem 
ähnlich breiten Brett nur verfuchen, und er wird fich von der 
Nichtigkeit der vorgetragenen Auffafjung überzeugen. 

Wir haben alfo im höchſten Maße vor uns, was die dra- 
matijch bewegte Handlung ausmacht. An der 1506 aufgefundenen 
Laofoon-Statue beiwunderte man, wie in drei durch die Schlangen 
verbundenen PBerjonen die drei Hauptmomente einer Handlung 
in einem Bilde vereinigt feien: der endende Todeskampf (an 
dem jüngeren Sohne), der in die entjcheidende Krifis tretende 
Todesfampf (im Vater), der ficher angekündigte Todeskampf (im 
älteren Sohne, der eben noch zu entfliehen meinte). Hier, bei 
dem Chriftus Michelangelos, find die drei Momente um eine 
einzige Perſon als Lebensafte vereinigt. Die fertige Handlung 
bei dem jchiefitehenden, aber im rechten Arm gejicherten Kreuz; die 
in entjcheidender Bewegung fich vollendende in der Gejtalt des 
Mannes, der ſich bewegt; die in feinem Antlit angekündigte und 
im Entichluß begonnene Bewegung nad) dem Ziele, zu dem er 
binabblidt. Mit höchſter Spannung folgt man der Bewegung, 
um tief ergriffen zu ahnen, was dag Antlig anfündigt. 

Lafjen wir indes für einen Wugenblid das wunderbare 
Antlitz und feine Haltung und geben wir uns furz zufammen: 
fafjend noch einmal Rechenschaft über das Wahrgenommene. 

Nicht vor einer ruhigen, jondern vor einer im höchjten 
Maße bewegten Geftalt ftehen wir. Sie hält das Antlig nad) 
unten gerichtet, dorthin zu gehen, bewegt fie den Fuß; und in 
diejer Richtung muß fie das Kreuz an einen neuen Ort verjegen. 
Ihre Abzeichen nennen fie deutlich; die Kunftbeflifjenen jagen: 
es ijt der Chriſtus Michelangelos; der Meifter ſelbſt Hat fie 
freilich etwas anders, nämlich fo genannt, wie die Pfarrfinder 
von St. Maria noch heute jagen: il redentore d.i. der 


Erlöjer. Der Erlöſer; wozu will er fein Kreuz gebrauchen, 
(843) 


14 


zu wem noc als Erlöfer herabjteigen, nachdem er den Tod 
überwunden hat; wen fucht fein ergreifende® Erbarmen? Auch 
da3 hat Michelangelo deutlich gedacht und unmißverjtändlich 
genug ausgedrüdt. Und man hätte e8 gar nicht mißverjtehen 
fünnen, wenn nicht die Augen mit Blindheit wären gejchlagen 
gewejen. Bielleicht zum Glück. 

Doc leſen wir lieber zuerjt, was der Bildhauer über die 
näheren Umftände, unter welchen der Erlöfer von ihm dargejtellt 
ift, in das Werk hineingejchrieben hat. Von den Symbolen haben 
wir da8 Kreuz genügend erwähnt. Die drei anderen hat man 
leicht zu verftehen gemeint. Das Eine, der Strid, wird gar nicht 
erwähnt; der Schwamm ift der Schwanm mit Ejjig, den die 
Soldaten an ein Rohr banden, um den Herrn am Kreuze zu 
tränfen; und der große Bambusſtab joll der Stab fein, an dem 
diefer Schwamm Hinauf gereicht wurde. Man bat wahrjchein- 
ih den Strid al das Hülfsmittel angejehen, mit dem der 
Schwamm fejtgebunden wurde, Und wo dies nicht ausreichend 
deutlic) genug von dem Bildhauer angedeutet erjchien, hat man 
jogar noch ein Bändchen oben Hinzugebunden, bevor die Photo- 
graphie gemacht wurde, wie dies leider für die große, auch im Hinter: 
grunde? etwas irreführende Photographie von Brann, Clement 
& Cie. gejchehen, nach welcher die Abbildung in dem Werfe von 
H. Knackfuß gegeben ift. Nun ift aber der Strid ein wirklicher 
großer Strid, mit dem man einen Menjchen fejjeln kann, aber 
nicht einen Schwamm anbinden wird. Und wer fid) die Mühe 
giebt, die Hand, die ihn hält, genau zu betrachten, nimmt wahr, 
daß diefe Hand den großen Strid zufammengefaßt hält, wie man 
einen Strid in Windungen zufammenlegt, wenn man ihn außer 
Gebrauch jeßt. Der Strid hat anfcheinend gar nicht mit dem 
Schwamm zu thun; es find nur einige bei der weiteren Bewe— 
gung der Hand Heruntergefallene Windungen, die man unter, und 


eine nach oben verjchobene, die man über der Hand wahrnimmt. 
(344) 





15 


Diejer Strid kann und ſoll nicht? anderes fein, als der 
Strid des Toded. Das war ein anscheinend ſchon der antiken 
Kunft geläufige® Symbol. Die Helate als Göttin der Unter: 
welt hält neben dem Schlüjjel einen zujammengelegten Strid, 
wie man an der jchönen Bronzejtatue im Sonjervatorenpalajt 
in Rom jehen fann. Und ebenjo ift in der Bibel von den 
Striden des Todes die Rede, von welchen 3.8. es Pf. 18, 6 heißt: 
„Der Hölle Bande umfingen mid); und des Todes Stride über: 
wältigen mich.“ ine Stelle, die in der chriftlichen Kirche ſtets 
mejjianijch gedeutet wurde. Iſt Chriſtus gejtorben, jo hat ihn 
der Tod mit jeinem Stride gebunden; indem er den Tod be: 
fiegte, hat er diejem den Strid abgenommen und fic) wieder be: 
freit. Daß Niemand nur darüber im Zweifel bleibe, was er 
meine, hat Michelangelo den Schwamm, der die Bitterfeit des 
Todesleidens andeutet, jo gejtaltet, daß die Köcher des Schwamm 
einen Zodtenjchädel darjtellen, der mit Schädelfuochen, wie mit 
einem barbariichen Turban gekrönt ift, wie Jeder, der genau zus 
jieht, jich jofort überzeugen muß. Der freundlichen Unterftügung 
des Herrn Hofphotographen Huß dahier verdanfe ich die Ber: 
größerung der Hand, an weldyer man auch in der Abbildung das 
Schädelbild flar erfennt. Den Fürſten des Todes hat der Fürft 
des Lebens bejiegt. Daher ijt diefer Schwamm auch gar nicht 
an den Stab gebunden, jondern wird von der Hand des Siegers 
gehalten, der mit einem Wanderjtabe zu feiner legten Aufgabe 
ſchreiten will. 

Der Erlöjer, der den Tod befiegt Hat, geht in die Unter 
welt, um den jeit Neonen im Gefängniß des Hades Feſtgehaltenen 
mit dem Kreuze die Befreiung zu bringen. „Niedergefahren“ 
zum Zodtenreich, jagt für das deutfche Ohr das nach den Apoſteln 
genannte Symbol, welches dieſen Eat erjt jeit dem vierten 
Sahrhundert aufgenommen hat; aber der alte Text jagt: „er ging 
hinab” (zur£ßn). Aus dem erjten Petrusbrief 3,19 erfahren 


(345) 


16 


wir zum Theil, um was es fich bei diejer jehr alten Vorſtellung 
handelte. Er ging hinab nnd hat den Geiftern im Gefängniß 
gepredigt, aljo Denen, die vor jeinem Kommen auf Erden gelebt 
haben, die Erlöjung gebracht. „Er ging allein hinab, aber mit 
einer großen Schar jtieg er hinauf zu feinem Vater im Himmel,“ 
heißt es in einer alten Rede.“ Nach anderen Stellen ift dies 
fein leichtes Hinwandeln gewejen, wie Grimm allein den Befieger 
des Todes ſich denken will, jondern ein Kampf und eine beiden» 
bafte Unftrengung bei der Zertrümmerung des Gefängniffes. 
Sobald ein Künjtler, der feinen Gegenstand durchdenkt, fich diefer 
Borjtellung bemächtigt, jo wird er, was berichtet wird, in eine 
Reihe von Vorgängen zerlegen. Es find zum mindeften drei 
Hauptvorjtellungen, die er deutlich jcheiden muß. Den Sieg 
Chrifti über den Tod, der den Herrn ius Grab gelegt hat; die 
Wanderung in die Unterwelt zu dem Gefängniß und die Predigt, 
die mit dem Aufbrechen oder der Hertrümmerung des Gefäng- 
nifje8 beginnt. Nach der vollendeten erjten Handlung, dem 
Siege über den Tod, in der Ausführung der zweiten, alfo im 
Beginn des Hinabjchreitend mit dem Kreuze, und in der Bor: 
bereitung der dritten, der Aufrichtung des Kreuzes in dem zu 
erbrechenden Gefängniß des Hades, hat Michelangelo den Er- 
Löfer dargeftellt. Sobald man dies verjteht, iſt alles Befremd— 
liche verfchwunden, und die ganze außerordentliche Kraft und 
Schönheit des herrlichen Werkes beginnt ihre Wirkung zu üben. 
Auf diefem Wege geht der Sieger über den Tod ohne Gewand. 
Seine Kleider haben die Henkersknechte am Kreuz unter fich 
vertheilt. Die Leintücher, in die man den Leichnam gehüllt 
hatte, liegen im Grabe. Der Bildhauer hat das TFeljengrab 
deutlich) angedeutet; über den Felsblock, der hinter dem linken 
Bein an das TFeljengrab erinnert, hängt das Leintuch herab, 
ein bleibender Proteft des Künſtlers gegen die Bekleidung, 
welche dag Berftändniß der Situation und damit die Wirkung 


(346) 


17 


jeines Werkes jo jehr hemmt. Daß der hinabiteigende Erlöfer 
den Tod befiegt hat, beweijen die Symbole, die er in der Hand 
hält, noch mehr dag Leben, welches durch die ganze Geſtalt geht. 
Wenn irgendeinmal die höchite Bewegung in jedem Gliede ge 
rechtfertigt gewejen ift, jo mußte es in der Darftellung Defien 
fein, der, vom Tode überwältigt, geitorben war, aber eben den 
Tod befiegt Hat und im neuen Leben zu der Erjtürmung des 
Gefängnifies der Verjtorbenen übergeht. Und daß er zu diejem 
legten Kampfe fein Kreuz mitnimmt, das ergiebt fich aus der 
ganzen Vorjtellung von jelbft. Am Kreuze hat er die Kraft ge- 
wonnen; vom Kreuze will er dort predigen; mit dem Kreuze wird 
er die legte Macht der Unterwelt bejiegen und den Teufel ver: 
treiben, der ihn auf diefem Wege doc ficherlid) hindern will. 
Wie die Sonne leuchtend über die Felſen heraufjteigt und dann 
hinabgeht in das dunfele Thal, um Licht und Wärme zu ver: 
breiten, jo geht der aus dem Felſengrab Hervorjteigende in die 
ewige Nacht hinab, um den Ullerverlorenjten das Erbarmen 
göttlicher Liebe zu bringen; von feinem Antlig leuchtet die Kraft 
des heiligen Geijtes, die ihn jtärft und treibt; denn „im Geifte 
geht er hin, den gefangenen Geijtern zu predigen” (1. Betr. 3, 19). 
Das hat und in diejem Werke, joweit ein Menjch es vermag, 
Michelangelo vor Augen geſtellt. Wir fühlen die Bedeutung 
der legten Anftrengung und begleiten den Erlöfer, in unferem 
Empfinden, ganz ergriffen von der Siegeszuverficht, die von 
feinem Angeficht leuchtet. 

Aus der Schilderung der Auferjtehung Jeſu in dem 
Bruchſtück des jogenannten Petrusevangeliums, dag vor einigen 
Sahren in Wegypten gefunden wurde, geht das hohe Alter 
und die weittragende Bedeutung der Vorſtellung klar hervor. 
Dort heißt es, nachdem berichtet ift, wie die Wächter bei dem 
Grabe zwei Engel haben vom Himmel herabfommen und in das 
Grab gehen jehen: 


Sammlung. N. F. XII. 298. 2 (847) 


18 


„Und während fie noch erzählten, was fie gejehen Hatten, 
jehen fie wieder und jehen, daß nun drei Männer aus dem 
Grabe heraus gehen, und die Zwei den Einen unterftügen, und 
daß ein Kreuz ihnen nachfolgt; und von den Zweien reichten die 
Häupter bi8 an den Himmel und das Haupt des von ihren 
Händen Unterftügten erhob fich bis über die Himmel. Und fie 
hörten eine Stimme aus den Himmeln, die da ſprach: Haft du 
Gehorſam verfündigt Denen, die da jchlafen? Und man hörete 
vom Kreuze ber die Antwort: Jal“? 

Da iſt alfo Kar ausgejprochen, was die fpätere chriftliche 
Dogmatit bis zu einem gewiſſen Grade wieder eingejchränft hat, 
indem fie nur Einzelne, die Patriarchen, dieſer Wohlthat theil- 
baftig erklärte und Ehriftus nur bis zur Vorhölle, dem joge- 
nannten Limbus, hinabjteigen und dort das Evangelium verfünden 
ließ. Auch die vor Chriſtus entjchlafenen Gejchlechter jollen die 
Predigt vom Kreuze vernehmen; das erfordert die barmberzige 
Treue, die jonft feines Sieges über den Tod nicht froh werden 
fonnte; das liegt der großen Verkündigung im Briefe an die 
Philipper (2, 8—11) zu Grunde, daß in feinem Namen fi) 
beugen jollen auch die Kniee Derer, die unter der Erde find. 
Wie kraftvoll dieſe Hoffnung auftrat, kann man daraus ermejjen, 
daß fie, wie uns „der Hirte des Hermas” noch verräth, jogar 
eine Taufthätigkeit der Apoftel in der Unterwelt annahm (IX, 16). 
Bis gegen Ende des dritten Jahrhunderts läßt ſich deutlich 
nachweijen, daß auch eine vorbereitende Thätigfeit Johannes, des 
Täufers, angenommen wurde.® In den Schriften des Juſtin, 
des Jrenäus und Tertullian wird im Anſchluß an eine verlorene 
Stelle des Alten Tejtamentes die VBorjtellung des Hinabjteigens 
auf den Erlöjer allein bejchränft und in der jpäteren Firchlichen 
Erklärung die Ausdehnung ihres Segens auf einen Fleineren 
Kreis eingeengt, was eine Folge der mißbräuchlichen Benugung 
in den gnojtiichen Syitemen ift. Uber, die urjprüngliche Kraft 


(348) 


19 


und Bedeutung diefer Zuverficht wird durch nichts befjer bewiejen, 
al3 durch den Umſtand, daß fie im vierten Jahrhundert, d. 5. 
eben in der Zeit, da die großen Mafjen und mit ihnen die hiſto— 
riihe Erinnerung an die vergangenen Gejchlechter in die chriftliche 
Kirche eintraten, e8 noch erzwang, daß die tröftende Vorjtellung 
des Hinabjteigens Jeſu in die Unterwelt noch in das nad) den 
Upofteln genannte Symbol aufgenommen wurde. Sein edles 
Volk, das noch etwas auf feine Vorfahren hält, und fein Ge: 
ſchlecht chriſtlicher Menſchen, das fich bewußt ift, jeinen Vorfahren 
in diejer Welt etwas zu verdanken, wird e8 auf die Dauer aus 
halten, diefe Vorfahren für alle Ewigkeit von dem Heile Ehrifti 
ausgejchlofjen zu denken. In diefer Empfindung erhält ſich 
wahrſcheinlich die Wurzel der Anhänglichkeit an die Seelenmefjen, 
deren Mißbräuche in der katholiſchen Kirche ſelbſt jo oft getadelt 
worden find. Jener friefiiche Herzog, der auf die unbefriedigende 
Beantwortung jeiner Fragen nad) dem Schidjal jeiner Vor: 
fahren den Fuß wieder vom Taufwafjer zurüdzog, mag ung er- 
innern, welchen Preis die deutjche Fürjten- und Mannentreue 
zu zahlen Hatte, als fie ohne tröftliche Hoffnung zum Theil mit 
Gewalt befehrt wurde. Und die großen gebildeten Völker des 
Oſtens mit ihrem zähen Familienkult und der deutlichen Er: 
innerung an ein gejchichtliches Leben voll edler Erjcheinungen 
werden der chrijtlichen Miſſion und dem chriftlichen Leben in 
ihrer eigenen Mitte noch jehr deutlich machen, daß der barm» 
berzige Samariter in dieje Wunden Del und Wein gießen muß, 
um tapferes, neues Leben herzuftellen. WBielleicht Ternen dann 
auch die Evangeliichen des Abendlandes und Amerikas Ddieje 
Wunde des Volksgemüthes wieder verjtehen und finden in der 
Geduld Ehrijti und der Barmherzigkeit Gottes das Mittel, mit 
dem ſie zu heilen ift, — und nicht bloß zum Schein verbunden 
wird, wie mit den Seelenmefjen gejchieft. Mit welcher Be 


Ihämung wird man fi) dann erinnern, daß es eine Zeit gegeben 
2° (849) 


20 


hat, in welcher die Sehnſucht nad einer jolhen Hoffnung ver- 
dammt worden ift, weil fie die nicht erflärte, alte Formel dafür 
nicht mehr nachiprechen konnte.” ® 

Ueber die volfsthümliche Verbreitung und künſtleriſche Be- 
nußung der Borjtellung vom Hinabjteigen des Erlöſers in die 
Unterwelt kann fein Zweifel bejtehen. Seit dem jechsten Jahr: 
hundert hat zwar die abendländijche Kirche die Vorftellung des 
Hades durch die Meinung, daß vor dem Hades noch einige 
andere Stätten jeien, bereichert; aber dadurd iſt der Gedanke 
jelbjt, daß Chriſtus in diefe Unterwelt hinabgejtiegen ſei, nur 
dejto mehr bedacht und erwähnt worden. Man nahm um den 
tiefjten, im Grunde der Erde liegenden Ort der Verdammten den 
Umfreis des Purgatoriums an, in welchem die läßlichen Sünden 
abgebüßt werden; dieſen umgiebt der Limbus infantium, 
der Ort der in einem gleichgültigen Zuftand fich befindenden 
Kinder chrijtlicher Eltern, die vor der Taufe gejtorben find. 
Und wiederum der äußerjte Kreis dieſes Raumes follte der 
Limbus patrum, der Aufenthaltsort der Frommen des Alten 
Tejtamentes bis zu demjenigen Zeitpunkt gewejen jein, in 
welchem Chriftus dorthin hinabftieg, um fie zu befreien. 
Aber um fie zu befreien, mußte er die Pforte der Hölle 
aufbrechen. Die Lehre vom Fegefeuer ift erjt 1439 in Florenz 
als Dogma anerfannt worden. Daß damals, anläßlich eines 
Unionsverfuches mit der griechifchen Kirche, jehr eingehende Ver: 
bandlungen über dieje Fragen in Italien ftattfanden, hat ſicherlich 
dazu beigetragen, die durch die Dichtung Dantes in Diejer 
Richtung jchon ſtark beeinflußten Geifter noch mehr anzuregen, 
wie auch die Kunſt veranlaßt, fich des jehr populären Gegen: 
Itandes zu bemächtigen. Man joll auch nicht vergefjen, daß in 
der unabhängigen Gewifjensentjcheidung, mit welcher firchliche 
MWiürdenträger und Perſonen, die mit allen Berficherungen 


firchlicher Seelenrettung gejtorben waren, von Dante in die 
(350) 


21 





Hölle verjegt wurden, ein Protejt des Gewiſſens der Laien und 
eine gewifje Befreiung von der äußeren Stirchenautorität hervor- 
tritt. In dieſer populären Bejchäftigung ift der Gedanfe eines 
Kampfes, den Ehrijtus geführt hat, jehr jtarf hervorgetreten. 
Und das war bei jeder näheren Bejchäftigung mit den biblifchen 
Ausdrüden vom Siege über den Tod und der firchlichen Ueber- 
lieferung von dem Aufbrechen oder Zertrümmern der Hölle, wie 
es in dem vielgelejenen Büchlein „Barlaam und Joſaphat“ 
heißt, eigentlich jelbjtverjtändlich; erjchien doch nicht bloß der 
Zeitrichtung, ſondern auch nad) dem DOffenbarungsbuch die Idee 
des jiegreichen Königs eine unumgängliche Vorjtellung auch für 
den Friedefürften zu geben. Bilder mit dem Gange Chriſti 
in die Unterwelt gehören zu den beliebtejten Darjtellungen 
der firchlichen Kunſt des fpäteren Mittelalters; fie ziehen ich 
durch die ganze Zeit der NRenaifjance; fie find auch in Deutjch- 
fand weit verbreitet und jehr gejchäßt gewejen. Sie erreichen 
in den Holzichnitten Dürers eine bejondere Tiefe und Weihe. 
Wenn der deutiche Maler den Gang in die Unterwelt als eine 
Uebung barmherzig helfender Liebe darjtellt, jo Hat er damit 
eine bejondere Seite der Sache hervorgehoben und weiter ent: 
widelt. Wir können jedoch ein vollgültig Zeugniß dafür anrufen, 
daß der allgemeinere Gedanke derjenige des Kampfes gewejen ift. 
In einer berühmten Predigt, die Martin Luther 1533 in dem 
Schloſſe zu Torgau gehalten hat, erklärt er, es jei unmöglich), 
von dem „Dinabgefahren in die Hölle” anders als im Bilde zu 
reden. „Darum,“ fährt er fort, „ijt es fein und recht, daß man's 
den Worten nad) anjehe, wie man's malet, daß er mit der 
Fahne Hinunterfährt, die Höllenpforten zerbricht und zerjtöret.” 
Es jei zwar nur ein Bild für die Sache, die man nicht eigent: 
lich bejchreiben fünne, aber ein nützliches, liebliches und troſt— 
reiches Bild. „Und iſt ohne Zweifel von den alten Vätern jo 


auf ung fommen, daß fie jo davon geredet und gejungen haben, 
(851) 


22 


wie auch noch die alten Lieder Hingen und wir am Oijtertag 
fingen: ‚Der die Hölle zerbrach und den leidigen Teufel darin 
band’” u. ſ. m.!® 

„Demnach pflegt man's aud) alfo an die Wände zu malen, wie 
Ehriftus Hinunterfährt mit einer Chorfappen und mit einer Fahne 
in der Hand, vor die Hölle fümmt und damit den Teufel jchlägt 
und verjagt, die Hölle ftürmt und die Seinen herausholet. Wie 
man auch in der Diternacht ein Spiel für die Kinder getrieben 
hat. Und gefällt mir wohl, daß man's aljo den Einfältigen 
vormalet, jpielet, finget oder jagt und ſolls auch dabei bleiben 
lafjen und daß man nicht viel mit hohen jpigigen Gedanken ſich 
befümmere, wie ed möge zugegangen jein, weil es ja nicht leib- 
lich gejchehen ift, fintemal er die drei Tage ja im Grabe ift 
blieben,” ... „ob man’3 wohl grob und leiblich malen und denfen 
muß und davon reden durch Gleichniß, al8 wenn ein ftarfer 
Held und Rieje in ein feit Schloß füme mit feinem Heer und 
Panier und Waffen und dasjelbige zerjtörete und den Feind darin 
finge und bände“ u. ſ. w. „Darum jage nun einfältiglich aljo, 
wenn man dich fraget nach diefem Artifel, wie e8 zugangen jei. 
Das weiß ich wahrlich nicht, werde es auch nicht erdenfen nod) 
augreden fünnen: aber grob fann ich das wohl malen und in 
ein Bild fafjen von verborgenen Sachen jo fein Klar und deutlich 
zu reden: daß er iſt Hingegangen und bat die Fahne genommen 
al3 ein fiegender Held und damit die Thür aufgejtoßen und 
unter den Teufeln rumort, daß bie einer zum Fenjter und dort 
einer zum Loch hinaus gefallen ift.“ Luther meint, er könne 
wohl auch fein und ſcharf darüber disputiren und fragen, ob bie 
Fahne von Tuch oder Papier geweft und wie es zugegongen, daß 
fie in der Hölle nicht verbrannt. Item was die Hölle für Thür 
und Sclöffer habe. Das jei aber feine große Kunft, da es 
Jedermann von felbft könne. Und auch das nicht, wenn er 


Allegorien daraus macje und deute, was Fahne und Stab oder 
(352) 


23 


Tuch und Höllenthür heiße. Aber das nütze auch nicht, und 
darum wolle er lieber bei dem kindlichen Verſtand bleiben, der 
in diefem Artikel fein malet, denn mit den Klüglern in ihren 
hohen Gedanken fahren, die fie jelbit nicht verjtehen. „Denn 
ſolch' Bild kann mir nicht fchaden, jondern dienet wohl dazu, daß 
ich diefen Arkikel dejto ftärfer fafje und behalte und bleibt der 
Verſtand rein unverfehrt. (Gott gebe, ob die Pforten, Thor und 
Fahne jei hölzern, eifern oder gar feine gewejt), wie wir doch 
müffen alle Ding, die wir nicht fennen, im Bilde faſſen, ob 
fie gleich nicht jo eben zutreffen oder in Wahrheit aljo iſt wie 
man malet.“” „Alſo gläube auch ich hie, daß Chriftus ſelbſt 
perfönlich die Hölle zerjtört und den Teufel gebunden hat; Gott 
gebe: die Fahne, Pforte, Thor und Ketten fei hölzern und eijern 
geweit oder gar feine geweit; da liegt auch nichts an, wenn ich 
nur das behalte, fo durch ſolch' Bild wird angezeigt, das ich von 
Ehrifto gläuben ſoll; welches ift das Hauptſtück Nug und Kraft, 
jo wir davon haben, daß nicht mich und alle, die an ihn glauben, 
weder Hölle noch Teufel gefangen nehmen noch jchaden kann.” 19 

Damit ift der ganze Kreis allgemeiner Vorjtellungen und 
der gebrauchten Symbole als ein von alter her überfommenes 
und im Bolt3bewußtjein feithaftendes Gut nachgewiejen. Michel- 
angelo hat fie nach Art feiner Kunſt verwendet und fein groß- 
artiges Chriftusbild in Marmor gefchaffen. Daß er ftatt der 
Fahne das Kreuz jelbjt verwandte und dem Sieger über den 
Tod die Symbole dieſes Sieges in die Hand geben fonnte, ijt 
feine originale Auffafjung. In dem berühmten Dominikaner- 
Hofter in Florenz iſt ein jehr fchönes Bild nach der Art, wie 
Luther fie bejchreibt, von Fra Angelico. Der wie auf Erden 
befleidete Erlöjer tritt mit dem Kreuz in der Linken durch das 
gewaltjam aufgebrocdhene Höllenthor; er ftellt den rechten Fuß 
mit dem Wundenmale vor und ftredt die rechte Hand den zu 


befreienden Patriarchen entgegen, die ihm anbetend entgegen. 
(358) 


24 


fommen, während die Teufel fliehen. Diejes Bild muß Michel: 
angelo in Florenz gejehen haben; und man möchte fait jagen, 
daß jein Chriſtus mit dem Chriftusbild auf diefem Bilde im 
Profil eine gewifje Aehnlichkeit zeige. Wie die Zeit der Ne 
naiffance die befreiende Wirkung des Hinabfteigens in die Unter: 
welt unmwillfürlich weiter faßte, zeigt ein in den Ufficien bewahrtes 
Bild des Angelo Bronzino, des jüngeren Zeitgenofjen Michel. 
angelos, der ein Nahahmer feiner Formen war. Auf diejem 
Bilde iſt Chriftus mitten im Limbus dargeftellt, eine faft ganz 
nadte Figur mit der Kreuzesfahne, die auf einen Felſen vor» 
tritt und aus der Tiefe zu ihm heraufdrängende, ähnlich nacdte 
Geitalten von Männern, Frauen und Kindern rettet. Das 
Kreuz wird ihm dort nachgetragen. Das Bild enthält jchöne 
Einzelheiten; aber zweierlei ift dem Maler nicht gelungen. Die 
Figur des Chriſtus unterjcheidet fich nicht von den übrigen 
Figuren, und die übrigen, zum Theil ſehr fchönen Gejtalten 
zeigen mehr jich jelbit, al8 die Wirkung desjenigen, um des: 
willen jie gemalt jein jollen. Wer vergleicht, kann nicht verfennen, 
daß der Kopf des Chriftus eine nicht ganz gelungene Nachbildung 
der Statue Michelangelos ift, und eine jeltfame Abhängigkeit, die 
nicht abhängig jcheinen möchte, tritt an der ganzen Figur hervor. 
Der Nachahmer, der jelbit fein Vorbild nicht vergejjen kann, 
möchte e3 vor dem Bejchauer verjteden. Darum jucht er in allen 
Hauptbewegungen das Gegentheil der Darjtellung Michelangelos 
zu geben, die er fopirt. Michelangelos Chrijtus hat den Kopf 
nach rechts gewendet, diefer wendet ihn nach linf3; dort jind die 
Hände zujammen bejchäftigt, hier ift jede mit eigener Thätigfeit 
betraut; ijt dort die rechte Hand höher als die andere, jo tjt 
bier die linke Hand hoch erhoben, die Rechte nach unten gejtredt. 
Hält dort die Rechte den Zeigefinger an dem Kreuze nothgedrungen 
in die Höhe, jo muß es hier die Linfe bei der Fahnenjtange 
ohne jachlihe Nothiwendigfeit thun. Bei Michelangelo ijt der 


(354) 


25 


Körper in der Hüfte nad) linf3 gedreht und fchreitet aus dieſer 
Drehung zurüdfehrend vor. Bronzino hat jeine Geftalt jo ge 
dreht, daß fie, um ſich aufzurichten, nothwendig nach rechts zu- 
rüctreten muß, und dementjprechend ift das rechte Bein und der 
Fuß gezeichnet. Indem ein Mann den rechten Fuß vorwärts 
im Abjchreiten bewegt, fünnte er nicht gleichzeitig mit der rechten 
Hand in entgegengejegter Richtung einen Ruf thun, um Jemand 
heraufzuziehen, wie doch angezeigt ift durch das Anfafjen des 
links etwas tiefer jtehenden Alten. Allein die Füße der Geſtalt ver: 
rathen, daß Bronzino nicht in eigenen Schuhen ſteht; er hat wohl 
den Verſuch machen fünnen, den linken Fuß feiner Gejtalt vor, 
den rechten zurücijtellen, aber er hat beide in der Haltung fopirt, 
die Michelangelo diejen Füßen für die entgegengejegte Bewegung 
richtig gegeben hat. Der linfe Fuß ijt mit der von den vier 
anderen abgerücdten großen Zehe geradezu die Kopie des Fußes 
in Michelangelos Statue; aber für Bronzinos Geftalt iſt Die 
Zeichnung falſch. So wie Michelangelo es darjtellt, wird ein 
Mann fich mit dem Vorderfuß feitflammern, wenn er vorjchreitend 
den Schwerpunkt unter förperlicher Anjtrengung nad) vorwärts 
verlegt; zieht er aber zurüd und muß er ſich nach rückwärts 
drehen, jo wird er die Zehen Iodern und das Gewicht auf den 
Hinterfuß und die Ferſe legen. Dieje Abhängigkeit bei dem 
VBerjuche, einen in die Unterwelt eingetretenen Chriſtus mit von 
Michelangelo verjchiedenen Bewegungen zu zeichnen, wird man 
als einen nahezu untrüglichen Beweis dafür anjehen dürfen, daß 
Bronzino noch ganz genau verjtand, was Michelangelo dargeitellt 
hatte, der zudem, wie jede Photographie von Kopf und Bruft 
zeigt, jeinem Werfe auf der rechten Seite der oberen Brujt das— 
jelbe Zeichen eingerigt hat, welches Bronzino links unten in die 
Ede jeines Bildes ſchrieb: IR il redentore: der Erlöfer, der 
ſich anjchiet fein heiliges Werk zu vollenden, indem er das Ge— 


fängniß der Unterwelt jtürmt. 
(355) 


26 


Die Weisheit in der Wahl des darzuftellenden Momentes, 
die Wahrheit der Ausführung bis in die Heinfte Bewegung der 
Chriftus-Statue find ebenjo bewundernswerth, wie der geiftige 
Ausdrud, in dem Michelangelo ihr Geficht verflärt hat. Der 
Künftler, welcher die geiftige Bedeutung einer Figur zur Geltung 
bringen will, hat dazu zwei Wege: entweder zeigt er die Perſon 
in entjcheidenden Augenbliden vor oder nad der Handlung 
allein — oder in Verbindung mit anderen Perſonen, an welchen 
die Wirkung feines Thung bemerflich wird. Die Maler, die 
leichter mehrere Perſonen darftellen können, bevorzugen im all» 
gemeinen die zweite Auffafjung. Wir verdanken ihr das herrliche 
Abendmahl Leonardo da Vincis. Aber, die Erinnerung an die 
einzige Stellung dieſes Werkes unter vielen der gleichen Be— 
zeichnung genügt aud, um ung deutlich zu machen, welche 
Schwierigfeit dabei oft nicht überwunden ift. Die Nebenfiguren 
jollen bedeutend fein; und fie follen doch die Hauptfigur noch 
bedeutender erjcheinen machen. Das wird felten und nur dem 
größten Berjtändniß der eigenen Kunftmittel gelingen. Darum 
jehen wir oft nur einen al3 Typus gemalten Chriſtus mit einem 
Glorienjchein, während von erleuchteten Augen die Klarheit 
Gottes im individuellen Angeſicht Jeſu Chrifti gejehen wurde. 
Die Bildhauer dagegen, die durch ihr Material und die fchwierige 
Bearbeitung größere äußere Hemmnifje zu überwinden haben, 
werden der einzelnen Berjon gewiß dann den Borzug geben, wenn 
fie diefelbe herausheben und größer als andere, geijtig bedeutender 
darjtellen wollen. Sie find dann genöthigt, den dramatijchen _ 
Moment jehr dicht bei, vor oder eben nach dem entjcheidenden 
Entſchluß zu wählen. Ihre größte Schwierigfeit ift, daß fie Die 
Bewegungen des Körpers als die Folge und damit zugleich als 
Erklärung der geiftigen Bewegung hinstellen jollen. Daran jcheitern 
die meisten Statuen, die oft faum das Geficht, geſchweige denn Die 
Bewegung der Glieder als Offenbarung der geiftigen Bedeutung 


(356) 


27 


der dargejtellten Perjon darbieten. Wenn aber ein Bildhauer 
jeiner Kunjt Meifter ift, wird er ficherlich den großen Vorzug der 
förperlichen Darjtellung einer einzigen, bewegten Berjon feithalten. 
Die einzige Geſtalt hat feine anderen neben fich, die fie erſt 
übertreffen muß; ihre Vorzüge werden von dem Bejchauer mit 
der Zahl aller anderen, die man ſehen könnte, aber nicht fieht, 
ſozuſagen multiplizirt. Handelt e3 fic) obendrein um eine Eriftenz- 
form, die fie allein haben fol, und die feine andere Perſon, 
die man neben fie jtellen möchte, in dem dargejtellten Augen— 
blide haben fanı, jo vermag der Bildhauer dies nur mit einer 
einzigen Gejtalt einigermaßen glaubhaft zu machen. Denn jein 
Stein, Erz oder Holz wird immer eine körperliche, irdiſche Perſon 
darjtellen, ob er num Geifter in der Unterwelt oder Menjchen, 
die noch nicht gejtorben find, oder den Auferjtandenen darjtellt. 
Eine Berjchiedenheit der körperlichen Eriftenzform könnte er nur 
durch Hinzugefügte Symbole, wie die Flügel bei den Engeln 
find, äußerlich andeuten. Es war aljo ein Aft hoher künſtle— 
riicher Weisheit, daß Michelangelo für feine Darftellung des 
Auferjtandenen einen Moment wählte, in dem er den Herrn 
allein zu zeigen hatte und nur ihn allein zeigen durfte: den 
Beginn jeiner Wanderung aus dem Grabe in die Unterwelt. 
Und es ift der Triumph feiner unvergleichlichen Kunft, daß er 
jedes Glied in der durch die geiftige Bewegung zu den Ent- 
Ichliegungen, welche fie veranlaßt, unbedingt geforderten Stellung 
zeigt und dadurch die bedeutende Gejtaltung des Angejichtes noch 
bedeutender gemacht Hat. Aus dieſem Angeficht leuchtet ernite 
Trauer, inniges Mitleid und das helle Licht barmherziger Liebe; 
die bewegten Glieder find ſozuſagen die Nebenfiguren des Malers, 
welche die Gefinnung, die aus dem Angeficht leuchtet, durch ihre 
Bewegungen al3 thätig und wirfjam erweijen. 

Die Bewegung ijt jo ebenmäßig über den ganzen Körper 
und alle Glieder vertheilt, daß dies vielleicht die Urjache ift, warum 

(357) 


28 

fie jo beharrlich überjehen wurde. Und gar Michelangelos 
Kontrapofto, d. 5. die gegemjäßliche Bewegung der einzelnen 
Körpertheile, ift der Wahrheit des Lebens gemäß bis ins Letzte 
durchgeführt. Der linke Fuß hat die große Zehe weit abgerüdt; 
der rechte muß fie ohne bejondere Unftrengung den Zehen parallel 
halten. Das linke Bein fteht; das rechte dagegen bewegt fich 
vor. Bon links ijt der Oberkörper nach der rechten Seite der 
Gejtalt gedreht; die Muskeln in der größten Ausdehnung; von 
der Rechten der Gejtalt beginnt die entgegengejegte Bewegung. 
Angefiht und Hände, die beiden größten Mittel des ſeeliſchen 
Ausdruds, find nad) den entgegengejegten Seiten gewendet und 
doc in einem Gedanken vereinigt. Linker Arm und Hand find 
vor dem Kreuz bejchäftigt; der rechte greift von Hinten über. 
Während die linfe Hand den jegigen Stand des Kreuzes fichert, 
bereitet fich die rechte, e3 anzufaffen, um es nach dem folgenden 
Standort zu bewegen. Wie natülich, daß dies die rechte Hand 
thut. Und wie entjcheidend für die ganze Stellung der Figur. 
Der Gegenjab der Stellung und Bewegung geht big zu jedem 
einzelnen Finger der beiden Hände fort. Die linke gejchlofjene 
Hand, die anderes hält, kann das Ergebniß einer beendeten 
Handlung fichern; die rechte öffnet fih, um eine neue Handlung 
zu beginnen. Und über dem allen das individuell beſtimmte 
treue Antlig, welches zeigt, wie das hohe geijtige Leben des 
Dargeftellten in feinem Thun mit voller Anjpannung aller Kraft 
ganz aufgeht. 

Die jorgjame Ueberlegung der Stellung und des Ausdruds 
wird Einem noch deutlicher, ſobald man diejen Chriſtus mit dem 
David in Florenz vergleiht. Dieſer Vergleich liegt nahe. 
Wenn es auch faum der Mühe lohnt, darüber zu ftreiten, ob 
der Held aus Davids Stamm aud) äußerlich den individuellen 
Familienzug jenes Gefichtes an fich trägt, jo jtellte doch diejer 
David „mit der Schleuder und nicht mit dem Bogen“, wie 

(358) 





29 





Michelangelo das Standbild erflärte, dem Bildhauer cine 
ähnliche Aufgabe. In Florenz, wo der David ihm lebhaft vor 
Augen * trat, ijt der Chriſtus von Michelangelo ausgeführt 
worden. David ruht auf dem rechten Fuße und bewegt den 
linfen eın wenig, wie er eben die rechte Hand anfängt zu heben. 
Denn im nächjten Augenblid wird er, feines Zieles gewiß, zum 
Ungriff vorjpringen, den Stein aus der Linken in die Schleuder 
der Rechten legen und den Gegner treffen. Es ijt der Augen» 
bli der legten höchiten Sammlung gewählt. Das Leben jcheint 
ganz nad innen gezogen, auf der Stirne liegt ein dunkler 
Schatten wie eine ſchwere Gemwitterwolfe, die jich zufammenzieht. 
Der Sturm der Erregung jchweigt, alle® wird jtill, aber im 
nädjten Augenblid wird der Bliß aus den Augen brechen und 
der Stein fliegen, der den riejenhaften Gegner niederjtreden joll. 
Der junge David ift ein Held, der in diefem Kampfe fich jammeln 
muß, um fich zu bewähren. Wie anders dagegen der Chrijtus, 
der den Tod überwunden hat. Er ijt des Sieges gewiß; er tjt 
ein Mann; die geijtige Klarheit leuchtet ihm von der hellen 
Stirn, die das geicheitelte Haar freiläßt; und feine Kraft wird 
geitärft durch die lete Nachempfindung der Todesjchmerzen, die 
er gejchmecdt hat. Sieht man genau auf die Mundwinfel und 
die Wangen, jo merkt man fajt gradezu die legte Bewegung des 
Schmedens, die zugleich eine Vorbereitung des Redens ijt, wie 
man ſie oft an innerlich tief bewegten Menschen wahrnehmen fann. 
Der hier reden will, hat die Vitterfeit des Todes gejchmedt, und 
indem er damit jein Erbarmen zum entjcheidenden Entichluß 
aufweckt, giebt er mit dem fejten Willen zu erlöjen auch der 
Siegeszuverfiht Ausdrud. Mit jeinem Kreuz, das weiß er nun 
jicher und gewiß, kann er die ſtärkſte Pforte brechen, das feitejte 
Gefängniß zerjtören und den jchlimmijten Feind bejiegen. So 
bringt diejes Chrijtusbild den Sieg Chrifti über Sünde und 


Tod und alle dunfele Gewalt, die aus ihnen ſtark wird, in einer 
(359) 


30 


Weije zur Daritellung, wie kein Bild der Auferftehung aus dem 
Grabe e3 vermag, weil dieſes Ießtere, der Maler oder Bildhauer 
mag ſich jtellen, wie er will, immer nur einen Triumph über die 
Naturgewalt des Todes darftellt. Im Anblid des ergreifenden 
Angefichtes habe ich auf einer der oberjten Stufen der Treppe, 
die an ihm vorbeiführt, lange gejeffen. Die Leute find um mich 
gefommen und gegangen; ich habe fie faum beachtet; der Küfter 
hat nicht begreifen Fünnen, daß mir für alle fonftigen Herrlichfeiten, 
die er zu zeigen hat, feine Luſt fommen wolle. Mich aber hat dieje 
eine Gejtalt ganz überwältigt und erfüllt; und ich habe dort 
meine andächtigite Stunde in Rom verbradt. Die Hoheit der 
aus Todesleid zu Thaten rettender Liebe wiedergeborenen Ge: 
ſinnung hat dort eine der höchſten Fünftlerijchen Darftellungen 
gefunden, die fie je finden wird. ALS ich binausging in die 
Stille, war mir, als käme ich von der gewaltigiten Predigt eines 
evangeliichen Mannes; und ich müßte mit einer großen unficht- 
baren Gemeinde fingen: „Mir nad) jpricht Chriftus unſer Held.“ 
Das ijt fein Chriftusbild der Vergangenheit, das ijt ein Chriſtus— 
bild für eine befjere Zukunft. 

Es ilt John Addington Symonds, der in feinem jchönen 
Buche über die NRenaifjance in Italien die Bemerkung macht, 
daß Michelangelos Einſamkeit mit der Größe feines Charakters 
und dem Wejen jeiner Ideale zufammenhänge „Bon Dante 
zu Plato, von Plato zu Chriftus, jo Iebte er ein Fremdling 
auf diefer Erde, in Gemeinjchaft mit den Seelen der Größeften.” "! 
Er ließ jeine Werke einer in der Gegenreformation herunter: 
fommenden Welt, die bei jeder unbefleideten Geſtalt an ihre 
eigene Gemeinheit dachte, und dieje zu bededen meinte, wenn fie 
nur finnlich gedachte Körper mit Kleidern bemalte; feine Anregung 
fonnte nicht haften und wirfen, wo verlotterte Geijter die Gefinnung 
Jeſu mit Füßen traten, aber vor der dogmatiſchen Storreftheit devote 


VBerbeugungen machten und nicht mehr aus eigenem Gewifjen und 
(360) 


31 


jelbft erfahrener Wahrheit ihre Werke fchufen. An diefem Um— 
jtande wird es liegen, daß die Augen der Menjchen in Bezug 
auf das Verſtändniß diejes Werkes durch die Tradition folange 
gefangen blieben. Denn allerdings, vor fanatifchen Augen könnte 
es als eine in Stein gehauene Ketzerei erjcheinen. Nach dem 
Dogma iſt nicht der menschliche Leib Chrifti, fondern feine Seele 
mit der Gottheit zur Unterwelt gefahren. Dem Maler konnte 
man e3 nachjehen, wenn er den in die Unterwelt eintretenden 
Erlöjer mit den Zeichen der Wundmale darjtellte, wie dies auch 
Fra Ungelico in feinem Bilde in dem Dominifanerflofter in 
Florenz gethan Hatte; aber die fürperliche Geftalt des Yuf- 
eritandenen auf diejen Weg zu ftellen, das mag dem dogmatifiren- 
den Geijte der jpäteren Zeit zu viel gewejen jein. Zumal in 
einer Gejtalt, die jo völlig den Anſpruch erhebt, für einen 
lebendigen Menfchen, nicht bloß für einen Schemen, eine Seele 
ohne Leib, doc etwa in Menjchenform, gehalten zu werden. 
Denn jene Auffafjung galt als die gemein chriftliche Lehre. Fr 
fie iſt auch in evangeliichen Kreifen geeifert nnd die weitblickende 
Mahnung Luther über die Berechtigung der bildlichen Dar- 
jtellung vergejjen worden. Die Reformatoren wußten recht wohl, 
daß die Hölle nicht der vorgeftellte Ort in den Tiefen der Erde 
jein fünne, dejjen Leugnung von kindlich unwifjenden Geijtern 
zuweilen al3 ein großer Triumph der modernen Naturwifjenjchaft 
bingejtellt wird. Quther jagt einmal, „daß die Hölle ein fonder- 
liher Ort jein jollte, da die verdammten Seelen jet innen find, 
wie die Maler malen, und die Bauchdiener predigen, Halte ich 
für nichts.” 1? „Die Hölle nennet die Schrift den heimlichen 
verborgenen Drt, welcher außerhalb dieſes Teiblichen Lebens, 
außerhalb aller Fahre, Tage, Stunde, Zeit und alles Ieiblichen 
zeitlichen Weſens iſt, da die Seele hinfährt, welches mit Vernunft 
nicht zu begreifen ift. Wo aber, und was das jei, ift verborgen 


nnd kann Niemand wiljen; denn die Schrift jagt nichts davon, 
(361) 


32 


bi8 daß Gott die Todten auferwedet und alles offenbaret ... 
Die Todten find außerhalb aller Zeit, Stunde, Jahr und Stelle; 
denn was außerhalb diefes leiblichen Lebens ift, das ijt außer 
aller Zeit und Stelle; wie wir auch werden nad) der Auf: 
eritehung in Ewigkeit jein, und wird gefaſſete Zeit und Stelle 
nicht mehr jein.“ 1? Daher wollte man zuerjt im älteren Prote- 
ſtantismus die nähere Erklärung des Satzes „hinabgefahren zur 
Hölle” nicht allgemein feititellen. Bald aber fette eine Doppelte 
Bewegung ein. Man jollte nicht darüber ftreiten, rieth Melan— 
chthon noch 1550, ald vom Rath der Stadt Hamburg in Witten: 
berg angefragt war, weil die Erklärungen des Superintendenten 
Aepinus, daß nur die Seele Jeſu zur Unterwelt gefahren jei 
und dort die Höllenftrafen für die Menjchen erlitten habe, troß 
einem Defrete des Nathes noch Widerſpruch fanden. Der 
hamburgijche Rath ließ fich aber bereden, daß das Dekret richtig 
jei, und nöthigte jogar 1552 einige Geiftliche, welche diefe De: 
Haration nicht annehmen wollten, die Stadt zu verlafjen, was 
freilich nicht verhindert bat, daß feine eigene Beitimmung und 
des Aepinus Lehre von der Konfordienformel (Art. 9) ſpäter 
verworfen wurde. Denn dieſe ging dazu über, Luthers Ber: 
theidigung der Vorjtellung einer Hölle, zu welcher die Maler 
Chriftum aehen lafjen, für feine pofitive Lehre zu nehmen unter 
Mißachtung der jtarfen Einſchränkungen, die, wie oben gemeldet, 
Luther jofort dazu gejegt hatte. „Wir glauben,” heißt es in der 
Konkordienformel, „daß die ganze Berjon Ehrifti, Gott und Menſch, 
nad) dem Begräbniß zur Unterwelt hinabgeftiegen fei, den Satan 
befiegt, daS Reich der Unterwelt zerjtört und dem Teufel alle 
Macht und Gewalt genommen habe.” Aber fie verbieten, weiter 
darüber zu jpefuliren. Auf der reformirten Seite dagegen 
wurde die Kritit der Höllenvorftellung in den Vordergrund ge- 
rüdt und damit die Bedeutung der alten Lehre immer weniger 


verjtanden. Wo diejer Einfluß vorherrichte, gelangte man dazu, 
(862) 


33 


die ganze Lehre als Allegorie der Schmerzensqualen Jeju auf: 
zufafien, wobei man das Verjtändniß fir die bildliche Dar- 
jtellung eines Kampfes verlieren mußte; ohne Zweifel tönt aus 
den Worten Grimms, daß ein Bild des Erlöjers nur das Sanfte, 
Duldende, nicht aber den Kämpfer zeigen dürfe, ein Nachklang 
diefer Auffaffung. 

In unferen Zeiten möchte man hoffen, daß die tiefere Er- 
fafjung der religiöjen Kräfte und die freiere Stellung zu den 
dogmatijchen Vorftellungen auch der Freude an den großen Ge. 
bilden echt religiöfer Kunjt zu Gute käme, man darum aud) 
ernftlicher danach jtrebte, da8 wirklich Bedeutende in Nach— 
bildungen zugänglid” zu machen. Michelangelos Standbild 
des Erlöjers ijt bei ung gewiß auch um deswillen jolange 
nicht bejjer verjtanden und gewürdigt worden, weil wir feinen 
guten Abguß in unjeren Mujeen jehen können. König Franz I. 
wollte einen jolchen für Paris beichaffen, aber Niemand, der 
dies anführt, weiß, was aus dem Plane und den Formen 
geworden ift. Hoffentlich wird die Zeit der freundlichen An— 
näherung an Italien für uns jet benußt. Unſeren Sailer, 
den man in Stalien jo hochſchätzt, jollte ein Mann, der um 
die Kunſt redlich jorgt und ſolches Anliegen vorbringen mag, 
ernitlih bitten, daß er helfe, den deutschen Kunſtſammlungen 
einen Abguß des Werkes, wie ed Michelangelo gejchaffen, zu: 
zuführen. Es wäre ein großes Verdienſt und würde dem 
Studium und dem Berjtändniß der eigenartigen, einzigen Kunft 
des großen Mannes zum höchjten Vortheil gereichen. Und indem 
e3 die in jeinen größten Werfen puljirende Kraft und Wahr: 
heit anſchaulich machte, würde es vor allem der Firchlichen 
Kunft unter uns Evangelifchen zu gejunder Weiterentwidelung 
Hülfe bringen gegen den jentimentalen Zug der fatholifirenden 
Symbolit, Bon den profanirenden Wegen der modernen 


Naturalijtit zeigt Ddiejer große Mann einen von geiftiger 
Sammlung. N. F. XIII. 298. 3 (368 





34 


Wahrheit erfüllten, zu individuellen Gejtalten führenden Rea— 
lismus. | 

Vielleicht hätte die deutfche Theilnahme an Michelangelos 
Kunst dann auch den Muth und das Glüd, das große Haupt- 
werf jeines Lebens aus den zerjtreuten Theilen zufammenzuftellen, 
nämlich die Verkündigung des neuen Lebens, das Jeſus Ehriftus in 
die neue Welt gebracht hat. Nicht das Juliusdenkmal, um das 
joviel Buchjtaben-Jammer durch die Kunftgeichichte geht. Denn es 
bleibt doch jehr zu bedenken, ob es nicht eine günftige Fügung 
für die bleibende Wirkung Meichelangelos ift, daß er in der 
Durdführung diejes Werkes den klaffenden Zwiejpalt zwischen 
feinem innerjten Zeben und dem zu verherrlichendem Manne der 
Welt nicht offenbaren mußte. Nach antiten Muftern war be- 
ftimmt, daß Gefangene, gefeilelte Sklaven, wie man jagte, als 
Sinnbilder der von dem Papſte unterworfenen und bejiegten 
Menjchen und Provinzen an dem Denkmal follten angebradt 
werden. Zwei davon find vollendet und gehören jegt zu den 
größten Schäten des Nationalmujeums im Louvre; es find Die 
ergreifendjten Darjtellungen Hoffnungslojen menschlichen Leidens, 
dag vergeblich mit einer Knechtichaft ringt, die bis in die Seele 
greift. Wen können fie verherrlihen? Etwa den, der fie ge 
bunden; oder nur den, der im jtande wäre, fie zu befreien ? 
Das nicht zurüdhaltende Mitleid mit den Beſiegten wäre in 
jeder ehrlichen Empfindung die ftärffte Verurtheilung des ver« 
berrlichten Siegers geworden. Mit einem Papftbilde zujammen 
hätte man den Anblick diejer gefeflelten Sklaven empfunden wie 
einen unbewußten Auffchrei des menschlichen Gewiſſens gegen die 
falfche politifche Stellung und die irreführende firchliche Gewalt 
des Papſtthums, davon eine jtarfe Erregung durd die Geijter des 
jechzehnten Jahrhunderts ging; eine in Stein gehauene Predigt 
Savonarola8 würde man fie nennen müffen, wenn man jie 


einigermaßen richtig bezeichnen wollte. Dieje Gefeſſelten erdrüden 
(364) 


35 


jede andere Gejtalt bis auf die eine, welche Denjenigen ver- 
förpert, der die Freiheit der Kinder Gottes in der Welt heritellt, 
den Erlöfer mit jeinem Kreuze. Brächte man fie an einem 
Poſtamente an, das dieſe Gejtalt zu trogen Hätte, jo wären fie 
an ihrem Plage. Und auch nur diefer Geftalt gegenüber würde 
der gewaltige Mojes, der es mit dem Gejeb und der äußeren 
Gewalt zwingen will, in eine dienende Stellung rüden. 

Darum fünnte man wohl denfen, e8 würde in einem großen 
Denkmal das Größte zum Großen vereinigt und etwa fehlendes 
nad; Michelangelo8 Motiven ergänzt. Eine angemejjen hohe 
Aufftellung des Erlöjers würde einen Unterbau erfordern, der 
wegen der nicht wirkenden Rüdjeite an eine Wand zu rüden 
wäre. An die vier Eden dieſes Unterbaues hätte man unten 
binzujegen an die Wand auf der linken Seite den Moſes, 
auf die andere Seite den trauernden Jeremias aus den Bildern 
der Sirtina; an die vordere Ede der Mojesjeite in geijtiges 
Schauen verjunfen den Apojtel Johannes; auf die andere Seite, 
zum Verkündigen fich erhebend, den Apojtel Paulus. 

Der Gedanke Hat mih in Rom nicht wieder verlajjen 
wollen. Es war in der hellen Kirche St. Maria degli Angeli, 
die Michelangelo aus den Thermen Deokletians geftaltet Hat, 
wo der heilige Hieronymus, von Girolamo Muziano gemalt, 
durch die Haltung des Körpers, die Zahl und Lage der Gewänder 
jtarf an den Moſes des großen Florentiners erinnert. Da padte 
mich die Vorftellung wieder, und mir war, al& jähe ich in dem 
weiten, lichten Abſchluß des jegigen Querſchiffes die vier Ge— 
ftalten des Mojes, des Jeremias, eines Apojtels Johannes und 
des Paulus um einen verhüllten hohen Aufbau fiten. Ich 
wurde hingeführt zuerft auf die Seite des Jeremiad und Paulus 
nach rechts; der Vorhang fiel und ich jah eine Darftellung 
der Taufe Jeſu. Dann wurde ich auf die entgegengejegte Seite 
geführt; und ich ftand vor dem Gefreuzigten; ich erbebte. Und 


3* (365) 


36 





zufegt führte mich diejelbe Hand vor die Mitte des Denkmals, 
und es trat mir entgegen die Pietà, das Bild des in feinem 
Tode auf dem Schoß der Mutter ruhenden Herrn. Indem 
ich noch jchaute, hob fich der Vorhang weiter, und an den ab» 
gejchrägten Eden des hohen Poſtamentes waren die beiden ge: 
fejjelten Gefangenen zu jehen, zu welchen der auf dem Poſta— 
mente jtehende Erlöjer aus der Minerva Hinabjchritt. Ueber 
das Ganze war mit einfachen goldenen Buchjtaben an die Wand 
gejchrieben: „Er hat Gehorjam gelernt. Und ift gehorjam ge- 
wejen bis zum Tod am Kreuze; darum hat ihn auch Gott er- 
Höhet und ihm einen Namen gegeben, der über alle Namen ift, 
daß in dem Namen Feju jich beugen jollen aller Derer Kuie, 
die im Himmel und auf Erden und unter der Erde find, und 
alle Zungen befennen jollen, daß Jeſus Chriftus der Herr fei 
zur Ehre Gottes des Vaters.“ Als ich zutreten und näher 
jeden wollte, fiel der Vorhang nach vorne über, und das Bild 
verſchwand; nur war es jo anzufehen, als ob an der Wand, 
über dem Moſes und Jeremias, den Gefefjelten. entiprechend, noch 
zwei herrliche befreite Gejtalten, die Liebe und die Geduld, ge- 
ſtanden hätten, die mit verjchwanden. „In Rom eine verſchwin— 
dende Viſion,“ mußte ich, aus meinen Träumen erwachend, leije 
für mich Hinfprechen. „Aber könnte fie nicht einmal in deinem 
Baterlande wirklich werden, wenn auch nur in einem monumen- 
talen Bau, in dem ein weiter Raum weniger für die Gemeinde: 
verfammlung und Predigt, als für die große Aufführung der 
Paſſionsmuſik hergerichtet wäre? ... Vielleicht, wenn Liebe 
und Geduld mit der Wahrhaftigkeit im Bunde das hohe Haus 
der evangeliichen Kirche bauen.” 


(366) 


37 


Anmerkungen, 


! Anton Springer, Rafael und Michelangelo, 1895, II. ©. 209. 

* Adolf Philippi, Die Kunft der Nenaifjance in Italien, II. 661. 

° 9. Knackfuß, Michelangelo, ©. 75. 

* The life of Michelangelo Buonarotti. 2 Bde. London 1893. 

d Die Statue erjheint gleihlam in einer Niiche jtehend, während fie 
frei vor der Wand fteht. an welcher die Säufe fich befindet. 


DN . Altar in der Ehorapfis 
Edjäule a2 zu 


Chriftusbild 0 — > Treppe 
- Gang 


— Altar in der Kirche 

Rede des Thaddäus, Eujeb. 1, 18. 

Vergl. meine Abhandlung über dieſes Evangelium, Proteſtantiſche 
Kirchenzeitung 1893, 178. 

° Bergl. Hilgenfeld und Harnad zu Herm. IX, 16. 

® Brotejtantiiche Kirchenzeitung a. a. D., ©. 183. Es iſt übrigens 
lehrreich zu jehen, wie jelbjt in der reformirten Kirche Frankreichs gerade 
in Kreifen, welche die überlieferte Form der Dogmen zu fonjerviren tradıten, 
die Empfindung für die große Bedeutung diejer Hoffnung zunimmt und 
nad Mitteln und Wegen jucht, das überlieferte Dogma umzudeuten oder 
an Stelle desjelben eine veränderte Auffafjung als jchriftgemäß zu erweijen. 
Man vergleiche die interejlante Studie von E. Brufton, Doyen de la 
Facultö de Theologie de Montauban. „La descente du Christ aux 
enfers d’apr&s les apötres et d’apres l'église.“ Paris 1897. Auch die 
dort angeführten Stellen aus anderen Schriftitellern. So aus einer Predigt 
von U. Gout: La descente du Christ aux enfers: „Il y a donc par 
delä les rögions de cette terre un monde oü de pauvres captifs 
attendent qu’une parole liberatrice vienne briser leurs fers et, en les 
affranchissant du peche, les fasse entrer en partage de la vie eternelle. 
II y a un monde oü le salut est encore possible, oü l’evangile est 
encore annonce, oü le Christ accomplit journellement des miracles de 
conversion“ x. 

ı° Luthers Werte, Ausgabe von Wald, X, S.1354—1361. Es wäre 
wohl der Mühe werth, daß einmal jämtliche Beichreibungen von alten 
Kirhenbildern, die Luther giebt, von Jemand zujammengeftellt und dazu 
jeine Yeußerungen über das Recht und die Freiheit der künſtleriſchen Dar— 
ftelung im Zuſammenhang gezeigt würden. Da würde man deutlich fehen, 
um welchen Schag gejunder Auffajjung und wieviel nügliche Anregung 
der romantilche Schwindel die deutiche Kunst fat betrogen hätte. 





(367) 


35 


ı John Addington Symonds, The renaissance in Italy; the fine 
arts, ©. 390. 

2 Wald, Luthers Werte VI, 2651. 

is A. a. O. V, 2304. 


Die Abbildungen find nad) römijhen PBhotographien in der Berlags- 
anitalt und Druderri A.“G. (vorm. J. %. Richter) in Hamburg hergeftellt; 
die Hand mit den Symbolen nad der hier von Herren Hofphotographen 
Huf gefertigten Vergrößerung dieſes Theiles der römischen Photographie. 


— —— — 


(368) 


Wie wählt das Erz? 


Von 


Dr. ©. Cang 


in Hannover. 





Mit 20 Abbildungen und einer Buntdrudtafel. 


— — ee a 


Hamburg. 
Berlagsanftalt und Druderei A.“G (vormals I. %. Richter), 
Königliche Hofverlagshandlung. 
1898. 


Das Recht der Ueberjegung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 


Trud der Berlagsanftalt und Druderei Actien ⸗Geſellſchaft 
wdormal& 3. F. Richter) in Hamburg. 


„Es grüne die Tanne, 
Es wachſe das Erz 
Gott gebe uns Allen 
Ein fröhliches Herz!“ 
Wohl in Manchem, der den alten Harzſpruch liebgewonnen, 
wird bei ſeiner näheren Betrachtung die Frage aufgetaucht fein, 
was mit der zweiten Zeile eigentlich bejagt ſei und ob in ihr 
nicht ein Falljtrid verborgen liege für den Befiktitel einer all: 
gemeinen Bildung. Sollte der Harzer, die grüne Tanne vor 
Augen, das Erz beim Wachſen belaujcht haben? und wenn auch 
das nicht, jo doch daran glauben? Für einen jolch poejielojen 
Geſchäftsmenſchen wird fi wohl aud Niemand, dem jener 
Sprud wirklich) lieb geworden, erfinden lafjen wollen, daß er 
vorjchlüge, dieje Zeilen bedeuteten finnbildlih nur ein Floreat 
der Holzindustrie und ein Crescat der Bergproduftion; damit 
zeigte er für den Charakter weder des Harzers noch ſeines Spruches 
Verſtändniß: nicht dem todten, nußbaren Holze gilt jein Wunjch, 
jondern der lebenden Tanne, dem Walde; gleicherweije dem 
Erze und nicht dem dasjelbe hinwegnehmenden Gewerbe. Die 
Erinnerung an Arndts: „Der Gott, der Eifen wachſen ließ“ 
führt zur Erkenntniß, daß auch hier die Entitehung und Ent: 
widelung des Erzes gemeint it. Sind aber dieje nebeneinander 
gejtellten Verhältniffe für Tanne und Erz auch einander ähnlich? 
Haben organische und unorganische Naturprodukte Ddiejelben 


Wachsthumsverhältniffe? Darf man als „Gebildeter” jo etwas 
Sammlung. N. 5. XIII. 299. 1* (871) 


4 


nachſprechen, ohne fich der Verhältniffe klar bewußt zu jein? 
Bielleicht Hat manch Einer darüber gar feinen Zweifel, zumal 
wenn er fich der haarbüjchel- und moosförmigen Gebilde natür- 
lichen gediegenen Silber von Kongsberg (Norwegen) erinnert, 
die feit zwei Jahrhunderten in allen Sammlungen verbreitet 
find; nicht jo wohl manch Anderer, dem es eine willtommene 
Ausfüllung der Mußeftunden fein wird, aus diejen Zeilen den 
Stand unjerer Kenntniſſe vom Wachsthum der Erze zu erfahren. 

Bevor ich mich aber diejer Aufgabe zumwende, muß ich 
darauf hinweiſen, daß „Erz“ feinem feſt umjchriebenen Begriffe 
entipricht. Der allgemeine wifjenjchaftlihe Sprachgebraud) ver: 
jteht zwar unter „Erz“ nur metallhaltige Mineralien, aus denen 
unter Umjtänden das Metall auch techniſch gewonnen werden 
kann; es giebt jedoch aud) Bergleute, die mit diefem Namen 
überhaupt „nußbare”, wenn auch nicht metallhaltige Mineralien 
bezeichnen, wie 3. B. Apatit und Phosphorit. „Metallglanz“ 
und andere an Metalle erinnernde Eigenjchaften befigen durchaus 
nicht jämtliche Erze, aus denen Metall gewonnen wird, 3. B. 
nicht manche Hochgeichäßte Eijen- und Zinkerze, jowie große 
Maſſen amerikaniſcher Silbererze, deren Abbau der Volkswirth— 
Ihaft jo verhängnißvoll wurde, — andererſeits verbürgt der 
Metallglanz, 3.8. bei vielen Glimmern noch feineswegs einen 
Nugungswerth. Auf die Abgrenzung der Erze von den übrigen 
Mineralien, d. i. homogenen (oder „jtoffeinigen“) unorganijchen 
Naturproduften brauchen wir aber hier überhaupt fein Gewicht 
zu legen, denn was wir von dem Wachsthum der Mineralien 
im allgemeinen wiſſen, das dürfen wir als auch von dem der 
Erze im ſpeziellen gültig binftellen; da nun zumal die Mehrzahl 
der letzteren infolge ihrer „metalliichen” Eigenjchaften ſchlechtes 
Beobadhtungsmaterial abgeben, indem fie jelbjt in den aller: 
dünnjten Blättchen und Partien nur Schwach durchicheinend oder 


gar nicht durchfichtig werden, die übrigen Mineralien dagegen 
(872) 


2 





außer ihrer für die Beobachtung und das Erperiment ginftigeren 
Eigenichaften ſchon ihrer größeren Zahl und Mannigfaltigkeit 
halber reichlichere Beiträge zur Löfung der Wachsthumsfrage 
geliefert haben, jo thun wir gut, uns nicht auf die Berüdfichti- 
gung jener zu bejchränfen, jondern die Aufgabe dahin auszudehnen, 
die Aehnlichkeiten und Verjchiedenheiten in den Wachs: 
thumsverhältnifjen von Organismen und Mineralien 
darzuftellen. 

Daß in betreff des „Werdens”, der Entjtehung, ganz 
abgejehen von der Materie, ein wejentlicher Unterjchied zwijchen 
jenen obwalte, liegt wohl jedem Gebildeten, auch ohne daß ihm 
die Gründe gegenwärtig und geläufig find, im Bewußtſein. 
Bon den Organismen nämlich fteht feit, daß jeder fich aus 
einer Belle entwidle; dieje erjte Zelle muß gegeben jein. Bon 
den Mineralien dagegen wiſſen wir, daß dieſelben „ſich ab- 
jcheiden”, entweder aus dem tropfbar- oder gasfürmig-flüffigen 
BZuftande ihrer eigenen Subjtanz (erjtere® nennen wir die Er- 
ftarrung aus „Schmelzfluß”, Teßtere® durch „Sublimation“), 
oder aus Löjungen in Medien verjchiedener Art; diefe Löſungen 
find meift tropfbar-flüffig, und ift das verbreitetite Löſungsmittel 
das Waſſer. Die Verhältniffe, welche zur Abjcheidung von 
Mineralien aus jolchen Löſungen führen, find theils mechanischer 
(phyſikaliſcher) Art und verändern die Löjungsfähigkeit des 
Mediums, theild hemijcher, auf der „chemischen Verwandtſchaft“ 
begründet; jene, 3. B. das „Abdampfen“, laſſen fich ſchließlich 
alle auf Aenderungen in den Verhältniffen des Drudes (der 
Attraktion) oder, moderner ausgedrüdt, in den Meolekular- 
bewegungen zurüdführen. 

Troß diejer wejentlich verfchiedenen Entftehungsverhältniffe 
der Subjefte beider Naturreiche finden wir doc) auch in einer 
wejentlichen Beziehung eine Uebereinftimmung: auf beiden 
Wegen entjtehen Individuen. 


(373) 


6 


Daß die organischen Wejen Individuen find, iſt in Ans 
betracht der höher jtehenden, mannigfaltiger differenzirten umd 
reicher organifirten unter ihnen wohl Jedermann gegenwärtig; 
letzteres kann ich aber nicht bezüglich der Dlineralien vorausjeßen; 
auch muß ich gleich einjchränfend geftehen, daß jolche Indivi— 
dualität nicht von allen Mineralien nachgewiejen ift und daß 
e3 einige, aber verhältnigmäßig nur jehr wenige und auch wegen 
ihrer gewöhnlich nur geringen Mafjenentwidelung nicht ausjchlag- 
gebende „amorphe“ Mineralien giebt, welche fie nicht erfennen 
laffen; diejelben, deren befanntejte Vertreter die natürlichen 
Gläſer (Obfidian und Pechſtein), jowie die wafjerhaltige Kiefel- 
jäure (Opal) find, entjprechen dem Begriffe eines Minerals oft 
jhon dadurch nicht, daß ihre „Stoffeinigfeit“, d. 5. der genau 
gleiche chemijche Beitand in allen Theilen fraglich ift; man kann 
fie als vorzeitig erjtarrte Löſungen betrachten und ihnen die 
gewerblich) viel benußten „Legirungen“ von Metallen (in be: 
jtimmten chemijchen Verbindungen nicht entjprechenden Mengungs: 
verhältnifjen) unterordnen. 

Worauf begründet fich aber diefe Behauptung der Indivi— 
dualität? — Die Mineralien zeigen in ihrer überwiegenden 
Mehrzahl troß ihrer Stoffeinigfeit oder Homogenität ihre phyſi— 
kaliſchen Eigenjchaften nicht nad) allen Richtungen gleid- 
mäßig ausgebildet: dann find aber die verjchiedenen Intenfitäts: 
grade derjelben regelmäßig im Raume angeordnet, und entjpricht 
diejer regelmäßigen Anordnung ein inneres, jeder einzelnen 
Mineraljpezies (unter bejtimmten Berhältnifjen des Drudes und 
der Temperatur) eigenthümliches („Eryftallinijches“) 
Gefüge und bei nad außen ungehinderter Entwidelung des 
Individuums auch eine demjelben wejentliche regelmäßige Geftalt 
(„Kryftallform”); befigen die Individuen leßtere, jo nennt man 
fie „Kryſtalle“; dieje find die volllommenften Individuen, ihre 
Menge iſt jedoc) gegenüber derjenigen der im Mafjengedränge 


(374) 


7 


verfrüppelten, nicht mit gejegmäßiger Form geichmüdten. 
immerhin aber auch „kryſtalliniſchen“ Individuen eine ſehr 
geringe; nicht3deftoweniger find die Mineralfrüppel aud) Indi— 
viduen, gleicherweije wie bei den Organismen die Krüppel Indi- 
viduen ihrer Art bleiben, und vermag der Mineralog von jedem 
Kryftallfrüppel, jelbjt wenn jolche von gleicher Art in innigjter 
Verwachſung vorliegen, auf Grund der phyfifaliichen Erjchei: 
nungen genau anzugeben, wie weit fich diejes Individuum erjtrede 
und wie weit jenes, welche Form und Größe jedes habe und 
andere® mehr; auch darf die gewöhnliche Verfrüppelung deshalb 
zu feiner Geringihäßung ihrer Individualität verleiten, weil fie 
faft durchgehends nur die äußere Form betrifft, nicht die innere 
Struktur, was bekanntlich bei den Krüppeln des organischen 
Reiches jeltener der Fall ift. 

Individuen haben wir aljo zweifellos auch in den Mine: 
ralien vor ung, wie in den Organismen; dazu fommt noch ein 
Punkt der Uebereinftimmung, deſſen gleich allgemeine Gültigkeit 
allerdings nicht erwiejen iſt. Bekanntlich machen die meijten 
Organismen vor Erlangung ihrer Dauerform embryonale und 
jonjtige Entwidelungs: oder Uebergangszuftände durd). 
Entiprechende Embryoformen find auch bei verjchiedenen Mine: 
ralien erfannt worden, während fie bei anderen zu fehlen 
iheinen. Das Verdienſt, zuerjt dergleichen nachgewiejen zu 
haben, gebührt dem früh verftorbenen H. Vogelſang. Löſt 
man Schwefel und Ganadabalfam in Schwefelfohlenftoff auf, 
jo verlangjamt der beim VBerdunften des Ießteren fich neben dem 
Schwefel mit abjegende Balfam die Bildung und das Wadjs- 
thum der Schwefelindividuen; beobachtet man aljo einen auf 
ein Objektglas gebrachten Tropfen jener Löjung unter dem 
Mikroſkop, jo jieht man zunächit ſich äußerſt Eleine, glatte, 
fugelförmige, im Innern volltommen homogene, aus Schwefel» 
jubjtanz beftehende Gebilde, jog. „Slobulite” ausjcheiden; die. 


(375) 


8 


jelben zeigen noch nicht die optifchen Erfcheinungen, welche den 
Schwefelfryftallen eigenthümlich find; fie treten ifolirt auf, ſowie 
auch in perlichnurähnlichen Aneinanderreihungen („Margariten”) 
oder cylindriſchen Verwachſungen („Longuliten“); zuweilen ver- 
jchmelzen mehrere miteinander, was auf einen flüſſigen Zuftand 
der Schwefeljubitang jchließen läßt und gegen die Deutung der 
Globuliten ala Individuen ſpricht. Zu lebteren ſcharen fich 
aber die Globuliten in den ſog. „Kryitalliten”, Gebilden, denen 
eine regelmäßige Gliederung oder Gruppirung, 3. B. nach Drei 
oder vier Achjen, eigenthümlich ift, ohne daß fie im ganzen oder 
in ihren einzelnen Theilen die allgemeinen Eigenjchaften Eryjtalli- 
firter Körper, insbejondere deren regelmäßige polyädrijche Um: 
grenzung zeigen. Das find aljo Individuen, aber Individuen, 
welche von den Dauerformen der Individuen, in diefem Falle 
des Schwefels, ſowohl morphologiſch als phyſikaliſch noch voll- 
jtändig abweichen und als Embryonen der (fall3 fie durch ihre 
Umgebung nicht in diejer Form feitgehalten werden) plößlich 
an ihrer Stelle erjcheinenden Dauerindividuen angejprochen 
werden fünnen; ich will nicht verjchweigen, daß man fie auch 
als „&lobulitenfolonien“ den mit regelmäßig wiederfehrender 
Form ausgejtatteten Organismenfolonien, 3. B. der Schwämme, 
an die Seite jtellen fünnte. Als Embryonalftadium läßt fi) 
ferner die viel häufiger beobachtbare Erjcheinung deuten, daß 
von zahlreichen Mineralarten die Eleinjten Individuen („Mifro- 
lithe“), welche ſich phyſikaliſch jchon ganz gleichartig mit den 
größeren Kryjtallen erweiſen, joweit fie ihrem jpezifiichen Triebe 
nad) regelmäßiger äußerer Form haben folgen können, jenen 
gegenüber einfachere Formausbildung befigen; dieſe Er: 
icheinung fällt deshalb auf, weil, abgejehen von jener Mikro- 
lithen Größenjtufe, der Formenreihthum der Kryſtalle feines» 
wegs mit dem Wachsthum ihrer Dimenfionen zu fteigen pflegt. 


Der Lejer fünnte aber vorjtehende Mittheilungen dahin 
(876) 


9 


mißverftehen, daß wir den eigentlichen allmählichen Ueber: 
gang von einem Entwidelungsftadium zum anderen wirklich 
beobachten fünnten. Das iſt nicht der Fall. Wir jehen immer 
nur die einzelnen Stadien, können aber die Uebergänge, welche 
ruckweiſe eintreten, nicht direkt verfolgen. 

Mit diefer Betrachtung find wir aber jchon zum zweiten 
Theile meiner Aufgabe gelangt, der Vergleichung der Vorgänge 
beim eigentlihen Wachſsthum, bei der Größenzunahme; aud) 
dieje erfolgt bei den anorganischen Individuen für unjere Beob- 
achtung „ruckweiſe“; bei dem Organismenwachsthum ijt das ja 
meift auch der Fall, kommt aber oft dem Beobachter nicht 
jo zur Empfindung. Wer ſich von dem Pflanzenphyfiologen 
zeigen läßt, wie „das Gras wächſt“, eine Demonjtration, welche, 
ohne großen Apparat ausführbar, immer dankbare Zujchauer 
finden wird, dem mag dieſes Wachsthum ganz allmählich er- 
jcheinen, während derjelbe Beobachter, wenn er das vben an- 
geführte Experiment mit der Schwefellöfung ausführt, ſich über 
das rudweije Wachsthum der Kleinen Kryjtalle verwundern 
wird. Das fommt einmal daher, daß im leßtgenannten Falle 
die Größenzunahme Iokalifirt zu jein pflegt, der tieferliegende 
Grund aber ijt der, daß die weſentlichſten Wachsſthums— 
verhältnijje für beide Naturreiche ganz verjchiedene find: 
gegeben einerjeit3 eine organische Zelle, andererjeit3 ein Kryſtall— 
molefül; beiden foll aus der Umgebung genügende Stoffzufuhr 
(Nahrung) zum Wachsthum werden: da wächſt jene durd Auf: 
nahme des Nährjtoffes ins Innere (dur) „Intusjusception“), 
diefes dagegen duch äußerlihe Anlagerung („Appo- 
jition“). 

Dieje Verhältniffe find bei ihrer theoretifchen Wichtigkeit 
natürlicherweife vielfach auf ihre Thatjächlichkeit geprüft worden; 
an Bweiflern hat es auch nicht gefehlt, und daß anjcheinend 
widerjprechende Erjcheinungen von jeher Interefje erregt haben, 

(877) 


10 





wird man begreiflid) finden. Manchmal hat auch nur ein un. 
glüclicher Ausdrud Verwirrung gejchaffen. Der Kampf hat fich 
dabei meiſtens auf unorganiſchem Gebiete abgejpielt, denn ab- 
gejehen von dem Punkte, daß nicht allein für das Wachsthum 
der Zelle als eines Ganzen, fondern ſelbſt für dasjenige von 
Bellentheilen, nämlich den Zellenhäuten oder »-Wänden die neueren 
Pflanzenphyfiologen die Intusjusception ftatuirten an Stelle der 
von älteren hier angenommenen Appofition, hat e3 fi nur um 
Behauptungen von organischen Bildungsverhältnifjen für un- 
organijche Gebilde gehandelt. So hat vielleicht mancher Leſer 
ſchon von der „unorganijchen Zelle” gehört; diejelbe jollte die 
Intusfusception demonftriren. ‚Bringt man nämlich ein Kryftall- 
forn in eine Minerallöfung, die jenes unter Abjcheidung einer 
neuen, dritten Mineraljubitanz auflöft, jo bildet fich letztere 
natürlicherweife da, wo die beiden erjteren jich berühren, und 
zwar als eine jenes Kryftallforn umhüllende Schale. Dieje 
Schale wächſt dann weiter nach innen und, je nach dem Raum: - 
bedürfniß der neugebildeten Subftanz, auch nach außen, oder 
nur nad) innen; fie ſoll nun der Zellhaut entjprechen, durch 
welche hindurch die äußere Minerallöfung zu dem als Zellkern 
gedachten Reſte des Kryftallforng dringt und an der das durch 
Intusfusception entitandene Umjegungsproduft abgelagert wird. 
Die Sache erjcheint jehr ar und ſehr einfach; das Eindringen 
der Löfung durch die „Haut“ zum Kern ift für das Weiter: 
wachfen der Schale allerdings nöthig, denn ohne Zuſammen— 
bringen beider Subftanzen ift eben die Neubildung unmöglich. 
Und doc hat der ganze Vorgang mit Intusſusception nichts 
zu thun! Daß fi) die neugebildete Schale um das Kryitall: 
individuum wie eine Zellenhaut jchließt, ift ein vom Erperimen- 
tator gegebener „Zufall“; in ganz gleicher Weife würde fie fic) 
nämlich auch um ein Haufwerf (Aggregat) unzähliger Individuen 
der betreffenden Subftanz bilden. Die eigentlih wachſende 


1378) 


Subjtanz ift Hier die der Schale und letztere wächſt eben durd) 
Subftanzanlagerung an der Innen. und, falls NRaummangel 
waltet, zugleih) an der Außenflähe. Durch ganz denjelben 
Prozeß entitandene Mineralgebilde find übrigens in der Natur 
durchaus nicht jelten; jie gehören zu den „Pjeudomorphojen“ 
oder Truggeitalten, deren äußere Form ihnen eben nicht „wejent- 
lich“ iſt. 

Dafür, daß die unorganiſchen Individuen nicht durch Intus— 
ſusception, ſondern nur durch Appoſition wachſen, haben wir 
aber durch die Beobachtung künſtlicher Kryſtallbildungen noch 
kräftigere direkte Beweiſe, von denen wir wohl die ſchönſten dem 
nun auch verjtorbenen Friedr. Klocke verdanken. Es wird 
wohl Vielen befannt fein, daß gewijje Mineralien (jogenannte 
ijomorphe, d.h. von gleicher Molekularordnung bei verwandter 
Subjtanz), zu denen auch die verjchiedenen Alaune gehören, 
ihre gegenjeitige nahe Verwandtſchaft jogar dadurch bethätigen, 
daß 3. B. ein Individuum (Kryjtall) von Kali-Alaun, in eine 
gejättigte Chrom: Alaunlöjung gebracht, darin weiter wädhit. 
Würde er nun durch Intusſusception wachſen, jo müßten fich 
die neuentjtehenden Chrom -Alaunmolekule im Kryitallferne ab— 
lagern, während die vorher vorhandenen Kali-Mlauntheilchen nad 
außen gedrängt würden; aber fiehe da! ein derartig weiter ge- 
wachſenes Kali-Alaunindividuum wurde von jeiner Zuwachshülle 
mechanisch, durch die Feile, befreit und zeigte im Sterne auch 
feine Spur von Chrom. 

Berlodender für die Annahme einer Intusfusception beim 
Wachen ift die Erjcheinung des Kletterns und Heraus: 
blühens der Mineralien und entjprechender Kunſtprodukte. 
Beobachtet man an einer Salmiaflöjung, die ein Wafjerglas 
zur Hälfte füllt, die Kryftallbildung, jo fieht man diejelbe recht 
reichlich an der Berührungsftelle der Löjungsoberfläche mit der 
Gefäßwand vor fich gehen; bald jteigen aber die Kryjtallrinden 


(379) 


12 





an leßterer in die Höhe, um fchließlich den Rand zu. erreichen 
oder denjelben wohl noch zu überfteigen. Der Vorgang macht 
ganz den Eindrud, als ob im der zuerjt bezeichneten Region 
neue Kryſtallringe entjtänden, welche die jchon gebildeten in die 
Höhe jchieben und heben, und als ob zwiſchen der Kryftallfrufte 
und der Gefähwand Nährflüffigkeit für die oberjten Kruftentheile 
nachdringe. Es ließe ſich das als Antusjusceptionsvorgang 
deuten; in ſolchem Falle dürfte aber die Kruſte auf der nach 
dem Glasinnern gewandten Oberfläche nicht weiterwachſen. 
Darüber läßt ſich nun in der Weiſe Klarheit verſchaffen, daß 
wir auf eine ſchon über der Löſungsoberfläche erhabenen Stelle 
der Kruſtenoberfläche einen Tropfen Lack, etwa Siegellack bringen 
und dieſen Punkt auf der Außenfläche des Glaſes, wo ſeine 
Lage deutlich zu erkennen iſt, danach in geeigneter Weiſe mar— 
kiren. Nach obigen Vorausſetzungen müßte ſich nun dieſer Lad- 
punkt heben und gegenüber ſeiner Marke auf der Glasaußenſeite 
verſchieben; auch dürfte er ſelbſt nicht im weiteren oberflächlich 
inkruſtirt werden, da ja die Kruſte von innen und nicht durch 
Anlagerung auf der Oberfläche wachſen ſoll. Aber was geſchieht? 
Der Lackpunkt bleibt an ſeiner markirten Stelle und wird da— 
gegen jelbjt von der Inkruſtirung mit betroffen. Das beweijt 
aljo, daß die fryitallmährende Löfung auf der Oberfläche der 
Salzfrufte, diejelbe verdidend, in die Höhe fteigt und daß dieje 
ffetternde Salzkruſte, ſtreng genommen, fi innerhalb der 
Löſung bildet; letztere Elettert, nicht die Kruſte. 

Alſo nur durch Appofition, dur Anlagerung gleicher 
Mineralſubſtanz von außen wächſt das Mineralindividuum ; 
joll aber das Wachsthum dem als Originalpunft, als Attraktions- 
centrum gedachten Kryftallmolefül oder Heinen Individuum wirklich 
zu gute fommen, jo ıjt noch etwas erforderlich: die neuangelagerte 
Subftanz muß „kryſtallographiſch mit jenem Individuum gleich 


orientirt” fein, d. 5. in allen parallelen Graben, fie mögen, durch 
(380) 


13 


welche Punkte des Wachsthumsproduftes fie wollen, gehen, muß 
die Bertheilung der Mafjentheilhen die gleiche fein. Diefen 
Faden des Gedankengejpinnjtes, welcher zu der „Molekular: 
ordnung” der Kryjtalle, der „Sryftalloteftonit” und zu den 
„Kryſtallſyſtemen“ führt, will ich jedoch nicht weiter verfolgen, 
denn dieſe bieten, wie mir befannt ift, feine beliebte Koft für 
Mußeſtunden. Nur darauf will ich noch aufmerffam machen, 
daß man diefen Wachsthumsverhältniffen zufolge jedes größere 
Mineralindividuunm als ein Haufwerf von gejebmäßig geordneten 





Fig. 1. Fig. 2. 
Aufbau eines Arnftall-Dftaöders Aufbau eines Keryſtall⸗Würfels 
aus Meinen Würfeln. aus parallelen Würfeln. 
Flußipath von Altenberg, Flußſpath von Schlaggenwalbe, 
nah Groth. nach Groth. 


(„kryſtallographiſch parallelen”) kleinſten Individuen, den ſoge— 
nannten „Subindividuen”, betrachten kann; die theoretijch ge: 
forderte Parallelität der letzteren ijt, beiläufig bemerkt, nicht 
immer ftreng vorhanden, und da ihre Formen meijt nicht der- 
jenigen des Sammel: oder Hauptindividuums entjprechen, ob- 
gleich fie natürlicherweife demjelben Kryjtalligitem angehören 
müſſen, jo ift die Schuld an vielen Unvolltommenheiten der 
„Hauptindividuen“, wie z. B. Rauheit, Streifung und Riefung 
der Kryftallflächen, den Subindividuen in die Schuhe zu jchieben. 
Außer durch jolche Gefegwidrigfeiten verräth ſich der Aufbau 


aus „Subindividuen“ oft auch bei größeren Kryſtallen, denen 
(881) 


14 


e3 zur Erreihung ihrer Modellformen anfjcheinend an gewiſſen 
Stellen an Subjtanz gefehlt hat, wie dies vorjtehend abgebildete 
Flußſpathkryſtalle (Fig. 1 und 2) zeigen, die fich beide aus 
Würfeln zujammengejegt erweijen. 

Wenden wir unjer Intereffe dafür, zumal in Erinnerung 
der Nebeneinanderjtellung von Tanne und Erz, den Wachsthums: 
formen zu und fragen wir, welche Uebereinjtimmungen zwijchen 
beiden Naturreichen da erijtiren. Die Fdealformen der anorga- 
nischen Individuen, die regelmäßig polyedriichen Kryſtalle, Die 
man befanntlich) nach mathematiſch - phylifaliichen Prinzipien in 
ſechs Syſteme gruppirt, auf welche ich joeben beinahe eingehender 
zu ſprechen gefommen wäre, die find, wird der Leſer meinen, 
natürlich Himmelweit verfchieden von den organischen Formen; 
ein jo gejegmäßiger, nah Maß und Zahl geordneter Bau jei 
bei den Organismen nicht zu finden. Halt, halt! werden aber 
da gerade die Stenner der Organismen rufen; formlos, ohne 
beitimmte Form find nur die wenigften, nur niedere Orga- 
nismen! Auch findet man bei vielen Organismen — id) erinnere 
an Quallen, Echinodermen (3.8. Seejterne), Polypen und ins» 
bejondere Radiolarien — troß des Spottworte8 vom „Eryitalli- 
firten Menjchenvolfe”, das ſich gradatim abwärt® auf alle 
Organismen ausdehnen läßt, Maf- und Zahlengejege für die 
organischen Formen, welche wohl in Parallele zu den Kryftall- 
iyitemen zu jtellen wären; und wo nicht die Form des ganzen 
Organismus auf jolhe Geſetze hinweiſt, thut es doch oft die— 
jenige einzelner Organe. Trotzdem wird dieſe Vergleichung 
wenig Beifall finden, weil die Differenzirung bei den Orga— 
nismen, ihr in die Augen fallender Beitand aus verjchiedenerlei 
Stoffen von der Stoffeinigfeit oder Homogenität der unorga- 
nischen Individuen zu jehr abjticht. 

Viel mehr Interefje werden diejenigen Formen und Wache: 


thumsverhältnijje unorganischer Individuen finden, die an folche 
(382) 


15 


von Organismen erinnern; umd jolche giebt e& denn auch; ich 
erinnere nur an die jchon oben erwähnten Haarbüjchel oder 
moosförmigen Bündel von gediegenem Silber und an die „aus: 
geblühten” Kryitalle. 

Die Organismen ordnen befanntlih ihre Subjtanz, ein- 
ichließlih der „Hartgebilde”, des Sfelets, beim Wachsthum 
nah „organifchen Gejegen“, und da wir nun viele Mineral« 
gebilde finden, welche organismenähnlich find, jo liegt der Ge: 
danke nahe, daß aud) dieje nach gleichen Geſetzen gewachjen jeien. 
Sa, wenn man aus den formen allein auf die Ueberein— 
ftimmung der genetijchen Verhältniſſe und Bedingungen jchließen 
fönnte! Dann wären die obenerwähnten Thiere wirklich „Eryitalli- 
firte” zu nennen und umgekehrt die an organifche Formen er: 
innernden Mineralgebilde wirklich organische Produkte. In 
diefer Beziehung ift von jeher viel gefehlt worden und jchleichen 
fi) auch jegt noch irrthümliche Schlüffe leicht in die Natur: 
funde ein, zumal wenn man betreff3 der Beobachtung, z.B. mit 
dem Mikroffop, einzig auf den Geſichtsſinn beſchränkt ift. Daß 
die Eisblumen an unjeren Fenſterſcheiben in Winterszeiten, 
denn auch fie find Mineralgebilde, trog ihrer Formähnlichkeit 
nicht nad) „organischen Geſetzen“ geformt find, Hat vielleicht 
Niemand im Ernſt bezweifelt; anders ift es fchon mit den ähn- 
lichen Abjägen aus Mangan und Eifenlöjungen auf engen 
Fugen und Spalten, den moosähnlichen Dendriten, die in 
früheren Zeiten zu den organischen Gebilden gerechnet wurden 
und die durch Einjprigung einer farbigen Löjung zwijchen zwei 
ebene, aneinandergepreßte Platten reproduzirt werden können. 
Daß aber auch in unjerer Zeit ſelbſt jehr bedeutende Forſcher 
nur durch die Formähnlichkeit zu dann um jo verhängniß- 
volleren, jchweren Irrthümern geführt werden, lehrt die Erinne: 
rung an den Bathybius (Tiefjeefhlamm, angeblich ein „Moner“ 


mit Hartgebilden, den ſog. Disco: und Coccolithen, welche den 
(883) 


16 





von Bogeljang gewonnenen Kryftalliten des Kalkkarbonats 
gleichen) und auf das deutlichjte die Geſchicht vom Eozoon 
canadense: Letzteres wurde von Petrographen und Minera- 
logen als eine gewiß auffällige und jonderbare, aber ficherlich 
unorganifche Aggregationsform von Serpentin- und Kalkſpath— 
förnchen gedeutet; im Widerſpruch hiermit erklärten es aber 
viele der berühmteiten Zoologen und Paläontologen viele Jahre 
hindurch, ehe fie ihren Irrthum erkannten, für eine verjteinerte 
Foraminifere, und als jolche wurde es nicht allein in den be, 
treffenden Lehrbüchern angeführt, was ja feinen großen Schaden 
bringen fonnte, ſondern man baute auf feine Eriftenz auch die 
fühnften geologiſchen, ypetrogenetiihen und paläontologijchen 
Theorien. Zu diefem Behufe hat das Eozoon in allen populär: 
wifjenjchaftlihen Schriften der vorigen Jahrzehnte eine große 
Rolle geipielt, ift reichlich Kapital aus feiner angeblichen Eriftenz 
geichlagen worden und ſpukt es ſelbſt jet noch im dem oder 
jenem Kopfe. Und ein Forſcher, der in dem Kampfe gegen 
dasjelbe zuerjt an die Deffentlichkeit trat und demjelben ordent- 
lid in einer an jeinen Nährjtand als Rechtsanwalt erinnernden 
Weile den Prozeß machte, gerieth danad), eben nur den Form— 
ähnlichkeiten folgend, jogar zu einer Zellentheorie für — Welt. 
förper, die er durch ein mit mikroſkopiſchen Bhotographien reich 
ausgejtattete8 Werf zu begründen juchte. 

Woher fommt mun aber, wird der Xejer fragen, dieſe 
Uehnlichkeit mancher Meineralgebilde mit organifchen Formen? 
In den meilten Fällen nur von der Raumbehinderung des 
wachienden Mineralindividuums, oft aber auch von Ungleich— 
mäßigfeiten in der Stoffzufuhr. Wäre das wachjende Individuum 
frei im Raume und könnte e8 aus leßterem alljeitig gleihmäßig 
Stoffzuwachs empfangen, jo würde es zum Modell-, zum Fdeal- 
fryftall werden. Den Unvollftommenheiten der Bildungsverbält- 


nifje entjprechen jene des Brodufted. Hören wir die Schilderung, 
(834) 


— 


die Klocke giebt von dem Wachsſthumsvorgange des Alauns in 
feiner Nährlöfung unter Bedingungen, welche der vollfommenen 
Kryftallformung verhältnigmäßig jehr günitig find: „Das Wachs: 
thum eines Kryſtalls in feiner ſich allmählich abfühlenden oder 
durch; Verdunſtung konzentrirenden Löſung ijt Fein jtetigeg, 
fondern ein rudweije vor fich gehendes. Die Löjung gelangt 
durch eine geringe QTemperaturerniedrigung in einen Zujtand 
der Ueberjättigung. Da, wo fie nun den Kryitall berührt, 
ſcheidet fich diejenige Menge Subjtang auf ihm ab, welche der 
Ueberjättigung der Löfung an diefer Stelle entſprach. Bliebe 
nun die Löſung volljtändig in Ruhe, jo würde der Kryſtall 
nicht weiter wachjen können; allein dies ijt nicht der all, 
jondern durch den Abſatz der die UWeberjättigung bewirfenden 
Menge der Subjtanz auf dem Kryjtall wird feine nächite Um: 
gebung jpezifiich etwas leichter, wird vielleicht auch durch die 
bei dem Uebergang in den feiten Zuftand freiwerdende Kleine 
MWärmemenge ein wenig erwärmt und muß jomit in die Höhe 
fteigen, den jchwereren Schichten der Lauge Pla machend, die 
nun ihrerſeits, noch überjättigt, an den Kryſtall wieder Subjtanz 
abjegen und, dadurch leichter geworden, ebenfalls nun in Die 
Höhe fteigen u. ſ. w. Man fieht aljo, daß durch dieſe Art der 
Strömung ein fortwährend unterbrochenes Wachſen des Kryſtalls 
bedingt und daß hiermit die Möglichkeit einer aufeinander: 
folgenden Anlagerung einzelner Yamellen gegeben it.“ — Das 
Wachsthum erfolgt aljo nad) Vorftehendem ſelbſt unter den einer 
vollfommenen Formausbildung möglichjt günftigen Verhältniſſen 
weder ftetig noch gleihmäßig, jondern an den tiefiten, dem 
Boden nächjtbefindlichen Theilen am fchnelliten und reichlichjten, 
weil diefe eben die reichlichite Stoffzufuhr haben. Aber der: 
gleichen geringere Formunvolltommenheiten werden noch faum 
beachtet, wo es jo viele auffälligere giebt. Bei den in Form 


von Kryftalliten fejtgehaltenen (firirten) „Eisblumen” der Fenfter- 
Sammlung. N. F. XIII. 29. 2 (385) 


18 


ſcheiben ijt die Urjache der Formausbildung nicht jchwierig zu 
erfennen in der flachen Form der den Niederjchlag durch ihre 
Kälte hervorrufenden Schicht; ganz entiprechend mag die Blech" 
form mancher Erzjtufen durch die Raumverhältnifje gegeben jein. 
So aud) bedingen unter Umftänden, welche D. Lehmann exrperi- 
mentell dargeftellt hat, die in der Nähe des wachſenden Kryjtalls 
berrichenden Konzentrationsverhältniffe der Nährlöfung, daß die 
Stellen ſtärkſter Zuſchärfung des Kryſtalls mit verftärfter, und 
zwar abnehmend bejchleunigter Gejchwindigfeit zu Wachsthums- 
äften auswachſen, an welche fi) dann ſekundäre und tertiäre 
Aeſte anſetzen. 


Vergrößerung RX — 
1: 500. / ——— 


Fig. 8. Trichite. 


Es entjtehen auf jolche Weije zuweilen recht zierliche Ge— 
bilde von allerdings nur mikroſkopiſcher Größenentwidelung; 
vielbewundert find da farrenwedelähnlihe Wachsthumsformen 
farbiger Mineralien (Augile) in glafigen Gejteinen (Pechſteinen), 
und auch die Eifenerze weijen einen großen Reichtum an ber- 
artigen „Steletformen” auf. Fig. 3 zeigt die auffälligjte Ent- 
widelung derjelben, die haarförmigen „Zrichite”, welche, nicht 
jelten zu mehreren, Erzkörnchen zu Anjaßpunften gewählt Haben 
und dann fpinnenähnliche Bilder bieten. Wir brauchen ung 
diefe Trichite nur zu Drähten vergrößert zu denken, um uns 
die moos. und haarbüfchelfürmigen Gebilde des Silber von 


(386) 


19 


Kongsberg und anderen Orten zu erklären, wie denn au an 
einzelnen Stufen desſelben der Steletbau aus kleinſten Kryftällchen 
jelbit für das bloße Auge deutlich erkennbar ijt (Fig. 4 und 5). 





Fig. 4. Silber von ſtongsberg, nach Sabebed. 


Nicht immer ift der fubftanzielle Zuſammenſchluß dabei erreicht 
oder gewahrt; Trichite löſen fi dann zu einer Körnchenreihe 
auf (Fig. 3b) und an Stelle des zujammenhängenden Skelets 
tritt das gejegmäßige Haufwerf (Fig. 6 und 7). 





Fig. 5. Silber von Potofl, nad Sabebed. 


Durch ſolche ungünftige Einflüffe der Umgebung auf das 
wachſende Individuum erklären fich ferner die jehr gewöhnlichen 
Erjcheinungen der ungleichen Eentraldiftanz gleichtwerthiger Flächen 
(deren Kantenwinfel trogdem fonftant bleiben!), wie ſolche auch 

a (887) 


20 


bei der vorjtehend bejchriebenen Alaunbildung rejultirte, der 
unregelmäßigen Unvollzähligkeit der zu einer Form gehörigen 
Flächen, ihre oft unterbrochene Raumerfüllung u.a.m. Gebr 
oft trifft man bei der mikroſkopiſchen Durchmufterung von 
Dünnſchliffen eruptiver Gefteine auf Kryftalldurdhfchnitte, welche 
das Individuum aus konzentriſchen Schalen von verjchiedener 
Färbung aufgebaut zeigen (Fig. 8a), nicht felten aber auch auf 
jolche, bei denen die Farbenvertheilung die Erinnerung an die 
alterthümlichen Stundengläfer, die Sanduhren, erwedt (Fig. 8b). 
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fig. 6. Fig. 7. 
Eiſenerzſormen in ber Grundmafle des Gejegmäßige Haufwerfe von Eifenerzlörndern 
Bafaltes vom Hohenhagen bei Drandfeld, in der Grundbmafle des Melilith+ Bajaltes 
unweit Göttingen. vom Wartenberg bei Donaueichingen 
Vergrößerung: #. 1:300, Vergrößerung etwa 1: 500 
b. 1: 480, 
e. 1:12, 


Während jene Erjcheinung nur einen bejonderen Fall des ſchon 
oben (S. 11) erwähnten fortgejegten Wachsthums eines Kryſtalls 
in einer Löſung von ifomorpher Subjtanz darjtellt, gehört die 
andere, nah Pelikan, zu den an fich nicht häufigen, einer 
erfennbaren und von dem Gejtaltungstriebe der zuerjt aus» 
geichiedenen Subjtanz ableitbaren Gejegmäßigkeit unterworfenen 
Verwachſungen verjchiedenartiger Mineralien; bei denjelben findet 
eine Vergrößerung des leitenden Kryſtalls nicht auf allen bereits 
angelegten Flächen ftatt, jondern es werden bejtimmte unter 


diefen von dei fremden Materiale bevorzugt; da lagern fich 
(888) 


21 


alſo gleichzeitig zwei verſchiedenartige Subſtanzen um einen ge— 
meinſamen Anziehungspunkt, aber nach verſchiedenen, geſetzlich 
beſtimmten Richtungen geſondert ab, um unter Umſtänden, falls 
nämlich das leitende Hauptindividuum ſchließlich reichlichere 
Materialzufuhr erhält, von einer einheitlichen Schale desſelben 
umſchloſſen zu werden. 

Nun ſind aber noch zwei Punkte, welche wegen der Aehnlich— 
keit mit Eigenſchaften der Organismen Erwähnung verdienen 
dürften. | 





a, Scalenbau. b. Sanbuhrbau. 
Fig. 8. Wugit-Durchichnitte. 


Bekanntlich ift bei Pflanzenzellen das Iofale Flächenwachs: 
thum, 3. B. das Spibenwachsthum, verbreiteter als das all- 
gemeine; entjprechend finden wir, daß auc) bei den anorganijchen 
Individuen, den Kryftallen, ganz abgejehen von den ſchon er- 
wähnten, wefentlic mechanischen Einflüffen der Umgebung, das 
Wachsthum bei der einen Species an den Kryftallfanten (3.8. 
beim Alaun, fowie bei unferem Siede- oder Speijejalzel), bei 
einer anderen auf (fryftallographifch) beftimmten Flächen (jo bei 
Flußſpath [Fig. 1 und 2), beim Schalenbau des Augits (Fig. Ba)), 


(389) 


22 


bei einer dritten möglicherweije an beftimmten Eden Iebhafter 
fortjchreitet, al3 an den übrigen Stellen des Umfanges. Diejes 
demnach zu jenem analoge, allerding® noch zu wenig durch. 
forjchte Verhalten jcheint, wie bei den Organismen und injfoweit 
e3 fich nicht durch chemifche Beeinfluffung ſeitens gewiffer gegen: 
wärtiger Stoffe („paragenetijche® Moment“) bedingt erweift, als 
eine Eigenjchaft der betreffenden Species betrachtet werden zu 
müffen, aljo zu jenen Eigenjchaften gehörig, welche wir nicht 
zu erklären vermögen und von denen die auffallendite die ift, 
daß ein entjtehendes Mineralindividuum unter bejtimmten Be— 
dingungen immer nur der einen fejtjtehenden Molefularanordnung 
folgt. Um nicht mißverftanden zu werden, muß id) jedoch noch 
hinzufügen, daß mit vorerwähnter Erjcheinung nicht diejenige 
der ſog. „typiſchen“ Formentwickelungen zu verwechjeln it; 
letere gehören zu den jchon oben erwähnten, durch gewilie, 
meift erjt geahnte und noch nicht näher erfannte Verhältnifje 
beim Kryſtallwachsſsthum bedingten Erjcheinungen und beftehen 
darin, daß die Individuen einer Mineralfpecied in dem einen 
alle eine oder mehrere Flächen aufweifen, welche Individuen 
gleicher Art von anderen Orten nicht befißen, oder daß die den 
gleichartigen Kryſtallen verjchiedener Orte gemeinfamen Flächen 
bier eine andere Entwidelung nad) Größe und Form aufweijen 
als dort. 

Anders iſt e8 mit dem „Augheilen von Wunden”; 
wie Organismen erhaltene Wunden ausheilen fünnen und manche 
Thiere jogar Organe, deren fie beraubt waren, wieder neu zu 
bilden vermögen, jo jehen wir auch unorganijche Individuen, in 
Nährlöfung fortwachjend, empfangene Wunden wieder ausheilen 
und 3.8. abgehauene oder abgefeilte Eden oder Kanten wieder 
erjegen; das zum Behuf diefer Ausheilung und Erſetzung ein- 
tretende Wachsthum erfolgt dabei erfichtlich fchneller und leb— 


bafter ald das allgemeine Wachsthum des betreffenden Indi— 
(390) 


28 





viduums. Dieſer Erſcheinung liegt jedoch kein Intellekt, kein 
Selbſterhaltungstrieb und auch kein ſpezifiſches Wachsthumsgeſetz 
zu Grunde, ſondern erklärt ſich ſolche am einfachſten dadurch, 
daß die „Wundſtellen“ die größten Rauheiten, alſo auch die 
relativ größere Flächenentwickelung beſitzen und damit eine 
größere Flächenattraktion ausüben. 

Da wir auch bei den niedrigſten Organismen die Individuen: 
vermehrung auf gejchlechtlihem Wege vermifjen, wird es nicht 
verwundern, daß im anorganijchen Reiche etwas Aehnliches ganz 
fehlt; dafür kaun derjenigen durch „Zellentheilung“, welche 
Yortpflanzungsart bei einzelligen Thieren und Pflanzen die all: 
gemeine ift, bier die Erfcheinung gegenübergeftellt werden, daß 
Individuen (bei gewiſſen Drudverhältniffen) in ein gejegmäßig 
geordnete8 oder auch regellojes Haufwerf zerfallen. Wußer- 
dem aber haben wir hier „geſetzmäßige“ Verwachſungserſchei—⸗ 
nungen von jolcher Art, wie fie jonft feine Parallele haben. 
Selten findet man, wie ſchon gejagt, Individuen verjchiedener 
Art nad beftimmten Regeln miteinander verwacjen, ſehr ge- 
wöhnlich ift dagegen die in ihren Anfängen meijt wohl jchon 
auf das allererfte Wachsthumsſtadium zurüdzuführende geſetz— 
mäßige Verwachſung gleichartiger Individuen, welche dann 
innig verbunden weiter wachſen: die „Zwillingsbildung”. 
Nun Fann mir ein Vertreter organischer Naturprodukte entgegnen: 
o, Zwillinge haben wir ja auch oft! und ein Familienvater 
jegt vielleicht hinzu: leider! „Aber nach welchem Geſetz?!“ 
berriht ihn da der Mineralog an. Das Geſetzmäßige ilt 
das Wefentliche bei diejer Kopulation von Individuen, welche 
fih in ihrer Eryftallographifchen Stellung zueinander wie ein 
Gegenstand zu feinem Spiegelbilde verhalten; die kryſtallo— 
graphiiche Beitimmung der Spiegelebene („„Zwillingsebene“) oder 
aber der Normalen auf diefer („Zwillingsachſe“) nennt der 


Mineralog das „Zwillingsgeſetz“, deren es überhaupt viele giebt 
(391) 


24 
und jelbjt für die Individuen gleicher Art gleichzeitig mehrere 
geben fann. Das Wunderbare dabei liegt jedoch insbejondere 
in dem Umjtande, daß troß der großen Zahl von verjchiedenen 
Bwillingsverbindungen diejelben doch immer in Relation zu der 
Ipezifiichen Kryftallgeitalt des Minerals ftehen; es kann nicht 
jede beliebige Ebene im Raum zur „Bwillingsebene” werden, 


u. — —— 


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Fig. 9. 
Einfacher Kryſtall und (Juxtapoſitions⸗Bwilling 
von Gips, 


jondern immer nur eine jolche, welche bei dem betreffenden 
Mineral „kryſtallographiſch möglich” ift. 

Die Zwillinge find dabei entweder nur aneinander (durch 
Juxtapoſition [Fig. 9)) oder aber durcheinander (Penetration 
Fig. 10 und 11)) gewachſen. Zumal bei erjteren wird man 
dann äußerlich einen oder mehrere einjpringende Winkel beob- 


achten, das verbreitetite Stennzeichen vorhandener Zwillinge 
(392) 


25 


bildung (da8 aber wohl zu unterjcheiden ift von den durch 
Subjtanzmangel bedingten Einferbungen, wie in Fig. 1 und 2, 
wo einander vollftändig parallel orientirte, alfo nicht verzwillingte 





Fig. 10. 
Durchkreuzungszwillinge (b. mit einem im Kreuzwinkel aufgewachſenen Heinen Individuum) 
bon Gips, von Eichftebt bei Magbeburg, nad) Laspeyres. 


[Sub] Individuen verwachſen find!), das 3. B. den als Ioje 
Kryftalllörner („Graupen“) gefundenen LBinnfteinzwillingen 
(Fig. 12] die Bezeichnung als „Bifirgraupen”, in Erinnerung 





Durchkreuzungs ⸗Zwillingskryſtall = — von JIlefeld, nach Groth. 
an die bekannte Einrichtung bei Schußwaffen, eingetragen hat. 
Wiederholte Zwillingsbildung liefert Drillinge (Fig. 13), Vier— 
linge bis „Viellinge“. 


(893) 


26 


Biellingsbildung fann bewirken, daß die Kryftalle wiederum 
den Eindrud von Individuen machen, und zwar dann nicht 
jelten von folhen aus anderen Kryſtallſyſtemen; jo können 3.8. 





Fig. 12. Fig. 18. 
Binnftein-Zwilling, fog. Bifirgraupe, Drillingd-Kruftal. Diamant aus Brafilien, 
nad Groth. 


Individuen der rhombiſch Fryitallifirenden Modifitation des 
Kalkkarbonats (des „Aragonits”), wie die Querſchnittbilder 
Fig. 14 Ddarftellen, fih in der Weiſe „verzwillingen“, daß, 





Fig. 14. 
Querjchnitte jäulenförmiger Aragonit-Drillinge. 
zumal wenn in dem alle von Fig. 14a die einfpringenden 
Winkel infolge der daſelbſt größeren ‘Flächenattraftion mit 
Subſtanz erfüllt werben, fie fir regelmäßig jechsfeitig gehalten 


werden fünnen. Da nun in nicht jeltenen Fällen Kryftalle ein 
(894) 


27 

ihrer äußeren Formentwidelung von höheren Symmetrieverhält- 
niffen nicht entfprechendes, dagegen auf einen Zerfall der Individuen 
in mehrere deutendes optiſches Verhalten aufweijen, hat man ver: 
jucht, diefe Eigenthümlichkeit darauf zurüdzuführen, daß jene 
Formen fajt immer nur Truggeftalten jeien, hervorgegangen aus 
der Zwillings- oder Biellingsbildung durcheinandergewachjener 
Individuen von geringeren morphologiihen Harmonien. In 
diefer Verallgemeinerung ift die Behauptung jedoch nicht be. 
ftätigt und anerfannt worden, indem (bejonder® von C. Klein 
und feinen Schülern) als Urſache jener Erjcheinung meijt eine 
nachträgliche, erit nach der Bildung des Kryſtalls eingetretene 
Umänderung durch äußere Beeinfluffung (Temperatur, Drud, 
Stoß) nachgewiejen werden fonnte; auf dieſe Weije fann nicht 
nur eine „jetundäre Zwillingsbildung“, fondern auch eine völlige 
Beränderung der Molekularordnung (Aenderung des Kryitall- 
ſyſtems) bedingt werben. 

Auf dergleichen „jetundäre” Beeinfluffung von außen rea- 
giren alfo die Kryftalle, ebenfo wie die Organismen, oft ohne 
ihre äußere Form und ihren Zufammenhalt einzubüßen; leßterer 
geht allerdings bei Mineralien bekanntlich leichter „in die Brüche” 
als wie bei Organismen. Wie wir an unjeren Objtbäumen 
jehen, gedeihen diefelben gekrümmt ruhig weiter, etwas Ent: 
jprechendes wird man bei Mineralien wohl nicht zu finden er- 
warten, „krumme Kryſtalle“ werden nicht allgemein bekannt 
fein, find aber trotzdem vorhanden. Nicht gar jelten zeigen ſich 
bei mikroſkopiſcher Unterſuchung von Eruptivgejteinen, deren 
feurigflüffige, empordrängende Maſſen jchon größere Kryitalle, 
entweder jehr früh aus dem Schmelzfluffe ausgejchiedene oder 
aber aus fremden Gefteinen aufgenommene, enthielten, diejelben 
zerbrochen, zuweilen aber auch gebogen; die hierzu benöthigte 
Biegbarkeit (Plaftizität) wird man in diefem Falle geneigt fein, 
dem erweichenden Einflufje der hohen Schmelzflußtemperatur 

(895) 


28 
zuzuschreiben, obwohl im Hinblid auf Gußeifen, daß fich glühend 
ebenjowenig bieg-. und jchmiedbar erweijt als wie falt, die Sache 
damit nicht erklärt erjcheint. Aber gebogene Kryftalle fommen 
auch dort vor, wo der angeführte Erflärungsgrund nicht nahe- 
liegt; aus dem ungemein grobförnigen, wegen ungewöhnlicher 
Natur und Ausbildung feiner Gemengtheit jehr interefjanten 
Geiteine von Läven im Langejundfjord in Südnorwegen befite ich 
3.3. einen jäulenförmigen Kryftall von Aegirin, der, wie ins» 
bejondere jeine (Negativform) Abformung im Gejteinsgemenge 
erkennen läßt, bei 9 cm Länge zu einem Sprenfel von etwa 
160° Scenfelwinfel gebogen ift. 

Kehren wir nun von dem Ueberblid über die Wachsthums- 
verhältnifje der Mineralien zur Betrachtung unjeres Harzipruches 
zurüd. Derjelbe jtellt neben den Wunjch, daß die Tanne grünen 
möge, den des Wachjend des Erzed. Erfteren Wunjch jehen 
wir noch tagtäglich ſich erfüllen, die Tanne grünt „nicht nur 
zur Sommerszeit“! Die dem Bergbau dienenden Erze aber find 
wir gewohnt als in ihrer Bildung abgejchloffen, al3 etwas 
Gegebenes zu betrachten, dejjen jogenannte Broduftion nur eine 
Wegnahme, einen Abbau darjtellt, und das fich nicht wieder 
erjegt. Hat nun jener fromme Wunjch bezüglich des Erzes 
Ausfiht auf Erfüllung? 

Die in der Geologie durch Lyell zur Herrichaft gelangte 
„Altualität3*.Theorie ift diefem Wunjche erfichtlich günftig. Bon 
der Ewigfeit der Materie und der Kräfte im Univerjum aus- 
gehend, neben deren Berüdjichtigung jedoch bei der Beurtheilung 
geologischer Prozejie und deren Brodufte auch dem Umſtande 
Rechnung getragen werden muß, daß unjere Erde eine erlöfchende 
Wärmequelle ijt, lehrt fie, daß auch die unorganifchen Gebilde 
früherer „Aeonen“ nur durch diejelben Kräfte als Faktoren und 
im Wege bderjelben Brozejje entjtanden find, wie leßtere ſich zur 
Zeit noch auf und innerhalb der Erdfrufte vollziehen. Um— 


(396) 


29 

gefehrt werden auch jet noch auf demjelben Wege Erze ent. 
jtehen und wachen fönnen, wie früher. Welcher Art diefe 
Wege find, habe ich oben im allgemeinen dargeftellt; die Theorien 
über die Bildung der geſchätzteren Erze im jpeziellen bier mit 
zutheilen, würde zu weit führen, zumal mit ihnen eine Furze 
Lehre von ihren Zagerjtätten gegeben werden müßte. 

Mit der Einräumung der Möglichkeit, daß auch jetzt noch 
Erz wächſt, ift dem Harzer aber noch nicht gedient, auch noch 
nicht mit der theoretiichen Betonung der Wahrjcheinlichkeit, daß 
folcher Prozeß ſich auch jet noch vielorts innerhalb der Erd— 
frufte vollziehe,; was Hilft e3 ihm, wenn das Erz in Amerika 
wählt? Im mwohlbegreiflihem und verzeihlihem Egoismus 
bezieht fich der Harzwunfd auf den Harz ſelbſt. Daß er aber 
jo gemeint jei, eingehendere Nachforſchung möge die Menge des 
vorhandenen Erzes als bedeutender ergeben, als bisher geglaubt 
worden, ijt unwahrjcheinlich. Dagegen möchte ji) dem Wunſche 
der Thatjache wohl noch ein heimlicher betreff3 der Schnelligkeit 
des Wachsthums verbinden. Der Gedankfengang dürfte nämlich 
der fein: jo wie beim großen Forftbetriebe der Holzichlag nad) 
einer Reihe von Jahren, in denen die Tanne gehörig grünte, 
auf den früher abgetriebenen Flächen wieder jchlagbares Holz 
vorfindet, jo möge der im Revier umgehende Erzbergbau nad) 
einer gewifjen Periode die früher abgebauten Räume wieder 
voll von nachgewachſenem Erze antreffen. Diejer Gedanke ijt, 
wie Jedermann zugeben wird, märchenhaft jchön! Bei einer 
Bermwirklihung wäre für den Bergbau der Mafel getilgt, daß 
er das Grundkapital aufzehre, und verdient er jchon deshalb 
wohl noch auf feinen Urfjprung geprüft zu werden, aber erjt 
nachdem wir die Gründe kennen gelernt haben, warum jenem 
Wunſche leider feine Ausfiht auf Erfüllung in dem gehofften 
Grade zu prophezeihen ijt. 


Die werthvolleren Erze des Oberharzes, welche bei jenem 
(897) 


a. 





Spruch wohl berüdfichtigt wurden, find mit Ausnahme des be- 
rühmten Rammelsberger Kieslagers auf „Gängen“, d.h. in 
aufflaffenden Spalträumen abgelagert, und zwar entweder 
gemengt (3. B. Bleiglanz mit Schwefelfies) oder getrennt von 
einander und von den nicht erzhaltigen („tauben“), aber in erfichtlich 
gleicher Weije wie die Erze abgelagerten Mineralien („Gangart“). 
Durh die Trennung ift ein zeitlicher Wechjel der Bildungs- 
verhältnifje ausgejprochen und werden danach unter dem gejamten 
Ausfüllungsmaterial der Spaltenräume die Produfte einzelner Ab- 
lagerungsperioden unterjchieden, 3.8. älterer oder jüngerer Quarz 
oder Kalkſpath. Wie an den Wänden der Gejteingipalte (dem „Neben: 
geſtein“, Fig. 15) haben fich die Minerale auch um die in den 
Spaltenraum geftürzten Gejteinsbruchjtüde, und zwar oft in 
ſchön geregelter Folge („Ringel- oder Kofardenerz”, Fig. 16) 
abgelagert. Die Herkunft des den Spaltenraum ausfüllenden 
mineralijhen Materials und insbejondere feiner werthuollen 
Elemente iſt fraglih; man fann leßtere entweder aus den um— 
gebenden Gejteinsmafjen (durch auslaugende Siderwafjer nad 
der „Zateralfefretionstheorie”) oder in dampffürmiger oder flüj- 
figer Löſung aus den Tiefenregionen („Sublimationg: und Jn- 
filtrationstheorie”) ableiten. Ob dieſe Bildungsvorgänge für 
die betreffenden Gänge, Gangzüge (d. 5. linear gejcharte Gänge) 
oder für den Harz überhaupt abgejchlojjen find oder noch nicht, 
darüber können die Meinungen jchon mit jenen Theorien aus- 
einandergehen. Eine unbedingte Gefolgjchaft für alle Fälle 
wird nicht jo leicht ein Forſcher nur einer von beiden Theorien 
leiſten; aber für die erjtgenannte Theorie, welche der Annahme 
eines noch jebt andauernden Erzwachsthums am günftigjten 
ift, liegen gerade im Oberharz die Verhältniffe doch zu wenig 
günftig; nad) der zweiten Theorie jedoch muß man die Hoff- 
nungen ganz finfen lafjen, denn es mangeln zur Zeit im Ober: 
barz Symptome Iofal erhöhter Wärmereaftion der Erdtiefe auf 


(398) 





— —7—7— 


46. ee (edrematisirt) 


wi aumen (Driwenräumen im Innern). 





Fig. 16, — mit Ringelers (shematisit). 


1] Eu N 





— 


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31 


diejenigen Regionen, in welchen der Bergbau umgeht, wie wir 
folche, etwa in Geſtalt zahlreicher heißer Quellen, als Begleiter 
diejer Art von Erzbildung erwarten müßten (als ſolches Symptom 
fönnte bislang nur die durch den Bergbau erjchlofjene Zauten- 
thaler Soolquelle angejprochen werden). Auf jeden Fall aber 
würden alle Erzbildungsprozeffe nach modernen geologijchen An- 
ſchauungen bei den im Oberharze gegebenen Verhältniſſen jo 
langjam fortjchreiten, daß ſelbſt „günftigftenfalls” das Zehnfache 
derjenigen Zeit, fjeit welcher im Oberharz Bergbau umgeht, 
nicht genügen würde, um wieder neues abbaumwiürdiges Material 
an Stelle des weggenommenen zu jehen. 

Wie aber ift der Harzer zu jenem märchenhaften Wunjche 
gefommen, der jo fchön ift, daß ihn gewiß auch der jchlimmite 
Zweifler an feiner Erfüllung anſtandslos nachjprechen wird? 
Sicherlich) Hat ein Bergmann ihn zuerſt ausgejprochen, aller: 
dings wohl fein gebildeter, fondern einer von denen, bei welchen 
die Naturfräfte abergläubiiche Verehrung fanden; ein wenig 
Eigennuß mag auch mit Water des Gedanken gewejen jein. 
Soviel mir nun befannt ift, findet ſich noch jegt bei alten 
Harzer Bergleuten die Idee, das Erz wachſe im „alten Manne“ 
wieder, der „alte Mann“ müſſe aber, wenn es wachjen jolle, 
möglichft unberührt und ungeftört gelafjen werden; und wer 
läßt es da wachen? matürlich der Berggeift; ihm find Die 
Schätze, welche er dort aufgeftapelt hatte, weggenommen worden; 
er ift aber dem „frommen Bergmanne“ gnädig gefinnt, und 
wenn man ihn ungejtört an ihrem früheren Plate jchalten und 
walten läßt, wird er fie dort wieder neu entitehen laſſen. 
Trogdem dieſes Märchen urnaiv klingt, argwöhne ich doch, daß 
die aufgeflärteren Herren Vorgeſetzten des Bergfnappen, wenn 
auch nicht gerade an feiner Entſtehung mit Antheil, jo doc) 
jeiner Verbreitung und Geltung fonftigen Vorſchub geleijtet 


haben, und zwar in Anbetracht des „alten Mannes”; ich arg- 
(899) 


32 


wöhne, daß das Märchen beſſer als der ftrengite Befehl Hat 
mit dazu dienen follen, vom „alten Manne“ fowohl den „alten 
Bergmann“ fernzuhalten, der bei jeiner reichen gemüthlichen 
Entwidelung ſich gewiß oft hingezogen fühlen mußte, jeine ehe: 
malige Arbeitsjtätte, an der er unter jteten Gefahren jchwerer 
Urbeit obgelegen, einmal wiederzujehen, als auch der jüngeren 
Bergfnappen, welchen der doppelte Reiz, einmal der Gefahr 
und dann der heimlichen Uebertretung polizeilichen Verbotes, zu 
einer Erfurjion dahin verleiten konnte. Iſt es aber an dem, 
jo würde man für dieſes Märchen eine neue Kategorie, die der 
„Märchen zu bergpolizeilichen Zwecken“, aufitellen fünnen. 
Aus dem Zufammenhange wird wohl jchon der Leer, dem 
diefer Ausdrud neu war, erjchloffen haben, daß als „alten 
Dann“ der Bergmann die der nutzbaren Mineralien beraubten, 
„abgebauten“ Grubenräume bezeichnet, der „alte Mann” ift ein 
ſchlimmes Anhängjel, ein läftiger Ballaft des Bergbaues, weil 
er außer jteter Beauffihtigung und vom „Wetterzuge” aus: 
geichlofjen leicht zum Herd jchlechter Wetter und zum Ausgangs: 
punfte von Wafjereinbrüchen wird. Mo es ohne große Koften 
angängig, füllt man die leeren Räume wieder möglichjt mit 
Gejteingjtüden aus („Bergverjag”), jhon um unerwünjchten 
Einjtürzen vorzubeugen, und läßt unter Umftänden nur zu be: 
jtimmten Zweden rejervirte Streden offen; in Kohlenbergwerfen 
aber, wo die Gefahr „Ichlechter Wetter” größer ift, pflegt man 
die abgebauten Räume gegenüber den neuen Arbeitsräumen 
hermetiſch durch Mauern abzufchliegen und läßt jene, wo es an 
Bergverjag mangelt, lieber möglichjt gleihmäßig und allmählidy 
zu Bruche gehen. Bei dem Gangbergbau ift jedoch jolch voll- 
jtändiger Abjchluß des „alten Mannes” aus verjchiedenen 
Gründen nicht immer thunlich; da nun aber das Betreten (oder 
„Befahren“) folchen „alten Mannes“, wie überhaupt aller ver- 


lafjener Grubenräume, erhöhte Gefahr in mancherlei Beziehung 
(400) 


33 


bietet — id erwähne als Beifpiel, daß im „alten Manne” 
von Erzhergwerfen, welche ihrer unverdorbenen Zuft wegen ja 
beftbeleumundet find, fich jogar „ichlagende” Wetter vorgefunden 
haben —, jo werden Unberufene davon ferngehalten; aber aud) 
dem „Berufenen” ijt die „Befahrung” ſolcher Streden natür. 
licherweife nichts Alltägliches, auch ihm ift der „alte Mann“ 
ein interefjanter Ort, und iſt ihm die Erinnerung an einen 
Beſuch desjelben oft eine ähnliche, wie die des Kriegers an ein 
Gefecht; iſt bei ſolchem Beſuche alles glüdlic) abgegangen, jo 
fommen dann auch die dabei unterlaufenden fomijchen Züge zur 
Geltung und bieten der Unterhaltung noch lange Zeit hindurd) 
angenehmen Stoff. 

Nach alledem muß man alſo den Wunjch des Erzwachs— 
thums, jo innig denjelben aucd die Harzer Bergleute jelbit, 
deren theilnehmende Freunde, jowie alle Diejenigen hegen mögen, 
welche beim unaufhaltfamen Rückgange unſeres Erzbergbaues 
Bellemmungen aus volfswirthichaftlihen Rüdfichten fühlen, zu 
fonftigen „frommen” Wünfchen zählen. Ein Troft it ed ja 
immerhin, daß feine Erfüllung diejenige des Schluß. und Haupt: 
mwunjches nicht vorbedingt: um das „fröhliche Herz”! Wem 
jolches bejcheert ijt, der wird jene Fehlbitte Leicht verjchmerzen. 


Sammlung. NR. F. XII. 299. 3 (401) 


Wefen und Bedentung 


Graphiſchen Rünſte 


für den 


Sluftrations- und Kartendruk. 


Vortrag, 
gehalten bei der öffentlichen Preisvertheilung am 11. Dezember 1896 
in ber Aula der Herzogl. techniichen Hochſchule. 


Von 


Dr. Earl Soppe, 


Profefior am Bolntehnifum zu Braunichweig. 


Hamburg. 
Verlagsanftalt und Druderei A⸗G. (vormals 3. F. Richter) 
Königliche Hofverlagsbuchhandlung. 
1898, 


Das Recht der Meberjegung in fremde Sprachen wird vorbehalten, 


Trud ber Berlagtanftalt und Druderei A.G. (vorm. 3. F. Richter) in Hamburg. 
Königliche Hofbuchbruderei. 


ie die Erfindung des Letterndrudes, d. h. der Buch: 
druderfunft e3 ermöglicht, daS gejchriebene Wort tauſendfach zu 
vervielfältigen und damit feinen geiftigen Inhalt zum Allgemein- 
gut der Menjchheit zu machen, jo dienen die graphiichen Re— 
produftionsmethoden durch den Drud in analoger Weije der 
VBerallgemeinerung der menschlichen Borftellungen und Anſchau— 
ungen, der zeichnerischen und bildnerischen Werke von Kunft und 
Wifjenichaft, Technik und Industrie. Während aber, abgejehen 
von der Vielgeitaltigfeit der Schriftarten, der Typendrud fich 
im allgemeinen mit großer Gleichförmigfeit vollzieht, bieten die 
graphifchen Drucdverfahren eine ungemeine Mannigfaltigkeit und 
Neichhaltigkeit, und zwar in ſolchem Grade, daß es faum einen 
Reproduftionstechnifer von Fach geben dürfte, der alle dieje 
Methoden beberricht, zumal mancherlei Einzelheiten derjelben 
Geheimniß des betreffenden Erfinders find und unaufhaltiam 
an der Verbefjerung und Weiterbildung aller Reproduftions: 
arten gearbeitet wird. 

Bei diefer großen Neichhaltigfeit der Methoden wird es, 
um einen Weberblid über diejelben zu gewinnen, vor allem 
darauf ankommen, nur das Charafteriftiiche hervorzuheben, 
Einzelheiten aber jelbjt dann fortzulafjfen, wenn fie auch bei der 
praftijhen Ausführung nicht entbehrt werden fünnen. Es 
muß hierauf ausdrücklich hingewiefen werden, da die Vorführung 
des Detail hier nur verwirren würde, weil es zu reichhaltig 
ift und in das Spezialjtudium gehört. 


Sammlung. R. F. XIII. 300. 1* (405) 


4 


Zur Erleichterung der Ueberfiht kann man zunächſt drei 
große Gruppen unterjcheiden, nach der Art und Beichaffenheit 
der Drudplatten felbft, und zwar je nachdem diejenigen Theile 
derjelben, welche der reproduzirenden Zeichnung 2c. entiprechen, 
unter, über oder in ihrer Oberfläche liegen: den Tiefdrud, 
den Hochdrud und den Flachdruck. 

Dieje drei Gebiete find nicht jcharf voneinander getrennt, 
injofern beim Flachdruck leicht vertiefte und ſchwach erhabene 
Drudplatten vortommen, aber die Unterfcheidung von drei Drud- 
methoden erjcheint weiter auc dadurch gerechtfertigt, daß Tief- 
drudplatten fajt ausschließlich auf der Handprefje gedrudt werden 
müfjen, während Flahdrudplatten auf mechaniſchem Wege auf 
der lithographifchen Schnellprefje, Hochdrudplatten Hingegen auf 
der Buchdruderpreffe gedrudt werden können. Welchen Unter: 
chied dies bedingt, geht daraus hervor, daß die Anzahl der in 
einer Stunde herjtellbaren Tiefdrude nur wenige Eremplare be: 
trägt, daß die lithographiiche Schnellprefje in berjelben Zeit 
mehrere Hundert, die Buchdruckerpreſſe aber viele taujend Drude 
liefert. Die Schnelligkeit der Drudlegung iſt jomit beim Hoc) 
drud mehr als taujendmal größer al8 beim Tiefdrud, während 
der Flachdruck aud in diefer Hinficht mitten zwijchen den beiden 
andern Bervielfältigungsmethoden fteht. Am großartigiten in 
Bezug auf die Schnelligkeit der Vervielfältigung ift der Drud 
von Tageszeitungen. Der Beſitzer des Berliner Stadtanzeiger 
hatte auf der legten dortigen Gewerbeausſtellung drei Schnellprefjen 
ausgejtellt, welche den Drud der täglichen Auflage von circa 
100 000 Eremplaren in einigen Stunden bewerfitelligten. Weit 
gewaltiger aber noch find die Leiftungen in Amerika. Dort 
wird 3. B. der „Herald“ in einer Auflage von 350000 Erem: 
plaren auf einer Preſſe gedrudt, welche ftündlich 48000 voll: 
tändige Nummern des vielfeitigen großen Formats zu liefern 
im jtande ift. 

(406) 


- 


IB] 


E3 liegt zunächſt die Frage nahe, woher diejer große 
Unterfchied in der Schnelligkeit der Drudlegung, namentlich 
zwilchen Tiefdruck. und Hocdrudverfahreen? Die Antwort 
lautet: Das Einreiben der Drudplatten mit Farbe muß beim 
Tiefdrud derart gejchehen, daß die Farbe nur die Vertiefungen 
ausfüllt, während die Plattenoberfläche ganz rein und frei von 
Farbe bleibt. Da dieje aber naturgemäß beim Einreiben mit 
der farbe in Berührung fommt, jo muß fie vor jedem Abdrud 
durch Abwiſchen jorgfältig wieder gereinigt werden, ohne daß 
die Farbe aus den Vertiefungen zugleich wieder entfernt wird. 
Das kann mit hinreichender Sorgfalt nur langjam und mit der 
Hand ausgeführt werden. Beim Hochdruck hingegen liegen alle 
der Zeichnung entjprechenden Blattentheile hinreichend hoch über 
der Grundfläche derjelben in einer und derjelben Ebene. Beim 
Einwalzen derjelben mit der Drudfarbe kommt die Farbe mit 
den tiefer gelegenen PBlattentheilen gar nicht in Berührung. 
Dieje bleiben daher ganz frei von Farbe, welche fich ihrerjeits 
leicht und gleichmäßig auf die eigentliche Druckfläche legt und 
ebenjo leicht beim Drude auf das Papier überträgt. Die ganze 
Operation des Einwalzens mit Farbe und des Abdruckes kann 
daher maschinell in rajcher Aufeinanderfolge ausgeführt werden. 
Beim Flahdrude kommt die Farbwalze zwar ebenfalls mit 
der ganzen Oberfläche der Drudplatte in Berührung, dort kann 
und muß aber derjenige Theil der Plattenoberfläche, welcher 
feine Zeichnung enthält, durch Abwaſchen mit angejäuertem 
Gummiwafjer ſtets jo feucht gehalten werden, daß er bei Be— 
rührung mit der Farbwalze feine Farbe annimmt, jondern fie 
„abjtößt”, d. 5. rein bleibt. Die Zeichnung jelbjt Hingegen 
wird angefettet, jo daß fie die Farbe der über fie geführten 
Farbwalze annimmt. Das Einfetten gefchieht bei der vertieften 
Steinzeihnung durch Einreiben derjelben mit Leinöl, bei der 


Zeichnung auf dem Steine durch Benutzung fettreicher Farben. 
(407) 


6 


Daher kann der Steindrud wohl auf majchinellem Wege, aber 
nicht mit der Schnelligkeit des Buchdruckes ausgeführt werden. 

Einen weiteren charakteriftiichen Unterjchied zeigt der Tief: 
drud gegenüber dem Hoc und dem Flachdrucke beim Abdruden 
der Farbe, weil die Vertiefungen von ungleicher Tiefe genom» 
men werden fünnen. Es wird denn auch die ausfüllende Farbe 
verſchiedene Dide haben und beim Abdruden in ungleicher 
Stärke auf das Papier übertragen, Letzteres wird jomit bei 
Lafurfarben mehr oder weniger durchicheinen, jo daß hellere und 
dunflere „Töne“, je nach der Dide der aufgetragenen Farbe, 
entjtehen. Durch ungleich tiefe Aetzung der Platte an verjchie: 
denen Stellen derjelben Lafjen fi) daher Abftufungen von hell 
und dunkel, d. h. Halbtöne hervorbringen und daher auch Halb: 
tonbilder, wie Gemälde, abtujchirte Zeichnungen, photographijche 
Aufnahmen ꝛc. in Kupfertiefdrud reproduziren, namentlich, wenn 
man die Platte „körnt“, d. h. rauh macht, damit die Farbe 
bejjer und gleichmäßiger haftet. Beim Hocdrud- und lad: 
drucverfahren hingegen liegt die Farbe auf den der Zeichnung 
entjprechenden Theilen der Drudplatte überall in gleicher Dide 
auf. Nach diefem Verfahren kann man daher direlt nur gleid)- 
mäßig gefärbte Flächen oder Linien druden. Snllen Halbtöne 
erzeugt werden, jo muß die gejchloffene und gleichmäßig gefärbte 
Fläche körnig oder netzförmig 2c. zerlegt werden, durch Hervor— 
bringen von Punkt- oder Linienjyftemen, derart, daß, wenn 
hellere Töne entjtehen jollen, die Eleinen weißen Zwiſchen— 
räume, bei dunflen Tönen die jchwarzen Punkte oder Linien- 
nege überwiegen. Dabei müfjen naturgemäß Die fleinen 
Punkte und Linien jo nahe benachbart jein, daß die von 
ihnen bededte Fläche einen gejchlofjenen Ton erhält. Sind jie 
zu grob, jo erjcheint auch das Bild unfein und roh, find fie 
aber zu fein, jo verſchwimmen fie ineinander und das Bild 


wird flau. Die Zerlegung der Halbtöne in ein drudbares Korn 
(408) 


7 





jpielt bei den Reproduftionsmethoden eine hervorragende Rolle. 
Es kann von Hand oder auf photographiichem Wege in mannig- 
facher Weife und in mehr oder weniger volllommener Art erzielt 
werden, wie wir weiter unten näher darlegen werden. 


Tiefdrudverfahren. 


Betrachten wir zunächſt etwas näher das Tiefdrudverfahren. 
Nimmt man eine ebene und blank polirte Kupferplatte, gräbt 
mit dem Grabftichel in diefelbe das Spiegelbild einer Zeichnung, 
3. B. eines Namenszuges und reibt dann die Platte mit einer 
Drudfarbe ein, jo dringt die Farbe in die mit dem Stichel ein- 
gegrabenen Vertiefungen ein und füllt fie aus. Lege man dann 
auf die Platte, nachdem man ihre glatte und blanke Oberfläche 
forgfältig von Farbe gereinigt hat, ein angefeuchtetes PBapierblatt 
und preßt dasjelbe durch Walzendrud ſtark gegen die Kupfer: 
platte, jo dringt das feuchte Bapier zum Theil in die mit ‘Farbe 
angefüllten Vertiefungen, wobei ſich die Farbe auf dasjelbe über: 
trägt. Hebt man das Blatt dann forgfältig ab, jo trägt es 
einen Abdrud des eingegrabenen Namenszuge® und zwar in 
Sauberkeit und Feinheit ganz entjprechend der Ausführung des 
Stiches. Die gleiche Operation, Einreiben der Platte mit Farbe 
und Abdruden des GStiches auf Papier, fann man mehrere 
taujendmal wiederholen, bevor die Platte abgenugt und un: 
brauchbar wird, zumal wenn man fie galvanoplajtijch mit einer 
dünnen Eifenhaut überzieht, d. h. fie verftählt, wodurch fie be: 
deutend widerftandsfähiger wird. Dieje Verſtählung läßt fich 
unfchwer erneuern, wenn fie durch häufigen Gebrauch der Platte 
gelitten hat; auch kann man die ganze Drudplatte galvano: 
plajtifch in Kupfer abformen. Man erhält dann zunächſt eine 
Platte, auf welcher die Zeichnung reliefartig erhaben ſteht. 
Bon diefer „Depot-Platte” kann man dann aber auf demjelben 


galvanoplaftifchen Wege weiter fo viele vertiefte Drudplatten her— 
(409) 


8 


ftellen, wie man will, jo daß die Vervielfältigung eines Kupfer: 
ftiches an feine Grenzen gebunden iſt. 

Beim Stahljtich wird die benußte Platte vor der Gravirung 
enthärtet und nach derjelben wieder gehärtet. Die Gravirung ſelbſt 
geichieht wie beim Kupferſtich vermittelft des Grabftichels, erfordert 
aber mehr Zeit und ijt weniger leicht forrigirbar. Dagegen be- 
ſitzen die Stahljtichplatten eine ungemein große Dauerhaftigkeit. 
Der Stahlftic) wird vornehmlich nod) zum Banknotendrude benußt. 
Im übrigen gejchieht der Tiefdruck meift von Kupferplatten. 

Je nad) der Art und Weiſe, wie die Vertiefungen in der 
Kupferplatte hervorgebracht werden, unterjcheidet man verjchiedene 
Arten des Kupferdrudes. Beim Kupferftich wird vornehmlich 
mit dem Grabftichel in das Kupfer Hineingegraben, bei der Ra— 
dirung mit der Nadel (kalte Nadel) die Kupferoberfläche gerigt, 
bei der Kupferätzung aber wird die mit einer jchügenden Harz 
oder Wachsſchicht bededte Platte mit der Nadel an den zu 
ätenden Stellen freigelegt und werden dieje dann durch die fol: 
gende Aetzung entjprechend vertieft. Bei der Schabfunjt wird 
die Oberfläche der Kupferplatte durch Ueberführen eines Stahl- 
rädchens mit geriffeltem Rande, „Roulette“, „Wiege“ 2c. genannt, 
zunächſt rauh gemacht, d. h. mit unzähligen Heinen Vertiefungen 
verjehen. Würde man die Platte in folhem Zuſtande mit 
Drudfarbe einreiben und abdruden, jo würde man einen mehr 
oder weniger gleihmäßig grauen oder dunklen Abdrud erhalten, 
je nad) dem Grade der NRaubigfeit, d. h. je nach der Größe 
und Anzahl der mit dem Roulette hervorgebrachten Vertiefungen. 
Hiermit ift die Möglichkeit gegeben, auf einfache Weiſe, nämlich 
durch mehr oder weniger ſtarke „Rauhung“, bezw. „Körnung“ der 
Blatte Uebergänge von hell zu dunkel, jogenannte „Halbtöne”, zu 
erzielen. Bei der Schabfunft wird hierzu die geraubte Platte 
mit dem Schaber wieder theilweife geglättet. Dieje glatten 


Stellen nehmen beim Einreiben mit Farbe diefe nicht, bezw. in 
(410) 


9 


geringerem Maße an, geben daher beim Abdruden helle Stellen, 
die „Lichter“. 

Die Schabkunft giebt weichere Drude als der Stich, noch 
mehr die Aqua-tinta-Manier, bei welcher die Platte eingejtaubt, 
durch Aetzung gerauft und dann mit der Nadel zc. weiter be 
handelt wird. Das Einjtauben der glatten und blanfen Platte 
geichieht mit jehr feinem Colophoniumpulver. Man erwärmt 
fie dann joweit, bis das Pulver jchmilzt und nad) dem Erkalten 
feſt an der Platte haftet. Sept man die Platte dann einer 
Aetze, 3. B. Eiſenchloridlöſung aus, jo wird fie nur dort am 
gegriffen, wo fie nicht von dem jchügenden Harze bedeckt iſt. 
Die Platte kann auf folhem Wege in analoger Weiſe gerauht 
oder geförnt werden, wie bei Anwendung der Noulettes, der 
Wiege. Te nad der FFeinheit des Staubes und der Dichte 
der Schicht wird die Körnung feiner oder gröber, gejchlofjener 
oder offener ausfallen, jo daß fich auf jolche Weife die zartejten 
Uebergänge bis zu den tiefften Schatten herftellen laſſen. 

Zur Unterjcheidung zwijchen der Wiedergabe von Strichzeich— 
nungen und der Reproduktion von Halbtonbildern mit fontinuir- 
lihen Uebergängen von hell zu dunkel und umgekehrt, jei noch 
folgendes bemerkt: Bei erjteren giebt die Reproduktion die ein: 
zelnen Striche genau jo wieder, wie diejelben im Originale ge 
zeichnet find. SKontinuirliche Uebergänge von hell zu dunkel, 
oder, wie man fürzer jagt, Halbtöne, müfjen für den Stich zu- 
vor „zerlegt“ werden. Will 3. B. der Stecher Tonwirkungen 
hervorbringen, entiprechend den Uebergängen der Malerei, jo 
muß er feine Striche oder Punkte jo eng aneinanderreihen, daß 
diejelben aus einiger Entfernung gejehen dem Auge nicht mehr 
einzeln fichtbar find, jondern als gejchloffener Ton erjcheinen, 
heller oder dunkler, je nachdem die hellen Zwijchenräume oder 
die dunklen Punkte mehr oder weniger überwiegen. Durch die 


Schabkunſt wird ſich die Tonwirkung vollfommener erreichen 
(All) 


10 





lajjen, al3 durch den Stich, befjer noch durch verjchieden tiefe 
Uegung auf geförnter Platte, denn an den tiefer geäßten Stellen 
wird die Farbe entjprechend dicker aufliegen, als an den weniger 
tiefen und daher auch bei der Uebertragung auf das Papier 
verjchieden durchicheinend fein. Zur Tiefätzung werden meiſt 
vier verjchieden ſtarke Aeßflüffigkeiten benugt und entjprechend 
vier getrennte Aetzungen mit jedemaligem Abdeden der fertigen 
Partien vorgenommen. Die Uebergänge werden mit dem Bolir- 
jtahle nachgearbeitet, zu dunkle Stellen aufgehellt, fräftige Kon: 
turen mit der Nadel nachgezogen und dergl. Auf jolchem 
Wege lafjen ſich namentlid) mit Zuhülfenahme der Photographie 
duch „Photogravüre”, wie wir weiter unten jehen werden, jehr 
volltommene und zarte Uebergänge in den Halbtönen erzielen. 

Die Vieljeitigkeit der Behandlung, welche die Kupferplatte 
zuläßt, in Verbindung mit ihrer leichten und unbejchränfkten 
Korrekturfähigkeit, da jede Vertiefung ſich durch Aufhämmern 
von der Rückſeite 2c. unſchwer wieder bejeitigen läßt, machen den 
Kupfertiefdrud zu der in fünftlerifcher Hinficht vollkommenſten 
Neproduftionsmethode. 


Hocdhdrudverfahren. 


Das Gegenjtük zu den Xiefdrudplatten mit vertiefter 
Zeichnung bilden die Hochdrudplatten mit erhabener Bildform, 
analog den Typen und Lettern des Buchdrucks. In erjter Linie 
iſt hier der Holzjchnitt zu nennen, bei welchem aus einer ebenen 
und glatten Holzfläche mit Mefjer und Stichel die zu reprodu- 
zirende Zeichnung jo herausgearbeitet und umjchnitten wird, daß 
fie erhaben auf vertieftem Grunde jteht. Beim Einwalzen mit 
Drudfarbe werden nur die erhabenen Theile der Platte von ihr 
benetzt. Dieje geben beim Abdruden auf Papier leicht ihre 
Farbe ab, weshalb Hocdrudplatten unter leichtem Drude auf 


relativ trodenes Papier abgedrudt werden fünnen. Dies bedingt, 
(412) 


11 


wie wir gejehen haben, einen wejentlichen Unterjchied gegenüber 
dem Tiefdruck in Bezug auf die Schnelligkeit der Vervielfälti- 
gung. Die Kupfertiefdrudplatte muß vor jedem Abdrude von 
Hand mit Farbe eingerieben werden und zwar jehr jorgfältig, 
jo daß die Farbe in alle Vertiefungen eindringt, während die 
flachen Theile frei und rein bleiben oder abſichtlich einen 
Ihwaden Ton erhalten. Daher iſt majchineller Betrieb beim 
Tiefdrud im allgemeinen ausgeſchloſſen! und laſſen fich in der 
Stunde nur wenige Abdrüde fertigftelen. Ja, größere Kunſt— 
blätter beanjpruchen mehrere Stunden Arbeitszeit für Herjtellung 
eines einzigen Abdrudes, woraus ſich der oft jehr hohe Preis 
des Kupfertiefdrudes erklärt. Anders beim Hocddrud. Diefer 
fann in der Buchdruderprefje mit dem Xetterndrude zugleich 
mechanijch erfolgen, weshalb er auch vorzugsweije zu Bud: 
Illuſtrationen benugt wird. 

Der ältere Holzſchnitt, wie gegenwärtig 3. B. noch der 
japanijche, wurde im nicht jehr hartem Holze ausgeführt, wes— 
halb derſelbe auf offene Linienmanier bejchränft war. Der 
neuere, in hartem Hirnholze mit dem Grabjtichel ausgeführte 
Holzjtich erlaubt es, feine Linien und Punkte jo nahe anein- 
ander zu ftellen, daß beim Abdrude mehr gejchlojjene Ueber: 
gänge und Halbtöne erzielt werden. Diejer neuere „Tonſtich“ 
liefert fünftlerijh weit höher jtehende Drude, doch läßt ſich 
diefelbe FFeinheit der Körnung und damit die Zartheit der Ueber: 
gänge von Licht und Schatten in den Halbtönen, wie beim 
Kupfertiefdrud, bei ihm nicht erreichen. Beim Holzjchnitt ift es 
nur die Hand des Kylographen, welche durch entjprechende Kom— 
bination von feinen Strihen und Bunften künſtleriſch wirkende, 
mehr oder weniger gejchlofjene Halbtöne erzielen kann. Größere 
Flächen von gleicher Abtönung werden mit der Majchine be- 
arbeitet. Beim Abdrude der Reproduftionen unmittelbar vom 
Holze des Holzſchnittes oder Holzjtiches würden die Feinheiten 


(413) 


12 


durch Abnutzen des Holzes bald verloren gehen. Man fertigt 
daher auf galvanoplaftiichem Wege Kupferklifchees an und ver: 
ftählt diejelben, um ihnen eine genügende Haltbarkeit zu geben. 

Anstatt des Holzjchnittes und vielfach als Erſatz desjelben 
wird die Hochätzung in Metall, namentlich in Zink benutzt. 
Macht man auf eine ebene Zinfplatte eine Zeichnung mit fetter 
Farbe und taucht die Platte dann in verbünnte Säure, jo 
werden die von der Farbe bededten und von ihr gejchüßten 
Stellen von der Säure nicht angegriffen, während die freige- 
bliebenen Theile ihrer Oberfläche geätzt und dadurch vertieft 
werden. Durch wiederholtes Aegen mit jedesmaligem vorherigem 
Ubdeden der Zeichnung durch neues Einfärben, um die von ihr 
bededten Plattentheile thunlichſt vor der Aetze zu ſchützen, laſſen 
ſich kräftig erhabene Hocdrudplatten erzielen, welche ebenjo wie 
die Holzichnitte in der Buchdruckerpreſſe gleichzeitig mit den 
Lettern abgedrudt werden können. 

Diefe Zinfhochägung eignet ſich direft nur zur Reproduktion 
von Zeichnungen in Strichmanier, 3. B. zur Reproduktion von 
Holzihnitten alter Meifter, wie Dürer ꝛc. Zur Reproduktion 
von Halbtonbildern muß den Halbtönen derjelben zuvor durch 
Berlegung in Punktſyſteme ein drudbares Korn gegeben werden. 
Wie dieje Zerlegung bei direkter Zeichnung auf geförnten Flächen 
von Hand oder bei der photographiichen Abbildung durch Ein- 
ſchalten von Rajterplatten erzielt werden kann, wird jpäter näher 
zu erörtern fein. 


Das Flahdrudverfahren. 

Zwiſchen Tief: - und Hochdruck fteht der Flachdrud, bei 
welchem die Zeichnung in oder wenigjtens jehr nahe in der 
Oberfläche der Drudplatte liegt. Er wird in erfter Linie reprä- 
jentirt durch den Steindrud, die Lithographie. Beim Stein ftich 
wird die Zeichnung in die Oberfläche des Steines fein Hinein- 


(414) 


13 


gerigt und jo eine ſchwach vertiefte Drudplatte erzeugt, welche 
dem Kupferftiche ähnliche feine Drude ermöglicht, wie jolches 
3. B. an holländischen Kartenwerfen hervortritt. 

Bringt man hingegen die zu reproduzirende Zeichnung als 
Feder- oder Kreidezeichnung mit chemijcher Tuſche oder Kreide 
auf den Stein, jo verbinden fich die Fettſäuren 2c. der chemi- 
ſchen Tuſche mit dem fohlenfauren Kalk ꝛc. des Steined und 
verändern die Oberfläche des Steine® an allen Stellen der 
Beichnung derart, daß beim Einwalzen mit Drudfarbe diefe nur 
dort haftet, während die übrige Fläche des Steine? von Farbe 
freibleibt, dieſelbe „abſtößt“. Dieje letztere Eigenjchaft des 
Lithographie-Steines wird noch gefördert durch Befeuchten des— 
ſelben mit einer angeſäuerten Gummilöſung, wodurch die nicht 
mit Tuſche bedeckten Theile von Fett gereinigt und zugleich feucht 
gehalten werden, damit ſie beim Einwalzen der ganzen Ober— 
fläche mit der Farbwalze keine Farbe annehmen. Das Ein» 
walzen mit Farbe und das Druden fann bei der Lithographie 
ebenfalls mechanijch gejchehen, doch fteht die Schnelligkeit der 
Drudlegung dur die lithographiiche Schnellprefje derjenigen 
der Buchdrudprefjen bedeutend nach. Lithographien fünnen aus 
vorgenannten Gründen nicht wie Holzichnitte und Zinkographien 
auf der Buchdruderprefje gedrudt werden und Iafjen fich daher 
auch nicht mit dem Letterndrude unmittelbar vereinigen. ALS 
Illuſtrationen müfjen fie wie die Tiefdrudplatten gefondert vom 
Text abgedrudt werden. 

Anſtatt direkt und daher in verfehrter Form auf den Stein 
mit der lithographiichen Tuſche zu zeichnen, kann man Schrift 
oder Zeichnung auch zunächſt mit autographijcher Tinte in rich» 
tiger Form auf Papier ausführen und dann auf den Stein 
durch Abdruden auf denjelben, „Abklatſchen“, übertragen. Man 
erhält jo ebenfall3 eine verkehrte Zeichnung auf dem Stein, 
während die Driginalzeichnung in richtiger Geftalt angefertigt 


(415) 


14 

wird. Der Vorgang ift ganz ähnlich, wie bei dem befannten 
Heftographen. Zur Uebertragung fertiger Zeichnungen anderer 
Druckwerke, 3. B. eines Kupferjtiches, auf den Stein, bedient 
man ſich eines bejonderen Umdruckpapieres. Auf dieje8 wird 
mit „Umdrudfarbe” ein fauberer Abdrud der Kupfertiefplatte 
gemacht und diejes dann auf den Stein „abgeflatiht”, um von 
ihm weiter durch Lithographie vervielfältigt zu werden. Er 
wird dann zwar nicht ganz jo jchön werden, wie beim direkten 
Kupferdruf, aber die Drudlegung kann nun mittelft der Litho« 
graphiichen Schnellprefje viel jchneller und ausgiebiger erfolgen, 
wodurd die Kojten größerer Auflagen jehr verringert werden 
und an Zeit bedeutend gejpart wird. 

Bon diefem Umdrudverfahren wird in der Praxis der 
graphiichen Bervielfältigungsmethoden ein jehr ausgedehnter 
Gebrauch gemacht, auch bei Benugung der photographiich.mecha- 
nischen Drucdmethoden. Wie man einen Kupferjtich durch Um— 
drud auf Stein überträgt, um die Vervielfältigung mit der 
lithographifchen Schnellprefje vornehmen zu können, jo fann man 
Tief und Flachdrucke auch auf Zinkplatten umdruden und dieje 
dann hochägen für die Benugung der Buchdruderprefje. Um— 
gekehrt kann man auch Hocdrudplatten auf Stein umdruden, 
namentlich Schrift, wenn diefe mit der Zeichnung auf Stein 
zugleich vervielfältigt werden joll. Bei lithographirten Karten 
wird vielfach Drudichrift benugt u. dergl. 


Benugung der Photographie. 


Die Zuhülfenahme der Photographie zu den eben be 
Iprochenen älteren Drudverfahren hat nicht nur diefe in mannig- 
faher Weije modifizirt, jondern auch ganz neue Methoden ge- 
ihaffen, auf photomechanishem und photochemifchem Wege 
Drudplatten aller Art herzuftellen. Der photographiiche Prozeß 
an fich geitattet zunächjt von jedem Gegenftande ein getreues 


(416) 


15 


Abbild auf Papier, Glas ꝛc. anzufertigen. Durch Zerjegung 
der lichtempfindfichen Silberjalzge werden hierbei entjprechend der 
Intenfität der Lichtwirfung beim Entwideln der Platten weniger 
oder mehr Silberpartifelchen in regulinijcher Form ausgeſchieden, 
und es entiteht ala Abbild das jogenannte „Negativ“, in 
welhem die helliten Theile des Originals am dunkelſten find, 
und umgekehrt. Durch den gleichen Vorgang beim „Kopiren“ 
dieſes Negativs erfolgt die Umkehr von hell und dunkel, jo 
daß die Kopien dem Originale wieder entiprechen. 

Das Korn der Photographie, d. h. die Größe der aus: 
geſchiedenen Silberpartifelchen, ijt jehr gering; fie beträgt nur 
wenig hundertjtel oder taujendjtel eines Millimeter, und da 
das Ausjcheiden im allgemeinen entjprechend der Lichtwirfung 
erfolgt, fo ijt die Photographie im jtande, die zartejten Ueber— 
gänge von Hell und dunkel, die feiniten Schattirungen und 
Halbtöne wiederzugeben. Beim Holzjchnitte find die zur Hervor— 
bringung der Halbtöne fein in das Holz vom Xylographen ein- 
geftochenen Punkte und Linientombinationen einzeln mit bloßem 
Auge zu unterfcheiden. einer iſt jchon das Korn der Kreide» 
zeichnungen auf Stein, doch genügt auch hier eine Schwache Ver— 
größerung, um die Einzelheiten erkennen zu lafjen. Die Körnung 
einer Metallplatte mit dem Roulette, jowie mitteljt Einftaubens 
und Aetzung, läßt ſich feiner ausführen; fie jteht aber auch 
ihrerjeit8 der direkten Photographie in dieſer Hinficht nad). 
Stärfere Bergrößerungen auf photographiichem Wege vertragen 
daher nur PVhotographien, um jo mehr, je feiner ihr Korn ijt 
und je jchärfer fie find. 

Die graphische Vervielfältigung durch den gewöhnlichen photo» 
graphiichen Kopirprozeß ift im allgemeinen ein zu umftändliches 
und zeitraubendes Verfahren, um eine jchnelle und ausgiebige 
Drudlegung zu gejtatten, doch wird diejelbe in neuerer Zeit mit 
Erfolg auf mechaniſchem Wege in größerem Umfange von der 


(417) 


16 


„Neuen photographiichen Geſellſchaft“ in Berlin ausgeführt, welche 
auf der legten dortigen Gewerbe, und Induftrieausftellung in einem 
befonderen Pavillon interefiante Drucde verjchiedenfter Größe auf 
ihrem „Kilometerpapier“ ausgeftellt hatte. Ein von einer großen 
Nolle fich kontinuirlich abwicdelnder Streifen Lichtempfindlichen 
Papieres wird jtüdweije unter einem oder mehreren Negativen 
wenige Sefunden fang belichtet, durch maschinelle Vorrichtungen 
entwidelt und ausgewajchen, wodurch es möglich wird, in furzer 
Beit Hunderte von Eremplaren in ganz gleihmäßiger Ausführung 
herzustellen, welche alle guten Eigenfchaften der direkten Photo- 
graphien, vor allen auch ihr feines Korn befigen. Diejes Ver— 
fahren wird wohl noch eine bedeutende Zukunft haben. 

Nicht alle photographiich- mechanischen Drucdmethoden find 
im ftande, die Wiedergabe von Halbtönen in gleich vollfommener 
Weije zu erzielen, und wie z. B. der Kupfertiefdrud in diejer 
Hinfiht dem Holzichnitte weit überlegen fich zeigte, jo find aud) 
die photomechanischen und photochemischen Reproduftionsmethoden 
theil8 mehr zur Wiedergabe von in Linien- und Strichmanier 
ausgeführten Zeichnungen und Bildern geeignet, theil® gejtatten 
diejelben die Wiedergabe von Halbtönen in mehr oder weniger 
vollfommener Weije. 

Bur Herjtelung von Drudplatten auf photomechanischem 
und photochemifchem Wege dienen Subjtanzen, wie Chrom 
gelatine, d. h. mit Chromfalzen gemijchter Leim, oder Licht. 
empfindlicher Asphalt zc., welche, im Dunkeln zubereitet, Die 
Eigenichaft haben, in Flüffigkeiten Löslich zu fein, die aber durch 
Belichtung dieje Eigenjchaften verlieren, jo daß fie nad) der Be: 
lihtung unlöslich find. Wenn man 3.8. eine Platte mit einer 
Chromgelatinefchicht im Dunkeln übergießt und die getrodnete 
Schicht unter einem photographiichen Glasnegativ belichtet, jo 
wird das durch die hellen Theile des Negativs, die den dunkeln 
der Originalzeihnung entiprechen, dringende Licht die Chrom: 


(418) 


17 





gelatinejchicht dort unlöslich machen, jo daß gleichjam ein Bild 
aus unlöglicher Gelatine entjteht, welches allein zurücfbleibt, 
wenn man die Platte im warmen Wafjer auswäſcht. E3 ent- 
fteht jo ein Gelatinerelief, in welchem die höchiten Stellen der 
intenfioften Lichtwirfung durch das Negativ hindurch entjprechen. 
Hat man die Chromgelatine vorher mit jehr fein zertheilter 
Kohle oder einem farbigen Pigment vermifcht, jo entipricht das 
Gelatinebild in allen jeinen Theilen volllommen dem Original, 
wie eine gewöhnliche Photographie. Auf diefem Prinzip beruht 
das Kohle bezw. Pigmentverfahren, welches vorzügliche Kopien 
liefert, die den Vorzug haben, dem Vergilben nicht ausgeſetzt zu fein. 

Ein auf ſolche Weije hergeſtelltes Gelatinerelief kann, 
nachdem e3 galvanijch leitend gemacht wurde, als Mutterplatte 
zur Herjtellung von Supfertiefdrudplatten auf galvanoplajtiichem 
Wege benußt werden. Dies ift im wejentlichen das Prinzip 
der „Photogalvanographie” oder „Heliographie”. Führt man 
die Belichtung der auf gleiche Weife vorbereiteten Platte Hin- 
gegen unter einer dunklen Zeichnung auf durchſichtigem Grunde 
aus, z. B. einem Diapofitiv, jo wird die Chromgelatine in der 
Umgebung der Zeichnung unlösli, während die durch Die 
dunkeln Striche der Zeichnung geſchützten Stellen ihre Löslichkeit 
behalten. Wäjcht man dieje in warmem Wafjer aus, jo wird 
die Platte an den der Zeichnung entiprechenden Stellen frei- 
gelegt und kann dort durch Aebung vertieft werden, während 
alle anderen Theile der Platte infolge der fie bededenden, un— 
löslich gewordenen Chromgelatine unverändert bleiben. Man 
erhält auf diefem Wege ebenfall3 eine Tiefdrudplatte durch 
Metalltiefägung, d.h. „Photogravüre”. 

Das find mit kurzen Worten die beiden vornehmjten Me— 
thoden, mit Hülfe der Photographie auf photomechanischem, bezw. 
photochemijchen Wege Kupfertiefvrudplatten herzuftellen: die 
„Photogalvanographie”, welche dem Kupfer ftich ähnliche Reſul— 


Sammlung. N. F. XIII. 300. 2 (419) 


18 


tate liefert, und die „Photogravüre“, welche mehr der Radirung 
mit Aetzung entipricht. 

Das erjtere Verfahren der „Photogalvanographie”, d. h. 
der Herjtellung eines feiten Gelatinerelief8 und Abformung des» 
jelben auf galvanoplaftiihem Wege zur Erlangung einer Tief: 
drudplatte in Kupfer, eignet fich vorzugsweije zur Wiedergabe 
von Zeichnungen und Bildern in Linien und Strichmanier. 
E3 jpielt in der Kartographie als Neproduftionsmethode eine 
ganz hervorragende Rolle. Die „Photogravüre” Hingegen, auf 
einer behufs Körnung fein eingeftaubten Kupferplatte ausgeführt, 
liefert jehr vollftommene Neproduftionen von Halbtonbildern 
aller Art, Photographien, Gemälden ꝛc. Sie fteht unter den 
photographiichen Neproduftionsmethoden unjtreitig mit an erjter 
Stelle, wenn es fih um fünftlerijch werthvolle Reproduftionen 
von Bildern mit Halbtönen handelt. 

Die Benugung der Photographie zur Metallhochätzung 
geichieht auf folgendem Wege: 

Beim Belichten der Chromgelatine-, bezw. Asphaltjchicht 
unter einem photographiichen Negativ bleibt nad) dem Aus— 
wajchen ein der Zeichnung jelbjt entjprechendes Gelatinerelief 
auf der Platte zurüd, während die übrigen Theile der Platte 
von der dort löslich gebliebenen Gelatine befreit find. Wertieft 
man dieſe durch Aetzung, jo erhält man eine Hochdrudpfatte 
mit erhabener Zeichnung für die Buchdruckpreſſe. Auf dieſem 
Berfahren beruht die jogenannte „Bhototypie”, jo benannt nach 
den Typen des Buchdrucks. Diefe Hochäßung wird meijt in 
Zinf ausgeführt, feltener in Kupfer oder anderen Metallen, 
weshalb fie auch den Namen „Zinfographie” trägt. Sie ijt 
dDireft nur geeignet zur Reproduktion von Zeichnungen in Linien— 
und Strihmanier, als Erjaß des Holzichnittes, fie wird aber 
durch bejondere Kunftgriffe auch zur Wiedergabe von Halbtönen 


durch Zerlegung derjelben in ein drudbares Korn verwendbar 
(420) 


19 


gemacht. Die Methoden diejer „Zerlegung der Halbtöne” für 
die Zinfhochdrudplatten find verjchiedener Art. Beim „Neb“- 
oder „Raſter“-Verfahren wird beim Abphotographiren des zu 
reproduzirenden Halbtonoriginal3 nahe vor die lichtempfindliche 
Platte ein Glasgitter eingejchaltet, welches aus jehr feinen, un: 
durchlichtigen Linien auf durchfichtiger Glasplatte bejteht, jo 
fein, daß fie mit bloßem Auge nicht wohl mehr einzeln zu 
unterjcheiden find. Diejes feine Linienneg wird mit dem Gegen: 
ftande jelbjt auf der Negativplatte abgebildet, und zwar nicht 
ganz Scharf, da die Gitterplatte die Lichtempfindliche Schicht 
nicht unmittelbar berührt, jundern um ein geringes Maß von 
ihr abjteht. So greift das durch das Gitter durchgehende Licht 
etwas über die Linienfpalten hinaus, und zwar um jo mehr, 
je intenfiver dasſelbe ijt. Die helliten Theile des abzubildenden 
Originals, welche das jtärkjte Licht ausfenden, werden jomit in 
ihrer Wirkung auf die lichtempfindliche Schicht durch die dunklen 
Stride nur wenig gehemmt werden, jo daß von Ddiejen nur 
ein ganz jchwacher Nebjchatten entjteht, während derjelbe an 
Stärfe verhältnigmäßig um fo mehr zunimmt, je dunkler die 
abzubildenden Theile find, d. h. je weniger Licht fie ausjenden. 
So werden bei Abbildung von Halbtonbildern in den Halbtönen 
allmähliche Uebergänge hervorgerufen, indem die jtärfer zur 
Geltung gelangenden Negtheile die Wirkung einer ſtärkeren 
Körnung Hervorrufen.? 

Bei diefem „Autotypie”.VBerfahren werden jomit die Halb: 
töne des Driginal bei Anfertigung des Negativs durch das 
eingejchaltete Glasgitter, den „Raſter“, jo zerlegt, daß das 
Negativ eine den Tönen umgekehrt entjprechende Körnung in 
jeinem Bilde erhält, welche aber jehr viele Male gröber ift, 
als das Silberforn der photographiichen Schiht. Beim Be 
lichten der die Zinkplatte bededenden Chromgelatinefchicht unter 
einem jolchen Negativ wird dann das grobgeförnte Bild auf 


9% (421) 


20 


diefe Schicht und weiter nach dem Auswaſchen derjelben durch 
Aetzen auf die Zinkplatte felbft entjprechend übertragen. Dieje 
„Autotypie“ Hat in legter Zeit immer mehr Fortichritte gemacht 
und wejentliche Verbeſſerungen erfahren. Sie verlangt gutes 
Papier und jorgfältigen Drud. Nicht felten aber find mit 
Borfiht auf gutem Papier ausgeführte Probedrude unver: 
gleichlich bejjer, wie von denjelben Platten durch die Buchdrud- 
prefje hergeftellte größere Auflagen. Durch den Email-Prozeh 
fönnen fräftigere Drudplatten erzielt werden. Er bejteht darin, 
daß auf die angeägte Platte Collodiumpulver aufgeftäubt und 
dann angejchmolzen wird, wonad) diejelbe einer viel energifcheren 
Aetzung ausgejegt werden kann, ohne daß man befürchten müßte, daß 
auch die abgededten Theile angegriffen werben. Für Illuſtrations— 
zwede wird die Phototypie ſowohl zur Wiedergabe von Strichzeid)- 
nungen, wie von Halbtonbildern in ausgedehnten Maße benutzt. 

Wenn das zu reproduzirende Original ald Halbtonbild, 
3. B. als Gemälde, als Photographie nach einem ſolchen 
oder nach der Natur ꝛc. fertig vorliegt, ſo müſſen die Halb— 
töne in der angegebenen Weile bei Anfertigung des photo» 
graphiichen Negativs zerlegt werden, um leßtere8 durch Her: 
jtellung einer Hochdruckplatte durch Aetzung verwenden zu fünnen. 
Wird hingegen für die beabjichtigte Reproduktion eine Vorlage 
erit angefertigt, jo kann man in diefer Originalzeichnung die 
Halbtöne gleich jo grobförnig Herftellen, 3.8. durch Zeichnen 
auf jehr grobförnigem Papier, Byramidenfornpapier zc., daß 
bei Anfertigung des Negativs feine weitere Neßzerlegung noth- 
wendig if. Das hat den Vorzug, daß die von der Zeichnung 
nicht bededten Theile von dem Netzwerk frei und daher bei der 
Reproduktion rein weiß bleiben, während Ddiejelben bei der 
Nebzerlegung einen, wenn aud) matten, jo doch die Klarheit 
des Drudes mehr oder weniger beeinträchtigenden Ton erhalten, 
welcher zwar durch machträgliches Ausftechen diefer Partien 


(422) 


21 





bejeitigt werden fann, naturgemäß aber nur auf mühjamem 
und zeitraubendem Wege. 

Zur Zerlegung der Halbtöne in der Driginalzeichnung 
jelbit, kann übrigens jehr verjchiedenartiges, mit Korn, Neb- 
werk zc. verjehenes Papier benugt werden. Seine Oberfläche wird 
meiſt durch eine Kreidejchicht gebildet. Die auf derjelben durch 
aufgedrucdtes Netzwerk oder durch Zeichnung von Hand :c. 
dunfel gefärbten Stellen können daher mit dem Schaber auf: 
gehellt, bezw. gekörnt werden. ine andere Methode der Ber: 
legung bezeichnet man mit dem Namen „Carreaugraphie”. Legt 
man einen Bogen „Graphit-Papier“, d. h. mit Graphitpulver 
gejchwärztes Papier zwijchen eine zu fopierende Zeichnung und 
ein weißes Blatt, jo färbt ſich die Zeichnung auf diefes ab, 
wenn man jie unter leichtem Drude mit einem Stifte umfährt. 
Nimmt man nun als Graphitpapier ein Blatt, welches nicht 
über feine ganze Fläche gleihmäßig dunfel gefärbt ift, jondern 
ein abfärbendes Liniennetzſyſtem, bezw. Korn enthält, jo werden 
beim entjprechenden Ueberfahren der Vorlage die Halbtöne in 
Nebzerlegung abgedrüdt und auf ſolche Weile die Kopie aud) 
in den Halbtönen reproduftionsfähig für den Hochdrud gemacht. 
So fann eine auf glattem Papier in Umrißlinien angefertigte 
Beihnung leicht mit reproduftionsfähigen Halbtönen verjehen 
werden. Ein Beilpiel liefert, außer vielen Illuſtrationen von 
Wigblättern 2c. die Nelieffarte der Schweiz von Erell & Füßli, 
die jogenannte „Volkskarte“. Alle genannten Halbtonzerlegungen 
werden bei Anfertigung von Jlluftrationen für den Buchdrud, 
illuftrirten Fournalen ꝛc. in der mannigfachiten Weije benußt, 
doch jtehen Ddiejelben dem Holzichnitte an Kraft und Klarheit 
bedeutend nad, ja, es ift vielfach geradezu unverantwortlich, 
welher Schund von Abbildungen im Autotypie-Berfahren ge 
liefert wird; meiltens tragen jchlechter Drud und ungeeignetes 
Papier die Schuld daran. 


(428) 


22 





Die Verwerthung der Photographie beim Flachdrud:BVer: 
fahren ijt befonder8 mannigfaltig. Beim Flahdrude wurde in 
erjter Linie die Lithographie genannt. Zur Herftellung von 
„Photolithographien“, jowie von „Lichtdruden“ benugt man 
ebenfall® die Eigenjchaft der lichtempfindlichen Chromgelatine, 
daß fie durch Belichtung in ihrer Löslichkeit verändert wird. 
Belichteter Chromleim wurde unlöglih in warmem Waſſer, 
während diejes die unbelichtete Chromgelatine auflöft. Wendet 
man jtatt warmen Waſſers aber kaltes an, jo löft fich die 
unbelichtete Chromgelatine in ihm zwar nicht ganz auf, aber 
fie nimmt Waſſer in fi) auf ımd „quillt” dadurd) etwas auf, 
während die belichtete Chromgelatine feine Quellung erfährt. 
Diefe „Quellung“ der Chromgelatine durh Aufnahme von 
Wafjer giebt ihr weiter die Eigenjchaft, fette Drudfarbe, welche 
beim Einwalzen an der nicht gequollenen Gelatine haftet, an 
den gequollenen Theilen abzufjtoßen. Hiermit iſt die Möglich): 
feit gegeben, direft von der belichteten Chromgelatinejchicht nad) 
ihrer Behandlung mit kaltem Waſſer und Einwalzen mit 
fetter Drudfarbe Abdrüde berzuftellen. 

Auf diefem Verfahren beruht der „Lichtdrud”, welcher 
vorzüglihe Halbtonbilder hHerzuftellen geftattet, die den direkt 
photographiſch hHergeftellten Bildern nahe kommen und daher, 
wie befaunt, namentlich als Reproduktionen von Landſchaften, 
Gebirgsanſichten und Kunſtwerken aller Art eine ungemeine 
Verbreitung gefunden haben. Die Wiedergabe der Halbtöne 
in jo vollflommener Weiſe beruht bier auf einer jehr feinen 
Körnung der Gelatinehaut, einer Runzelung ihrer Oberfläche 
entjprechend der Belichtung und nachherigen weiteren Behandlung. 
Je nad) Anwendung höherer oder niederer Temperaturgrade beim 
Trodnen ꝛc., läßt jich ein feineres oder gröberes Korn erzielen, 
wie überhaupt die Behandlung des Lichtdrudes mancherlei Modi: 
fifationen zuläßt, welche Preis und Güte der Drude bedingen. 


(424) 


23 


Diejes Verfahren ermöglicht für Abbildungen in Strich— 
manier einen direkten Umdrud auf Stein und damit eine 
Vervielfältigung auf der lithographiſchen Schnellprefie als 
„Photolithographie”, wodurch gleihmäßigere Drucde in größerer 
Auflage erzielt werden fünnen, als bei Benutzung des Druckes 
von der Gelatinejchicht ſelbſt, welche leichter verlegt wird. 
Das „Abflatjchen” auf Stein oder Zint muß unter Anwen: 
dung von einigem Drucke gejchehen, damit die Umbdrudfarbe 
haften bleibt. Hierbei werden naturgemäß die einzelnen Theile 
der Zeichnung etwas breitgequeticht, was um fo ftörender wirkt, 
je feiner die Linien, bezw. Bunfte find. Halbtonbilder mit jehr 
feinem Korn können daher nicht in jolcher Weiſe durch Umdrud 
vervielfältigt werden, dagegen eignet fich die „Bhotolithographie” 
jehr gut zur Neproduftion fräftiger Linien und Strichzeid) 
nungen, für welche fie vielfach benutzt wird. 

Auch von der Heritellung von Drudplatten durch Aetzung 
in Verbindung mit photographiicher Lichtwirfung wird beim 
Flachdrucke vielfach Gebraud) gemacht. Man benugt hierbei meijt 
als Lichtempfindliche Subitanz eine bejondere Art von Asphalt, 
welche die Eigenjchaft Hat, ihre jonftige Löslichkeit in gewifjen 
lüffigkeiten, wie 3. B. Benzol, Terpentinöl ꝛc. durch die Be: 
lihtung zu verlieren. Die mit einer dünnen Schicht ſolchen 
Iihtempfindlichen Asphalt? im Dunkeln überzogene Stein. oder 
Binkplatte wird unter einem Glaspofitiv belichtet. Die dunkle 
Zeichnung jchügt den Asphalt vor der Lichtwirfung; an den 
ihr entjprechenden Stellen bleibt derjelbe löslich; beim Be— 
Handeln mit Terpentinöl nad) der Belichtung Löjt er ſich, die Platte 
wird freigelegt an diejen Stellen, während alle anderen von 
dem durch die Lichtwirfung unlöslich gewordenen Asphalt be- 
dedt bleiben, jo daß beim Eintauchen der Platte in eine äbende 
Flüffigkeit nur die Zeichnung etwas vertieft eingegraben wird. 
Man erhält auf jolhem Wege eine ſchwach vertiefte Drudplatte 


(425) 


24 
analog der durch Steingravüre von Hand hergejtellten, welche 
ebenſo wie dieſe in der lithographiſchen Preſſe abgedrudt 
werden fann. Diejes Berfahren der Steinägung wird bejonders 
benugt in Holland, in weldem Lande die Lithographie jehr 
gepflegt und ausgebildet wurde. Im Nachbarlande Belgien 
wendet man das lithographiiche Aegverfahren in etwas modi— 
fizirter Form an, nad) dem Vorgange des franzöfiichen Kom- 
mandanten de la Nos. Statt des Steine nimmt man Bint, 
und nachdem man in gleicher Weiſe die Zeichnung in die Zink. 
platte vertieft eingeäßt hat, füllt man diefe Vertiefungen wieder 
mit Asphalt aus in der Weile, daß man die ganze Platte von 
neuem mit einer Wsphaltichicht überzieht und nach dem Be. 
lichten mit einem Stüde Holztohle abreibt. Dann bleibt der 
Asphalt nur in den einzelnen Vertiefungen haften, während 
alle übrigen Theile der Platte frei und blank werden. Wäſcht 
man fie dann nocd mit ſchwach angefäuertem Gummiwafjer ab 
und walzt jie mit Farbe ein, jo haftet dieje nur an den As— 
phalttheilen, aber nicht an der blaufen Platte. In der litho— 
graphiichen Schnellpreffe werden von jolchen reinen Flachdruck— 
platten jaubere Abdrücke erzielt. 

Ein anderes Asphalt:Berfahren, die jogenannte direkte 
Uebertragung, wird für SKartendrud im militärgeographijchen 
Snjtitute in Florenz angewandt. Bon der zu reproduzirenden 
Kartenzeihnung wird ein photographijches Negativ angefertigt 
und unter ihm eine mit einer ganz dünnen Schicht lichtempfind- 
lihen Asphalts überzogene Zinfplatte belichtet, wobei die durch 
das Negativ nicht geſchützten, alſo der Zeichnung entjprechenden 
Theile unlöslich werden. Nach dem Auswajchen mit Terpentinöl 
iſt die Drudplatte fertig, indem der zurücbleibende, der Zeichnung 
entiprechende Asphalt beim Einwalzen mit fetter Farbe dieje 
annimmt, während die freigelegten, blanfen Metallteile dies 


nit thun. Durch dieſes Verfahren werden gute Drude der 
(426) 


25 

Meptiichhlätter des italienischen Generaljtabes erzielt. Es ijt 
noch einfacher als die BZinkographie des Kommandanten de la 
Noe, da die Umformung des Negativs in ein Diapofitiv, die 
Aetzung und nochmalige Behandlung mit Asphalt bei ihm fort 
fällt. Im belgiſchen militärfartographiichen Inftitute in Brüſſel 
fertigt ein einziger gejchicter Reproduftions-Technifer nad) den 
ihm gegebenen Driginal» Zeichnungen die nöthigen Negative, 
Diapofitive ꝛc. bis zu den fertigen Drudplatten ſämtlich ganz 
allein an. Die in Italien gebräuchliche direkte Benußung eines 
abziehbaren Negativhäutchens an Stelle des Pofitivbildes auf 
Glas, wie in Belgien, gejtattet ein bejjeres Anpafjen an die 
Oberfläche der herzuftellenden Drudplatte. Das Häutchen iſt 
hygroſkopiſch und Leicht veränderlich, doc, läßt fich die richtige 
Maphaltung bei einiger Uebung und VBorficht leicht erzielen. 
Die Asphaltichicht wird jo dünn genommen, daß ſich auf der 
fertigen Drudplatte durch das Gefühl feine Erhöhungen und 
Bertiefungen unterfcheiden laffen. Die erzielten Drudrejultate 
waren fo befriedigend, daß man begonnen Hat, auch Blätter 
der neuen Karte von Stalien in 1: 100000 nad) diefem Ber: 
fahren zu vervielfältigen, während früher ausfchließlich die 
Photogalvanographie, d. h. Kupfertiefdrud, zur Herftellung diejer 
Karte benußt wurde. 

Zur Wiedergabe von Halbtonbildern eignen ſich dieje vor: 
genannten Flachdrudverfahren direft nicht, Hingegen kann die 
beim Hochdruck bejprochene Zerlegung der Halbtöne durch das 
Negverfahren ꝛc. auch naturgemäß im gejamten Gebiete des 
Flahdrudes benußt werden, gleichviel ob es ſich um Herjtellung 
von Halbtonplatten in Stein, Zink, Mejfing oder Kupfer 
handelt. Schon vor der Benugung der „Rajter” zur Ber: 
legung der Halbtöne verjah Edjtein, der Direktor des hollän- 
difchen militärgeographifchen Inſtitutes im Haag, feine Litho- 
graphiefteine mit parallelen Linien, in geringem Abjtande 

(427) 


26 


gezogen durch eine Liniirmajchine. Nach der hinreichend tiefen 
Einägung werden fie von diefem Mutterjteine auf andere Steine 
abgedrudt, je nad) dem Zwecke nur parallel oder rechtwinklig 
oder mehrfach gefreuzt. Auf einen jo vorbereiteten Stein wird 
die zu reproduzirende Zeichnung in ihren Umriſſen gebradjt 
und dann der Stein das erjte Mal geägt, wodurd) eine ſchwache 
Tonwirfung erzeugt wird. Diejenigen Stellen, welche diejen 
leihten Ton behalten jollen, werden dann „abgedeckt“, das heißt 
mit einer Schicht überzogen, welche fie gegen die folgenden 
Aetzungen ſchützt. Eine zweite Aetzung verftärkt die Tonwirkung 
an allen frei gebliebenen Stellen. Nach Abdeden derjenigen 
PBlatteutheile, für welche diefe ausreicht, erfolgt die Dritte 
Aetzung und fo fort. Auf ſolche Weile entjteht ebenfalls eine 
Halbtonplatte, bei welcher die Abjtände von einer Tonftufe zur 
anderen der Wirkung einer Aetzung entjprechen, welche aber 
ihrerjeitö wieder von verjchieden langer Dauer und damit Tiefe 
und Wirkung genommen werden fünnen. 

Edjtein hat auf ſolchem Wege jehr jchöne Drudrefultate 
erzielt, namentlich bei Anwendung mehrfacher Farbentöne, wie 
3.B. in der vielfarbigen Karte von Java, worauf wir bei 
Beiprehung der mehrfarbigen Drude noch zurüdfommen werden. 
Bei diefem Eckſteinſchen Negverfahren mit Tiefägung jpielt das 
Netzwerk als ſolches eine ganz andere Rolle, als bei der Auto- 
typie die Nafterplatte. Bei erjterem hat das Nek auf der 
Drudplatte überall gleiche Stärke und dient zum Feſthalten 
der Farbe, welche in den verjchieden tief geäßten Vertiefungen 
ungleich dic diefe ausfüllt, analog wie bei der Kupfertiefägung, 
wo die Körnung durch Einftauben und Aetzen das Netzwerk 
vertritt. In diefen beiden Fällen wird die Farbe auf der 
Platte in den verjchiedenen WBertiefungen verjchiedene Dide 
haben und daher in verfchiedener Stärfe abgedrudt. Bei der 
Autotypie Hingegen wird der Raſter ungleich ſtark abgebildet, 


(428) 


27 


je nad) der größeren oder geringeren Helligkeit im Bilde, und 
ermöglicht auf ſolche Weiſe eine Zerlegung der Halbtöne in 
ein drudbares Korn mit gleich ſtark an allen farbigen Stellen 
eingewalzter Farbe. 

Die verjchiedenen Methoden der Körnung find beim Flach: 
drucke bejonders zahlreich. 


BZujammenfajjung und Refapıtulation. 


Ueberbliden wir die verjchiedenen Reproduftionsmethoden 
noch einmal furz mit ihren Eigenthümlichkeiten, jo werden 
Kupfertiefplatten wejentlih durch drei verjchiedene Verfahren 
bergeitellt: entweder mit Hand als Stih, Radirung, Sca- 
bung ꝛc., oder durch Photogalvanographie, d. 5. Herftellung und 
galvanoplajtiiche Abformung eines der Zeichnung entjprechenden 
Chromgelatine-Reliefs, oder durch Belichtung einer mit licht: 
empfindfichem Chromleim iüberzogenen Kupferplatte unter einem 
Glaspofitiv, Auswaſchen und Tiefätzen der Platte. Dieje 
Tiefägung kann jowohl bei der nach der Belichtung in warmem 
Waller ausgewaſchenen und daher an den nicht belichteten Stellen 
freigelegten Rupferplatte geichehen, als auch bei der mit Faltem 
Wafjer behandelten Platte. Das falte Wafjer löſt dem nicht 
belichteten Chromleim zwar nicht auf, aber es dringt in ihn 
hinein und macht ihn jo, wie wir gejehen haben, aufquellen. 
Beim Behandeln mit Aetzflüſſigkeit dringt dieje dann auch ihrer: 
jeit3 in die wafjerhaltigen gequollenen Theile und äßt die unter: 
liegende Platte gleichjam durch die Chromgelatin. Schicht Hin- 
durch, entiprechend der Lichtwirkung in geringerem oder jtärferem 
Maße. 

Stih, Radirung und Photogalvanographie ermöglichen 
die feinften und jchärfiten Reproduftionen von Zeichnungen und 
Bildern in Linien und Strichmanier, bei Benutzung der Photo: 


graphie immer vorausgejeßt, daß die Originalzeichnung jehr 
(429) 


28 
fauber und rein jchwarz auf weißem Grunde ausgeführt ift. 
Hierbei kann der Maßſtab diefer zu reproduzirenden Vorlage 
etwas größer genommen werden, als der Maßſtab der Abdrüde, 
da durch die photographiiche Reduktion an Schärfe entiprechend 
gewonnen wird. Das zuläffige Maß der Verkleinerung hängt 
von der Natur der Vorlage ab. 

Radirung mit Aetzung der eingejtaubten Platte, Rauhung 
der Wlatte mit Roulette und Wiege, und Anwendung der 
Schabung, jowie namentlich auch die Photogravüre eignen fich 
vornehmlich zur Wiedergabe von Halbtonbildern mit feinem 
Korn, weniger zur Wiedergabe jcharfer Strichzeichnungen, da 
die Mebung im allgemeinen nicht die Schärfe der Linien 
liefert, wie der Stih und die Photogalvanographie, während 
durch das Körnen der Platte weiche Töne hervorgebracht 
werden. 

Der Kupfertiefdrud fteht Fünftleriich weitaus am höchiten. 
Biele der größten Künftler haben ihn eigenhändig ausgeführt 
und die jchönften NReproduftionen der Schätze unjerer Mufeen 
und Galerien werden in Kupfertiefdrudf ausgeführt.” Diejer 
Drud an fid) fann als eine Kunst bezeichnet werden, jo forg- 
fältig muß er von Hand ausgeführt werden. Dem entipricht 
die geringe Schnelligkeit der Herjtellung und die Höhe des 
Preiſes. Beide find aber wefentlich verringert worden durch 
die Zuhilfenahme der Photographie, welche den weiteren Vor— 
zug hat, originalgetrene Abbilder zu liefern, während beim 
Stid) von Hand ſtets die Perjünlichkeit des Stecher die Re 
produktion beeinflußt. Die Photogravüre hat eine große Ver— 
breitung gefunden und den Stich derart zurüdgedrängt, daß die 
Bahl der tüchtigen Kupferjtecher immer geringer wird. In den 
Scaufenftern aller Kunfthandlungen find Photogravüren nad) 
Landichaftsaufnahmen, Bildern und Kunſtwerken aller Urt in 


reicher Fülle täglich zu bewundern. 
(430) 


29 





Hodhdrudplatten für die Buchdrudprefje werden vornehmlich 
in zwei Arten Hergejtellt: einmal als Holzichnitt oder Holzftich, 
weld Ießterer auch Tonwirkungen gejtattet, oder als Zinko— 
graphie, d. 5. Zinfhochägung, ohne oder mit Halbtonzerlegung 
durch „Raſter“, Korn und Schab-Bapier, Carreaugraphie zc. 
Beim Holzichnitte beſchränkt fic die Benugung der Photographie 
wejentlich darauf, daß man die Vorzeichnung für den Stecher 
anjtatt wie früher mit der Hand nunmehr als Photogramm 
unmittelbar auf den zu bearbeitenden Holzjtod bringt, zur 
wejentlichen Erleichterung für den Kylographen. Der Holzichnitt ift 
durch die Zinkographie vielfach verdrängt worden, doc) beweifen 
die fünftleriich ſchönen Holzichnitte, 3. B. der Leipziger Jllu- 
ftrirten Zeitung, ſowie die im gleichen Verlage ericheinenden 
Meifterwerle der Holzichneidefunft und andere zur Genüge 
feine Lebensfähigkeit gegenüber allen neueren Reproduktions— 
methoden. Auch als Bucdilluftration durch die Buchdruderprefje 
jteht er immer noch weit höher, als die Zinfographie wegen der 
Klarheit und Bejtimmtheit feiner Drude. Aber er ijt ent 
fprechend theurer, als die Zinfhochägung. Bei leßterer kommt 
e3 lange nicht jo jehr darauf au, ob die zu reproduzirende 
Borlage viel oder wenig detailreich ijt, der Preis für den Quadrat: 
Dezimeter Drudplatte beträgt gleichwohl nur 10—20 Marf. 
Beim Holzjchnitte Hingegen kann der Preis mit dem Detail: 
reihthum der Vorlage auf das Zehnfache jteigen. Nimmt 
man Hinzu, daß die Heritellung des Holzjchnittes weit mehr 
Beit erfordert, als die Zinfägung, jo begreift man leicht, warum 
in all unjeren illuftrirten Journalen, Wigblättern 2c. die Zinko— 
graphie vorherrjchend geworden ijt, namentlich) auch als Auto— 
typie ꝛc. zur Wiedergabe von Halbtonbildern mit direkter Ton- 
zerlegung in drucdbares Korn, ohne daß der Stecher oder Holz: 
jchneider dieje Zerlegung von Hand bewerfitelligen muß. 

Flahdrudplatten können hergejtellt werden durc Zeichnung 


(431) 


30 


von Hand auf Stein oder Metall, im legten Falle namentlich 
Binkplatten, als Kreide- bezw. Tederzeichnung mit bejonderer 
Tinte und Kreide, oder al3 ſchwach vertiefter Stich, aljo durd) 
feine Steingravire oder auch Tiefätzung. Die Heritellung der 
Drudplatten mit Hülfe der Photographie gejchieht durch Die 
direfte Uebertragung des Bildes auf den asphaltirten Stein, 
d. h. Belichten desjelben unter einem Negativ, jo daß auf dem 
Steine ein unlösliches Asphaltbild entiteht, von welchem direkt 
gedrucdt werden kann, oder durch doppelte Uebertragung mit 
Hülfe des Chromgelatine-Papiers, indem das Bild zumächit 
auf Diejem erzeugt und von ihm auf den Stein übertragen 
wird. Ein direktes Chromgelatine-Flahdrud-Verfahren ift weiter 
der Lichtörud. Als Unterlage der lichtempfindlichen Chrom: 
gelatine dient bei ihm eine jtarfe Glasplatte, an welcher Die 
Gelatine durch eine bejondere Zwiſchenſchicht feſt haftend ge 
macht wird, um nad) der Belichtung und Behondlung mit falten 
Waſſer eine möglichjt große Zahl von Abdrüden ohne Beichädigung 
aushalten zu können. Auf einer Benugung der Einwirkung des 
Lichtes auf lichtempfindlichen Asphalt in Verbindung mit der 
Aetzung zur Herjtellung von Drudplatten beruhen die Verfahren 
des Kommandanten de la No& und des Direktor Edjtein. Bei 
erjterem wird die mit einer Asphaltichicht überzogene Zinfplatte 
unter einem Diapofitiv belichtet und gewajchen, und an den 
der Zeichnung entiprechenden freigelegten Stellen tiefgeäßt. Dann 
werden dieje Vertiefungen wieder mit Asphalt ausgefüllt und 
die übrigen Oberflächentheile der Platte blanf gerieben. Beim 
Eckſteinſchen Verfahren tritt an Stelle der Zinkplatte ein Litho- 
araphieftein, welcher in analoger Weiſe mit Asphalt behandelt 
und tiefgeäßt wird. Diefe Vertiefungen werden aber nicht 
wieder ausgefüllt, jondern e3 wird von der vertieften Zeichnung 
gedrudt, nachdem diejelbe durch Einfetten zur Aufnahme der 
Drudfarbe fähig gemacht worden ijt. Diefe Verfahren werden 


(432) 


31 


in Belgien, bezw. Holland zum Drude der Generalftabgstarte 
benugt. Um jeine Steinägung zur Wiedergabe von Halbton- 
bildern geeignet zu machen, bedruckt Eckſtein den hierzu beſtimmten 
Stein zuvor mit einem Raſternetz, welches bei der Aetzung zugleich 
mit dem Bilde im jchwach vertiefter Form übertragen wird, und 
zwar im verjchiedener Tiefe durch mehrfache Aetzung mit Aetz— 
flüffigfeiten von verjchiedenem Konzentrationsgrade und Abdeckung 
der helleren Halbtonparthien. Das Editeiniche Steinägverfahren 
bildet jomit ein Analogon zur Metalltiefägung und Hat defjen 
Bor: und Nachtheile. Das vollfommenjte Halbton- Repro: 
duftionsverfahren im Flachdrucke ift der Lichtdrud, d. h. der 
direfte Abdruck von einer Chromgelatinefchicht, welche auf einer 
itarfen Glasplatte ausgebreitet, unter einem Negativ belichtet 
und dann mit kaltem Wafjer behandelt wurde. Durch Belichten 
der Unterfläche der Gelatinefhicht durch die dicke Glasplatte 
hindurch wird der untere Theil der Schicht ganz unlöglich und 
fejt an der Glasplatte haftend gemacht, weshalb eben durchfichtiges 
Glas als Unterlags- und Drudplatte benußt wird, da es zu. 
dem den weiteren Vortheil bietet, die Entjtehung des Bildes 
durh die Lichtwirfung beobachten und verfolgen zu können. 
Der Drud von der Gelatinefchicht ſelbſt geftattet die Wieder- 
gabe der feinjten und zarteften Halbtöne, verlangt aber Vorficht 
jowie Sachkenntniß und Fertigkeit in erhöhtem Maße, wenn die 
empfindliche Schicht nicht durch den Drud raſch abgenugt und 
zerjtört werden joll, weit mehr als die viel ausgiebigere und 
daher auch billigere Photolithographie. Das direkte Lichtdruck— 
verfahren giebt das zu reproduzirende Original in thunlichiter 
Naturtreue wieder. Es eignet jich daher, zumal da die nöthige 
Auflage dort meiſt feine jehr große ift, vorzüglich auch zur 
Wiedergabe von Fakfimiledruden von Handichriften und Auto: 
graphien aller Art. So find 3. B. wichtige eigenhändige Briefe 


des Kaiſers Wilhelm I. in der Neichsdruderei in Berlin in 
(438) 


32 
vorgefchriebener Zahl durch Lichtdrud vervielfältigt worden, und 
auch das Abjchiedsjchreiben des Fürſten Bismarck an die ihm 
unterftellten Beamten bei jeinen Ausjcheiden aus dem Staats: 
dienfte wurde auf dem gleichen Wege vervielfältigt. Die nad) 
dem Belichten mit faltem Waſſer behandelte Chromgelatine 
erhält beim Trodnen in der Wärme ein „natürliches Korn 
durch Runzelung ihrer Oberfläche an den belichteten und Dadurch 
unlöslic) gewordenen Stellen. Je nach der Höhe der beim 
Trodnen benußten Temperatur wird das Korn feiner oder 
gröber; jeine Form kann durch Zuſätze zur Chromgelatine ver: 
ändert werden. Soll von der fertigen Platte gedrudt werden, 
jo muß Diejelbe vorher von neuem befeuchtet werden. Die 
Feuchtigkeit, welche die Chromgelatine je nach dem Grade der 
jtattgehabten Belichtung Hierbei in fi) aufnimmt, giebt ihrer 
Oberfläche die Eigenjchaft, weniger oder mehr Drudfarbe anzu: 
nehmen, und zwar jo genau entjprechend der voraufgegangenen 
Einwirkung des Lichte8 auf Ddiejelbe, daß die feinjten und 
zartejten Halbtöne beim Abdrude der Platte zur Geltung gelangen, 
ähnlich wie bei der Photographie ſelbſt. — Der Asphalt bejigt 
eine diefer Quellung und natürlichen Kornbildung der Chrom: 
gelatine entiprechende Eigenjchaft nicht. Das Asphaltverfahren 
eignet fich daher direft nur zur Reproduktion von Zeichnungen 
in Linien» und Stridmanier. Soll dasjelbe zur Wiedergabe 
von Halbtönen fähig gemacht werden, jo muß die Oberfläche 
der lichtempfindlichen Asphaltjchicht „künſtlich“ gefürnt werden, 
3. B. durch Benugung einer gefürnten Unterlage, wie dies bei 
Herftellung der mehrfarbigen Bhotohrombilder in Lichtdrud 
und Lithographie gejchieht u. dergl., doch bleibt der Lichtdruck 
mit Chromgelatine infolge jeines feinen Kornes dem Asphalt: 
verfahren zur Reproduktion von Halbtonbildern weit überlegen. 
Lichtdrudplatten Laffen fi) nur dann auf Stein oder Metall 


umdruden, wenn ihr Korn durch entiprechende Behandlung hin- 
(434) 


33 


reichend grob geſtaltet wird, beſſer auf künſtlich vorher gekörnte 
Platten, da auf dieſen das umgedruckte Lichtdruckkorn weniger 
leicht zuſammenfließt, als auf glatten Platten oder Steinen. 
Eine ſehr große Rolle ſpielt beim Flachdruckverfahren der 
„Umdruck.“ Alle in Autographie mit entſprechender Tinte aus— 
geführten Schriftſtücke oder Zeichnungen können durch direkten 
Umdruck auf Stein: oder Zinkplatten in der lithographiſchen 
Prefje weiter vervielfältigt werden. Fertige Tiefdrudplatten 
lajjen fich vermittelft Umdrudpapiers ebenfalld auf Stein. oder 
Binkplatten übertragen und als Flachdrucke dann rajcher in 
größerer Zahl vervielfältigen. 

Die Vereinigung von Letternjchrift mit Lithographie durch 
Umdrud berjelben auf Stein wurde bereit3 erwähnt, ebenjo 
der Umdrud von Stein auf Zinf zur Hochätung für die 
Benugung der Buchdrudprejie. Alle für die Metallhochätzung 
tauglichen Halbtonzerlegungen, Net: und Rajterverfahren, Zeich— 
nung auf Korn- und Schabpapier, Earreaugraphie ꝛc. find auch 
beim Flachdrucke verwendbar. 

Die ausgedehntejte Verwendung findet das Flachorud: 
verfahren zur Heritellung mehrfarbiger Abbildungen, von 
denen jeither noch nicht geiprochen wurde. 


Mehrfarbige Drude. 


Mehrfarbige Drude verlangen im allgemeinen jo viel ein 
zelne Drudplatten, wie fie verjchiedene Farben enthalten jollen. 
Denkt man fich in einer farbigen Vorlage alle verjchiedenen 
Farben mit Umrifjen umzogen und dieſe Konturen für Die 
einzelnen Farben auf bejondere Drudplatten gebradt, jo wird 
man die ihnen zufommenden Flächenſtücke nach entjprechender 
Borbereitung mit den betreffenden ‘yarben einwalzen und eine 
nad) der andern auf dasſelbe Blatt abdruden können, wobei 


dann forgfältig darauf zu achten ift, daß beim Zujammendrude 
Sammlung. R. 3. XIII. 300. 3 (435) 


34 


alle Konturen mit ihren Farben genau Diejelbe gegemjeitige 
Lage erhalten, welche jie im Originale haben, d. 5. genau wieder 
zujammenpafjen. Dieſes „Anpaſſen“ der einzelnen Farben: 
drude verurjacht bei den verfchiedenen Drudmethoden ungleiche 
Schwierigkeiten. Sehr jchwer zu erreichen ift e8 beim Tiefdrud, 
welcher zum Einprejfen in die Vertiefungen auf angefeuchtetes 
und daher jtarf und rajch veränderliche® Papier ausgeführt 
werden muß. Vielfarbige Kupfertiefdrude werden daher weniger 
durd) Zujammendruden von verjchiedenen Platten hergeftellt, 
ſondern entiweder von einer und derjelben Platte gleich mehrfarbig 
abgedrudt, oder fie werden vermittelt Handfolorit mit den 
verfchiedenen Farben angelegt. Im eriteren Falle müſſen natur: 
gemäß vor jedem Abdrude alle Farben in ihrer richtigen gegen: 
jeitigen Lage auf die eine Platte gebracht werden, was Gefchic 
und Zeit erfordert. Dem gegenüber gejchieht das Koloriren 
eines vielfarbigen Unterdrudes, welcher zugleich die Konturen 
der verjchiedenen Farben Liefert, von Hand mit Hülfe von 
Schablonen bei einiger Hebung leicht und raſch. Es wird meift 
von Mädchen und Frauen mit vielem Geſchick ausgeführt, jo 
bei 3. Verthes in Gotha für feine jchönen Kupfertichkarten, 
ferner beim preußijchen Generalftab (wo die Koloriftinnen den 
Beinamen die „Sräfinnen“ jich erworben Haben) für die in 
Kupferdrud hergejtellte Karte des Deutſchen Reiches in 1: 100000, 
u.j.w. Bei SKupferdrudfarten mit jchwarzer Situation und 
brauner Bergichraffur, welch letztere nicht durch Handkolorit 
hergejtellt werden fann, muß von zwei entiprechenden Farben— 
platten gedrudt werden. Diejer Zujammendrud erfordert große 
Vorſicht und muß unmittelbar hintereinander auf jedes Blatt 
ausgeführt werden. So ftehen beim Drude der jchönen Karte 
von Deutichland in 1:500000, welche ebenfalld von 3. Perthes 
in Gotha bergejtellt worden ijt, die zwei Kupferdrudprefjen 


unmittelbar neben einander und jedes mit dem Schwarzdrude 
(486) 


* 
— 


verſehene Blatt wandert von dieſer Preſſe ſofort zur anderen, 
um den Braundruck zu erhalten, ehe er ſich verändert. 

In analoger Weije geichieht der Kupfertiefdrudf dreifarbiger 
Kurvenfarten — Situation jchwarz, Gewäſſer blau, Kurven 
braun —, welcher in Deutjchland namentlid von H. Petters 
in Hildburghaujen gepflegt und vorzüglich ausgeführt wird. 
Petters bearbeitet nicht nur viele Blätter der deutichen Reichs» 
farte in 1: 100000 und die Meßtifchblätter in 1:25000 von 
Baden und Württemberg, die neue Braunjchweigische Forft- und 
Landeskarte in 1: 10000 ꝛc., jondern auch die neue vom preußi— 
ſchen Generaljtabe herausgegebene Ueberſichtskarte des Deutjchen 
Reiches in 1:200000 in dreifarbigem Kupferdruf mit Wald: 
folorit, und außerdem verjchiedene Karten, mit „Reliefabtönung“ 
und durch dieje hervorgebrachter unmittelbar plaftiicher Wirkung. 

Da bei dem Tiefdrude die Drudfarbe je nach dem Grade 
der Vertiefungen in diderer oder ſchwächerer Schicht dieſe aus» 
füllt und entiprechend auf das Papier übertragen wird, jo fünnen 
ftärfere und jchwächere Farbentöne und Farbennüancen durd 
flachere vder jtärfere Vertiefung erzielt werden, worauf bereits 
früher Hingewiejen wurde. 

Auf jolhe Weile und in Berbindung mit der Körnung, 
fowie einer gejchieten Nacharbeitung von Hand zum Ausgleich 
der Härten, Wermitteln der Uebergänge, Aufhellen zu tiefer 
Schatten, ſtärkeres Marfiren wichtiger Linien ꝛc. wird auch der 
mehrfarbige Kupfertieforud in der Hand eines gejchicten 
Neproduftionstechnifer® zu eimem jehr hohen Anforderungen 
genügenden Bervielfältigungsverfahren, welches namentlich für 
die Kartographie von der größten Bedeutung ijt. 

Vielfach werden Tiefdrudplatten auf Stein umgedrudt und 
dann mit den weiteren Farben durch Lithographiichen Flachdruck 
verjehen.. Auf folhem Wege wird z. B. die vorhin erwähnte, 
in Kupfer geftochene Karte Deutjchlands in 1: 500000 geologiſch 


3* (437) 


36 





folorirt. Der Flachdruck erfordert eine weit geringere An- 
feuchtung des Papiers, als der Tiefdrud, und ift daher viel 
leichter maßhaltig auszuführen. Zudem kann nicht nur der 
Drud, jondern auch das Anpafjen der einzelnen Farbfteine, die 
fogenannte Punktirung, mechaniſch vollzogen und daher weit 
raſcher vollendet werden. Auch der mehrfarbige Lichtdrud hat 
große Verbreitung gefunden, jowohl zur Reproduktion von 
mehrfarbigen Kunftwerfen, wie 3. B. für die amtlichen Bubli- 
fationen der Königlichen Nationalgalerie in Berlin, veranjtaltet 
von der Vereinigung von Kunjtfreunden ebendafelbit, ſowie in 
Berbindung mit der Lithographie zur Anfertigung von farbigen 
Naturanfichten ꝛc. und von Reklamebildern und mehrfarbigen 
Plakaten aller Art. Der Unterdrud wird meift durch Lichtdrud 
bergejtellt, da8 Kolorit durch „Chromolithographie”. „WUquarell- 
farbendrud”, „Delfarbendrud” ꝛc. find Farbenlichtdrucke oder 
Chromolithographien, im Charakter der Aquarelle, Delbilder zc. 
gehalten. In Reklamebildern leiſtet Frankreich weit mehr als 
andere Länder, weil hervorragende Künstler es nicht verjchmähen, 
die Vorlagen zu liefern. Doc finden diefelben auch bei ung 
mehr und mehr Beachtung. 

Mehrfarbiger Hochdruck wird mit Holzjchnitt ſowohl wie in 
Binfographie ausgeführt, eriterer 3. B. von Bong in Berlin 
zur Sluftration feiner Zeitjchriften „Moderne Kunft“ und „Zur 
guten Stunde”, Ießteres vielfah al® mehrfarbige „Autotypie“ 
und „Dreifarbendrud”. 

Da man die verjchiedenartigjten Farbennüancen durch Mifchen 
der drei Grundfarben Roth, Gelb und Blau hervorbringen kann, 
jo war man bemüht, dasfelbe auch durch Zuſammen-, bezw. 
Uebereinanderdruden diejer drei Farben zu erreichen. Eckſtein 
erzielte, wie wir gejehen haben, verjchiedene Tonſtufen einer 
Farbe dadurch, daß er die einzelnen Theile eines mit Raſter 


verjehenen Steine® mehr oder weniger zahlreichen Wegungen 
(438) 


37 


ausjegte. Indem er fich nun drei Farbiteine für die drei 
Grundfarben Roth, Gelb und Blau herjtellte, jedem derjelben 
durch verjchieden lange Aetzung die erforderlichen Tonftufen gab 
und alle drei dann zufammen und übereinander drudte, erreichte 
er eine vieljeitige und prächtige Farbenwirkung, welche man an 
den vielfarbigen Karten der holländijchen Kolonien bewundern 
fann. Die drei Farbenplatten für den fogenannten „Natur: 
farbendrud“ auf photographiſch mechaniſchem Wege berzuitellen, 
ift man in neuerer Zeif eifrig bemüht, ſowohl für das Flach— 
drud» wie für das Hocdrudverfahren. Man macht dazu von 
dem farbigen Originale drei getrennte Aufnahmen durd) drei 
farbige Gläſer, jogenannte Farbenfilter, die eine durch ein rothes, 
die andere durch ein gelbes, die dritte durch ein blaues Glas. 
Wenn das rothe Glas nur rothes Licht durchläßt, jo wirft auch 
nur der rothe Theil des Bildes auf die photographiiche Platte, 
und ebenjo wirft bei den beiden anderen Aufnahmen nur der 
gelbe und blaue Theil, bezw. man benußt die drei Komplementar- 
farben, wenn die vorgenannten Farben bei der Aufnahme des 
Negativg nicht zur Geltung kommen jolen. Man erhält 
jomit durch diefe Zerlegung drei photographifche Abbildungen, 
von denen jede einzelne nur den in ihrer Farbe vorhandenen 
Theil des Gejfamtbildes enthält und die dann entjprechend weiter 
benußt werden fünnen, um drei Lichtdrudplatten, drei Autotypie- 
platten ꝛc. nach ihnen herzujtellen für die drei einzelnen Farben. 
Der Zufammendrud der drei Farbenplatten giebt dann eine 
dem mehrfarbigen Originale entjprechende farbige Reproduktion 
doc mit dem fchwer vollftändig zu bejeitigenden Unterjchiede 
daß die drei Drudfarben Roth, Gelb und Blau da, wo fie über: 
einanderfallen, nicht diejenige Farbennüance geben, welche ihre 
Miſchung liefert, da ja die eine die andere bededt und die 
Farbenfilter nicht der angenommenen Theorie volljtändig ent- 


iprechend wirken. Die Praxis entipricht aus dieſem Grunde 
(439) 


38 


noch nicht volljtändig der Theorie, daß ſich aus roth, gelb und 
blau alle Farbentöne zufammenjegen Lafjen, und werden in’, den 
meilten Fällen mehr als drei Farbenplatten benugt. Zur Repro— 
duftion mehrfarbiger Originale oft ein Dutzend und mehr. 


Verwendung der Reproduftiongmethoden 

in der Kartographie. 

Alle vorjtehend bejprochenen Drud- und VBervielfältigungs: 
methoden werden in der Kartographie verwendet, die einen mehr, 
die anderen weniger. 

Die Karten der Heimathskunde, an welchen das Kind feine 
erjten geographijchen Studien macht, find meift in der Bud). 
druderprejje von Zinkhochätzungen abgedrudt, um  Ddiejelben 
möglichjt zahlreich und billig beritellen zu können. Der große 
Andreeiche Atlas, welcher wegen feiner Güte bei nicht zu hohem 
Preiſe eine jo ausgedehnte Verbreitung gefunden Hat, ijt im 
Lithographie hergeftellt, d. h. Steinftich mit entjprechenden Farben. 
jteinen. Die jchönen Karten des Stielerjchen Atlas, welche wohl 
unübertroffen daftehen, find Kupfertiefdrud, Stich mit Farben— 
folorit von Hand. 

Für die Vervielfältigung von Karten fommt bei der Aus: 
wahl des anzumwendenden Drudverfahrens vornehmlich noch eine 
wichtige Eigenjchaft der Drudplatten in Betracht, welche font 
im allgemeinen weniger ſtark berüdjichtigt zu werden braucht 
und jeither nur furz erwähnt wurde, das ijt ihre Korreftur- 
fähigkeit. Wenn ein Kunftwerf reproduzirt und wohl gelungen 
fertig vorliegt, jo verlangt Niemand eine jpätere Aenderung der 
Drudplatte. Wehnlich bei der Wiedergabe von Landjchaften, 
Gebirgsanſichten zc., ſei es durch Photogravüre, Lichtdrud, 
Chromolithographie, Autotypie u. ſ. w. Ganz anders aber liegt 
dies bei der Starte eines volkreichen Landes, einer verfehrsreichen 


Stadt, eines Induftriebezirkes u. dergl. Neubauten von Häujern, 
(440) 


39 


Fabriken und industriellen Werfen, Anlage von Straßen, Feld— 
wegen, Eijenbahnen und Kanälen, Flußkorrektionen, Landes— 
verbejjerungen, Ausrodungen u. ſ. w, kurz Aenderungen aller 
Art können das Bild einer Gegend in kurzer Zeit dermaßen 
umgeſtalten, daß die von ihr angefertigte Karte unrichtig und 
unbrauchbar wird. Meiſt iſt aber eine richtige Karte um ſo 
erwünſchter und wichtiger, je mehr und je raſchere Veränderungen 
in der von ihr dargeſtellten Gegend vorkommen, d. h. je mehr 
Leben und Entwickelung vorhanden ſind. Es erſcheint daher 
unmittelbar einleuchtend, daß für den Kartendruck diejenigen 
Druckplatten die vortheilhafteſten find, welche die größte Korrektur— 
fähigkeit bejigen, in die alfo ohne Schwierigkeit und ohne die 
Platten zu verjchlechtern, alle Veränderungen nachgetragen werden 
fünnen, um die Karten jeweil® „auf dem Laufenden“, d.h. 
richtig zu erhalten. 

Das Berhalten der verichiedenen Drudplatten diejen An: 
forderungen gegenüber ift aber ein jehr ungleiche. Allen 
Anforderungen der Korrekturfähigfeit entiprechen nur die Tiefdrud- 
fupferplatten. Die durch Stich, Gravüre ꝛc. in den Platten 
bervorgebrachten Bertiefungen fünnen durch Aufhämmern von 
der Rückſeite her befeitigt, diefe Stellen jo geebnet und dann 
neu geftochen werden oder e3 fünnen Stüde ausgejtochen und 
neu eingejegt werden, wobei aud) von der Galvanoplaſtik vor» 
theilhaft Gebrauch gemacht werden kann. Die Korrefturfähig- 
feit dieſer Kupferdruckplatten iſt daher geradezu unbegrenzt, 
gleichviel ob es fich um Reproduktion von Zeichnungen in Strid)- 
manier oder mit Halbtönen handelt. 

Weit bejchränfter ijt die Korrekturfähigfeit der Lithographie: 
fteine. Um die Zeichnung von einer bejtimmten Stelle der 
Platte zu bejeitigen, muß dieje dort abgejchliffen werden, wobei 
eine leichte Vertiefung entſteht. Wiederholt man nun ein jolches 


Korrekturverfahren zu oft, jo werden die durch mehrfaches Ab: 
(441) 


40 





Ichleifen verurjachten Vertiefungen und Unebenheiten der Platte 
jo groß, daß die von ihr gewonnenen Abdrüde unjcharf werden. 
Bei gejchidter und vorfichtiger Behandlung reicht aber immerhin 
die Korrefturfähigfeit des Steines bis zu einer mäßigen Grenze 
der Wiederholung aus. 

Wenig, bezw. jo gut wie gar feine Korrefturfähigfeit 
befigen die Hochdrudplatten, namentlich Aetzungen für Halbton- 
bilder. Bei leßteren find Korrekturen jo gut wie gänzlich aus- 
geichloffen, während folche beim Holzichnitte und der Zinko— 
graphie in Strichmanier große Schwierigkeiten und Koſten ver» 
urjachen. 

Die Korrefturfähigfeit der Drudplatten wächjt demnach im 
allgemeinen mit dem Preiſe und der Güte der Druckmethode. 
Sie iſt beim Tiefdrud am größten, beim Hochdrud am geringjten. 
Wird erjterer nun in der Kartographie allein angewendet? Wie 
wir bereit gejehen haben, durchaus nicht! Wie der Eine gute 
und dauerhafte Anfchaffungen liebt, der Andere es vorzieht, 
häufiger eine thunlichjt geringe Ausgabe zu machen, und ber 
Dritte einen Mittelweg einjchlägt, jo auch Hier. 

Das reiche und fonjervative England ftellt alle feine Karten. 
werfe, Generaljtabs-, Grafichafts: und Katafterfarten nur durch 
Kupfertiefdrud her; das leicht bewegliche Belgien fat aus— 
Ihlieglih durch Zinfägung nach franzöfishem Mufter, während 
das benachbarte Holland der Lithographie den Vorzug giebt. 
Die deutjche Reichsfarte in 1: 100000 wird in Kupfer geftochen, 
zum Theil durch Photogalvanographie hergeſtellt, ebenſo die 
vom preußijchen Generaljtabe übernommene Reimannſche Karte 
von Mitteleuropa in 1:200000, jowie die neue Ueberfichts- 
farte des Deutjchen Reiches mit Höhenfurven und Farben, 
ebenfalls im Maßſtabe 1:200000. Die preußifchen und 
heifiichen Meßtifchblätter in 1:25000 find in Steindrud 
gefertigt, Diejenigen der ſüddeutſchen Staaten in Kupfer: 


(442) 


41 
tiefdrud. US es fich in den jechziger Jahren für Dejter: 
reich darum handelte, möglichft rajch eine neue topographifche 
Landeskarte herzustellen, wurde als Vervielfältigungsmethode die 
Photogalvanographie gewählt, weil es leichter war, die erforder: 
lihe große Zahl fähiger Kartographen zur Anfertigung der 
zeichneriichen Vorlagen auszubilden, als eine für den Stid in 
gleicher Weile ausreichende Anzahl tüchtiger SKupferjtecher zu 
erhalten. Die im Wiener militärgeographijchen Inftitute zur 
Neproduktion der neuen Landesfarte in 1: 75000 ausgebildete 
Vervielfältigungsmethode der Photogalvanographie fand jpäter 
auch Anwendung in mehreren anderen Staaten. In Italien 
wurde fie modifizirt durch den General Avet, welcher fein Ber: 
fahren der italienischen Regierung abtrat. Dieſe benußte es 
zum Drucke der neuen Karte von Italien im Maßſtabe 1:.100 000, 
während zur Drudlegung der Mebtijchlätter die vereinfachte 
Methode der Vhotozinfographie mit Hülfe des direkten Asphalt: 
verfahrens dort verwandt wird. Die erjte topographijche Landes: 
farte, die unter Benugung eines feiten Rahmens von Dreieds- 
punften auf wirklichen Vermeſſungen und einheitlicher Grundlage 
hergeitellt wurde, war die Karte von Frankreich in 1: 80000. 
Sie wurde, wie alle älteren grundlegenden Kartenwerfe in 
Kupfer gejtochen, während zu den neueren franzöfijchen Karten- 
reproduftionen auch Lithographie und Photozinkographie ꝛc. 
verwandt werden. Eine hervorragende Stellung in Bezug auf 
topographiiche Zandesfartographie nimmt die Schweiz ein. Als 
würdiges Seitenftüd zur Generaljtabsfarte von Frankreich be« 
arbeitete dort der General Dufour in der erſten Hälfte des 
Sahrhunderts die nach ihm benannte topographiiche Karte der 
Schweiz in 1: 100000 mit „ichiefer“ Beleuchtung und benußte 
zur Reproduktion den Kupferjtich, während zur Vervielfältigung 
der dortigen Meftiichaufnahmen zum Theil auch Steindrud 


verwendet wird, und zwar rationellerweije für das Hochgebirge, 
(443) 


42 


wo die Veränderungen nicht jo rajch vor fich gehen, wie in 
den übrigen weniger 'gebirgigen Theilen de3 Landes. Das 
ſchweizeriſche topographiiche Bureau verhielt ſich unter Sieg: 
fried8 Leitung längere Zeit jehr zurüdhaltend gegenüber den 
neueren Methoden der Startenvervielfältigung mit Verwerthung 
der Photographie; in neuerer Zeit wird aber auch von Ddiejen 
auf dem Bureau jelbjt Gebrauch gemacht. Die gegenwärtig mit 
Borliebe behandelten jogenannten „Relieffarten”, d. h. Kurven: 
-farten mit Reliefabtönung, um deren Ausbildung ſich unftreitig 
die Schweizer Sartographen das größte Verdienſt erworben 
haben, werden dort durch Kreidezeichnung auf Stein hergeftellt 
und lithographiſch von Kümmerli in Bern vervielfältigt. Petters 
in Hildburghaufen verwendet zu jeinen Abtönungen Kupferdrud 
und Roulette, welches feinere® Korn und weichere Uebergänge 
liefert. So z. B. für badische Schwarzwaldfarten, Braun: 
ſchweigiſche Harzkarten ꝛc. Orell und Füßli endlich, um auch 
ein Beiſpiel der Verwendung von abgetönten Hochdruckkarten zu 
kennen, benutzt bei Herſtellung ſeiner „Volkskarte“ der Schweiz 
zur Wiedergabe der Halbtöne die Autotypie, d. h. Zinkographie 
mit Herſtellung der Halbtöne mittelſt Carreaugraphie. 

Aus dieſer kurzen Aufzählung der in verſchiedenen Ländern 
zum Kartendruck benutzten Reproduktionsmethoden dürfte hin— 
reichend anſchaulich geworden ſein, daß die Frage: welches iſt 
hierzu das „beſte“ Vervielfältigungsverfahren? nur ſchwer mit 
genügender Vollſtändigkeit zu beantworten iſt. Im allgemeinen 
werden die neuen und zum Theil ſehr billigen Reproduftions- 
methoden mit Hilfe der Photographie vortheilhaft überall da 
Anwendung finden, wo es jich um rajche Herjtellung von Karten- 
werfen für geringere Zeitdauer und fpezielle Zwecke Handelt, 
gleichviel, ob diejelben militärischer, ſtatiſtiſcher, fommerzieller, 
technifcher oder allgemeiner Natur find. Bei grundlegenden 


Kartenwerfen jedoch, welche auf Generationen hinaus eine feite 
(444) 


43 


Grundlage für die Topographie des betreffenden Landes bilden 
jollen, wird der Kupfertiefdrud den Vorzug verdienen. Stich) 
und Photogalvanographie liefern nahezu gleichwerthige NRejultate. 
Stehen tüchtige Zeichner zur Anfertigung der Originalvorlagen 
zur Berfügung, jo führt die Photogalvanographie rafcher und 
billiger zum Ziele, aber nur bei einem großen Staatswejen 
fünnen mit Vortheil eigene Einrichtungen für ſolche Zwecke 
getroffen werden. Durch Herjtellung einer grundlegenden topo» 
graphiichen Landeskarte größeren Maßjtabes in Kupfertiefdrud 
wird eine Originalvorlage gejchaffen, welche durchaus korrektur— 
fähig iſt und ihrerjeit® auf billigerem photographiſch-mechaniſchem 
Wege weiter vervielfältigt werden fann in gleichem oder in 
Heinerem Maßſtabe, für die vielerlei jpeziellen Zivede der Staats» 
verwaltung, der angewandten Wifjenjchaft, der Touriftif ꝛc. 
Uber fo jcheinbar einfach liegen bei Beantwortung der 
Trage nad) der beiten Reproduftionsmethode die VBerhältnifje in 
der Regel nicht. Meiſt muß auf vorhandenem älterem Materiale 
und im Anjchluffe an diejes weiter gearbeitet werden. Es wird 
z. B. heute fein Kartograph darüber im Zweifel jein, ob der 
dreifarbige Kupferdrud (Situation jchwarz, Höhenkurven braun 
und Gewäffer blau) bei Reproduktion der Meßtifchlätter, wie 
ihn nad dem Vorgange der Schweiz in neuerer Zeit die ſüd— 
deutjchen Staaten verwenden, bejjere NRejultate liefert, als die 
von Preußen benugte einfarbige Lithographie. Aber Preußen 
hat die Bearbeitung und Herausgabe feiner Mektijchblätter 
lange vor den großen Kriegen begonnen. Die Militärfonvention 
nach denjelben brachte neue Arbeit Hinzu derart, daß ber 
preußifche Generalftab jegt die Aufnahme und Drudlegung von 
mehreren Taujend Meßtiſchblättern zu bejorgen hat. Im Beginn des 
nächiten Jahrhunderts werden vorausfichtlich alle dieſe Blätter fertig: 
geitellt jein. Dann wird es ſich darum Handeln, zu entjcheiden, 


wie man weiter vorgehen will, während bis dahin das einmal 
(445) 


44 


eingejchlagene Verfahren nicht wohl anders gejtaltet werden konnte 
im Intereſſe der einheitlichen Durchführung des ganzen Karten: 
werkes. 

Während Preußen die Meßtiſchaufnahmen noch nicht ganz 
zum Abſchluß gebracht hat, iſt Belgien bereits mit der dritten 
Ausgabe jeiner Meßtijchblätter in 1: 20000 vorgegangen. Die 
Drudlegung gejchieht, wie früher erwähnt, auf photographiſch— 
mechanishem Wege. Es wurden nad) den in den fünfziger 
Jahren gemachten Aufnahmen Originalzeichnungen im Maßftabe 
1:10000 angefertigt und dieſe dann zur Vervielfältigung 
photographiich auf die Hälfte des Maßſtabes reduzirt. Die 
Reproduktionsmethode jelbjt ift jehr einfach und billig, geftattet 
aber feine Korrekturen. Dieje müffen in den Originalzeichnungen 
vorgenommen werden. Da Situation, Kurven und Gewäſſer 
auf den Driginalvorlagen zufammen gezeichnet find, jo können 
fie bei der Drudlegung nicht wohl getrennt, ſondern müfjen alle 
in einer und derjelben Farbe, z. B. ſchwarz, gedrucdt werden. 
Deutlichkeit und Klarheit der Karte werden aber wejentlich 
gehoben bei Verwendung von drei Farben, d. h. jchwarz für 
die Situation, braun für die Höhenkurven und blau für die 
Gewäfjer, wie bereit3 erwähnt wurde. Dem WUebelftande, alle 
drei nur in einer Farbe druden zu können, juchte man bei den 
belgischen Karten durch Aufdruden weiterer Farben für Wald, 
Wieſe, Häufer, Wege zc. jo gut wie möglich abzuhelfen. Bei 
der erjten Ausgabe der Meßtijchblätter drudte man die ganze 
Kartenunterlage jchwarz, bei der zweiten verfuchte man es mit 
braun, bei der dritten fehrte man wieder zum Schwarz zurüd. 
Diefe dritte Auflage ift weſentlich bejjer als ihre beiden Vor— 
gängerinnen, fann aber naturgemäß die Klarheit der Terrain: 
anſchauung ꝛc. nicht erreichen, welche die Verwendung der drei 
verjchiedenen Farben für Situation, Höhenkurven und Gewäfjer 


ermöglicht. Wenn einmal die Driginalzeichnungen, welche mehr 
(446) 


45 


und mehr vergilben und leiden, unbrauchbar geworden jind, 
wird man vorausfichtlid) ander verfahren. Derartige Bei. 
jpiele, daß der Stand und die Weiterführung der topographiichen 
Karten eine® Landes durch frühere Arbeiten und vorhandenes 
Material wejentlich bedingt und beeinflußt werden, ließen fich 
in größerer Zahl leicht anführen, ja, e8 wird nur fehr jelten 
ein Staat in die Lage fommen, jeine Kartographie ohne der: 
artige Einflüffe und Rückſichten von Grund auf neu gejtalten 
zu können. Daher der in der LZandesfartographie genugjam 
befannte Ausſpruch: „Wie ganz anders würden wir verfahren, 
wenn wir von vorn zu beginnen hätten!” Diejer Umstand iſt bei 
einer vergleichenden Beurtheilung der Leiftungen verjchiedener 
Länder wohl zu berüdfichtigen, zugleich aucd) in dem Sinne, daß 
unfere Nachfolger den gegenwärtigen Leiftungen gegenüber das 
gleihe Recht der Kritik für fih in Anspruch nehmen dürfen 
und werden, zu welchem gegenwärtig wir uns berechtigt glauben. 

Zwei Forderungen find es, welche bier in erjter Linie die 
Wahl und Anwendung des richtigen Reproduftionsverfahreng 
und damit den Erfolg wejentlich bedingen. Einmal hinreichende 
Vertrautheit mit den verjchiedenen Reproduktionsmethoden, den 
Leitungen anderer Länder auf dem Gejamtgebiete der Karto— 
graphie und Berückſichtigung der jteigenden Anſprüche der Zeit, 
bezw. Zukunft, fodann zweitens die Gewährung der nothiwendigen 
Geldmittel von maßgebender Stelle. Letzteres wird um jo 
weniger jchwierig zu erreichen fein, je weiter die Kenntniß von 
den Wejen und der Bedeutung guter topographijcher Karten für 
den Wohlftand und die Kultur eines Landes in ihm vor: 
geichritten it. Die Entwidelung der gejamten Landesfarto, 
graphie hat in unferem Jahrhundert größere Fortſchritte ge: 
macht, als in allen früheren Jahrhunderten zujammengenommen. 
Das folgende Jahrhundert wird, der fich rajch mehrenden Be- 


völferung und der hierdurch gebotenen größeren Yusnußung des 
(447) 





46 


Grundes und Bodens entiprechend, weit höhere Anforderungen 
an diejelbe jtellen. 


Anmerkungen. 


! Berjuhe mit Schnellprefien für Kupfertieforud find bisher nur 
vereinzelt und ohne durchgreifenden Erfolg geblieben. 

* Beim Betragpten einer Autotypie mit der Lupe fieht man direkt, 
daß die helleren Stellen im Bilde ein feineres Korn haben al3 die dunfeln. 

’ Namentlich 3. B. in der Neichsdruderei in Berlin unter Leitung 
von Profeſſor Roeie. 


(448) 


” 1. 


Die Körperformen 
der Fiſche und Serſäugethiere. 


II. 
Die Größenverhältniſſe 
wilden Männden und Weibhen im Thierreiche. 
J Von 


Dr. med. Otto Thilo 
in Riga. 


Hamburg. 


Verlaganftalt und Druckerei A.G. (vormals I. F. Richter), 


Königlihe Hofbuchdruderei. 
1898. 


Das Recht der Ueberjegung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 


Drud der Verlagdanftalt und Druderri Actien-Gefellichaft 
(vormal® I. F. Rirhter) in Hamburg. 


J. 
Die Körperformen der fiſche und Serfängethiere. 


Beim Anblick der beigefügten Tafel wird wohl unwill: 
fürlich jo mancher Leſer ausrufen: Wozu al’ dieje ſeltſamen 
Körperformen? Bringen fie wirklich ihren Trägern einen Nußen? 
Sollte z. B. jener Teleftopfiich (Fig. 7) mit den großen Glop- 
augen und dem „Schleierjchwanze“ beſſer jehen oder beſſer 
ſchwimmen, al® andere Filche? 

Wir willen, daß der Telejtopfiic ein Abkömmling unferes 
Goldfiſches iſt. Wir Haben in Aquarien es genugjam beob- 
achtet, daß er ſchlecht ſchwimmt. Die Frage nad) dem Nupen 
feiner Mißbildungen gehört daher zu den unbequemen. Wir 
find von Jugend auf daran gewöhnt, alles, was wir in der 
Natur wahrnehmen, als ein Mujter des Zwedmäßigen an- 
zujehen. Schon Karl Moor jagt in feinem berühmten Monolog: 
„Es iſt joldy’ eine göttliche Harmonie in der jeelenlojen Natur,“ 
und nun jtört ſolch' ein Mißklang dieſe ganze Harmonie. 

Auch unjere Vorfahren müſſen bisweilen unter ähnlichen 
Gedanken gelitten haben; wenigften® weiſen ihre Werjuche, 
„diefen Zwieſpalt der Natur zu deuten,” darauf hin. Wir 
leſen e3 in uralten Sagen, daß vielen Thieren wegen begangener 
Mifjethaten gewifje verzerrte, unjchöne Körperformen aufgebürdet 


wurden und daß fie nun an dem befannten Fluch der böjen 
Sammlung. N. F. XII. 301, 1° (451) 


4 


That zu leiden haben. So erzählt 3. B. eine halb ver: 
flungene Sage der Xetten, daß die Schollen oder Flundern 
zu ihrem jchiefen Maul und ihren verdrehten Augen verurtheilt 
wurden, weil fie Gott läjterten.* Nach einigen Sagen der 
Araber follen die Affen, das Nashorn, das Gnu „verwunjchene“ 
Menichen fein, die wegen etwas unbejtimmter Verbrechen ihre 
verzerrten, plumpen Gejtalten das ganze Leben Hindurch müh- 
jam jchleppen müfjen. 

Alle dieſe Erklärungen erjcheinen uns allerdings etwas 
bei den Haaren herbeigezogen, und doch enthalten fie tief im 
Innerjten einen Kern von Wahrheit. Sie deuten darauf Hin, 
daß nicht alles, was wir in der Natur wahrnehmen, jtets 
einem ganz beftimmten Zwecke entjprechen fann und dab es 
auch in der Natur Gejchöpfe geben muß, die durch eine Ver: 
fettung der verjchiedenartigiten Umſtände mehr oder weniger 
günftig für das Leben ausgerüftet find. 

Abftammung und Vererbung, klimatiſche Berhältnijje, der 
Boden, auf dem die Thiere leben, die Nahrung, welche fie zu 
fih nehmen, fünnen Körperformen herbeiführen, wie fie jener 
obenerwähnte Teleſkopfiſch zeigt. Solch' ein Geſchöpf leidet 
geradezu an Mißbildungen, die ſich wie eine Krankheit von 
Geſchlecht zu Geſchlecht forterben und dem Thiere die Be— 
wegungen und das Leben in hohem Grade erſchweren. 

So werden wir denn wohl auch für all' die ſeltſamen 
Geſtalten der beiſtehenden Tafel nicht immer ganz beſtimmte 
Zwecke finden können, wohl aber wird es uns gelingen, einen 
Theil ihrer Eigenſchaften auf ihre Lebeusweiſe zurückzuführen 
und zu verjtehen. 

„Die Hälfte ift größer als das Ganze,” fagte einft ein 

* Hierauf bezieht fich der lettiiche Vers: 

„Nabak but 
Schkiba mut.“ 





5 





griechiicher Philoſoph. Auch wir müfjen ung hiermit begnügen. 
Diejer Genügjamkeit Huldigte unter anderen Gelehrten auch der 
deutjche Forſcher Ahlborn. Er verglicdy alle Schwanzflofjen der 
Fiſche miteinander und fand, daß einige jcheinbar ganz un. 
wejentliche Verſchiedenheiten derjelben von großer Bedeutung 
für ihre Art zu Schwimmen find. 

Betradhten wir die Fiſche der beijtehenden Tafel, jo fällt 
uns auf, daß bei einigen die Schwanzflofje jymmetrifch, bei anderen 
unſymmetriſch gebaut ift, d. h. bei einigen ift die obere Spihe der 
CS chmanzflofje fürzer als die untere (Fig. 1, Fliegender Fiſch), bei 
anderen iſt daS Umgekehrte der Fall (Fig. 4, Sterlet). Bei nod) 
anderen find die Spihen der Schwanzflofje gleich lang (3.B. Fig. 3, 
Goldmafrele). Ahlborn jagt nun ganz richtig: Fiſche, bei denen 
die obere Spihe der Schwanzfloffe länger ift als die untere, 
3.8. der Sterlet, leben auf dem Grunde. Bewegen fie ihre 
ichräggeftellte Echwanzflofje Hin und her, jo wird der Schwanz 
des Fiſches nach oben getrieben, der Kopf des Fiſches neigt ſich 
hierdurch zum Grunde; denn der obere längere Theil der Schwanz: 
flofie übt eine ftärkere Triebkraft aus, als der untere Fürzere. 

Gewiß wird hiergegen mancher Lejer einmwenden: auf dieje 
Art müßten ja alle Störe mit der Zeit fich ihre Köpfe am 
Grunde einrennen. Dieſes vermeiden die Störe dadurd, daß 
fie durch Bewegungen der Bruftfloffen ihren Kopf vom Boden 
abheben. Außerdem kann ich, Ahlborn ergänzend, darauf Hin 
weilen, daß viele Welſe beim Schwimmen am Grunde mit den 
großen Stacheln ihrer Bruftflofjen fi) vom Boden abjtoßen und 
daß auch die Störe ſolche Bruftftacheln befigen. Den Gegenjat 
zu den Grundfifchen (Stör u. ſ. w.) bildet der Schwalbenfijc) 
(Exocoetus volitans, Fig.1). Wir finden bei ihm die untere Spitze 
der Schwanzflofje bedeutend länger al3 die obere. Infolgedeſſen 
nähert fi) der Schwalbenfifch beim jchnellen Schwimmen immer 


mehr der Oberfläche; denn die Triebfraft der unteren längeren 
(453) 


6 


Spite ihrer Schwanzfloffe ift größer, als die Xriebfraft der 
oberen fürzeren. Hierdurch wird das Schwanzende des Fiſches 
beim Schwimmen nad) unten hin getrieben, der Kopf nach oben. 
Wird nun die Seeſchwalbe von Raubfifchen verfolgt, jo ſchwimmt 
fie immer jchneller und ſchneller. Schließlich gelangt fie mit 
jolcher Kraft an die Oberfläche, daß fie aus dem Wafjer empor 
in die Luft jchießt. Diejer plößliche Uebergang vom Waſſer in 
die Luft bedingt eine ähnliche Kraftentfaltung, wie bei einer 
Geſchützkugel, wenn fie den Lauf verläßt. Daher kann ein 
fliegender Fijch bis zu einem Halben Kilometer weit durch die 
Luft dahinjaufen, wenn er aus dem Waffer emporjchnellend 
jeine flügelartigen Bruſtfloſſen ausjpannt. Dieſe ungeheure 
Sprungweite wird allerding® nicht von allen fliegenden Fiſchen 
erreicht. Der Flughahn (Dactylopterus volitans) legt nur eine 
Strede von etwa 120 Metern zurüd. 

Ein Verwandter der Seejchwalbe, unjer Hornhecht (Esoe- 
belone) fann nody weniger große Sprünge maden. Seine 
Schwanzfloffe ift allerdings ähnlich wie bei der Seejchwalbe 
gebildet, aber ihm fehlen die flügelartigen Bruftfloffen derjelben. 
Schnellt er aud) noch jo Träftig aus dem Wajjer empor, er 
fann fi) nicht in der Luft halten. Alle jeine Flugverjuche 
verunglüden. Er fällt immer wieder glei) ins Wafjer zurüd, 
und zwar mit dem Schwanze voran. Das geben zuverläfiige 
Beobadter an. 

Uebrigend hat der Hornhecht das Fliehen auch nicht jo 
nöthig, wie die Seeſchwalbe. Er befigt in feinem jcharfen 
Schnabel eine ähnliche Waffe, wie der Schwertfilch, und kann 
ji ganz gut vertheidigen, während die Seejchwalbe den ver: 
jchiedenartigiten Verfolgungen gegenüber ſchutzlos iſt. „Bejonders 
jtarf ift fie den Angriffen der großen Goldmafrelen (Fig. 3) 
ausgejeßt. Diejer gefräßige Filch des Ozeans bewohnt wohl E 
hauptſächlich die mittleren Waſſerſchichten. Wenigſtens deutet 


454) 


7 


hierauf die Form jeiner Schwanzflofje hin. Sie ijt bei ihm, 
wie bei vielen anderen Hochjeefiichen, gegabelt (Fig. 3). 

Der Zwed dieſer Gabelform war mir bisher durchaus 
unverftändlich. Angeregt durch die Angaben Ahlborns, verfiel 
ich auf folgende Erklärung. Die Gabelform befähigt die Gold- 
mafrele in hohem Grade, ihrer Schwanzflojfe die verjchieden: 
artigjten Formen zu geben. 

Wird die obere Spite der Schwanzflofje nad) unten geneigt, 
fo entjteht eine Flofjenform, welche an den Schwalbenfiich er: 
innert (ig. 1), wird dagegen die untere Spie der Schwanz: 
floffe nad) oben gezogen, jo bildet ſich eine Flofjenform, wie 
beim Sterlet (Fig. 4). Die Goldmafrele bejigt daher infolge 
ihrer gegabelten Schwanzflofie eine große Vieljeitigfeit der Be: 
wegungen. Sie fann mit großer Gejchwindigfeit tauchen, fie 
fann aber auch ungemein jchnell zur Oberfläche des Waſſers 
fteigen. Bei ihrer großen Kraft und Ausdauer wird fie daher 
den Schwalbenfifchen oft in höchſtem Grade verderblid. Dicht 
unter der Oberfläche des Wafjerd jchwimmend, ſetzt fie ihmen 
unermüdlich nad) und rückt ihnen fchließlich jo hart auf den 
Leib, bis fie in die Luft jpringen, bier fich ficher wähnend. 


„Doch die Möwe aus den Lüften 
Schießt herunter auf das Fifchlein, 
Und den rajhen Raub im Schnabel, 
Schwingt fie fih hinauf ins Blaue.“ 


Dieje Ode an die Meeresitille von Heine giebt uns gewiß 
ein höchſt jtimmungsvolles Bild von dem jogenannten Frieden 
in der Natur, d. h. fie jchildert kurz und treffend, wie einer 
den anderen in aller Ruhe auffrißt. 

„Dieſes einförmige, trojtloje Bild verfolgt den Wanderer 


. über den weiten Erdfreis, über Land und Meer,” jo Elagt jelbjt 


der naturbegeiſterte Alerander von Humboldt und giebt uns 
(455) 


8 


daher den wohlgemeinten Rath: „Darum verjenfe, wer nad) 
geiftiger Ruhe ftrebt, den Blick in das jtille Leben der Pflanzen 
und in der heiligen Naturfraft inneres Wirken.“ _ 

Leider aber fönnen wir dieſen jtilvollen, wohlklingenden 
Nath nicht recht verwenden. Auch die Pflanzen verzehren ein- 
ander, ja es giebt jogar fleifchfreffende Pflanzeır. 

Ih kann mich daher nicht entjchließen, von der Zoologie 
auf die Botanif überzugehen, und muß jchon den geneigten 
Leſer freundlichjt bitten, mich bei meinen Beobachtungen der 
Thiere nicht zu verlafjfen. Sch verfpreche ihm auch jogleich 
einige anmuthigere Thiere vorzuführen. 

Wie anziehend ift 3. B. das Bild, welches jene Delphine 
darbieten, die einem Schiffe folgen. 

„sn einem langen und verhältnigmäßig jchmalen Buge 
geordnet, eilen die Iuftigen Reijenden durch die leicht bewegte 
See. Mit Hurtigen Sprüngen und einer Schnelligkeit, als 
gälte es ein Wettrennen, verfolgen fie ihren Weg. Ein bis 
zwei Meter weit jchnellen fi) die glänzenden Leiber in zier: 
fihem Bogen durch die Zuft, fallen fopfüber ins Waſſer und 
hießen von neuem heraus, immer dasſelbe Spiel wiederholend. 
Die Uebermüthigjten der Schar jchlagen PBurzelbäume in der 
Luft, indem fie dabei in urfomijcher Weile mit dem Schwanze 
wippen, andere lafjen fich flach auf die Seite oder auf den 
Rüden fallen, noch andere jpringen ferzengerade empor und 
tanzen, indem ſie fich drei- bi viermal mit Hülfe des Schwanzes 
vorwärts fchnellen, aufrecht ftehend über die Oberfläche dahin.” 
(Löfche.) 

Mir jcheint es, daß dieje8 Springen und Hüpfen dem 
Delphin hauptſächlich durch die eigenthümliche Stellung feiner 
Schwanzflofje ermöglicht wird. Da, foweit mir befannt, bisher 
Niemand auf diefe Bedeutung der Schwanzflofjfe des Delphing 


bingewiejen hat, jo will ich es hier verfuchen, kurz darzulegen, 
466) 


9 


wie ſie das Schwimmen des Delphins beeinfluſſen muß. Es 
iſt nämlich die Schwanzfloſſe beim Delphin ganz anders geſtellt, 
als bei den Fiſchen. 

Bekanntlich iſt die Schwanzfloſſe der Fiſche ſenkrecht zum 
Waſſerſpiegel gerichtet, während die Schwanzfloſſe des Delphins 
wagerecht, alſo parallel zum Waſſerſpiegel liegt (Fig. 2). 

Diefe mwagerehte Schwanzflofje macht es dem Delphin 
jehr bequem, ſich um eine Achje zu drehen, die man quer durch 
die Mitte feines Körpers fich gelegt denken fann, ungefähr jo, 
wie man den Bratjpieß durch einen Fiſch ftößt. Um dieje 
Achſe fich drehend, hat der Delphin es jedenfall3 jehr bequem, 
jeinen Kopf über den Wafjerjpiegel zu erheben oder unter den: 
jelben zu tauchen, jedenfalld bequemer, als die Filche mit ihrer 
jenfrecht gejtellten Schwanzflojje. 

Auch der Biber benußt ja bekanntlich feinen platten Schwanz 
zum Untertauchen. Erſt jchlägt er Elatjchend mit dem Schwarze 
aufs Waller und dann taucht er unter. 

Uebrigend gewinnt der Delphin durch die Horizontal» 
jtellung ſeiner Schwanzfloffe auch die Möglichkeit, jo zu 
ihwimmen, daß jein Kopf und Hals weit aus dem Wafjer 
bervorragen, eine Möglichkeit, die doch den Fiſchen abgeht. 

Auch zum Hüpfen über die Wafjerfläche in jchnell aufein- 
anderfolgenden Sprüngen iſt jeine Schwanzflofje befjer geeignet, 
als die der Filche. 

Wir jehen aljo aus alledem, daß der Delphin ein recht 
bewegtes Leben führt und daß „Arion, der Töne Meifter” 
jehr zu bewundern war, als er, auf dem Rüden eines Delphin 
figend, trog der lebhaften Gangart desjelben die Harfe jchlug. 

Doc ich fürchte, den Lejer jchon mehr als genügend davon 
überzeugt zu. haben, ein wie tiefes Verftändnig wir Zoologen 


. für die Berichiedenheiten der Schwanzflofjen beiten. Ich wende 


mich daher zur Betrachtung edlerer Körpertheile. 


(457) 


10 


Der riefige Rachen jenes jeltjamen Fiiches namens Me- 
fanocetus (Fig. 5) ift gewiß jchon einigen Lejern aufgefallen. 
Wozu diejer Rachen und der ungeheure Bauchjad des Fiſches 
dient, ift wohl auf den erjten Blid Kar. Immerhin könnte e3 
doch unjere Theilnahme für ihn erhöhen, wenn wir einige 
Einzelheiten über denjelben erfahren. 

Ein Melanocetus wurde in jehr bedeutenden Tiefen (2500 
Faden) von der Challenger-Erpedition gefangen. Er hatte nur eine 
Länge von etwa 12 cm und barg doch in jeinem Bauchjade einen 
zujammengerollten Fiſch (Scopellus) von nahezu 20 cm. Un: 
willfürlic fragt man: wozu diefer ungeheure Bauchſack? Andere 
Fiſche eben doch auch und jchlingen gar nicht jo fürchterlich. 
Die Lebensweife anderer Fiſche, mit ähnlichen Bauchjäden, 
giebt ung hierauf eine Antwort. 

Wir willen von diefen, daß jie fih in den Schlamm jo 
tief vergraben, daß nur ihr Maul hervorragt und einige faden- 
und fächerförmige Anhänge in der Umgebung desjelben. Mit 
diefen „Ungelorganen” fächeln fie jolange Hin und her, bis 
irgend ein Filchgimpel heranſchwimmt, jie „nah zu jehen“. 
Kaum iſt er in der Nähe, jo jchnappen fie zu, ihn verfchlingend. 

Alle dieje Fiiche find jchwerfällig und Schwimmen jchledht. 
Sie fünnen nicht, wie eine Goldmafrele, durch die Fluthen 
dahinſchießend, den flüchtigen Augenblid erhafchen und im Fluge 
genießen. Sie müſſen fozufagen warten, bis ihnen Die ge: 
bratenen Tauben ins Maul fliegen. Allzu Häufig fommt jo 
etwas nicht vor. Geichieht es aber doch ſchon einmal, jo müſſen 
fie fi) gründlich verforgen. Wir wiſſen von vielen Fiſchen, 
daß fie oft monatelang feine Nahrung zu fich nehmen. 

Jedenfalls iſt es befannt, daß alle jene Fiſche, die in 
Felsſpalten der Klippen ein Frötenartige8 Halbleben führen, 
über Magenſäcke von großer Weite und Dehnbarkeit verfügen. 


Hierher gehören die Seeteufel, auch „Angler“ genannt, 
(458) 


11 





weil ſie mit ihren lappenförmigen Anhängen andere Fiſche 
ködern. Hierher zählen jene ſcheußlichen Geſtalten des Indiſchen 
und Rothen Meeres, die, mit giftigen Floſſenſtacheln bewehrt, 
nach Art der Giftſchlangen, ſelbſt dem Menſchen den Tod 
bringen können. Die zackigen Rückenſtachel dieſer Fiſche ſind 
mit Giftrinnen und Giftdrüſen nach Art der Schlangenzähne 
verſehen. Tritt der menſchliche Fuß auf einen dieſer Stachel, 
ſo iſt Schwellung, Fieber, ja bisweilen ſogar Brand und Tod 
die Folge der Verletzung. 

Einen merkwürdigen Gegenſatz zu den weitmäuligen See— 
teufeln bildet der Meſſerfiſch (Fig. 6). In einen durchſichtigen 
Banzer gehüllt, lebt er an den Küjten des Nothen Meeres. 
Zwiſchen Seepflanzen Holt er fleine Krebſe und Weichthiere 
mit jeinem röhrenfürmigen Schnabel hervor, emjig wie eine 
Biene. Wir jehen, wie jehr ihm jein „Röhrenmaul“ hierbei 
zu ftatten fomme. Mit dem großen Maule des Seeteufels 
würde er bei dieſer Bienenarbeit nicht viel ausrichten. Auch 
der übrige Theil jeines Körpers entjpricht ganz jeinen Lebens. 
verhältnifjen. Mit Hülfe feines flachen, jchlanten Körpers 
fann der Mefferfilch ſich vortrefflich zwiſchen Scilfhalmen 
und durch Felsipalten hindurcharbeiten. Jedenfalls findet man 
eine ähnliche flache Körperform bei vielen Klippenfiſchen, 3. B. 
beim Einhorn, beim Nashornfiih u. a. Am deutlichiten aus: 
gejprochen iſt ſie jedoch am Bandfiſche (Fig. 8, Trachypterus). 
Er erreicht oft eine Länge von 8 m bei einer Breite von 25 cm 
und Dide von 3 cm. 

Da er die tiefften Tiefen des Meeres bewohnt, jo fünnen 
wir natürlich über jeine Lebensweiſe nur Vermuthungen auf: 
ſtellen. Wir wiffen jedod), daß Thiere mit ſolchen bandwurm— 
artigen Körpern jtet3 in Höhlen oder langen Gängen leben. 
Die lappigen Anhänge des Bandfijches find jedenfall® „Angel: 


organe”, die wir jchon oben fennen lernten. Bejonders auf- 
(459) 





12 


fallend ijt jein phantaftiicher Kopfpuß, der nad Art einer 
Straußenfeder die Stirn ziert. Er bejteht aus dünnen, ver- 
längerten Floſſenſtrahlen, die bei jungen Bandfijchen oft dreimal 
jo lang wie der ganze Fiſch find. 

Ueberbliden wir zum Schluß nochmals die ſeltſamen Ge: 
ftalten der beigefügten Tafel, jo erkennen wir nicht ohne eine 
gewilje Befriedigung, daß es dem Menjchengeift doch gelungen 
ift, den Zweck vieler anjcheinend ganz räthjelhafter Körperformen 
zu verjtehen. 

Ein Theil derjelben ift durch ihre Art zu jchwimmen 
bedingt, ein anderer Theil durch ihre Ernährung. Der Erwerb 
der Nahrung bildete jene eigenthümlichen „Angelorgane“ aus. 
Der Kampf gegen die verjchiedenartigften Feinde führte zur 
Entwidelung der mannigfaltigften Waffen (Zähne, Höder, Kopf- 
jtachel, Floſſenſtachel, Giftftahel,. Der Aufenthalt in der 
brandenden Fluth, zwifchen ftarrenden Felſen oder in unermeß- 
lichen Tiefen, erzeugte Formen, wie fie jelbft die fühnfte Phan- 
tafie wicht hervorzuzaubern vermag. Aber alle dieje äußeren 
Berhältnifje wurden durd die Abjtammung und Entwidelung 
der Thiere beeinflußt. 

Wir jehen alſo, jehr zujammengejegte Verhältnifje bedingen 
die Klörperformen eines Thieres. 

Trogdem ijt es dem Menfchengeift gelungen, einen großen 
Theil diefer Verhältnifje zu verftehen. 

Dieſes Verſtändniß wurde angebahnt durch den unermüd- 
lichen Fleiß zahlreicher Forſcher, durch die großartige Unter: 
ftügung, welche dieſe Forſcher bei vielen Negierungen und 
Freunden der Wiſſenſchaft fanden. Da die Zahl diejer Forſcher 
stetig wächſt und auch in den weitejten Kreifen ihre Bejtre- 
bungen Anerkennung und Unterjtüßung finden, jo darf man 
hoffen, daß unfere Naturerfenntniß ſich bald noch mehr er- 


weitern und vertiefen wird. Dann wird das Auge des Forſchers 
(460) 


13 


verftändnigvoll und ruhig aud in jene Tiefen hinabbliden, 
wo einft 
„Das Auge mit Schaudern Hinunterjah, 


Wie’3 von Salamandern, Molchen und Draden 
Sid) regt in dem furdtbaren Höllenradhen.“ 





II 


Die Größenverhältniſſe — Männchen und Weibdhen 
im Thierreiche. 


Wir pflegen das männliche Gejchleht als das „ſtärkere“ 
zu bezeichnen und betrachten es jomit als jelbjtverjtändlich, daß 
die Männer größer und jtärfer als die Frauen feien. Diefe 
Annahme ift auch durchaus richtig. Sehr zahlreiche Mejjungen 
der verjchiedenartigiten Völker haben ergeben, daß allerdings Die 
Männer einen größeren Wuchs als die rauen zeigen. 

Bei den Thieren jedod) darf man nicht das männliche 
Geſchlecht als das „itärfere“ bezeichnen; denn bei einer jehr 
großen Anzahl von Thierarten find die Weibchen bedeutend 
jtärfer und größer als die Männchen. 

Die nachfolgende Zujammenjtelung der Beobachtungen 
zahlreicher Forjcher möge diefe Thatjache feititellen. 


Dei den Spinnen 


find die Weibchen meijtens größer als die Männchen und be- 
nugen bisweilen ihre Stärfe dazu, die Männchen, nachdem fie 
diejelben rings mit ihren Geſpinnſten umftridt haben, zu ver- 
fpeifen (Angabe von de Geer). Meiſt wagen fic) daher die 
Männchen nur dann in die Nähe der Weibchen, wein [ebtere 

eben gejpeijt Haben. 


(180) 


14 


Bei den Inſekten 
aller Art find für gewöhnlich) die Weibchen größer als Die 
Männchen, häufig Schon im Larvenzuftande. 

In Frankreich werden die Larven der Seidenjpinner durch 
eine bejondere Wägemethode in Weibchen und Männchen ge: 
ſchieden. Die Weibchen find wohl größer wegen der ungeheuren 
Menge von Eiern, welche die Fortpflanzung der Inſekten er- 
fordert. Es gehen ja jehr bedeutende Mengen von Eiern der 
Inſekten duch Hite, Kälte und Raub zu Grunde. 

Eine Ausnahme von der obigen Regel bilden die Hirich- 
fäfer; von diejen find die Männchen größer als die Weibchen. 
Die Männchen kämpfen heftig miteinander wegen der Weibchen 
und erlangten hierdurch im Laufe von Jahrtaujenden eine ganz 
außerordentliche Kraft und Größe. 

Eine andere Ausnahme find einige männliche Bienen. 
Diejelben tragen häufig die Weibchen im Fluge und haben jo 
im Laufe der Zeit eine bedeutendere Kraft und Größe als die 
Weibchen erworben. 


Unter den Fiſchen 


iſt faft immer das Weibchen größer als das Männchen, nad) 
Angabe des bedeutenditen Ichthyologen der Jetztzeit, Günther. 
Sedo giebt e8 auch Hier Ausnahmen. Nach) Angabe des 
Herrn FFijchereidireftor U. Kirſch in Alt-Salis (Livland) ift der 
männliche Lachs jtets größer als der weibliche. Herr Kirſch 
jchreibt mir: „Es iſt diejes nicht nur bei dem Dünalachs der 
Fall, jondern auch bei den Lachſen anderer Flüffe. In meiner 
langjährigen Praxis der Fiſcherei habe ich Lachsweibchen, deren 
Gewicht mehr als 30 Pfund betrug, jelten gefangen, wogegen 
männliche Zachfe im Gewichte von 40 bis 56 Pfund gar nicht 
jelten find. Im übrigen find wohl fonft die Fiſchweibchen 
größer als die Männden. Weibliche Aale 3.8. von 75 bis 


(46? 


15 
90 cm fommen häufiger vor, während die Männchen felten 
eine Länge von 53 cm erreichen. Auch bei den Karpfenarten 
find die Weibchen meijt größer al8 die Männchen. Angaben 
über die Größe der Gejchlechter bei den Fiſchen find übrigens 
jpärlich in der Litteratur vorhanden.” So weit Herr Kirfdh. 

Die bedeutendere Größe der männlichen Lachſe findet ihre 
Erflärung in den erbitterten Kämpfen, welche dieje während der 
Laichzeit wegen der Weibchen miteinander führen. Shaw jah 
einen heftigen Streit zwijchen zwei männlichen Zachjen, welcher 
einen ganzen Tag dauerte. Buijt giebt an, daß im Juni 1868 
in dem nördlichen Tynefluß Schottlands gegen dreihundert todte 
männliche Lachſe gefunden wurden. 

Bei den Karpfen und Aalen jollen feine Kämpfe wegen 
der Weibchen ftattfinden. Die Weibchen find daher größer als 
die Männchen. Bei einigen Fiſchen des Titicacaſees ijt das 
Weibchen oft jogar doppelt jo groß als das Männchen. Ear- 
bonier giebt an, daß die Weibchen bisweilen dieje Größe in 
der Weije mißbrauchen, daß fie die Männchen auffrefjen. 

Auch die Weibchen unjerer Stichlinge ftürzen ſich unauf: 
hörlich auf das Männchen, welches die Brut im Nejte bewacht, 
tödten oft das Männchen und verzehren ihre eigene Brut. 
Stidhlingweibchen find oft größer als Männchen.” 

Bon den Amphibien 
geben einige Forjcher an, dab die Weibchen größer jeien als 
die Männchen, andere behaupten das Gegentheil, jo daß hier 
wohl wechjelnde Verhältnifje vorfommen. Es jcheint mir (Thilo), 
daß dieje wechjelnden Berhältnifie fich folgendermaßen erklären 
lafjen: 

1. Die Frojchweibchen 3.8. legen eine ungeheure Menge 
von Laich. Daher find ſie jehr groß. 

2. Die Männchen kämpfen heftig wegen der Weibchen mit- 


(463) 


16 


einander. Profeſſor Hoffmann in Gießen jah zwei Männchen 
einen ganzen Tag miteinander kämpfen. Dieje Kämpfe ver 
leihen den Männchen eine bedeutendere Größe, fo daß fie oft 
die Größe der Weibchen erreichen und jo den Größenunterjchied 
zwilchen Männchen und Weibchen ausgleichen. 


Unter den Reptilien | 
find bei den Schlangen die Weibchen meiſt größer als die 
Männchen; bei den übrigen Ordnungen treten die Unterjchiede 
nicht bejonders hervor. 


Bei den Vögeln 


find die Männchen bejonder8 auffallend von den Weibchen 
unterjchieden. Die verjchiedenartigften Kämme, Bärte, Auswüchſe, 
Hörner, mit Quft gefüllte Hautjäde, Federſchöpfe, nadte Federkiele, 
Federbüſchel und einzelne verlängerte Federn, welche aus allen 
Körpertheilen graziös hervorragen, vor allem jehr prächtige 
Färbungen fennzeichnen jehr deutlich) die Männchen. Sie machen 
den Weibchen den Hof, indem fie ihnen vortanzen oder phan- 
tajtiiche Sprünge auf der Erde oder aud in der Luft aus: 
führen. Ja, ein Enterich verjteht es jogar, ſich zu parfümiren. 
Er verbreitet einen lieblichen Moſchusgeruch, mit dem er das 
Weibchen anlodt. Ramſay jagt von der auftralifchen Mojchus: 
ente, daß „der Geruch, welchen das Männchen während der 
Sommermonate verbreitet, auf das männliche Geichlecht beichränkt 
ijt; er habe nie — jelbjt nicht während der Paarungszeit — 
ein Weibchen gejchoffen, das eine Spur von Moſchusgeruch 
gezeigt hätte.” Man fieht, daß bei den Enten die Verhältniffe 
ganz anders als bei den Menjchen liegen. Nach den Angaben 
der Barfümeriehändfer jollen Männer fich jehr jelten mit Mojchus 
parfümiren, häufiger dagegen die Weiber. 

Die Männchen vieler Vogelarten find größer als die 


(464) 


17 
Weibchen. Diejes rührt wohl von den Siegen her, welche die 
größeren und jtärferen Männchen viele Generationen hindurch 
über ihre Rivalen erfochten haben. Nah Meffungen ift das 
Männden einer auftraliichen Mofchusente und einer auftralifchen 
Lerchenart doppelt jo groß wie das Weibchen. 

Es giebt aber auch Vogelarten, bei denen das Weibchen 
größer ift als das Männchen, 3. B. bei den Raubvögeln ift 
diefes der Fall. Die Gründe hierfür find unbekannt. Bis: 
weilen jcheinen die Weibchen dadurch größer zu werden, daß 
fie miteinander wegen der Männchen kämpfen. Jenner Weir 
bat fol einen Kampf bei Gimpeln beobadtet. Auh an 
einigen hühnerartigen Vögeln wurde diefer Kampf der Weibchen 
beobachtet. 


Bei den Säugethieren 
finden fich häufig feine Größenunterfchiede zwijchen Männchen 
und Weibchen. Wo man jedoch Unterjchiede wahrnimmt, find 
jtet3 die Männchen größer als die Weibchen. 

"Das ift 3.8. der Fall bei einigen auftralifchen Beutel. 
thieren. Bei einer Robbenart beträgt das Gewicht des Weibchens 
um ein Sechstel weniger als das des Männchene. Die Männchen 
der Nobbenarten, welche wegen der Weibchen miteinander 
fämpfen, find jtet3 größer als die Weibchen. Dasjelbe gilt 
von den Walfiichen. 

Wir ſehen aljo, daß der Kampf bei vielen Thieren Die 
Männchen größer als die Weibchen macht. Schon in der Mitte 
des vorigen Jahrhundert® hat der Engländer Hunter darauf 
aufmerffam gemacht, daß diejenigen Körpertheile, welche zum 
Kampfe benugt werden, größer und ftärfer entwidelt find als 
die übrigen Körpertheile; jo ift z. B. der Naden des Stieres 
ganz bejonders kräftig. Auch an der unteren Sinnlade des 


männlichen Lachſes bildet ſich während der LZaichzeit ein hafen- 
Sammlung. NR. F. XIII. 301. 2 (465) 


18 


förmiger Fortjag, nach welchem diejer Lachs den Namen 
„Hakenlachs“ führt. Diefer Hafen findet jeine Verwendung 
während der Laichzeit beim Kampfe der Männchen gegen: 
einander. Nach der Laichzeit fchwindet der Hafen. Auf dem 
Fiſchmarkte in Riga findet man „Hafenlachje” nur im Herbft, 
im Frühjahr fehlen fie vollftändig. 

Einige Thiere befiegen ihre Feinde dadurch, daß fie die- 
jelben anſpucken. Bei diefen find die Speiorgane ganz bejonders 
ftarf entwidelt. Hierher gehört der jogenannte Schützenfiſch 
(Toxotes jaculator). Wenn diejer ein Infekt auf einem über: 
hängenden Baumzweige fihen fieht, jo jprigt er einige Tropfen 
Waſſers mit großer Treffjicherheit in einer Entfernung von fünf 
Fuß auf dasfelbe. Das Infekt fällt herab und der Schüben- 
fiih verzehrt feine Beute. 

Auch der Elephant Hat bekanntlich feinen Rüffel zu einer 
vortrefflihen Sprige ausgebildet, mit der er täglich viele Mücken 
und anderes Ungeziefer erlegt. 

Wir jehen aljo, wie jehr der Kampf gegen die verjchieden- 
artigiten Feinde jowohl den ganzen Körper, als einzelne Theile 
desjelben fräftigt und vergrößert. 

Auch die Gymnaſtik der Hellenen war ja eigentlich) nur 
ein Wettfampf. Sie beitand aus: 1. Ringen, 2. Wettlaufen, 
3. Wettipringen, 4. Speerwerfen, 5. Disfuswerfen, 6. Ballſpiel, 
7. Zanz. Außer diejen Uebungen Hatten die Hellenen feine 
anderen; troßdem erreichten fie eine ganz außerordentliche Kraft 
und Gejchidlichkeit des Körpers. 

„Könnte die Geſchichte davon jchweigen, 
Taujend Steine würden redend zeugen, 
Die man aus dem Schoß der Erde gräbt.“ 

Zu dieſen „redenden Steinen” gehören die Bildfäulen eines 
Herkules, Apollo oder Hermes. Sie preifen die Gymnaftif der 
Hellenen beſſer, als alle jchönen Reden. Auch die Standbilder, 


(466) 


19 


welche man den Siegern in den Wettjpielen zu Olympia, Pythia 
und anderen Orten aufitellte, beweijen es handgreiflich, wie 
jehr der Wettfampf geeignet ift, die Schönheit und Kraft des 
Körpers zu entwideln. 

Eines dieſer Standbilder trägt folgendes Epigramm: 


„BHünfundfünfzig Fuß,* jo weit ift geiprungen Phayllus, 
Aber im Diskuswurf fehlten an hundert bloß fünf.“ 


Auch .bei den wilden Völkern find heutzutage noch die 
Männer, wohl infolge ihrer Waffenübungen, größer und jtärfer 
als die Frauen, obgleih die Frauen ja Häufig viel härtere 
Arbeiten verrichten als die Männer. Noch bei den Kofaden 
werden ja befanntlich die Feldarbeiten zum großen Theil von 
den Frauen geleijtet. 

Wir können die bisherigen Beobachtungen und Erwägungen 
folgendermaßen zujammenfafjen: 

I. Die Weibchen find meift größer als die 
Männchen: 1. bei den Spinnen, 2. bei den Inſekten, 3. bei 
den Fiſchen. 

I. Wechſelnde Größenverhältnijje der Geſchlechter 
zeigen: 1. Amphibien, 2. Reptilien, 3. Vögel. 

IH. Gleiche Größe der Männchen und Weibden 
beobachtet man meift bei den Säugethieren. 

Einige Urjadyen der Größenunterjchiede find folgende: 

1. Der Kampf der Männchen miteinander macht fie häufig 
größer als die Weibchen. 


* Die Länge des griehiihen Fuß iſt uns genau befannt, 55 gried. 
Fuß — 52 rhein. Fuß. Vergl. Dr. Zul. Bing, Die Gymnaſtik der 
Hellenen. Der Sprung bes Phayllos wird jegt meift von den Philologen 
und Kennern der Gymnaſtik als „Dreiiprung“ gedeutet, wie er im neuen 
Griechenland, Amerifa und auch auf unjeren Turnplägen allgemein ge- 
bräuchlich iſt. Aber auch al3 Dreiiprung fteht der Sprung des Phayllos 
unerreicht ba. 

2° (467) 


20 


2. Die Weibchen vieler niederer Thierarten find . größer 
al3 die Männchen, weil fie ungeheure Mengen von Eiern hervor: 
bringen. 

Außer diefen beiden allgemeinen Urjachen giebt es noch 
einige bejondere, welche an beftimmte Thierarten gebunden find 
(vergl. oben die Biene). Derartige Urjachen liegen gewiß viel 
häufiger vor, al8 wir es bisher wiſſen. Auf dieje wird fich 
daher das Auge des Forſchers zu richten haben, um unfere 
Kenntniffe über die Größenunterjchiede in der Thierwelt zu 
erweitern. 


(468) 





3 


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Bandflisch. 





Delfin. 





Melanocetus. 









Morik von Sarhlen 
als prokeſtantiſcher Fürft. 


Vortrag, 
gehalten im Kaufmännifchen Perein zu Leipzig 
am 25. Februar 1898, 


Bon 


Dr. $. Ißleib, 


Profefjor am Königl. Gymnafium in Leipzig 


Hamburg. 
Verlagsanftalt und Druderei A.G. (vormals J. %. Richter), 
Königlihe Hofverlagsbuhhandlung. 
1898. 


Das Recht der Ueberſetzung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 


Drud der Verlagsanftalt und Druderei Actien ⸗Geſellſchaft 
(vormalt J. F. Richter) in Hamburg, Königliche Hofbuchdruderei. 


Wie jeder Proteſtant Sinn hat für die Zeit der Refor— 
mation, ſo hat wohl jeder Sachſe Sinn für ſeine Landesgeſchichte 
in jener wichtigen Zeit. Ein Leipziger ſollte gewiſſe Vorliebe 
für Moritz von Sachſen haben; denn der Fürſt hütete Leipzig 
wie feinen Augapfel; er verweilte oft in der Stadt, widmete der 
Univerfität große Fürſorge und ließ ſtets für die Sicherheit auf 
den Landftraßen jorgen, damit die Händler fich dem Leipziger 
Markte nicht entfremdeten. 

Morig von Sachſen war fein Heiliger, aber auch fein 
Frevler; er war ein jugendlicher Politiker, dem manches miß- 
glücte, ehe er zur Meijterjchaft gelangte. Seine irregeleiteten 
Beitgenofjen haben’ ihn vielfach verfannt, verleumdet und gehaßt; 
nur wenige haben ihn verjtanden, wenige geliebt. Im lebten 
Jahre feines Lebens fchrieb er nicht mit Unrecht: Er jchiene 
dazu geboren zu jein, daß man ihm allewege mehr und ärger 
nachredete, denn man Grund und Urjache hätte, weil er aber 
einem Jeden nicht das Maul ftopfen fünnte, jo wollte er böſer 
Leute Geſchwätz jo hoch nicht achten. 

Die Gegenwart fennt ihn auch noch zu wenig; man hört 
zuweilen Anfichten und Urtheile über ihn, die nicht nur unrichtig, 
jondern geradezu verkehrt und falich find. Selbſt Forjcher 
haben noch mandes an ihm auszuſetzen und zu tadeln. 
Warum? Weil ihre Arbeiten entweder der nöthigen Tiefe, oder 


der nöthigen Unbefangenheit und Unparteilichkeit entbehren,; nur 
Sammlung. R. F. XIII. 302. 1° (471) 


4 


forgfältige, gründliche und befonnene Unterfuchungen können 
völlige Klarheit über feine Perſon und über jeine Handlungen 
verichaffen. 

Wohin die wiffenfchaftliche Verirrung führen kann, dag 
beweift die Thatjache, daß im Kriegsjahre 1866 ein namhafter 
fatholifcher Univerfitätsprofefjor in München in einer gelehrten 
Abhandlung den protejtantiichen norddeutſchen Fürſten des 
fechzehnten Jahrhunderts einfach als Gauner bezeichnet hat. 

Während meiner Unterfuchungen in neun Staatsarchiven 
bat fih mir allmählich die Weberzeugung aufgebrängt, daß 
Moritz von Sachſen befjer und bedeutender geweſen ijt, als 
man glaubt.* 

Wer fi in jene verwidelte und überaus fchwierige Zeit 
feiner Regierung ernftlich vertieft, wer ihn ohne Vorurtheil mit 
feinen protejtantijchen und katholiſchen Zeitgenoffen, mit Kaifer 
Karl V., mit Kurfürft Johann Friedrich von Sachſen, mit Yand- 
graf Philipp von Hefjen, mit Herzog Heinridd von Braum- 
jchweig oder mit irgend einem anderen Fürſten vergleicht, der 
wird finden, daß er troß feiner Jugend fait alle überholt 
und überragt hat. Ich gehe noch weiter: Alle Broteftanten 
fennen Guftav Adolf und verehren ihn als Glaubenshelden; 
aber Niemand würdigt bis jebt den jugendlichen Wettiner in 
vollem Maße. Wie man meines Erachtens das Verdienſt des 
Schwedenkfönigd in Deutjchland oft überfchägt, jo unterſchätzt 
man das Verdienſt des Wettiners. 

Ehe wir Morig von Sachen als proteftantiichen Fürften 
näher ins Auge fafjen, will ich einige Bemerkungen über die 
Wettiner und einige Mittheilungen über ſeine Jugend vorausfchiden. 





* Bergleihe Mori von Sachjen, bearbeitet von F. A.v. Langen (1841), 
G. Voigt (1876), E. Brandenburg (1898). Meine Forſchungen über Morig 
von Sadjen find theilweife veröffentlicht im Archiv für ſächſiſche Geſchichte 
1879, 1883 ff. 
(472) 


5 


Die Wettiner des ſechzehnten Jahrhunderts hatten zunächſt, 
wie die anderen deutſchen Fürſtenhäuſer, faſt ununterbrochen 
Familienhader über gemeinſame Beſitzungen und Rechte. Dann 
war ihr Verhalten zum Kaiſer durchweg verſchieden; während 
die Ernejtiner als Kurfürften die Macht des Kaiſers einzu- 
ſchränken ſuchten, jchloffen fich die Albertiner der Politik des 
Kaiſers an. Außerdem fpielte die Religion eine bedeutende 
Nolle im ſächſiſchen Haufe. 

Die drei Erneftiner, Friedrich der Weile, Johann der Be- 
ftändige und Johann Friedrich der Großmüthige, haben fic große 
Verdienſte um die deutjche Reformation erworben. Sie jhügten 
den gebannten und geächteten Reformator Luther, fie überreichten 
im Namen der proteftantijchen Reichsjtände dem Kaijer in Augs- 
burg das evangeliihe Glaubensbekenntniß; fie ftifteten den 
Schmalkaldiſchen Bund zur Bertheidigung der evangeliichen Lehre 
und jehten den Nürnbergijchen Weligionsfrieden durch. Als 
aber nach dem Tode Luthers der Kaiſer im jchmalfaldiichen 
Kriege fiegte, verlor Johann Friedrich nicht nur die Kurwürde 
und die Hälfte jeines Landes, jondern auch jeine hervorragende 
Stellung im protejtantiichen Deutjchland. 

Anders war es bei den Albertinern Herzog Georg, Herzog 
Heinrich) und Morig. Herzog Georg blieb zeitlebens der heftige 
Gegner Luther und der Proteftanten; Herzog Heinrich trat zur 
evangelifchen LZehre über und begann die Reformation in den 
albertinifchen Gebieten; Herzog Mori erlangte infolge des 
ſchmalkaldiſchen Krieges die Stellung der Erneftiner und wußte das 
Unjehen eines evangelijchen Kurfürften zu wahren und zu erhöhen. 

Da Mori von Sachſen am 21. März 1521 geboren 
wurde, etwa vier Wochen vor dem muthigen Auftreten Luthers 
auf dem NReichdtage zu Worms, jo haben die wichtigen Jahre 
1517—1532, wo die Reformation fich jo glüdlich entfaltete, 


feinen Einfluß auf ihn ausüben können. 
(478) 


6 


Zunächſt wuchs Mori als katholiſcher Prinz im Eltern. 
bauje zu Freiberg in faſt dürftigen WVerhältniffen auf. Im 
zwölften Jahre fam er nad) Halle au den glänzenden katholischen 
Hof jeines kunftfinnigen, wiffenjchaftlich aufgeflärten, verfchwen: 
deriichen und verjchuldeten Paten, des Markgrafen Albrecht von 
Brandenburg, der römifcher Kardinal, Kurfürft von Mainz und 
Erzbiichof von Magdeburg »Halberftadt war. Dann nahm ihn 
jein ftrengfatholifcher Oheim und Pate Herzog Georg an den 
Dresdener Hof. 

Nach dem Uebertritt zum Proteftantismus that der Vater 
Herzog Heinrich den fechzehnjährigen Sohn nad) Torgau an den 
evangelischen Hof des Kurfürften Johann Friedrich, damit Morig 
ein überzeugter Anhänger der neuen Lehre würde. Um jich 
gegen den fchwer gekränkten Herzog Georg zu jchüben, traten 
Beide in den Schmalfaldiichen Bund. Wegen ihrer Mittellofig. 
feit aber nahmen fie nur den fogenannten Hauptvertrag an, 
der alle Mitglieder verpflichtete, jedem des Glaubens wegen 
bedrohten Bundesgenofjen nach Kräften beizuftehen. Den zweiten 
Bertrag, die jogenannte Verfafjung zur Rettung und Gegenwehr, 
der die Einrichtung, die Abjtimmung und die Beiträge des 
Bundes regelte, wollten fie erjt dann annehmen, wenn ihnen 
das Erbe Herzog Georg3 zugefallen wäre. Schneller als man 
ahnte, trat diejer Fall (1539) ein. 

Als Herr des gejamten albertinijchen Gebietes ſtand Herzog 
Heinrich zunächft unter dem Einfluffe des Kurfürſten Johann 
Friedrich und der Wittenberger Theologen; daher konnte Quther 
am BPfingitfefte 1539 in Leipzig die Kanzel bejteigen und 
predigen. Sobald aber der alte Familienhader um Mein und 
Dein ausgebrochen war, gelang es dem meißnifchen Adel, der 
theilweife noch fatholifch war, den Landesfürften Herzog Heinrich 
vom Kurfürften abzuziehen und dem römijchen Könige Ferdinand, 


dem Bruder des Kaiſers, zu nähern. 
(71 


7 


Gejtügt auf die Abneigung feiner Landſtände gegen den 
Schmalkaldiſchen Bund, kam Herzog Heinrich feiner einft in der 
Noth bewilligten Zufage nicht nah. Zwar erfannte er die Ver- 
bindlichkeit an, die der Hauptvertrag ihm auferlegte, aber zur 
Unnahme des zweiten Vertrages kam es troß mancher Berhand: 
lungen nicht. 

Damals näherte fih Mori, der wieder am Hofe des 
Vaters lebte, dem Landgrafen Philipp von Heſſen und verfobte 
ſich mit deſſen Tochter Agnes. Kaum hatte man aber in Dresden 
von der Doppelehe des Landgrafen gehört — bekanntlich ließ 
ſich Philipp neben der Gattin noch eine zweite Frau Firchlich 
antrauen —, jo wollten die Eltern, vor allem die entrüftete 
Mutter, von der geplanten Ehe des Sohnes nicht? mehr wiljen. 
Allein Morig war fejt entichloffen, feine Zujage zu halten; 
mit den Eltern zerfallen, ritt er davon und vermählte fi im 
zwanzigjten Lebensjahre mit der kaum vierzehnjährigen Prin— 
zejlin. 

Der Aufenthalt in Hejjen war für Morit Iehrreich; denn 
der Schwiegervater redete mit ihm über die Bolitif des Kaiſers, 
über die Gegenjäge im Reiche, über die Lage und Pläne, jowie 
über die Schwächen und Gebrechen des Schmalfaldijchen Bundes; 
auch brachte er ihm bei, daß man dem Saifer in weltlichen 
Dingen zu gehorchen hätte. Im Juni 1541 fand Morig Auf: 
nahme in den Vertrag, worin der Landgraf gegen die Bu: 
fiherung völliger Straffofigfeit für die den Reichsgeſetzen wider: 
ftreitende Doppelehe dem Kaijer Gehorjam in weltlichen Händeln 
verſprach; wie er, jo jollte auch Morit dem Kaijer in weltlichen 
Dingen gehorchen und ſich weder mit Frankreich, noch mit dem 
Herzog von Eleve, noch mit einem anderen faiferlichen Feinde 
verbinden, wofür ihm die Belehnung mit den albertinischen 
Reichslehen nach dem Tode jeines Vaters in Ausficht gejtellt 
wurde. Bekanntlich vergab damals der Kaiſer als Oberlehns 


(475) 


8 


herr des Reiches alle Reichslehen; jeder Fürft mußte beim 
Beginne feiner Regierung um die Belehnung bitten. 

Im Auguſt 1541 folgte der jugendliche Wettiner dem 
Bater, mit dem er fich vorher ausgejöhnt hatte. 

Herzog Morig ftand im einundzwanzigiten Lebensjahre, 
war jchlanf und etwas Hager, hatte jchmale klug- und jcharf- 
blidende Augen, feine Gefichtszüge, eine gerade Naſe, röthliches 
Haar und einen rothblonden Bart; er bejaß jcharfen Verftand, 
jtarfe Willenskraft und großen Ehrgeiz. Je nach den Um— 
ftänden war er damals und jpäter vorfichtig oder raſch ent» 
Ichloffen, zögernd oder jäh dreinfahrend; er konnte täufchen und 
gewinnen. Zuweilen war er wortfarg und verjchloffen, zuweilen 
liebenswürdig und vertraulich, mitunter jtarrföpfig, aufbraufend 
und jähzornig. Im Jähzorne hat er einjt in Naumburg (1551) 
während einer wichtigen Verhandlung mit den Erneftinern ein 
mühſam ausgearbeitete® Schriftjtüd jeiner bebeuteuditen Räthe 
unter Ausftoßung einer jehr gewöhnlichen Redensart vor ihren 
Augen zerriffen. Empfindlich war er gegen jede Ehrenfränfung. 
Wie Jagd und Gelage, jo liebte er die verwegenen und glän- 
zenden Ritterſpiele. Gleich anderen Fürſten war er auf jeinen 
Bortheil bedacht; denn er wollte etwas jein unb bleiben. Er 
beja Sinn für Wiſſenſchaft und Kunſt. Seine in verjchiedenen 
Archiven aufbewahrten eigenhändigen Briefe an feine Gattin 
und an jeine vertrauten Freunde find ein köſtlicher Schaß, der 
uns jein Wejen zeigt. Es ift eine Luft, fie zu lejen. Die 
Sprade darin ift kurz, jchlicht, markig und fernig, aber durchweg 
etwas unbeholfen. Man erjtaunt über vortreffliche Vergleiche 
und padende Bilder, über zarte und derbe, ergößliche und 
Ihwungvolle Wendungen. Wegen feiner freien, jelbjtbewußten, 
febensfrifchen und kriegsluftigen Natur war ihm die Religion 
wohl nicht immer allzu tiefe Herzensjache, doch beſuchte er ben 
Gottesdienſt. Die Bibelſprüche waren ihm nicht jo geläufig, 


(476) 


9 


wie anderen protejtantifchen Fürften; dafür war er aber aud) 
frei von jener — joll ich jagen — bornirten Frömmigkeit oder 
Frömmelei feiner Zeit. Du fennft meine Sitte, jchrieb er einmal 
an die Gattin, daß ich jo gern jchreib, als ich bet. Dem: 
ungeachtet hat er die evangelifche Lehre ſtets zu erhalten und 
zu fördern gejucht. 

Die Räthe feines Vaters entließ er theilweile und zog 
dafür die tüchtigen und bewährten Räthe ſeines Oheims Georg 
und andere begabte und brauchbare Männer in feinen Dienjt 
und fchenkte ihnen durchweg großes Vertrauen. Obgleich der 
einflußreichite Rath, der alte Georg von Carlowitz, ſich nad) 
wenigen Jahren auf jeinen Ritterfiß zurüdzog, jo hat der Herzog 
doch den erfahrenen und jcharffinnigen Herrn in wichtigen Dingen 
immer wieder um Rath gefragt und zur Löſung jchwieriger 
Aufgaben verwendet. 

Bom Anfange an war Herzog Mori entjchloffen, fein Land 
mit aller Sorgfalt zu regieren und die vom Water begonnene 
Reformation vollftändig durchzuführen. Vom Schmalfaldijchen 
Bunde aber hielt er jich zurüd. Die Beziehungen zum Schwieger: 
vater und zu Kurfürſt Johann Friedrich jollten ihn nicht Hindern, 
in nähere Verbindung mit dem Haufe Habsburg zu treten. 
Wie jeine Häthe, jo mißbilligte er die Politik der Schmalfaldener, 
die vom Kaiſer für jede Hülfe gegen die Türken oder gegen 
die Franzoſen religiöfe Zugeftändniffe zu erzmingen juchten. 

Als man den Herzog an feine Verpflichtung von 1537 
erinnerte, fragte er feine Landſtände. Denen theilte er mit, daß 
feine Unterthanen ſich dem Schmalfaldiichen Bunde nicht ver: 
pflichtet fühlten, weil jein Vater den jogenannten Hauptvertrag 
vor dem Befite der gejamten albertinifchen Gebiete angenommen 
hätte. Ueberdies hielte man die väterliche Verpflichtung ſeit 
dem Scheitern der Verhandlung über den Beitritt zum zweiten 


Bertrage für erlojchen. Gelte e8 aber einjt, die Religion zu 
(477) 


10 


verteidigen, dann wollten feine Landſtände jo gut wie er helfen. 
Troß aller Gegenvorftellungen erflärte Mori, daß er nicht 
gegen den Willen jeiner Landſtände Mitglied des Schmalkaldiſchen 
Bundes fein könnte. Seit dem dreizehnten Jahrhundert war 
thatjächlich jeder Landesherr in wichtigen Dingen auf die 
Zuftimmung feiner Landftände angewiejen. Auch Kurfürft 
Joachim II. von Brandenburg Hatte im Jahre vorher (1540) 
vor der Einführung der Reformation in feinem Lande feinen 
Landjtänden verfprechen müfjen, ohne ihre Zuftimmung fich in 
fein Bündniß einzulaffen, — man meinte vor allem das ſchmal— 
faldifche. Wie nicht alle fatholiichen Reichsſtände zum Schutze 
ihrer Lehre verbündet waren, jo gehörte eine Reihe proteftanti. 
icher Fürften und Stände wichtiger Gründe halber dem Schmal- 
faldiichen Bunde nicht an. 

Indem Herzog Mori darauf ausging, den Katholizismus 
allmählich aus feinem Lande zu verdrängen, befahl er, daß das 
Augsburgische Bekenntniß und die Heilige Schrift wie bisher für 
die Lehre und für die Predigt und die vom Water eingeführte 
Kirhenordnung bis auf weiteres für die gottesdienftlichen Hand» 
lungen maßgebend jein jollten. Die oberjte Kirchenbehörde (das 
Konfiltorium) und die Superintendenten erhielten Weijung, 
darüber zu wachen, daß das Wort Gottes rein und lauter 
gelehrt und gepredigt würde. Die Geiftlichen jollten einen ordent: 
lichen ehrbaren Lebenswandel führen, die Glaubenslehren eifrig 
ftudiren und der Seeljorge gewifjenhaft obliegen. Die Kirchen: 
zucht jollte dur) Ermahnungen und Warnungen, dur) Bann 
und Ausftoßung aus der Kirche, ja nöthigenfall3 durch Ver: 
treibung aus dem Lande ftreng gehandhabt werden. 

Der Herzog verwendete den Ertrag der Klöfter und der 
Kirchengüter zunächit für die Befoldung der Geiftlichen und für 
die Gründung neuer Bfarritellen. Dann gewährte er der Leipziger 
Univerfität einen ftattlihen Zuſchuß, damit man tüchtige Lehr. 


(478) 


11 


fräfte, wie Joachim Camerarius, heranziehen fünnte. Statt 
ungefähr 1100 fl. wurden für die Hochjchule nunmehr jährlich 
über 3000 fl. verausgabt. (Wittenberg fojtete etwa 4000 fl. 
jährlih.) Außerdem überwies er der Univerfität das Bauliner- 
Klofter und ſetzte für fleißige und bedürftige Studenten hundert 
Unterjtügungen aus. Um befähigten ZLandesfindern aller Stände 
eine genügende und umentgeltliche Vorbildung für den Beſuch 
der Hochſchule zu ermöglichen, gründete er die beiden Fürften- 
Ichulen zu Meißen und Schulpforta, fpäter die dritte zu Grimma. 
Ohne Zweifel hat er fich dadurch ein unvergängliches Andenken 
gefichert. 

Nicht nur als Landesherr, jondern auch als Schußherr des 
Bisthums Merfjeburg entfaltete Herzog Moriß feine reformatorijche 
Thätigkeit, namentlich nachdem er die Wahl und Anerkennung 
jeine8 Bruders Auguſt zum weltlichen Verwalter des Stiftes 
durchgejegt Hatte. Kräftig jchritt er im Bistum Meißen vor; 
feften Fuß juchte er im Erzbistfum Magdeburg : Halberjtadt zu 
gewinnen. 

Wie die anderen PBroteftanten, jo jah er die Berufung eines 
Konziles nad) Trient durch den Papft als eine große Gefahr 
für die evangelische Lehre an. Daher war er geneigt, mit dem 
Kurfürften und dem Landgrafen ein bejonderes Bündniß zum 
Schutze der Religion zu jchließen; allein der Plan gelangte nicht 
zur Ausführung, da der Kurfürft auf die alte Berpflichtung 
gegen den Schmalfaldifchen Bund und auf die zwiſchen Hefjen 
und Sachſen beftehende Erbverbrüderung verwies. 

Ic gehe Hier weder auf die Wurzener Fehde ein, die der 
Kurfürft durch herrifche Uebergriffe verjchuldete, noch auf den 
Dichater Vertrag, weder auf den erjten Türfenzug des Herzogs 
zu Gunften König Ferdinands, noch auf die dem Kaiſer ge- 
leifteten Dienfte gegen Frankreich. Doc erwähne ich, daß 
Morig zufolge des Oſchatzer Vertrages und zufolge der ihm 


(479) 


12 


vom Kaiſer früher übertragenen Vermittlerrolle mit dem Land» 
grafen von Hefjen gegen den vertriebenen fatholifchen Herzog 
Heinrich) von Braunſchweig 309, der jein verlorenes Land zurüd- 
erobern wollte im Herbſt 1545. Als Unterhändler bewog 
er Herzog Heinrich, mit ihm in das Lager des Landgrafen zu 
reiten, um einen Vertrag zum Abfchluffe zu bringen. Allein 
der Landgraf ließ den Gegner gefangen nehmen und davon. 
führen. Da feine Gegenvorjtellung etwas müßte, jo fühlte ſich 
Herzog Mori ſchwer gefränft. Die braunjchweigishe Sache 
veranlaßte einen ziemlich heftigen Meinungsjtreit zwiſchen 
Dresden und Kafjel und brachte einen Riß in das gute Ver— 
bältniß der beiden naheſtehenden Fürſten. Die Empfindlichkeit 
des Herzogs jteigerten dann einige Spottlieder und Schand- 
gemälde, die ihn mit Unrecht als Verräther darjtellten und 
geißelten. 

Als nun der Kaiſer fi) anjchicdte, den Landgrafen von 
Helfen und den Kurfürjten von Sachſen bejonders unter Hin- 
weijung auf die braunſchweigiſchen Händel als ungehorjame 
und rebelliiche Fürſten zu bejtrafen, juchte er die Proteftanten, 
die dem Schmalfaldijchen Bunde nicht angehörten, in fein Bor- 
haben zu verwideln. Wie auf Kurfürft Joahim von Branden- 
burg und dejjen Bruder Hans von Küjtrin, wie auf Markgraf 
Albrecht von Brandenburg: Kulmbah und Herzog Eric) von 
Lüneburg, jo rechnete er bejonders auf Herzog Morik und defjen 
Bruder Auguft. 

In Dresden war man längjt davon überzeugt, daß ein 
Zujammenjtoß des Kaiſers und des Schmalfaldifchen Bundes 
einmal erfolgen würde. Und da man den Kaifer für mächtiger 
und ftärfer als den Bund hielt, jo hütete man fich, die kaifer- 
lihe Gnade zu verjcherzen; ernjtlich juchte man das albertinijche 
Land von gefährlichen WVerwidelungen fern zu Halten. Die 
religiöje Anjchauung zog Herzog Morig zweifellos auf die Seite 


(480) 


13 


der Glaubensgenojjen, die Sorge für fein Land aber zog ihn 
auf die Seite des Kaijerd. Was thun? 

Durch jeinen Rath Ehriftoph von Carlowitz beivogen, reijte 
er nach Regensburg, um fich mit dem Kaiſer in Einvernehmen 
zu ſetzen. Zagelang wurde verhandelt. Herzog Mori ver: 
mochte den Plan des Kaiſers gegen die beiden Oberhauptleute 
des Schmalfaldijchen Bundes ebenjo wenig zu vereiteln, wie im 
Jahre 1866 ein deutjcher Fürft den Kampf zwijchen Dejterreich 
und Preußen hätte verhindern können. 

Ich will mich kurz fafjen: Der Kaiſer begehrte und wünjchte 
von Morit Rückkehr zur katholischen Kirche, Unterwerfung unter 
das Trienter Konzil und geziemenden Gehorſam. E3 jollte ihm 
nicht zugemuthet werden, fich gegen jeinen Schwiegervater Philipp 
von Heſſen gebrauchen zu lafjen; aber gegen Kurfürſt Johann 
Friedrich, mit dem er fi) auf die Dauer doch nicht vertragen 
tönnte, jollte er mithelfen. Dafür wollte man ihm alle feine 
Wünſche erfüllen; unter anderem jollte er die Tängftbegehrte 
Schupherrihaft über das Erzbisthun Magdeburg » Halberstadt 
und günftigenfall® auch die ſächſiſche Kurwürde erhalten, die 
man jchon um 1523 der albertinifchen Linie zugedacht hatte. 

Nun ijt hervorzuheben, daß Morig die Rückkehr zur Fa: 
tholiſchen Kirche mit aller Entjchiedenheit zurüdwies; feines 
Gewiſſens und jeiner Unterthanen wegen wollte er am Aug8- 
burgischen Belenntnifje fejthalten. Diejes offene und muthige Be: 
fenntniß vor dem Kaiſer in jener fchwierigen Zeit muß man 
wohl ebenfo Hochichägen, wie das Belenntniß der Proteftanten 
vor Kaijer und Reich in Augsburg 1530. 

Ferner wollte der Herzog das Konzil zu Trient und jeine 
Beichlüffe nur joweit anerkennen, als e3 die anderen protejtan- 
tiſchen Fürften thäten. Falls man fich über einige wichtige 
Punkte, wie über die Lehre von der Nechtfertigung, über 
das Abendmahl und über die Priefterehe nicht einigte, jo jollte 


(481) 





14 
der Kaiſer mit ihm Geduld Haben bis zu einem fpäteren güt- 
lichen Vergleiche und ihn und jeine Unterthanen des Glaubens 
wegen nicht verfolgen, auch nicht zulafjen, daß es Andere 
thäten ꝛc. Die Verwendung der Klojter- und Kirchengüter für 
die Univerfität, für die Kirchen und Schulen jollte vorläufig 
unangefochten bleiben. 

Da ſich Herzog Morig gegen den Kaiſer in weltlichen 
Dingen, joweit e8 mit Ehren gejchehen könnte, als gehorjamen 
Neihsfürften verhalten wollte, jo empfing er die erbetene 
Scugherrlichkeit über Magdeburg-Halberjtadt; außerdem leijtete 
ihm der Kaijer Gewähr für den Befig feines Landes und für 
alle Rechte, die er auf die Gejamtbelehnung des Haujes Wettin 
bejaß. Der Punkt über die Kurmwürde blieb vorläufig unent- 
ichieden, weil Morik die Zumuthung zur unmittelbaren Theil 
nahme am Kampfe gegen jeinen Better ablehnte. 

Auf die Frage des Herzogs, was er nad) geiwonnenem 
Siege mit den eroberten furjächfiichen Gebieten zu thun gedächte, 
erwiderte der Sailer, daß er ſich gegen ihn gmädig erzeigen 
wolle. Falls die Acht oder dergleichen ergehen jollte, möchte 
Jeder nach dem Seinen jchauen; wer etwas befomme, der habs. 
Deffentliche Ausjchreiben würden feinen kaiſerlichen Willen fund. 
geben. Der Herzog möchte jeine Unterthanen darauf vorbereiten 
und als gehorjamer Fürft des Reiches ſich mit König Ferdinand 
über alles verjtändigen. 

Bald darauf begann der jchmalfaldiiche Krieg. Der Kaijer 
ächtete Kurfürft Johann Friedrich und Landgraf Philipp und 
befahl Morig in jtrenger Weije, mit König Ferdinand die gegen 
den Kurfürjten ausgejprochene Acht zu vollitreden. Zugleich 
verjicherte er, daß er weder die hrijtliche Religion noch das 
Wort Gotte® mit dem Schwerte zu vertilgen beachjichtige, 
jondern die Schlichtung aller Religiongitreitigkeiten dem Konzile 
zu überlafjen gedächte. 


(482) 


1 





Nun berief Morig feine Landftände nad) Chemnik und 
gewann nach harten Kämpfen ihre Zuftimmung zur Erneuerung 
der böhmisch » jächfischen Erbeinigung und zu einem Vertrage 
mit König Ferdinand. Dann bejchloß man in Prag, die Ges 
biete des geächteten Kurfürften zu bejegen, ehe fie in andere 
Hände geriethen; denn fünf Berjonen hatten fic) zur Ausführung 
der Acht bereit erklärt. Sollte das KurfürftentHum je in andere 
Hände gerathen, jagte Morit, dann wäre es billig und recht, 
wenn e3 in feine und nicht in fremde Hände füme. Der König 
jollte die der Krone Böhmen gehörigen Lehen einnehmen, Mori 
dagegen die Reichslehen und die bijchöflichen Lehen. Sobald 
das gejchah, wurde Moris als Papiſt, als tüdijcher Verräther 
und als Judas von Meißen bejchimpft und verläftert, jo daß 
er eine Vertheidigungsjchrift veröffentlichen mußte. 

Der Kaijer gewann die Oberhand über feine Gegner. 
Sn der Schlaht bei Mühlberg an der Elbe wurde Johann 
Friedrich gejchlagen und gefangen genommen. Der Wittenberger 
Vertrag entzog ihm die Kurwürde und die Hälfte des Landes. 
Seine Söhne behielten die thüringischen Aemter, und ihr Ein- 
fommen jollte jährlih 50000 Gulden betragen. Falls die 
Aemter dieſe Summe nicht einbrächten, dann jollte Mori, der 
die übrigen erneftinijchen Gebiete und die Kurwürde erhielt, die 
erwiejene Lüde deden. Ueber diefen Punkt ift der jogenannte 
Liquidationgftreit entftanden, deſſen Ende Mori nicht erlebt hat. 

Nach der Schlacht bei Miühlberg juchten Morig und Kur: 
fürft Joahim von Brandenburg den Landgrafen mit dem Kaijer 
auszuföhnen. BZufolge ihrer Bertröftungen und feierlichen Zu— 
jagen fam Bhilipp von Heſſen nad) Halle, bewilligte einen 
Vertrag und demüthigte fi durch Fußfall und Wbbitte vor 
dem Kaijer. Unerwartet nahm ihn dann Herzog Alba auf dem 
Sclofje nad) dem gemeinjamen Gaftmahle durch einen liſtigen 


Gewaltjtreich gefangen. Die empörten Kurfürften bejtritten das 
(483) 


16 


Recht der Gefangennehmung bis tief in die Nacht hinein. 
Mori wurde dabei äußerst heftig und wollte den Schwieger- 
vater ehrenhalber nicht im Stiche laſſen; man mußte ihm 
geftatten, die Nacht auf dem Schloffe zu verbringen. Troß 
aller Bitten, Borjtellungen und Vorfchläge während der folgenden 
Tage ſetzten die beiden hart betroffenen Kurfürften die Befreiung 
des Zandgrafen nicht durch. Der Kaiſer z0g mit den gefangenen 
Gegnern davon. Während feiner Reife nach Augsburg, wo er 
einen Reichstag Halten wollte, ächtete er Magdeburg und Bremen 
als trogige und ungehorfame Städte. 

Die Gefangennahme des Landgrafen in Halle war das 
Gegenftüd von der Gefangennahme Herzog Heinrich® von Braun- 
ſchweig. In beiden Fällen fpielte Mori die undantbare Rolle 
eines DVermittlerd. Fünf Jahre lang hat er dann in rajtlofer, 
opferwilliger, geradezu rührender und höchſt anerfennenswerther 
Weile alles verfucht, um feinen Schwiegervater zu befreien. 
Das beweifen Hunderte von Briefen und anderen Schriftjtüden, 
die in Dresden, Marburg und Berlin vorhanden find. 

Unmittelbar nach dem ſchmalkaldiſchen Kriege (im Juli 1547) 
hielt der jugendliche Kurfürft mit feinen alten und neuen Landftänden 
den erjten Furfüritlichen Landtag in Leipzig. Um das Vertrauen 
der neuen Unterthanen zu erwerben und das Vertrauen der alten 
Stände zu erhalten, verjpracdh er feierlich, mit Gottes Hülfe 
friedlich zu regieren und bei der wahren chriftlichen Lehre gemäß 
des Augsburgifchen Belenntnifjes wie jeither zu bleiben. Er wollte 
eine einheitliche Kirchenordnung für das ganze Land, für die 
albertinifchen und erneftinifchen Gebiete, einrichten und ein all- 
gemeines Sirchengebet einführen. 

Die Konfiftorien zu Wittenberg, Merjeburg (jpäter Leipzig) 
und Meißen und alle Superintendenten jollten ihre Amtes 
fraftvoll walten und den gejamten Gottesdienft fleißig und forg: 
fältig überwachen. Die Geiftlichen ſollten das Wort Gottes 


(484) 


17 


gemäß des Augsburgijchen Bekenntniſſes einträchtig, rein und frei 
von eigenem Gutdünfen lehren. und predigen und Streit und 
Bant, ſowie ungehörige und aufwiegelnde Reden vermeiden. Die 
fatholifchen Bilhöfe und Domherren von Meißen und Naum- 
burg follten ſich aller Eingriffe in die jächjiiche Kirchenordnung 
enthalten. 

Indem ſich der junge Landesherr jeiner neuen furfürjtlichen 
Stellung völlig bewußt war, juchte er die durch den Krieg ver: 
lafjene und verödete Univerfität Wittenberg wieder einzurichten 
und vor allem Melanchthon zurüdzugewinnen. Auch die Leipziger 
Univerfität wurde im jeder Weije gefördert. Im Oftober be: 
gannen die Vorlefungen; wie in Wittenberg Melancdhthon, jo 
las Camerarius in Leipzig. 

Damal3 ließ der Kurfürjt den neuen Kurftaat in fünf 
Kreije theilen; es waren der Kurkreis, der meißnijche oder 
Dresdener, der ojterländijche oder Leipziger, der thüringijche 
Kreis und der Gebirgsfreis. An der Spite jedes Kreiſes ſtand 
ein Kreishauptmann. Außerdem jorgte Mori emjig für den 
Schutz des Landes, für Recht und Gerechtigkeit, für Handel und 
Gewerbe, für Schulen, Krankenhäuſer und Armenpflege, kurz, 
für das gejamte Staatöwejen. 

Wie nun Kurfürft Mori für das Wohl jeines Landes 
arbeitete, jo wollte der Kaijer für das Wohl des Reiches jorgen. 
Seit dem Siege über die Schmalfaldener erfüllte ihn mehr als 
früher das Gefühl für feinen hohen Beruf. Auf dem Reichs: 
tage zu Augsburg brachte er alle Reichdangelegenheiten und 
bejonder8 die Neligionsverhältnifje zur Verhandlung. Sein 
höchſtes Ziel war, die Einheit der Kirche zu retten. 

Kurfürft Morik ging in Augsburg einem jchweren Kampfe 
entgegen. 

Da der Kaijer das Konzil von Trient für den ficherjten 
und chriftlihiten Weg zur Vereinigung der abendländischen 


Sammlung R. &. XIII, 802, 2 (485) 


18 


Chriftenheit hielt, jo begehrte er von den Reichsſtänden Unter- 
werfung unter das Konzil. 

Kurfürft Mori aber befämpfte das Trienter Konzil ſamt 
den dort durchgeſetzten Bejchlüffen und beantragte ein allgemeines 
freies und chriftliches Konzil in deutjcher Nation, wo Protejtanten 
und Katholifen unabhängig vom Papſte die ftreitigen religiöjen 
Bunfte gemäß der heiligen Schrift verhandeln, alle Irrlehren 
und Mißbräuche abjchaffen und eine allgemeine Reformation an 
Haupt und Gliedern durchſetzen jollten. Sein Bemühen war 
vergeblich; er und jeine Gefinnungsgenofjen wurden überjtimmt, 
die Mehrheit der Reichsſtände war für die Wiedereinberufung- 
des Trienter Konzils. 

Da ferner der Kaiſer erwog, daß des Papftes wegen die 
Wiederaufnahme der Konzilgejchäfte und die Entjcheidung der 
Neligionsjachen fich lange verzögern könnte, jo wollte er den 
firhlichen VBerhältnifjen einjtweilen Maß geben, d. h. er wünjchte 
den religiöjen Zuftand des Neiches einjtweilen oder interim fo 
zu gejtalten, daß alle Reichsſtände gottjelig, chriftlich und friedlich 
nebeneinander zu leben vermöchten. Troß aller Gegengründe 
de3 Kurfürjten von Sachſen war die Mehrheit des Reichstages 
auch in diefem Punkte für den Kaifer. 

Als dann drei Faiferliche Bevollmäcdhtigte, der Weihbifchof 
von Mainz, der furbrandenburgiiche Hofprediger und der Biſchof 
von Naumburg eine Schrift, die den Namen Interim erhielt, 
ausgearbeitet hatten, legte der Kaiſer dieſe Schrift den protejtan- 
tiichen Kurfürjten und den maßgebenden fatholijchen Fürften im 
Geheimen zur Durchſicht und Annahme vor. 

In der Veberzeugung, daß das Interim für alle Reichs- 
ftände gelten jollte, billigten e8 die Kurfürften von Branden: 
burg und Pfalz. Kurfürſt Morit aber lehnte e8 ab, weil der 
Kaijer ihm und feinen Landftänden vor dem Kriege zugejag t 


hätte, daß fie bis zur Entjcheidung eines allgemeinen freien und 
(486) 


19 


hriftlichen Konziles bei ihrer Religion und bei ihren kirchlichen 
Einrichtungen bleiben jollten. Nur infolge diejes Verſprechens 
hätten jeine Unterthanen fich im Kriege gebrauchen laſſen. Ohne 
den Rath jeiner Theologen und ohne die Zuftimmung jeiner 
Zandjtände könnte er nichts bewilligen. Der Kaiſer erinnerte 
ji) jeiner Zuſage; doch meinte er, daß jein gegebenes Per: 
iprechen das Interim nicht ausjchlöffe; denn er hätte verfichert, 
die Religion nicht mit dem Schwerte zu vertilgen, fondern auf 
gebührlihem Wege zur chriltlichen Vergleihung zu bringen. 
Solche Wege wären aber gemäß der früheren Reichstagsabjchiede 
ein Konzil oder eine Nationalverfammlung oder ein Reichstag. 
Nun hätte ihm die Mehrheit der Reichsſtände ein Interim 
bewilligt. Daher jollte der Kurfürft, eingedent der ihm 
erzeigten großen Gnade und Beförderung, ſich mit den Reiche: 
ſtänden über das Interim verjtändigen und feinen Zwieſpalt im 
Reiche veranlafjen. Denn was die Mehrheit der Reichsjtände 
billigte und feſtſetzte, das könnte er nicht verweigern. Im Reiche 
wäre es Herfonmen, daß alle Unterthanen die Bejchlüjje der 
Neichsjtände halten müßten. E83 erjchiene nicht vathjam, die 
Theologen und Räthe zu fragen, denn die möchten ihn der: 
artig verleiten, daß man dagegen einjchreiten müßte. Vor 
allem könnte fich Melanchthon unterjtehen, ihn wie den früheren 
Kurfürjten zu verführen, er befehle daher, Melanchthon aus: 
zuliefern, da er ihn noch nicht wieder zu Gnaden angenommen 
hätte. 

Kurfürjt Mori verjegte darauf, daß er die Beſchlüſſe der 
Mehrheit nicht ändern könnte. Da aber der Kaijer vor dem 
Kriege ihm und feinen Unterthanen bejondere Verſprechungen 
gegeben hätte, jo läge die Sache für ihn ganz anders als für 
die anderen Neichsjtände. Weder feine Theologen noch jeine 
Näthe verführten ihn; aber ehrenhalber könnte er nicht anders 


handeln. Melanchthon wäre ein gar friedliebender Mann, der 
2° (487) 


20 


ftet3 gute Kirchengebräuche erhalten, Zwieſpalt verhütet und 
Frieden gejtiftet hätte. Wenn der frühere Kurfürft auf dieſen 
gottesfürdhtigen Gelehrten gehört hätte, jo wäre e8 mit ihm nicht 
jo weit gefommen. Gerade mit Hülfe Melanchthons Hoffte er, 
feine Kirchendiener in guter Zucht zu halten und einer chrift: 
lihen Bergleihung die Wege zu bahnen. Schließlich bat der 
Kurfürjt den Kaijer um Nachficht und Geduld. — Weil man ihm 
aber gar hart zujeßte, jo gab er endlich jo weit nad), daß er 
im Kurfürjtenrathe feinen offenen Widerſpruch erheben, fondern 
jagen wollte: In der Interimsſache wäre er jeiner Unterthanen 
nicht mächtig; doch hoffe er, fie zu der Einficht zu bringen, daß 
fie den Beſchluß der Reichsſtände nicht ändern Fünnten. 

Wie die beiden anderen Kurfürften, jo hatte auch Kurfürft 
Mori die Ueberzeugung, daß alle Reichsſtände das Interim 
annehmen und befolgen jollten. Allein es fam anders. 

Die um ihre Anficht gefragten katholiſchen Reichsſtände hatten 
den Kaijer gebeten, fie bei ihrem Glauben zu lafjen; denn mit 
der Annahme des Interims befenne man, daß die Proteftanten 
jeither unbillig befämpft und verfolgt worden wären. Der 
Herzog von Bayern und andere Neichsftände ſprachen dem 
Kaijer geradezu dag Recht ab, den Fatholifchen Glauben irgendwie 
zu verändern; fie bewilligten nur eine Reformation des katho— 
lichen geijtlichen Standes. 

Darauf berief der Kaijer die Reichsjtände (am 15. Mat 1548) 
in feine Behaufung und legte ihnen das Interim zur Annahme 
vor. In der Vorrede, die verlejen wurde, ermahnte er die 
Altgläubigen, an den Anordnungen und Satzungen der all: 
gemeinen chriftlichen Kirche treu feitzuhalten, die Proteftanten 
aber jollten entweder zum alten Glauben zurücfehren oder ſich 
dem Interim gemäß verhalten. Dann nöthigte er in außer- 
gewöhnlicher und faſt gewaltfamer Weije die Reichsſtände, in 


jeiner Gegenwart zu berathen und zu bejchließen. Kurfürſt 
(488) 


21 


Mori war darüber heftig aufgebracht, daß nur die Proteftanten 
das Interim annehmen follten, denn dag widerjprach den ihm 
befannten vorangegangenen Verhandlungen. Als er überftimmt 
wurde, unterließ er zwar jeiner Zujage gemäß den öffentlichen 
Widerſpruch, aber er behielt fich eine bejondere Verwahrung 
vor dem Kaijer ausdrüdlich vor. 

Drei Tage jpäter Hatte er nochmals einen harten Strauß 
zu beftehen: Der Kaijer verlangte von ihm jchuldigen Gehorjam 
und warnte ihn ernftlich vor einer Trennung von den Bejchlüffen 
des Reichsſtages. Der Kurfürft blieb dabei ftehen, daß er ohne 
jeine Landjtände nichts bewilligen fünnte; doch hoffte er, daß 
fie dem Kaifer in allem gehorchen würden, was vor Gott zu 
verantworten wäre. Schließlid) mußte er zugeftehen, daß er 
alle thun wolle, um feine Landjtände zur Annahme des 
Interims zu bewegen. Nachdem der Kaijer ihm die Vollziehung 
der gegen Magdeburg ausgejprochenen Acht dringend ans Herz 
gelegt Hatte, gewährte er ihm den erbetenen Urlaub zur Rück— 
fehr in die Heimath. 

Ungejäumt berief dann Kurfürft Morit die älteften, vor- 
nehmjten und erfahrenften Vertreter der Landitände, die tüch— 
tigſten Räthe und die hervorragenditen Theologen nad) Meißen 
zur Berathung über das Interim. Alle jollten frei befennen, 
was man annehmen fünne und was man auf Grund der 
heiligen Schrift zurückweiſen müſſe. Der Kurfürft wollte weder 
von der rechten Lehre abweichen, noch dulden, daß jeine Unter: 
thanen zur faljchen Lehre gezwungen würden; aber um des 
allgemeinen Friedens willen und um ernſte Gefahren zu ver: 
hüten, follte man in allen Punkten nachgeben, die nicht Die 
Wahrheit des Wortes Gottes beeinträchtigten oder die Gewiſſen 
der Gläubigen verlegten. 

Die Berjammelten nahmen zunächſt an der Worrede des 


faijerlihen Interim8 wegen der darin enthaltenen, anfechtbaren 
(489) 


22 


und bedenflichen Säbe großen Anſtoß. Dann griffen fie das 
Interim mannhaft an, bejonders die Artikel von der Recht: 
fertigung, von der Gewalt der Kirche und der Bilchöfe; fie 
befämpften die Meſſen, die Wallfahrten, die Prozeſſionen, 
den gefamten Heiligendienft und alle anderen Mißbräuche. Zuletzt 
lehnten fie die Annahme des Interims einmüthig ab. Lieber 
wollten fie Leib und Gut daranjeßen, al3 die wahre chriftliche 
Lehre preißgeben. Der Kurfürjt folle den Kaifer demüthig 
bitten, zufolge der früheren Zufage die ſächſiſche Kirche bis zur 
Entjcheidung dur ein Konzil unverändert zu dulden. 

Ueberzeugt davon, daß beim Kaiſer weder ein Bittgejuch 
noch eine ftattliche Gefandtjchaft etwas nützen werde, wollte Morik 
bejtimmt wifjen, wie weit man nachgeben fünnte; denn in allen 
Dingen, die das Wort Gottes nicht verböte, müßte man dem 
Kaifer als der von Gott verordneten Obrigkeit gehorchen. Un— 
nachgiebigfeit führe zum Kriege; ein durch Starrfinn verjchulderer 
Krieg wäre aber viel gefährlicher und jchädlicher als wohl: 
erwogene Nachgiebigfeit in minder wichtigen Dingen; ein uns 
glüdliher Krieg feße nicht nur die Wohlfahrt des Landes, 
jondern aud) die gejamte Lehre des heiligen chriftlichen Glaubens 
auf das Spiel. Ganz anders läge die Sache, wenn der Kaiſer 
ungeachtet der in einzelnen Stüden bewiejenen Nachgiebigkeit das 
Interim mit Gewalt einzuführen verjuchte; dann Fünne man 
fröhlichen Gemüthes Widerftand leiſten und zum Schwerte 
greifen. 

Mehrfach fuchten die Theologen ihre geiftliche Pflicht von 
der Aufgabe des Kurfürften zu trennen; unbefümmert um jie 
und um ihr Belenntniß follte er mit jeinen Landſtänden berathen 
und bejchließen, was zu thun wäre, um das Kurfürſtenthum 
vor jeder Gefahr zu behüten. Kurfürft Mori aber hielt es 
für feine Pflicht, die Theologen ebenſo in Schuß zu nehmen 


wie die anderen Unterthanen; Niemand, weder Melanchthon 
(4%) 


noch ein anderer Gottesgelehrter, ſollte des Glaubens und der 
rechten Lehre halber aus feinem Lande ind Elend ziehen. Dem: 
ungeachtet hielten die Theologen an der Berwerfung des Interims 
feit, und die Vertreter der Landſtände weigerten fich, ohne Wiſſen 
und Zuftimmung der gejamten Zandjtände irgend etwas zuzu— 
geitehen. 

Darauf Hielt der KHurfürft eine Verhandlung etlicher 
Theologen und Räthe mit den Biſchöfen von Naumburg und 
Meißen für nöthig und gut. Allein in Pegau, wo man zus 
fammentraf, fam die Verjtändigung über die Punkte, die man 
bewilligen fünne, nicht über den Artifel von der Rechtfertigung 
hinaus. Wie Melanchthon feinen proteftantifchen Standpunft 
auf das bejtimmtejte zu wahren juchte, damit fein Zweifel über 
feine Gejinnung und Weberzeugung auffäme, jo erklärten die 
Biſchöfe, daß es nicht in ihrer Gewalt ftünde, das Interim zu 
verändern. 

Schon nahten Ermahnungen des römischen Königs und des 
Kaijers, das Interim anzunehmen und nicht zu dulden, daß 
man dagegen predigte und jchriebe. Kurfürft Moris verwahrte 
fi gegen jede grundlofe Anjchuldigung und bat um Geduld; 
denn das Volk Tiefe fich ſchwer abbringen von der Lehre, woran 
e3 fajt dreißig Jahre lang geglaubt hätte. Ritterlich nahm er 
Melanchthon gegen alle Verdächtigungen in Schuß, jo daß der 
Kaifer jchließlich eine gnädige Antwort jandte. Ja der alte faijer: 
lihe Rath Granvelle gönnte dem Kurfürjten den großen Ge: 
lehrten und jagte zum ſächſiſchen Gejandten: Die Nachwelt 
würde es zu rühmen willen, daß der Kurfürft „den vornehmijten 
Dann jeiner Zeit jo hofiret und erhalten hätte.“ 

Mehrere Briefe eines Bruders Auguft bezeugen, daß Moritz 
feine Neigung für dag Interim Hatte; aber jeine in manchen 
Stüden überaus jchwierige Lage zwang ihn, zu laviren jo gut 
e3 ginge. Obgleich ihm Kurfürit Joachim in religiöfen Dingen 


(491) 





24 


viel zu mild und nachgiebig war — er nannte ihn das dide 
Interim —, jo hielt er es doch für gut, wie in anderen Dingen, 
jo auch inbetreff des Interim mit ihm gleichen Schritt zu 
halten. Nach den zwei wichtigen ſächſiſchen Berathungen in 
Torgau und in Altzella kamen die beiden Kurfürften in Jüter- 
bogk zujammen und jegten urkundlich die Punkte fejt, die jie 
mit Bewilligung ihrer Landftände annehmen und befolgen wollten. 
Zuverſichtlich hofften fie, daß ihr gemeinfames Bekenntniß den 
Kaijer befriedigen, jowie anderen protejtantijchen Fürften und 
Ständen eine gute Anleitung zur Bergleihung und Einigkeit 
bieten würde. 

Bier Tage jpäter trat der Furfächfiiche Landtag in Leipzig 
zujammen. Nach fräftigen Ermahnungen des Kurfürften zum 
Gehorjam gegen den Kaijer ftimmten die Landftände den Be— 
ihlüffen von Altzella zu, damit das Vaterland vor Krieg 
bewahrt und die reine Lehre erhalten bliebe. Die anweſenden 
Biihöfe von Naumburg und Meiken aber billigten die Beſchlüſſe 
nicht, da fie nicht im Einklange mit dem kaiſerlichen Interim 
ftünden; vielmehr gaben fie zu bedenken, wohin ein jolches 
eigenmächtige8 Verfahren führen könnte, denn nur der Kaifer 
hätte inbetreff des Interimd Maß zu geben. 

Darauf berichtete man an den Kaijer, daß der Kurfürft 
mit feinen Landftänden über die Einführung des Interims 
fleißig verhandelt und nach UWeberwindung großer Schwierig: 
feiten mehrere Punfte zur Annahme gebracht hätte. Da man 
hoffen könne, daß die Unterthanen mit der Zeit das Interim 
autheißen würden, jo jolle der Kaiſer Geduld Haben. 

Auf Grund der Gutachten feiner Theologen und der Be- 
willigung feiner Landjtände ließ Kurfürft Morig eine neue 
Kirchenordnung ausarbeiten und auch an die Biſchöfe zur Durch» 
ſicht jenden. 

Die nad) Torgau berufenen Zandräthe und Vertreter der 

(492) 


25 


Nitterichaft wünschten, daß vor dem Drude und vor der Ber: 
Öffentlichung der Kirchenordnung die vortrefflichiten Theologen 
des Landes, die Superintendenten und die tüchtigjten Baftoren 
nochmals genau prüfen follten, ob die Kirchenordnung in vollem 
Einflange mit dem Worte Gottes und mit den Leipziger Artifeln 
ftünden. Die nicht erjchienenen Biſchöfe aber riethen brieflich 
davon ab, die Kirchenordnung, die mit dem Interim gar nicht 
übereinftimmte, unter die Leute zu bringen. Außerdem warnte 
König Ferdinand vor jeder eigenmächtigen Abänderung des 
Interim. Infolgedeſſen war Kurfürft Mori der Anficht, 
daß die Veröffentlihung der neuen Kirchenordnung vorläufig 
nicht ftattfinden dürfe. Einige Mitteldinge aber, die feinen 
großen Streit verurjadhten, jollten hHerausgehoben, mit dem 
Interim in Einklang gebradjt und vor der Veröffentlichung dem 
Kaifer und dem Könige zur Billigung zugefchict werden. Ob: 
gleich die nad) Grimma geladenen Theologen, Superintendenten 
und Baftoren, die neue Kirchenordnung einmüthig billigten, jo 
unterblieb doch die Veröffentlichung. 

Nach einem dreimöchentlichen Bejuche beim König Ferdinand 
in Brag, wo man eingehend über das Interim gejprochen hatte, 
ließ Kurfürft Morig einen Auszug aus den Alltzeller- Leipziger 
Artikeln über Taufe, Konfirmation, Beichte, Buße, Abjolntion, 
Delung, Mefje, Abendmahl, Feiertage, Ehe, Prieſterkleidung, 
Kirchenzucht 2c. machen, um ihn in Form kurzer Befehle nad) 
und nad) zu veröffentlichen. 

Eine ernfte Berathung über, diefen Auszug und über die 
neue Kirchenordnung fand nochmals im Dezember 1549 in 
Leipzig ftatt. Alle anmwejenden Geijtlichen jprachen gegen den 
Auszug und für den Drud der Kirchenordnung. Trotzdem 
unterließ man die Veröffentlihung; alles blieb vorläufig unent- 
jchieden, man wartete die Entwidelung der Dinge im Reiche 


ab. Das Interim gewann feinen Boden in Sachſen. 
(495) 


26 

Auf dem Neichttage zu Augsburg (1550—1551) erklärte 
fi die Mehrheit der Reichsjtände für die vom Papſte bewilligte 
Fortſetzung des Trienter Konziles und ftellte dem Kaiſer anheim, 
die jaumjeligen proteftantifchen Neichsftände zur Annahme des 
Interims zu nöthigen. 

Die anmwejenden kurſächſiſchen Räthe forderten wie früher 
ein allgemeines freies und chriftliches Konzil, wozu auch die 
Stände des Augsburgiſchen Befenntniffes zu berufen und mit 
fiherem Geleite für die Hin- und Rückreiſe zu verjehen wären. 
Unabhängig vom Bapfte müßte man alle Streitfragen auf 
Grund der Heiligen Schrift von neuem erörtern, damit endlich 
eine nüßliche Neformation an Haupt und Gliedern vollzogen 
würde. Es erjchien ihnen nicht rathſam, die Einführung des 
Interims zu erzwingen. Wegen der bevorftehenden allgemeinen 
Kirchenverſammlung jollte e8 vielmehr erlaffen werden; denn es 
hätte genug Streit und Zank, Unmuth und Ungeduld erregt 
und wäre beim Volke nicht durchzufegen. Die gewaltjame Ein- 
führung des Interims veranlafje Aufruhr und Empörung. 

Diesmal ließ Kurfürft Mori im Nurfürftenrathe gegen das 
Trienter Konzil kräftigen Einjpruch erheben und gewann dadurch 
den Beifall der Proteftanten. Demungeachtet ftellte der Kaiſer 
die Berufung des Konziles nach Trient in nahe Ausfiht. Wie 
die Katholiken, jo jollten aber aud) die Proteftanten eingeladen 
und ficher geleitet werden. Außerdem follte dag Interim big 
zum Sclufjfe des Konziles in Kraft bleiben. 

Kaum war die Einladung zum Trienter Konzil in Dresden 
eingetroffen, jo beauftragte Kurfürft Morig feine Räthe, mit 
den Theologen darüber zu berathen. Melanchthon meinte, daß 
man das Konzil befuchen und dort die reine Lehre gemäß dem 
Augsburgifchen Belenntniffe vertreten müßte. Nicht die Fürſten 
jollten Schriften übergeben Iafjen, fondern die Theologen jollten 


Rechenſchaft ablegen und anzeigen, warum man ſich von der 
(494) 


27 


römijchen Kirche abgejondert hätte. Ueberaus nüßlich wäre 
ed, wenn ſich die Theologen der protejtantiichen Länder und 
Städte in Nord- und Süddeutſchland über eine gemeinjame 
Schrift einigten, damit die in Trient erjchienenen fremden 
Nationen fähen, daß die Lehre der evangelifchen Kirche „nicht 
eine zerriffene Verwirrung, jondern eine einmüthige Wahrheit 
wäre.” 

Der Gedanke Melanchthons fand Beifall. Sofort Fnüpfte 
Kurfürft Mori mit den protejtantiichen Reichsjtänden Wer: 
handlungen über eine allgemeine chrijtliche Einigung an, während 
Melanchthon nah Defjau wanderte und mit Fürſt Georg von 
Anhalt das jogenannte ſächſiſche Bekenntniß verfaßte. 

Nachdem die furfürftliche Regierung einzelne Stellen diejes 
Bekenntniſſes maßvoll abgeändert hatte, nahmen e3 die in Witten- 
berg verjammelten Theologen, jowie die anmwejenden Vertreter 
des Markgrafen Hans von Küftrin an. Später gaben die Herzöge 
von Mecdlenburg und Bommern, der junge Marfgraf von 
Ansbach) und Andere ihr Einverjtändniß zu erfennen; Kurfürft 
Joachim von Brandenburg aber fand immer mehr Gefallen am 
Interim und hoffte dadurd) jelig zu werden, 

Kurfürft Mori begnügte ſich nicht mit dem zugeſchickten 
faiferlihen Geleite zum Konzile, jondern verlangte für feine 
Theologen zur Neife nach Trient auch ein Geleit vom Konzile, 
wie e3 einjt die Böhmen nach Bajel erhalten hatten; zugleich) 
betämpfte er den Vorſitz des päpftlichen Legaten und forderte 
freie Verhandlung auf Grund der heiligen Schrift. Als ein 
Vergamentbrief ohne Siegel in Sachſen angefommen war, der 
dem Bafeler Geleite nicht entſprach, ſchickte Morig zwei Räthe 
nah Trient, um das beantragte Geleit nochmals zu erbitten 
und den ſächſiſchen Gottesgelehrten einen ficheren Weg zum 
Konzile zu bereiten. 

Dann bat er den Kaijer, es ihm nicht zu verargen, wenn 

(495) 


28 


er wegen der Wichtigkeit der Sache jede Uebereilung vermiede. 
Im Januar 1552 zog Melanchthon mit zwei Theologen bis 
Nürnberg und dann bis Augsburg, um auf Befehl des Kur. 
fürften nad) Trient zu eilen; allein im März rief man fie 
zurüd, weil der Krieg gegen den Kaiſer begann. 

Was wollte diefer Krieg? Herzog Auguft fchrieb damals 
an jeinen Schwiegervater König Chrijtian von Dänemark, daß 
jein Bruder Mori willens wäre, einen gewaltigen Kriegszug gegen 
den Kaifer anzufangen wegen der Religion und des Konziles, 
wegen der Gefangenjchaft des Landgrafen und wegen der Frei: 
beit des deutjchen Volkes. Kurfürjft Mori wollte thatjächlich 
das Interim vernichten, das päpftliche Konzil in Trient aus: 
einanderjagen und einen Religionsfrieden durchjeßen; er wollte 
den gefangenen Schwiegervater befreien und den Kaiſer zu einer 
jolhen Regierung nöthigen, daß die Deutjchen bei der alten 
löblichen Freiheit gelafjen würden und weder den Pfaffen noch 
den Spaniern auf dem Reichstage und fonit unter den Füßen 
zu Siegen brauchten. 

E3 giebt wenige Abjchnitte in der Gefchichte, die jo fejfelnd 
und jpannend find wie die Jahre 1550—1552, wo Aurfürft 
Morig einerſeits möglichſt gute Beziehungen zum Kaiſer aufrecht 
erhielt, andererjeit3 mit diplomatiſcher Vorſicht und mit ver- 
wegener Entjchlofjenheit den Schlag gegen ihm vorbereitete. 
Während der Kurfürjt als Feldherr des Kaiſers und des Reiches 
die geächtete Stadt Magdeburg ein Jahr lang belagerte und 
dadurch den fogenannten Reichsvorrath bi8 auf den letzten 
Pfennig verbrauchte, verhandelte er mit Landgraf Wilhelm von 
Heſſen, mit Markgraf Hans von Küftrin, mit den jungen 
Erneftinern und mit anderen protejtantifchen Fürſten, jowie mit 
Frankreich über ein Bündniß gegen den Kaiſer. Die fran— 
zöfiihen Verhandlungen veranlaßte zunächſt der Plan zur Be: 


freiung des Landgrafen, der leider mißglüdte; dann wollte man 
(496) 


29 


mit Hülfe Frankreihs auch die unterdrüdte Freiheit Deutjch- 
lands retten und das bejchwerliche Faiferlich » jpanische Joch 
„viehifcher Knechtſchaft“ abjchütteln. Der Kurfürft weihte feinen 
feiner Räthe in die Verhandlungen mit Frankreich ein, jondern 
beauftragte damit zwei Heſſen; jeine Gattin nur wußte davon 
und bewahrte die geheimen Schriftjtüde jorgfältig in einer Kleinen 
Brieflade auf. 

Kurfürft Morig hoffte, „viele gute Leute an den Tanz zu 
bringen”; allein jeiner raftlojen Thätigfeit traten große Schwierig: 
feiten entgegen. 1552 jtanden nur er, der junge Landgraf 
Wilhelm von Helen und Herzog Johann Albrecht von Mecklen— 
burg im Bunde mit Frankreich gegen den Kaiſer. Markgraf 
Albreht von Brandenburg: Kulmbad) war bereit, mit feinen 
Truppen zu helfen, Markgraf Hans war mit Morig zerfallen, 
die anderen Fürjten hielten ſich zurüd. 

Mit Unrecht ijt behauptet worden, daß Kurfürſt Moritz 
damals Reichsrechte preisgegeben hätte Man prüfe die Ver: 
handlungen mit Frankreich gründlich und gewinne Klarheit über 
die Lage und Stellung der in Betracht fommenden franzöfiich 
redenden lothringijhen Städte Met, Toul, Verdun x. Um 
diefen Punkt richtig zu verjtehen, muß man die deutjche und 
die franzöſiſche Gejchichte vom Vertrage von Merjen (870) an, 
fowie die burgundijch-niederländiiche Geſchichte und den zähen 
Streit des Haufes Habsburg mit dem Haufe Valois und Bourbon 
genau kennen. 

Um was handelte es ſich damal3? Ich will es furz an- 
deuten: Wenn der Krieg gegen den Kaiſer glücte, dann jollten 
die Lothringifchen Städte Meg, Toul, Verdun zc., die der Kaifer 
eigenmächtig zu feinem burgundiſchen Kreife gezogen hatte, unter 
ausdrüdtichem Vorbehalte aller auf den Städten ruhenden 
Neichsrechte aus der ſpaniſch-burgundiſchen in die franzöfiiche 
Verwaltung übergehen; die Bundesfürften wollten König 

(497) 


30 


Heinrich II. zu dem in der deutſchen Gejchichte befannten Titel eines 
Vikarius des heiligen römischen Reiches für jene mit franzöfifcher 
Bevölkerung bejiedelten Gebiete verhelfen. Man mußte in diefem 
Punkte willfährig fein, um höhere Ziele zu erreichen. Später 
find die lothringijchen Städte, wie die burgumdijch-niederländijchen 
Gebiete, dem Heiligen römijchen Weiche verloren gegangen. 
Wer dafür Mori von Sachſen verantwortlich) machen will, der 
begeht ein Unrecht! Wer ferner am Bunde des Kurfürften und 
jeiner Genofjen mit Frankreich Anftoß nimmt, der muß auch an 
allen früheren und jpäteren Berhandlungen und Biündniffen 
deuticher Fürften mit Frankreich; Anftoß nehmen. Der Schmal- 
faldiiche Bund Hat auch mit Frankreich verhandelt und zur Zeit 
des jchmalfaldischen Krieges von Franz I. 200000 Gulden in 
Empfang genommen. Wir dürfen unjere jegigen Anjchauungen 
nicht in jene Zeiten übertragen | 

Was den Kaiſer betrifft, jo wollte er an eine Schilderhebung 
des Wettinerd gegen ihn nicht glauben. Alle Warnungen ſchlug 
er in den Wind. Ja jein kluger und jchlauer Rath, der 
jüngere Granvelle, jchrieb zur Zeit der drohenden Gefahr an 
des Kaiſers Schweiter Marie, daß der Kurfürſt von Sachen 
jo wenig hinreichenden Verſtand hätte, wie jein Genofje Mark: 
graf Albrecht, um große Unternehmungen zu leiten; beide wären 
zu bejchränften Geiſtes, um hervorragende Anſchläge aus- 
zuführen. 

Oft Hat man Mori von Sachſen einen Schüler Karl V. 
genannt. Wenn dem jo ift, dann darf man mit Recht jagen, 
daß der Schüler den Meijter übertroffen habe. WBergleicht man 
den Zug des NKurfürften gegen den Kaiſer mit dem jchmal: 
faldiichen Kriege, jo nöthigt die That des Kurfürjten mehr 
Bewunderung ab, als die That des Kaiſers. Beachten wir 
folgendez: Wie der Kaifer die braunfchweigiichen Händel zum 
Borwande jeines Krieges gegen die ſchmalkaldiſchen Bundesfürjten 


(498) 


31 





nahm, jo jtellte Kurfürſt Morig die Gefangenschaft des Land- 
grafen in den Vordergrund zum Kampfe gegen den Kaifer. 
Wie der Kaifer ungehorfame und rebelliiche Fürften beftrafen 
wollte, jo wollte Morit jeine Ehre retten, die der Kaiſer einſt in 
Halle jo jchwer verlegt hatte; doch nicht er (Moritz) fündigte dem 
Kaijer den Krieg an, fondern der junge Landgraf Wilhelm fchicte 
den Abjagebrief an den Faiferlihen Hof wegen der Haft jeines 
Baterd. (Dem zweiundfünfzigjährigen Kaijer find die Thränen 
in die Augen getreten, als er las, daß ihm der zwanzigjährige 
Landgraf die fürjtliche Fehde anzeigte.) Weiter: Wie Johann 
Friedrich von Sachſen und Philipp von Heffen durch den jchmal- 
kaldiſchen Krieg in Gefangenschaft geriethen, jo befreite fie der Zug 
des Kurfürjten gegen den Staijer. Wie das Interim eine Folge des 
ihmalfaldijchen Krieges war, jo folgte auf den Krieg von 1552 
die Glaubensfreiheit für die Protejtanten. Wie der ſchmalkaldiſche 
Krieg die Macht Karl V. erhöhte, jo brad) der Krieg des Kur: 
fürjten die jpanische Gewalt in Deutjchland und vernichtete den 
faijerlichen Plan zu einem ſpaniſch-deutſchen Erbreiche. 

Moritz von Sachjen ift durch feinen rajchen Zug nad) Süd— 
deutjchland, dur) die Eroberung Augsburgs, dur) die Er: 
ftürmung der Ehrenberger Klaufe und durch die Einnahme 
Snnsbruds berühmt geworden. Der Kaifer mußte jchnell ent» 
fliehen, um nicht in die Hände des Gegners zu fallen; jeine 
Flucht von Innsbruck nad) Villah in Kärnthen ift wohl jeine 
tiefjte Erniedrigung gemwejen. 

Die Berhandlungen zu Linz und Bafjau bleiben auch unver: 
geßlich in der deutichen Geſchichte. Kurfürſt Morik forderte an 
beiden Orten wicht nur die Freiheit des Landgrafen, jondern 
auch Freiheit der Neligion, Freiheit des deutſches Volkes, 
Befeitigung aller Mipftände im Reiche, Aufrichtung eines all: 
gemeinen Friedens, gleiches Recht für alle, jowohl für die 
Protejtanten als auch für die Katholiken ꝛc. Nicht auf dem 


(499) 


32 


papiftiichen Konzile zu Trient jollten die religiöjen Streitfragen 
entjchieden werden, jondern in einer deutjchen Stadt durch das 
deutjche Volt. Falls Feine religiöje Einigfeit zwijchen Katho— 
lifen und Protejtanten zu erreichen wäre, follte doc Jedermann 
ruhig und friedlich leben können. 

Nah langen jchwierigen und äußerjt jchwanfenden Ver— 
handlungen nöthigte König Ferdinand feinem Bruder Karl V. 
in Billa) das Zugeftändniß ab, daß die wichtigen Fragen über 
Religionsfrieden, über Recht und Freiheit zc. auf dem nächſten 
Neichstage innerhalb Jahresfrift entjchieden werden jollten. Da 
das Verhalten des Kaijer während der Verhandlungen großen 
Anftoß gegeben hatte, jo verjprachen die in Paſſau anweſenden 
Fürften und Gejandten dem Kurfürjten von Sachſen, daß fie 
alles, was zur Aufrihtung und Erhaltung eines bejtändigen 
religiöjen und weltlichen Friedens dienlich wäre, mit höchſtem 
Fleiße befördern wollten. 

In der Heimath angekommen, theilte Kurfürjt Mori jeinen 
Landitänden in Torgau ausführlid”) mit, was er durch den 
Kriegszug erreicht hätte. Jedermann erfannte die große That 
des fühnen und glüclichen Kurfürjten an. 

Nach jeinem zweiten Zuge gegen die Türken war Kurfürft 
Mori auf die Erhaltung und Durchführung des Pafjauer 
Bertrages unausgejeht bedacht. Verſchiedene Anzeichen nöthigten 
ihn zur Wachſamkeit. Der frühere Kurfürft Johann Friedrich 
hatte vom Kaiſer Gnadenbezeigungen erhalten, Die der Wittenberger 
Vertrag nicht ohne weiteres zuließ; Markgraf Hans von Küjtrin 
war in den faiferlichen Dienjt getreten; ferner hatte der Kaijer den 
Gegner des Bafjauer Vertrages, den Berbündeten Frankreichs, Darf» 
graf Albrecht von Brandenburg-Kulmbach, auf feine Seite gezogen 
und ihm die früher für ungültig erklärten Verträge, die er den 
Bilhöfen von Würzburg und Bamberg abgenöthigt hatte, bejtätigt. 
Welhe Gefahr konnte für Kurfürſt Morig daraus erwachjen! 


500) 


33 


Alle Fürften, die den Pafjauer Bertrag zu ftande gebracht 
hatten, ftimmten mit Kurfürjft Mori darin überein, daß der 
Bertrag aufrecht erhalten werden müßte. Das beweifen nicht 
nur die Bundezverhandlungen in Eger, jondern auch die Friedens— 
verhandlungen in Heidelberg und auf dem neuen Sclofje be- 
Heidelberg, woran Mori perfönlich theilnahfm. Die ver- 
jammelten Fürjten waren mit der Haltung des Kaijers und mit 
jeiner Regierung feineswegs einverjtanden; man haßte den 
jüngeren Granvelle und verabjcheute die „unlauteren Handlungen 
und weljchen Bofjen des verrufenen Staatsmannes“; gern hätte 
man fich des „Ichwarzen weljchen Pfaffen” entledigt. 

Als Hüter des Pafjauer Vertrages nahm Morik von Sachſen 
1553 eine bedeutende Stellung ein. Es hieß faft: Hie Kaijer, 
bie Kurfürft; Hier Kampf oder Frieden und Glaubensfreiheit! 

Um den Kaiſer in Schranfen zu halten, jegte Moritz die 
Berhandlungen mit Frankreich fort und unterjtüßte zufolge des 
Bertrages von Neuhaldensfeben mit Herzog Heinrich von Braun- 
jchweig die fränkischen Bilchöfe gegen Markgraf Albrecht. Als 
darauf der bedrängte wilde Hohenzoller nach Norddeutichland 
vordrang, ſuchte ihn Kurfürſt Morig, mit Herzog Heinric) 
und König Ferdinand verbündet, aus dem Felde zu jchlagen. 

Am 9. Juli 1553 fam es zur mörderiſchen Schlacht bei 
Sievershaujen, zwijchen Hannover und Braunfchweig. Mark: 
graf Albrecht wurde verwundet, Herzog Heinrich verlor zwei 
Söhne und einen Bajtard, Herzog Heinrich von Lüneburg erhielt 
zwei tödlihe Wunden. Und als Kurfürſt Mori im wilden 
Neitergewühle wader dreinjchlug, durchbohrte die Kugel einer 
Fauftbüchje feine ſchwarze Rüſtung und feinen Rüden unter 
dem linfen Schulterblatte. Schonungslos gegen fich jelbit ver: 
folgte er die fliehenden Feinde und jchoß etliche nieder, bis 
jeine Wunde ihn zur Rückkehr nöthigte. Welche Zukunft, wenn 


er unverjehrt geblieben wäre! 
Sammlung. N. F. XIII. 302. 3 (601) 





34 


Nach dem jchwer errungenen Siege wurde der Verwundete 
im furfürftlichen Zelte auf der Wahlftatt verbunden. Die Aerzte 
tröfteten. Der Kurfürjt befahl fi) der Allmaht und Gnade 
Gottes und fand Beruhigung in dem Gedanken, daß jeine That 
gegen Markgraf Albrecht aus Eifer für Ruhe und Frieden im 
Deutjchen Reiche gejchehen wäre. Abends ließ er Siegesberichte 
nach verjchiedenen Seiten ergehen. Am anderen Morgen war 
er noch fröhlich und guter Dinge und redete ganz friich und 
nicht fränflih. Nachmittags aber ftanden die Aerzte im Zweifel, 
ob er genejen oder der Wunde erliegen würde; die Schmerzen 
wuchſen, die Kräfte jchwanden. Oft ließ er fich von feinem 
Teldbette auf einen Stuhl heben und dann wieder niederlegen, 
ohne Linderung zu finden. Dabei zeigte er große Faſſung und 
rührende Ergebung in Gottes Willen. Der Hofprediger Weiß, 
deſſen Berichte ich folge, mußte ihm Worte des Troftes jpenden. 
„Mit großem Ernfte und mit wohlbedahtem Muthe“ beichtete 
er und empfing darauf die Abjolution. 

Als fein Zuftand hoffnungslos geworden war, ließ er ſich 
in aller Frühe des 11. Juli das bochwürdige Abendmahl unter 
beiderlei Gejtalt „mit großer Andacht und guter Vernunft“ 
darreihen. Dann machte er noch vor Sonnenaufgang jein 
Tejtament. Die lebte feiner drei im Teſtamente befindlichen 
Unterſchriften vollzog er mit jchwacher, zitternder Hand. 

Darauf bat er den Hofprediger, ihn ferner zu tröften und 
ihm Sprüche und Gebete vorzujagen und nicht aufzuhören, jelbit 
wenn er ſprachlos werden jollte. Als die Schmerzen allzugroß 
wurden, jagte er: Ach mein Gott, wie lang biſt Du außen, 
willft Du es nicht jchier ein Ende machen. Da ließ ihn Weiß 
auf einen Stuhl ſetzen; weil aber die Schmerzen überhand 
nahmen, jo bat der Sterbende, ihn wieder niederzulegen. Schon 
brachen die Augen, aber noch jprady er mit ftarfen Worten 
nah: Vater, in Deine Hände befehle ich Dir meinen Geift. 


(502) 


35 


BZulegt jagte Weiß: Wenn er jterben wollte als ein chrift- 
gläubiger und jeliger Menſch, jo jollte er ein Zeichen von ſich 
geben. Darauf nicdte der Kurfürſt und wandte ſich zur Seite. 
So iſt er furz nad adt Uhr vormittags in Jeſu Chrifto 
jeliglich verjchieden und entjchlafen, in der Blüthe der Jugend, 
im Alter von zweinmddreißig Jahren und etlichen Monaten. 

Alle Beileidsjchreiben, die in Dresden einliefen, mit Aus- 
nahme des erneftinijchen aus Weimar, rühmten den Verftorbenen 
als ehrlichen, tapferen und ritterlichen Helden, ala Löblichen 
männlichen und jiegreichen Landesfürjten. König Ferdinand 
beffagte jeinen bejonders bevorzugten treuen Freund, der dem 
gejamten deutjchen Vaterlande als ein treuer Held gedient und 
Leib und Leben geopfert hätte, Kurfürjt Joachim von Branden: 
burg, Herzog Heinrid) von Braunjchweig und andere Fürften 
beflagten den Verluſt ihres vertrauten, beten und liebſten 
Freundes und Bruderd. Tief erjchüttert war Herzog Auguft 
und Landgraf Philipp von Heljen, untröftlic) die Witwe Agnes, 
als jie die Trauerbotjchaft erhalten hatten. 

Zwei Tage nad) dem Tode de3 Kurfürſten verließen die 
trauernden Sachſen die Wahljtatt bei Sievershaufen; fünf Ge: 
ſchwader Reiter begleiteten die Leiche. Am 19. Juli, nachmittags 
3 Uhr, nahte der Zug der Stadt Leipzig. Die Grafen des Leip— 
ziger Kreijes, die Freiherren und die Herren von der Ritterichaft, 
die Univerjität, der Rath und die Stadtgemeinde zogen der 
Leiche entgegen und geleiteten fie unter Glodengeläute in die 
Thomasfirche. Der Prediger, der die Trauerrede hielt, ver: 
fündigte jeinen Zuhörern den chrijtlichen und jeligen Abſchied 
des Kurfürſten, rühmte die ehrlichen und ritterlichen Thaten 
und Tugenden de3 Helden und ermahnte, Gott zu bitten für 
den verjtorbenen Landesherrn. Bier Tage jpäter erfolgte die 
feierliche Beifegung der Leiche im Dome zu Freiberg. 


222 


Auf dem Reichstage zu Augsburg 1555 erreichten die 


5° (503) 


36 


— — 





Proteſtanten den Religionsfrieden, wofür der jugendliche Kurfürſt 
ſein Leben gelaſſen hatte. Die Anhänger des Augsburgiſchen 
Bekenntniſſes traten den Katholiken ebenbürtig gegenüber. 

Mit Fug und Recht darf ich ſagen: Kein Augsburger 
Religionsfrieden ohne Moritz von Sachſen! Alle Lutheraner 
oder Proteſtanten ſind ihm ebenſo zu Dank verpflichtet wie 
jedem anderen evangeliſchen Glaubenshelden. 


Me 
Shub- und Kampfmittel des Organismus 
genen die Infektionskrankheiten. 


Bon 


Dr. med. Sermann Dekker 
in Zeipzig-Gohlis. 


Samıı 
Verlagsanftalt und — uckerei A. J —*— ma als J. F. Richter), 
önigliche Hofbuchdr 


Dad Recht der Ueberjegung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 


Drud der Verlagdanftalt und Druderer Actien-Geielichaft 
(vormals 3. F. Richter) in Hamburg, Königliche Hofbuchbruderei. 


Die Geſchichte der anſteckenden Krankheiten ift jo alt wie 
die des Menjchengejchlecht3. Ungezählte Male haben verheerende 
Epidemien auf die Gejchide von Nationen einen beftimmenden 
Einfluß gehabt. In breitem Strome wälzt fi) eine Seuche 
durchs Land: fie dringt ein in die Hütten des Tagelöhners und 
macht nicht Halt vor den Paläften der Großen; unbarmherzig 
rafft fie alt und jung, reich) und arm, hoch und niedrig dahin; 
Niemand weiß, woher fie fommt, wohin fie geht, wann fie 
aufhören wird mit ihrem unheilvollen, graufamen Wüthen. 
Kann e3 und da wunder nehmen, wenn der Menſch in dem 
Kampfe gegen diefen furchtbaren Feind, der mit unfichtbaren 
Waffen kämpft, verzagte, daß er diefe unheimliche Macht für 
unbejiegbar hielt und, rejignirt in dumpfer Verzweiflung, von 
fataliſtiſchem Aberglauben befangen, die Seudyen anſah als eine 
„Sottesgeißel”, al3 eine von der Vorjehung verhängte Strafe 
für die Sünden der Zeit? 

Auch die Nerzte ftanden Hier Jahrtaujende lang vor einem 
Räthſel. Unvermögend, die Natur der Seuchen zu verftehen, 
begnügten fie fich zu ihrer Erklärung mit philojophijchen Spitz— 
findigfeiten und myſtiſchen Phantaftereien. Es ſchien, al3 ob 
fein Lichtftrahl der Erkenntniß diefes dunkle Gebiet je erhellen 


würde. Es war aber auch unmöglich, jo lange nicht die „exakten“ 
Sammlung. N. F. XII. 308. 1* (517) 


4 


Naturwifjenichaften den Boden geebnet hatten für eine plan: 
mäßige, methodiiche Erforſchung der Naturerfcheinungen. Erit 
jeitdem wir eine wohlbegründete naturwifjenjchaftliche Auffafjung 
der uns umgebenden Thatjachen Haben (zu der Phyſik, Chemie, 
Botanif und Zoologie in gleicher Weile beigetragen haben), 
erſt ſeitdem die wifjenschaftliche Medizin ſelbſt Naturwifjen, 
Ichaft geworden it, war es möglich, der Löſung des Problems 
der Infektionskrankheiten näher zu treten. Als es gelungen 
war, fejtzuftellen, daß niedrigfte, kleinſte Lebeweſen, die Bakterien, 
die Urſache verheerender Seuchen waren, und man auf diejer 
Thatſache weiter bauen konnte, da wurde raſch ein Stein nad) 
dem anderen herbeigetragen für den Bau des Fundaments, auf 
dem ſich jebt das jtattliche Gebäude der Bafteriologie erhebt, 
ein Gebäude, Schon jebt jo feitgefügt, daß es fein Wirbefwind 
entgegengejegter Meinungen mehr in feinen Grundfejten zu 
erjchüttern vermag. In dem Ausbau diejer jungen Wiſſenſchaft 
bat ſich der raftloje menjchliche Geift ein neues, nie welfendes 
Zorbeerreis in jeinen Ruhmeskranz geflochten, unvergänglich find 
die Berdienjte von Männern, wie Bafteur, Koch, Klebs, 
Pfeiffer u. v. A. um die Wifjenjchaft, um die leidende Menſch— 
heit. Keiner hat mit jolchem Erfolge das Gebiet der Infektions— 
franfheiten durchforfcht, al3 der geniale Robert Koch, den wir 
mit Stolz den unjeren nennen. 

Es find nicht zwanzig Jahre her, da fand Koch den Er: 
reger der Tuberfuloje, den Tuberkelbacillus; Eberth fand den 
Typhusbacillus; ein damaliger Aſſiſtent Kochs, Löffler (jet Pro- 
feffor in Greifswald), fand den Erreger des Würgengels der Kinder, 
der Diphtherie, den Diphtheriebacillus. So folgte eine wichtige 
Entdefung der anderen und gab die Möglichkeit, die Bakterien, 
die bis jeßt bloß durch ihr Vorfommen in dem menschlichen 
Organismus das Intereffe der Forjcher in Anfpruch genommen 
hatten, außerhalb de3 Organismus zu züchten und auf dieje 


(518) 


5 
Weiſe in ihren Eigenſchaften und Lebensäußerungen beſſer und 
genauer zu erforjchen. 

Die auf diefe Weile gewonnenen Aufklärungen baden 
bei einem großen Theil der Laien, der nicht mit mitleidigem 
Lächeln über die „Bazillenriecherei” zur Tagesordnung übergeht 
und die Aerzte ald die Opfer eines plumpen „Bazillen- 
ſchwindels“ achjelzudend belächelt, eine eigenthümliche, peſſi— 
miſtiſche Auffafjung über das Verhältniß des Menjchen zu den 
Bakterien gezeitigt. Man fühlt ſich unbehaglich in der gebrech— 
lichen irdijchen Hülle, in der man jo willenlo8 mit gebundenen 
Händen den Bakterien preisgegeben ift, man ängftigt fi in 
dem Gedanken, von diefen unheimlichen Feinden rings umgeben 
zu fein, und jpricht von den winzigen Zebewejen nur mit einem 
Gefühl, gemifcht aus Reſpekt und Abjchen. Aber, wenn es aud) 
wahr ift, daß, wo wir ftehen und gehen, überall Bakterien uns 
umgeben, daß unjere Hände, unſere Kleider, unjere Wohnungen 
ungezählte Scharen derjelben beherbergen, jo brauchen wir doch 
die Angft nicht zu theilen. Sie ijt, wie wir jehen werden, 
unbegründet. Schuf die Natur die Bakterien, die in feindlicher 
Stellung zum Menjchengejchlechte jo gewaltige Berheerungen 
anrichten, jo gab fie doch auch dem menjchlichen Körper Ein- 
richtungen, ſich dieſer Heinften, für gewöhnliche Verhältniſſe 
unfichtbaren Feinde wirkffam zu erwehren und den Kampf ums 
Dafein mit ihnen fiegreich auszufechten. Und von diejen Ein. 
richtungen, feinen Schuß: und Kampfmitteln gegen die Bakterien 
macht der Körper Gebrauch ohne unjer Wifjen und Zuthun, ja, 
oftmal3 werden wir gerade durch unſer willfürliches Eingreifen 
den Organismus an einer zweckmäßigen und möglichjt wirkſamen 
Entfaltung diefer geheimnigvollen Schußfräfte hindern. 

Wir Alle kennen ja die Erjcheinung, daß bei einer Epidemie 
manche Menſchen nicht erfranfen, obgleich fie inmitten einer 
verjeucchten Umgebung reichlich Gelegenheit hatten, ſich anzufteden, 


(519) 





6 


und obgleich fie vielleicht jorglos und achtlos genug waren, 
nicht für ihren perjönlihen Schuß zu unternehmen. Wir kennen 
ferner die räthjelhafte Thatſache, daß ein einmaliges Ueber: 
jtehen der meiften anjtedenden Krankheiten vor einer nochmaligen 
Erkrankung derjelben Art jhügt. Wie fommt das? Nun, 
das beruht eben auf den erwähnten Schußvorrichtungen unjeres 
Organismus, von deren äußerjt prompter Wirkſamkeit die Lejer 
ſich mit mir überzeugen werden. Hoffentlich werden meine Aus: 
lafjungen den Erfolg haben, den Lefern, falls auch fie etwa 
pejlimiftiichen Anſchauungen Huldigen und von ängjtlicher 
Bakterienfurcht erfüllt jein follten, ein erhöhtes Vertrauen auf 
die wunderbaren Kräfte unjere® Organismus und ein mehr be: 
rechtigtes, zuverfichtliches Selbitgefühl zu weden, welches es 
ung leicht machen wird, etwaigen Seuchen Falten Blutes und 
unerjchroden entgegen zu jehen. 

Bevor ich auf den Kern meiner Sache komme, muß id) 
auf die Gefahr Hin, Bekanntes zu wiederholen, mir eine zum 
Berftändniß unbedingt nothwendige Abjchweifung über die Natur 
der Bakterien erlauben. Die Bakterien find die Eleinften 
überhaupt eriftirenden Lebewefen, ihre Kleinheit reicht bis 
zum Unvorjtellbaren hinab (die Größe beträgt im allgemeinen 
faum mehr als "/ıooo mm). Wie alle lebenden Weſen aus — in 
Bellen angeordneter — lebender, eiweißartiger (protoplasmatifcher) 
Subſtanz beftehen, jo die Balterien. Ein ganz winzig Feines 
Protoplasmaklümpchen bildet den Balkterienleib, der entweder 
ftäbchenförmig (Bazillen im engeren Sinne) oder kugelig (Kokken) 
oder jchraubenförmig erjcheint (Kommabalterien, Wibrionen, 
Spirillen).. Allen Bakterien ift gemeinfam, daß fie, unter ge: 
eignete Lebensbedingungen gebracht, fih in fabelhaft rascher 
Weije vermehren. Und zwar geht die Vermehrung jo vor 
ih, doß fih ein Balterium im zwei gleichartige Individuen 
Ipaltet, diefe wachjen aus, fpalten ſich wieder und fo geht die 


(520) 


7 


Spaltung ımd Vermehrung in kürzeſter Frijt fort ins Fabel— 
hafte. Diefe Vermehrung durch Spaltung gab den Balterien 
den Namen der Spaltpilze.! Die Vermehrung bat ihr Ende 
erreicht, wenn entweder der Nährboden, d. h. die Subjtanz, aus 
der die Bakterien ihre Nahrung beziehen, erjchöpft ijt, oder big 
die Menge der von ihnen jelbft gelieferten giftigen Stoffwechjel- 
produfte ihnen ein weiteres Wachsthum unmöglich macht. Als 
Nährboden kann ihnen alles Mögliche dienen: Blut, Fleiſch, 
Kartoffeln, Milch u. ſ. w. Zu ihrer Züchtung pflegen wir im 
Laboratorium am häufigften zu verwenden: Beptonlöfungen, 
Bouillon, Gelatinemifchungen, Blutferum, Milch u. dergl. 

Sit der menschliche Körper der Nährboden, d. h. befinden 
fi) Bakterien in demjelben, jo daß fie fih auf Koſten der 
menjchlihen Gewebe vermehren, jo tritt eine Reaktion des 
Organismus ein, die ihren Ausdrud findet in einer Störung 
jeiner Funktionen, d. 5. einer Erfrantung. Im allgemeinen 
nennt man jolche Krankheiten, die durch das Eindringen von 
Keimen in den Körper und deren Bermehrung auf Kojten 
desjelben entjtehen, Infektionskrankheiten, das Ein. 
dringen ſelbſt Infektion oder Anſteckung. Noch einmal: 
Sede Infektionskrankheit ift der Ausdrud des Ver— 
bältnifjes, das zwijchen dem Eindringen des Miro: 
organismus und der Reaktion des angegriffenen 
Körpers beſteht. 

Bon der überaus großen Zahl der bis jet gefundenen 
Balkterienarten ift nun, wie wir ſehen werden, nur eine ganz 
beichränfte Anzahl fähig, als Krankheitserreger gefährlich zu 
werden (d. h. auf dem lebenden Organismus und auf jeine Koſten 
zu vegetiren); dieſe, welche franfheitgerregende („pathogene”) 
Eigenjchaften haben, nennt man paraſitiſche Bakterien, im 
Gegenſatz zu den ſaprophytiſchen, die nicht auf lebendem 


Gewebe, jondern nur auf todtem Material jchmarogen. Sapro- 
(521) 


8 
phytiſche Bakterien ſind auch zu Milliarden in unſerem Darm 
thätig. Hier ſchmarotzen ſie auf dem todten Material, dem 
Darminhalt, und ſchaden dem Körper nicht, ſind im Gegentheil 
von Nutzen für denſelben. 

Ich erwähnte ſchon flüchtig, daß die Bakterien giftige 
Stoffwechſelprodukte erzeugen. (Man faßt ſie unter dem Namen 
„Toxine“ zuſammen.) Dieſe Thatſache iſt für das Verſtändniß 
der Lehre von den Infektionskrankheiten äußerſt wichtig. Denn 
denken wir uns den Fall, daß die Balterien auf Koſten unſeres 
Körper ſich vermehren, jo muß nothwendigerweile das von 
ihnen gebildete Gift in den Körper durch den Blutftrom auf: 
genommen werden und jo unheilvolle Wirkung ausüben. Roux 
und Yerſin, zwei franzöfiiche Forſcher, fanden in filtrirten 
Bouillonkulturen des Diphtheriebacillus (aus denen die Bak— 
terienleiber jelbjt entfernt waren) ein äußerft heftiges Gift, 
das von Fraenkel und Brieger näher unterjucht, als eine 
eiweißartige Subjtanz erfannt und mit dem Namen Tor: 
albumin (Gifteiweiß) belegt wurde. Außer diefem Toralbumin 
der Diphtherie wurden noch eine ganze Reihe anderer Torine 
näber erforjcht. Sprigte man einem Thiere eine durch Fils 
triren von Keimen befreite Kultur, 3. B. der Wundftarrframpf- 
bazillen, ein, mit anderen Worten eine Löſung des von den 
Bazillen produzirten Wundftarrframpfgiftes, jo erzeugte man 
ein Krankheitsbild, das ſich durch nichts von dem unterjchied, 
das durch Verimpfung mit Wundftarrframpfbazillen jelbft ent» 
fteht. Daraus folgt, daß der jogenannte Wundftarrframpf eine 
bakterielle Erkrankung ift, bei dem das Krankheit3bild beftimmt 
wird durch die Wirkung des von den Bazillen erzeugten Giftes 
(Toxins). Das Gift ſelbſt erzeugen die Bakterien am Ort ihrer 
Anfiedelung (3. B. in einer Wunde), von hier aus wird es ing 
Blut aufgenommen. Ganz ähnlich liegen die Verhältniffe bei 


der Diphtherie und vielen anderen Infektionskrankheiten. Uebrigens 
(622) 


9 


geht die Giftbildung der Bakterien nicht ſtets gleichmäßig vor 
ſich. Werden ſie in irgend einer Weiſe geſchädigt, z. B. durch 
längere Zeit fortgeſetzte Züchtung auf ungeeigneten Nährböden 
oder bei zu hoher Temperatur oder durch Zuſatz gewiſſer Chemi— 
falien zu den Nährböden, jo kann die Giftbildung geihwächt 
werden, ja ganz aufhören. Danach unterjcheidet man hoch— 
giftige (vollvirulente) und abgeſchwächte Kulturen einer 
Balterienart.? 

Den bakteriellen Vergiftungs krankheiten jtehen diejenigen 
gegenüber, in denen bie Bakterien fich jo ungeheuer vermehrt 
haben, daß fie jedes Aederchen anfüllen, jo daß man daran 
denken fönnte, daß fie den Körper durch Berftopfung der Blut: 
gefäße oder durch Entziehung der nöthigen Nährftoffe tödten. 
Ob e3 freilich jolche reinen infektiöjen Krankheiten im 
engeren Sinne giebt, iſt wohl jehr fraglich, meijt, vielleicht 
immer, geht die Infektion mit einer mehr weniger 
intenfiven Intorilation einher. 

Die Eingangspforten für die Bakterien find verſchieden: 
fie dringen in den Körper ein entweder auf dem Wege durch 
den Mund, von da in den Magen und Darm, oder fie werden 
in die Aihmungsorgane aufgenommen, in die Naje, die Luft. 
röhre oder die Zungen, oder fie fiedeln fich im irgend einer 
Wunde der Haut oder Schleimhäute an. Der Gelegenheiten zur 
Infektion giebt? alfo gerade genug. 

Gejegt nun, ich würde in meinem Munde lebende, Hoch» 
giftige Diphtheriebazillen aufnehmen, etwa durch Unvorfichtig- 
feit von einem Diphtheriefranten, würde aus dieſem gewiß 
fatalen Ereigniß nun ohne weiteres fich ergeben, daß ih an 
Diphtherie erkrankte? Keineswegs! Ich glaube ſogar ganz 
fiher, daß ich mich ſchon oft infolge der Gefährdung durch 
unſeren ärztlichen Beruf in diejer allerdings wenig wünſchens— 
werthen Lage befunden habe, ohne daß ich jemals an Diphtherie 


(623) 


10 


erkrankt wäre. Und was ich von mir vermuthe, hat man bei Anderen 
fijer nachweifen fünnen. So wurde in einem Kinderkranfen- 
hauſe unter 91 Kindern, die Gelegenheit gehabt hatten, fich 
durch Verkehr mit diphtheriefranfen Patienten anzufteden, obgleich 
fie keinerlei Krankheitserſcheinungen darboten, bei 20 das Bor- 
Handenfein echter, Hochgiftiger Diphtheriebafterien im Mund. 
inhalt feitgeftellt. Wie erklärt fich dieje ſcheinbar jo auffällige 
Thatjahe? An dem urjählihen Zufammenhang von Diphtherie 
und Diphtheriebakterien zu zweifeln, ift nicht wohl angängig, 
da er durch das Experiment ficher bewiefen ift. Alfo müfjen 
die Bakterien entweder unjchädlich gemacht worden oder auf 
einen unfruchtbaren Boden gefallen fein. Und jo ift es in der 
That. Die Schleimhaut des Mundes und Rachens Hat, wie 
alle Schleimhäute des menjchlichen Körpers, die höchſt ſchätzens— 
werthe Eigenjchaft, unter normalen Berhältniffen dem Ein: 
dringen der Bakterien einen nicht leicht zu überwindenden Wider. 
ftand entgegenzufegen. Sie ijt gleihjam die ftarfe Mauer 
der belagerten Feſtung, die der Feind nur betreten kann durch 
eine Brefche. Leider iſt dieſe Breſche ungemein leicht her- 
zuftellen. An den Mandeln 3.3. fehlt oft ſchon unter gewöhn— 
lichen Berhältnifjen die jchügende Schleimhautdede, und dieſe 
Lücken benugen die Bakterien ald willlommene Einlaßpforten. 
Außerdem wird der Rachen allen möglichen Schädigungen durd) 
Einathmen ftaubhaltiger, rauher oder ſonſt untauglicher Luft 
ausgeſetzt, infolgedefjen neigt er zu Katarrhen (zu „Erkältungen“, 
wie man zu jagen pflegt), und diefe find es in erjter Linie, welche 
die Schleimhaut alteriren. Jetzt verjtehen wir auch, warum 
gerade bei folcher Witterung, die erfahrungsgemäß Katarrhe 
zeitigt, alfo bei naßkaltem, ſehr veränderlichem Wetter fich die 
Diphtherieerfranktungen häufen. „Erkältung“ allein kann nie und 
nimmer eine Diphtherie hervorrufen, wohl aber kann fie durch 
Schädigung der jchügenden Schleimhautdede den anftürmenden 


(524) 


11 


feindlihen Scharen der Bakterien Thür und Thor in den 
Körper öffnen und ihnen jo Gelegenheit geben, ſich auf Koften 
der menfchlichen Gewebe zu vermehren, was, wie wir jahen, 
die Vorausſetzung für die Entjtehung der Infektionskrankheiten 
it. Daß die Schädigung nicht bloß durch einen Katarrh hervor- 
gerufen zu werden braucht, jondern ebenjogut die Folge irgend- 
welcher anderer Schäblichkeiten fein kann, denen der Rachen oft 
ausgejegt iſt, 3. B. Verletzungen, Verbrennungen, Aebungen, 
verjteht ſich wohl von jelbit. 

Während die Bakterien aljo einerfeit3 in der unverjehrten 
Schleimhaut des Mundes ein energijches mechanijches Hindernif 
für ihr Eindringen in den Körper finden, ftoßen fie andererjeits 
auf eine Schußfraft im Munde, welche jie direft vernichtet, ab- 
tödtet und jo für den Körper unſchädlich macht. Dieje Schuß. 
kraft befigt der Mund im Speichel. Die bafterienfeindliche 
Wirkung des Speichel3 beruht auf dem ſchon ſeit langer Zeit 
befannten Borfommen von Rhodankalium in demjelben (Edinger, 
Sanarelli u. A.). Immerhin wird die feimtödtende Kraft des 
Speichels nicht ausreichen, alle Bakterien de3 Mundes zu ver: 
nichten. Sie werden aljo mit dem Speichel verjchludt und ge- 
langen in den Magen. Hier finden fie ein weiteres, äußerft 
energijches Hinderniß für ihr weiteres Vordringen, dem Die 
Lebensfähigkeit der meiſten Bakterien unterliegen muß, im 
Magenjaft. Bekanntlich ift deſſen wirkſamer Beftandtheil die 
Salzjäure, die in der Verdünnung, in der fie im Magenjaft 
ericheint, ein prompte® und zuverläſſiges Mittel it, in den 
Magen gelangende Mikroorganismen zu tödten. Ja, e3 jcheint 
fait, al8 ob die Hauptbedeutung des Magens gerade 
in dieſer jeiner feimtödtenden Eigenschaft bejtehe. 
Wenigitens hat man jowohl im Thiererperiment als auch 
am Menschen zu Heilzweden ? den ganzen Magen entfernt und 
danach hinfichtlic der Ernährung feine Nachtheile für den Körper 


(525) 


ki 


12 


gefunden, wohl aber eine erhöhte Dispofition zu infektiöjen 
Prozeſſen, jobald bafterienhaltiges Nährmaterial eingeführt 
wurde. Cholerabakterien werden vom Magenjaft jehr Leicht 
getödtet. In der entjeglichen Hamburger Epidemie hat es 
fih aufs deutlichfte herausgeftellt, daß diejenigen Leute am 
meiften gefährdet waren, die an einer Erfranfung de Magens 
litten. Vielleicht erinnern fih die Lejer auch des Ber- 
juches der Münchener Gelehrten Pettenkofer und Emmerich, die 
mit bewundernswerther Kühnheit lebende Cholerafulturen zu fich 
nahmen, um für ihre Weberzeugung einen Beweis zu erbringen, 
daß es bei der Erfranfung an Cholera nicht auf das Ein- 
dringen lebender Cholerabafterien an und für fich, fondern auch 
noch) auf gewiffe äußere Umftände anfomme, und die ihre Be: 
hauptung dadurch für erwiejen hielten, daß fie — nicht an 
Cholera zu Grunde gingen. Sie hatten, um die Wirkung des 
Magenjafte® auf die Bakterien auszujchließen, diefen, durch) 
gleichzeitige Einnehmen von Natron bicarbonicum mit den 
den Kulturen, neutralifirt. (Ob das auf dieſe Weije möglich 
it? Wahrjcheinlicher erjcheint mir, daß der Magen diejen Ein. 
griff mit einer vermehrten, äußerjt energijchen Saftproduftion 
beantworten wird.) Nun, auch wenn der Verſuch vollftändig 
im Sinne der Erperimentatoren ausgefallen wäre (Emmeric) 
hatte jeinen Heroismus mit einem ganz refpeftabeln Cholera. 
anfall zu büßen), jo wäre er m. €. nicht jo jehr ein Beweis 
für das, was durch ihn bewiejen werden follte, jondern für Die 
Wirkjamkeit der Schußkräfte des Organismus, wenn nicht des 
Magens, jo doch der anderen Verdauungsorgane. Denn gejeht, 
die Cholerabafterien wären in den Darım gelangt — jei es, daß 
fie überhaupt nicht oder nur theilweife im Magen vernichtet 
wurden —, aud) dann hätten fie fich noch zu wehren gegen die 
Selbithülfe des Körperd. Zunächſt hat die dicht unter dem 


Magen in den Darm einfließende Galle entjchieden bafterien- 
(526) 


13 
tödtende Eigenschaft, vielleicht aud) der Darmfaft. Und endlich) 
hat der Cholerabacillus wiederum mit der. jchügenden Eigenjchaft 
der Darmjchleimhaut zu rechnen, die auch nicht jo leicht ihren 
Widerſtand aufgiebt. Ich jelbit Habe gelegentlich einer Cholera: 
epidemie erlebt, daß, außer bei den erkrankten, etwa bei .nod) 
weiteren zehn beobachteten PBerjonen, die aus. wiljenjchaftlichem 
Snterejje mitunterjucht wurden, in den Darmentleerungen mafjen: 
hafte Cholerabazillen fid) fanden. Und doch boten Diejelben 
nicht die Spur einer Erkrankung! Diejelbe Thatjache Hatte fich 
ſchon vorher in der Hamburger Epidemie fejtftellen laſſen. 

Das Gemeinjame der bis jet bejprochenen Schußvorric): 
tungen de3 Organismus. bejteht darin, daß ihre Aufgabe ift, den 
Feind fernzuhalten. Hierzu rechnen wir noch die Fähigkeit, 
etwa ins Auge gelangte Keime durch die Thränenflüffigkeit und 
den Lidſchlag fortzuſchwemmen (ob die Thränen bafterientödtende 
Eigenschaft haben, iſt noch eine ftrittige Frage). Auch draſtiſcher 
Methoden muß ich hier erwähnen, die der Körper anwendet, 
fi) der ungebetenen Gäfte zu erwehren. Wenn fol ein Ein- 
dringling, durch die Athemluft angejogen, auf der Schleimhaut 
der Quftröhre oder deren PVerzweigungen in der Lunge fi 
niederläßt und gefährlich) wird, jo ſammelt fi) um ihn ver: 
mehrter Schleim, und mit diefem wird er durch einen Fräftigen 
Huftenftoß nad) außen befördert. Ein analoges Schickſal trifft 
ihn, wenn er ſich die Schleimhaut der Naſe zum Wohnſitz 
wählt; das Individuum nieft und der ungebetene Gaſt wird an 
die Quft geſetzt. „Zur Gejundheit!” 

Leider geht nun die Sache nicht immer jo glüdlich ab. 
Die Bakterien jchlüpfen durch irgend eine Lücke der Haut oder 
Schleimhaut (Wunde) ein, und ehe man fich® verfieht, haben fie 
ihr Ziel erreicht, auf Koften des Körpers ſich zu entwideln und 
zu vermehren. Aber gewonnen haben fie ihr Spiel doch nicht; 


fie finden in der Reaktion des Körpers auf ihr Eindringen einen 
(527) 


14 


äußerft energijchen aktiven Widerftand, es folgt ein harter 
Kampf, ein Kampf auf Leben und Tod zwiſchen den winzigen 
Lebeweien und dem Organismus. Nur dann kann diejer für 
den Organismus fiegreich fein, wenn er zwei Aufgaben erfüllt: 
1. die in den Körper eingedrungenen Keime zu tödten, und 
2. die von den Bakterien gebildeten Gifte unfchädlich zu 
machen. 

Beide Aufgaben erfüllt das Blut in einer überrajchenden 
Weife. Wir willen, daß das Blut eine Flüffigkeit ift, be 
jtehend aus einem flüffigen Beitandtheil, dem Blutwaſſer 
(Serum), dag Eiweißftoffe (Blutfaferftoff u. a.) und Galze 
gelöft enthält, und in ihm vertheilt rothe und weiße Blut- 
förperchen.* Die Zahl der rothen Blutkörperchen iſt ver- 
bältnigmäßig konſtant und beträgt etwa fünf Millionen im 
Kubikmillimeter, die der weißen Blutkörperchen oder Leukocyten 
ift ſchwankend, wechjelt etwa zwijchen fünf bis zehntaufend im 
Kubikmillimeter. Mit den legteren werden wir ung ſpäter noch 
eingehender zu bejchäftigen haben. 

1887 fand von Fodor, daß in dem Blutjerum, dem von 
Blutkörperchen und Blutfaſerſtoff (Fibrin) befreiten Blute, Sub. 
ſtanzen gelöft vorhanden feien, welche die erquifite Fähigkeit haben, 
Bakterien zu tödten. Er vermuthete, daß es die Alkalien 
(die laugigen Beſtandtheile) jeien, denen dieje Fähigkeit zufäme, 
weil er fand, daß bei jeder Infektion zunächſt eine Erhöhung 
der Alkalinität des Blutes eintrete, ferner, weil er nachweijen 
fonnte, daß die Alfalinitätsgrade in einem engen Verhältnig 
jtehen zum Widerftehen oder Unterliegen des Organismus. 
Man Hat lange Zeit diefe von von Fodor den Alfalien zuge 
ichriebene Rolle bei der Schugwirfung als eine nebenfächliche 
anjehen zu müfjen geglaubt. Man dachte fie fich etwa jo, daß 
der Gehalt des Blutes an Alfalien nur ein Symptom, ein 
Ausdrud von gleichzeitig im Körper eintretenden wichtigen 


(528) 


15 





Beränderungen jei. Indeſſen jcheint ihr thatjächlich erhöhte Be— 
deutung zuzukommen aus folgenden Gründen: Zunächſt hat man 
fonjtatirt, daß Thiere, deren Blutalfalinität man durch Ver— 
füttern von Säuren herabgejegt hatte, Infektionen eher erlagen, 
ja ſogar (Behring) empfänglich wurden für Krankheiten, gegen 
die fie jonft unempfänglic; waren. Sodann fpricht dafür eine 
alte Beobachtung, die neuerdings von dem Kieler Chirurgen 
Bier näher erforjcht, begründet und im die medizinische Therapie 
als Heilmethode eingeführt ift, die Beobachtung, daß infeltiöje 
Prozefje, bejonders die tuberfulöfen Knochen: und Gelenkkrank⸗ 
heiten, unter dem Einfluß einer Blutftauung heilen können. 
(Zu Heilzweden ruft man dieje Blutftauung nad Bier dur) 
ein mäßig ftart um das betreffende Glied gejchnürtes Gummi— 
band hervor.) Die Wirkſamkeit diefer Stauung findet ihre Er- 
Härung darin, daß durch die Ueberfüllung mit venöfem, ver- 
brauchtem, fohlenjäurehaltigem Blut eine vermehrte Alkalinität 
der franfen Gewebe auftritt, wodurch die die Infektion ver- 
urjachenden Bakterien in ihrer Entwidelung gehemmt werden 
und abjterben. 

Buchner, der die feimtödtende Kraft des Blutes nad): 
prüfte, fand 1889, daß die Träger dieſer für den Körper jo 
äußert wichtigen Einrichtungen nicht die Alkalien, jondern eigen: 
thümliche chemische Subjtanzen feien, die er als zu der großen 
Gruppe der Eimweißjtoffe gehörend charakterifirte. Er gab ihnen 
den Namen Alerine, d.h. Schugftoffe. Dieſe Alerine find 
feine einheitlihe Subjtanz, jondern, wenigitens ihrer Wirkung 
nad), verjchieden bei Menjchen und Thieren, verjchieden bei den 
einzelnen Menjchenrafjen, ja verjchieden in einzelnen Lebens 
altern. Die Lejer haben wahrfcheinlich von der natürlihen 
Immunität jchon gehört, d. 5. von der Thatjache, daß manche 
Organismen gegen gewifje Infektionsfrankheiten gefeit find. So 
it 3.38. der Menſch abjolut immun gegen die Rinderpeſt, da$- 


(529) 


16 





Rind gegen Roß, der afrifanische Neger bejigt eine auffallende 
Immunität gegen eitererregende Mikroorganismen. Derartige 
Beilpiele laſſen fich noch jehr viele anführen. Diefe Immunität 
iſt zum größten Theil bedingt durch die Anweſenheit der Alerine 
im Blut. Unter Annahme des VBorhandenfeins. diefer Alerine 
erklärt jich auch zum Theil die jchon erwähnte Thatjache, daß 
bei einer Epidemie viele Individuen verſchont bleiben. Jetzt 
wird dem Lejer auch verjtändlich. fein, warum, was ich vorhin 
betonte, bloß eine jo geringe Anzahl von Bakterienarten fähig 
ift, fih im menschlichen Körper, auf Kojten feiner lebenden 
Bellen, anzufiedeln;. nur die widerftandsfähigiten Arten können 
e3 eben wagen, die außerordentlichen Hindernifje, die fich ihnen 
in dem Widerjtand der Alerine entgegenjtellen, zu überwinden. 
Tann wird es ihnen am ehejten gelingen, wenn diejer Abwehr: 
mechanismus in irgend einer Weife gejchädigt ift und dadurd) 
das Individuum „disponirt“ wurde zur Infektion. 

Und woher jtammen diefe geheimnißvollen Alerine? Dieje 
Frage iſt jegt dahin entjchieden, daß fie als Produkte der weißen 
Blutkörperchen aufzufaffen find. Die Art und Weije, wie ihre 
Bildung von ftatten geht, iſt freilih bis jet noch um: 
befannt. Aller Wahrjcheinkichfeit nad) find fie ein Sefretions: 
produkt, ein Produft der Zellenthätigfeit der Leukocyten. 

Damit fommen wir auf die ungeheuer wichtige Rolle, welche 
die weißen Blutkörperchen (Leufocyten) im Organismus jpielen. 
Durch die Unterfuchungen von Buchner, Pfeiffer, Schatten: 
froh u. 9. iſt fejtgejtellt, daß außer der ſoeben erwähnten 
Fähigkeit, durch Mlerinbildung zerjtörend auf die Bakterien ein: 
zumirfen, auch noch die Fähigkeit den Leufocyten eigen iſt, 
jelbftändig durch direkten Angriff auf die Mikro: 
organigmen dieſe zum Übjterben zu bringen. Und 
dieje Eigenjchaft bethätigen fie in einer ganz überrafchenden, 
wunderbaren Weije. Sch werde das an einem Beijpiel erläutern. 

580) 


47 





Nehmen wir an, es jtäche fi Jemand in den Arm, jo wird 
dieje Eleine Stichwunde, wenn nichts Bejonderes Hinzufommt, 
rajch zuheilen. Etwas anderes ift ed, wenn „Unreinigfeit” in 
die Wunde gefommen war oder, was dasjelbe ijt und wie man 
fih wifjenjchaftliher ausdrüdt, wenn die Wunde „mit Bakterien 
infizirt” wurde. Dann tritt die Allen wohlbefannte Erjcheinung 
der Entzündung auf. Das weſentlichſte und charakteriftischite 
Merkmal der Entzündung iſt die Anhäufung von weißen 
Blutförperhen an der gejhädigten Stelle. Dieje 
weißen Blutkörperchen entwideln fojort am Ort der Ent: 
zündung durch direkten Angriff auf das jchädigende Moment 
(die Bakterien) eine ungeheuer rege Thätigfeit. Außerdem mag 
bei der Entzündung noch ein anderes jchügendes Moment in 
Ultion treten; durch die Verlangſamung des Abfluſſes des 
venöfen Blutes wird das Gewebe alfalireicher, aljo geeignet, 
die Bakterien in ihrer Entwidelung zu hemmen (j. o.). Wir 
jehen aljo, auch diefe verfehmte und gefürchtete Kranfheits- 
erjcheinung erweijt fi als eine Schußvorrichtung des Orga— 
nismus, als ein äußerjt finnreiche8 und zweckmäßiges Stampf: 
mittel, ihn vor einer allgemeinen Infektion zu bewahren. Wiejo, 
fünnte man fragen, kommen nun die weißen Blutkörperchen 
gerade an den Ort der Schädigung? Die Beantwortung diejer 
Frage knüpft ſich an eine der wunderbarjten Erjcheinungen der 
Elementarphyfiologie. Der Botaniker Pfeffer fand 1883 ge, 
legentlich feiner Unterfuchungen über die Schwärmjporen einiger 
Ulgen, daß fie von bejtimmten chemijchen Subftanzen angezogen, 
von anderen abgejtogen wurden. Er nannte dieje merkwürdige 
Erjcheinung (pofitive und negative) Chemotaris. Durd) wei- 
tere Unterſuchungen wurde diejes Phänomen auch bei anderen 
lebenden elementaren Gebilden gefunden, jo bei den Volvocineen, 
bei den Samenfäden der Mooje und Laubfarne; Leber fon: 


jtatirte e3 auch an den Leufocyten. Gabritſchewsky (Labo— 
Sammlung. N. 5. XIII. 303, 2 (531) 


18 





ratorium Metſchnikoff im Inftitut Paſteur) fand weiter, daf 
alle Bakterienkulturen pofitiv chemotaktiſch auf die Leufochten 
wirkten. Sehr eingehend beichäftigte jih Buchner 1892 mit 
der Trage der Chemotaris: das Reſultat jeiner Unterjuchungen 
war, daß bejonders die Eiweißftoffe abjterbender Balkterienleiber, 
die ſog. Bafterienproteine, pofitiv chemotaktiich zu wirken 
im, ſtande jeien. 

Kehren wir nad) diefer Abjchweifung zu unſerer infizirten 
Stichwunde zurüd! Dort ereignet fich etwa folgender Vorgang: 
Die eingedrungenen Bakterien find theilweife durch Alexine 
geichädigt, die auf jolche Weije aus ihnen entitehenden Bakterien. 
proteine wirfen anlodend auf die weißen Blutkörperchen, die 
nun den Kampf mit ihrem gefährlichen Feinde ungejäumt auf: 
nehmen. 

Metichnifoff fand in den weißen Blutkörperchen oft» 
mal3 Bakterien eingejchlofjen. Er legte nach dieſem Befunde 
die den Leufocyten zufommende Rolle dahin aus, daß dieſe 
befähigt wären, die aufgenommenen Bakterien zu verdauen, 
aljo im eigentlichjtem Sinne zu freſſen. Er gründete darauf 
jeine „Treßzellentheorie” (Phagochten - Theorie), an Der er 
auch jetzt noch hartnädig feithält, obwohl die Unterjuchungen 
anderer Forjcher ihr immer mehr den Boden abgraben. Man 
deutet den allerdings fat immer anzutreffenden Befund von 
Bakterien in den Leufochten jo, daß es abgejtorbene Keime 
waren, die von den Zellen eingejchloffen wurden. Der Zweck 
der zahlreich zum Ort der Verlegung heranftürmenden weißen 
Blutkörperchen jcheint nur darin eine hinreichende Erfläruna 
finden zu fönnen, daß fie an Ort umd Stelle durch gewiſſe 
Abjonderungsprodufte die Keime ertüdten. Daß dem im der 
That jo ift, Hat Schattenfroh 1897 durch, wie es jcheint, ein» 
wandsfreie, Unterfuchungen bewiejen. Wie jchlau und anjcheinend 
überlegt gehen dabei die Heinen Heinzelmännchen zu Werke! 


(532) 


19 
Der Feind wird von ihnen umzingelt, fie bilden einen fejten 
Wal um ihm herum, durd) den fein ungerufener Gaft nad) 
dem Körper Hin durchdringen kann. Wird der Zweck nicht 
baldigjt erreicht, jo werden immer neue Erjaßtruppen herbei- 
gezogen, und das Ende vom Liede iſt eine Eiterung. Eiter 
ift nämlich nichts anderes, als eine mafjenhafte Anſammlung 
von weißen Blutkörperhen. Der Inhalt der Eiterhöhle 
(Abſceß) wird immer größer, die Eiterbeule buchtet ſich nad) 
außen, nach der Seite des geringjten Widerflandes, vor, Die 
Haut verdünnt fi) durch die jtetige Spannung mehr und 
mehr, bis fie von jelbft oder mit Hilfe des Meſſers in der 
Hand des Arztes ihren Inhalt nad) außen entleeren kann. 
Mit dem Eiter werden die Bakterien aus dem Körper entfernt, 
die Haut vernarbt, e8 tritt Heilung ein: die weißen Blut: 
förperchen haben ihre Schufdigfeit gethan. Immerhin kann es 
vorfommen, daß einzelne Bakterien den jchühenden Leukocyten— 
wall überſchreiten, am eheſten in der Weiſe, daß ſie durch grobe 
äußere mechaniſche Einwirkung (Stoß, Druck) in die tieferen 
Gewebe hineingequetſcht werden. So können ſie tiefer in den Körper 
vordringen. Meiſt geſchieht dieſes auf dem Wege der Lymph— 
gefäße, auf dem fie dann einer Lymphdrüſe (richtiger Lymph— 
fnoten), die überall jehr zahlreich in das Lymphgefäßneß ein: 
gejchaltet find, zugeführt werden. Die Lymphdrüſen find aber, 
wie die Milz, Bildungsjtätten der Leukocyten, die Bakterien 
gerathen alfo, wenn fie dieſe erreichen, gewiſſermaßen in eine 
alle. Die Lymphknoten bilden — eine Reaktion auf den 
hemotaftifchen Reiz — ungeheure Mengen neuer weißer Blut— 
förperchen;' dasjelbe Spiel, wie am Orte der Infektion, wiederholt 
fich hier. Diefer Vorgang kennzeichnet fich äußerlich durch eine 
Schwellung der betreffenden Lymphdrüſen (die ſog. „Drüjen“ 
find nichts anderes als auf dieſe Weiſe gejchwollene Lymph— 
drüjen), die dem Kranken Schmerzen macht. Den Lejern ijt ja 


2* (533 


20 

die Eleine ſchmerzhafte Geichwuljt in der Achjelhöhle nach einer 
infizirten Verlegung der oberen Extremität wahrjcheinlidh aus 
eigener Erfahrung hinreichend befannt. In den LZymphfnoten 
nimmt der Infektionsprozeß meiſt fein Ende, jchon deshalb, 
weil die Bakterien und ihre Gifte jchon aus dem Kampfe an 
der Infektionsſtelle geſchwächt und vermindert hervorgegangen 
find. Anderenfalls kann ſich aud in den Lymphdrüſen eine 
Eiterung entwideln, für deren rechtzeitige Entleerung — eventuell 
durch den Schnitt — man um fo eher jorgen wird, als der 
Körper natürlicd) von hier aus leichter mit den Mikroorganismen 
überſchwemmt und jo einer „Blutvergiftung” preisgegeben wird. 
Derjelbe Vorgang, vermehrte Neubildung von Leufochten, jpielt 
ji) unter gleicher Veranlafjung an allen Organen ab, die als 
Bildungsstätten derjelben in Betradht fommen. In der Haut, 
die bejonder8 bafterienfeindlich fein fol (Marmoref), liegen die 
Verhältniſſe injofern verwidelter, al3 hier den ſog. Grawitzſchen 
„Schlummerzellen”, Teufccytenähnlichen Gebilden, die anti: 
bakterielle Schußfraft zufommt, zelligen Gebilden, die nur dann 
in Thätigfeit treten, wenn der Körper ihrer bedarf, wenn fie 
durch) chemotaktiſche Reize gelodt werden. Nocd ein Beilpiel 
der jchüßenden Kraft weiße Blutkörperchen bildender Organe 
möchte ich anführen, die Schugfraft der Iymphatifchen Gebilde 
des Mundes. Der Nachen befigt mehrere ſolcher Organe, das 
augenfälligite derjelben ftellen die Mandeln dar. Dieje haben 
ihre Lage am Gaumenjegel gerade dort, wo die Pafjage für 
das Verſchlucken (Speilen, Speichel) und den Quftftrom (beim 
Mundathmen) am engiten ilt. Sie find gemifjermaßen die 
Sicherheitspolizei des Mundes, die alles Verdächtige anhält und 
unschädlich zu machen verjucht. Allerdings pflegen troßdem, wie 
wir Schon jahen, an den Mandeln jehr Teicht infektiöje Prozeſſe 
ih zu entwideln, weil die ſchützende Schleimhautdede jehr 


oft Schon unter gewöhnlichen Verhältniſſen verlegt ift und 
(534) 


21 


den pathogenen Keimen Eingangspforten bietet. Wir verjtehen 
jest, warıım die Maudeln jo leicht bei jeder geringen Infektion, 
und nicht bloß bei Diphtherie, anjchwellen; jest jehen wir auch 
ein, daß es ein einheitliches Bild der Mandelentzündung nicht 
giebt, daß vielmehr Mandelentzündung und Mandelentzündung 
hinfichtlic der Urjache ein Ausdruck ganz verjchiedener Prozeſſe 
jein fünnen. 

Wenn nun troß aller jolcher Sicherheitsvorrichtungen Mikro: 
organismen im den Körper und in das Blut eindringen jollten, 
jo wäre die Gefahr einer Ueberſchwemmung des Blutes mit 
den Keimen, einer „Blutvergiftung”, gegeben. Die Krankheits— 
erreger würden, durch) den Blutjtrom hierhin und dorthin ver: 
Ichleppt, nicht nur im einem, jondern im zahlreichen Organen 
ihre verderbliche Wirfjamfeit entfalten und jo die Möglichkeit 
eines Siege3 über den Organismus wahrfcheinlicher machen. 
Auch dieſer Eventualität gegenüber it der Körper gerüjtet. 
Er macht auf der ganzen Linie mobil. Vorausgeſetzt, daß es 
ihm micht gelingt, die jchädigenden Keime durch feine abjon: 
dernden Organe, die Nieren und die Haut (Schweiß), auszujcheiden 
(Biedl und Kraus) — und es wird ihm wohl kaum jemals 
gelingen! —, jo bringt er jet die gejamte Wehrmacht der 
Leufochten auf den Plan. Turd) die chemotaftiiche Wirkung 
der Bakterienproteine veranlaßt (Komwalewsfy), tritt eine An— 
reicherung des Blutes mit weißen Blutkörperchen, eine Hyper: 
feufocytoje ein, ja, das Blut kann von den kleinen Hülfs- 
truppen jo jehr überjchwenmt werden, daß deren Anzahl das 
Doppelte, ja Dreifache der normalen Anzahl erreiht. Daß fie 
jo dem Körper eine werthvolle Hülfe zur Bekämpfung der Ein: 
dringlinge bieten, Tiegt nach unjeren Auseinanderjegungen auf 
der Hand. Und jo jehen wir denn auch, daß dort, wo der 
Körper auf ihre Hülfe verzichten muß, aljo dann, wenn die 


rapide Vermehrung der Leufochten durch irgendwelche Veran— 
(535) 


22 
lafjung gehindert wird, der Körper mehr gefährdet ijt, die 
Krankheit ein bedrohlicheres Ausjehen erhält. Das ift 3.8. 
nachgewiejen für die durch die jog. Pneumokokken hervorgerufene 
Lungenentzündung. Worauf die Behinderung beruht, ijt im 
Grunde gleichgültig, ſie kann verjchiedene Urſachen Haben, jei 
e3, daß ungünftige äußere Verhältniffe, Schwächung des Orga: 
nismus, herabgejegte Lebensthätigfeit Schuld waren, oder daß 
eine ungeheure Vermehrung der Bakterien den Körper jo über: 
rajchend traf, daß es ihm an Zeit gebrach, die Leufocyten zu 
bilden. Ob man im folchen Fällen nicht dadurch dem Körper 
zu Hülfe kommen fünnte, daß man ihn durch einen therapeutischen 
Eingriff veranlaßt, jeinen Reichthum an Leufochten zu ver— 
mehren, ijt eine Frage, die ſeit furzem erörtert wird. Man 
geht bei dieſem Wunſche von der Ueberlegung aus, daß es außer 
den Bakterienproteinen noch eine ganze Neihe anderer chemischer 
Subjtanzen giebt, die auf die weißen Blutkörperchen anlocend, 
d. h. pofitiv chemotaktiich wirken. Solche Stoffe wären 3. B. 
Eiweißjtoffe verjchiedener Art, Kleberlöſungen, Thymuseriraft, 
Fermente, dann aber auch Zimmtjäure, Zodtrichlorid und eine 
ganze Anzahl derjenigen Subjtanzen, die wir ſeit langem als 
Antijeptica fennen. In der That hat fi) im Thiererperiment 
eine auf dieſe Ueberlegung ſich jtügende Methodik nugbringend 
erwiejen: nach Einfprigung ſolcher Stoffe in die Blutbahn bei 
erfolgter erperimenteller Infektion zeigten fich die Berjuchsthiere 
viel bejjer gejchügt gegen bakterielle Erkrankungen, eben weil ihr 
Blut jet reicher an weißen Blutkörperchen war. Die Sadıe 
ilt für die Uebertragung auf den franfen menjchlichen Orga: 
nismus noch nicht jpruchreif, wer kann aber wijjen, ob in 
unserem Zeitalter der willenjchaftlichen Ueberraſchungen dieſe 
Idee nicht noch fruchtbringend verwerthet werden wird als Me: 
thode einer „allgemeinen experimentellen Therapie der Infektions— 
franfheiten“ ? 


23 


Ich werde allmählih auf ein Problem geführt, das jeßt 
wieder einmal im Mittelpunkt des Interefjes der Forſcher fteht, 
das aber durchaus noch nicht hinreichend aufgeklärt ift: auf die 
Lehre vom Fieber. Wir wifjen, daß mit vielen Infektions— 
franfheiten ein Komplex eigenthümlicher Erjcheinungen einher: 
geht, die wir mit dem Gejamtnamen „Fieber“ bezeichnen, als 
deren marfantejtes Symptom jchon dem Laien eine Erhöhung 
der Sörpertemperatur auffällt. Die Leſer werden überrajcht 
jein, und ich bin überzeugt, daß manche meiner ärztlichen Kol: 
legen meiner Anfchauung mit zweifelndem Kopfjchütteln begegnen 
werden, wenn ich meiner Lleberzeugung Nachdruck verleihe, daß 
aud das Fieber als ein Heilfaftor, als ein Kampf: 
mittel des Organismus gegen Infektionskrankheiten 
aufzufaſſen iſt. Diefe Auffafjung von der Zwedmäßigfeit 
des Fiebers als einer Anpafjung der körperlichen Funktionen 
an die bakterielle Schädigung ift durchaus nicht neu, fie ijt jo 
alt, wie die Lehre vom Fieber überhaupt. Aber während fie 
früher nur vereinzelt auftrat, jchüchtern, als unbeweisbare phan- 
taftiihe Theorie, um raſch wieder der Bergejienheit anheim— 
zufallen, weil fie fräftiger Beweisftügen entbehrte und nebenbei 
den Anjchein der Unwahrjcheinlichkeit im fich trug, gewinnt jie 
nach neueren und neuejten Unterjuchungen immer mehr an An— 
jehen. Soviel jteht fejt: das Fieber it eine Alteration der 
förperlichen Funktionen ohne — primäre — anatomijche Ber: 
änderung des Zellenbejtandes; ferner: es wird hervorgerufen 
durch giftige Subftanzen, — hier ijt es eine in den Bakterien: 
leibern enthaltene chemijche Verbindung, in anderen Fällen find 
e3 andere Subjtanzen, 3. B. die jog. Fermente, deren Zirkulation 
im Blute Fieber hervorruft. Während man nun früher das 
Sieber anjah (und heute oft noch anfieht) al3 eine Störung 
des Körpers, hervorgerufen durch eine Einwirkung der erwähnten 


Gifte auf die feinen, wärmerequlirenden Apparate, erklärt man 
(537) 


24 


e3 neuerdings als die Antwort des Organismus auf die Gift: 
wirkung, faßt man es auf als eine Steigerung der vitalen 
Sunftionen, wenn wir wollen, der Lebenskraft jämtlicher 
Ktörperzellen. Dieje Steigerung der Lebensenergie, die vermehrte 
Zellenthätigfeit hätte aljo den Zwed, den Widerjtand des 
Körpers zu erhöhen, demmad) jei aljo das Fieber gewiiiermaßen 
ein Ausdrud dafür, daß in dem Organismus ſich Schädigungen 
geltend machten und daß zur Abwehr „alle Mann an Ded“ 
jeien. Man hat diefe Theorie, die in der That jehr plaujibel 
erſcheint, durch exakte Verſuche zu jtügen geſucht. Man Hat 
gefunden, daß eine erhöhte Störpertemperatur jehr wohl einen 
ichädigenden Einfluß auf die Bakterien auszuüben im jtande ift. 
Se höher die Temperatur über der normalen Körpertemperatur 
(alſo 37° ©.) liegt, deſto ungünftiger gejtalten jich die Lebens: 
bedingungen für die meilten parafitiihen Mikroorganismen. 
Man Hat 3.3. gefunden, daß eine Temperatur von 40° C. 
genügt, um die Bakterien in ihrer Giftwirfung ganz erheblic) 
abzuichwächen, und daß bei diejer — im Fieber oft erreichten — 
Temperatur ihre Entwidelung äußert langjam vor jich geht. 
Und darauf fommt es ja gerade an. Man hat experimentell 
nachgewiejen, daß Thiere, bei denen die Körpertemperatur erhöht 
iſt, — jei e8 durch äußere Urjachen (Erwärmung) oder durd) 
direfte Beeinflufjung des „Wärmecentrums“ —, jehr viel wider- 
Itandsfähiger gegen bakterielle Erfranfungen find, als unter ge» 
wöhnlichen Berhältnifjen lebende, und diefe wiederum in großem 
Bortheil jolchen Thieren gegenüber find, die man durch Rafiren 
ihres wärmenden Haarkleides oder durch jonjtige Mittel abkühlte. 

Wenn wir das Fieber als eine Aufftachelung der vitalen 
Eigenjchaften der Körperzellen anjehen, jo giebt ung darin auch 
der Umjtand recht, daß gerade im Fieber die Neubildung unjerer 
befannten Eleinen Freunde, der Leufochten, bejonders lebhaft - 


von jtatten geht. Dadurch erfährt der Körper, wie wir jahen, 
(638) 


25 
eine ganz wejentliche Förderung jeiner Abwehrbejtrebungen. 
Umgefehrt fieht man auch in abgefühlten Organismus die Neu: 
bildung Ddiejer wichtigen Elemente in durchaus unzureichender 
Weiſe vor fich gehen. 

Daß unjere Auffaffung vom Fieber jchon deshalb Falich 
jei, weil ja das Fieber den Körper „auszehre” (was allerdings 
richtig ijt, denn erhöhte Arbeit erfordert vermehrten Stoff: 
verbrauch), erjcheint mir ebenjo unzutreffend, al wenn man 
etwa den Nutzen einer Feuerwehr deswegen anzweifeln wollte, 
weil jie bei einem Brande vielleicht den ganzen Wajjervorrath 
verbrauchen und jo eine Wafjersnoth jchaffen könnte. 

Die Lejer erinnern fi, daß ic) mir vorhin eine z1viefache 
Aufgabe gejtellt hatte: zu unterfuchen 1. die Einwirkung der 
Schutz- und Kampfmittel auf die lebenden Bakterien und 2. die 
Vernichtung oder Unjchädlichmahung der von den Bafterien 
gebildeten Gifte. Den erjten Theil dieſer Aufgabe Habe ich 
erledigt; ich fomme jet auf die Frage: Beſitzt der Körper Bor: 
richtungen oder Mittel, um nicht den Bakterientorinen zu erliegen? 

Zunädit eine Vorfragel Was gejchieht im allgemeinen, 
wenn in den Körper ein Gift eingeführt wird? Vorausgeſetzt, 
daß nicht etwa eine tödliche Dojis des Giftes jede weitere Er- 
Örterung dieſer Frage überflüfjig macht, jo verjucht der Körper 
das im Blute Freijende Gift jofort zu entfernen durch einen der 
Ausicheidungswege, durch die Nieren, den Darm, die Schweiß 
drüfen, jei e8 als folches, jei e8 nachdem es vorher im Blut zu 
einer für den Organismus ungefährlichen Subjtanz umgewandelt 
ift. Das iſt auch die Methode, die der Organismus zunächſt 
bei der Vergiftung mit Balteriengiften in Anwendung bringt. 
Uber leider muß es hier weift bei dem Verſuche bleiben; dieje 
jonft jo bewährte Methode fruchtet gewöhnlich nicht, weil 
die Gifte fomplizirte Eiweißkörper find, die nach phyfiologischen 
Grundgeſetzen zur Ausscheidung auf diefem Wege nicht fähig find. 


(539) 


26 





Verſuchen thut’3 der Organismus immerhin; leider, möchte man 
fagen, denn er jeßt die genannten Organe der vollen Giftwirkfung 
aus und jchädigt fie jo. Daher die Nierenentzündungen im 
Anſchluß an Infektionskrankheiten, daher vielleicht auch die im 
Gefolge diejer Krankheiten oft auftretenden Erkrankungen der 
Haut, die ich als Schädigung ihrer abjondernden Organe auffajje. 

Mit der Ausfcheidung der Torine aus dem Körper ijt es 
aljo jchlecht bejtellt. Wir jehen aber doch, daß torische bafterielle 
Krankheiten heilen fünnen, „von jelbjt“, aljo mit Zuhülfe- 
nehme der Heilfräfte des Organismus. Das Gift muß aljo 
irgendwie unschädlich gemacht worden fein. Wo ift e8 geblieben, 
was ijt aus ihm geworden? Die Beantwortung diejer Kardinal: 
frage war und ift noch Gegenjtand der eifrigiten Forjchungen; 
die Zahl der Schriften, die fich, direkt oder indirekt, mit ihrer 
Löſung bejchäftigen, ift Legion. Das ift erflärlich bei der un: 
geheuren Wichtigkeit, die dieje Fragejtellung beanipruchen kann; 
ohne eine befriedigende Aufklärung darüber ijt ein Verjtändnif 
des jchwierigen Problems der natürlichen und -fünftlichen Im- 
munijirung oder der Heilbejtrebungen des Körpers gegenüber 
den Infektionskrankheiten nicht möglich. Was ich mir im fol: 
genden darüber vorzutragen erlaube, wird nur das allgemein 
Unerfannte, die aus dem Widerjtreit der Meinungen geflärten 
Anſchauungen darjtellen, und nur injoweit, als es zum Ber: 
ſtändniß unſeres Themas nothwendig iſt. Auf die vielen inter: 
ejlanten Theorien und Hypotheſen, die noch nicht allgemeine 
Anerkennung in der Wiljenjchaft gefunden haben, näher ein- 
zugehen, muß ich mir verjagen. Um den Leſern das Ber- 
ſtändniß des jchwierigen Gegenjtandes zu erleichtern, wird es 
zwedmäßig jein, kurz denjelben Gang zurüczulegen, den Die 
Wiſſenſchaft durchgemacht hat, bis fie zu den Nejultaten ihrer 
heutigen Erfenntniß kam. 


Schon im Altertdum war die Erfahrung befannt, daß bei 
(540 


27 


jehr vielen Infeltionsfranfheiten ein einmaliges UWeberftehen der 
Krankheit vor einer nochmaligen Erkrankung derjelben Art 
Ihügt. Der Körper ift jeßt gefeit, immun gegen dieſe Krank: 
beit, den Zujtand jelbjt nennt man erworbene Immunität. 
Durch ein Ueberjtehen des Scharlachs 3.3. hat der Störper 
eine Immunität gegen Scharlad) erworben. Was konnte den 
Menjchengeift mehr reizen, als nachzuforjchen, ob der Körper 
gegen bejtimmte Infektionskrankheiten, befonders gegen verderb- 
Iihe Seuchen, immun zu machen fei, ohne daß er die gefähr: 
liche Stranfheit ſelbſt zu überjtehen brauchte. Eine ſolche 
Snmunifirungsmethode war jchon vor Jahrtauſenden befannt 
und von den Chinejen und Brahminen in Indien mit Erfolg 
geübt, das war die Schußpodenimpfung, die von den Meijten 
für eine bösartige Erfindung der Neuzeit gehalten wird. Die 
Schugpodenimpfung, die von dem englischen Arzt Jenner mit 
Erfolg wieder aufgenommen wurde, beruht darauf, daß in folchen 
Epidemien, die ſich durd) einen außerordentlich gutartigen Ber: 
lauf der Strankheitsfälle auszeichnen, der Inhalt von Boden: 
blattern (Pockenlymphe) eines erkrankten Individuums auf ein 
bisher gejundes — das zu ſchützende — Individuum übertragen 
wird (heute ijt die Technik der Schubpodenimpfung eine wejent: 
(ich verbejjerte). Der Seimpfte erkrankt dann an einer jehr leichten 
Pockenerkrankung, die ihn bei einer eventuellen jpäteren gefährlichen 
Epidemie vor Anſteckung ſchützt. Die Lejer werden fragen, wie denn 
die leichten Pockenerkrankungen zu jtande fommen. Nm dadurch, 
dat die Pockenbakterien (ie find bis jegt nicht gefunden, aber 
ihre Exiſtenz ift mit Wahrjcheinlichkeit anzunehmen) in diejem 
Fall nicht Hochgiftig waren, jondern in ihrer Giftigfeit abgeſchwächt 
waren. Bon der Abſchwächung der Giftigfeit der Bakterien jprad) 
ich Schon. Als diefer Zujammenhang geahnt wurde, war die 
Nichtung vorgezeichnet, in der neue Erfolge zu erzielen waren. 
Dem genialen Paſteur gelang es zuerjt, mit fünftlich gezüchteten 
(541) 


28 


Kulturen abgeſchwächter Bakterien den Körper auf dieſe Weije 
gegen die Infektion mit Hundswuth, Milzbrand, Hühnerchofera u.a. 
immun zu machen. E3 konnte aljo fejtgejtellt werden, daß der 
Menjchen: und Thierförper unter Umständen durch Impfung mit 
abgeichwächten Bakterienkulturen gegen das giftigite Material 
unempfänglich, d. 5. künſtlich immun wird. Die Frage, woher 
num die Immunität in jolchen Fällen ſtamme, führte Paſteur 
zur Annahme jeiner jog. „Erijhöpfungshypotheje”. Da— 
nad) jollten die (abgejhwächten) Bakterien in dem Körper gewiſſe 
unbefannte Stoffe verzehren, die nothwendige Nährftoffe für 
dieje Spezies darjtellten. Die eventuell jpäter eindringenden 
Mikroorganismen fänden dann den Boden gewijjermaßen „ab: 
geweidet” und könnten ſich auf ihm nicht entwideln. Ihm gegen: 
über nahm Chauveau als Erklärung diejes wunderbaren Phä- 
nomen3 an, daß die abgejhwächten Bakterien in dem Körper 
gewiſſe Stoffwechjelprodufte zurüctießen, welche giftig für fie 
jelbit jeien und jo eine erneute Infektion unmöglich machten. 
Metſchnikoff endlich gab unter Annahme feiner Freßzellen- 
theorie folgende Deutung der Erjcheinung: Die weißen Blut: 
förperchen üben fich an den abgejchwächten Bakterien, mit denen 
jie verhältnigmäßig leicht fertig werden; durch diefe Uebung er, 
halten fie die Fähigkeit, etwa jpäter eindringende giftigere Keime 
derjelben Art ebenfalld zu vernichten. Die Vernichtung jollte 
in dem Sinne der Metjchnikoffjchen Theorie, alſo durch Auf: 
nahme, Zödtung und Verdauung vor fich gehen. 

Alle drei Hypothejen wurden hinfällig, al e8 1887 Salmon 
und Smith, zwei amerikanischen Bakteriologen, gelang, Tauben 
gegen Hogcholera (die amerikaniſche Schweinefeuche) auf rein 
chemiſchem Wege zu immunifiren, indem fie ihnen eine Löſung 
des Hogcholeratorins in Gejtalt filtrirter Hogcholerabouillon: 
Kulturen einjprigten. Als diefe Verjuche von anderen Forſchern 
mit anderen Bakterienarten und mit demfelben Erfolge wieder: 


(542) 


29 


holt waren, da war der für die Wiſſenſchaft Hochbedeutjame 
Schluß gerechtfertigt, daß es fich bei der Immuniſirung 
um eine hemijhe WBeränderung der SKörperjäfte 
Handle, hervorgerufen durch eine Reaktion des 
Körpers auf die Einwirkung der Balterientorine 
(aftive Immunität). Einen großen Sprung vorwärts führten 
die Forſchungsergebniſſe Behrings herbei, daß die Veränderung 
beitehe in der Bildung von Gegengiften, die dad Torin zu neutrali- 
firen, unschädlich zu machen vermögen. Entzieht man nämlic) einem 
jolhen (aktiv) immunifirten Thiere Blut, läßt es gerinnen, um 
das Blutwafjer (Serum) fich abjcheiden zu laſſen, jo hat diejes 
die Fähigkeit, beim Zumijchen zu einer Löſung des betreffenden 
Bakterientoxins dieſes zu neutralifiren, jo daß es jekt, einem 
Thiere eingejprigt, Feinerlei Vergiftungserjcheinungen hervorruft. 
Behring nannte diefe vom Körper gebildeten Gegengifte Anti: 
torine. Und was fi außerhalb des Organismus abjpielt, 
bat auc) innerhalb de3 Körpers jeine Gültigkeit. Sprigt man 
nämlich das einem diphtherieimmunifirten Thiere entnommene 
Blutjerum (alſo eine Löjung des fertigen Antitorins) einen 
anderen Thiere ein, jo ijt auch diejes immun gegen eine Diph— 
therieanftefung (pajjive Immunijirung). Ja noch mehr! 
Bei bereit3 erkrankten Thieren kann man durch Antitorin: 
einjprigung eine Paralyfirung des jchädigenden Toxins und 
damit eine Heilung erzielen. Einen großen Fortichritt dieſer 
praktiſch Hochbedeutjamen Forſchungsergebniſſe brachten die jchönen 
Unterfuhungen Ehrlich, der fich einer originellen Methode 
bediente, um mäheren Aufichluß über die Art der Antitorin- 
bildung zu gewinnen. Er erperimentirte nämlich nicht mit den 
Bakterientorinen, jondern mit analogen pflanzlichen, giftigen 
Eiweigitoffen, wie fie im Abrin des Jequirityſamens (Pater: 
nojtererbje, Abrus precatorius) und dem Riein des Ricinus— 


ſamens (Ricinus communis) zur Hand waren. Er fand, daß ſich 
(543) 


30 

auch durch Einwirkung der Pflanzengifte ſpezifiſche, den Antitorinen 
ganz analoge Gegengifte im Thierförper bilden, und fand ferner, 
daß das Blutjerum eines Thieres, das gegen eine einfache Dofis 
diejer Gifte immun war, zehnmal jo ſchwach war an Antitorinen, 
als das eines jolchen, welches die zehnfache Menge desjelben zu 
ertragen im jtande war. So wurde der zahlenmäßige Begriff, 
der Begriff der Immunitätseinheit („I. E.*) in die Lehre 
von der Immunität eingeführt. Dieje Ergebnifje, die fajt um 
diefelbe Zeit aud) von Behring für die Bakteriengifte als gültig 
erfunden wurden, bilden die Grundlage der Diphtherie-Heilferum: 
therapie, auf die ich hier nicht näher eingehen kann; das Prinzip 
derjelben wird nach) dem Gejagten verjtändlich fein. 

Wir fommen jetzt endlich auf unjere Frage zurüd: was 
fängt der Körper mit den Bakteriengiften an? Wir beantiworten 
fie damit, daß wir jagen: er bildet Antitorine, d. h. Stoffe, welche 
die Fähigkeit haben, die Giftwirkung der Bafterientorine für den 
Körper aufzuheben. Wie die Antitorine chemisch zufammengejeßt 
find, das wijjen wir bei dem Mangel geeigneter chemijcher Unter: 
juhungsmethoden Heute noch nicht. Ihre Bildung haben wir 
uns fo vorzuftellen, daß die Bakteriengifte al8 Reize für die 
Leukocyten dienen, durch aftive Zellthätigkeit das Gegengift zu 
produziren. Wird das Torin rajch in ungeheuren Mengen in 
den Körper aufgenommen, jo tritt eine Weberrumpelung, eine 
Lähmung der Zellen ein, die ihren Ausdruck findet in jenen 
Fällen jchwerer jeptiicher Erkrankungen, die ohne Fieber, unter 
normaler Temperatur, ungeheuer raſch tödtlich verlaufen (3. B. 
die fondroyante Sepjis im Wochenbett). 

In der allerjüngjten Zeit iſt in dem Blut noch eine Schub: 
fraft den Bakterien gegenüber entdeckt, der eine große Bedeutung 
zuzufommen jcheint. Pfeiffer fand zuerjt im Blute cholera- 
und typhustranfer Individuen Stoffe, die jchädigend auf 
Cholera: bezw. auf Typhusbakterien wirkten. Die Schädigung 


(544) 


31 


jtellt fich jo dar, daß die Mikroorganismen zuerjt aufquellen, 
dann aneinanderfleben und zerfallen, etwa wie Wachs in heißem 
Waſſer zergeht. Dieje „Antikörper“, wie Pfeiffer fie genannt 
hat, find im gejunden Organismus nicht vorhanden, jie bilden 
ji erſt mach der Infektion und find ficher Abkömmlinge der 
Leibesbejtandtheile der Bakterien, chemijch verändert durch reaf- 
tive Prozejje des angegriffenen Körpers. Daher kommt es, daß 
fie jpezifiich find, d. 5. beim Typhus bilden fic) Typhusanti« 
förper, die nur auf Typhuskeime ihre Wirkjamfeit zu entfalten 
im jtande find, ebenjo fpeziftiche Antikörper bei den auderen 
Snfektionskrankheiten. Dieſe Spezifizität der Antikörper Hat 
man al3 diagnoftiiches Hülfsmittel benugt (Widal), vorläufig 
zur Erfennung des Typhus. Seht man nämlich eine Spur von 
dem Serum eines Typhusverdäcdtigen (da8 Blut gewinnt man 
durch einen Kleinen Nadelftich) zu einer Typhusbouillonkultur, 
jo fie&t man, wenn wirklich Typhus vorliegt, unter dem Mikro, 
ſtop das bejchriebene Phänomen der Verklebung, der „Aggluti— 
nation”, eintreten. Gruber und Durham deuten die Rolle der 
Antikörper al3 Kampfmittel für den Organismus jo, daß fie 
durch Aufquellung der Bakterienleiber diefe der Einwirkung der 
Antitorine zugänglich machen. 

Ich bin mit der Aufzählung defjen, was über die Schuß. 
und SKampfmittel de3 Organismus gegen die Infektionskrank— 
heiten befannt ijt, am Ende. Ob es noch mehr folcher hülf— 
reichen Kräfte giebt, entzieht jich vorläufig noch unferer Kenntniß, 
iſt aber wahrjcheinlih.? Wohl it e8 freilich gelungen, Dank 
der Fürſorge des Staats, durch energijche Anwendung hygieniſcher 
Mapregeln die Seuchen in ihren Gefahren für die Majjen, für 
den Staat zu mildern, aber — aus der Welt jchaffen laſſen fie 
ſich duch janitätspolizeifiche Vorjchriften nicht. Den ſicherſten 
Schuß giebt nicht der Staat und menschliche Klugheit, jondern 


viel wirkjamer, durchgreifender und zwecentiprechender, als ihn 
1545) 


32 


je Menjchenwit hätte erfinden fünnen, trägt ıhn das Individuum 
in ſich ſelbſt, einen Schuß, der, geheimnigvoll am lichten Tage, 
ohne unfer Willen und Zuthun thätig it. Diejer Schuß erfüllt, 
um kurz zu refapituliren, zwei Wufgaben: erjtens hält er 
die Bakterien fern, zweitens vernichtet er die eingedrungenen 
Keime oder paralyfirt ihre Giftwirkung fo, daß fie zu harm— 
Iojen, leicht zu vernichtenden Schmarogern werden. Der erjten 
Aufgabe wird er gerecht, wenn Haut und Schleimhautdede intakt 
find und vor allem, wenn die Körperjäfte (Blut, Speichel, 
Magenfaft u.j.w.) ihre volle bafterienfeindliche Aktivität ent: 
falten fünnen; der anderen, wenn er im ftande ift, in ich jelbjt 
die jpezifiichen bafterienvernichtenden Schugjtoffe und Gegengifte 
zu erzeugen. In letzter Inſtanz kommt es aljo, wie wir jehen, 
immer wieder auf die gute Funktion der cellulären Ele- 
mente, bejonders der weißen Blutförperden an. Ta, 
wir dürfen folgern: bei voller Integrität der Körperzellen würde eine 
infeftiöje Erfranfung eine auffallende, ja räthjelhafte Thatjache fein. 
Aber hier liegt's! Der Zellenftaat, der den Organismus reprä: 
jentirt, thut nicht immer feine Schuldigfeit, das ijt die Löſung des 
Räthſels, warum die Seuchen jo furchtbare Verheerungen anrichten. 

Aus der Geſchichte der Epidemien erkennt man leicht, daß 
es das traurige Vorrecht der ärmeren Klafjen ijt, den größten 
Prozentſatz der Erkrankungen zu ftellen. Das find eben Indi- 
viduen, deren Organismus nicht vollfräftig it: das Wohnen in 
dumpfen, dunklen, engen Wohnungen, jchlechte, ungenügende Er: 
nährung, überaus angejtrengte, über das Maß hinausgehende 
Arbeit (die noch oft im fich jelbjt Schädlichkeiten birgt) und, 
last not least, der im Ddiejen Streifen Häufige Mißbrauch des 
Alkohol Haben den Körper geſchwächt, machen ihn unfähig, 
energifchen Widerjtand zu leisten. Beſonders der Alkohol hat 
nod) viel mehr auf dem Gewifjen, als die ſchwärzeſte Ueber- 
treibung ihm Schuld giebt. 


15416) 


— 

Medicus curat, natura sanat! Dieſer tiefſinnige Ausſpruch 
muß die Richtſchnur ärztlichen Handelns ſein und bleiben. Nur 
wenn wir den geheimen Wegen der Natur nachſpüren und es 
ihr ablauſchen, wie ſie Abwehr und Heilung zu ſtande bringt, 
wenn wir, ihren Fingerzeigen folgend, verſtändnißvoll ihre Heil: 
beftrebungen zu unterftügen ung bemühen, werden wir auch in 
der Behandlung der Seuchen befriedigende Erfolge Haben. Diejen 
Gefichtspunften ſucht die moderne Therapie der Infekticnsfranf: 
heiten gerecht zu werben, wenn fie durch allgemeine diätetifche 
Beitrebungen den Körper in feinem Kampf unterjtügt oder wenn 
fie durch Befolgung der Prinzipien der „erperimentellen Thera- 
pie” den Bakterien und ihren Giften direft zu Leibe geht. Daß 
die erperimentelle Therapie in der That auf dem richtigen Wege 
ift, jehen wir an den Erfolgen der Diphtherie-Heiljerumtherapie. 

Leichter, als Krankheiten heilen, ift fie verhüten! Ueber: 
laffen wir doc die Prophylare der Infektionskrankheiten nicht 
allein dem Staatl Wir wifjen ja, worauf e8 anfommt: das 
Individuum ſelbſt ift es, in deſſen vollfräftiger Gejundheit die 
fihere Garantie liegt, den Seuchen gegenüber „feſt“ zu jein. 
Die Pflicht unferer Selbjterhaltung fordert, daß wir eine indi- 
viduelle Hygiene treiben, daß wir alle® daran ſetzen, 
unfere förperlihe Kraft und Rüſtigkeit zu fördern, um Die 
MWiderjtandsfähigkeit unferes Organisınus zu erhöhen. Begnügen 
wir ung nicht mit dem Bewußtjein, gejund zu fein; wir müfjen 
unfere Gejundheit zu erhalten juchen und phyſiſche Anforde. 
rungen an den Körper ftellen, dann wird er auch in Fällen 
der Gefahr Entjprechendes leiſten. 


Anmerfungen. 


! Außer diefer am häufigften vorfommenden Vermehrung giebt es 
noch eine andere Urt ber Fortpflanzung durch Bildung einer Dauerform, 
der „Sporen“. 

Sammlung. R. F. XII. 303. 3 (547) 


34 


* Analoges finden wir bei den höheren Pflanzen, bei denen auch die 
Giftbildung außerordentlich ſchwankend iſt. Unter Umftänden kann jogar 
der Champignon giftig werden; umgefehrt ijt die ſüße Mandel bloß eine 
Spielart ber giftigen bitteren. 

> Auf dem 27. Ehirurgentongreß (1898) berichtete Prof. Kroenlein 
(Bürih) über eine wegen Krebs vorgenommene totale Magenerjtirpation. 
„Die magenloje Patientin lebt jet (nach einem halben Jahre) bei vollem 
Wohlbefinden, hat an Körpergewicht gut zugenommen, in der Nahrungs- 
aufnahme ift von dem volllommenen Fehlen des Magens nichts zu be 
merfen.“ 

* Die weißen Blutkörperchen oder Leufochten werden in der folge 
noh oft Erwähnung finden, Der ärztliche Lejer made mir daraus feinen 
Bormwurf. dab ich im weiteren Berfolg zwiſchen weißen Blutkörperchen, 
Leukocyten, Lymphocyten, Myelochten, Wanderzellen und wie die ähnlichen 
Gebilde alle benannt find, feinen Unjerfhied made. Ich wollte dem Laien 
durch eine vermwidelte Spezialifirung die Beantwortung der vorliegenden 
ſchwierigen Fragen nicht noch fompfizirter machen. 

°8.8., um nur eins zu erwähnen, jcheinen auch den drüfigen Or- 
ganen (bejonders der Leber) bakterienfeindliche Kräfte innezumohnen. 


(368) 


Melengros von Gadara, 


ein Dichter der griechiſchen Decadence. 


Von 


Dr. Emil Ermatinger 


in Winterthur, 
— — — — — 


Hamburg. 
Verlagsanſtalt und Druckerei U. (vormals J. F. Richter), 
Königliche Hofverlagsbuchhandlung. 
1898. 


Das Recht der Ueberjegung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 


Trud der Berlagdanftalt und Druderei Actien ⸗Geſellſchaft 
'vormal& J. F. Richter) in Hamburg, Königliche Hofbuhbruderer. 


Meinem lieben Freunde 


Dr. Rudolf Bunziker 


zugeeignef. 


Der Eroberungszug, auf dem Alerander der Große für 
furze Zeit die weiten Weiche de3 Orient? der makedoniſchen 
Herrihaft unterwarf, hat in der Entwidelungsgejchichte des 
griechiichen Geiftes eine Rolle geipielt, welche an welthiftorischer 
Bedeutung die politiichen Konjequenzen des Feldzuges bedeutend 
übertrifft. Bor dem Zuge des makedoniſchen Heldenfönigs iſt 
der griechiiche Schöpfergeiſt aufgewachſen und Hat erjtarkend 
Gejtalten reinften Ebenmaßes gejchaffen, umfpannt gleichjam 
vom grünfchattenden Zaubgewölbe der patriotiichen Idee, des 
Bewußtjeind einer helleniſchen Einheit, welches troß zeitweiliger 
feindjeliger Zerjplitterung jederzeit heiß im Griechenherzen geglüht 
hat. Alle Erzeugnifje der griechifchen Litteratur und Kunft 
bi8 auf diefe Zeit tragen einen durchaus einheitlich - natio» 
nalen Charakter. Auf einmal entringt fih in dem leßten 
Drittel des vierten Jahrhunderts vor Ehrifti Geburt der hel- 
lenische Geift den engen Banden der Nationalität und ſchwingt 
fih, getragen von den gewaltigen, fiegesfräftigen Fittichen des 
makedoniſchen Adlers, jelbjt mit fiegender Kraft über die Welt 
bin. Es ijt jcheinbar ein merfwürdiger Gegenſatz, der fich bei der 
Einwirkung der mafedonifchen Könige Philippos und Alerander 
auf die Entwidelung des griechifchen Weſens beobachten läßt: 
in der Schlacht bei Ehaironeia Hat Philippos die politische 
Freiheit der Griechen in Ketten gejchlagen, nachdem fie nicht 
mehr fähig gewejen waren, politiich jelbjtändig zu fein, und 

Sammlung. N. F. XIII. 304. 1° (553) 


6 





Philipps Sohn Alerander vullbringt an dem griechiichen Geifte 
die gewaltige Befreiungsthat: er reißt die Schranfen griechischer 
Nationalität nieder, auf deren engem Boden der hellenische Geiſt 
in längerer oder fürzerer Zeit fich in fich ſelbſt aufzuzehren 
und wegen Mangel an Spielraum an feinen eigenen Ideen zu 
Grunde zu gehen drohte. Sein Blan ijt, Orient und Dccident 
zum gewaltigen, einheitlichen Reiche zu vereinigen, und das 
Feuer, in dem er die Länder zujammenjchweißen will, joll der 
Geiſt des griechiichen Volkes fein. So jchüttet er die reichen 
Schätze, welche die Griechen die langen Yahrhunderte hindurch 
aufgejpeichert, der ganzen ftaunenden Welt mit genialer Be: 
freiungsthat zu Füßen; er fest in That um die Idee des All— 
gemeinmenschlichen, welche ſich jchon im fünften Jahrhundert 
bei dem PBhilojophendichter Euripides und im vierten Jahr: 
hundert bei dem Dichterphilojophen Platon findet, jene dee, 
welche dem uralten jtolzen Gegenſatz zwijchen dem Hellenen und 
dem Barbaren in Wahrheit den Tod bringen ſollte. Alerander 
jucht den Erzeugnifjen des griechijchen Geiftes ein kosmopolitiſches 
Gepräge zu verleihen: er ftellt die Gebilde der. griechijchen 
Scöpferkraft auf ein weites Feld, wo fie von Taujenden von 
Buichauern gejehen, bewundert und hie und da erweitert werden 
fünnen. Und es Hat eine gewaltige Lebenskraft in Diejen 
Schöpfungen geglüht: jahrhundertelang noch ift dem geijtigen 
Leben der Bölfer im Abend: und Morgenlande aus diejen 
Wurzeln jeine Kraft zugejtrönt. Wlerander war gleich einem 
gewaltigen Sturmwind, der in einen hochaufgefchichteten Haufen 
von Saatförnern Hineinfährt und die Samen über das weite 
Feld verweht, in fruchtbare Erdreich, wo fie aufgehen und 
Frucht bringen fönnen. Freilich hat er — und damit Löft ſich 
der oben erwähnte jcheinbare Widerſpruch in dem Wirken Philipps 
und Alexanders — mit Ddiefer fosmopolitisch-civilifatorischen 
Miffion die freie Eigenart des griechiichen Geiſtes ebenjo ge- 


(564) 


7 


fnechtet, wie jein Bater die politifche Selbjtändigfeit der Hellenen 
vernichtet Hat: denn „ein Volk fteht ftil, wenn es aufhört, 
Individualität zu befigen,“ wie John Stuart Mill einmal 
treffend jagt. Wer aber wagt zu glauben, daß das olympijche 
Gejpann der griehiichen Kultur fiegend in der Rennbahn der 
Geiftesgejchichte immer weiter vorwärts geftürmt wäre, wenn 
Ulerander nicht mit herriicher Hand die Rofje nad) allen Seiten 
auseinandergetrieben hätte ? 

Man pflegt die Periode der griehiichen Litteraturgefchichte 
von dem Tode Alexanders des Großen bis in die legten Jahr- 
zehnte vor Chriſti Geburt die alerandrinifche zu nennen, 
weil das von dem Makedonierkönig im Nildelta gegründete 
Ulerandreia ein Hauptausgangspunft der geiftigen Bewegung, 
des jchönlitterariichen und wifjenfchaftlichen Lebens Ddiejer 
Beit war. Beſchützer und ‘Förderer diefer Beſtrebungen waren 
die PBtolemäer, welche es verjtanden, die Talente an ihren Hof 
zu fejfeln. Neben und im Gegenja zu Alerandreia entwidelte 
in Kleinafien Pergamon, der Sit der funftfinnigen Herricher 
aus dem Attalidenhaufe, ein glänzendes geiftiges Leben. Bon 
Uegypten bis zum Schwarzen Meere, wogte die Fluth griechiſcher 
Bildung in reichen, vollen Wellen Hin und her, und um alle 
Völker der gebildeten Welt jchlang fi als gemeinjames Band 
geiftigen Verkehrs die „Gemeinſame griechiiche Sprache”, die ſo— 
genannte Koine, welche fid) num unter mannigfacher Angleichung 
an die orientalifchen Sprachen und unter Aufnahme dialektijcher 
Wendungen und Formen aus der reinen attischen Schriftiprache 
im Laufe der Zeit ausbildete. Das griechische Weſen hatte durch 
die Uebermacht feines Geiftes die Welt befiegt; man pflegt dieſe 
Beit daher auch die Periode des Hellenismus zu nennen. 

Es läßt ſich nur Schwer durch ein paar dürftige Striche ein 
einigermaßen anjchauliches Bild von dieſer Zeit entwerfen, deren 
Bedeutung für die Geſchichte des antiken Lebens eine jo hohe 


(555) 


8 


ift, deren fünftlerijcher Werth jo vielfadh auf Grund einiger 
befannten unfeligen Nahahmungen bei römijchen Dichtern unter- 
ihägt wird. Friedrich Nietzſche unterfcheidet irgendivo drei 
Perioden menschlicher Kulturgefchichte: das Zeitalter der Aus- 
bildung religiöfer Ideen; ſodann das Zeitalter der Kunft, in 
dem das fünftleriihe Schaffen das Hauptinterefje des denkenden 
Menſchen in Anſpruch nimmt; in dieſen zwei Perioden jpielt 
die Phantafie die leitende Rolle; endlich folgt dann das Zeit- 
alter der Wiſſenſchaft, wo Religion und Kunjt als Bedürfniß 
jhwinden, wo an Stelle der Phantafiethätigkeit die reine Ver— 
ftandesthätigfeit tritt. Man kann allerlei gegen diejes Einprefjen 
des gejamten menschlichen Lebens und jeiner Entwidelung in 
eine jchematijche Formel einwenden; eine gewifje tiefe Wahrheit 
bleibt darin bejtehen, und gerade an der organijch jchönen, in 
ſich abgejchlofjenen und relativ jo leicht überjichtlichen Entwidelung 
des griechiichen Volkes tritt diefelbe ar zu Tage. Homer und 
Hefiod bringen im achten Jahrhundert die religiöfen Ideen, 
die aus der Volksſeele emporgetaucht find, in ihre Hafjiiche 
Form; im fünften Jahrhundert tragen Sophofles und Pheidias 
die Kunjt auf den höchjten Gipfel der Volltommenheit; die 
folgende Zeit würde demnach im Zeichen der Wifjenjchaft jtehen; 
und in der That ift auch die Bedeutung der alerandrinijchen 
Periode in erjter Linie eine wijjenfhaftlide Es ſtimmt 
aufs jchönfte zu diefer Thatjache, daß der geiftige Erzieher des 
Herrſchers, der für eine ſolche Entwidelung des griechijchen 
Geiſteslebens die politiiche Grundlage gegeben Hat, Ariftoteles 
war, deſſen riefige wifjenjchaftliche Thätigkeit die pafjende Ein- 
leitung zu dem geijtigen Leben der folgenden Jahrhunderte bildet. 

Sch unterlaffe es, von den wifjenjchaftlichen Bejtrebungen 
diefer Zeit ein ausführliches Bild zu entwerfen; nur mit 
einem Worte erinnere ich an Männer, wie den Geographen 
und Schöpfer der Chronologie, Eratojthenes, an Zenodotos, 


(556) 


9 


AUriftophanes von Byzanz und Ariſtarchos, welche 
recht eigentlich die Philologie als Wiſſenſchaft gejchaffen und 
fih um die Feftjegung des Textes der alten klaſſiſchen Schrift. 
jteller dauernde DVerdienjte erworben Haben; an Krates.von 
Mallos, den gelehrten Gegner der alerandriniichen Schule in 
Vergamon, an Dionyjios Thrar, den Berfafjer des erjten 
Handbuchs der griechifchen Grammatik, an den Mathematiker 
Eufleides, den Phyſiker Archimedes. 

Dod auch bei diefem durchaus wifjenschaftlichen Charakter 
der alerandrinifchen Kulturperiode Hat der Baum der Poeſie 
troß vieler Mißgejtalten und bizarrer Auswüchje manche jchöne 
Frucht getragen. Das alerandrinijche Zeitalter zeigt in manchen 
Bügen eine auffallende und Iehrreiche Aehnlichkeit mit dem Ende 
des neunzehnten Jahrhunderts. Es find beide Zeitalter aus 
dem Buftande des EpigonenthHums herausgewachſen; man jucht 
nad) neuen Formen und findet oft das Seltſame, Bizarre; 
in den guten und beiten Schüpfungen beider Zeiten liegt ein 
gedanfenjchwerer Kern, eine Ueberfülle von Stoff, den man 
aber, troß der überjorgfältigen Pflege, welche man der reinen 
Form angedeihen läßt, recht oft dennoch nicht zu beleben ver: 
mag. Die Kunjtwerfe beider Perioden müfjen ebenjo jehr mit 
dem nachdenfenden VBeritand, wie mit der nachdichtenden Vhantafie 
genofjen werden; denn bei den Dichtern beider Zeitalter jpielt die 
Wiſſenſchaft, die reine Wifjenjchaft eine große Rolle: es fommt ja 
auf eines heraus, wenn die alerandrinifchen Dichter, von denen 
jo wie jo jehr viele und bedeutende zugleich als Gelehrte in 
Alerandreia lebten, die Früchte ihrer Hiftorischen und mytho— 
logiſchen Studien in ihren poetijchen Werfen niederlegten und 
denjelben durch Anjpielung auf ſchwer verjtändliche, entlegene 
Sagen einen gelehrten Beigejchmadf verliehen — e8 kommt 
dies aufs gleiche heraus, wie wenn heutzutage ©. Flaubert 
in „Madame Bovary“ jeine medizinisch-phyfiologischen Kenntniffe 


(557) 


BR... 0 


aufs peinlichite genau twiedergiebt oder die Brüder Goncourt 
in „Renee Mauperin” die Familiengefchichte und den Stamm: 
baum der Villacourt3 mit der Sorgfalt ftaatlich geprüfter Genea- 
flogen mittheilen.! 

Wir greifen zur Sluftration unferer Behauptungen einige 
typiſche Beiſpiele litterariicher Eriftenzen in der alerandrinijchen 
Zeit heraus. Zu den befannteften Dichtern des dritten Jahr- 
hundert3 vor Chriſti Geburt gehören Kallimachos von Kyrene 
und Apollonios von Naufratis oder Alerandreia, welcher jpäter 
von jeinem Aufenthalt in Rhodos den Zunamen „der Rhodier“ 
erhielt. Kallimachos Iebte als Lehrer in Mlerandreia unter 
Ptolemaios Philadelphos. Als Beamter an der gewaltigen 
alerandrinifchen Bibliothek erwarb er fich in der gelehrten Welt 
einen Namen durch die Herausgabe eines umfangreichen Kata: 
[098 der aufgefpeicherten Bücherſchätze, der fogenannten Pinakes. 
Neben feiner wifjenjchaftlichen Thätigkeit geht feine dichterifche: 
er veröffentlichte etwa in der Art, wie Dvid feinen Feſtkalender 
gefchrieben Hat, unter dem Titel „Witia“ eine Sammlung von 
Elegieen, in welchen er griechiſche Urſprungs und Gründungs- 
legenden unter einem großen Aufwand von Gelehrjamfeit be- 
handelte. Anjprechender war jein Epyllion Hefale, ein im 
Alterthum Hochgepriefenes Werk der kallimacheiſchen Mufe, von 
dem neuerdings in Yegypten anjehnliche Bruchjtüde aufgefunden 
wurden. Das Gedicht ftellte das Abenteuer des Thejeus mit 
dem marathonischen Stier dar und zeichnete ſich namentlich 
durdy hübjche Schilderung des täglichen Kleinlebens, durch ge- 
ihicte Behandlung von Genrefcenen aus. So jchildert eines 
der erhaltenen Fragmente in überaus anmuthiger Form den 
Empfang, der dem heimfehrenden Helden in Athen von feinen 
jubelnden Landsleuten zutheil wird. 

Des Kallimachos Schüler und jpäter fein erbittertiter Feind 
war Wpollonios von Rhodos, der in einem umfangreichen Epos 


(558) 


11 


die Argonautenſage behandelte. Das Gedicht, das wir noch 
befigen, ift reich an poetifchen Schönheiten, namentlich) der Cha- 
rafter der Medeia und ihre inneren Kämpfe find mit großer 
piychologischer Kunſt gejchildert. Aber gleich zu Anfang des 
Werkes zeigt ſich die gelehrte Richtung des Verfaffers: in über 
zweihundert Berjen werden ausführlich und mit erjtaunlichem 
mythologiſchen Apparat jämtliche Theilnehmer an der Argofahrt 
aufgezählt, ihre Genealogie und Vorgeſchichte mitgetheilt, eine 
Gejchmadlofigfeit, die in der modernen Litteratur eine würdige 
Parallele findet in der Aufzählung aller berühmten Flüſſe, wie 
fie ung Paul Verlaine in feinem „Nocturne parisien“ bietet. 
Kallimachos und Apollonios werden, was die Verwendung 
der Gelehrſamkeit zu dichterifchen Zweden anbetrifft, weit über: 
holt von Lyfophron aus Chalkis auf Euboia. Er war gleid): 
falls wifjenjchaftlich thätig; daneben jchrieb er Tragödien. Er: 
halten ift ung fein umfangreiches iambijches Gedicht „Alerandra“, 
„ein höchſt wunderliches und abgejchmadtes, abfichtlih dunkel 
gehaltene Schauftüd mythologischer, Hiftorifcher und litterariſch 
ſprachlicher Gelehrjamfeit,“ das vermöge feiner inhaltlichen und 
ſprachlichen Schwierigkeiten, feiner feltenen Wortformen in den 
folgenden Jahrhunderten zum Gegenftand eifrigen Studiums 
gemacht und in den Schulen als grammatijches Uebungsbuch 
gebraucht wurde. Mit Recht vielleicht vergleicht ein Kenner der 
modernen franzöfiichen Litteratur, Anatole France, in einem 
Briefe an Charles Morice das Gedicht mit den raffinirten Er- 
zeugnifjen von Stephan Mallarme und feiner Schule. Zu 
der gelehrten Richtung der Zeit paßt auch die eifrige Pflege, 
welche das Lehrgedicht fand: wir erinnern nur an das berühmte 
aftronomijche Tehrgedicht des Aratos, die Phainomena. 
Diefe Beijpiele müfjen genügen, ung ein Bild von dem 
gelehrten Charakter der alerandrinijchen Litteratur zu geben. 
Neben und abjeit3 von diefen und ähnlichen Schöpfungen 


(559) 


12 


in denen fo oft der Leichengeruch todter Gelehrſamkeit erſtickend 
über das pulfirende fünftlerifche Leben Hinweht, fließt immer 
noch in jchöner Fülle der Strom echter Poefie, und manche 
buntzierliche Mujchel grüßt von jeinem Grunde empor, und 
manche hübjche, bis jebt unbekannte Blume jproßt an feinem 
Ufer auf. Manche Dichtungsgattungen werden mit Glüd und 
dem Charakter der Zeit entjprechend weitergebildet, manche neu 
geichaffen. So entwidelt ſich aus der loſen, altattichen Komöbdie, 
der die Dichter des fünften Jahrhunderts, einKratinos,Eupolig, 
Ariftophanes einen durchaus politisch - jatirischen Charakter 
gegeben hatten, gegen Ende des vierten und im Laufe des dritten 
Jahrhunderts das bürgerliche Zuftjpiel mit feinem oft fein: 
verjchlungenen Intriguenſpiel, jeiner gejchlofjenen, auf dem Gegen- 
ja der Charaktere fich aufbauenden Handlung. Meifter jind hier 
Menandros, Bhilemon und Diphilos. Zeigt fich ſchon im 
Luftipiel die Neigung, das alltägliche Kleinleben in den Kreis 
poetijcher Behandlung Hineinzuziehen, jo entwidelt fi) nun Die 
Darjtellung von Genrebildern aus dem bürgerlichen und länd— 
lichen Leben zur eigenen Poefiegattung. Der Sizilier Theokritos 
ſchildert mit feiner, Fünftlicher Natürlichkeit in feinen Idyllen 
das einfache Leben der Hirten und entwirft reizvolle, lebendige 
Bilder vom Leben und Treiben des Volkes in Alerandreia. Er 
ift der eigentliche Begründer der bukoliſchen Dichtung, der 
Schäferpoefie, nachgeahmt von Bergil in feinen Bufolifa, verehrt 
von den Schäferjpieldichtern der neueren Zeit. Nahe mit Theofrits 
Dichtungen berühren fich die neulich aufgefundenen Mimiamben 
des Herondas, welche in dramatijcher Form Genrejcenen aus 
dem Volksleben jener Zeit uns vor Augen führen. Mehr und 
mehr dringt nun die Liebe, die auf Iyriichem Gebiete in den 
Liedern einer Sappho bereits jo herrliche Blumen gezeitigt, auch) 
in die andern Gattungen litterarifcher Stoffe hinein. Im den 
Hafjiihen Dichtungen des fünften Jahrhunderts, bei einem 


1560) 


13 


Aiſchylos und Sophofles, tritt das erotische Motiv, ebenjo 
wie bei Homer, nur gelegentlich auf; in der Jlias bildet das lieb— 
liche Verhältniß zwijchen Heftor und Andromache eine anmuthige 
Epijode im Hintergrund der gewaltigen Wölferfämpfe; bei 
Aiſchylos dient in feiner erfchütternden Tetralogie „Orefteia“ 
der Liebesbund zwijchen Klytaimeftra und ihrem Buhlen Aigifthos 
nur dazu, den dämonijch.graufigen Charakter von Agamemnong 
Weib zu verjchärfen; in der Antigone des Sophofles, dem er: 
greifenden Liede frommer Schweftertreue, ift die Liebe zwischen 
Antigone und Haimon äußerst fnapp behandelt; fie jchwebt 
gleihjam nur wie eine weiße Taube, auf deren jchimmerndem 
Gefieder ein paar Blutstropfen glänzen, über die düſtere Wal- 
ftatt Hin, auf welcher das dunfle Verhängnig das Haus der 
Labdakiden dem Tode entgegentreibt. Erjt bei Euripides, der 
zwiſchen der rein klaſſiſchen und der nachklaffiichen Dichtung in 
feiner ganzen Perfünlichfeit vermittelnd fteht, tritt die Liebe als 
Hauptmotiv in Tragddien auf; wir brauchen nur an die Medeia 
und den Hippolytos zu erinnern. Erwin Rohde hat das Zurüd- 
treten des erotilchen Motivs im Epos und in der Tragödie der 
Griechen damit erklärt, daß die Darjtellung tobender Liebes. 
leidenjchaft einerjeit3 „der anjchauenden Phantafie feine jener 
plaftiichen Bilder ſtark erregter Heldenfraft darbietet, wie fie 
das Epos an feinen Hörern vorüberführen will,” daß anderjeits 
die Schilderung der übermächtigen Gewalt der Liebe, welche die 
Griechen wie ein paffives Pathos empfanden, das den ficheren 
Willen verwirrte und den Helden niederdrüdte, nicht geeignet 
war, den Zwed der Tragödie zu erfüllen, d.h. „eine ungeheure 
Menge feierlich erregter Menjchen zu der gemeinfamen Empfindung 
de3 Erhabenen im tragifhen Schidjale gewaltigen Menjchen- 
willens emporzutragen.“ 

Für den Dichter der alerandrinischen Zeit find diefe Schranfen 
gefallen. Man beginnt nun, in der Bahn, die Euripides ge: 


(561) 


14 


wiejen, weiterjchreitend, in größerem Umfange erotijche Stoffe 
zu behandeln, und erkennt bald die ungeheure Fruchtbarkeit des 
erotiichen Motivs. So finden wir in Elegieen und poetischen 
Erzählungen Liebesgefchichten zur Darftellung gebracht, und jchon 
Karl Otfried Müller hat bemerkt, daß in derartigen erotijchen 
Erzählungen, die übrigens vereinzelt jchon geraume Zeit vor 
der alerandrinishen Periode auftreten, der erjte Keim der 
Romandichtung jtedt. In der alerandrinischen Zeit finden 
wir denn auch die erjten wirklichen Novellen und Romane mit 
relativ jorgfältiger Charafterzeichnung. 

Schon dieje paar Striche dürften genügen, um zu zeigen, 
wie dieſe legten Jahrhunderte vor Chrifti Geburt durchaus 
feine Zeit geijtiger Armuth find, wie ein rege und reiches 
Leben in dieſen Ländern um das öftliche Beden des Mittels 
meeres pulfirte. Auch über diefer Zeit noch wölbt fich frei 
und groß und tiefblau der griechiiche Himmel; nur find Die 
Götter, die droben wohnen, vom Alter erjtarrt; ihre Ge: 
ftalten athmen nicht mehr die alte, ungejtüme Lebensfriſche; 
aber die Sonne, die am Himmel jteht, ift heißer geworden, und 
unter ihren glühenden Strahlen wächſt im Garten griechischer 
Dichtung manch’ neue Wunderblume heran, fich unter die alte 
Schar der längjt bekannten Schweiterpflanzen drängend, und 
neue, oft betäubende, orientalifche Wohlgerüche Iziehen in zit- 
ternden Duftwellen übers Feld Hin. 

In dem Dichter, dejjen Gejtalt ich hier zu zeichnen ver: 
juhen möchte, laſſen ſich all Ddiefe Züge, die ſeltſame Ver: 
ichmelzung des griechijchen mit dem orientalischen Wejen, über: 
haucht von einem deutlich fichtbaren Schimmer der Decadence, 
flar nachweijen, um jo klarer, weil uns die Gunft des 
Schickſals einen recht bedeutenden Theil feiner Gedichte erhalten 
hat. Die jogenannte palatinijhe Anthologie, eine um— 
fangreihe Sammlung griechiſcher Gedichte, welche aus früheren 


(562) 


15 


Gedihtjammlungen im zehnten Jahrhundert von Konſtantinos 
Kephalas in Byzanz zujammengeftellt wurde, enthält noch circa 
hundertdreißig Epigramme unſeres Dichters. Diefe Gedichte 
zeigen uns, daß Meleagros, was Driginalität und künſtleriſche 
Kraft anbetrifft, in feiner Weife ein Dichter erften Ranges war; 
aber fie erlauben uns, ein lebensvolles, in einzelnen Zügen 
recht anjprechendes, jedenfalls aber für die fpätere Alerandriner- 
zeit durchaus typifches Bild eines Dichters zu entwerfen. 

In der Gejchichte des griechischen Geifteslebens zur Zeit 
des Hellenismus jpielt das jemitische, beſonders das fyrijche 
Element eine nicht unbedeutende Rolle: wir begegnen einer recht 
ftattlihen Anzahl von Syriern, welche in der Litteratur und 
Philoſophie jener Zeit hohes Anjehen erlangt haben. Ums 
Jahr 200 vor Chrifti Geburt Iebte der kyniſche Philofoph 
Menippos von Gadara, welcher in jeinen berühmten menip- 
peilhen Satiren amüjante Geſchichten, philojophijche Streit: 
fragen zc. im TFeuilletonftile behandelte. Ein halbes Jahrhundert 
jpäter wirkte der Epigrammendichter Antipatros von Sidon. 
Als ftoischer Philoſoph erwarb fi) Bojeidonios von Apameia 
ums Jahr 100 einen Namen; wenige Jahrzehnte jpäter lebte der 
berühmte Epifureer Philodemos von Gadara. Der Dichter 
Arhias von Antiocheia ift aus Ciceros VBertheidigungsrede 
befannt. Aus der nachchriftlichen Litteratur fteht Lukianos 
von Samojata in aller Erinnerung. Wir haben zu diefem Ein: 
dringen des femitischen Elementes in die griechijche Litteratur ein 
römiſches Analogon in der Erjcheinung, daß in der jogenannten fil- 
bernen Periode der lateinijchen Litteratur dem römischen Weſen 
friiche Kraft aus Spanien zuftrömt: wir brauchen nur an Männer 
wie die beiden Seneca, an Martial und Quintilian zu denken. 

Syrien ift auch die Heimath unſeres Meleagro2. 

In der Landichaft Peraea, am linken Ufer des Jarmuk, 


eines linken Nebenflufjes des Jordan, wenige Meilen vom See 
(663) 


16 


Genezareth entfernt, lag Gadara, in den leßten Jahrhunderten 
vor Ehrifti Geburt bis ins fpäte Alterthum hinein ein Sik 
regen geijtigen Lebens: von der Hohen Intelligenz jeiner Be— 
wohner legt die verhältnigmäßig große Zahl bedeutender Männer, 
welche Gadara der helleniftiichen Kulturperiode geſchenkt Hat, 
ein glänzendes Zeugniß ab: zu den bereit? genannten, dem 
Satirifer Menippos und dem Epifureer Philodemos, tritt noch 
der berühmte Lehrer der Beredjamkeit, Theodoros, hinzu, der 
Lehrer des Kaifers Tiberius. Bon der einftigen Größe und 
der entſchwundenen Herrlichkeit der Stadt geben noch heute um- 
fangreihe Trümmer dem Reiſenden Stunde. 

In Gadara wurde Meleagros gegen 120 vor Chriſti 
Geburt geboren. Sein Bater hieß Eukrates. In jeiner 
Heimathftadt, die von griechiicher Bildung völlig überfluthet 
war, wurde der Knabe frühzeitig in das hellenische Geiftesleben 
eingeführt. Er anerkennt dies dankbar in der Grabjchrift, die 
er ſich jelber gedichtet; da nennt er Gadara das ſyriſche Athen. 
Und dod) hat Meleagros bei Zeiten, wohl ſchon in feinen frühen 
Sünglingsjahren, jeiner Vaterſtadt den Rüden gewandt; er 
wollte die geijtigen Keime, welche Gadara in ihn gelegt, in 
einer heißeren Atmojphäre raſch heranreifen lajjen; er ging nad) 
dem phönikiſchen Tyros. 

Tyros war jeit uralter Zeit eine weitberühmte, blühende 
Handelsſtadt; und wo ein reger, weitverzweigter Handelsverfehr 
glänzende Reichthümer aufhäuft, da pflegt fich ein üppiges Leben 
zu entwideln, in dejjen brütenden Gluthitrahlen die Genußfucht 
mit ihren mannigfachen Auswüchlen emporjchießt. Meleagros 
hatte, dem Beijpiele jeines älteren Landsmannes Menippos 
folgend, ſich früh, wohl ſchon in Gadara, den Kynikern ange: 
ihlofjen, jener philojophiichen Sekte, welche die Tugend als 
einzig erjtrebenswerthes Gut für den Weilen Hinjtellte, welche 
Lurus und NReihthum, Ruhm und Ehre, Sinnenluft und Sinnen- 


(564) 


- 


* 


| -ISiTy } 
ſchmerz als gleichgültige Dinge, al3 Adiaphora, betrachtete. In 
diefer kyniſchen Richtung jcheint ſich auch) die erfte poetiſche Schöpfung 
von Meleagros bewegt zu haben, eine Snmmlung von Satiren nad) 
dem Muſter Menipps. Doch gar bald ſprang in Tyros Die 
jpröde kyniſche Gleichgültigfeit gegen finnliche Genüffe, wie bei 
fo manchem diejer jpäteren Kynifer, auch bei dem jungen Syrer 
in Stüde; lag ja doc) die Gleichgültigfeit gegenüber dem mo— 
raliich Anftößigen jchon in der kyniſchen Lehre inbegriffen. Zwar 
mag fich zuerjt die für die ernjte Strenge der Philoſophie be- 
geiiterte Seele des Jünglings gejträubt haben, dem girrenden 
Lodruf des Gottes Eros zu laujchen; aber bald überwindet ihn 
der Unbezwingbare, und triumphirend ruft in einem Liede 
unferes Dichters der Gott aus: „Den Spröden hab’ ich ge 
fangen! Sieh, wie ich mit Füßen trete den Ueberwundenen, 
der jo jtolz mit hochgezogenen Brauen einherwandelte mit dem 
Stabe des Philofophen in der Hand!” Und Meleagros weiß 
fich zu tröften: „Was nützt's, gegen den Gott anzulämpfen, der 
jelbft den Himmelskönig Zeus überwältigt hat?” Im Beſitze 
anjehnlicher Mittel, jtürzt er fi) nun unaufhaltfam und leiden- 
Ihaftlih in die heiße Fluth der Genüffe, welche die üppige 
Handelsjtadt einem jungen Manne, der das Leben fojten will, 
zu bieten vermag. Immer tiefer jchaut der Jüngling, der bisher 
gewohnt gewejen war, in das Elare, ernite Auge der Weisheit 
zu jchauen, dem Genuſſe ins heiße, lüjterne Auge. In der be: 
täubenden, düftejchweren Atmojphäre, wie fie in Tyros herrjchte, 
entwicelt jic) der in dem jungen Syrer jchlummernde Keim 
der Dichtung raſch; aber gar vielen der Gedichte, die da ent- 
jtanden, fieht man die Art ihres Eutjtehens an: fie find mit 
ihrer unnatürlichen Gluth, ihrem oft abjtoßenden Inhalt künſt— 
lich gezüchtete Blumen, rajch emporgewachjen in der ſchwülen 
Luft des Treibhaujes der Göttin Ajchtaroth, der üppigen phö— 
nikiſchen Liebesgöttin; ihr vergifteter Hauch ftößt das geſunde, 


Sammlung. NR. 5. XIII. 304. 2 565) 


15 


natürliche Empfinden zurüd: die Iyrifchen Gedichte des Meleagros 
aus diejer Periode find zu einem großen Theile der Knabenliebe 
gewidmet, und die lyriſche Gedichtfammlung, welche er in Tyros 
veröffentlicht zu haben jcheint, trägt den Titel Paidika. 
Neben diefen unerfreulichen Produkten ungefunder Zeit: 
anjchauungen findet aber Meleagros manches anmuthige Lied, 
das durch feinen Inhalt wie durch feine Form entzüdt. 
Und namentlich) die Form beberricht Meleagros in meifter- 
bafter Weife, wie e3 ja jelbjtverftändlich ift bei dem Dichter 
einer Zeit, welche, wie die alerandrinijche, auf eine jahr: 
hundertelange Uebung in den poetijchen Formen zurüdbliden 
fann. Der alerandrinifche Dichter ift gezwungen, Gedanfen, 
die vor ihm jchon jo oft geformt worden find, aufs neue zu 
bilden. Um ihnen einen Schimmer der Neuheit zu verleihen, 
muß er danach trachten, die Konturen immer jorgfältiger aus— 
zumeißeln, die einzelnen Partien immer feiner und minutiöfer 
auszufeilen, um der dee de Kunftwerf3 immer näher zu 
fommen. Das Kunjtideal der alerandrinifchen Dichtung berührt 
fih in diefem Punkte jehr enge mit dem litterarifchen Brogramm, 
wie ed im modernen Frankreih die Parnaſſiens aufgeftellt; 
hier und dort finden wir jo oft äußerfte Formvollendung, 
neben ihr aber und durch fie bedingt, oft ebenfo große im- 
passibilite. Eine jolche Zeit, wie die alerandrinifche, wird 
auch für langathmige, breit angelegte epilche Gedichte Fein 
fruchtbarer Boden fein, wie dies der Elegiker Kallimachos in 
richtiger Einficht gegenüber jeinem Gegner Apollonios von 
Rhodos und dejjen langem Heldengedichte über die Argonauten- 
fahrt betonte. Im Epos wird man fich demnach hauptjächlich 
auf die Darjtellung kurzer Genrebilder bejchränfen, in der 
Lyrif wird zur knappen, jcharfen Fafjung einer Stimmung 
oder eines interefjanten Gedankens diejenige poetiſche Form 


mehr und mehr ausgebildet werden, deren innerjtes Wejen jcharf 
(566) 


19 





abgejchnittene Knappheit ift, dag — meift in Diftichen abge- 
faßte — Epigramm. Schon der Name der Form — „Auf: 
ſchrift“ — umd ihre urjprüngliche Verwendung bedingt die 
Kürze: der Stein am Wege oder das Weihgeichent, das die 
Aufichrift zieren jollte, boten nicht viel Raum zu dichterifchen 
Ergüfjen; e8 galt, in wenig Worte möglichjt viel hineinzulegen; 
und jo entwidelte fi) nad) und nach der Begriff der Pointe. 
Bereitö im vierten Jahrhundert erweiterte fich der VBerwendungs: 
freiß des Epigramms; es löſte ſich los von dem urjprünglichen 
Bwede und wuchs mehr und mehr in die Bedeutung einer 
furzen, jcharf pointirten Elegie hinein. Und die Beliebtheit 
des Epigramms jteigerte fich im alerandriniichen Zeitalter; da 
finden wir Liebesgedichte, Trinklieder, Spottgedichte in epigram- 
matiſcher Form, bald Eleineren, bald größeren Umfanges. Das 
Diftihon entjpricht in diefer Verwendung völlig dem deutjchen 
Bierzeiler, wie ihn 3. B. Heine für jeine Lieder verwendet. Man 
wird daher bei Uebertragung ſolcher Epigramme ins Deutjche, 
will man einen analogen Eindrud hervorrufen, wie ihn das 
Original auf feine Lejer ausgeübt hat, am beiten in Vierzeilern 
überjegen, jei e8 mit oder ohne Reim, jedenfalls aber fich hüten 
müfjen, dieje leichtgebauten Liederförper in den jchweren und 
aufgebaufchten Reifrod deutſcher Dijtichen hineinzufteden.? 
Doc) kehren wir nach diejer furzen Abjchweifung über die 
Entwidelung des Epigramms wieder zu unjerem Dichter zurüd ! 
Meleagros iſt ein glänzender Meijter der epigrammatijchen 
Form. Sit er nur felten groß durch die Neuheit des Stoffes 
und die Originalität der Gedanken, jo weiß er doch immer dem 
alten Stein einen neuen Schliff zu geben, und wenn nun fo 
häufig noch zur äußeren blinfenden Form der Stoff, den der 
Dichter bildet, das Intereffe des modernen Leſers weckt, jo 
finden wir im Schmudfaften Meleagrijcher Dichtung mand) 
prächtige Gejchmeide. 


2° (667) 


20 

Weitaus die meisten Gedichte in der und von Meleagros 
erhaltenen Sammlung find Liebesgedichte, und weitaus Die 
meijten find in Tyros entitanden. Es läßt ſich aus ihmen über 
das innere und äußere Leben unjeres Dichters in der phönikiſchen 
Handelsftadt ein anjchauliches Bild gewinnen, wenn wir ung 
auch verjagen müfjen, zur völligen Abrundung des Bildes auch 
die päderaftiichen Epigramme in größerem Umfange zu ver: 
wenden. 

Bor allem müfjen wir ung jedoch hüten, die tiefgeiftige 
Auffafjung der Liebe aus unjeren modern »germanijchen An— 
Ihauungen heraus in den Gedichten des ſyriſchen Dichters zu 
ſuchen; da fingt jede Zeile von heißem Genuffe, von äußerer 
Schönheit herrlicher Geftalt; höchſtens werden noch die geijtigen 
Borzüge der Angebeteten gepriejen,; die Gabe, ſüß zu plaudern 
oder zur Leier ein anmuthig Lied zu fingen. Ein Genuß löſt 
den andern ab, eine Leidenjchaft folgt auf die andere, jelten 
jenft fi im jagenden Taumel eine Neigung tiefer ins Herz. 
Nicht einmal die relativ hohe Auffaffung der Liebe, wie wir jie 
bei römischen Dichtern zu finden pflegen, begegnet ung bier; der 
römische Lyriker fennt, wenn wir von dem römijchen Heine, 
Ovidius, abjehen, in jeinem Liederbuch jeweils nur eine große, 
die ganze Dichtung erfüllende und befruchtende Leidenjchaft: 
Catull hat feine Lesbia, Tibull feine Delia, Properz feine 
Eynthia, Cornelius Gallus feine Lycoris; in diejen Gejtalten 
einzig lebt, aus ihnen glüht das Lied des römischen Dichters 
empor, und wenn auch der eine oder andere neben dem Haupt: 
jtern noch manchen Nebenftern gekannt und zu Zeiten geliebt 
bat, jo find diefe Nebenlichter für die Gejamtauffaffung des 
Dichter faum von Belang. Anders bei dem Syrer Meleagros: 
da nennt Gedicht um Gedicht ung einen andern Namen, und 
nur jelten führen die Spuren der Liebe in die Tiefe. Necht 
harakteriftiich für diefe Auffafjung der Liebe ift ein Lied von 


(668) 


21 


Philodemos, dem etwas jüngern Landsmann unferes Dichters. 
Es richtet ſich an eine gewiſſe Philainion, die gerade bes 
Dichters Herz entflammt hat:? 

Hübſch zierlich ift mein Liebchen, 

Schwarz funfelt ihr Augenpaar. 


Kraujer al3 Eppichblätter 
Bäumt fi ihr lodiges Haar. 


Bart it, gleich weihem Flaume, 
Ihrer Wange janfte® Rund, 
Wie Benus’ Wunbdergürtel 
Baubermädtig ihr Mund. 


Sie ſchenkt mir all ihre Liebe 
Ohn' allzureihen Sold. 

Solch wunderherrlich Liebchen — 
Wie iſt mein Herz ihm hold! 


Wie lieb' ich, o goldene Kypris, 
Sie, die mein Herz entzückt — 
Bis ich eine andere finde, 

Die mich nod) reicher beglüdt! 


Nicht weniger al3 vierzig Namen von Geliebten unferes 
Meleagros laſſen ſich aus feinen Liedern entnehmen. Allerdings 
dürfen wir ja, ebenfowenig wie bei Seine, nicht alle dieſe 
Namen ernft nehmen und an wirkliche Erlebniffe des Dichters 
denken; aber diefe Zahl wirft doc) ein helles Licht auf Meleagros’ 
Leben und Lieben in Tyros, und Namen wie Tryphera („die 
Heppige”), Phanion („die Herrliche”), Kalliftion („Schönchen”) be: 
richten deutlich genug vom Stand und Charakter diefer Schönen. 
Die Zahl der Knaben, die er geliebt, hat der Dichter in eigenen 
Leporelloliften verherrlicht. Freilich hat er fich nie bis zu dem 
Grade der Geſchmackloſigkeit verftiegen, wie der Barnaffien 
Satulle Mendes, der es in jeinem Gedichte „Recapitulation“ 
fertig bringt, im fünfzehn vierzeiligen Strophen uns lauter 


Namen von Schönen, die er geliebt, vorzuführen! Davor Hat 
(569) 


22 


den Meleagros der Genius der griechiichen Sprache, in der er 
dichtete, glücdlicherweije bewahrt. 

Man muß fich fajt wundern, wenn nun troß der vielen 
Namen von Geliebten, die uns in Meleagros’ Gedichten be: 
gegnen, ſich dennoch unter den Liedern des Roué Stüde finden, 
aus denen im leuchtender Gluth die Flammen tiefer, lange 
genährter und heiß empfundener Liebe emporjchlagen. Derart 
ift des Dichters Verhältnig zu Zenophila, deren Name zwölf 
der erhaltenen Liebesepigramme Frönt. In dem Preis ihrer 
bezaubernden Schönheit, ihrer geiftigen Anmuth kennt jein Lied 
feine Schranke: „Die Levfoie blüht, und es blüht die Narzifie 
im feuchten Grund; es blühn auf Bergeshöhen die Lilien. Auf- 
geblüht ift die Blume der Liebe, der Blumen Königin, Die 
lieblihe Rojfe. Doch, was prangt ihr umfonjt in lachender 
Herrlichkeit, ihr Fluren? Schöner iſt ja meine Zenophila, als 
jüßduftende Kränze!“ Ihr Hat Eros Schönheit verliehen, Aphro— 
dite der Liebe Zauber, Anmuth die Göttinnen der Anmuth. 
Er weiß nicht, ob ihr Gejang im Saitenfpiel, ob ihre Schönheit 
es ihm angethan hat. Er bemeidet den Becher, den fie an den 
Mund ſetzt, und wünjcht, fie möge in einem Zuge, wie des 
Bechers Wein, jeine Seele austrinfen. Einmal meint er, von 
ihrer Liebe frei zu jein, und jchildert nun, einen Gedanken des 
bukoliſchen Dichters Moſchos umformend, jehr hübſch unter 
dem Bilde eines Herrn, der jeinen entlaufenen Sklaven ausrufen 
läßt, wie er den entwichenen Liebesgott wiedergefunden hat: 

Holt mir ein den Wildfang Eros! 
Eben ift er mir entflohn, 


Schlich frühmorgens fih von jeinem 
Lager fort und floh davon! 


’3 ijt ein Kind, weiß jüß zu meinen, 
Flink, fed, plaudert immerdar, 
Lächelt ipöttiich, trägt am Rüden 
Köcher und ein Flügelpaar. 

(570) 


23 


Wer jein Vater ift, wer weiß e3? 
Nicht der weite Himmelsplan, 
Nicht die Erde will zum Rind den 
Frechling, nicht der Ozean. 


Niemand fann den Knaben leiden, 
Und es haßt ihn alle Welt — 

Gebt drum Acht, dab er nicht andern 
Herzen jet jein Fangnetz jtelt — 
Doch, ſieh Her! In feinem Mefte 
Sitzt der Schüße ftil. Ich ſah 
Gleich dich ja verborgen in dem 
Auge der Zenophilal 


Sehr hübſch iſt auch ein Lied an die jchlafende Zenophila: 


Du ſchläfſt, meine lieblihe Blume 
D könnt’ ich dir nahen nun, 

Als flügellofer Schlummer 

Dir janft auf den Yidern zu ruh'n! 


Und jchlummert jelbft Juppiters Auge, 
Bom Gotte bezaubert, ein: 

Nicht follte der Schlaf did) umfangen, 
Daß mein du wärft, einzig mein! 


Tiefere Töne noch findet feine Muſe in jeiner Liebe zu 
der jchönen Tyrierin Heliodora. Es berührt uns ſeltſam, 
wie durch viele dieſer Heliodvralieder ein leijer Ton der Weh- 
muth Hinzittert. Wohl jauchzt fein Herz auf, wenn er Die 
Herrliche jchaut, fie, vor deren glühender Schönheit der Kranz, 
den fie auf dem Haupte trägt, verwelft, wohl rühmt er, wie 
fie heiter plaudernd an Anmuth die Göttinnen der Anmuth, die 
Ehariten, übertreffe; wohl Klingt ihre Stimme jüßer ihm ins 
Ohr als Apollons Kitharjpiel; wohl nennt er fie, von jeiner 
Liebe beraufcht, die Seele feiner Seele: und doc hat er mehr 
der Liebe Leid als der Liebe Luft bei ihr gefunden. ine 


(571) 


24 


Biene hat die zarte Haut der Geliebten berührt; da fragt er, 
ob fie ihm bedeuten wolle, daß neben der Süßigfeit die Liebe 
auch einen bittern Stachel trage; er Hat Grund, ihre Untreue 
zu fürchten, und in einem wunderjchönen Liede, deffen Schönheit 
die deutſche Ueberiragung nur unvolllommen wiedergiebt, gedenft 
der Dichter, beim Gelage fitend, wehmüthig der Ungetreuen: * 


Füll' den Pokal, und ruf: „Heliodora“ | 
Und ruf’ ed wieder! Ihr zum Preis jchenf’ ein! 
Weih' mit dem Bauberwort „Heliodora“ 

Den fautern Wein! 


Ge’ mir den Kranz von geftern auf, den fahlen, 
Aus dem noch leij’ der Myrrhe Wohlduft quillt! 
Er joll mir wieder vor die Seele malen 

Ihr ſüßes Bild! 


Sieh', weinend ſenkt ihr Haupt die zarte Roſe, 
Die heißer Liebe treue Freundin iſt, 
Daß jene heut an fremdem Herzen koſe 

Und mein vergißt! 


Meleagros nimmt es hier nicht fo leicht wie Heine, der 
jpöttifch:refignirt einen ähnlichen Gedanken formt: 


Sag’ nicht, daß du mich Tiebft! 
Und küſſe nur und jchmweige, 
Und lächle, wenn ich dir morgen 
Die welken Rojen zeige! 


Die tyriiche Schöne iſt heißblütig, und zürnt fie, jo fann 
ihr Anbeter leicht die Schärfe ihrer ſpitzen Nägel zu fühlen 
befommen; da thut das Kragen ihrer Nägel recht weh, ja 
Meleagros meint den Schmerz bis in fein Herz hinein zu fpüren. 
Er geht nachts in ihr Haus: es ift leer. Da fteigt ein Schlimmer 
Verdacht in ihm auf: fie ift ihm geraubt. Doch auf einmal 
vernimmt er ein Geräufch: es ift Heliodora, und halb erleichtert, 


halb noch vom Schmerz gedrüdt, ruft er aus: „Geh' wieder 
(572) 


25 


in meinen Bujen zurüd, o mein Herz!” Wer denkt da nicht 
an das „Schweig’ ftille, mein Herze!“ in Mörikes „Schön- 
Rohtraut“ ? 

Und troß alledem hängt fein Herz in treuer Liebe an ihr, 
und als der Tod fie ihm und feiner Liebe allzufrühe entreißt, 
da fingt er ihr ein Klagelied, wahr und tief, wie nur echte 
Liebe zu Flagen vermag: 


Es weiht mein Herz an deinem theuern Grabe 
Dir ftill der Thränen Sold, mein todtes Lieb, 
Der Liebe einz'ge, allerlegte Gabe, 

Die dir im Neid) der trüben Schatten blieb — 


Den bittern Sold! Aus meiner Sehnjuht Fluthen 
Gieß' weinend ich auf deinen Hügel Hin 

Die Grabesjpende und gedent’ der Guten, 

Die liebend mir jo reiches Glüd verliehn. 


Und klagen möcht! ich, nichts als immer Hagen 
Um dich, Geliebte, die im Tode bu 

Mir noch jo lieb! Doc all mein bittend Fragen 
Wedt nimmer did aus deiner Todesruh'. 


Weh mir! es jan, dem finftern Gott zum Raube, 
Das blüh'nde Reis, das zärtlich meine Hand 
Gehegt; es welkt gebrochen Hin im- Staube 

Die Blume, die jo herrlich offen ftand! — 


So fleh’ zu Dir ich, die du voll Erbarmen 
Uns alle nährjt, o Mutter Erdel Gieb 
Ihm freundlich ftile Ruh’ in deinen Armen, 
Und bett’ es janft, mein armes todtes Lieb! 


Und ob fie auch todt ift, fein Herz ruft nad) ihr und hört 
nicht auf, fie zu lieben: „Ich flehe dich an, o Eros — fo Hagt 
er —, bring’ zur Ruhe die quälende Sehnjucht nad) Heliodora, 
erhör’ mein bittendes Lied! Bei deinem Bogen, der nicht gelernt 
hat, einen andern zu treffen, der jeine geflügelten Pfeile 


immerdar auf mic) ausgießt: wenn du auch mich tödteft, jo joll 
(578) 


26 


die Auffchrift auf meinem Grabe jtatt meiner rufen: ‚Siehe, 
o Wanderer, bier ruht, den die Liebe getödtet!’” 

Dieje Liebe zu Heliodora und die Lieder, die diefem Boden 
entiprofjen find, fie find es, die Meleagros uns ſympathiſch 
machen; diefe Liebe ift in feinem Leben und Dichten wie 
eine jchöne weiße Blume, die unterm Schatten einer blühenden 
Baumfrone hinträumt, hie und da vom ſauſenden Winde jäh 
aus ihren Träumen emporgefchredt. Und rings um fie brennt 
aufs offene Feld Heiß des Südens Sonne nieder, und aus dem 
offenen Munde von Tauſenden von Blumen fteigen betäubende, 
orientalifche Wohlgerüche auf; aber in dem Laube des jchattigen 
Baumes über der Blume vaujcht es wehmüthig, gleich einem 
deutjchen Liede vom Lieben und Sterben. 

Es ijt eine reizvolle Aufgabe, diefer Epifode im Leben 
unſeres Dichter8 noch weiter nachzugehen. Soviel ift ficher, 
daß Meleagros die Heliodora erjt nad) der Zenophila geliebt 
und bejungen Hat. Nun fällt die Liebe zu Zenophila wahr: 
jcheinlich ungefähr in die Mitte von Meleagros' Aufenthalt in 
Tyros,’ aljo jeine Liebe zu Heliodora gegen den Schluß Hin. 
Bu diejer Auffaffung jcheinen der Charakter der Heliodoralieder 
und die weiteren Angaben, welche wir über das Leben und 
Schaffen unjere® Dichters Haben, recht gut zu pafjen. Wir 
Haben bereit3 darauf hingewiejen, wie jo oft in den Heliodora- 
liedern ein Ton der Wehmuth erklingt, wie der Dichter mannig: 
fache Urjache hat, über die Treue feiner Geliebten Verdacht zu 
haben; und doch liebt er fie heiß und treu. Die wahrſchein— 
lichjte Erklärung für diefe Thatjache ift die Annahme, dat dieje 
Lieder im Alter des Dichters gejchrieben find. Meleagros faßt 
im jpäteren Mannesalter eine heftige Leidenſchaft zu der jchönen 
Tyrierin; fie läßt fich feine Liebe gefallen; aber immer wieder 
jchweift fie umher, frifchere Blumen zu pflüden, an jüngeren 
Herzen zu erwarmen; und dem Dichter, der fie liebt, bleibt 

(674) 


27 


nicht3 als die wehmüthige Klage. Wie fie dann ftirbt, duldet 
e3 auch ihn nicht länger in Tyros; ungefähr in feinem jechzigften 
Jahre, aljo gegen das Fahr 60 vor Ehrifti Geburt, verläßt er 
die Stadt, wo er zuerft dem Leben in die lachenden Augen 
geihaut, und geht nach der Inſel Kos. 

Die Injel Kos, der jüdweitlihen Ede von Sleinafien 
gegenüberliegend, bildete in der Zeit des älteren Hellenismus 
einen wichtigen Mittelpunkt litterariſcher Thätigfeit. Hier in 
Kos lehrte und dichtete in der erjten Hälfte des dritten Jahr: 
hundert3 der Elegieendichter Philetas; hier hatte fich unter feiner 
Leitung ein Kreis junger, aufjtrebender Talente zuſammen— 
gefunden, die unter der Form einer Hirtengenofjenichaft zuſammen— 
lebten und dichteten. Es gehörten diejer Genofjenichaft Aratos 
an, der berühmte Verfafjer ver Bhainomena, des bereit genannten 
aſtronomiſchen Lehrgedichts, und der Idyllendichter Theofrit. Als 
Meleagros Kos aufjuchte, war der Glanz der berühmten Pflanzjtätte 
helleniſtiſcher Bildung zwar jchon bedeutend verblichen; immerhin 
aber Hatte ihr Name noch einen guten lang in den litterarischen 
Kreifen der Zeit, und jedenfall wehte über die jtille Injel der 
freie Hauch edler helleniſcher Bildung frijcher und leichter, als 
in dem jchwülen, geräujchvollen Tyros. Und Meleagros hatte 
vierzig Jahre lang dem raujchenden Wafjerfalle des Lebens 
gelaufcht; er Hatte Welle um Welle in überjtürzendem Jagen 
an feinen Augen vorüberhaften jeden — nun jehnte fich fein 
Herz nad) Stille und Ruhe, e3 drängte ihn, in den ſchweigenden, 
morgenflaren Waldtempel des Geijtes, der Wiljenjchaft ein: 
zutreten. Freilich auch in dieſe Waldeinſamkeit drangen die 
Lockrufe jchwellenden Lebens, an dejjen Buſen der Dichter jo 
oft jein trunfenes Haupt gebettet; auch durch die dichten Zweige 
dieſes geiftesftillen Waldes flogen des Eros Pfeile und trafen 
Iharf und jchneidend des Greifes Herz. So bezieht ſich auf 
den Aufenthalt in Kos ein Gedicht, das uns von einer Reiſe 


(575) 


28 





des Meleagros erzählt. Der Dichter befindet fich ſüdlich von der 
Inſel — vielleicht handelt es fih um einen Beſuch in feiner 
alten Heimath Tyros. Er jehnt fi) nad) Kos zurüd, nach der 
ichönen Phanion, die fein Herz gefangen hat. Da fieht er auf 
dem Meere Schiffe, die augenscheinlich nad Norden fahren jollen, 
aber unter einem jchlimmen Nordwind jchwer zu leiden haben. 
Da Heftet jeine Sehnſucht fih an ihre Segel, und wie im 
deutjchen Volksliede das verlafjene Mädchen der Schwalbe, Die 
an feinem Fenſter ihr Neſt gebaut Hat, Grüße au den fernen 
Geliebten aufträgt, oder wie im wejtöftlichen Divan Marianne 
von Willemer Elagt: 


Ad, um deine feudhten Schwingen, 
Weit, wie jehr ich dich beneide: 
Denn du kannſt ihm Kunde bringen, 
Was ich in der Trennung leide! — 


jo giebt der griechiihe Dichter feinen Gruß der Sehnjucht den 
Schiffen mit: 


Ihr kämpft durchs Meer euch, leichtbeſchwingte Schiffe, 
Nordwärts zum fernen Helledpont zu ziehn. 

Tod feindlic treibt, an eure Bruft ſich drängen, 
Der Nordwind euch nad; Süden Hin. 


Kommt ihr nad Kos und jchaut an dem Geftade 
Ihr meine Phanion, wie tief zum Grund 

Der blitzendklaren Fluth fie ſenkt die Blicke, 

So thut ihr meine Botſchaft kund! 


Sagt, ſchlanke Schiffe, ihr, wie mich die Sehnſucht 
Zu meiner Liebſten drängt in heißer Gluth, 

Daß ich zu Schiffe nicht auf ſchwankem Kiele — 
Bu Fuß möcht" wandern durch die Fluth! 


Und meldet ihr, was euch mein Wunſch geboten, 
Will ih von Zeus euh Glüd zur Fahrt erflehn, 
Und rajch wird euch, zum fernen Ziele tragend, 
Ein guter Wind die Segel blähn.® 


29 


Allein im allgemeinen ijt anzunehmen, daß Meleagros den 
Reit feines Lebens ruhig in Kos verbracht habe, jtill feinen 
Studien lebend. Das Werk feines Alters, durch das jein Name 
in der Geſchichte litterarijchen Forjchens einen dauernden Plab 
fih erworben hat, trägt wifjenjchaftlichen Charakter: Meleagros 
bat die erfte Anthologie von griechiſchen Epigrammen zu: 
fammengeftellt. Glüclicherweije hat uns Konftantinos Kephalas 
in der palatinischen Anthologie das Gedicht erhalten, mit dem 
der Dichter feine Sammlung eingeleitet hatte, jo daß wir über 
den Charakter diejer erjten Anthologie im allgemeinen uns eine 
deutliche Vorjtellung machen können. Meleagros gab ihr den 
Namen Stephanos, „Kranz“, mit Benutzung jenes alten 
Bildes, Lieder als Blumen darzuftellen, jenes Bildes, das ja 
auch der Bezeichnung „Anthologia”, „Blumenleje“ zu Grunde 
liegt. Ein derartiges Werk, beruhend auf einer umfafjenden 
Kenntniß der griechischen Lyrik von dem ältejten Zeiten bis in 
die Gegenwart des Sammlers hinein, ift recht charakteriftiich 
für einen Dichter der helleniftiichen Zeit, deſſen Gedichte ja jo 
laut Zeugniß ablegen von einem jorgfältigen, minutiöfen Studium 
feiner Vorgänger, deſſen Gedanken und Kunftformen ja jo oft 
nur Weiterbildung und jchärfere Ausgeitaltung der Gedanken 
und Formen der früheren Dichter find. Meleagros’ Kranz 
enthielt Gedichte von ungefähr fünfzig Dichtern; da finden wir 
Namen wie Alkaios, Simonides, Sappho, Anakreon, Archilochos, 
Kallimachos; daneben eine große Anzahl weniger bekannter 
Dichter. Auch eigene Epigramme, jowie Lieder jeiner Zeit 
genofjen hat Meleagros in die Sammlung eingereiht. Im dem 
Einleitungsgedichte hat er uns in echt alerandrinifcher Art die 
Namen der Dichter, die er in den Kranz aufgenommen hat, 
aufgezählt, und in der Negel die Eigenart eines jeden Dichters 
durh ein paar kurze Bemerkungen, immer im Rahmen des 
einmal gewählten Bildes bleibend, hübſch gezeichnet. So vergleicht 


(577) 


30 


er die Lieder des Simonides den jungen Ranken einer Wein: 
rebe; von Sappho hat er nur wenig Lieder aufgenommen, „aber 
e3 find Roſen“, wie er hübſch jagt. Die Kunft des Kallimachos 
nennt er „eine liebliche Myrthe, überfließend von bitterem 
Honig” — man wird dieje Charakteriftif treffend nennen, wenn 
man Kallimachos kennt —, die Blumen Anakreons find voll 
jüßen Nektar. Der Dichter ift unermüdlich im Aufjuchen von 
verjchiedenartigen Blumenarten zur Charafteriftit der einzelnen 
Dichter; gewiß ift dieſes litterarifche Einleitungsgedicht geiftreich 
und in einzelnen Zügen jchön, aber das Ganze ift allzu aleran- 
drinisch gelehrt, al3 daß es einen wohlthuenden Eindrud er- 
zeugen würde; Die vielen Namen jtoßen hier ebenfjo ab, wie 
die lange Neihe der Argofahrer, welche Apollonios von Rhodos, 
der Epifer der alerandriniichen Zeit, am Anfange feines Argo— 
nautenepo8 aufzählt. — Ber Stephanos war des Dichters 
jungem Freunde Diokles gewidmet. 

Bon dem weiteren Leben des Meleagros wiſſen wir nicht 
mehr viel; er berichtet ung felber, daß er ein hohes Alter erreicht 
babe: auf Kos ftarb er ungefähr im Jahre 50. Die Auffchrift, 
die er für fein Grab gedichtet, ift uns in der palatinischen 
Anthologie erhalten. 

Wir geben nun noch kurz ein zufammenfafjendes Bild von 
der jchriftftellerifchen Thätigfeit de8 Melengros und feinem Cha- 
rafter als Dichter. 

Unferes Dichters Kunft bewegt fi) in engem Streife. Was 
er geichaffen, find, um einen Ausdrud Catulls zu gebrauchen, 
nugae, poetijche Kleinigkeiten auf epiſchem und Iyrijchem Gebiete. 
Als junger Mann fteigt er zuerſt in die Dichterarena Hinab 
mit feinen menippeifchen Satiren, poetijchen Erzählungen, 
Poſſen, Genrebildern aus dem täglichen Leben mit moralisch 
jatiricher Tendenz; — man hat diefe Produfte nicht unpafjend 


mit den Reden Abrahams a Santa Clara verglihen —, 
678) 


31 


nad; dem Mufter feines großen Landsmannes und fynifchen 
Snnungsgenofjen, des Menippos von Gadara. Die wenigen 
Tragmente und Titel, welche ung erhalten find, erinnern vielfach 
an die Schriften Lukians, des jpäteren Landsmannes unjeres 
Dichters. Eine Satire trug den Titel „Gaſtmahl“; in einer 
andern, den „Chariten”, hatte Meleagros den Homer zum Syrer 
gemacht; und weil die Syrer feine Fiſche aßen, jo hätten bei Homer 
auch die griechiichen Helden fich der Fiichnahrung enthalten troß 
des UWeberfluffes an Fiſchen, der im Hellespont herrichte. Eine 
dritte Satire trug — nach der Uleberjegung von Wilamowiß 
— die Ueberichrift: „Streit des Linjenpurees mit den diden 
Linjen”, eine Behandlung eines echt kyniſchen Stoffes; denn für 
den Kynifer, der für fulinariiche Genüfje nicht viel übrig Hatte, 
bildeten die Linfen die Hauptnahrung. Ob in die gleiche Zeit 
einer jtreng fynifchen Richtung eine Schrift „Ueber philoſophiſche 
Lehrmeinungen“ in mindeftens zwei Büchern gehört, ift zweifel- 
haft; wir wifjen nicht einmal ficher, ob der Verfaſſer diejes 
Buches mit dem Dichter Meleagros identisch ilt. 

Ueber die erite Sammlung von erotijchen Epigrammen 
unter dem Titel „Paidika“, welche Meleagros in Tyros heraus. 
gegeben zu haben jcheint, ift Hier nicht der Ort, ausführlich zu 
reden. Meleagros hat, wenn wir jeine diesbezügliche Bemerkung 
ernst nehmen wollen, dieje Lieder jelber in reiferem Alter als 
jugendliche Berirrungen angejehen. Ebenfalls in Tyros hat unjer 
Dichter wohl noch eine zweite Sammlung von Liebesepigrammen 
herausgegeben. Von dem Inhalt diefer Sammlung haben wir 
bei Anlaß der Schilderung von Meleagros’ Erlebnifjen in ber 
phönikiſchen Hafenftadt bereit3 ausführlich geiprochen, und ebenjo 
haben wir das Nöthige über jein letztes Werk, die erjte Antho- 
logie, jchon mitgetheilt. 

Bei der äjthetifch-kritiichen Beurtheilung von Meleagros’ 


Kunft müfjen wir ung gegenwärtig halten, daß unfer Dichter 
(579) 


32 


ein jpätes Glied einer langen Kette poetifcher Entwidelung ift. 
Seine Lieder bergen feinen reichen Scha neuer, origineller Ge- 
danken; es ilt die Wärme des lebhaft und tief nachempfindenden 
Herzens, welche dieje Blumen getrieben, die Wärme der Be 
geijterung, welche fi im glühenden Strahlenlichte der Herrlich» 
feit der griechifchen Litteratur leicht entzündet hat. Freilich 
muß der Boden, auf dem diefe Blumen wachjen jollen, fruchtbar 
und voll Lebengjäfte ſein. Diejen fruchtbaren Boden Tieferte 
dem Dichter der Charakter des Volkes, dem er angehörte, die 
feichtbewegliche, heiß empfindende ſyriſche Natur, die mit der 
jüdifchen jo viel Gemeinjames hat. Die Römer verachteten die 
Syrer als ein ſklaviſches Volk, und Erneft Rénan ſchildert 
mit Bezug darauf den ſyriſchen Volkscharakter aljo: „Dieje 
Eigenschaft ficherte ihnen die Zukunft; denn die Zukunft gehörte 
damals den Sklaven.“ Dann fährt er fort: „Ein ebenjo wejent: 
licher Zug in dem Charakter de Syrers war jeine Leichtigkeit, 
jeine Gewandtheit, die oberflächliche Klarheit feines Geiftes. 
Die ſyriſche Natur ift wie ein flüchtiges Wolkenbild am Himmel. 
Man fieht für einen Augenblid gewiffe anmuthige Umrifje ſich 
bilden; aber dieje Umrifje werden nie jo klar, daß fie ein ab: 
gerundetes Bild geben.” Von dieſer Eigenart des ſyriſchen 
Charakters treffen wir Spuren genug in den Epigrammen 
des Meleagros; namentlich die Beweglichkeit, die Kunſt, ſich 
anzujchmiegen und Hug zu beobachten, ijt ihm in hohem 
Maße eigen. Er veriteht es trefflih, am Stabe eines feinen 
Geſchmackes durch die Felder der Poeſie jchweifend, in den 
Fruchtgärten feiner Vorgänger zu plündern. Wir finden gedanf: 
liche Entlehnungen oder formelle Anklänge an Sappho, Ardi: 
lochos, Anafreon, Simonides, an Theognis, Sophofles, Euri- 
pides u. a.; und unter den früheren alerandrinifchen Dichtern giebt 
e3 feinen bedeutenderen, von dem wir nicht Spuren bei Meleagros 
finden würden. Beiſpiele derart laſſen fich in Menge finden. 


(580) 


33 





Uber Meleagros verwendet die Gedanken und Bilder jeiner Vor— 
gänger nicht ohne Kritif und Geſchmack für jeine Zwede Er 
weiß fie umzugießen, zuzujpigen, in pifantere Formen zu Heiden. 
Wir führen Hiefür folgende Beijpiele an: 

In einem feiner Epigramme erzählt Kallimachos von einem 
Mädchen, Jonis mit Namen, dem Kallignotoß ewige Liebe ge: 
Ihworen. Doch fie mußte es erfahren, wie wahr es iſt, daß die 
Schwüre der Liebe nicht zu den Ohren der Himmliſchen dringen. 
Meleagros weis den Stoff noch anſchaulicher zu gejtalten: er 
legt das Epigramm dem verlajjenen Mädchen jelber in den 
Mund und läßt es der Nacht und der Tadel, den Zeugen 
früherer Liebesfreuden, fein Leid Elagen. 

Anafreon fingt: „Mit purpurnem Balle wirft.Eros nad 
mir, der goldgelodte; mit dem Mädchen in bunten Schuhen 
heißt er mich Ball jpielen.” Der alerandriniiche Dichter greift 
den Gedanten vom Ballipiel des Eros auf, bildet ihn gejchict 
weiter und erfindet folgendes Liedchen an Heliodora: 


In meinem Bujen wohnt und fpielet Ball 
Der Gott der Liebe. Sieh! in heiterm Scherz 
Wirft er dir, Liebite, zu mein klopfend Herz! 


So nimm die Sehnjuht zur Gefährtin dir 
Am Spiel! Doch wirfft du weg mich, finnberhört, 
Trag’ id die Schmad nicht, die das Spiel zerjtört. 


Meleagros ift Syrer, und die Art, wie er das Bild hier 
gewendet hat, mahnt durchaus an die finnfiche Bilderpracht 
orientaliſcher Poeſie. Goethe braucht im weftöjtlichen Divan 
in den Suleifaliedern das nämliche Bild in überrajchend ähn- 
liher Ausführung: 


Freude des Dajeins ift groß, 
Größer die Freud’ am Dajein. 
Wenn du, Suleifa, 
Mich überſchwenglich beglüdit, 
Sammlung. R. F. XIII. 304. 3 (581) 


34 


Deine Leidenſchaft mir zumirft, 
Als wär's ein Ball, 

Daß ich ihn fange, 

Dir zurüchverfe 

Mein gewidmetes Ach: 

Das ijt ein Augenblid! 

So treffen wir bei Meleagros manches ſchöne Bild, manchen 
anjprechenden Gedanken, ohne daß wir in jedem Falle zu jagen 
vermöchten, ob er aus fremder Quelle gejchöpft habe, oder ob das 
Bild aus dem Schacht feiner eigenen Seele emporgeftiegen jei. 
Denn es ijt zweifellos: auf dem Wege der Nachempfindung 
des Schönen iſt Meleagros zum Dichter geworden, jo gut wie 
Emanuel Geibel, wenn wir auch weit entfernt find, ihn an 
Bedeutung und dichterijcher Kraft dem deutſchen Dichter gleich- 
jtelen zu wollen. Wir finden bei Meleagros oft recht origi- 
nelle Gedanken und Bilder: jo vergleicht der immer verliebte 
Dichter feine Augen mit Jagdhunden, welche dem Gegenitand 
der Liebe überall auflauern und ihn aufjpüren wollen. Uber 
die Originalität geht oft in Gefuchtheit und Geſchmackloſigkeit 
über. Den verführeriichen Zauber der Aphrodite vergleicht er 
mit dem „Bogelleim, in dem die Seele, wie ein ahnungsloſer 
Bogel Hinfliegend, elend hängen bleibt”. „Die Augen werden 
gebraten in der Schönheit und werden verjengt über flammendem 
Feuer; denn Amor ijt ein gar eifriger Koch des Herzens.” 
Jedenfalls fallen viele von diefen gefuchten Bildern auf Rechnung 
des Drientalen; nicht minder gejucht ift für unfer Gefühl, wenn 
Goethe im wejtöftlihen Divan in den Liedern an Suleika ausruft: 

Lab mich nicht jo der Nacht, dem Schmerze, 
Du allerliebjtes, du mein Mondgeficht! 
D du mein Phosphor, meine Kerze, 
Du meine Sonne, du mein Licht! 
Natürlih iſt Phosphor Hier in der urfprünglichen Be: 


deutung „Lichtbringer” aufzufaffen; aber dem modernen Lefer, 
(582) 


35 


für den Phosphor gewöhnlich ins Gebiet der Chemie gehört, 
flingt das Bild darum nicht weniger befremdlich. 

Aber Meleagros gehört nicht nur zu den Endgliedern der 
Entwidelungsfette der griehifchen Poeſie in der klaſſiſchen und 
alerandrinifchen Zeit; feine Kunft ift jelber wieder Vorbild für 
eine Reihe jpäterer Dichter geworden. Außer den nachchriſt— 
lihen griechifchen Dichtern, von denen ung zahlreiche Lieder in 
der Anthologie des Konjtantinos Kephalas erhalten find, find 
e3 namentlih die römischen Dichter der Kaijerzeit, auf die 
Meleagros einen großen Einfluß ausgeübt Hat, wenn wir aud) 
freilich nicht im jedem einzelnen Falle jagen fünnen, daß nur 
Meleagros Vorbild gewejen ſei; denn gar manche Wendung, 
manches Bild und mancher Gedanke, den wir bei unjerem 
Dichter treffen, findet ſich auch bei andern alerandriniichen 
Dichtern; in Zeiten allgemeinen, eifrigen poetiichen Schaffens 
bildet die Sprache einen reichen Apparat poetijcher Nequifiten- 
ſtücke aus. 

Einen Anklang an Meleagros finden wir 3.8. bei Horaz. 
Meleagros ruft, auf einen Gedanken des platonijchen Sympofion 
und auf ein Epigramm des Kallimachos zurücgehend, aus: 
„Der Südwind, den Sciffern nad) Wunſch die Segel blähend, 
hat mir die Hälfte meiner Seele, meinen Andragathos, geraubt!” 
und Horaz bittet das Schiff, das feinen Freund Vergil nad) 
Attika tragen fol: „Erhalte mir die Hälfte meiner Seele!” 
Den gleichen Gedanken treffen wir auch bei Ovid, wenn er in 
jeinen Trauerelegieen, jeinen Triftien, Hagt: „Zwanzig Jahre alt 
war mein Bruder geworden, ald er jtarb und ich die Hälfte 
meines Seins mijjen mußte.” Und namentlich Ovid, der mit 
Meleagros geiftesverwandte Roué der römischen Kaijerzeit, hat 
manchen Gedanken und manches Bild den Gedichten jeines 
alerandriniichen Vorgängers entlehnt, man hat dieje geijtige 
Verwandtſchaft zwijchen beiden jchon jo ausgedrüdt, daß man 

3* 6ss) 


36 


Meleagros den „griechischen Ovid“ nannte, und Sainte-Beuve, 
von dem wir einen Efjay über unfern Dichter haben, bemerkt: 
„Sicherlich verjteht man Dvid bejjer, wenn man Meleagros 
gelefen Hat.” Freilich hat Dvid aucd) dem Landsmann unfjeres 
Dichters, Philodemos, ſehr viel zu verdanken. Die Abhängig- 
feit Ovids von Meleagros finden wir, um von den zahlreichen 
Beilpielen nur noch eines anzuführen, auch in folgendem Falle. 
Der gadarenische Dichter jagt: „Am Boden lieg’ ih; nun ſetz' 
deinen Fuß auf meinen Naden, graufamer Eros!” und der 
römische Nahahmer: „Du bift gefeſſelt, und grauſam knechtet 
Amor deinen Naden unter feinen Fuß.“ Aber auch die Elegien 
eines Broperz, eines Tibull Elingen gar häufig an Meleagros 
an. Sch verzichte darauf, für dieje Behauptung Beiſpiele au: 
zuführen, und verfuche e8 nur nod, an einer Metapher die 
Stellung des Meleagros in der Entwidelnng poetiicher Sprade 
von dem Anfang der griechiichen Litteratur an bis auf unfere 
Tage furz zu charafterifiren. 

Bekannt ijt die Vergleichung des Laubes der Bäume und 
Sträucher mit dem Haare der Menjchen und Thiere. Schon 
die Odyſſee kennt das Bild, im fiebenten Jahrhundert vor Chriſti 
Geburt treffen wir e8 im homeriſchen Demeterhymnus; Die 
Dichter der Elaffischen Zeit fennen es; in der alerandrinischen 
Beit ift e8 jehr beliebt; jo finden wir es bei Apollonios von 
Rhodos in Bezug auf das Laub der Bappel. Meleagros 
führt das Bild weiter aus und fingt: „Ueber den Weg Hin 
jah ich zur Mittagszeit den Alexis jchreiten, al3 ebeu das Haar 
der Wehren der Sommer jchor.” Bon den Griechen haben e3 
die Römer übernommen. Horaz jpricht mehrmals vom Haare 
der Bäume. Und jeither iſt die Metapher der poetiichen Sprache 
jehr geläufig, wie die folgenden, zufällig aufgegriffenen Bei: 
jpiele zeigen. 


Dante jagt im Baradifo: 
(584) 


37 


E dal settimo grado in giü, si come 
Insino ad esso, succedono Ebree 
Dirimendo del fior tutte le chiome. 


Sehr hübſch hat Giacomo Zanella das Bild ausgeführt: 


Giovani ancor del bosco 

Nato con me verdeggian le chiome, 

Ma piü non riconosco 

Di me cangiata larva altro che il nome. 


Freiligrath jpridt vom „itraffen, grünlich-jchwarzen 
Haar der Tanne“, und Anajtajius Grün von deu „gelöften 
Haaren der Weide”, Uhland von „Daphnes falben Haaren“. 
Bei Maurice von Stern „Strählt des Mondes Schein das 
Wollgras”, und Ricarda Huch benutzt das Bild zu der 
ihönen Strophe: 


Einmal, vor mandem Jahre, 

War ich ein Baum am Bergesrand, 
Und meine Birfenhaare 

Kämmte der Mond mit weißer Hand. 


Wir fommen zum Schlufjfe. Nad) alle dem, was ich bereits 
ausgeführt, ift es klar, daß der Ideenkreis, den wir in Meleagros’ 
Dichtungen finden, fein jehr großer ijt. Außer den Xiebes- 
liedern find uns, wie bereit3 erwähnt wurde, nur jehr wenig 
Gedichte anderen Charakters von Meleagros erhalten, eine That: 
jache, zu der jo manche litterarifche Exiſtenz unjerer Tage eine 
bedenkliche Parallele giebt. Wir befigen noch einige Epitymbien 
oder Grablieder. In einem epijchen Epigramm iſt uns der 
Tod der Kinder der Niobe erzählt. Das Gedicht iſt ein treff- 
liche8 Beijpiel für die formelle Meifterjchaft des Dichters. Er 
ermüdet uns nicht durdy eine langathmige Bejchreibung des 


ganzen Vorganges, jondern er verjteht es, äußerſt rege dra- 
(585) 


Ss 
ie 7 


matijches Leben in die Darftellung zu bringen, indem er Die 
Begebenheit in zwei Akte zerlegt: Ein Bote fommt und meldet 
der Niobe, die von ihren Töchtern umgeben ift, das graufige 
Leid, das fie betroffen: durch Apollons Pfeile find ihre Söhne 
dahingerafft worden. Und während der Bote noch ſpricht, geht 
auch der zweite Theil der Tragödie in Erfüllung: um Die 
Mutter ſinken, von den unfehlbar treffenden Pfeilen getötet, 
die Töchter nieder; die Mutter aber erjtarrt in ihrem berben Web: 


Hör’, Kind des Tantalos, hör’ meine Kunde, 

Die todesdunfle, hör’ fie, Niobe ! 

Und lauſch' dem Jammerlied au3 meinem Munde, 
° Das dir verkündet dein entjeglich Weh | 

Bon deinem Haupte löſ' die reihen Bänder! 

Bom Wind zerraufen laſſ' dein offnes Haar! 

Für Phoibos' Pfeil, den herben Gramesipender, 

Haft du geboren deiner Söhne Schar. 


Todt jind die Söhne, deine edeln, guten! — 
Doch weh! welch' neues Unheil jchaut mein Bid? 
Sieh'! Auf die Töchter brauft in vollen Fluthen 
Herein des Todes graufiges Geſchick! 

Im Mutterarm ſeh' ich die eine liegen; 

Bleich ruht die zweite auf der Mutter Knien; 

Die dritte will an ihre Bruft fich jchmiegen; 

Todt jtürzt die vierte auf die Erbe hin! 


Die dudt vor den Geſchoſſen ſich zujammen; 
Die Schaut mit ſchreckgelähmtem Angeficht 

Den Pfeil; erſterbend jchidt die legten Flammen 
Des Auges jene noch zum Sonnenlidt | 

Sie aber, deren Mund einft heit’res Plaudern 
Entquoll, die Mutter fteht in ftummer Bein. 
Durch ihre Slieder rinnt ein tödtlich Schaudern, 
Und jie erjtarrt, als würd’ ihr Fleiich zu Stein.” 


Endlich finden wir noch ein paar Lieder, in denen der 
Dichter mit tiefer Innigfeit das Leben der Natur zu jchildern 


weiß. Freilich auch Hier wandelt Meleagros auf der breiten 
(586) 


39 


Heerftraße alerandrinischer Dichtung. So iſt 3. B. das erotijche 
Birpen der Heujchrede und der Eifade, dag in der glühenden 
Mittagshige und in der fühlen Dämmerung Hell übers Feld 
flingt, zum Gemeinplag in der Naturfyrit der alerandrinischen 
Zeit geworden; bie Dichterin Anyte, Leonidas von Tarent, 
Muaſalkas u. a. haben in zierlichen Epigrammen ihren Gejang 
Bon Meleagros’ Liedern, die hierher gehören, mag 
noch folgendes mitgetheilt werden: 


Die du trinkit des Frühthaus Perlen 
O Cikade, in der Wieje 

Stillem Frieden fingft mit heller 
Stimme du dein kunſtlos Lied! 


Sitzeſt auf des Blattes Rande, 
Spieljt, als ſchlügeſt du die Leier, 
Auf dem glänzend braunen Leibe 
Mit dem jcharfgezadten Fuß. 


Eing’ des Waldes Nymphen, Freundin, 
Eine neue, heit’re Weije! 

Laſſ' erflingen um die Wette 

Mit dem Waldgott Pan dein Lied! 


Daß, vor Eros’ Pfeil geborgen, 
Ich in glüh'nder Mittagsftunde 
Hier im Schatten der ‘Platane 
Mir erhaſche jühen Schlaf! 


Wir bewundern hier die liebevolle Naturbeobachtung; indes, 
wieviel von dem Inhalt des Liedchens auf Rechnung wirklichen 
Sichverjenfens in das Leben der Natur, wieviel auf Rechnung 
fünftlicher Nachbildung eines jtereotypen Stoffes zu ſetzen ift, 
das wird faum jcharf entjchieden werden fünnen. Ebenſowenig 
iſt die jentimentale Stimmung, die leife über die Verſe hin: 
haucht, ein bejonderes Verdienſt unſeres Dichters; Sentimen: 
talität ift ein allgemeiner Grundzug der nervöſen helleniftiichen 


'587) 


40 


Beit; ihr fo oft allzu jüßlicher Duft wird ung, zu reichlich ein- 
geathmet, in den Werfen der Dichter ebenjo zumider, wie in 
den gleichzeitigen Darftellungen der bildenden Kunft die von 
Leidenschaft allzu Heftig erjchütterten Geftalten, die von wilden 
Schmerz allzu grell verzerrten Gefichter ung abjtoßen. 

Sehen wir von diefen wenigen Liedern ab, jo iſt es eben 
immer die Liebe, die unjerm Dichter den Griffel in die Hand 
giebt. Getreu dem Goetheſchen Spruche: 


Liebe jei vor allen Dingen 
Unjer Thema, wenu wir fingen! 


dichtet Meleagros: 


Immer Hingt des Eros Auf mir 
An dem Ohre, und es gleitet 
Aus dem Aug’ die ſüße Zähre, 
Welche ftille Sehnſucht weint. 


Nicht die Naht und nicht der helle 

Glanz des Tages ftillt mein Sehnen, 
Löſcht das heiße Wundmal, das die 

Liebe tief ind Herz mir grub. 


O daß nie, ihr Liebesgötter, 

Ihr auf jchnellen Schwingen mehr ind 
Herz mir flöget! Ach, ihr findet 
Nimmer ja den Weg zurüd! 


Freilih, wie tändelnd und fraftlos gefünftelt Klingt das 
Lied von Eros’ Allmadt, wenn die gewaltigen Töne, in denen 
Sappho die Urgewalt mächtiger Liebesleidenichaft ftammelnd 
verfündet, an unjer Herz braujen: 


Tiefdunffe Nacht 

Webt dichten Flor 

Mir ſchwarz vor die Augen! 
Es raujcht mein Ohr! 

Ein Zittern durchfluthet 


(588) 


41 


Den Leib mir! Es riejelt 
Aus allen Poren 
Der Schweiß mir hervor! 


Und wenn Sapphos Lied tieftragifch ausklingt: 


Und es ift mir im Herzen 
So müde, als hätte 

Die Hand des Todes 
Mich plöglich erfaßt! — 


wie klingt gegenüber diefem Schluß Meleagros’ witzige Pointe 
jo matt und fad! Es kann fein Zweifel fein: wir würden 
freudig den ganzen Kranz von Meleagros’ Blumen bingeben 
gegen eine einzige von Sapphos Nojen. Und doch wird den 
Liedern des bdefadenten Dichters gerade der Leſer am Ausgange 
de3 neunzehnten Jahrhunderts ein tiefe Intereſſe entgegen- 
bringen. Wir find gewohnt, in den Dichtungen unjerer Tage 
nicht mehr die tobenden Donnerjchläge gewaltiger Urkraft, titani« 
cher Leidenjchaft zu hören. Gerade daß in Kunft und Litteratur 
der Ruf nach roher Kraft, nach dem Einswerden mit der Natur, 
jo laut ertönt, zeigt, wie ſchwach wir geworden. Eines aber 
hat die Zeit überfeiner, müder Kultur vor der Höhezeit kräftiger 
und gejunder, aber auch naiverer Kunjtentwidelung voraus — 
wenn man das als ein Voraushaben bezeichnen will —: Die 
Nerven liegen offener zu Tage und reagiren auf den leijejten 
Eindrud der Außenwelt außerordentlich fein und Differenzirt, 
man könnte auch fagen, krankhaft und überjpannt. Das iſt 
eine jolche Periode in der Weltgejchichte, wo, wie Maurice 
Moaeterlind jagt, „die Seele emportaucht an die Oberfläche 
der Menjchheit“, wo „man zarter und tiefer das Kind, das 
Weib, die Thiere, die Pflanzen und die Dinge begreift”. Im 
hellenifticher Zeit hat die überfünftlerifche, von feinen, zu einem 
bedeutenden Theile erotischen Wohlgerüchen erfüllte Atmoſphäre 


(689) 


42 


die Sentimentalität gezeitigt, die der Richtung der urfprünglichen 
helleniſchen Weltauffafjung direkt zumiderlief, alfo von diejem 
Standpunkte aus durchaus eine krankhafte Erjcheinung ift. Eine 
der Wurzeln diejer krankhaften Sentimentalität ijt die Päderaſtie, 
welche in der alerandriniihen Dichtung eine jo große Rolle 
jpielt, und der aus der perverjen Serualempfindung rejultirende 
Selbjtverneinungstrieb. In unferer Zeit, welche die Sentimen- 
talität als altes Kulturingrediens fennt, jpridht man wohl — 
wir jehen auch Hier die hohe Bedeutung, welche das erotijche 
Moment in der Dichtung der Decadence einnimmt — von dem 
„troisieme sexe geſchlechtlicher Indifferenz“. 

Auch das Alterthum Hat in der alerandriniihen Periode 
feine „Serres chaudes“ ; ihr Duft weht heiß und füß in jo 
manchem Ziede des Meleagros von Gadara, das wir angeführt, 
erjtidend und krankhaft abſtoßend in jo manchem, das wir ver: 
ſchwiegen. Die helleuiſtiſche Periode leitete den Verfall der 
griechiichen Kultur ein — und unfere Zeit? 


Anmerkungen. 


ı Außer Zola’s bekannten „Rougon-Macquart“ mag aus der Fülle 
hierher gehöriger Werke noch Björnjon’s „Haus Kurt“, jowie Huys- 
mans’ „A rebours“ in einzelnen Bartieen als Beilpiel eines Kunſtwerks 
auf hiſtoriſch (im weiteften Sinne) naturwifjenihaftliher Grundlage an- 
geführt werden. 

? In der modernen franzöfiichen Litteratur haben wir als Parallele 
zu diejen Epigrammen vielfah das Sonett. So zeigen z. B. die eleganten 
Dichtungen in Ddiefer Form, wie fie der Barnajfion ZJoje-Maria de 
Heredia verfertigt — ein franzöfiiher Platen, was kalte Formen- 
gewandtheit anbetrifft — eine auffallende VBerwandtihaft mit den glatten 


alegandriniichen Epigrammen. 
(590, 


453 


Unſere Uebertragung ſtammt aus: E. Ermatinger, und R. Hun- 
ziker, Antike Lyrik in modernem Gewande (Frauenfeld 1898), ©. 15. 

* Bergl. Ermatinger und Hunzifer, a. a. D. ©. 12. 

® Ermatinger und Hunziker, a. a. O. ©. 13. 

° Diefe Thatjache läßt fich zur Evidenz durch eine äfthetifch-kritijche; 
Bergleihung von 1) A. P. V 144 (Stadtm. 143) mit V 143 (142) 
2) A. P. V 151 (150) mit V 163 (162) erweijen. Die jeweils zuerjt ge- 
nannten Epigramme beziehen ſich auf Zenophila, die zufegt genannten auf, 
Heliodora. In je einem Paare ift der gleiche Stoff bearbeitet; die Ent 
widelung des Gedankens, die jchärfere Zufpigung und ftraffere Faſſung, 
bie wir in den beiden Heliodora-Epigrammen yegenüber denjenigen an Be- 
nophila treffen, zeigt, daß dieſe Borjtudien zu jenen find, mithin auch die 
Liebe zu Zenophila zeitlich vor die zu Heliodora fällt. 

’ Sn der erften Zeit des Aufenthalts in Tyros pflegt Meleagros die 
Päderaſtie, vergl. A. P. XII 34, deren Frucht die „Paidika“ bildeten. 

® Dieje von der bisherigen Auffafjung des Gedichts (A. P. XII 53) 
abweichende Erklärung und MUebertragung desjelben ſtützt fih auf die 
Uenderung xuaxor ftatt zaior, die der Pointe wegen, wie fie Meleagros 
jo fein Handhabt, nothwendig ift. 

° Ermatinger und Hunzifer,a.a.D. ©. 14. 


(591) 


Aus einem Eagebude 
des ſechehnten Jahrhunderts. 


Von 


Dr. Chriſtian Meyer, 
Staatsarchivar. 


Hamburg. 
Verlagsanſtalt und Druckerei A.G. (vormals J. F. Richter), 
Königlihe Hofverlagsbuchhandlung. 
1898. 


Das Recht der Ueberjegung in fremde Sprachen wird vorbehalten 


Druck der Berlagsanftalt und Druderei A.G. (vorm. I. F. Richter) in Hamburg. 
Königliche Hofbuchbruderei. 


Kart V. Hatte fein Meiſterſtück der Staatskunſt vollbracht. 
Der jchmalkaldiiche Bund war zerjprengt. Kurfürft Johann 
Friedrich von Sachſen, da8 Haupt des Bundes, mußte am 
Abend des 24. April 1547 vor feinem „allergnädigiten Kaifer 
und Herrn“, den er noch eben ald „Karl, der fich den fünften 
römischen Kaiſer nennt”, zu tituliren pflegte, da8 „Knie beugen“, 
die ſpaniſche Reverenz machen, wie das in der damaligen 
ſpaniſchen Hofjprache genannt wurde. Landgraf Philipp von 
Helfen that wenige Wochen darauf, am Abend des 19. Juni, 
„auf dem großen Saale in des Kaiſers Loſament zu Halle, im 
Beiſeyn vieler Herren, Kurfürften, Fürſten, fremder Botentaten, 
Botichafter, Grafen, Oberjten, Befehlshaber und einer großen 
Unzahl anderer Zeute, joviel als ind Gemach gehen und von 
außen durch die Fenſter darein jehen konnten“, gleichfall® den 
Fußfall und Ieiftete demüthige Abbitte, erwirkte aber nichts 
weiter, als daß er fich feiner ewigen Gefangenjchaft zu ver: 
jehen habe. Die anderen Fürſten, Herren und Städte des 
Bundes waren den Häuptern entweder jchon zuvorgefommen in 
rajcher und ſchmachvoller Unterwerfung oder ihnen jchleunigjt 
gefolgt. Durch unermeßliche Kontributionen, Lieferungen an 
Geſchütz und Kriegsmaterial aller Art hatten fie die Gnade des 
Kaiſers und Aufhebung der über fie verhängten Acht erfauft; 
die demüthigen Formen der Ausjöhnung, die Keinem erlajjen 


wurden, mochten im Augenblid gegen dieje materiellen Opfer 
Sammlung. R. F. XIII. 305. 1° (596) 


4 


gar nicht in Anjchlag gebracht werden. Mit Recht wurde ihnen 
Ihon damals gejagt: hätten fie nur den vierten Theil deſſen, 
was fie dem offenfundigen Feinde ihres Glauben? und ihrer 
Freiheit zahlen mußten, daran gejeßt, beide zu vertheidigen, jo 
würden fie den Krieg jahrelang haben führen fünnen, was 
ebenfoviel hieß, als ihm fiegreich führen. Dergleichen ift in 
ähnlichen Situationen jtet® mit dem gleichen Rechte gejagt 
worden, hat aber niemals verhindert, daß dasfelbe fich ſtets 
wiederholt hat. 

Karl V. war ein zu gewiegter Bolitifer, um feinen Sieg 
zu überjchägen. Er wußte wohl, daß er nur jo weit Gehorjam 
fand, als die Gegenwart feiner Soldatesfa denjelben erzwang. 
Alles hing daher davon ab, ob er die genügende Truppenmacht 
jo weit zerjtreuter Gebiete, vom Fuße der Alpen bis zu den 
Küften der Nordfee, zufammenzuhalten vermochte. Das war 
aber zumeijt eine finanzielle Frage. Denn der Soldat jener 
Beit, der echte, richtige Söldner, machte jeine Dienjte ganz 
allein vom Beutel abhängig. Wurde er gut und vor allem 
pünktlich bezahlt, jo war das Größte mit ihm möglich. Stodte 
Dagegen der Sold, jo erfolgte jofort Löſung der Disziplin, 
offene Widerjeglichkeit und eine volljtändige Zerjplitterung der 
Heere. Nun Hatte diejer „deutſche Krieg” dem Kaiſer mindeſtens 
drei Millionen Goldgulden gefojtet, aber alle Strafgelder und 
Kontributionen, alle päpftlichen Hülfsgelder und die der fatho- 
liſchen Reichsſtände hatten nicht mehr als anderthalb Millionen 
gebracht. Es war eine bedenkliche Ebbe im kaiſerlichen Schage, 
und die Fugger und Welfer, die wohl hätten helfen können, 
waren nicht mehr jo unbedingt zum Sreditgeben geneigt, wie 
etiva zehn oder zwanzig Jahre früher. 

Sp war es jegt die Hauptaufgabe der flugen Männer im 
Rathe des Kaijers, neue Geldquellen aufzujpüren, — ein Ge. 
Ichäft, dem fie fi) mit um jo größerem Eifer widmeten, ala es 

(596) 


5 
Jedermann, den Kaiſer jelbit nicht ausgenommen, wohl befannt 
war, daß ein nicht unbeträchtlicher Theil davon nebenab in 
ihre Taſchen floß. Freilich waren die eigentlichen Goldbäche, 
die in den reichen Städten oder in den Schaglammern der 
größeren fürftlichen Rebellen entiprangen, jchon abgeleitet, und 
was noch übrig blieb, konnte auch bei den umjichtigjten Bohr: 
verjuchen nicht mehr jo ergiebig ausfallen. Aber die Menge 
mußte auch hier erjegen, was die Fülle zu wünjchen übrig ließ. 

Es fam alſo darauf an, möglichft viele „Schuldige* von 
dem vergangenen Kriege her zu erjpähen, nicht um fie zu be: 
ſtraſen, jondern nur um fie bezahlen zu lafjen, jo viel als jich 
nur immer aus ihnen herausprejjen ließ. Unter dieſe eigen- 
thümliche Kategorie von Schuldigen wurden. auch die Grafen 
von Walde gezogen, um welche man fich ſonſt am Faijerlichen 
Hofe und in der kaiferlichen Politik wenig zu befümmern pflegte. 

Das alte gräfliche Haus Walde gehörte zu denen, auf 
die das volksmäßige Wort des Freidank: 


„Breite Eigen werden jchmal, 
Wenn man fie theilet nad) der Zahl“ 


in vollftem Sinne feine Anwendung gefunden hat. Fortwäh— 
rende Theilung eines nicht übermäßig großen Belites ließen 
eine Zinie nach der andern aufjchießen, trugen aber nicht dazu 
bei, das Gejamtgut des Haufe zu vermehren oder jeine poli- 
tiiche Stellung zu verbeflern. So war es gelommen, daß die 
früher reichunmittelbaren Grafen im 15. Jahrhundert ſich unter 
die Lehnsherrlichkeit eines mächtigeren Nachbars, des heſſiſchen 
Landgrafen, begeben mußten, ohne damit ihre Neichsjtandrechte 
aufzugeben. Es war dies eines der unzähligen unklaren, ſtaats— 
rechtlichen Berhältnifje, mit denen der Organismus des Reiches 
in den legten Zeiten des Mittelalters ſich bejchwert hatte. So 
fange alles im ebenen Geleife fortging, mochte man ſich leidlich 


597) 


6 


dabei behelfen, aber jede Kriſis mußte Gelegenheit zu den 
fatalften VBerwirrungen für alle Beteiligten geben. 

Bur Zeit des jchmalfaldiichen Krieges gab es nicht weniger 
als vier regierende Herren im Heinen Waldeder Lande: Philipp IV. 
von der Wildungschen Linie und die drei Brüder Wolrad II., 
Philipp V. und Johann von der Eifenbergifchen Linie. Alle 
diefe Hatten ihrem Lehnsherrn, dem heſſiſchen Zandgrafen Philipp, 
als er fie zur Lehnsfolge im Jahre 1546 aufbot, Gehorjam 
geleiftet, wie e8 getreuen Vaſallen geziemt und jie es bei Strafe 
der Verwirkung ihrer Lehen jchuldig waren. Doc waren fie 
nicht in den Fall gekommen, für ihren nächjten Lehnsherrn das 
Schwert gegen ihren oberiten Lehnsherrn, den Kaijer, zu ziehen. 
Ehe noch das faiferliche Heer den Landgrafen an jeinem eigenen 
Herde aufiuchen konnte, entfchloß er fich zur Unterwerfung, und 
die aufgebotenen Vaſallen wurden entlafjen. Ein Faijerlicher 
Kommifjar verkündete allen Denen, welche für den Landgrafen 
und gegen den Kaifer die Waffen getragen, vollftändige Amneſtie 
unter der Bedingung, daß fie ſich fortan ruhig hielten. Die 
waldediichen Grafen wirkten, wie die meiften der mit ihnen in 
gleicher Lage befindlichen Herren und Ritter, zur größeren 
Sicherheit noch eine fürmliche Urkunde darüber von eben dieſem 
faijerlihen Kommiſſar aus, vor dem fie fich perjönlich gejtellt 
hatten, und durften fid) nunmehr der Hoffnung Hingeben, un- 
beläjtigt zu bleiben. 

Da erfolgte wie ein Blitz uus heiterer Luft am 12. März 
1548 eine BZitation an die drei Brüder Wolrad, Philipp und 
Sohann, fich zur perfönlichen Verantwortung vor dem Kaifer, 
der damals zu Augsburg refidirte, am 16. April zu jtellen. 
Dem kaiſerlichen Mandate mußte unter damaligen Umftänden 
gehorcht werden, wo fpanifche, italienische und deutfche Truppen 
durch ganz Niederdeutjchland fantonirten und jede Widerjeßlich- 
feit durch das jchärfite jummarische Verfahren geahndet werden 


(598) 


7 


konnte. Es machten ſich daher die drei Brüder jchleunigft 
reifefertig. 

Schon am 5. April konnten die gräflichen Brüder mit 
einigen erprobten Räthen und weniger Dienerjchaft vom Schloſſe 
Waldeck ausreiten dem Süden zu. Mit diefem Datum beginnt 
das Tagebud), dem die folgenden Schilderungen entnommen 
worden. Es ift von dem Grafen Wolrad eigenhändig und 
meift in großer Ausführlichkeit gefchrieben, natürlich in lateini— 
ſcher Sprache, wie es ſich für einen jo gelehrten Herrn ziemt. 
Der „Gelehrte“ ift ein Beiname, der ihm damals jehr häufig 
und nicht bloß aus Schmeichelei beigelegt wurde. Das Tage- 
buch vergegenwärtigt ung ein Stüd deutjcher Gejchichte in der 
Unmittelbarleit des jelbfterlebten Begegnifjes, wie feine andere 
geichichtliche Aufzeichnung dieſer Zeit. 

In ſchweren Sorgen wurde die Reife angetreten. Nament: 
lih mußte Wolrad aus triftigen Gründen Schlimmes fürchten. 
Er Hatte fich bei verjchiedenen Gelegenheiten als eifriger Ber: 
fechter der neuen Lehre bemerklich gemacht. Zu dem lebten, 
ganz verunglüdten Wereinigungsverjuch der beiden Glaubens: 
befenntnifje, dem Religionsgeſpräche zu Regensburg im Winter 
1545— 1546, war er auf den Wunjch des großen Straßburger 
Theologen Bucer vonfeiten ſeines Lehnsheren, des Land- 
grafen Philipp, zwar nur als Zuhörer gejandt worden, aber 
jein Glaubengeifer Hatte ihn fortgerifjen, jo daß er einmal die 
hämiſchen Invektiven des kaiſerlichen Kaplans Petrus Malvenda 
allerdings nicht ſehr parlamentariſch unterbrach. Daß ihm 
Malvenda Rache geſchworen Hatte, wußte er, und gleichfalls, 
was jener bei dem Kaiſer galt. Außerdem befümmerten ihn 
allerlei an fich geringfügige Streithändel mit feinen Nachbarn, 
wie fie jeder deutjche Territorialherr damals dußendweife hatte. 
Aber das Gefährlichite dabei war, daß er Proteftant und feine 
Gegner Katholiken waren, darunter der neue Erzbifchof Adolf 


(599) 


8 


von Köln, den man als einen bejonderen Günftling des Kaijers 
betrachtete und zugleich auch al3 einen bejonders heftigen Feind 
der neuen Lehre und ihrer Anhänger. Man hatte den Grafen 
einftweilen wifjen laffen, daß er fich zu Augsburg nicht bloß 
wegen Hochverraths gegen den Kaiſer, jondern auch wegen 
Friedensbruchs gegen harmloje Nachbarn zu verantworten haben 
werde. Seine Brüder durften die Sache leichter nehmen. Sie 
fonnten in Augsburg auf einflußreiche Gönner hoffen, vor allem 
auf den Herzog Wilhelm von Eleve, der damals bei dem Kaijer 
und König Ferdinand viel galt, weil man ihn gut brauchen 
fonnte. Diejer clevejche Herzog war ihrer noch lebenden 
Mutter leiblicher Bruder, Wolrad aber, aus der erſten Ehe 
des Vaters, entbehrte diefe mächtige Verwandtſchaft. Beide 
jungen Grafen ftanden noch in den Jahren, wo man frifcher in 
die Welt binausfieht, der eine war 27, der andere 26 Jahre 
alt. Wolrad dagegen hatte beinahe jchon das vierzigfte Jahr 
erreicht. Die jüngeren Brüder waren noch unverheirathet, er 
aber jeit zwei Jahren mit einer innig geliebten jungen Frau, 
Gräfin Anaftafia von Schwarzburg, verbunden, die ihm jchon 
ein Zöchterchen geboren hatte. Daß er Weib und Kind in 
diefen Zeiten ſchutzlos zurücklaſſen mußte, war nicht der ge 
ringfte Theil jeine® Kummers, denn wer bürgte dafür, daß er 
nicht als Geächteter feiner Heimath für immer den Rüden 
fehren mußte? 

Je näher man Augsburg kam, defto deutlicher zeigten fich 
die Merkmale der traurigen Zuftände, unter denen die Gefin- 
nungsgenofjen der Grafen damals jeufzten. Schon in Nürn— 
berg war alles voll Angſt und Verwirrung über die weiteren 
Pläne des Kaiſers in Bezug auf Weligion und bürgerliche 
Sreiheit. In der Reichshauptſtadt Weißenburg begegneten die 
Augen der zum Thore Einreitenden zuerft den faijerlichen 


Fahnen, als Zeichen, wer jegt hier der wahre Herr ſei. Bei 
(600) 


9 





Donauwörth übernachtete man in demſelben Zimmer der Her— 
berge zum goldenen Löwen, wo kurz vorher der Landgraf von 
Heſſen neunzehn Wochen lang als Gefangener gehalten und von 
ſeiner ſpaniſchen Wache nicht wenig gequält worden war, — 
eine Erinnerung, die nicht eben ermunternd wirkte. Vorher, 
zwiſchen Monheim und Weißenburg, war Graf Wolrad mit 
genauer Noth aus augenſcheinlicher Todesgefahr gerettet wor: 
den: jein Pferd war in der Furth eines angejchwollenen Baches 
geftürzt und er im Bügel hängen geblieben. 

Sp ritten fie denn jchweren Herzen? am Mittag bes 
14. April in Augsburg ein. Im Gewirr des Reichstags, des 
ſtattlichſten und ſchickſalsſchwerſten des ganzen 16. Jahrhunderts, 
hätten ſich die Waldecker Herren wohl ſchwer zurecht gefunden, 
wenn ſie nicht alsbald ſich an einen trefflichen Führer und 
Berather gewendet hätten. Dies war der Graf Wilhelm von 
Naſſau-Dillenburg, einer der bedeutendſten deutſchen Fürſten 
dieſer Zeit, obwohl an Landbeſitz vielen nachſtehend. Aber er 
hieß nicht umſonſt der „reiche“ Graf, und was mehr war, er 
kannte den kaiſerlichen Hof und alle leitenden Perſönlichkeiten 
aufs Genaueſte, galt mit Recht für einen der treueſten Diener 
des Kaiſers, machte aber kein Hehl daraus, daß er offen der 
neuen Lehre zugethan ſei. Er hielt es darin anders als ſein 
großer Sohn Wilhelm von Oranien, der den wohlverdienten 
Ruhm des Vaters ganz verdunkelt hat. Jener Graf Wilhelm 
nahm die mißlichen Angelegenheiten der ihm nahe verwandten 
Waldecker ſofort in feine Hand. Sein Rath war es, der 
Wolrad beſtimmte, alles daran zu ſetzen, den Handel mit dem 
Kölner Erzbiſchof auf gütlichem Wege zu ſchlichten. Graf 
Wilhelm ſuchte perſönlich den hohen geiſtlichen Herrn auf. 
Freilich konnte er ihn nicht ſprechen, da er noch mit einem 
tüchtigen Rauſche vom vorhergehenden Tage zu Bette lag. 


Schließlich gelang es dem Vermittler, den Erzbiſchof zu einem 
(801) 


10 


Vergleich zu bewegen, allerdings nur gegen jchwere Opfer jeiteng 
Wolrads. Damit war eine große Gefahr für die Haupt: 
angelegenheit, die Rechtfertigung vor dem Kaijer wegen Hoch— 
verraths, abgejchnitten. 

Mittlerweile war auch dieſer Hauptprozeß in Gang gejebt, 
aber der Gang war und blieb ſchneckenhaft. Nicht jehr er- 
muthigend lautete es, wenn Kurfürft Moris von Sadjen in- 
mitten einer zahlreihen Gejellichaft von höchſten und hohen 
Herren und ‘rauen bei jeiner Schwiegermutter, der Landgräfin 
von Hefjen, jein Erjtaunen darüber ausdrüdte, daß auch Graf 
Wolrad auf dem Reichdtag erjchienen ſei. Moritz ſelbſt fonnte 
allerdings damals fein direktes Interefje haben, dem Grafen zu 
ſchaden, aber jeinem Freund und Mitgejellen bei dem Verrath 
on den Glaubensgenofjjen, dem wilden Markgrafen Albrecht von 
Brandenburg » Kulmbah — jehr mit Unrecht der deutſche 
AUlcibiades genannt — war Wolrad perjönli unangenehm 
und jeine Gegenwart in Augsburg nicht wenig unbequem. 

Formell wurde der Hocjverrathsprozeß in der Art geführt, 
daß die Angeklagten ihre mündliche und jchriftliche Vertheidigung 
in eigener Perſon oder durch ihre Beauftragten bei gewiffen, 
dazu deputirten kaiſerlichen Räthen anbraten. Dieje hatten 
dann an den Kaiſer zu referiren, von dem das Urtheil ge- 
iprochen werden follte. Thatjächlich verhielt es ſich aber anders. 
Der Kaijer jelbjt fam eigentlich nur im legten Aufzug oder in 
der Schlußjcene diefer Tragödie auf die Bretter, und alles 
wurde von feinen Miniftern, dem jüngeren Oranvella und 
Viglius, auf eigene Hand entjchieden. 

Erjt nad einer ganzen Anzahl müßig verbrachter Tage 
gelangten die Waldeder Grafen zur Audienz bei Granvella. Er 
hörte den Vortrag ihres rechtäfundigen Beijtandes ruhig an, 
aber die Antwort, die er ertheilte, gab feine günftigen Aus» 


fihten. Da. mußte man fich denn in Geduld fügen und auf 
602) 


11 


die kaiſerliche „Rejolution” — ein Wort, das damals in 
Deutjchland noch wenig gehört und, wie das gräfliche Tagebud) 
fagt, erſt von den neuen Leuten, die jetzt herrjchten, neu herein— 
gebradht war — jo lange warten, als e3 den „Halbgöttern 
am Hofe” gefiel, fie warten zu lajjen. Richtig genug bemerkte 
einmal ſelbſt einer der erjten faijerlichen Räthe, der Vizekanzler 
Dr. Seld, es ſei die Art dieſes Hofes, die Menjchen durch) 
Verzögerung umzubringen. Diejelbe Klage, die die Waldeder 
Grafen führten, ertönte von allen Seiten. Die Urfache davon 
ift nicht fchwer zu finden: alle kaiſerlichen Minifter und Räthe 
waren fleißig an der Arbeit, aber der Arbeit war zu viel. Der 
eine Mann, auf deſſen Schultern alles lag, war damal3 nod 
dazu alt und krank. Es war der befannte Nicolaus Starendt, 
der „erlauchte Herr von Granvella”, wie ihn Graf Wolrad 
und viele andere Hochgeborene diejer Zeit ironifch zu betiteln 
pflegten. Denn der bis zu dem grenzenlofejten Einfluß empor- 
gejtiegene ehemalige Schreiber aus Burgund, in deſſen Hand 
die große Politif und die Regierung der halben Welt lag, war 
und blieb ihnen troß feiner Nobilitirung nur ein pfiffiger und 
vom Glüd begünftigter Emporföümmling. Daß ihn der Kaijer 
wie einen Vater ehrte, ift eine vielleicht etwas jentimental ge. 
färbte Yeußerung eine® damaligen Beobachters, gewiß aber ift, 
daß er alle Gejchäfte ihm überließ und ſich nur die legte Ent- 
jcheidung vorbehielt, die natürlich immer jo ausfiel, wie fie der 
allmächtige Minifter vorbereitet Hatte. Damals aber lag er, 
der Sechzigjährige, ſchwer darnieder, und wenn auch fein Geift 
und jeine Gejchäftsfenntniffe nicht zu entbehren waren, jo konnte 
er doch unmittelbar nicht mehr in die Geſchäfte eingreifen. 
Dies überließ er feinem Sohne Anton, dem Biſchof von Arras, 
demjelben, der fich jpäter nach dem Tode des Vaters dem Kaijer 
ebenfo unentbehrlich zu machen wußte, wie e8 der Vater ge 


wejen war. Nur mit diefem jüngeren Grafen hatten daher die 
(603) 


12 


Waldeder Verkehr, aber da der ältere von dem Kaiſer nach wie 
vor als untrügliches Drafel benugt und ihm alle Gejchäfte vor: 
getragen und nichts entjchieden wurde, bis der arme Gidht- 
brüchige einen jchmerzfreien Augenblid gefunden Hatte, wo er 
jeinen Rath ertheilen konnte, jo war er e8 in ber leßten In— 
ftanz, von dem auch die Sache der Waldeder Grafen abhing. 
Natürlich trug dies nicht dazu bei, den ohnedies langjamen 
Geichäftsgang zu bejchleunigen. Ohnedem waren gerade da— 
mals politifche Angelegenheiten weltgejchichtlicher Tragweite in 
Menge zu erledigen. Jetzt endlich jollte die große Frage der 
Beit, die Kirchliche, gelöft werden. Die Proteftanten auf der 
einen Seite, der Papſt und das von ihm beherrichte Konzil 
auf der anderen, die drohende Haltung des neuen franzöfijchen 
Königs Heinrich II., die Verhältnifje Ungarns, der Waffenitill- 
jftand mit Soliman II. und viele andere Dinge von gleicher 
oder ähnlicher Bedeutung, — das alle8 wurde vor dem Bette 
des alten Granvella erwogen. Der Kaijer ſelbſt aber blieb 
nad wie vor ein Mann, der jedem rajchen Entſchluß abhold 
war, der jede Entjcheidung, auch wenn er fie innerlich jchon 
getroffen Hatte, formell wenigſtens möglichjt lange Hinausjchob. 
Wie hätte man da Zeit für eine jolhe Bagatelljache, wie die 
der Waldeder Grafen, finden jolen? Ein faiferlicher Sekretär 
erzählte ihnen, wahrſcheinlich um fie zu tröften, daß ein Lands: 
mann von ihnen, der nichts weiter als die faijerliche Unter- 
Ichrift für ein Dokument haben wollte, zehn Monate in Aug$- 
burg fi) herumtreiben mußte, bis er fie glüdlich erlangte. 
Aber jelbjt ein Dann wie Graf Wilhelm von Nafjau wartete 
damals jchon viele Monate auf eine kaiſerliche Reſolution; er 
hatte bereit3 30 000 Goldgulden in Augsburg verzehrt, was 
bei ihm, dem reichen Grafen, angehen mochte. Aber mit jolchem 
Trofte war natürlich den armen Grafen wenig gedient. 

Wollte man einen Blid oder gar ein Wort des Allmäch- 


(604 


tigen erhafchen, jo mußte man früh auf den Beinen fein und 
e3 ſich nicht verdrießen laffen, ftundenlang vor der Thür des 
Biſchofs zu ftehen, umjchwirrt vom Gedränge anderer hohen 
und niederen Sollicitanten aller Nationen und Länder, fremder 
Sejandten, faijerlicher und königlicher Hofleute und Räthe, aber 
auch neben geiftlichen Herren und Mönchen, Kammerdiener der 
höchſten und hohen Herrichaften, Zwerge, Neger und andere 
jeltjame Gejtalten aus der Umgebung des Kaijers, der daran 
großen Gefallen fand, drängten ſich durd) die Menge der meiſt 
hochgeborenen Antichambrirenden und waren meiſt glücklicher 
als fie. Jenen öffnete fich die geheimnigvolle Thür, die zu 
dem Gemad des Minijters führte, fie. hatten nur das Recht, 
durd) die Spalte ihnen nachzuſehen. Ging dann die Thür auf, 
jo trat der Biſchof natürlich nicht allein, fondern ſchon um— 
drängt von einer Schar bejonders Begünftigter heraus, und 
man fonnte meift nur jagen, daß man ihn gejehen oder einen 
freundlichen Gruß erhajcht habe. 

So ging es Tag für Tag vom 20. April bis zum 28. Mai. 
Aber wie fi) Wolrad mit Luther tröjtete: „endlich -ijt nicht 
ewig, der Elende leidet wohl, aber nicht allwege“, jo gejchah e3- 
Als die Grafen am Morgen des 28. Mai ihren gewöhnlichen 
Boten bezogen hatten, rief ihnen der Bijchof entgegen: morgen 
um act Uhr follten fie ihre Rejolution haben. Am 29. Mai 
zur fejtgejeßten Stunde öffnete ihnen der franzöfiiche Kammer: 
diener LZeonard die Thür des bijchöflichen Gemaches. Ihnen 
gegenüber ſahen jie den Minifter ftehen, zu feiner Linken den 
Bizefanzler Dr. Seld. Derjelbe verlad die Faijerliche Ent: 
iheidung. Die jüngeren Grafen Hatten auf die Forderung, 
welche ihre Mutter gegen den Kaiſer zu Haben glaubte, zu 
verzichten und außerdem dem leßteren 5000, Wolrad dagegen 
8000 Goldgulden zu bezahlen. 

Wolrad war am härtejten getroffen. Denn 8000 Gold- 


(605) 


gulden mag ungefähr das Vier- oder Fünffache feiner gejamten 
Einkünfte betragen haben; diefe waren außerdem noch durch 
eine nicht unbedeutende jährliche Rente an feine Stiefmutter 
und mancherlei Schulden vom Water her belajtet. Wolrad 
mußte fich jagen, daß er ruinirt und zum Bettler gemacht jei, 
und e3 kann nur Mitleid erweden, zu jehen, welche vergebliche 
Mühe er fich gab, die harten Herzen feiner Feinde zu erweichen. 

Allerlei zu denken giebt eine gelegentlich hingeworfene 
Aeußerung Granvellad: Der Graf wiſſe doch, mit welcher Un— 
eigennügigfeit er für jeine Perſon gegen ihn verfahren jei, da 
er bisher weder irgend einen Geldgewinn gezogen habe, noch 
fünftig daraus ziehen werde. Möglich, daß dies ein verjtedter 
Wink für Wolrad war, der ihn jedoch nicht verftanden Hat. 
Ale Schilderungen des Faiferlihen Hofes diejer Zeit jtimmen 
darin überein, daß man mit Geld bei den Granvellas, Vater 
und Sohn, fehr viel ausrichten konnte. Der Kaiſer jah ihnen 
dabei durch die Finger. Es gehörte zu feinen Eigenthümlich— 
feiten, daß er feine Diener gerne gut geftellt jah, aber er jelbit 
gab nicht gerne Geld aus, hatte freilich auch immer Ebbe in 
jeinen Kaffen, trotz Merito und Peru. Wo er ficher war, daß 
das Staatsintereffe nicht darunter litt, war es ihm daher ganz 
erwünfcht, wenn fich feine Minifter Nebeneinfommen verjchafften. 
Auf diefe Art berechnete man die jährlichen Einkünfte des älteren 
Granvella auf 70000 Dufaten, von denen nur ein Kleiner Theil 
aus dem faiferlichen Beutel flo. Auch der Sohn hatte jchon 
einen hübjchen Anfang gemacht. Auch er jtand fich außer jeinen 
Pfründen auf 16 bis 17000 aus bloßen Nebeneinnahmen. 
Die Sache war jo allgemein befannt, daß Granvella jelbit ge- 
legentlich einen Witz darüber machte. Als er nach dem Schluß 
des Neichstages jchwere Kiften und Kaſten zur Verſendung in 
die Niederlande paden ließ, fragte man ihn, was fie enthielten. 
»Peccata Germaniae« war die Antwort. Auch unfer Tagebuch) 


(606 ) 


15 . 


jpriht oft genug von den Harpyen am Hofe, erwähnt auch, 
daß die anderen faijerlichen Räthe offenbar aus Neid fich oft 
über die umerfättlihe Raubgier der Familie Granvella be: 
flagten; aber Graf Wolrad jcheint feinen Verſuch gemacht zu 
haben, ſich auf dieſe Art Ioszulaufen. Wäre Died gejchehen, 
jo würde das Tagebud), das auch im folchen Dingen fehr ge- 
nau ift, nicht davon jchweigen. Ehrenhaft war dies gewiß, ob 
aber auch Hug, darf man dahingeftellt jein lafjen. 

Um des läftigen Bittfteller3 entledigt zu werden, gab man 
dem Grafen zu verftehen, daß, wenn er fich nicht bald zur 
Bahlung bequeme, die Faiferliche Forderung noch verjchärft 
werden könnte. Das wirkte, Wolrad beeilte fich jeßt, Die 
Schuldurfunde ausgefertigt zu erhalten, und athmete etwas 
freier, al3 ihm die VBerficherung gegeben wurde, der Kaiſer 
werde auch leibliche Friſten für die ratenweife Bezahlung jegen. 
Am 18. Juni war die Neinfchrift bejorgt, Unterjchrift und 
Siegel angebradit. Dafür mußten noch 200 Goldgulden in 
die faijerliche Kanzlei gezahlt werben. 

Uber noch war feine Möglichkeit, Augsburg zu verlafjen. 
E3 war dem Hauptjchuldigen Wolrad noch eine bejondere Ge— 
nugthuung aufgeipart, die feinen Brüdern erlafjen wurde. Er 
jollte nämlicd) den Kaifer fniend um Verzeihung und Gnade 
bitten, wie es allerdings manche andere Fürften vorher jchon 
hatten thun müfjen. Der Graf wehrte fi aus allen Kräften 
dagegen, aber er mußte fich fügen, „Wehe,“ jagt das Tage- 
buch, „es kommt der Gößendienft der Aegypter wieder auf!“ 
Granvella dagegen meinte lächelnd, warum er fich jo jträube, 
etwas zu thun, was andere, viel größere Fürften auch gethan 
hätten? Seld gab wenigftens Hoffnung, er wolle dafür jorgen, 
daß es im Beiſein möglichjt weniger Zeugen vor fich gebe. 
Doch zog es fi) immer noch einige Tage Hin, obwohl der 
Fußfall in einigen Minuten abgethan fein konnte. 

(607) 


16 

Am Morgen des 21. Juni jchidte er feinen Rath, Magiiter 
Liborius Florus, nochmal® an den bevollmächtigten Miniiter. 
Derjelbe jtellte Granvella vor, daß jein Herr in dem über: 
theuren Augsburg Durch längeren Aufenthalt ganz ruinirt 
werde. Es jei nahe daran, daß der Graf jeine Pferde ver: 
faufen müffe. Jedenfalls Hatte er jchon mehrere Darlehen auf- 
nehmen miüfjen, denn das Geld, das er urjprünglich für die 
Reiſekoſten bejtimmt hatte, war längſt verzehrt. Wenn man 
hört, daß er das von ihm bewohnte Quartier wöchentlid) mit 
mehr als zehn Goldgulden bezahlen mußte und dafür nichts 
weiter als die leeren Wände und Stallungen hatte, daß er für 
ftandesmäßigen Unterhalt feiner eigenen Perjon und einer An- 
zahl höherer und niederer Diener jorgen mußte, jo begreift 
man, daß die 1000 Goldgulden, die ihm jeine Schwiegermutter 
zu der Reife geliehen Hatte, nicht weit reichen fonnten. Das 
jchien denn auch einigen Eindrud auf den Biſchof zu machen. 
Hier war gar nichts mehr herauszuprejjen. Er war jo überaus 
gnädig, die Audienz bei dem Kaiſer jofort anzujegen. Florus 
mußte zu feinem Herrn rennen und ihn herbeiholen, wo und 
wie er ihn fände. Er fand ihn auch bald und zwar in dem 
unfcheinbarjten Alltagsfojtüm, jogar in bedenklich abgetragenen 
Schuhen. Aber er durfte jich nicht erjt in die ſpaniſche Hof- 
tradht werfen, jondern mußte, jo wie er war, folgen; nur den 
jeidenen Mantel fonnte er umwerfen. Das Weitere jchildert 
da8 Tagebuch in großer Ausführlichkeit und Anjchaulichkeit, 
daher wir uns hier unmittelbar an dasjelbe anjchließen wollen. 

„als wir (d. 5. Wolrad und jein Rechtsbeiſtand Ylorus) 
in den faijerlichen PBalajt gefommen waren, fanden wir den 
faijerlichen Sekretär Pfinzing auf dem Gang an der Hinteren 
Treppe. Florus fragte ihn fofort, wo es nad) dem Bilchof 
gehe. Er hieß ung in eine Stube treten, die uns gerade gegen- 
über lag. Ich Elopfte daher an, der Thürhüter wollte uns 


(608) 


17 


zuerjt nicht eintreten lafjen. Da kam ein anderer äfterer Thür. 
hüter dazu und führte uns hinein und dann weiter durch dieſe 
und eine andere Nebenjtube bis zu einem Vorſaal unmittelbar 
vor dem Faiferlichen Gemache. Als wir da warteten, jchlüpften 
nah und nach vornehme Hofleute herein. Nach einer kurzen 
Weile kehrte jener ältere Thürhüter, der uns hereingelaffen, aus 
dem kaiſerlichen Gemache zurück und meldete, der Biſchof von 
Arras jei allerdings bei dem Kaifer, aber der Kaifer noch nicht 
angefleidet. Inzwiſchen befahl ich Gott meine Seele mit Gebet 
und Meditation. 

Es dauerte noch einige Zeit, da trat der einäugige Bappen- 
heim, der Reichsmarſchall, herein. Der fragte den Magifter 
Florus, wer das fei, der da am Ofen ftehe. Florus antwortete, 
das jei der Graf Wolrad von Walded. Darauf fagte der 
Marſchall: „Das ift ja wohl der Graf, der den Fußfall vor 
dem Kaifer thun ſoll?“ — „Jawohl,“ war die Antwort. Der 
Marſchall begrüßte mic) und fagte: „Herr, Ihr müßt Euer 
Schwert ablegen; wenn nur ein Edelfnabe bei der Hand wäre, 
um es zu halten!” Der Marjchall, ein biederer und jchlichter 
Mann, machte fich ſelbſt auf und Holte unjern Adrian (von 
Beegen) herbei und gab ihm das Schwert. Dann fam er 
wieder und inftruirte ung über die Zeremonien beim Fußfall. 
Ih jollte das Geficht zu Boden kehren, bis mich der Kaifer 
aufitehen und Heraustreten Heiße. Ich dankte ihm für Ddiefe 
Belehrung, ebenjo auch, daß er mich unbeläftigt in meinem 
Quartier gelafjen habe.* 

Nun war es fajt zehn Uhr worden. Da kam der Frei: 
herr von Schaumburg (der Bruder des Kölner Erzbiichofs), der 
kaiſerliche Schloßhauptmann und der Oberjte der faijerlichen 
Leibwächter, der von Zeltingen und viele andere Italiener und 


— — — 





*Der Reichsmarſchall hatte von Amts wegen die Vertheilung der 
Quartiere für die beim Neichstag Anweſenden zu bejorgen. 
Sammlung. N. F. XIII. 30%. 2 (609) 


18 





Spanier vom faijerlihen Hofſtaate. Auch fehlte Bater Mal- 
venda, der faiferliche Kaplan, nicht. Der jah mich tüdiih von 
der Seite an und lachte in einem fort. Er Ffonnte fi faum 
enthalten, daß er nicht gar mit dem Finger auf mich gezeigt 
und gejagt hätte: So habe ich’3 gewollt, jchlimmer konnte es 
dir nicht fommen! 

Neben dem eigentlichen Wohngemad) des Kaiſers liegt 
eine kleine Stube, und ich hoffte, daß da die Zeremonie vor 
jich) gehen werde. Uber ein faiferlicher Lafei fam und breitete 
einen Teppich vor dem Sejjel aus, der an der Wand ftand und 
der jelbjt mit einem anderen Teppich von Gold- und Seidenjtoff 
bededt war, und jo jah ich denn, daß hier im Vordergrund die 
Sache abgethan werden jolle. Als der Marſchall Bappenheim 
bemerkte, daß ſich alle Augen auf mid) richteten, ſagte er: „Herr 
Graf, Ihr würdet beſſer thun, wenn Ihr in die Stube daneben 
ginget. Sobald ſich der Kaiſer hier niedergelafjen hat, will ich 
die Thür öffnen, damit Ihr Euren Fußfal thun könnt.” Ich 
gehorchte ihm jofort. Da kam der Dr. Petrus Malvende mit 
ernfthaftem Gejichte auf mich zu und begrüßte mich. Zuerſt 
that ich, als hörte ich es nicht, aber ich jah, wie er feine Hand— 
ſchuhe auszog und an mich herantrat. Da bot ic) ihm denn 
meine Hand. Er ſagte auch fein Wort ald: „Ich will Euch 
nicht Hinderlich jein.” Was der fpanifche Jupiter damit jagen 
wollte, begreife ich nicht. Nun fam ein anderer Thürhüter heran 
und hieß ung auf der Bank niederjigen, indem er meinte: „Der 
Kaifer wird nicht jo bald herauskommen.“ Ich wußte, daß 
man den Thürbütern hernady ein Trinkgeld zu geben Hatte, und 
bat Malvende, er möge ſich erkundigen, wieviel man bei jolchen 
Gelegenheiten zu geben pflegte. Er verſprach es, fam aber bald 
wieder und jagte, die Thürhüter überließen das ganz meiner 
Großmuth, fie würden feine beftimmte Summe nennen. 

Da fam noch ein dritter Thürhüter und jagte: „Herr Graf, 


(610) 


19 





warum geht Ihr nicht in den Borjaal?” ch antwortete: 
„Weil mich der Marjchall Hier hat warten heißen.” — „Gut, 
gut, in kurzem wird e8 vor jich gehen.” Nun war e8 auf den 
Schlag elf Uhr, da fnarrte die Thür und die Hofleute machten 
ihre Neverenzen. Als fich der Kaiſer auf den Sefjel nieder: 
gelafjjen hatte, öffnete PBappenheim die Thür und rief mic: 
„Run iſt's Zeit, nun kommt, Herr Graf!“ Ich ftand auf; zu 
meiner Linken hatte ich Liborius. Wir beugten zweimal das 
Knie und das dritte Mal ließen id) und er uns auf beide Knie 
nieder. Darauf hielt Liborius vor allen diejen Zuhörern fol 
gende Unrede in deutjcher Sprache: „Allerdurchlauchtigfter, un- 
überwindlichjter, gnädigjter Kaifer und Herr! Bor Ew. ge: 
heiligten kaiſerlichen Majeſtät erjcheint Hier mein hochgeborener 
Herr, der Graf Wolrad von Walded, und befennt, daß er 
Ew. Majejtät zur Zeit des Aufruhrs im vorigen Jahre ſchwer 
beleidigt hat. Er befennt auch, daß er eine jchwerere Strafe 
verdient hat, und bereut das Gethane aufs Schmerzlichite. Aber 
er vertraut auf Ew. Majejtät angeborene Gnade, daß ihm dieſe 
Schuld erlaffen werde, worum er demüthigft fleht, und daß 
Ew. faijerlihe Majeftät ihn und jeine Unterthanen wieder in 
Gnaden aufnehmen möge um Gottes und Ew. faijerlihen Ma: 
jeftät Barmherzigkeit willen. Mein genannter Herr Graf wird 
das außer jeinem jchuldigen Dienft mit allem Eifer zu ver- 
dienen juchen und niemals in feinem Leben Ew. Majeftät Un- 
gehorjam erzeigen, jondern mit Chrifti Beijtand das thun, was 
einem treuen und ehrlichen Grafen des Reiches zu thun ziemt.“ 

Darauf ſchwieg Liborius. Der Kaifer rief nun den Bischof 
von Arras und den Dr. Seld heran und ſprach einige Worte 
leije auf franzöfifch mit ihnen. Dann ließ er durch den Vize— 
fanzler Dr. Seld antworten, indem derjelbe fajt die ganze An- 
rede des Liborius wiederholte und noch hinzufügte: „Der un: 


überwindlichfte, allerdurchlauchtigjte Kaifer nimmt nach jeiner 
2° (611) 


20 


angeborenen Gnade den Grafen Wolrad von Walded mit feinen 
Unterthanen für diesmal wieder in feine Huld auf, doch mit 
der Bedingung, daß alles, was in dem Kapitulationsvertrag 
fteht, von dem Grafen erfüllt und gehalten werde. Und wenn 
fi der Graf von nun an treu und ehrlich hält, jo ſoll er und 
feine Unterthanen einen gnädigen Kaijer an ihm haben.” 

Darauf winkte mir der Kaifer zu. Weil mir aber geboten 
war, zu Boden zu jchauen, biß er mid) bei Namen rufen werde, 
fo ftieß mich Liborius an. Ich Löfte daher fchnell meine rechte 
Hand und legte fie in die des Kaiſers; der ftand fofort auf 
ging wieder in fein Gemach, und auch ich machte mich etwas 
geihwinder als eine Schnede zur andern Thür hinaus. 

Als ich in die äußere Stube kam, fragte ich den Thür- 
büter: „Wieviel befommt Ihr?“ — „Soviel beliebt; wir 
find unſer ſechs.“ — „Was würbdeft Du jagen, wenn ich Jedem 
einen Goldgulden gäbe?” — „Wir würden jehr dankbar fein.“ 
So gab ich ihm denn ſechs Goldgulden und trug ihm auf, 
wenn einer von meinen Leuten käme und die Unterjchrift für 
ben Beweisbrief verlangte (die Urkunde, daß er vom Kaiſer zu 
Gnaden aufgenommen jei und die Abbitte geleiftet habe), jolle 
er ihm behülflich fein, was er verjprad). 

Das war das Ende diefer Tragödie. Es erübrigt nur 
noch, 8000 Goldgulden zu bezahlen. „Der das Leben gegeben 
bat, wird auch das Geld geben.“ — 

Und er hat es gegeben. Der Graf fonnte feine Schuld 
zu den feitgejegten Friſten richtig abtragen, ohne jeinen Unter. 
thanen bejchwerlich zu fallen und ohne zum Bettler zu werden. 
Vielmehr hat er noch ein langes Leben, auch in guten Ver: 
mögensumftänden verbracht, denn er war ein trefflicher, jpar- 
famer Wirth, wie auc) feine ihm an Gefinnung und Bildung 
gleiche Gattin Anaftafia, die Tochter der durch ihr muthiges Auf: 
treten gegen Alba befannten Gräfin Katharina von Schwarzburg. 

(62) 


21 


„Died war nicht allein ein geharnifchter Reichstag, denn 
ohne die jpanifchen Soldaten und deutjchen Knechte, jo der 
KRaifer mit in Augsburg brachte, liegen bereit3 in der Be 
fagung daſelbſt zehn Fähnlein Landsknechte; jo lag auf dem 
Lande um Augsburg herum hiſpaniſch und italienisch Kriegs- 
vol. Aus dem Niederland waren 600 Reuter, jo auf dem 
Lande herum ausgetheilt; zwölf Fähnlein Hilpanier Hatten die 
Winterlager zu Biberach gehalten und wurden zu diejer Zeit 
in die Landfchaft am Bodenſee geführt; zu Weißenburg im 
Nordgau lagen 700 neapolitanische Reiter im Winterlager... 
Sondern e3 war auch ein anjehnlicher Reichstag, denn e8 waren 
faiferliche und königliche Majeftäten, alle Kurfürften in Perjon 
und trefflih Park zur Stätte, der Kurfürft von Brandenburg 
mit jeinem Gemahl, der Kardinal von Trient, Herzog Heinrich 
von Braunfchweig mit feinen beiden Söhnen, Markgraf Albrecht, 
Herzog Wolfgang, Pfalzgraf bei Rhein, Herzog Auguftus von 
Sadjjen, Herzog Albrecht von Bayern, der Herzog von Cleve, 
Herr Wolfgang, Hofmeifter zu Preußen oder Deutjchmeijter, der 
Biſchof von Eichjtädt, Herr Julius Pflug, Biihof zu Naum- 
burg, der Abt von Weingarten, Frau Maria, des Kaiſers 
Schweſter, und jeiner Schweiter Tochter, die Witfrau von 
Lothringen, das marfgräflihe Frauenzimmer, item fremder 
Potentaten Gejandte; ſonſt viele Uebte, unzählig viel Grafen, 
Freiherren, Reichsftädter, anjehnliche Gejandte, fürtreffliche Män- 
ner, und daß ic) gleihtwohl Michael den Juden nicht vergejfe, 
der ſich auch als ein großer Herr verhielt, auf der Gafjen jtattlich 
gekleidet, den Hals voll goldener Ketten, aufm wohlitaffirten 
Pferde ritt, jeiner Diener zehn, zwölf, alle Juden, doch nicht 
anders als reijige Knechte, um ihn Her, von Perſon anjehnlich, 
wie man auch jagte, jein rechter Vater wäre ein Graf von 
Reinfeld.“ 

So ſchildert der Pommer Bartholomäus Saſtrow den 


(618) 


2 2 





eriten Eindrud, den er beim Betreten der Reichstagsſtadt 
empfing, und alle weiteren Gejchichten und Gejchichtchen, die er 
und Andere in Fülle von dem Leben in Augsburg zu erzählen 
wifjen, rechtfertigen die Prädikate des geharnifchten, anjehnlichen 
und pompöfiichen Neichstages, wie fein anderer vor und nad) 
bier gehalten worden iſt. Je unbehaglicher ſich die meijten 
Anweſenden fühlten, defto mehr juchten fie fich durch Genüfje 
aller Art, wie fie diefe Stadt und dieſe Zeit bot, zu über: 
täuben. Denn unter den vielen Kurfürjten, Herzögen, Fürjten, 
Grafen und Herren aus allen Landen des weiten heiligen römi— 
jchen Reiche gab es kaum einen, dem nicht der Gang der 
Dinge Uerger und Angft erwedt hätte. Die fiegreicye katho— 
liſche Partei konnte mit dem Tergiverfiren und Tranfigiren der 
faiferlichen Bolitif nicht einverjtanden fein, am wenigjten die 
geiftlichen Herren. Sie hatten in Augsburg eine Fortjegung 
und Vollendung der erjten Triumphe erwartet, welche die faijer- 
lihen Waffen auf dem Schlachtfeld errungen hatten. Statt 
dejjen glaubten fie wahrzunehmen, daß es dem Kaiſer nicht 
jowohl um MWiederherftellung des alten Glaubens, als um 
Niederwerfung der Rebellen gegen jeine weltliche Autorität zu 
thun ſei. Won Ddiefer Seite her waren fie nicht weniger be 
droht als die ketzeriſchen Gegner, die jebt ald Gefangene oder 
ſchwer gedemüthigt vor dem Kaijer zitterten. Wie alle Die- 
jenigen über die Lage dachten, die, ohne an der Rebellion 
theilgenommen zu haben, weder die Wiederheritellung des alten 
Glaubens, noch die der faijerlichen Machtvollkommenheit wollten, 
bedarf feiner Ausführung. Aber jelbft die Freunde und Bundes» 
genojjen des Kaiſers, denen er den größten Theil jeiner Erfolge 
verdanfkte, waren mißtrauifch und übelgelaunt. Ein jcharffichtiger 
fremder Beobachter urtheilte, daß ſich der Kaiſer alle Prote— 
ftanten und Katholiken, Geiftlihe und MWeltliche, verfeindet 


babe, und daß feine Freunde, ein Herzog Heinrich von Braun: 
(614) 


23 


jchweig, ein Markgraf Albreht von Kulmbach), nicht viel werth 
jeien, weil fie bei widrigem Glauben dem Sieger folgen würden, 
was denn auch wirklich jchon nad) drei Jahren eintraf. 

Graf Wolrad hätten feine Geichäfte wohl Zeit gelafjen, 
an dem tollen Treiben jeiner fürftlichen Standesgenofjen theil- 
zunehmen; denn er hatte durch ein ganzes Bierteljahr nicht 
viel anderes zu thun, als jeden Morgen eine oder ein paar 
Stunden bei dem Biſchof von Arras zu antichambriren. Der 
übrige Tag gehörte ihm. Uber der Graf war dazu leider gar 
nicht geneigt. Eine wunderliche Ausnahme in der Schar diefer 
damaligen deutjchen Fürften und Herren, die wenigitens in der 
Berehrung des Bachus und Gambrinus ſich zu einem Glauben 
befannten und darüber Luther und den Papſt vergaßen. Es ijt 
nicht übertrieben, was damals ein miüchterner Italiener von 
unjeren Zandsleuten nach Haufe fchrieb: „Dem Weine ift dieſe 
Nation weit mehr als Martin Luther ergeben, ohne Ausnahme 
irgend welcher Klaſſe von Perjonen, und die Großen find dem 
Trinfen mehr ergeben als Andere, und mit der übelen Ge: 
wohnbeit, fich zu beraufchen, iſt es jo weit in Deutjchland, 
daß fie e8 nicht bloß fein Fehl, jondern für Tugend und Groß: 
beit halten und Leute für argliftig und wenig wert) achten, die 
fi nicht betrinfen wollen. Auch jagte mir eines Tages der 
Bilhof von Trient, da wir von dieſen Religionsipaltungen in 
Deutjchland ſprachen: „Ich wollte lieber im ftande fein, bei 
Gaftmahl eine halbe Tonne Wein zu trinken, als alle Texte 
bei S. Lucas und Mathäus auswendig willen; denn ich hoffe, 
dann wohl bei irgend einer Gelegenheit bei diejen Fürften viel 
ausrichten und fie in der NReligionsjache vielen Dingen zu: 
ftimmen machen zu können, die ich auf anderem Wege jehr 
jchwierig achte. So ſagte aud) Ed, der Rath des Herzogs von 
Bayern, eines Tages, daß mit deutjchen Fürften nicht gut zu 
negociiren jei, als eine oder zwei Stunden des Morgens,“ 

(615) 


24 

Das gräflihe Tagebuch ift auch im dieſen Dingen jehr 
genau und aufrichtig. Es verzeichnet gewifjenhaft die verjchie- 
denen Einladungen, die an die Waldeder Herren meift ins- 
gefamt ergingen, und die Gäfte, die fie in ihrer eigenen Her: 
berge jahen und bewirtheten. Auch verfchtweigt es nicht, wenn 
je einmal ein Becher zu viel geleert wurde, doch ijt dieſes 
jelten genug vorgefommen. Es fehlte unferem Grafen denn 
doch zu jehr jene behagliche Lebenzluft, die es fich auch in den 
ungemüthlichften Situationen noch immer gemüthlich zu machen 
weiß, — ein Zug unferes Volkscharakters, der jeine liebens— 
würdigen, aber auch feine bedenflichen Seiten hat. Selbſt der 
gefangene Johann Friedrich, der doch noch ganz andere Urſache 
Hatte, über Schaden und Schande zu klagen, als unjer Graf, 
ließ es fich nicht jo Hart anfechten. Er führte in jeinem Ge- 
wahrfam ein ganz vorzügliches Leben und vertrieb fich feinen 
Kummer und feine Sorgen gerade jo, wie feine Sieger und 
Peiniger fich die ihrigen zu vertreiben pflegten. Da es doch 
zu weit war, um fein gutes, jchwere® Torgauer Bier nad) 
Augsburg kommen zu lafjen, that er ſich nach einem Erjag um 
und fand ihn in dem Schwabacher, wovon ihm ab und zu eine 
Wagenladung zugeführt wurde. Auch gab es bei ihm fait Tag 
für Tag gemüthliche Gejelligfeit bei der Mittags und Wbend- 
tafel, deutjche und welſche Gaufler, Sänger und Tänzer pro: 
duzirten ihre Tänze, und der vielgeprüfte Märtyrer der Glau— 
bensfreiheit ergößte fich weidlich an ihnen. Sogar Würfeljpiel 
gehörte zu den gewöhnlichen Bergnügungen diejes Kreiſes. Soll 
doch der Herzog von Alba einmal den ganzen Sold, den der 
Kaijer den deutſchen Landsknechten ſchuldete und ihm übergeben 
hatte, dort verjpielt haben, worüber eine Höchjt gefährliche Meu- 
terei ausbrad), die einigen Spaniern das Leben foftete. Wiürfel- 
ipiel galt aber in den Augen des Grafen Wolrad für einen 


argen Greuel, während es der doch ebenjo fromme Kurfürft zu 
(616) 


25 


den Adiaphoris gerechnet zu haben ſcheint, weil es ihm und 
ſeinen Gäſten die Zeit vertrieb. Wolrad vergißt nicht, auf die 
Verderblichkeit dieſer Unterhaltung bei verſchiedener Gelegenheit 
hinzuweiſen, namentlich als einmal zwei Edelknaben des Kur— 
fürſten Moritz bei den Würfeln in Zank gerathen waren, der 
damit endete, Daß der Eine den Andern jählings über den 
Haufen ſtach. Man kann fich denfen, daß dies die gründliche 
Mißachtung, die Wolrad gegen den „Berräther” hegte, mur 
noch vermehrte. Aber wir haben jchon früher gehört, daß auch 
Andere, jogar der getreue Carlowib, über das damalige Benehmen 
de3 neuen Kurfürften nicht wenig empört waren. Es ſchien, 
als ob die drei böjen W: Wein, Weiber und Wiürfelfpiel, ihn 
ganz in Befiß genommen hätten, und jein Kumpan bei allen 
Ausjchweifungen, der wüſte Kulmbacher Markgraf, konnte es 
faum jchlimmer treiben als er. 

Ueber Moritzens Aufführung während des Wugsburger 
Reichstages berichtet au) Sajtrow mehrfah. „Hertzog Moritz 
machte Kundjchaft (Bekanntichaft) im bayerijchen Frauenzimmer, 
hatt? auch jeine Kurzweil in feiner Herbergen, jo eine® Doctoris 
medieinae Haus. Der hatte eine erwachjene Tochter, eine 
ſchöne Metze, hieß Jungfrau Jacobine, mit der badete er, 
runfete (jpielte) auch) jampt Marggraf Albrechten täglich mit 
ir. Und hielten aber Haus, daß der Teufel darüber lachen 
mochte und viel Sagens in der ganzen Stadt davon war.” 

Was bei Johann Friedrich vorging, mochte e8 auch nicht 
immer mit der beinahe puritanifchen Sittenftrenge unferes Grafen 
barmoniren, wurde von dieſem doch begreiflicherweiie jo gelind 
als möglich beurtheilt. Es findet fi faum eine leiſe Andeu- 
tung, daß nicht alles jo war, wie man es von dem deal 
eines Märtyrer3 erwartete. Denn als jolcher galt er nicht bloß 
dem Grafen Wolrad, jondern weitaus dem größten Theil 
feiner deutſchen Zeitgenofjen. Selbſt die faiferlichen Lands: 


(617) 


26 





fnechte jcheinen ihn jo angejehen zu Haben. Das Tagebuch 
führt einen interefjanten Beleg dafür an. Zwei kaiſerliche 
Soldaten, beide nicht mehr ganz nüchtern, jtanden vor einem 
Bilderladen, wo unter anderen auch ein Porträt des Kurfürften 
hing. Da fällt e8 dem Einen bei, jchlechte Späße zu machen 
über die Schramme, das Andenken von Mühlberg, welche auf 
der Wange des Kurfürften zu jehen war. Der Andere verweijt 
ihm das. Es kommt zum Wortwechjel, fie ziehen die Schwerter, 
und der Zweite erjticht den Erjten, den Spötter, rettet ſich aber 
ſpornſtreichs durch die Flucht. 

Dad Unglüf und die Art, wie es getragen wurde, hatte 
alle Schuld des Mannes in den Augen feiner Glaubensgenofjen 
getilgt. Denn wenn man eine nur etwas fjcharfe Kritik hätte 
anlegen wollen, jo hätte man feiner grenzenlojen Unfähigkeit 
denn doch mit Recht den größten Theil des Mißgeſchickes zu- 
ihreiben müffen, das die Proteftanten feit dem Herbſte 1546 
getroffen hatte. Aber davon ift bei Wolrad feine Rede, und 
er ift hierin mehr wie anderswo nur das Organ der öffent: 
lichen Meinung. „Heute war e3 der ewig von uns Deutjchen 
zu betrauernde Jahrestag, daß der erlaucdhte Kurfürft Johann 
Friedrich an der Elbe mit wenigen Getreuen gefangen wurde, 
indem fich fein Heer zur Flucht wandte und ein großer Theil 
jeine® Adels zum Feinde abfiel! —“ fo lautet am 24. April 
1548 die Gefchichte der Mühlberger Schlaht, die wir freilich 
etwas anders kennen. Aber was folgt, rechtfertigt jchon einiger: 
maßen die Barteiftellung: „Die ſpaniſche Wache des Gefangenen 
und die übrigen jpanijchen Hackenſchützen gaben drei gewaltige 
Freudenſalven vor feiner Wohnung und jchrien Victoria. Doch 
der mannhafte Fürjt jah aus dem Fenſter ruhig zu und lachte 
über das tolle Gebahren der Schufte.“ Es ift das würdige 
Gegenſtück zu der heroijchen Paſſivität, mit der er gerade zwei 
Monate vorher, am 24. Februar 1548, aus demfelben Fenſter 


618) 


zugejehen Hatte, wie jein treulojer Vetter Morik, mit dem 
kurfürſtlichen Schmuck befleidet, den kaiſerlichen Thron feierlich 
berannte und die als Lohn des Verraths ihm verheißenen 
fürftlichen Lehnsfahnen aus der Hand des Kaiſers empfing. 

Was unjer Graf für den Gefangenen thun konnte, be- 
ſchränkte ſich freilih nur auf gute Wünſche und brünftige 
Gebete für feine Befreiung, wie fie damals täglich von taujend 
Kanzeln in ganz Deutjchland zum Himmel emporftiegen. Wo 
die faiferliche Macht oder die ſpaniſche Soldatesfa allzu ſchwer 
drüdte, 3. B. in Augsburg jelbft, durften e3 die Geiftlichen 
allerding® nicht wagen, den Namen des Märtyrer zu nennen, 
aber wenn fie am Schlufje ihrer Predigt regelmäßig die Ge- 
meinde zu einem Gebet für alle Die auffordeten, welche um 
des Glaubens willen gefangen und elend jeien, wußte doc 
Iedermann, für wen gebetet wurde. Daß jeine Heimfuchung 
nur eine vorübergehemde jei, wie die von ganz Deutichland 
wegen der Sündenſchuld, die das Volk auf ſich geladen hat, — 
in dieſer Ueberzeugung beharrte und tröftete fich der Fromme 
Graf. Es ift diefelbe, die alle ernfteren und tieferen Gemüther 
erfüllte, und fie jollte jich bald herrlich bewähren. Die auf 
Gott vertrauen, werden nicht zu Schanden werden. Auch die 
mächtigften Reiche haben ihre Zeit, Heißt es bei Erwähnung 
eines treffenden Urtheild des Kaiſers über Johann Friedrich. 
Als er im Frühjahr 1547 mit eigenen Augen das fruchtbare 
Land und die feiten Städte feines Gegners jah, meinte er: 
„Der Herzog Johann Friedrih ift von Fräftiger Statur und 
hat gewaltige Schenkel, aber feine Beine find zu ſchwach, um 
fo viel Gut gleihmäßig zu tragen“, — zugleich ein nicht eben 
feiner Spott über die körperliche Unbehülflichkeit des wadern 
Herrn, dem fein Torgauer Bier nur alzugut zu befommen 
pflegte. 


Einen zarten Liebesdienft konnte der Graf doc) dem ver: 
(619) 


28 


ehrten Fürſten erweifen, von welchem diejer wohl nie etwas 
erfahren hat. Bei dem Herumftreifen in den Straßen der Stadt 
wurde Wolrad vor einem Laden das Porträt des Kurfürjten 
gewahr, das von dem Händler abjichtlid) jo ausgehängt war, 
daß e3 einem anderen, dem des Großtürfen, gerade ins Gejicht 
ſchaute. Raſch kaufte der Graf beide für ſechs Bagen, um 
dieſer ſchmachvollen Schauftelung feines Helden ein Ende zu 
machen. Nach einigen Wochen wurden jeine Augen wieder 
durch denjelben Anblic beleidigt, und wieder verfuhr er auf 
diejelbe Art. Bekanntlich pflegte die katholiſche Partei dem 
Kurfürften und allen Schmalfaldenern ein geheime Einver- 
ftändniß mit dem Großtürfen als ärgftes aller ihrer Verbrechen 
vorzuwerfen. Thatjächlich eriftirte nicht? davon, aber es iſt 
nicht zu leugnen, daß man es im Schmalkaldiichen Lager nicht 
ungern ſah, wenn der Kaiſer dur den Erbfeind der 
Ehriftenheit etwas in Athem gehalten wurde. Um fich direkt 
mit ihm zu verbinden, dazu hätte man ein jo weites Gewifjen 
haben müffen, wie es die allerchriftlichiten Könige von damals 
hatten. 

Als warmer Patriot empfand es Wolrad bejonders fchwer, 
daß fremde Soldaten, und nun gar die jo gründlich verhaßten 
Spanier, den edlen deutjchen Fürſten bewachten. „Es ift und 
bleibt ein Kummer und eine Schmad) für uns Deutiche, daß 
Spanier unter Trommelihall vor die Wohnung des trefflichen 
Johann Friedrich rücden dürfen, um da die Nachtwache zu be- 
ziehen,“ notirte er im Tagebuch, als er abends um acht Uhr 
die verjchiedenen Wachen Hatte aufziehen fehen. 

Der Kaijer erhielt eine deutjche Wache, und das erichien 
Wolrad ebenjo unpafjend, wie die jpanifche bei dem Kurfürften. 
Es ijt das ein Heiner, aber doch ſehr charakteriftifcher Zug für 
die ganze Stellung des Kaiſers zu dem bdeutfchen Volke und 
Weſen. Er gilt eben nicht für einen Deutfchen, wie er felbft 


(620) 


293° 





auch niemal® es darauf abgejehen bat, für einen folchen zu 
gelten. Er war, wenn er überhaupt einen bejondern nationalen 
Typus repräfentirte, ein verweljchter Niederländer mit einer ge- 
wiffen phlegmatiichen Worliebe für das ſpaniſch-⸗ariſtokratiſche 
und katholische Weſen. Unter allen Erjcheinungen des damaligen 
Welt giebt e8 aber gewiß feine entjchiedenere Gegenjähe, als 
dieje ſpaniſche Art und die deutjche des Neformationgzeitalters, 
die jo durch und durch demokratisch und proteftantiich war. 
Doch Hat unjer Wolrad den Reſpekt vor der geheiligten Perſon 
des Reichsoberhauptes auch in feinen vertrautejten Aufzeichnungen 
nicht beifeite geſetzt. Begreiflich zog es ihn nicht allzufehr 
in die Nähe diefer fremdartigen Majeftät, in deren Umgebung 
die Deutjchen, auch wenn fie zur fiegenden Partei gehörten und 
die erfolgreichiten Dienſte geleiftet hatten, doch immer über Die 
Achſel angejehen wurden. Hier war nur für Spanier, Wallonen 
und Franzofen oder verweljchte Niederländer, wie der gebietende 
Herr jelbft, ein pafjender Platz, allenfalls für gejchmeidige Italiener, 
die der Kaijer übrigens nicht mochte, wahrjcheinlich weil er ihrer 
Loyalität nicht traute. Hier hörte man jelten ein ehrlich deutjches 
Wort. Der Kaifer jelbft jprach mit feinen Vertrauten und Miniftern 
ja nur franzöfifch, hier und da einmal ſpaniſch oder italienisch, 
bei feierlihen Staatsaften allenfall3 lateiniſch; Deutſch Hat 
er nie gelernt, wenn man fein vlämijches Patois nicht dafür 
gelten laffen will. Ueber feine und feines Bruders Ferdinand 
Lebensweiſe auf dem Augsburger NReichstage berichtet Saſtrow 
Interefjantes. „Die Herren auf dem Reichstage, dieweil fo 
viel königliche und fürftliche Frauenzimmer zur Stelle, die auch 
viel fürftliche und gräfliche Fräuleins bei fi hatten von jtatt- 
lihem, rittermäßigem Stande, deren doch viele ſchön und wohl 
gepußt, banfettirten vortrefflich, hatten faft alle Tage und Abende 
Tänze, weljche und deutſche. Sonderlih König Ferdinandus 


war felten ohne Gäjte, wurden jtet3 Herrlich, dazu mit allerlei 
(621) 


30 

Kurzweil von prächtigen Tänzen tractirt. Hatt' überaus jtatt- 
liche, wohlgeordnete Musicam, non solum instrumentalem, 
verum etiam vocalem. Neben anderen Kurzweilen ftund alle: 
wege hinter ihm ein Stodnarr, den wußt er frei zu jtellen und 
und mit gleichem lächerlichen Gejpräd zu begegnen. Hatte 
gemeiniglich fünigliche, chur- und fürftliche Perfonen utriusque 
sexus zur Gejelihaft am Tiſch figen, mit denen er ohne Auf: 
hören furzweilige Gejprädhe hielt, denn der Mund jtand ihm 
nimmer ftille. Ich habe auf den Abend bei ihm einen Tanz 
gejehen, daß ein fpanifcher Herr, jo ein lang Kleid bis auf 
die Erde, daß man von denen Füßen nicht wohl etwas jehen 
fonnte, an hatte, ein Fräulein aufzog und mit demfelben ein 
Algarde oder Bajfioneja (wie fie es nennen, ich verjtehe es nicht) 
tanzete. Er that ab und zu gewaltige Sprünge, fie aud); 
wußte ihm von allen Seiten zu begegnen, daß es mit Luft 
anzujehen war. Und war dann der Tanz zu Ende, fing ein 
ander Baar einen weljhen Tanz an. Dagegen jein Herr 
Bruder, der römijche Kaijer, ungeachtet daß feine Schweiter 
und Scweftertochter, fein Bruder und deſſelben Tochter, die 
Herzogin von Bayern, alle Ehurfürften und foviel Fürften da 
zur Stelle, hielt gar fein Bankett, ja behielt feinen bei fich. 
Wenn fie allbereit auf den Dienjt warteten, auch den Kaijer 
in fein Gemach, da er ſich an den Tijch jehte, begleiteten, gab 
er ihnen dann einem nach dem andern die Hand, ließ fie gehen 
und fegte fich allein an den Tiſch, redete auch nicht, jondern 
einmal, als er aus der Kirche in jein Gemach Fam, ſich umher 
umſahe und Garlowigen* nicht gewahr wurde, jagte er zu 
Herzog Morizen: „Ubi est noster Carlevitius?* und als er 
antwortete: „Gnädigſter Kaifer, er ift etwas ſchwach,“ rief er 
feinem Medicum: „Veſali, Ihr jollt zum Carlowig gehen; der joll 

* Chriftof von Garlowig, der befannte Kanzler des Kurfürſten 


Morig von Sacien. 
622) 


etwas frank fein; feht, daß Ihr ihm helfet!“ Ich habe ihn 
auf etlichen Neichdtagen vielmal ejjen gejehen, da ſein Herr 
Bruder König Ferdinandus auch zur Stelle; aber den nie zu 
ji gezogen, jondern wenn die Eſſen aufgetragen wurden von 
jungen Fürften und Grafen, jedesmal vier Trachten (Gänge), 
in einer jeden jech® Gerichte, vor ihm auf den Tiſch geſetzt, 
die oberen Schüfjeln nacheinander davon genommen. Gegen 
die, Davon er nicht begehrte, fchüttelte er den Kopf; davon er 
aber ejjen wollte, winfte er mit dem Kopfe, zog dasjelbe vor ſich. 
Und durfte wohl jtattlihe Paſteten, Wildpret und wohlzu— 
gerichtete Fereula wegtragen lajjen und behielt eine Brat- 
portion, ein Kälberfopf und dergleichen. Ließ ſich nicht vor: 
jchneiden, brauchte auch das Meſſer nicht viel, jondern fchnitt 
jo viel Stüdlein Brod, jo groß als er jedesmal in den Mund 
ſtach, und vom Gerichte, davon er ejjen wollte. An dem Brode, 
da es ihm zum beften gefiel, löfte er mit dem Meſſer; ſonſt 
brad) er es mit den Fingern von einander, zog die Schüfjel 
unter das Sinn und aß jo natürlich, jedoc) reinlich und jauber, 
daß man feine Luft daran zu jehen Hatte. Wenn er trinken 
wollte (wie er denn nur drei Trunfe über die Mahlzeit that), 
jo winfte er jeinen Doctoribus Medieinae, die vorm Tiſche 
ftunden; die gingen hin zum Trefor, darauf jtunden zwei filberne 
Flaſchen und ein Crijtalglas, da gerne 1'/s Stüd ingingen, 
goffen aus beiden Flaſchen das Glas voll. Das trank er rein 
aus, daß nichts darin blieb, jollt er auch zwei oder mehrmalen 
Athem holen, ehe er’3 von dem Munde zog. Sonft redete er 
nicht über Tiih. Stunden wohl Schalksnarren Hinter ihm, die 
allerlei Poſſen reißen konnten, er kehrte ſich aber nicht daran, 
mochte etwa, wenn fie was gar Kurzweiliges jagten, mit einem 
halben Lächeln den Mund verziehen. Ließ ſich auch nichts an- 
fechten, daß viel da Stunden, jo den Kaijer eſſen jehen wollten. 


Hatt’ eine ftattliche Cantorei, aud) Musicam instrumentalem, 
(628) 


32 


die fich in den Kirchen wohl hören ließen, aber in feinem Gemach 
flangen fie nicht. Die Mahlzeit wehrte nicht wohl eine Stunde; 
wurd’ alles weggeräumt, Sefjel und Tiſch zufammnengeichlagen 
und aus dem Gemach getragen, daß nicht? mehr als die vier 
Wände blieben, allenthalben mit föftlichen Tapeten behängt. 
Wann ihm dann das Gratias vorgebetet, reichte man ihm ein 
Federkielchen, damit jäuberte er die Zähne, wajchte ſich und 
jtellte fich in eine Ede des Gemachs nad) dem Fenſter; da 
mochte ein jeder kommen, übergeben Supplicationes oder berichten 
mündlih, dem jagt” er fofort, wo er Beſcheid befommen 
jollte. Dem, und nicht dem Bater, folgte Kaiſer Marimilianus 
auch mehrentheils.” 

Das einzige Mal, wo Wolrad dem Kaiſer gegenüber zu 
itehen fam, war jene traurige Scene der Abbitte, aber aud) 
da ging es ganz fpanifch feierlich ftill, ohne ein einziges 
Wort ab. Doch war unjer Graf viel zu jehr ein Deutjcher, 
als daß er nicht auch das Gute und Große an feinem Feind 
und Bedränger anzuerkennen gewußt hätte. Diefe und jene 
Anekdote, die er von dem Kaifer hörte und aufzeichnete, Teiftet 
dafür Gewähr. So das anderweitig, joviel wir wiffen, nicht 
aufbewahrte Gegenſtück zu dem freilih auch jagenhaften groß: 
müthigen Worte in der Wittenberger Schloßfirche vor dem Grabe 
Luthers: „Ich führe feinen Krieg mit Todten.“ Als der 
Kaifer vor dem Beginn des Augsburger Reichstages in Ulm 
weilte, wurde er darauf aufmerfjam gemacht, daß in dieſer 
Stadt von einem fegerijchen Geijtlichen eine freche Schmähſchrift 
gegen jeine Perjon verfaßt worden jei. Er fragte den Angeber 
bloß, ob es gejchehen jei, ehe er die Stadt wieder zu Gnaden 
angenommen habe oder nachher? Als fich Herausftellte, daß 
jene Pamphlet der früheren Zeit angehörte, jchnitt er alles 
Meitere mit den Worten ab: „Damals waren die Ulmer unjere 


Feinde, jegt find fie wieder zı Gnaden angenommen.“ Den römi- 
(624) 


3 


Ichen König Ferdinand, den Bruder des Kaifers, hat Wolrad nur 
ein einzige8 Mal gejehen bei einem Spazierritt. Auch er durfte, 
wenngleich) minder marfirt als jein Bruder, als ein fremder 
Fürſt gelten. Auch in ihm war nichts Deutfches, als das 
Blut des Vaters und der zufällige Umjtand, daß er über eine 
Anzahl der jchönften deutjchen Länder, das Erbe der Habsburger, 
als eigentlicher Zandesherr gebot, während jein Bruder fich bloß 
mit der mehr imaginären Stellung eines Kaiſers begnügte und 
dafür in den Niederlanden, Spanien und Jtalien als wirklicher 
Herricher waltete. Ferdinand hat wenigjtens Deutſch gelernt 
und fi) auch nothdürftig in der Mutterjprache feines Volkes 
auszudrüden vermocdht. 

Dagegen beurfundet das Tagebuch ein lebhaftes Interefje 
für den Erzherzog Marimilian, den ältejten Sohn des römifchen 
Königs. Er führte damald den VBorjig im Neichsrath, dem 
jpäter jogenannten Reichshofrath, und in diefer Stellung fam er 
auh mit den Waldeder Grafen in geichäftliche Berührung. 
Denn bier hätte eigentlich ihre Sache entjchieden werden follen, 
und der Form nach geichah es aud) jo, in Wirklichkeit aber 
waren es die Granvellas und Bigilius, in deren Hand die 
Entiheidung lag, mie bei allen wichtigeren Angelegenheiten, 
gleichviel ob fie deutjche oder ausländische waren. Doch mochte 
immerhin die Fürjprache eines jo hHochgejtellten Prinzen von 
Werth jein, und jo bemühten fich denn auch die Waldeder Grafen 
vielfah darım. Marimiltan bezeigte ſich theilnehmend und 
wohlwollend, da8 war aber auch alles, was er gewähren fonnte, 
doch auch dafür war ihm Wolrad jchon dankbar. Er rühmt 
öfter8 jeine Herablafjung und Freundlichkeit, er befennt jeine 
Hoffnungen, die er gerade auf dieſen Fürſten gejegt hat. Es 
waren diejelben, die damals faſt ganz Deutichland oder dod) 
das ganze protejtantiiche Volk hegte. Man glaubte zu wiſſen, 
der Erzherzog jei der gereinigten Lehre günstig gefinnt und blof; 


Sammlung. N. F. XIII. 309. 3 (625) 


— 


durch ſeine Stellung als Sohn und Neffe gehindert, ſich offen 
für ſie auszuſprechen. Im Gegenſatz zu Oheim und Vater 
machte ihn auch das in ſeiner Art und Natur entſchieden über— 
wiegende deutſche Element populär. Wolrad wünſchte ihm, 
daß der, welcher die Herzen der Könige in ſeiner Hand hat, es 
jo lenken möge, daß er ſeine trefflichen Naturgaben zur Ehre 
Gottes, zum Vortheil jeiner Untertanen und zu feinem eigenen 
Seelenheil anwende und daß er die Schmeichler und Ohren- 
bläjer von fich fern Halte. 

Diejer Fromme Wunſch iſt befanntlic) in Erfüllung gegangen. 
Denn wenn auch Marimilian als Nachfolger feines Vaters auf 
dem Kaiſerthron es nicht über fich vermochte, mit den Traditionen 
jeines Hauſes ganz zu brechen und ſich offen für die Reformation 
zu erklären, jo bat er doch wenigjtens bei allen Parteien den 
Namen eines wohlwollenden, friedfertigen und gerechten Fürſten 
erworben. Damals handelte es fich gerade darum, ihn als 
Statthalter jeines kaiſerlichen Oheims nach Spanien zu jchiden. 
E3 war dies einer der vielen feingefponnenen Fäden der Gran- 
vellas oder des Kaiſers jelbjt, welche durd) das jähe Zufahren des 
Kurfüriten Moritz zerriffen wurden. Man wollte ihn aus dem 
Lande der Keberei entfernen und in das Paradies des wahren 
Glaubens jchiden, weil man ihm von diejer Seite her gar nicht 
traute. Aber man wollte auch durch jeine Entfernung Raum 
für Don Bhilipp, den Sohn des Kaiſers, gewinnen, den 
diefer ger als jeinen Nachfolger aud) auf dem Kaijerthrone 
oder mindejtens als den Nachfolger jeines Bruders Ferdinand 
gejehen hätte. Marimilian mußte fich fügen, obgleich er es ungern 
genug gethan Hat, da auch jein Water vonjeiten des Religions» 
punktes — den anderen verjchwieg man ihm einjtweilen no — 
dafür gewonnen war. So rüjtete er ſich damals zu feiner ſpaniſchen 
Reife, unter andern auch durdy Aderläffe und ftärfende Bäder, 
als PBräfervativ gegen die üblen Einflüfje des ſpaniſchen Klimas. 


(626) 


35 


Der „geharnifchte Reichstag” verleugnete auch darin feinen 
Charakter nicht, daß es häufig in den Straßen der Stadt zu 
blutigen Auftritten unter dem Kriegsvolf aller Nationen kam. 
Nichts Gefährlicheres konnte es für den Kaiſer geben, als jolche 
Scenen, und es gejchah alles Mögliche, um fie zu vertufchen. 
Bwar fam es in Augsburg niemals jo weit, wie im Lager vor 
Halle, wo einmal Spanier und Deutjche eine fürmliche Schlacht 
geliefert und auf ſpaniſcher Seite fiebenzig, auf deutjcher acht— 
zehn Todte gezählt worden waren, wo ein jpanifcher Grande 
jeinen Verſuch einer Friedensftiftung mit einem tödtlichen Bade 
in der Saale bezahlt hatte, wo der Erzherzog Marimilian von 
dem wühenden Haufen imjultirt und verwundet worden war 
und der Kaiſer jelbjt honigſüße Worte Hatte geben müfjen: 
„Liebe Deutjche, ich weiß, Ihr Habt feine Schuld!” — fie 
hatten aber diesmal wirklich Schuld — „gebt Euch zufrieden, 
ich will morgen die Spanier hängen laſſen.“ Es mag ihm 
jauer genug angekommen jein, aber wenn er auch die Spanier 
nicht hängen ließ, jo durfte er doch auch den deutichen Rädels— 
führern fein Haar frümmen. 

Als er jeine NRefidenz in Augsburg aufichlug, war es das 
Erjte, daß er einigeGalgen und Räder als Warnungszeichen für 
jeine trogige Soldateöfa mitten in der Stadt vor dem Rathhaus 
aufrichten ließ, und fie find oft genug gebraucht worden. Erhob fich 
ein Streit zwifchen dem Kriegsvolf, fo konnte man ficher fein, daß 
das Volk für die Deutfchen und gegen die Spanier Partei nahm ; 
jo einmal an den Fleifchhänfen, wo die rüftigen Fleifcherfnechte 
ihren Landsleuten beifprangen und eine Anzahl Spanier auf 
dem Platze blieb. Es was dies eines der vielen Symptome 
des tiefen Hafjes, welcher damals das ganze deutjche Volk gegen 
die Spanier erfüllte. Wie unfer Volt von jeher und aud) damals 
geartet war, gehörte viel dazu, bis fich ein folder Hab an 
fammelte; denn leider war e8 ja im feiner arglojen Gutmüthig- 

3* (627) 


36 





feit nur zu jehr geneigt, fi) die Haut über die Ohren ziehen 
zu laffen und das höchſtens für einen jelfamen Spaß zu halten. 

Aber die Spanier betrugen ſich nicht bloß wie übermüthige 
Sieger, jondern wie eingefleiichte Teufel; Freund und Feind 
war ihnen gleih, und was fie an unerhörten Schändlichkeiten 
aller Urt in den Territorien Fatholifcher oder mit dem Kaiſer 
verbündeter Herren verübten, war fajt noch ärger, als was in 
Teindes: und Keßerland geſchah. Die deutichen Landsknechte dDiejer 
Beit waren freilich auc) feine Lämmer, und Leben und Eigenthum 
von Freund und Feind war unter Umjtänden auch bei ihnen 
vogelfrei; aber weil fie ihre deutjche Nationalität nicht verleugnen 
fonnten, brachten fie e8 nie und nirgends zu jener raffinirten 
Beitialität, welche nicht bloß den fpanifchen, jondern ziemlich 
allen Soldaten romanijcher Nationalität gleichſam angeboren 
zu jein fcheint, jobald fie im fremden Land fi) die Zügel 
Ichießen lafjen zu dürfen glaubten. Ihre fannibaliiche Wolluft 
empörte mit vollem Nechte unſer Volk am allermeiften, das 
von jolchen Greueln nicht einmal eine Ahnung hatte Man 
leſe nur die Schilderung, welche Saftrow, der Begleiter des 
faijerlichen Heeres auf dem Zuge von Sadjfen nah) Schwaben 
im Sommer 1547, alfo nach wiederhergeftelltem Frieden, davon 
entwirft. 

Auch unjer Tagebuch giebt eine Reihe jelbjterlebter oder 
von Andern mitgetheilter Charakterzüge über das Gebahren diefer 
Notte und die Volfsjtimmung in Deutichland. Es erwähnt 
der nichtöwürdigen Verationen, welche die jpanifchen Bejagungen 
in verjchiedenen jüddeutjchen Reichsjtädten, in Halle, Heilbronn, 
Um, Weißenburg ꝛc. an der wehrlojen Bevölferung verübte. 
Man hatte fie hier überall gegen das ausdrückliche Faiferliche 
Wort aufgenommen, daß fie weder die Bewohner, noch die Reli- 
gion jtören dürften. Aber wo fie einmal ſich eingeniftet Hatten, 


waren beide verloren. So mochte denn die bloße Drohung 
(628) 


37 

Spanier zu jchiden genügen, um eine Stadt wie Regensburg 
zur Annahme des Interims zu jchreden. Während des Feld: 
zuges in Sachſen hatte ein Spanier einem Bauernweibe Gewalt 
anzuthun verjucht, der Mann aber den Frevler erjchlagen und 
ſich jofort auf flüchtigen Fuß gejeßt. Er eilte auf die Burg 
eines benachbarten Grafen und erzählte ihm dort jeine Gejchichte. 
Der Graf gab ihm vier Kronen und verſprach ihm noch mehr, 
wenn er noch mehr von diejen Ungeziefer ausrotte. Wolrad jah 
mit eigenen Augen vor den Thoren von Monheim drei Leich- 
name von Bauern auf das Rad geflochten, völlig nadt — „gegen 
alle gute deutjche Sitte und Scham“ — die fi) der uner: 
träglichen weljchen Plagegeijter durch Selbjthülfe zu entledigen 
gejucht Hatten. Hätte fich ein Führer gefunden, jo wäre überall 
der Volkszorn losgebrochen, und feine Frage, daß die doch 
wenig zahlreichen Fremdlinge jofort vernichtet worden wären. 
Aber die geheiligte Perjon des Kaiferd und die Politik 
nahmen ihre Schändlichkeiten .inter den Dedmantel gewöhn: 
licher Excejfe des Krieges. Doch hat nichts jo jehr dazu bei» 
getragen, den Kaiſer um den legten Reſt von Popularität zu 
bringen und jeine ſchmähliche Katajtrophe von 1552 vorzubereiten, 
als das Gebahren feiner „ipaniichen Böfewichte”, vom Herzog 
Alba an bis hinunter zu den gemeinen Hadenjchügen. Plündern 
und Stehlen verjtand fich bei dieſer Rotte von jelbit. Als einmal 
ein paar Spanier in Augsburg gehenkt wurden, meinte Sajtrow, 
der der Erefution zujah: „Sie werden eben geftohlen haben, wie 
das ihre Art ift.” Als bei dem Kurfürften Mori in die 
Silberfammer eingebrochen wurde, war ganz Augsburg am folgen: 
den Morgen fejt davon überzeugt, daß die ergriffenen Diebe 
Spanier jein müßten. Es waren aber zufällig Franzoſen 
Landsleute der Granvellas, die fich denn auch mit landsmanjchaft- 
lihem Eifer der Schuldigen annahmen. Doch half es diesmal 


nicht; Mori war zu erbittert, und die Thäter wurden gehentt, 
(629) 


38 
aber nach einigen Stunden vom Galgen abgejchnitten und von 
einem großen Kondukt fremder Soldaten feierlich beerdigt; 
„denn” — jagt das Tagebuch — „bei diejen Leuten gilt jtehlen 
für fein Verbrechen.“ 

Hätten die Spanier feinen weiteren Unfug begangen, ala 
die gründliche Zerftörung der Wildbahnen des württem— 
berger Herzogs Ulrich, jo würde das Landvolf ihr Andenken 
eher gejegnet als verflucht haben. Faſt täglich kamen damals 
ganze Wagenladungen mit Wild aus dem Württembergiſchen 
in Augsburg an, als Gaben der dort fantonirten ſpaniſchen 
Truppen an ihre Landsleute in der Reichsſtadt. Ein einziger 
Gerber joll nach dem Tagebuch im Laufe des Frühjahrs und 
Sommers nicht weniger al3 900 Hirfchhäute verarbeitet haben. 
Der Zuſatz enthielt eine traurige Wahrheit: „So haben die 
armen Deutjchen joviel Sorgfalt auf die Wildbahnen verwandt 
zu großem Schaden des Landmanns und zum Gejpötte der 
Spanier und der kaiſerlichen Hofſchranzen.“ Herzog Ulrich 
hat unter den damaligen deutjchen Fürſten befanntlich den Preis 
als Nimrod davongetragen, obwohl nur wenige von dem Jagd: 
teufel ganz frei waren, zu welchen wenigen auch unjer Graf 
gehörte. Selbſt der fromme Kurfürjt Johann Friedrich ift auch 
hierin nicht ganz vormwurfsfrei. Es wurde als ein Leichen 
Gottes angejehen, daß ihn fein Unglück gerade in der Mitte 
jeiner größten Wildbahnen, in der Lochauer Heide bei Mühlberg 
getroffen habe, wo er jo oft zu größtem Verdruß und Schaden 
feiner Unterthanen diefer noblen Paſſion gefröhnt hatte. 

Das Gebet Wolrads: „Herr, befreie und von diejem un— 
jeligen Volkel“ ift damals in fräftigen Variationen täglich und 
ftündlich von Hunderttaufenden zum Himmel emporgejtiegen. Auch 
er hat es ganz jo empfunden wie der einfache Sinn des Volkes, 
wenn er jein liebes Vaterland als ein von Feinden erobertes 
und verwüſtetes beflagt. Alle Schönfärberei damaliger und 


(630) 


39 


jpäterer Barteidarjtellung im faiferlichen. Intereſſe konnte das 
Gewicht der Thatjachen nicht aufheben. Man jagte und fagt 
wohl noch: „Die Spanier find Truppen des Kaiſers geweſen, 
aljo konnten fie feine Feinde fein.“ Es ijt dieſelbe Logik, 
welche die Wallonen und Kroaten de3 Dreißigjährigen Krieges 
auch als „befreundete Truppen“ aufmarjcdhiren läßt, weil fie 
ein deutſcher Kaifer gegen das Wolf Iosgelafjen Hat. Aber 
dieje Logik ift weder 1547, noch 1630 von dem deutjchen Volke 
begriffen worden, deſſen Begriffsfähigfeit doch ſonſt nicht 
allzu enge bejchränft zu jein pflegt. Der Beweis dafür liegt 
darin, daß man 1552 Morig wirflic) als den Befreier Deutſch— 
lands und achtzig Jahre jpäter den Schweden Gujtav Adolf 
als einen von Gott jelbjt gejandten Erretter aus namenlojer 
Knechtſchaft anjah und fi) bi8 auf den heutigen Tag durch 
alle Barteideflamationen darin nicht hat irre machen lafjen. 
Man braucht deshalb noch keineswegs den konfeſſionellen 
Standpunkt unjere® Grafen zu theilen, um in jeine jo oft 
wiederholten Gebete für die Befreiung des deutſchen Waterlandes 
einzuftimmen. Dieje Gebete geben viel zu denfen. Es ver- 
fteht fi von jelbit, daß eine übrigens fo wohlgeartete 
Natur wie die Wolrads auch des letzten und feſteſten Anfer- 
grundes aller fittlihen und männlichen Würde, eines Fräftigen 
Patriotismus, nicht entbehrte. Daß er bei ihm fih aufs 
Innigſte mit der fonfejlionellen Stellung verſchmolz, ift in der 
damaligen Zeit gleichfalls ſelbſtverſtändlich, denn eine der treiben- 
den Kräfte der Reformation, vielleicht die bedeutendfte unter 
allen, war das energijche Nationalgefühl der Zeit, welches Die 
Anmaßungen, Geldicyneidereien und Gewiljenstyrannei des „wel- 
ſchen Mönches“ — der populärjte Titel des Papjtes bei dem 
deutjchen proteftantiichem Wolfe — nicht länger mehr ertragen 
mochte. Man kann auch für die Mitte des jechzehnten Jahr: 


bundert3 noch gelten laſſen, was unbejtritten für den Anfang 
(631) 


2. 


desjelben gilt, da alles, was deutſch fühlte und dachte, ſich 
von der verweljchten alten Lehre abwandte. Aber wie konnte 
es gejchehen, daß eine jo überwiegende Majorität fi) von einer 
jo geringfügigen Minorität jchlagen und unterdrüden ließ, wie 
es im Schmalfaldener Kriege und nachher geſchah? An phyſiſchem 
Muthe Hat es jener damals jo wenig, wie zu irgend einer Zeit 
unferem Wolfe gefehlt. Warum aber dieje wehmüthigen Klagen, 
dieje8 duldende Harren, dieje fummervollen Seufzer nach Hülfe 
des himmlijchen Herrn, da man doc) jelbjt jich recht wohl hätte 
beifen können? Der äußerlihe Pragmatismus der Zeitläufe 
liegt jo klar vor, daß es jehr leicht ift, zu demonftriren, wes— 
halb die Schmalfadener geichlagen werden mußten und der 
Kaijer Sieger blieb. Aber damit ift nichts gewonnen. Denn 
hinter dieſen nächſten Gründen, die jedes Kind verjtehen kann, 
liegt wieder ein anderer dunkler Hintergrund, woran aller land: 
läufige Pragmatismus zu Schanden wird. 

Es ift leicht zu jagen, man hätte weniger beten und bejier 
die Arme regen jollen, dann würde es anders gekommen jein. 
Aber die englijchen Puritaner haben jedenfalls noch mehr gebetet 
und gejungen, als die Frömmſten unjerer Zandleute von damals, 
und es würde fich übel mit der gejchichtlichen Wahrheit vertragen, 
wenn man behaupten wollte, daß fie dadurch irgendwie zu kurz 
gefommen jeien. Wenn unfere deutjchen Proteftanten diejelbe 
Sicherheit und Freudigkeit des Gewiſſens gehabt Hätten wie 
jene, jo würden fie jedenfall3 ebenjo gefochten und gefiegt haben, 
Aber dieſe fehlte, weil man nad) angeborener, volksthümlicher 
Urt zu viel refleftirte und darüber da8 Gemüth und dag Ge 
wiſſen in Zweifel und Unjchlüffigfeit verfegtee So ging man 
mit halbem Herzen in den Kampf. Das Gewifjen gebot, für 
das gereinigte Evangelium Gut und Blut zu opfern, aber e8 
verbot auch, gegen die Treue, die man dem Kaijer jchuldete, 
zu handeln. Luther jelbjt iſt über diefes Dilemma nie hinweg» 


(632) 


41 


gefommen, und er war glüdlich zu preilen, daß ihm der Tod 
den Anblid der praktischen Reſultate diejer Gewifjenszweifel 
erijparte. Als man gejchlagen und Hart bedrängt war von 
einem argliftigen und treulojen Sieger, da hatte man wohl den 
Muth des pajfiven Widerjtandes, den Heroismus des Märtyrer: 
thums, da fühlte man ſich eing und ficher im Gewiſſen, als 
e3 galt zu leiden und nicht zu handeln. Das ift der Eindrud, 
ben die Gebete unjeres Tagebuches machen; es iſt auch hier ein 
getreuer Spiegel der Gefinnung in dem beiten Theile unjerer 
Nation. 

Ein anderer Zug einer weniger ehrenvollen Geijteshaltung, 
die gleichfalls wejentlich die Niederlage des Proteſtantismus 
verurjachte, ift faum in einer leifen Andeutung wahrzunehmen. 
Ein großer Theil des deutjchen Volkes in diefer Zeit wird von 
jenem allerdings grellen Worte eines italienischen Beobachters, 
dejien jchon oben gedacht wurde, getroffen: „Dem Weine ijt 
diefe Nation noch mehr als Martin Luther ergeben.” Set 
man jtatt Wein behaglichen Lebensgenuß, jo ijt nichtS Ueber: 
triebene8 daran. Man ehrte und liebte dieſen gereinigten 
Glauben, er war und blieb das theuerfte Kleinod der Seele, aber 
man ging doc nur jehr ſchwer daran, um jeinetwillen das 
ganze leibliche und bürgerliche Dafein aufs Spiel zu jegen. 
Man fühlte ſich damals in der alljeitig verbreiteten Wohlhäbig- 
feit und Weichlichfeit eines genußlichen Lebens jo gemüthlich 
wie zu feiner andern Zeit. Man juchte fich, nur um darin nicht 
geitört zu werben, durch die gewöhnlichen Sophiftereien des 
Herzens zu betrügen, und es gelang nur zu gut. Bejonders haben 
unjere ſonſt jo tapfern NReichsftädter in diefer Kataftrophe darin 
ein Uebriges gethan, und vor allen vielleicht am meijten die 
Augsburger, die freilich auch am härteften dafür geſtraft wurden. 

Als unſer Graf nad) feiner gewohnten Art die jtolze In— 
ichrift des gewaltigen Rothen Thores in fein Tagebuch notirte: 


(638) 


42 


„Die goldene Freiheit hat dieſe Bollwerfe aufgethürmt . . . .*, 
bemerkte er: „Jetzt iſt die Freiheit der Augsburger jo ziemlich 
von Stroh.” Und jo war e8 auch, denn Karl V. jtellte jegt 
den oberjten Bürgermeifter hier vor, und er war ein jtrengerer 
als jeine jtädtiichen Kollegen, die der damalige Volkswitz 
„Surgelmeijter” zu taufen pflegte. Wolrad fand es zwar bos— 
haft, aber doc einigermaßen wahr. Wollte einer der eigent- 
lichen Bürgermeifter dem Faijerlichen Kollegen ja einmal jein 
altes reichsſtädtiſches Selbjtbewußjein fühlen Iafjen, jo mochte 
er fih an dem, was dem Bürgermeifter Jacob Herbrot gerade 
in diefen Tagen widerfuhr, ein warnendes Beijpiel nehmen. 
Diejer Jacob Herbrot gehörte zu Denen, welche in Vertrauen 
auf ihre vollen Geldkäften, ihre jtattlihen Häufer und präch— 
tigen Gärten immer noch nicht begreifen wollten, daß es Zeiten 
geben fünnte, wo ihnen das alles nichts helfen ſollte. Als er 
einmal von dem Kaifer zu einer Privataudienz citirt wurde, 
entfchuldigte er fich mit vorgeblichem Unwohljein. Aber der 
Kaiſer jchicte ein Kommando Spanier, welche den jtolzen Herrn 
aus dem Bette und im ärgjten Neglige über die Gafje in den 
Arreſt transportirten. Das Schlimmifte folgte jedoch erjt jpäter. 
Er mußte wegen Mißachtung der faiferlichen Majeſtät eine jehr 
hohe Strafe zahlen, und fein Amt verlor er ohnedies bald 
darauf, wie alle feine Kollegen. Dann, nachdem der Kaiſer 
durch dergleichen Schredfmittel die ohnehin Schon eingejchüüchterte 
Bürgerſchaft ganz gejchmeidig gemacht Hatte, griff er aus 
faijerliher Machtvollkommenheit geradezu in die Verfafjung der 
Stadt ein, zerjtörte die alte Zunftordnung und jegte ein ftreng 
patriziiche8 Regiment ein. Freilich hatte er wie den Glauben 
jo auch die Freiheit der Stadt zu jchügen verjprocdhen, als ſich 
ihm im SHerbft 1546 die Augsburger unterwarfen. Aber 
Ketzeru und Rebellen braudte man ja nach der Doltrin der 
faiferlichen Hoftheologen und weljchen Hofjuriften fein Wort 


(634) 


43 


zu halten. Unter allen den unglaublichen Dingen, die im Laufe 
des Schmalfaldiihen Krieges geichehen waren, mochte wohl die 
Uebergabe von Augsburg das unglaublichjte gewejen fein. 
Jedermann wußte, daß die Stadt, die ſtärkſte Feſtung in ganz 
Deutjchland, einer Belagerung auch von einem furchtbareren 
Heere al3 das damalige faiferliche auf lange hinaus gewachjen 
war. Sedermann Fannte ihre unermeßlichen Worräthe an dem 
herrlichiten Geſchütz, das damals überhaupt gefunden wurde; 
denn hier waren ja die weltberühmten &ießereien, deren 
Erzeugnifje die aller Konkurrenten im In und Ausland weit 
übertrafen. Der eigentlihe Nerv des Krieges, Geld, war hier 
in jolcher Fülle aufgejpeichert, daß nicht bloß die Faijerlichen 
Finanzen, fondern die aller damaligen Potentaten der Ehrijten- 
heit Hierher für ihre ſtets wiederkehrende Ebbe Zuflucht zu 
nehmen fich gewöhnt hatten. Das Vermögen der Fugger wurde 
allein an barem Gelde auf vier Millionen Goldgulden geſchätzt 
— eher zu niedrig als zu hoch —, alſo nach dem heutigen 
Goldwerth und dem damaligen Prozentja etwa 200 Millionen 
Mark. Sie und die Weljer und die Baumgartner hießen nıcht 
umfonft die reichiten Kaufleute der Chriftenheit. Wenn fie 
gewollt hätten, hätten fie allein ein ebenfo großes Heer, wie 
der Kaifer damals nothdürftig unterhielt, reichlich bezahlen 
fönnen. Dazu bejaß die Stadt in ihrem ritterlichen Mitbürger 
Schärtlin, dem berühmteften deutjchen KHeerführer jener Zeit, 
einen Feldherrn, wie man ihn nur wünjchen konnte. Und doch 
hatte das alles, jamt der allgemein vorhandenen Begeijterung 
des Volkes für das Evangelium und feine ftädtijche Freiheit 
und einem ebenjo allgemeinen Hafje gegen das weljche Pfaffen: 
thum und Franzenthum am Hofe des Kaiſers nichts geholfen, 
die Stadt war doch übergeben worden. 

Es war ein öffentliches Geheimniß, daß die Geldjäde, 


die Harpyen, wie fie unſer Tagebuch regelmäßig nennt, Die 
(635) 


44 





Fugger, Welfer, Baumgartner, Hochſtetter, das hinter dem Rüden 
des Volkes bewerfftelligt Hatten. Ihr Intereſſe als Bangiers 
der ganzen vornehmen Welt konnte feinen Krieg vertragen, und 
e3 verjtand ſich darum auch ganz von ſelbſt, daß ſie faft allein 
in der großen Stadt mit dem alten Glauben nicht gebrochen 
hatten, weil es der ihrer hohen Kunden war. Das Tagebuch 
erwähnt beiläufig der leben Verſuche, die der trefflihe Schärtlin 
machte, um diefe Kleine, aber begreiflich jehr mächtige Partei 
zu bejeitigen. Als er jah, daß feine muthigen und verjtändigen 
Vorſchäge zur Vertheidigung durch ihre Intriguen ſtets durch— 
freuzt wurden, habe er den Entihluß gefaßt, dieſe Leute aus 
der Stadt zu verbannen und fich zum Diktator zu machen. Er 
jei aber wieder davon abgejtanden, indem er mit einem jeltenen 
Beijpiel von Selbftverleugnung lieber für fich Gefahr an Leib und 
Vermögen erdulden, ald das Blut feiner Mitbürger vergießen 
lafjen wollte. Es ilt von Ddiefem Plane Scärtlind ander: 
weitig nichts befannt. Man weiß nur, daß er alles aufbot, 
um den Magijtrat zum muthigen Ausharren zu bewegen, aber 
alles umjonft, und daß er ihm und der Stadt endlich ver- 
achtungsvoll den Rüden fehrte. Die Weichherzigkeit des Motiv 
paßt auch nicht auf die derbe und harte Art des Mannes, wohl 
aber ijt es charafteriftiich genug für unjern Grafen, und nicht 
bloß für ihn allein, daß er diefen Zug lobend erwähnt. Es 
jpiegelt fi) eben aud) darin jene Scheu vor einem ganzen und 
durchgreifenden Handeln, die bald auf edlere, bald auf gemeinere 
Triebfebern zurüdgeführt werden mag, in jedem Falle aber die 
Urſache des Unglüds und der Schmach gewejen ijt und immer 
jein wird. 

Doch hatten es die andern nicht beſſer gemacht als die 
Augsburger, obwohl fie jeßt diefen alle Schuld zujchoben und 
nah der gewöhnlichen Art des Maulheldenthums demon— 


jtrirten, daß alles ganz anders gefommen wäre, wenn Jene fie 
(636) 


45 


nicht verrathen hätten. Unſer Tagebuch tadelt mit Recht diefen 
Haß der anderen Reichsjtädte gegen die Augsburger und Ulmer 
als einen jolchen, der in den eigenen Eingeweiden wühlt, aber die 
Gemeinheit und Feigheit, die fich dahinter verſteckte, brandmarkt 
e3 doch nicht nach Gebühr. 

Es ijt der forreften protejtantiichen Denkweiſe diejer Zeit 
völlig enjprechend, daß die andere Gefahr, die der Unterdrückung 
des gereinigten Evangeliums, das Gemüth des Beobachter viel 
jchwerer bekümmerte, al3 die weltliche Tyrannei des Kaijers. 
Freilich gehörte Schon ein ungewöhnliches Mat von Stumpffinn 
oder Selbjttäufchung dazu, wenn man nicht bemerkte, worauf es 
bier in Augsburg und anderwärts abgejehen war. Die faiferliche 
Staatskunſt liebte zwar auch hier leife aufzutreten und das Wild 
namentlid) von allen Seiten mit Neben zu umjftellen, und erſt 
wenn der rechte Augenblid gefommen war, wurden dieſe mit 
rajcher und gejchicter Hand zugezogen und die zappelnde Beute 
erbarmunglog gewürgt. Noch war in Augsburg die neue Lehre 
nicht geradezu unterdrückt oder ihre Bekenner als ſolche verfolgt 
worden. Doch deutete Schon jeßt manches auf das Hin, was 
bald kommen ſollte. Der Nath hatte, feinem übrigen Benehmen 
entiprechend, vor der Uebergabe der Stadt aus freien Stüden, 
aber natürlich ganz in der Stille, dafür gejorgt, daß einige 
Heinere von den vielen Kirchen, die in der That zu viel für 
die Bedürfniffe des neuen Kultus waren, in Stand gejegt und 
dem fatholischen Kultus zurückgegeben wurden. In der Kapitulation 
jelbft war nichts Derartiges ausbedungen und nad) dem Wort: 
laut, daß in der Religion nicht? geändert werden folle, die 
Stadt zu michts verpflichtet. Man glaubte aber durch eine 
jolche Liebedienerei fi) an dem Kaifer einen gmädigen Herrn 
erwerben und weitere unangenehme Maßregeln abgewendet 
zu haben. Aber wie man es nicht beſſer verdiente, jo wurde 


man auch behandelt. Der Kaifer erfärte, daß er ſich mit diejen 
(637) 


46 
Eleinen Kirchen nicht begnüge, er wolle den Dom und einige 
andere Hauptfirchen haben, und es blieb nichts übrig, als auch 
hierin nachzugeben. Mit abfichtlihem Gepränge wurde nun der 
fatholiiche Kultus in der Stadt, die feiner lange genug ent- 
wöhnt war, wieder eingebürgert. Gab es auch, außer den 
wenigen patriziichen Familien, die fich noch zu der alten Kirche 
hielten, Niemand unter den Einheimifchen, der an ihm theil- 
nahm, es füllten jich die Kirchen doch mit vielen Fremden, die 
der Neichdtag und die Anmwejenheit des Kaiſers in die Stadt 
zog. Auch gab man fich, nach einer Notiz in unſerem Tagebuche, 
mit Erfolg Mühe, aus dem benachbarten Bayerischen, das nur 
durch den Lech von der Stadt getrennt war, andächtige Scharen 
heranzuloden. Es gehörte zu diefem Syſtem, daß alle höheren 
Teite mit möglichjt auffallendem Glanze gefeiert wurden. So 
bewegte ſich am TFrohnleichnam jeit langen Jahren zum erften 
Male wieder eine Prozeſſion durch die Straßen. Der Kaijer, 
der römische König, eine Menge der höchſten Herren aller 
Nationen folgten ihr, und, was Wolrad wie alle Protejtanten 
am tiefjten kränkte, darunter auch Viele, die fich zu dem Evan- 
gelium befannten. Schon tags vorher war Feierabend durch 
die jtädtiiche Polizei geboten worden, da die Prediger ſich 
entjchieden weigerten, das Feiertagsgebot von ihren Kanzeln zu 
verfündign. Ein paar arme Weber, die ſich unpafjende 
Aeußerungen über den „heidniichen” Pomp der Prozefjion erlaubt 
haben jollen, wurden gefaßt und mit abfichtliher Schauftellung 
in Ketten durch die Straßen geführt. Es geſchah nicht bloß, 
wie das Tagebuch meint, nad) der Maxime: dat veniam corvis, 
vexat censura columbas, oder deutjch: die Heinen Diebe hängt 
man, die großen läßt man laufen, jondern es follten auch die 
eorvi damit eingejchüchtert werden, die freilih ſchon ohnehin 
Schreden genug in den Gliedern hatten! 


Dieje Frohnleichnamsprozejlion war aud ein Stüd des 
(638) 


47 





„pompöfiichen“ Neichstages, und der Kaiſer wußte es, wie 
gejagt, jo einzurichten, daß jo oft wie möglich dergleichen auf: 
geführt wurde. Der Zufall Half ihm dabei. Der Tod des 
nahe verwandten Königs Sigismund von Polen wurde Beran- 
faffung zu prunfenden Erequien am 6. Mai in der Domlirche. 
Daran betheiligten fich die anweſenden protejtantifchen Kurfürften. 
Unfer Tagebuch wird hier ganz feinem jonjtigen gemäßigten 
Stile untreu. E3 kann nicht derbe Worte genug finden, um dieſe 
weibifche Feigheit zu brandmarfen. Was den Grafen noch be: 
jonders kränkte, war, daß auch die Landgräfin Chriftine von Hefjen 
wie eine „Taube“ unter „Krähen“ dabei zugegen war. Obgleich 
fie als Tochter des ftreng katholiſchen Herzogs von Sachſen, 
aber auch nicht weniger als Gemahlin des protejtantifchen Land- 
grafen feine Urjache Hatte, die neue Lehre für joviel bejjer 
in ihren Früchten zu halten als die alte, jo gehörte fie doch 
zu ihren eifrigften und treueften Anhängerinnen. Der römijche 
König Ferdinand Hatte jelbjt einige hohe Hefjen zu ihr gejandt 
und hatte bei ihr die Einladung zu diefer katholischen eier 
auf eine Art angebracht, daß fie nicht wohl anders fonnte, als 
ihr Folge zu leijten, obgleich fie e8 mit den jchweriten Gewiljens- 
qualen that. Aber wenn fie fich nicht gänzlich alle Hoffnung 
auf einen Erfolg des heiligen Werkes, das fie fich zu ihrer 
nunmehr einzigen Lebensaufgabe gemacht hatte, der Befreiung 
ihres Gemahls, abjchneiden wollte, jo durfte fie den Kaijer und 
jeinen Bruder nicht durch eine Ablehnung beleidigen. Dieje 
Gewifjensangft war eben auch ein Stüd der jchweren Dornen: 
frone des Martyriums, welches die Fürftin zu tragen Hatte. 
„Unglaublihe Geduld“ rühmte Graf Wolrad als die größte 
ihrer Tugenden. Die hatte fie in ihrer Ehe auch in glücklichen 
Tagen zur Genüge erproben fünnen, — man denfe nur an Die 
angetraute Nebenfrau, die fie ihrem Gatten zugejtehen mußte —, 
um wieviel mehr aber jetzt, wo fie, alles vergefjend, nur für jeine 
(639) 


48 





Befreiung lebte und auch ftarb. Denn ihr Tod, der jchon im 
nächſten Jahre erfolgte, hatte feine andere Urſache, als die 
übermäßigen förperlihen Anftrengungen und die Geelenleiden, 
die mit ihrer troftlojen Aufgabe ungertrenulich verbunden waren. 
Wo fie auch Hinblidte und die Hand nad Hülfe augftredte, 
fand fie feindliche oder kalte Gefichter und Herzen. hr 
eigener Schwiegerjohn Moritz von Sachſen that wohl ungefähr 
jo viel, als er Schande halber nicht laſſen durfte, aber dus 
war jehr wenig und fruchtete gar nichts. Ihr Gemahl quölte 
fie nach feiner jelbftjüchtigen Art mit fortwährendem Drängen 
um Hülfe. Er jtellte ſich womöglich noch unglüdficher über 
jein Leiden, al3 es ihm zu Muthe war, oder als er dag Recht 
hatte zu fein, nur um nad der Weile jolcher Charaktere den 
andern zu verzweifelter Ueberjpannung jeiner Kräfte zu treiben. 
Man kann fich denken, was fie bei den Berichten von den groben 
und höhnischen Ungebührlichkeiten feiner jpanischen Wache, denen 
er Tag und Nacht ausgejebt war, empfand, oder als fich das 
Gerücht verbreitete, er jei aus Verzweiflung über feine Leiden 
in Wahnfinn verfallen. 

Noch war das Gemiüth des deutjchen proteftantiichen Volkes 
zu jehr erfüllt von der befreienden und erhebenden Macht der 
neuen Lehre; es fühlte noch zu ſehr die Innerlichkeit des Evan 
geliums in ihrer ganzen Kraft, ald daß auf tem Wege, den 
der Kaiſer hier in Augsburg einjchlug, viele Profelyten für 
die alte Kirche gewonnen worden wären. Es bedurfte erit 
einer beträchtlichen Herabjtimmung der öffentlichen Geifter, bis 
die äußeren Formen des Fatholifchen Kultus wieder anders ala 
fremdartig und abjtoßend zu wirken vermochten. Dreißig Jahre 
jpäter war das deutſche Volk jo weit gelangt, und die natürliche 
Reaktion gegen jene bdoftrinär idealiftiichen Tendenzen des 
eigentlichen Neformationgzeitalter® machte ihr Necht geltend. 


Sejuiten und Kapuziner haben dann nicht ermangelt, den ihnen 
(640) 


49 





günftigen Umſchwung des öffentlichen Geiftes auszubeuten, und 
wenn auch ein großer Theil der Erfolge der jogenannten Gegen- 
reformation äußeren Gewaltmitteln zuzufchreiben ijt, jo wird 
man doch auch billigerweife zugeftehen müfjen, daß ein nicht 
unbeträchtlicher Theil derjelben aud) ohne äußere Gewalt erreicht 
worden ift. Wie man damals, zur Zeit der vollflommenjten 
Niederlage der protejtantiichen Sache, über diefen Punkt dachte, 
Ipricht unſer Tagebuch überall aus. 

Nachdem das Interim am 15. Mai publizirt worden war, 
begann eine neue Reihe von Beängjtigungen und Demüthigungen 
für den Rath der Stadt Augsburg. Gerade hier konnte der 
Kaijer natürlich am wenigiten geftatten, daß man das Produkt 
feiner flugen Staatskunſt als todtgeboren behandelte, und 
die ſtädtiſche Obrigfeit hätte ihm gern den Willen gethan, wenn 
ſich nur unter den Geiftlichen und dem Volke ein nicht zu heftiger 
Widerftand fundgegeben hätte. Erjt nad) der Entlafjung des 
angejehenjten Prediger der Stadt und grimmigften Gegnerd der 
neuen Befenntnißform, Dr. Wolfgang Musculus, waren dem 
Interim, wenigitend in Wugsburg, die Wege geebnet. Die 
übrigen Kollegen des geiftlihen Minijteriums machten zwar 
ihrem Haupte feine Schande, doc hielt es micht jo jchwer, 
nachdem man einmal den Schlag gegen diejes glücklich geführt 
hatte, auc) fie nach und nach zu bejeitigen, und das Interim 
berrichte jet bis ins Frühjahr 1552 in den veränderten Gottes- 
häuſern der Stadt, von welcher dag gemeinjame Bekenntniß 
aller Anhänger des gereinigten Evangeliums den Namen trug. 
So war ihr der „geharnifchte und pompöfifche Reichstag” theuer 
genug zu jtehen gefommen: er hatte die religiöje und zugleich 
auch die politische Freiheit gefoftet, viel mehr ald dem armen 
Waldeder Grafen, defjen Geldbeutel wohl auch ſchwer gelitten 
hatte, dejfen Gewiffen und Ehre aber rein geblieben waren, 
auch in jener böjen Stunde, wo er vor dem „allergnädigjten” 
Kaijer auf den Knien gelegen hatte. 


— —— —— — — — 
Sammlung. N. F. XIII. 305. 4 (641) 


Julius Sturm, 


Von 


Dr. Ferdinand Hoffmann, 


Profeffor in Gera. 


— ⸗ · ⸗ñ⸗ 


Hamburg. 
Berlagsanjtalt und Druderei W.-G. (vormals 3. F. Richter), 
Königlihe Hofbuchdruderei. 
1898. 


Das Recht der Ueberjegung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 


Drud der Berlagsanftait und Druckerei Actien ⸗Geſellſchaft 
(vormals I. F. Richter) in Hamburg, Königliche Hofbuchbrudere:. 


Gott grüße did). 
Gott grüße dich! Kein and'rer Gruß 
Gleicht dem an Innigleit. 
Gott grüße dih! Kein and’rer Gruß 
Baht jo zu aller Beit. 


Gott grühe dih! Wenn biefer Gruß 
So redht von Herzen geht, 
Gilt bei dem lieben Gott der Gruß 
Soviel wie ein Gebet. 
Julius Sturm. 


In ſeinem 1858 erſchienenen Buche „Galerie berühmter 
und merkwürdiger Reußenländer“ klagt der Verfaſſer Eduard 
Heyden, daß „das ſchöne Reußenland im großen und weiten 
Deutſchland nicht in dem Maße gekannt und geſchätzt werde, 
als es gekannt und geſchätzt zu werden verdient“, und er ſucht 
daher durch die Herausgabe ſeiner Galerie „ſeine alte Heimath 
zu verherrlichen“. Gewiß ein verdienſtliches und dankenswerthes 
Unternehmen, und Heyden wird ſich nicht in der Erwartung 
getäuſcht haben, „daß jeine Galerie von der großen Mehrzahl 
feiner Landsleute — vom Fürftenthrone bis herab zur Hütte 
des Landmannes — nicht ungünstig werde aufgenommen werden“; 
denn jeder Reuße und Neußenländer wird mit freude und 
Stolz gelejen Haben, wie viele bedeutende Männer aus dem 
fleinen Reußenlande hervorgegangen find oder in ihm gewirkt 
haben. Aber der Lejerfreis des Buches wird fi) doch im 
wejentlichen auf das Reußenland bejchränft haben. 

Und doch hätte das Buch verdient, auc) im übrigen Deutſch— 


land gekannt und gelefen zu werden. Oder welchen Deutjchen 
Sammlung. ®. 5. XIII. 306. 1* (645) 


4 


jollte e8 nicht interejfiren, daß Heinrich Schüß, der erjte 
deutjche Opernfomponift,! Karl Neumann,? der Dichter des 
befannten und vielgefungenen Studentenliedes „Vom hoh'n 
Olymp herab ward uns die Freude”, Heinrich Alberti,? 
der Dichter und Komponiſt des bekannten Kirchenliedes „Gott 
des Himmels und der Erden“, Johann Friedrich Böttiger, 
der Erfinder des Porzellans, und der berühmte Orgel- und 
Initrumentenbauer Friederici, defjen Flügel feiner Zeit in 
ganz Deutjchland verbreitet waren,* entweder dem NReußenlande 
entitammten oder in ihm gelebt haben? 

Ein ganz befonderes und bleibendes Verdieuſt aber hat ſich 
Heyden in jeiner „Galerie“ dadurch erworben, daß er zuerit 
auf den Mann hingewiejen hat, der e3 vor allen verdient, daß 
er nicht allein im Neußenlande gefannt und verehrt wird, 
jondern „jo weit die deutjche Zunge klingt“. Diejer Mann it 
SZulius Sturm, der Dichter der „frommen Lieder”, der Sänger 
der Natur, der Heimath und des Vaterlandes. Er jelbit it 
nicht mehr unter den Lebenden, am 2. Mai 1896 Hat ihn der 
Tod von feinen jahrelangen ſchweren Leiden erlöft, aber feine 
Werfe bleiben und werden bleiben, wo man fie gefannt und 
liebgewormen hat. | 

Demnacd) dürfte ich wohl gerechtfertigt erjcheinen, wenn ic) 
e3 auf den folgenden Blättern unternehme, ein kurzes Lebens. 
bild des Dichterd zu entwerfen und eine gedrängte Weberficht 
über fein reiches dichteriiches Schaffen zu geben, um das Inter: 
eſſe für jeine zahlreichen geiftlihen und weltlichen Dichtungen 
aufzufriichen und, wenn möglich, auch in weiteren Kreifen zu 
erweden, denen fie noch unbefannt geblieben fein jollten. 

Sulius Sturm wurde am 21. Juli 1816 in Köftrig ge 
boren und verlebte dajelbjt im Kreiſe feiner Geſchwiſter eine 
fröhliche Kindheit. „Wir waren fünf Brüder — ein tolles 
Völkchen,“ jagt er jelbjt, „das in voller Freiheit in der Natur 


(646) 


5 

unter dem hütenden Auge treuer Liebe aufwuchs. Grimms 
Märchen und des Knaben Wunderhorn waren die erſten Bücher, 
welche mir mein Vater zur Erholungslektüre in die Hand gab 
— nach und nach die Klaſſiker, aber in gemeſſenen und meiner 
Ungeduld oft zu lange währenden Pauſen. Ich war flatter— 
haft, entſinne mich jedoch, frühzeitig ſchon eine gewiſſe Gedanken— 
ſelbſtändigkeit gehabt zu haben, die mir oft als Widerſpenſtig— 
keit ausgelegt wurde.“ Dieſer ſeiner heiteren und glücklichen 
Jugendzeit gedenkt der Dichter beſonders in dem Gedichte „An 
meine Heimath. Köſtritz, den 30. November 1881”: 


D meine liebe, traute Heimath du! 

Wo mich der Mutter treuer Arm ummwand, 

Ich gehen lernt’ an ihrer lieben Hand, 

Der Bater oft mich freundfi hob aufs Pferd, 
Die Märchen mid) umblüht am ftillen Herd 
Und mir ein Lied jang müde Augen zu, 

Bis janft die Mutter jprah: „Nun jchlafe du.” 


D meine liebe, traute Heimath du! 

Wo ih noch frei gleich einem Vöglein war, 

Die Flur durchſchweift mit meiner Brüder Schar; 
Wo mir zu hoch fein Apfel hing am Baum 

Und ich, gelagert an des Baches Saum, 

Dem Spiel der Wellen lüſtern jchaute zu, 

Bis ih vom Fuß geftreift die läſt'gen Schuh'. 


Sturms Vater, ein ftattliher Mann von fledenlojem Cha- 
after und von hoher allgemeiner Bildung, war urjprünglid) 
Theologe; als er aber zum Erzieher des jpäteren Fürſten 
Heinrich LXIV. von Reuß-Köftrig berufen worden war und mit 
diefem die Univerfität bejuchte, ftudirte er Kameralwifjenjchaft 
und trat dann als Rath in die Dienfte des Fürjten. „In Ber: 
bindung mit der liebreichen Mutter,” jagt Heyden, „übte diejer 
gediegene und firchlich gelinnte Mann, der über jeinem Arbeits» 


tiiche ein Blatt mit dem Spruche hängen hatte: 
(647) 


6 


Was du nicht Haft, o Menſch, das wünſcheſt dur. 
Und was du haft, verlierft du drüber, — Ruh’. 


den heilfamjten Einfluß auf den Sohn. Vom Vater ging auch 
die Verehrung für Goethes Gedichte auf unjeren Dichter über, 
der er in dem Gedichte „Goethes Lieder“ Ausdruck verliehen hat 


Wieder, immer wieder, 
Ruh'n in meinen Händen 
Goethe, deine Lieder, 
Und id fann nicht enden. 


So nur angezogen 

Fühl' ich mich zu Taufchen, 
Wenn nah Sturm die Wogen 
Sanft am Ufer raujchen. 


Wie groß aber bejonders der Einfluß der Mutter auf 
den Sohn war, der nad) dem Tode des Gatten — er ftarb 
bereit3, al3 Julius Sturm dreizehn Jahre alt war — die Er: 
ziehung allein oblag, geht aus dem Gedichte „Mutterliebe” 


hervor: ? 
Bin ich der Liebe eingedenf, 
Die mir mein Mütterlein erwiejen, 
Dann find es Thränen inn’gen Dants, 
Die aus den Augen ftill mir fließen. 


Gie war bemüht, ins off'ne Herz 
Den beiten Samen mir zu ftreuen, 
Und freute fi, jo oft fie jah 

Die jungen Saaten fröhlich ſprießen. 


Wenn Unkraut jih dazwiſchen fand, 
War fie bedacht, e8 auszureuten 

Mit Huger Hand, und lieh dabei 
Geduld und Müh' fich nicht verdriegen. 


So wuchs id auf und ward ein Mann, 
Und liebend ftand mir ſtets zur Seite 
Die greije Mutter, die dem Sohn 


Als treufte Freundin fich bemwiejen. 
(648) 


=] 


Nie fehlte mir ihr weiler Rath, 

Sie wußte mid im Leid zu tröjten, 
Und nur in einem nidt, als id) 

Das Grab jah über ihr fich ſchließen. 


Ebenjo ſpricht der Dichter feine innige Verehrung für jeine 
Mutter aus in dem Gedichte „Mein Schreibjejjel” :* 


Nur ein Geräth wählt’ ich mir aus 
Aus meiner lieben Eltern Haus, 

Ein Seſſel iſt's, ein ſchmucklos Stüd, 
Des Trödlers Fuß ftieh ihn zurüd. 


Doch ſaß auf ihm tagaus, tagein 
Viel Jahre fang mein Mütterlein, 
Bald lähelnd und bald ſorgenbleich, 
Dod immerdar an Liebe reich). 


Drum halt’ ich ihn auch Hoch und mwerth, 
Doh nicht, wie man ein PBrunkftüd ehrt; 
Er dient mir redlich Tag für Tag, 

Db Freud’, ob Leid mir fommen mag. 


Du mwerthes Stüd in meinem Haus, 

Du lieber Sefjel, halt nur aus 

Noh eine Spanne Zeit mit mir, 

Bis ich zerfallen darf mit dir — u. ſ. w. 


Im Jahre 1829 fam Julius Sturm auf das Gymnafium 
in Gera und blieb dort bis zum Jahre 1837, denn nach dem 
Tode des Vaters jorgte der Fürft aufs freigebigjte für die fünf 
Hinterlafjenen Söhne, und fo war es auch möglich, daß Julius 
vier Jahre in Jena Theologie jtudirte und dabei feinen dichte: 
riihen Neigungen Raum lafjen Fonnte, die jchon früher durch 
den Bater, der, wie wir jahen, ein großer Verehrer Goethes 
war, ferner „durch die guitarrejpielende Mutter und eine alte 
Märchentante” gewedt worden waren. 

Diejen dichterifchen Neigungen dürfen wir es auch wohl 
zufchreiben, daß Sturm nicht in das Fahrwaffer einer theologischen 


(649) 


8 

Schule gerieih und fich freihielt von der „rabies theologorum,“® 
die jich, wie Zuppfe!° jagt, „wie Mehlthau auf den Blüthen: 
duft chrijtlicher Frömmigkeit legt.” Nein, jo jehr er auch feinen 
Univerfitätslehrern ein dankbares Gedächtniß bewahrt Hat, jo 
hielt er fich doch ebenjo fern von allem religiöfen Eifer wie 
von augenverdreherifcher Heuchelei, dagegen ließ er fich von 
Gottes Geiſt treiben und gab feinen Gefühlen in herrlichiter 
Weile Ausdrud, fih und der Menjchheit zum Segen. Mit 
Recht konnte daher Sturm von fich jagen: 


In Mönderei und Muderei 
Sudt’ ih nie meinen Ruhm, 
Und nie hing ich der Heuchelei 
Beliebten Mantel um. 


Hab’ nie ein feinftudirt Gejicht 
Dem Markt zur Schau geitellt, 
Mit eitlen Heuchelworten nicht 
Geflunkert vor der Welt. 


Der eignen Würde mir bewußt, 
Gilt gleih mir Lob und Spott, 
Denn in den Tiefen meiner Bruft 
Wohnt der lebend’ge Gott. 


Und werth gilt mir nur jeine Gunft, 
Und nicht der Welt Gejchrei; 

Nur ihm verdanf ih meine Kunft, 
Und meine Kunft ift frei. 


Ich bin die Harfe, die erbebt, 
Wenn er fie tönen heißt, 

Und was in meinem Liebe lebt, 
Sit Geift von feinem Geift. 


Nachdem Sturm feine Studien auf der Univerfität beendigt 
hatte, führte ihn der Wunjch, Süddeutjchland kennen zu Iernen, 
zwei Jahre als Hauslehrer nach Heilbromm. Auf feinen Aus» 


flügen bejuchte er einige Male Juſtinus Kerner, den wunder. 
(650) 


9 
lichen Mann, der jo behäbig ausjah und dennoch ſtets von 
Schmerz jang und ſprach, der an feine Geifter glaubte und doch 
darüber lachen fonnte, — über den Viele lächelten und den doc) 
Alle liebten. Auch mit Lenau fam er in Berührung, und über 
eine Begegnung mit diejem berichtet er jelbjt Folgendes: !? 

„Ein Nachmittag, den ich mit ihm in Heilbronn verbradt, 
wird mir unvergeßlich bleiben. Er trug ein zierliches Mützchen 
auf dem Kopfe und einen gewaltigen Rojenftrauß in der Hand, 
und dabei dampfte er dermaßen, daß fein Geficht wie mit einer 
Wolfe von Tabakrauch umhüllt erſchien. Wir ſetzten uns zu 
einem Schoppen, — er erzählte mir von feiner Reiſe nad) 
Amerika, von feinem Studium der Kirchenväter, — und plößlic) 
fi) mit einer nervöfen Haft mir zumendend und mich ftarr an: 
blidend, fragte er mich, ob ich verheirathet jei. Ich mußte 
lachen und erwiderte, daß es noch nicht Mode fei, daß ein 
Kandidat fich verheirathe. Nun wollte er wiſſen, ob ich wenigjtens 
verlobt jei; aber auch das mußte ich verneinen, geftand ihm 
aber, daß mein Herz gefangen wäre. Nun forderte der jonder: 
bare Mann von mir nicht allein das Verfprechen, ſondern aud) 
einen Handjchlag, daß ich mich jo bald als nur irgend thunlich 
verheirathen würde. Freudig leijtete ich das geforderte Ver: 
Iprechen, konnte jedoch nicht umhin, ihn zu fragen, warum er 
jelbjt den Rath, den er Anderen gebe, nicht befolge. Er jah 
mich mit feinen dunklen, wunderbar jchönen Augen wehmüthig 
an und jagte traurig: ‚Es ift zu ſpät — zu ſpät, ich hab’ 
mich um die jchönjten Freuden des Lebens ſelbſt gebracht — es 
ijt zu jpät.‘“ 

Nach einem weiteren Hauslehrerjahre in der Familie des 
Herren von Metzſch auf riefen im Königreich Sachen wurde 
Sturm die Erziehung des Erbpringen von Reuß j. 2., des jebt 
regierenden Fürſten Heinrich XIV., übertragen. Nachdem er 
denjelben bis zur Konfirmation jelbit unterrichtet Hatte, begleitete 


(651) 


10 


er ihn auf die Gymnafien in Schleiz und Meiningen. Ueber 
den Erfolg der Thätigfeit Sturms als Erzieher jagt Zuppfe 
jehr treffend: „Wenn die Bewohner des Neußenlandes ihren 
gerechten und milden Fürften preien, wenn man ohne Ueber: 
treibung behaupten fanı, daß fie ein unbedingtes Zutranen zu 
ihm haben, und wenn ihn ein durch und durch deuticher Sinn 
auszeichnet, jo ift das nicht zum mindejten eine Frucht der 
Saat, welhe Julius Sturm in jungen Jahren gejtreut.“ 

Für den Dichter jelbjt aber waren die jech$ heiteren, "jorgen 
freien Jahre, die er mit feinem hohen, „jo reich an Herz und 
Geiſt begabten” Zögling teils in Schleiz, theil3 in Meiningen 
verlebte, in doppeltem Sinne wichtig und bedeutjam. Er ver: 
tiefte einerjeit3 im Verkehr mit dem Oberhofprediger Adermann, 
der ihn auch zur Beichäftigung mit Hegelicher Philoſophie ver- 
anlafte, den von den Eltern ererbten und in Heilbronn gefür- 
derten Chrijtenglauben, andererſeits erhielt er im Umgang mit 
bedeutenden und befreundeten Männern neue Anregung zum 
Dichten, und viele geiftliche und weltliche Lieder find dort ent: 
itanden oder haben ihre Vollendung erfahren. Bon Meiningen 
ging dann auch auf das Drängen der Freunde die erjte Samm— 
fung derjelben nad) Leipzig ab, wo fie,1850 unter dem Titel 
„Gedichte“ erjchien. 

In demjelben Jahre wurde Sturm zum Bajtor in Göſchitz 
bei Schleiz ernannt und verheirathete fi am 21. Januar 1851 
mit der ältejten Tochter feines Oheims (mütterlicherjeits), des 
Kirchenrathes Dr. Schottin in Köftrig, die ihm jedoch jchon 
nad) einjähriger, höchſt glüdlicher Ehe, acht Tage nach der 
Geburt eine® Sohnes, gerade am Jahrestage jeiner Hochzeit 
dur den Tod entrifjen wurde. 

Sn feinem herben Schmerze fuchte und fand Sturm Troſt 
und Beruhigung in feinem Glauben und im Dichten, und es 


entitand damals eine ganze Reihe von Gedichten, die 1852 unter 
652) 


11 


dem Titel „Fromme Lieder“ erſchienen. Viele von dieſen ſtehen 
jetzt in dem Bande, der 1892 in 6. Auflage bei Brockhaus als 
„Gedichte“ erſchienen iſt, S. 92—108. Wie ergreifend iſt 3.8. 
in dem „Bitte“ überjchriebenen Sonnett der Tod der Gattin: "? 


Als um das Kindlein fi dein Arm geichlofjen 
Und als es tranf an deiner Bruft in Frieden, 
Da ſprachſt du betend: „Möge Gott hienieden 
In jeiner Gnade Schein dich laſſen ſproſſen.“ 


Dann riefft du aus, und Freudenthränen floſſen: 
„Das höchſte Glück hat und der Herr beichieden, 
Was kann das Leben uns noch Schön’res bieten ? 
Zur reichſten Blüthe hat es ſich erſchloſſen!“ 

Da, leiſe, leiie fam der Tod gegangen 

Und küßte dich auf deine blüh'nden Wangen, — 
Sch ftand allein mit mutterlofem Kinde. 


D, bitte Gott um Segen für und Beide, 
Daß ich getroft voran dem Knaben jchreite 
Und er dur) mic) den Weg zur Mutter finde. 


Wie und wo er in feinem Schmerze Troft juchte und fand, 
zeigt das Gedicht „Wer bringt Kunde?“ : 13 


Wer bringt mir Kunde von der Sel’gen Land, 
In das mein Lieb ging an des Todes Hand? 
Das Böglein ſprach: „Wohl flieg’ ich himmelan, 
Doh höher nicht als bis zum Wolkenrand.“ 
Die Wolke ſprach: Der Wind geht über mir, 
Der an die Tiefe nicht gleich mir gebannt.“ 
Der Wind antwortete: „Ich kenn’ es nicht, 

Der hohen Sonne ift’3 vielleicht bekannt.“ 


Die Sonne drauf: „Wohl ift mir vieles fund, 
Doc jah mein Auge nie den fernen Strand.“ 


Da merkt’ ich plöglich, daß zur Seite mir 
Mit ernftem Blick ein lichter Engel ftand. 


Sch wollt’ ihn fragen, doch er winkte ſtumm 
Und reichte mir die Bibel und verſchwand. 
(653) 


12 


Die Kraft, die Sturm diefen harten Schlag muthig er: 
tragen ließ, hielt ihn auch das ganze Jahr 1852 trotz der 
ihweren Prüfungen aufrecht, die unausgejegt, Schlag auf 
Schlag, über ihn famen. „Nach dem Tode feiner rau lag 
einer feiner Brüder am Tode, dann erfranfte jein Kind, und 
ihn jelbit überfiel ein böjes Leberleiden; bald erkrankte feine 
Tante, die treue Pflegerin jeines Kindes, auf den Tod. ALS 
Diefe faum genejen war, brachte die nun zur Pflege und Hülfe 
herbeigeeilte Schwiegermutter eine Qungenentzündung dem Tode 
nahe, während zu gleicher Zeit der Schwiegervater in Köftrig 
am Tode lag, und endlich erkrankte Sturm jelbjt noch einmal.” 
Aber fein Muth verließ ihm nicht, ſondern feinem Herzen ent- 
ftrömte der fromme Sang „Ich halte jtill”:'* 


Gott hat des Schmerzes heiße Flammen 
In meinem Innern angejchürt, 

Und jchmerzlich zudt mein Herz zufammen 
Und zittert, von der Gluth berührt. 

Ach aber ſpreche: Wie Gott will! 

Ih halte jeinem Feuer jtill. 


Er fommt und eilt, mein Herz zu legen 
Auf harten Ambos, denn gemillt 

Zit er, mit ſeines Hammers Schlägen 
Zu jhmieden fi jein Ebenbild. 

Ich aber ſpreche: Wie Gott will! 

Und halte feinen Schlägen ftill. 


Er hält mein Herz in feinen Händen, 
Er jchlägt es, daß die Funken jprühn, 
Er eilt, es hin und ber zu wenden 
Und läßt's erfalten und erglühn. 

Sch aber jprehe: Wie Gott will! 
Und halte jeinen Händen ftill. 


Was frommte mir ein eitles Grämen? 

Es hielt’ die Noth nur länger an; 

Sie fanı und wird ein Ende nehmeıt, 

Wenn Gott an mir jein Werf gethan. 
(654) 


13 


Drum jpredh’ ich gläubig: Wie Gott will! 
Und Halt’ ihm bis ans Ende ftill. 


Er jhürt ja nur zu meinem Frommen 
Der Schmerzen wilden Feuerbrand, 

Und die gewicht’gen Schläge fommen 
Bon einer fihern Meifterhand. 

Drum ſprech' ich betend: Wie Gott will! 
Und hoff auf ihn und dulde ftill. 


Ein neues Glück erblühte dem Dichter, als ihm am 1. No: 
vember 1853 die jüngere Schwejter jeiner verftorbenen Gattin 
die Hand zum Ehebunde reichte und feinem Söhnlein die ver: 
lorerie Mutter erjegte. Sturm fühlte ſich zu neuem Schaffen 
angeregt, und noch im Pfarrhauſe von Göſchitz-entſtand die 
Liederfjammlung „Zwei Roſen oder das hohe Lied der Liebe.“ 
Sie erſchien 1854 in erfter und 1892 in zweiter Auflage. 

Als im Jahre 1857 jein Schwiegervater jein Amt nieder: 
legte, übernahm es Sturm und fiedelte ald Pfarrer nad) feinem 
Geburtsorte Köjtrig über, wo er achtundzwanzig Jahre lang in 
Segen wirfte. 

Für jeine Lieder, die er während des großen Krieges von 
1870 und 71 dichtete und worin er an den Creignifien des: 
jelben innigen Antheil nahm, wurde der patriotiihe Sänger 
von dem verftorbenen Großherzog von Mecktenburg mit der 
goldenen Medaille für Kunft und Wiffenjchaft geehrt. Zum 
Friedensſchluß dichtete Sturm eine Friedenshymne, die von dent 
Kapellmeijter Fr. W. Kücken in Mufit gejegt wurde. Kaiſer 
Wilhelm I. nahm die Widmung derjelben gnädig an und der 
Kaijer wurde bei feinem Beſuch in Schwerin von vierhundert 
Sängern mit diejer Hymne begrüßt. 

Auch als Pfarrer von Köjtrig Hatte er mit mancherlei 
Leid zu kämpfen. Er jagt darüber jelbjt: „Als Pfarrer von 
Köftrig lag ich mehrere Tage am Tode; Scharlachfieber Hatte 


(655) 


14 


mich befallen. Die Folge war ein fünf, jage fünf Jahre lang 
dauernder heftiger Magenfatarrh. Kein Bad, fein Arzt brachte 
Hülfe. Endlich) wurde fie mir doch durch Gottes Gnade zu 
Theil. Während dieſer jchweren Zeit habe ich immer mein 
umfangreiches Amt verwaltet, freilich oft unter Seufzen. Daun 
befam ich infolge allzuvielen Predigens eine Stimmbandlähmung 
und Kehlfopfentzindung. Dieje führte mic einigemal nad) 
Ems, wo id) die Stimme wiedergewann. Darnad) überfiel mich 
ein jchmerzhaftes Leiden, und an diejem leide ich noh (März 
1896).” 

Als Julius Sturm am 1. Oftober 1885 in den wohl. 
verdienten Ruheſtand trat, ehrte ihn jein ehemaliger Zögling, 
Fürſt Heinrich XIV., durch die Verleihung der Würde eines 
Geheimen Kirchenrathes und des goldenen Verdienſtkreuzes, feine 
dankbare Gemeinde Köftrig aber ernaunte ihn zum Ehrenbürger. 
Eine weitere Auszeichnung wurde dem Dichter im März 1893 
zu Theil, indem ihn die theologische Fakultät in Halle zum 
Doktor. der Theologie ernannte. „Diefe Ehre wurde mir uns 
gelehrten Theologen ald Dichter religiöjer Lieder zu Theil,“ jo 
chrieb Sturm jelbjt über diefe Ehrung. 

Auch nad) feinem Eintritt in den Ruheſtand lebte Sturm 
in Köftrig trotz jeiner körperlichen Schwäche in ungejhwächter 
geiftiger Kraft und Friſche und ungeminderter Luft zu Dichte» 
riſchem Schaffen, jo daß er wohl von ſich jagen konnte in dem 
Gedihte „Ewige Jugend” :'? 

sung wollt’ ich bleiben, 
Ich Hab’ es erreicht, 


Ob mir aud die Jahre 
Die Locken gebleicht. 


Bin ewiger Jugend 

Mir fröhlich bewußt, 
Denn Göttliches nähr' ich 
In irdiſcher Bruſt. 


15 


Wie lang’ ich noch wand're, 
Drum jorg’ ich nicht viel, 
Mein Führer geleiter 

Mich fiher ans Ziel. 


Mein Ziel Tiegt body oben, 
Der Erde entrüdt, 
Und dort werd’ ich finden 
Was ewig beglüdt. 

Dieje Kraft und Schaffenstuft ift um jo mehr zu bewundern, 
als Sturm gerade in den legten Jahren vielfach von Krankheit 
heimgejucht wurde; denn er jagt ſelbſt von fich: „Ich Habe jeit 
nun dreißig Jahren wenig gefunde Tage gehabt, — feit zwölf 
Wochen jchwebt bei mir die Waage auf und ab zwijchen Leben 
und Sterben, und oft habe ich den Tod als Erlöfer von unfag- 
baren Schmerzen herbeigejehnt.“ 

„Als Mitte April,“ jo berichtet Hepding,'® „jeine Leiden 
den höchſten Grad erreicht hatten, wurde feiner bejorgten Familie 
aus dem Munde eines bedeutenden Arztes die Mittheilung 
gemacht, daß es eine neue, bis jet ungefannte feine Operation 
gäbe, die diefe Art Schmerzen nicht nur lindern, jondern im 
günftigiten Falle jogar heilen fünne, und es wurde ihr dann 
auf Anfrage auch von einem Profefjor in Leipzig diejelbe trojtvolle 
Ausficht eröffnet. So wurde denn mit unfäglicher Mühe die 
ichwere Reife nach Leipzig unternommen, die bei der Schwäche 
des Patienten faſt unmöglich ſchien. Die Operation gelang, die 
Wunde war geheilt, troßdem befjerte ſich der Zujtand nicht, Die 
Kräfte ſanken täglich) und die Schmerzen hatten eine andere, 
aber ebenjo fchwere Geftalt angenommen. Die geliebte Gattin 
nebit Schwiegertochter aus Gera pflegten ihren thenren Kranken 
aufs zärtlichjte und hofften von einem Tage zum anderen. Am 
Sonnabend, den 2. Mai, famen voller Hoffnung der ältejte 
Cohn August (Rechtsanwalt) und jeine Frau aus Naumburg 
zum Befuche, gerade noch recht, um nad) einem abermaligen 


(65 


16 





Schmerzanfalle den theuren Vater in den Armen der Mutter 
jterben zu ſehen“. So hatte fich erfüllt, was der Dichter jelbft 
jo tiefergreifend ausgejprochen hat in dem Gedichte „Wie 
lange noch?” 


Wie lange noh? Ein letter Hauch, und dann? 
Die Meinen jtehen trauernd um mic) ber, 

Die Augen feucht, das Herz von Kummer Icdhwer, 
Ad) aber liege da, ein ftiller Mann. 


Vergeſſen ift, was ih an Glüd gewann, 

Dod fühl’ ih aud von Schmerz und Leid nichts mehr, 
Und nichts von Sorge, Mühen und Beichwer; 

Des flücht'gen Lebens flücht'ger Traum zerrann. 


Man trägt mid fort. Der braune Sarg fiel zu. 
D, wie man doch jo leicht zum Grabe reijt! 
Ih bin am Biel. Man fenkt mich ein zur Ruh. 


Die Schollen rollen auf den Sarg hinab. 
Der Staub zum Staub! Zu Gott zurüd der Geift! 
Still neben andern Gräbern liegt mein Grab. 


Seine letzte Ruheſtätte fand der Dichter in jeinem Geburts: 
orte Köftriß; „in liebevoller Pietät juchte ihm feine alte, Tiebe 
Gemeinde das ſchönſte Bläschen auf ihrem Gottesader aus, wo 
er unter zwei großen, malerischen XTrauerweiden, zu denen Die 
hohen Bäume des nahen Parkes ihre Trauermelodien herüber 
rauschen und die Vögel, die er jo jehr liebte, ihre „alten, Lieben 
Lieder” herübertönen lafjen, janft gebettet ruft. Am Begräbnih- 
tage waren Taujende von nah und fern berbeigeeilt, um den 
Dichter noch im Tode zu ehren, auch Fürſt Heinrich XIV., 
Sturm3 ehemaliger Zögling, und der Erbprinz nahmen mit 
Gefolge tiefergriffen an der Trauerfeier theil. Fürſt Heinrich 
ehrte aber jeinen Lehrer und Freund auch noch im Tode, indem 
er ihm von der geichidten Hand unjeres talentvollen jungen 
Landsmannes, des Bildhauer Günther, auf jeinem Grabe ein 


(658) 


a 


Denkmal jegen ließ, da8 am 28. November 1897 feierlich ent- 
hüllt wurde. Flankirt von zwei Trauerweiden, erhebt ſich ein 
halbfreisförmiger Sandjteinblod, in welchem die einem Gedichte 
Sturms entnommenen Worte eingegraben find: „Der Geiſt, der 
Gott entjtammt, kann nur mit Gott vergehen.” Der darüber 
befindliche Aufbau zeigt da8 Medaillonreliefbild des Verewigten 
in voller Zebenswahrheit. Unter diefem Bilde niet ein junges, 
lebensfriſches Mädchen, welches die Dichtkunſt verjinnbildlicht 
und in der rechten Hand die Leier, in der linfen ein Lorbeerreis 
hält. So bildet das Denkmal nicht nur eine prächtige Zierde 
des Köjtriger Friedhofes, jondern auch ein herrliches Zeugniß 
fürftliher Dankbarkeit, und wird auch an feinem Theile mit 
dazu beitragen, daß das Bild, daß der Geilt und die Lieder 
unjered Julius Sturm bier in feiner engeren Heimath wie im 
großen deutschen VBaterlande weiter leben bis in die ſpäteſten Tage. 


Wenn ich jebt dazu übergehe, eine Ueberſicht und Charafte- 
riftit der Dichtungen Sturms zu geben, jo bin ic) mir ber 
Schwierigkeiten dieſer Aufgabe jehr wohl bewußt. Julius Sturm 
war ein außerordentlich fruchtbarer Dichter, die Sangesluft Hat 
ihn von Jugend an begleitet und iſt ihm jelbjt im Alter noch 
treu geblieben; feine „legten Lieder” erjchienen nach feinem Tode, 
im Juli 1896, unter dem Titel „In Freud und Leid”, „Die 
Sammlung jollte,“ wie ein Vorwort jagt, „eine Gegengabe des 
Dichter für die Freunde fein, welche an feinem achtzigjten 
Geburtstage, dem 21. Juli 1896, feiner in Verehrung gedenfen 
würden.” Ohne auf Bollftändigkeit Anfpruch zu machen, nennen 
wir folgende Sammlungen: 

„Fromme Lieder” I. 1852; 2. Auflage 1893; II. 1858; 
4. Auflage 1892; III. 1892. — „Zwei NRofen oder das hohe 
Lied der Liebe“ 1854; 2. Auflage 1892. — „Sraelitifche 
Lieder” 3. Auflage 1881. — „Bon der Pilgerfahrt” 1868. — 


Sammlung. R. F. XIII. 306. 2 (659) 


18 


„Bott grüße dich.“ Religiöſe Gedichte 1876; 4. Auflage 1892. 
— „Aufwärts.“ Neue religiöfe Gedichte 1881. — „Ich bau’ 
auf Gott“ 1883. — „Dem Herrn mein Lied” 1884; dieſe 
beiden leßtgenannten Sammlungen find im Jahre 1888 noch 
einmal unter dem Titel „Palme und Krone” herausgegeben. — 
„Neue Harfenklänge für Israel” 1891. 

Aber Julius Sturm hat ſich nicht auf das Gebiet der 
geiftlichen Lyrik bejchränkt, fondern hat auch die verjchiedenen 
Arten weltlicher Lyrik mit Erfolg angebaut. Vorwiegend welt. 
lichen Inhalts find folgende Sammlungen: 

„Sedichte” 1352; 6. Auflage 1892. — „Neue Gedichte” 
2. Auflage 1880. — „Tür das Haus“ 1861. — „Lieder und 
Bilder“ 2 Theile 1870. — „Kampf und Siegesgedichte“ 1870. 
— „Spiegel der Zeit in Fabeln“ 1872. — „Märchen“ 1881. 
— „Immergrün.” Neue Lieder 1880; 2. Auflage 1888. — 
„Neues Fabelbuch“ 1881. — „Bud für meine Kinder“ 1888. 
— „Natur, Liebe, Vaterland” 1884. — „Bunte Blätter“ 1855. 
„Sinderlieder” 1894. — „Neue Iyriiche Gedichte” 1894. 

Bei diefer Fruchtbarkeit konnte nicht jedes Blatt eine 
„Wunderblüthe* fein, jagt Robert König.!" Julius Sturm war 
jelbft jehr weit davon entfernt, dag zu glauben, und Hat zu- 
weilen jelbit an eine Auswahl jeiner Gedichte gedacht, 
deren Herausgabe von berufener Hand ih im Inter- 
eije jeines Nachruhmes auch für ſehr wünjchens- 
werth halte. So jehr er fich über dem ihm gejpendeten Bei— 
fall freuen und jo unbefangen er das ausjprechen konnte, jo 
gering dachte er doc) von ſich. In liebenswürdiger Bejcheiden« 
heit vergleicht er einmal das Licht jeiner Dichtung „dem Lämpchen, 
welches das Kämmerlein erhellt, aber doch mandem müden 
Wandersmann den rechten Pfad gewiejen hat.“ 

Uber „wer vieles bringt, wird Manchem etwas bringen,” 


und jo wird Seiner, der Sturms Gedichte zur Hand nimmt, 
(660) 


19 


das Buch enttäufcht weglegen, ſondern fchöne und gemußreiche 
Stunden mit dem Dichter verleben und fein Gemüth beruhigt 
und erhoben fühlen; denn er bat in feinen zahlreichen Liedern 
alles bejungen, was in Liebe und Leid des Menjchen Herz 
bewegt. Dabei find die meiften feiner Gedichte furz; Sturm 


jagt jelbit: 


Nur ein Hauch ift oft mein Lied, 
Leiht vom Wind getragen; 
Worin jeine Macht beiteht, 

Wer vermagd zu jagen ? 


Ob es ſüße Quft erwedt, 
Schmerz in Schlaf geſungen, 
Lang' im Herzen hallt es nach, 
Wenn es längſt verklungen. 


Schon dies iſt ein entſchiedener Vorzug unſeres Dichters 
vor manchem anderen und ein Zeugniß für ſeine hohe Be— 
gabung, denn, wie er in dem Gedichte „Kritif” 1% jagt: 


Nicht weil’3 ihm an Gedanken fehlt, 
Sind feine Lieder Hein, 

Er drängt nur in begrenzte Form, 
Was ihn bewegt, hinein. 


Darin bewährt ſich jeine Kunft 
Und jeine Meifterjchaft, 

Daß er mit wen’gen Worten nur 
Die Herzen nimmt in Haft. 


So Mander jpinnt dem Seiler gleich, 
St erit das Rad im Gang, 

Den Faden aus Gedanfenwerg 
Unendlich dünn und lang. 


Ein noch größerer Vorzug liegt aber darin, daß feine Ge— 
dichte fämtlich einen edlen und vornehmen Charakter tragen; ber 
Dichter verjchmäht und vermeidet jeden gewöhnlichen, niederen 


2» (661) 


id 


Gedanken, jeden unfeinen Ausdrud, jede unjchöne Wendung, 
alle jeine Gedichte find von bewundernswerther Anmuth und 
Reinheit, und wer noch Sinn für das Edle, Hohe und Fdeale 
hat, der wird, je mehr er ſich mit Sturm bejchäftigt, den liebens- 
würdigen thüringijchen Sänger immer mehr jchägen und lieben 
lernen. So hat er der Fürſten Herz gewonnen und fo in feiner 
ungefünftelten Weife auch einen lebendigen Wiederhall im Herzen 
des ganzen Volkes erwedt, und jo werden feine Lieder fort- 
flingen bis in die fernſten Zeiten, denn 


Wer den Beiten jeiner Zeit genug gethan, 
Der hat gelebt für alle Zeiten. 


I. Die frommen Lieder. 


Als frommer Chrift und Prediger hat fih Sturm immer 
wieder in den ewig raufchenden, unerjchöpflihen Brunnen der 
heiligen Schrift vertieft, von dem er jelbjt jpricht in dem Ge- 
dichte „Der Duell der Offenbarung” : 1? 


Unaufhörlich raujcht ein Bronnen 
Rauſcht bei Tag und Nadıt, 

Hat, wie lang er auch geronnen, 
Nie jein Werk vollbracht. 


Immer neue Durft’ge fommen, 
Schöpfen mehr und mehr, 

Und doch Hab’ ich nie vernommen, 
Daß der Brunnen leer. 


Uber wenn er auch den Stoff und die Anregung zu feinen 
geiftlihen Dichtungen vorwiegend der heiligen Schrift entnommen 
bat, jo find fie doch durchaus felbjtändig und zugleich von 
hohem poetifchen Werthe. Zum Beweiſe führen wir nur das 
Gediht „Der Baum am Bache“ an, zu dem Sturm die An. 


regung dem erften Pſalm entnommen hat:?° 
(662) 


>] 


Wohl dem, der jeinem Gott vertraut 
Und fejt auf Jeſum Ehriftum jchaut 
In Freud’ und Drangjals Hitze, 
Nicht wandelt in Gottlojer Kath 
Und nicht betritt der Sünder Pfad 
Und flieht der Spötter Sitze. 


Sein liebjter Schaß, jein höchſter Hort 
Iſt Gottes Gnad’ in Ehrifti Wort, 
Die fann ihm nicht3 entreißen; 

Er redet von ihr Tag und Nacht 

Und kann der Liebe Wundermacht 
Dod nie genugjam preijen. 


Er gleiht dem Baum, am Bad) gepflanzt, 
Gemwurzelt tief und wohl umſchanzt, 
Sceut er niht Sturm und Wetter; 

Er jproßt und blühet und gedeiht, 

Trägt reihe Frucht zu jeiner Zeit 

Und ewig grüne Blätter. 


Und wuchs empor jein legter Zweig, 
Heißt Gott den Baum in jeinem Reich 
Am Strom des Lebens ftehen. 

Dod Sünder ohne Buß’ und Reu’ 
Wird Gottes Odem einft wie Spreu 
Bon ihrer Stätte wehen. 


Ebenjo meifterhaft in der Auffaffung und dichteriichen Aus 
führung find die Pjalmentöne über den 17., 20., 23., 27., 90., 
123. und 143. PBjalm. Von anderen Bibelftellen find noch 
behandelt: 2. Sam. 12 (Nathan vor David); Prediger Salom. 
1, 8; Lukas 15, 11 (Der verlorne Sohn); Jeremias 4, 3; 
Matthäus 11, 30; Ev. Joh. 3 (Hochzeit zu Kana); 10, 12 
(Der gute Hirt); 5, 17; 8, 12; Off. Ioh. 21; Phil. 3, 12 
(Nicht, daß ich's jchon ergriffen Hätte); Jakob. 3, 5 (Die Zunge 
ift ein Meines Glied); Je. 41, 10; Ev. Joh. 3, 11 und 3, 16; 
Eph. 5, 14 u.a. Ueberall berührt uns angenehm die Stille 


und Ruhe eines im Glauben wurzelnden, wahrhaft frommen 
(663) 


22 


und vor allem in Gott fröhlichen Gemüthes. Dies iſt am 
ihönften ausgefprochen in dem Gedichte über 1. Theſſ. 5, 16:?! 

Fröhlich, wenn Freude 

Sih uns enthüllt; 

Fröhlich im Leide 

Von Hoffnung erfüllt. 

Fröhlich in Sorgen, 

Kummer und Noth, 

Fröhlich im Sterben, 

Fröhlich im Tod. 


Welt, dir zum Trotze, 
Zweiflern zum Spott. 
Allezeit fröhlich, 
Fröhlich in Gott. 

Derſelbe Gedanke iſt auch behandelt in den Gedichten 
„Fröhlich“ (Fromme Lieder III, S. 98) und „Allezeit fröhlich“ 
(Fromme Lieder III, ©. 16). 

Der Bibel und zwar dem Hohen Liede Salomos ift aud) 
der Stoff und die Anregung entnommen für die „Zwei Rojen 
oder das hohe Lied der Liebe”. Das genannte biblijche Bud), 
deſſen Inhalt die Liebe, die Liebesjehnfucht und das Glüd der 
Liebe bildet, ijt nur darum in den Kanon des Alten Tejtamentes 
aufgenommen worden, weil man e3 jchon in ältejter Zeit alle: 
gorifch deutete und meinte, unter Salomo fei Gott oder der 
Meſſias und unter Sulamith Israel oder die gläubige Seele 
zu verjtehen. Seit Herder nimmt man jedoch allgemein an, 
daß es ein wirkliches Liebeslied ift. „Mit poetifcher Licenz,“ 
fagt Buppfe,®? „vertritt Sturm beide Anjchauungen: in der 
Noje Sarons jchließt er fi) an Herder an, in der Roſe Zions 
läßt er die altkirchliche Anſchauung zur Geltung kommen.“ Es 
jei erlaubt, aus beiden Theilen je ein Lied hierher zu jegen. 
In der Roje Sarons oder der „Braut Salomos” jpricht Salomo 
im 5. Liede zur Geliebten: 


(664) 


23 


Steh auf, o meine Freundin, fieh es lenzt, 
Bunt Hat mit Blumen fich die Flur befränzt. 


Die Sonne jpiegelt ji im blauen See 
Und aus dem Walde tritt das braune Reh. 


Bom Traum erwadht, würzt an des Uferd Saum 
Die füße Blüthenfrucht den Feigenbaum. 


Die Turteltaube girrt im Felsgeſtein 
Und auf den Hügeln duftet jchon der Wein. 


Doc fehlt dem Lenz die Tieblichite Geftalt, 
Weilt meine Taube noch im Feljenipalt. 


D laß mich hören deiner Stimme Ton! 
Bu mir! Es lenzt! Der Winter ift entjloh'n. 


Und in dem entjprechenden 8. Liede aus der Roſe Zions 
oder der Braut Chriſti jpricht Chriſtus zu der gläubigen Seele: 


Wach auf, wach auf aus deinem Wintertraum 
Und gieb dem neuen Leben in dir Raum! 


Erjchließe dich an meines Auges Strahl, 
Wie fih im Lenz erjchließt die Roj’ im Thal. 


Ich bin dein Frühling und will dich durchglühn, 
Und einer Blume gleich jolft du mir blühn. 


Berflärend dich mit meinem eiqnen Glanz 
Schmüd’ ic did mir und made neu dich ganz. 


„Seinfinnig jcheint mir Julius Sturm durch Voranftellung 
der Roſe von Saron anzudeuten, daß er die Anſchauung Herders 
für die richtige hält.“ 

Aus dem Studium der Bibel find auch die „Jsraelitiſchen 
Lieder”. hervorgegangen. „In liebenswürdigem Optimismus 
wollte der Dichter durch feine Poeſie Liebe zu Israel in die 
Herzen der Chriften und Liebe zu dem erjchienenen Chriftus in 
die Herzen Israels träufeln. Gewiß iſt da von dem Dichter 
manc edles Samenkorn ausgejtreut worden, das menfchlichem 


(665) 


‚24 
Auge in jeiner Frucht verborgen geblieben ift, allein im großen 
und ganzen find dieje Lieder an Chriften wie Juden ſpurlos 
vorübergegangen. Vielleicht, daß eine jpätere Zeit auf fie 
zurüdgreift; jedenfalls verdienen fie um ihrer edlen Warmberzig- 
feit willen die veichfte Beachtung.” Es fei hier fein „Dfterlied 
im Lilienthon” mitgetheilt: 


Laßt Harren und am Thron des Herrn 
Vereinigt im Gebet, 

Bis länger nicht dem Kreuze fern 

Das Volk des Bundes fteht 

Und Israel der Roje gleich 

Bon neuem blüht in Gottes Neid). 


Dann wird die Wüſte luftig jein, 

Das Feld voll Lilien blühn; 

Dann überwölbt den Dorn am Rain 
Der Myrthe duft'ges Grün, 

Und Vöglein fingen durch das Land: 
Der Frühling fam, der Winter ſchwand. 


Und was von Zion übrig ift, 

Das leuchtet wie ein Stern, 

Und beugt fein Knie vor Jeſu Chriſt 
Und Huldigt ihm als Herrn, 

Und wie vom Libanon der Wein, 
Wird Israels Gedächtniß fein. 


Wie Sturm hier aus dem unerjchöpflichen Brunnen des 
göttlichen Wortes jchöpfte, jo war er in der fleinen Sammlung 
„Altes Gold in neuer Faſſung“ und in den „Sloffen nad 
Berjen Lateinischer Hymnen” der Schaßgräber, der mit Luſt und 
Berjtändniß aus den Werken und Ausjprüchen älterer Kirchen- 
väter und Dichter tiefe und innige Gedanken zu jchöpfen und 
abzuleiten verjteht und dem Lejer zum hohen Genuß darbietet. 
As Probe jei hier mitgetheilt die Gloſſe nah Adam von 
St. Victors Zeilen: ?? 


(666) 


Neues Leben webt und weht, 
Nun kehrt Freude bei uns ein, 
Wo ber Herr vom Grab erfteht, 
Soll ringe Auferftehung fein. 

Wieder jcheint die Frühlingsionne 

Und durd alle Wejen geht 

Bitternd ein Gefühl von Wonne, 

Neues Leben webt und weht. 


Lerchen jubeln hoch in Lüften, 
Quellen rauſchen frei landein, 

Und es grünt auf allen Grüften, 
Nun lehrt Freude bei ung ein. 


Auf! in Andacht Gott zu dienen, 
Glocken rufen zum Gebet; 

Denn heut’ ift der Tag erjchienen, 
Bo der Herr vom Grab erftept. 


Wo der Herr vom Tod erjtanden, 
Uns auf ewig zu befrei’n 

Von des Todes Madıt und Banden, 
Soll rings Auferftehung fein. 


Aber bei weitem die meijten geiftlichen Lieder Sturms find 


freie Dichtungen. 


Entweder folgt er dem Gange des Klirchen- 


jahres: Advent, Weihnacht, Sylvefter, Neujahr, Epiphanias, 
Paſſion, Oftern, Pfingften, Trinitatis, Bußtag, Reformations- 
feft, oder er ftellt Betrachtungen an beim Schluß des Gottes- 
dienftes, über die Grablegung Ehrifti, den Segen des Gebets, 
oder er fingt Morgen. und Abendlieder; andere Gedichte endlich 
behandeln Gott, die Schöpfung, dag Heil, oder find Lieder bei 
der Taufe, bei der Trauung oder am Sarge, kurz, alles ijt 
ihm dichterifch verklärt, denn 


Das ift nun eben meine Luft, 
Wenn id) aus noller, friiher Bruft 
Ein frommes Lied fann fingen, 
Ein Lied, das gläubig himmelan 
Die Seele trägt auf hoher Bahn 
Mit ſtarken, freien Schwingen. 
(667) 


26 
Was mir das volle Herz bemegt, 
Daß raicher jeder Puls mir jchlägt, 
Im Lied laß ich's erflingen — u. j. w. 


Aber während jo manches geiftliche Lied früherer Zeiten 
nur gereimte Dogmatik, verfifizirte Glaubens: und Sittenlehre 
war, findet fi) bei Sturm nichts Dogmatifches, fondern alles iſt 
Har und wahr. Sturm ijt ein Prieſter Gottes aus innerfter 
Ueberzeugung, der Zwed jeiner Lieder ijt die Verklärung des 
ganzen Lebens und aller feiner Pflichtenkreife durch das Wort 
und den Geift Gottes, Chrijti und feiner Jünger. Bejonders 
fteht Chriſtus im Mittelpunfte jeines Leben? und Dichtens. 
Wie jchmerzlich klingt fein Lied „ES thut mir tief im Herzen 
weh“ : 23 


Es thut mir tief im Herzen weh, 
Dat, wo ich immer geh’ und ſteh', 
Ich jelten jenen Namen höre, 
Den preilen heil’ger Engel Chöre. 


Das ift dein Name, Zejus Chrift, 
Der über alle Namen ift, 

Den Aller Knie ſich follen beugen, 
Bon jeiner Herrlichkeit zu zeugen. 


Viel andre Namen werden laut, 
Denkmäler werden aufgebaut 

Den Kindern diefer Welt zum Ruhme; 
Dih nennt man nur im Heiligthume. 


Und dennoch können wir allein 

An deinem Namen jelig jein, 

Sn dem bein Vater us bejchieden 
Geredtigkeit und Freud’ und Frieden. 


Ach, gieße deinen heil’gen Geift, 
Durch den dich Herz und Lippe preift, 
Mit deinem Bater aus auf neue, 
Daß alles Volk ſich deiner freue! 

(668) 


% 


O jel’ge Zeit, wo laut erjchallt 

Dein Preis von Lippen jung und alt, 
Daß, wie der Himmel, jo die Erde 
Erfüllt von deinem Namen werde. 


Welch' innige Liebe zu Jeſu, dem Menjchen: und Gottes: 
fohne, ijt in vielen feiner Lieder ausgeſprochen, die diefen jchier 
unerfjchöpflihen Gegenftand behandeln! Wir heben aus der 
großen Zahl dieſer Fejuslieder nur eines hervor, in dem der 
Dichter eine ernfte und eindringliche Mahnung an jeden Ehriften 
ausfpricht, Chriftum zum Lenker feines Lebensjchiffes zu machen: ** 


Nimm Ehriftum in dein Lebensſchiff 
Mit gläubigem Vertrauen, 

Stoß ab vom Strand und laß vor Riff 
Und Klippe dir nicht grauen; 

Und flög' auf wilder Wogenbahn 

Dein Scifflein auch hinab, Hinan, 

Und ſchlügen ſelbſt die Wellen 

Ans Schiff Hinein, 

Kannſt ruhig fein, 

Er läßt es nicht zerichellen. 


Und jollt’ er bei des Sturmes Wuth 

Das Steuer nicht gleich fallen, 

Nur Muth, nur Muth! Mußt feiner Hut 
Dich gläubig überlafjen. 

Wie mädhtig aud) die Woge grollt, 

Die Blige jprühn, der Donner rollt, 

Dein Scifflein ift geborgen ; 

Trägt's doc den Herrn, 

Dem treu und gern 

So Wind wie Meer gehorden. 


D’rum jei nur wach und jei bereit 

Und laß nicht ab mit Beten, 

So wird der Herr zu jeiner Zeit 

Gewiß ans Steuer treten, 

Dann ſchweigt der Sturm, von ihm bedroht, 
Dann legen ſich auf jein Gebot 


(664) 


28 


Die wildempödrten Wogen, 
Und ausgejpannt 

Bon jeiner Hand 

Wölbt ſich der fFriedensbogen. 


Ein andere® Thema, das der Dichter nicht müde wird 
immer wieder zu behandeln und ans Herz zu legen, ift Die 
Liebe, die Liebe zu Gott und zu den Nächiten, denn? 


Nur Liebe ift des Herrn Gebot, 

Und ſie nur ift das Liebeszeichen, 

Und nur vor ihr muß Sorg' und Noth 
Wie Nebel vor der Sonne weichen. 


Bo fie herrſcht, ift das Himmelreich 
In Wirklichkeit ſchon hier auf Erben, 
Da giebt es nur noch arm und reich, 
Daß eins fie in der Liebe werden. 


Es regen ſich nicht mehr ergrimmt 
Des Neides und des Hafjes Triebe, 
Der Reiche giebt, der Arme nimmt, 
Aus Liebe der, und der in Liebe. 


Und weil der Hochmuth weit entwich, 
Sp adten Alle ſich ald Brüder 

Und fühlen gleich berufen ſich 

Zum Dienft als eines Leibes Glieder. 


Und darum jchärft er auch „den Bibellejern“ ?° ein: 


Willft du im Buch der Bücher lejen 
Und ſuchſt darin 

Berborgnen Sinn 

Mit eitel aufgeblähtem Wejen: 

So leg’ e3 lieber wieder hin. 


Denn alles, was drin fteht gejchrieben, 
Iſt offenbar 
Und jonnenflar 
Und lehrt dich weiter nichts als lieben, 
Nur lieben, lieben immerdar. 

(670) 


— 


Doch wir müſſen es uns verſagen, noch weiter auf den 
Inhalt der frommen Lieder einzugehen; ſchon aus den wenigen 
Beiſpielen dürfte aber hervorgehen, daß Sturms Chriſtenthum 
geſund und friſch, innerlich wahr und kräftig iſt und ſich von 
allem Ueberſchwenglichen und Gemachten fernhält. Sturms 
geiſtliche Dichtungen ſind eben ein treuer Abdruck ſeiner Per— 
ſönlichkeit, und es ſpiegelt ſich in ihnen ſein inneres Leben klar 
und deutlich ab. Wie der Mann, ſo ſind auch ſeine Werke: 
einfach, edel, innig, friſch und fromm. Infolge dieſer Eigen— 
ſchaften ſind auch bereits viele Lieder Sturms in die Geſang— 
bücher der evangelifchen Kirche übergegangen, und fie verdienen 
e3 mehr, al3 manche, die unjere Gejangbücher füllen, denn fie 
find in der Form vollendet, tragen der Tiefe des chriftlichen 
Glaubens nad) allen Seiten hin Rechnung und find Dabei 
Jedermann verjtändlich. 


II. Die weltlichen Lieder. 


Auch Sturms weltlihe Dichtungen fejjeln durch wahre, 
innige und tiefe Empfindung und dur ſüßen Wohllaut, der 
zum Singen einladet, und verfehlen daher nie ihre tiefe Wirkung 
auf unjer Herz und Gemüth. Wir folgen nun bei der nad) 
folgenden Behandlung dem TFingerzeige, den uns der Dichter 
felbft in feiner Sammlung „Natur, Liebe, Vaterland” gegeben 
bat, und behandeln diefe Gedichte nach den drei Gefichtspunften: 
Natur, Daheim, Vaterland, können aber auch hier aus der 
reihen Fülle nur wenige Proben geben. 


a) Naturlieder. 
Wie freudig begrüßt Sturm den Frühling in dem jchönen 
„Frühlingsliede“: 27 
Hurra! 
Der Frühling, der Frühling ift da! 


Ihm flog auf fuftiger Bahn 
(671 


30 


Die Lerche fröhlich voran 
Und jubelt, den Wolfen nah: 
Wacht auf! Der Frühling ift da! 


Hurrah ! 

Der Frühling, der Frühling ift da! 
Berjhmolzen find Schnee und Eis 
Und Augen treibt wieder das Reis, 
Schon zwitſchert es fern und nah: 
Heraus! Der Frühling ift da! 


Hurrah | 

Der Frühling, der Frühling ift da! 
Die Wiejen färben fich grün, 
Schneeglöckchen und Veilchen blühn. 
Man weiß kaum, wie das geſchah. 
Hurrah! Der Frühling ift da! 


Wie gern folgt der Dichter dem Rufe des Frühlings hin— 
aus ins Freie: 28 


Aus engem Haus 

Ins Freie hinaus 

Zieht mich’3 mit zwingender Macht; 
Möchte wandern weit, 

Bon allem befreit, 

Durch des Frühlings duftende Pracht, 


Mo die Veilchen bfühn, 

Wo die Wälder grün, 

Wo die Quelle Iuftig raufcht, 
Wo im jonnigen Ried 

Auf der Lerche Lied 

Die trunfene Seele lauſcht. 


Dann höher hinauf 

Im wagenden Lauf, 

Wo freier die Lüfte wehn, 

Auf dem Felſenjoch 

lleber Wollen hoch 

Möcht' ich nahe dem Himmel ftehn. 
(672) 


31 


O mwonnige Schau! 

Am unendlihen Blau 

Der Sonne gligernder Stern, 
Und weit und breit 

Nur Einjamfeit 

Erfüllt vom Athem de3 Herrn. 


Ueberall geht er mit Liebe all dem Schönen und Herrlichen 
nach), was fi) in Gottes Natur „auf der freundlichen Erde“ 
zum Genufje und zur Berwunderung darbeut, und weiß jedem 
eine bejondere Seite abzugewinnen. Am meiften befingt er 
wohl den Frühling, aber auch der Sommer, der Nebeltag, der 
Herbit, der legte Strauß im Jahre, der Sturm und das Ge- 
witter finden feine Beachtung, und ſelbſt der Winter fchredt ihn 
nicht; er befingt „der jchönen Gärten Bier, der Bäume Pracht, 
er hat jeine helle Freude an den holden Blümelein, an der ein« 
jamen Roje (Dornröschen), an den leichtbeichwingten Vögeln 
und ihrem füßen Geſang.“ Welcher finnigen Betrachtung der 
Natur begegnen wir 3.8. in der Idylle aus dem Vogelleben? 
und dem Frühlingsmärchen vom „König Mai”? u.a. Wie 
ergreifend ift der Gedanke, den Sturm in dem Gedichte „Im 
Frühlinge“ behandelt: ®' 


Der Frühling fam, der Frühling rief 
Bom Berg ins Thal hinunter: 
„Wär' euer Schlaf audy noch jo tief, 
Ihr Schläfer, werdet munter!“ 


Da regten taujend Keime jich 
Und wurden ftarf und ftärfer, 
Und dehnten ſich und, ftredten fich 
Und jprengten ihre Kerfer. 


Da traten Blätter zart und weich 
Aus Heinen, braunen Wiegen, 
Um jhücdtern an den jchlanten Zweig 
Sich innig anzuſchmiegen. 
(673) 


(674) 


— 


Da ſprang Schneeglöckchen pfeilgeſchwind 
Aus ſeinem grünen Bette; 

Es glaubte ſchon das ſchöne Kind, 

Daß es verſchlafen hätte. 


Da öffneten ſich allzumal 

Die Särge ſtiller Schläfer; 

Da ſpielten in der Sonne Strahl 
Die Mücken und die Käfer. 


Da wurden auch die Veilchen wach, 
Die tief im Graſe wohnen, 

Und bunte Primel folgten nach 
Und weiße Anemonen. 


Da fing mein Herz zu klopfen an 

So ſchmerzlich und ſo bange, 

Ein Strom von bitt'ren Thränen rann 
Heiß über meine Wange. 


Der Lieben hab' ich ſtill gedacht, 
Die grüne Hügel decken 

Und die der Lenz mit ſeiner Macht 
Nicht kann vom Schlaf erwecken. 


Meiſterhaft iſt die Schilderung des Gewitters:?** 


Am Himmel droht ein Wolkenheer, 

Der Chor der frohen Sänger ſchweigt, 
Kein kühles Lüftchen regt ſich mehr, 

Die Blumen ſtehn das Haupt geneigt, 
Kein Blatt bewegt ſich mehr am Baum: 
Es ift jo ſchwül, man athmet faum. 


Da plöglich wirbelt Staub empor, 
Gejagt vom flücht'gen Wirbelmwind, 
Und hüllt die Gegend ein in Flor, 
Daß nur die Höh'n noch fihtbar find. 
Ein greller Blig! ein Donnerichlag! 
Dumpf in den Bergen rollt es nad). 


Und jegt! wild brauft der Sturm heran 
Und wirft die Ziegel hoch vom Dad 


33. 


Und bricht mit Macht ſich freie Bahn; 
Dann Blitz auf Blitz und Krach auf Krach, 
Als käm' der jüngſte Tag herbei, 

Daß dieſer Welt ein Ende jei. 


Was fteht ihr doch jo bang und bleich? 
O jhämt euch eurer feigen Art! 

Gott bleibt in Emigfeit fich gleich, 

Und er iſt's, der fich offenbart 

Im Donner euch und flammend jchreibt 
Ans Firmament: „Die Liebe bleibt.“ 


Am liebjten aber verweilt der Dichter im Walde, wo er 
fi) der Einjamfeit Hingiebt und den „Waldzauber” auf ſich 
wirfen läßt. Beſonders den deutichen Wald preift er mit be- 
redten Worten: * 


Mein deutiher Wald, du Herrlichiter von allen, 
Mit deiner Eichen, deiner Buchen Hallen, 

Mit deiner Tannen ewig friihem Grün, 

Bo auf dem Moos der Sonne Lichter jprühn ; 
Wie gern mag ich in deinem Schatten laujchen 
Auf deiner hohen Wipfel ernſtes Rauſchen, 
Auf deiner muntren Vögel heitres Lied, 

Das nicht verftummt, ob auch die Sonne jchied. 
Du bildeit mit des Meere mächtgen Wellen 
Für unjer Bolt die vollen Lebensquellen, 

Die e3 erfüllen mit gewaltger Kraft, 

Die freudig Großes finnt und Großes jchafft. 


Und aus dieſem Grunde fordert er auch „Schub dem 
Walde“ ; * 


Frei laſſ' ich Hier die Blicke fliegen 
Und grüße dich, du grüner Hain; 
Wie deine Wipfel leiſ' jich wiegen, 
Umglänzt vom Abendjonnenjcein, 
Ermüdet nicht mein Ohr zu lauſchen 
Dem ernjtgeheimnigvollen Rauichen. 


Sammlung. R. F. XIII. 306. 3 (675) 


34 


Doch was ich höre, find nur Klagen, 

Ein Seufzer geht von Baum zu Baum, 
Und mid; ergreift ein banges Zagen 

Und mic; umjpinnt ein düſt'rer Traum, 
Goldgierig jeh’ ich durch die Beiten 

Den Feind des Waldes drohend jhreiten. 


Wie bald, ah! ſuchen wir vergebens 
Ein heimlich ftille8 Waldaiyl, 

Um auszuruhn vom Kampf des Lebens 
Und von des Lebens buntem Spiel, 
Und aller Sorg’ und Laft entladen, 
Die kranke Bruft gejund zu baden. 


Wo und erquidt der jchattigkühle 

Und duftdurchwürzte Hauch der Luft, 

Da lagert fi Gewitterſchwüle 

Und madt und Berg und Thal zur Gruft, 
Und mehr und mehr verfiegt die Helle, 
Lebend'ge, labendfriſche Duelle. 


Hart wird wie Stahl des Himmels Bogen, 
Die Flur benetzt kein Morgenthau, 

Und ſtrömt noch Regen, geht in Wogen 
Der Strom und überſchwemmt die Au'! 
Und bleich und ſiech muß unter Klagen 
Der Väter Schuld der Enkel tragen. 


D'rum ruf' ich mahnend: Schutz den Wäldern! 
Denn noch iſt's Zeit; o haltet ein! 

Genug des Korns reift auf den Feldern 

Und Hügel giebt's genug mit Wein; 

Doch ohne Wald und Meereswogen 

Wird nie ein ſtarkes Volk erzogen. 


Beſonders liebt der Dichter ſeine ſchöne Heimath, „ſein 
Thüringerland mit ſeinen alten Burgen und Schlöſſern, mit ſeinen 
anmuthigen grünen Thälern, mit ſeinen dunklen, bewaldeten 
Bergen,“ und er hat dieſer Liebe den ſchönſten Ausdruck ver— 
liehen in dem Gedichte „Mein Heimaththal“: 


676) 


35 


Wo blühen die Blumen jo jchön ? 

Bo fingen die Vöglein jo hell? 

Bo raucht von den felfigen Höhn 

Sp munter der plätihernde Quell? 

Wo glänzt jo golden der Sonne Strahl, 
Wie hier im Thal? 


Wo ftehen die Hütten gebaut 

So friedlid im jonnigen Grund? 
Wo klingen jo lodend und traut 

Die Worte der Liebe vom Mund? 
Bo grüßt je freundlicher Augenftrahl, 
Wie hier im Thal? 


Hab’ fröhlich durchwandert die Welt, 

Und viel ift mir Holdes geichehn, 

Was Augen und Ohren gefällt, 

Ich hab’ es gehört und gejehn. 

Doch grüß’ ich vor allem viel taufend Mal 
Mein Heimaththat. 


b) Daheim. 


Wundervoll und anziehend find auch diejenigen Gedichte, 
die den eigenen Hausſtand betreffen und in denen wir Den 
Dichter in feinem Eheglüd, im Kreiſe jeiner Lieben belaujchen, 
wo er als glüdlicher Gatte, Vater und Großvater erjcheint. 
Wir beginnen mit dem friichen und innigen Daheimliede, dem 
wir auch die Ueberjchrift diefer Abtheilung entnommen haben: 


Daheim! Daheim! wie jchwingt das Wort 
Sid von der Lippe jubelnd fort! 

Denn was mir Gott an Glück beichert, 
Das jchlingt fi reih an Duft und Glanz, 
Ein voller, friiher Blüthenfranz 

Daheim um meinen Herd. 


Hieran jchließen wir dann das an den Ausſpruch des 
Bernhard de Saint-Pierre „Ein Blatt genügt zum Neft dem 
Kolibri” ſich anfchließende Gedicht „Mein Haus“: 


3* (677) 


36 


Im Garten liegt mein Haus von Grün umgeben, 
Die Lüfte, die's ummehn, find friſch und rein, 
Um jeine Fenfter ranfen jchlante Reben 

Und freundlich bligt durd) fie der Sonne Schein, 
Auch fehlt im Lenz der Böglein Lied ihm nie. 
Ein Blatt genügt zum Neft dem Kolibri. 


Ihr findet nichts in ihm von Prunfgeräthen, 
An denen’s bligt von Gold und Edelftein, 
Bon Brüffler Tepp’chen, feidenen Tapeten, 
Bon Marmorbüften und von Schnigerei'n; 
Doch dafür ſchmückt es Lieb’ und Poeſie. 
Ein Blatt genügt zum Neft dem Kolibri. 


Erfüllt ift ed von jenem tiefen Frieden, 

In dem ber Geift zum Forichen Ruh’ gewinnt, 
Und von zerftreu'nden Dingen abgejchieden 
Auf Löſung von des Lebens Räthieln finnt, 
Denn bier ftört ihn des Marktes Treiben nie. 
Ein Blatt genügt zum Neft dem Kolibri. 


Für Freunde fteht weit offen jeine Pforte 

Und jeine Gaben bietet's gaftlih an. 

Nicht glei dem Golde wägt man hier die Worte, 
Ein freied Wort geziemt dem freien Mann; 

Und an Gedankenaustauſch fehlt e3 nie. 

Ein Blatt genügt zum Neft dem Kolibri. 


Zwar fann id; nicht das Haus mein eigen nennen, 
Doch jagt, wer hat wohl hier ein eignes Haus ? 
Was aud) die Hütte vom Palaſt mag trennen, 

Es zieht der Kaiſer wie der Bettler aus, 

Daß ein dafür ein Andrer wieder zieh. 

Ein Blatt genügt zum Neft dem Kolibri. 


Welch zartes und inniges Verhältnif des Dichters zu feiner 
Gattin, die ihm vor furzem in die Ewigkeit nachgefolgt ift, 
zeigt und das Gedicht „Ein Liebesbrief“: *6 


Wie doc jo gern ich mich vertiefe 

In meiner Jugend ferne Zeit! 

Da fit’ ich wieder, leje Briefe, 
(678) 


a 


Die ich der Flamme nicht geweiht, 
Weil eine Hand jie zierlich jchrieb, 
Die mir wie feine and’re lieb. 


Kaum dag ich dieje Blätter lüfte, 

Die tief im fihern Schrein geruht, 
Weht es mid an wie Frühlingsdüfte, 
Und märdenhaft wird mir zu Muth, 
Es webt um mid) ein ſüßer Traum, 
Und mir entihwinden Zeit und Raum. 


Da fnarrt die Thür; ich Hör’ fie gehen, 
An die ich eben jeßt gedacht; 

Sie jchleicht fi) näher auf den Zehen, 
Denn ihre Neugier iſt erwacht; 

Sie lieſt und athmet plötzlich tief 

Und ruft erftaunt: „Ein Liebesbriefl 


Ein Liebeöbrief aus alten Tagen! 

Geſtehe mir, wer dir ihn fchrieb.“ 

Da blid’ ih auf. „Wie magjt du fragen? 
Es jchrieb ihn mir mein einzig Lieb. 

's ift freilich lange Jahre her; 

Kennft du die eig’ne Schrift nicht mehr? 


Lies nur, mit welchen füßen Namen 

Du hier auf diejem Blatt mich nennit. 
Ob du wohl jegt mit Ja und Amen 

Did zu dem Inhalt noch befennjt ?“ 

Sie jprad und jah mid jhelmiih an: 
„Bon ganzem Herzen — dann und mann.“ 


Der Gattin gelten auch die meijten der Gedichte, die in 
der zweiten Abtheilung der Sammlung „Natur, Liebe, Water- 
land“ enthalten find, bejonders die An E. St. (Clara Sturm), 
Die Frau, Die Friedewerberin (altfähjiich für Fran), Auf ihre 
Hand u.a. 

Einen Blid in das Herzliche und innige Familienleben des 
Dichters läßt und das im Daheim a. a. O. ©. 593 in handjchrift- 
licher Nachbildung mitgetheilte Gedicht „Zwei Liebchen“ thun: 


(679) 


38 


Zwei Liebdyen, Freunde, nenn’ ich mein, 
Und jagt ihr auch, das darf nicht ſein, 
Ihr könnt mid nicht befehren. 

Mein Herz hat Raum genug für zwei, 
Und vor der Welt befenn’ ich's frei, 
Und Niemand joll mir’3 wehren. 


Und ruht das eine mir im Arm, 
Hält ohne eiferfühtgen Harm 

Das andre mich umfangen 

Und blidt mid an und lächelt mild 
Und küßt fein Heine Ebenbild 

Auf Lippen und auf Wangen. 


Die Liebe hat's uns angethan, 
Denn blid’ ich mur die Beiden an, 
Fühl' ih mein Herz erglühen ; 
Mir ift, ala käm' von fern herbei 
Noch einmal meiner Jugend Mai, 
Mid wonnig zu umblühen. 


Für feine Kinder dichtete Sturm zunächſt auch die Fabeln 
mit ihren „jchlagenden Bointen“ und eine Reihe von Märchen 
(„Prinz Froſch“ u. a.), die ſtets mit Freude und Jubel begrüßt 
wurden; erjt fpäter entichloß er fich zu ihrer Veröffentlichung. 

Der Freude an feinen Kindern und Enfeln hat Sturm 
wiederholt Ausdrud gegeben, z. B. „Sie war ein Kind noch 
geftern“, „Am verlafjenen Neſte“, „Im jtillen Haus” u. |. w., 
und mit Stolz jagte Sturm zu dem Befucher (U. Mels): „Sehen 
Sie mein kleines Volk an, meine anderen Kinder, wie fie froh 
und munter fih um die Mutter und um mic, jcharen. Wie 
ſchön ift doch das Leben, wenn man ed mit Gott einrichtet, 
‚ wenn Friede und Liebe in unferen Herzen wohnen und wenn 
wir es verjtehen, ihm ebenſo dankbar für die Freuden diejer 
Erde, die er uns befchert, zu fein — als für die Schidjals- 


ichläge, die feine Vaterhand uns fendet!” 
(880) 


39 


c) Vaterland. 

A. Mels beklagte in jeinem 1869 erjchienenen Berichte über 
einen Befuh „Im Pfarrhaufe zu Köſtritz“,“ daß fih Sturm, 
einer der bedeutendften Dichter kirchlicher Lieder Deutſchlands, 
auf dieſes Gebiet bejchränft und deshalb nicht den Anklang ge- 
funden Habe, den jeine Muſe ohne allen Zweifel verdiene. 
Sturm hätte, jo meint er, der Jugend, die nach" jedem Tropfen 
wahrer, tiefgefühlter, wirklich dem Herzen entquellender Poeſie 
wie der Verdürſtende nad einem Tropfen Wafjer fchmachtet, 
ein leuchtende8 Meteor jein können u.j.w. Und es wäre in 
der That zu bedauern, wenn Sturm nur auf dem Gebiete der 
geiftlichen Dichtung thätig gewejen wäre. Dem ijt aber glück— 
licherweije nit fo. Sturm Hat vielmehr ebenjo wie Geibel, 
Gerok und Andere an den großen Ereigniffen der lebten fünfzig 
Jahre und befonder8 an denen des großen Kriege von 1870 
bis 1871 lebhaften Antheil genommen und feinen Gefühlen in 
einer großen Anzahl von Liedern Ausdrud verliehen. 

Wie tief hat er die Zerrifjfenheit und Ohnmacht Deutſch— 
lands empfunden und mit wie beißenden Worten macht er feinem 
Borne über den Schimpf des Baterlandes Luft, wie tief beflagt 
er es, daß „das Volk jo lahm, fo blind, jo taub, die alte 
Kraft der Lüfte Raub, ein Bubenftüd die deutjche Treue” ge- 
worden ift, und wie oft jpricht er die Hoffnung aus, daß es 
doch einft befjer werde. Zu der erjteren Art gehören Gedichte 
wie „Der Kommunift“, „Den Romantikern“, „Der Philiſter“, 
„Die Treue als Verbannte“, „Iejaias 51, 17”, „Namens: 
veränderung”, „Hans Politicus“, „Handgreiflich“, „Der Kranfe 
und die Doktoren”, „An die Ubibeneibipatrialumpe” u. v. a. 
Wir beichränten ung auf das aus dem Jahre 1846 ftammende 
Gediht „Aus der Schulftube“ : ®® 

Ich weiß noch, wie mich's narrte, 


Daß ich mein Vaterland 
(681) 


40 


Nicht auf der Länderkarte 
In unf’rer Schule fand. 


„Ei, jeht den dummen Hanjen! 
Beim Himmel, das ift arg!” 
Es rief es und ließ tanzen 
Den Stod, der Schulmonard. 


Dann mußte mich ein Knabe 
Belehren, wo es fei; 

Der zeigte mit dem Gtabe 
Der Länder mandıerlei. 


„Die Länder tenn’ ich jelber, 
Nur Deutichland jeh’ ich nicht.“ 
Da ward vor Zorn nod) gelber 
Des Alten Angejicht. 


Den Balel wieder ließ er 
Nun tanzen fürdterlid). 
Dann mit der Naje ftieß er 
Auf jeine Karte mid). 


„Hier Defterreich, hier Preußen, 
Hannover, Bayerland, 

Und wie die andern heißen, 
Das ift das deutſche Land. 


Nun, weißt du, wo's gelegen ?” 
Und ob ich’3 gleich nicht jah, 
Mir graute vor den Schlägen 
Und heulend rief ih: „Jal“ 


Seine fefte Zuverficht auf beffere Zeiten aber giebt er fund 
in den Gedichten „Barbarofja“, „Frühlingsahnung“, „Muthl“, 
„Symbol”, „Im Mai”, „Deutichland für immer”, deſſen 


Schlußſtrophe lautet: 


Deutichland für immer! Stimmt mit ein 
In Freuden und in Schmerzen; 
Das BVBaterland wird mächtig jein, 
Sind einig nur die Herzen! 
652) 


41 

Als nun fein Wunſch und feine Hoffnung in Erfüllung 
ging und ganz Deutichland auszog zum Kampfe gegen den 
übermüthigen Nachbar, da folgte Sturm im Geifte den deutjchen 
Heeren von Kampf zu Kampf, von Sieg zu Sieg, von Weißen: 
burg und Wörth nach Mes, Sedan und Paris, begrüßte den 
Friedensſchluß mit ſchwunghaften Worten und fang jein „Kaifers- 
geburtstagslied”, das in das Militärgefangbud) aufgenommen 
wurde, bis das deutjche Volf „Endlich eine Nation” geworden 
war. Und wenn auc) feines von diefen Liedern jo berühmt ge- 
worden ift wie das Geibelihe „Nun laßt die Gloden von 
Thurm zu Thurm u. ſ. w.“, jo haben doc) viele feiner Kampf: 
und Siegeslieder bleibenden Werth. — 


E3 war in dem PVorftehenden bei weitem nicht möglich, 
alle Töne aufzuzählen, die Sturm angefchlagen Hat, wir würden 
fonft den zugemefjenen Raum weit überjchreiten. Nur eine 
Seite in Sturms poetiſchem Schaffen wollen wir noch berühren, 
— die humoriſtiſche. Sturms Humor iſt feinem ganzen 
Charakter entjprechend fein und harmlos, wie wir ihn etwa bei 
Rabener finden. Hierher gehören bejonders verjchiedene von 
jeinen Fabeln, 3.8. „Ein modernes Ehepaar”, „Motten“ und 
„Zwei Gänſe“; wir bejchränten uns auf Wiedergabe der zuleßt 
genannten, da fie kurz ift: 


Zur weißen Gans ſprach einft vertraulich eine graue: 
„Laß uns jpazieren gehn nach jener grünen Aue, 

Dort thun wir beide und im Graje gütlich, 

Denn in Gejellichaft gaft es ſich doch gar gemüthlich.“ — 
„Nein,“ ſprach die weiße Gans, „da muß ich refüfiren, 
Mit meinesgleihen nur geh’ ih am Tag jpazieren, 
Vertraulichkeit mit dir gereichte mir zur Schande, 

Zwar bin ich eine Gans, doc eine Gans von Stande.“ 


Ferner gehören Hierher die Gedichte „Die Studentin“, 
„Ein geplagter Redakteur”, „Affenmärchen“, „Moderne ars 
poetica”, „Moderne Bildung“: 


1683) 


a2 


Zwar kann fie feinen Strumpf ſich flicken 
Und weiß nicht, wann das Waſſer kocht, 
Doch malen kann ſie und kann ſticken 
Und hat ſchon ein Klavier zerpocht. 


Endlich nennen wir noch: „Der Menſchen Urahn“, „Der 
große Wind in Weißenberg“, „Wendewein“ und „Klagelied 
eines Gymnafiallehrerd” u. a. Wir können es ung nicht ver: 
jagen, wenigftens die beiden legten Gedichte Hier anzuführen. 


MWendewein.?? 


„Das ſoll Zohannisberger jein? 

Den lehrt ihr mich nicht fennen; 

Den Wein hier nennt man Wendemwein, 
Das jpürt man jhon am Brennen.“ 
‚Herr, diefen Namen hört’ ich nie.‘ 
„Wohl möglich, doch ih warne Sie!“ 


„Herr Wirth, wer den getrunfen hat 
Und will nicht gräßlich enden, 

Der muß auf jeiner Lagerftatt 

Sih Stund’ um Stunde wenden; 
Sonft frißt der Wein mit Säuremadt 
Den Magen burd in einer Nacht.“ 


Der Wirth jagt für die Warnung Dant, 
Der Fremde lächelt heiter 

Und freut fih an dem luſt'gen Schwant 
Und trinkt behaglich weiter. 

Da Schlägt es zwölf, — er geht zur Ruh’ 
Und riegelt feft die Thüre zu. 


Er ſchläft. Es pocht! Er fährt empor. 
„Was giebt’3?" Bedenkt den Magen 
Und legt euch auf das and’re Ohr, 

's hat eben eins gejchlagen.‘ 

„Schon gut, Herr Wirth, habt gute Nacht, 
Ich hab’ die Wendung ſchon gemacht.” 


Er hüllt fich lachend wieder ein 
Und dehnt die müden Glieder. 
(684) 


43 


Ein Stündlein mag vergangen jein, 

Da pocht's von neuem wieder. 

„Was ſoll's?“ ‚Mein werther Gajt, verzeiht, 
's ift eben wieder Wendezeit., 


„Was? Wenden?“ brummt er ärgerlich; 
„Kun laßt mic ungejchoren!” 

Doc ald ein Stünblein faum verftrich, 
Klingt wieder vor den Ohren 

Das Boden ihm. Der Hausknecht fchreit: 
‚Mein Herr, 's ijt wieder Wendezeit!‘ 


Er ſchilt und jhimpft voll Grimm und Groll; 
Ein Stündlein drauf Hopft’3 wieder; 

Da fährt er aus dem Bett wie toll 

Und reibt die müden Glieder, 

Bezahlt die Rechnung ohne Wort — 

Und wandert aus der Schenke fort. 


Klagelied eines Gymnafiallehrers.‘" 


Bom Haupte fallen mir die Haare, 

Nicht weil der Kummer an mir nagt, 
Nur weil mid nun ſchon an zwölf Jahre 
Die leid'ge Langeweile plagt. 

Denn raftlos dreh’ ich mich herum 

Um Caeſars Bellum Gallicum. 


Ich wollt’ ihn ehren, loben, lieben, 
Den Helden, der die Welt umjpanıt, 
Hätt’ er nur nicht auch ſelbſt beichrieben 
Die Wunderthaten feiner Hand; 

So aber dreht mein Herz fih um, 
Den!’ ih and Bellum Gallicum. 


Die Knaben wechſeln auf den Bänken, 
Die Glücklichen, fie rüden fort. 

Ich bleib’, Nachrüdende zu tränten 
Mit Caeſars That und Caeſars Wort, 
Und leſ' mit ihnen wiederum 

Das leidge Bellum Gallicum. 


44 


Den Livius wollt' ich gern erklären, 
Doch lieber noch den Tacitus, 

Auch würde Freude mir gewähren 
Virgilius und Horatius, 

Selbſt Cicero nähm' ich nicht krumm: 
Nur nicht mehr Bellum Gallicum. 


Doch ach! was helfen meine Klagen, 

Es achtet Keiner meiner Noth; 

Bald werdet ihr zur Gruft mich tragen, 
Und fragt man: „Was gab ihm den Tod?“ 
Dann ſprecht: ‚Mitleidges Publikum, 

Der ſtarb am Bellum Gallicum.‘ 

Zum Schluß wollen wir noch erwähnen, dag Sturm aud) 
Epiſches gedichtet hat: Legende; Frau Elja; Die nächtliche 
Ueberfahrt der Zwerge (Köftriger Sage); Nothburga; Der liebe 
Gott ift todt; Die beiden Baumeifter. Köftlich find feine Ge. 
dichte über Blücher („Der Blücher war jo lahm und wund“), 
ergreifend jein „Abendgang durch das Dorf“ und „Des Trinkers 
Weib“, voll Wärme das Genrebild „Die alte Jungfer“, am 
wirfungsvollften aber durch ihre Schlichtheit und Herzlichkeit 
die poetiiche Erzählung „Wie jchön leuchtet der Morgenftern”. 
Obwohl auch in diefen Gedichten das Lyrifche überwiegt, jo 
gehören fie doch zu den beiten ihrer Art, und verjchiedene von 
ihnen find in die deutjchen Lejebücher aufgenommen worden. 

Sp haben wir denn einen Blick gethan in den reichen 
Schag der Sturmjchen Dichtung und haben gejehen, daß Sturm 
mit Recht von ſich jagen konnte: 

Soviel id; Lieder jang, 

Hab’ ich doch nie gejungen, 
Wenn nicht tiefinn’rer Drang 
Zu fingen mich gezwungen. 


Und ließ geheime Scheu 
Auch oft mein Herz erbeben, 
Sch gab der Wahrheit treu 


In meinem Lied mein Leben. 
(686) 


45 


Sturm verdient es, nicht nur in der Litteraturgejchichte, 
jondern im Herzen des deutjchen Volkes weiterzuleben, und der 
Berfaffer würde fich glücklich ſchätzen, wenn durch dieje anſpruchs— 
Iofen Blätter einer oder der andere feiner freundlichen Leſer 
veranlaßt würde, diejes oder jene® Bändchen der Sturmjchen 
Gedichte in die Hand zu nehmen und darin zu blättern oder 
gar für immer ein Verehrer unſeres liebenswiürdigen Dichters 
zu werden. 


Anmerkungen. 


! Seine Oper „Daphne“, zu welder Martin Opig den Text geliefert 
haıte, wurde im Jahre 1627 bei Gelegenheit einer Bermählungsfeier am 
fähjiihen Hofe „mufitaliih auf den Schauplag” gebradt. 

» Neumann, der am 13. März 1784 in Gera geboren war, ftarb 
als Arzt in Trier am 17. November 1850. Das genannte Lied ftammt 
nah Heydens Angabe aus dem Jahre 1793 und Hat bei ihm den Titel 
„Alademijches Trinklied“. Da der Text bei Heyden von dem jeßt in den 
Kommersbücern jtehenden nicht unweſentlich abweicht, jo jege ich bie 
widtigften (von neun) Strophen hierher: 


1. Hoch vom Olymp herab ward und die Freube, 
Ward uns die Jugendzeit gewährt. 
Drum, traute Brüder, troßt dem bleichen Neide, 
Der unjre Jugendfreuden jtört. 
Feierlich jchalle der lieblihe Sang 
Schmwärmender Brüder beim Becherklang! 


2. Bald iſt verwelft der Jugend ſchöne Blüthe, 
Die heute noch uns Alle ſchmückt. 
Der Greid wird nicht wie wir vom Jubelliede, 
Bom Wein und Rundgejang entzüdt. 
Hebt zum Breije der Jugend den Sang! 
Feiert fie, Brüder, beim Becherflang ! 


3. Bald ift getrennt der Kreis vertrauter Brüder, 
Und Mander, unſrer Liebe werth, 
Erhöht Heut unjer Feſt, der morgen wieder 
Burüd zur ftillen Heimath kehrt. 
Fei're den Bruderverein, o Gejang, 
Feiert ihn, Brüder, beim Becherklang! 


(687) 


46 


8. Sp lang’ ich denn noch athıne, will ich trinken, 
Mitfühlen, was mein Bruder fühlt, 
Mit Heitrer Stirn dem Schidjal ftehn und finfen 
Ins Grab, wenn mir’ die Barze wühlt! 
Denkt, Brüder, dann mein im Gefang! 
Denkt des Geſchiednen beim Becherklang! 


9. Iſt einer auch aus unſerm Kreis geſchieden, 
Vom bleichen Tod gefordert ab, 
So trauern wir und wünſchen ſtillen Frieden 
In unſres Bruders ſtilles Grab. 
Singet und wünſchet Ruhe hinab 
In unſres Bruders frühes Grab. 


Alberti ftammte aus Lobenftein und ftarb am 6. Oktober 1668 
als DOrganift an der Domkirche in Königsberg. Er gehörte der jogenannten 
Königsberger Dichterjchule an, deren Hauptvertreter Simon Dah und 
Robert Roberthin waren. 

* Goethe jagt in „Dihtung und Wahrheit” (Hempeliche Ausg., 
Bd. 20, ©. 112): „Friederici in Gera, defien AInftrumente weit ımd breit 
berühmt waren.“ 

® Natur, Liebe, Vaterland, S. 45—46. 

° Ebenda ©. 37. 

’ Bunte Blätter, ©. 83. 

* Natur, Liebe, Vaterland, S. 10-11. 

’ Ein Ausdrud Melanchthons. 

id Julius Sturm, ein vogtländijcher Dichter von Gottes Gnaden, im 
1. Hefte des II. Bandes (1895) von „Unjer Vogtland“, Eine Monats- 
Ihrift für Landsleute in der Heimath und Fremde, ©. 2—10. 

2 Fromme Lieder I, S. 99—100. 

2 Robert König, Zur Erinnerung an Julius Sturm. Daheim, 
XXXII. Jahrgang (1896), Heft 37, ©. 592 fi. 

ı Fromme Lieder I, ©. 92 und 103. 

Fromme Lieder I, S. 129—130. 

> In Freud und Leid, ©. 88. 

 Hepding, Julius Sturm. Ein Gedenkblatt. Gießen, 3. Riderjche 
Buchhandlung. S. 30. 

7 Daheim, a. a. D. ©. 59. 

is Neue lyriſche Gedichte, ©. 84. 

In Freud und Leid, ©. 128. 

:° Fromme Lieder I, ©. 137—138. 

' In Freud und Leid, ©. 39. 

”? Ehenda ©. 140. 

* Fromme Lieder III, ©. 95. 


688 


47 


Fromme Lieder I, ©. 83. 

25 Fromme Lieder III, ©. 14. 

26 Fromme Lieder II, ©. 27. 

27 Natur, Liebe, Vaterland, S. 104. 
»8 Neue lyriſche Gedichte, S. 10. 

9 Rieder und Bilder, ©. 11. 

»° Ebenda ©. 19. 

sr Gedichte, 6. Aufl., S. 89—%. 

» Palme und Krone. 

» Neue lyriſche Gedichte, S. 19. 

* Natur, Liebe, Vaterland, S. 134. 
» Ebenda S. 34—85. 

»Ebenda ©. 90. 

” Gebilde und Geſtalten. Bon A. Mels. I, S. 179—198. 
» Gedichte, S. 116. 

9 Rieder und Bilder, S. 9 ff. 

+0 Ebenda S. 96—97. 





(689) 


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Kunſthandwerk 


und geſunder Menſchenverſtand. 
Ein Vortrag 


Prof. Dr. Beter Meyer 


in München-Gladbach. 


Mit 10 Abbildungen. 


Hamburg. 
Verlagsanſtalt und Druckerei U.-&. (vormals J. %. Richter), 
Königliche Hofverlagshandlung. 
1899. 


Das Recht der Ueberjegung in fremde Sprachen wird vorbehalten, 


Ttad ber Kerlagtanftalt und Druderei A.G. (vorm. I. F. Richter) in Hamburg. 
Königliche Hofbuchbruderei. 


Seit dem Jahre 1894 haben wir hier in Miünchen-Gladbad) 
einen Verein zur Förderung des Kunfthandwerfs gegründet, 
deſſen Sagungen ich mir erlaubt habe, im Anhange abdruden 
zu laſſen. Es liegt dabei mir und den Mitjchöpfern diefer 
Sagungen durchaus fern, dieſe irgendwie für mufterhaft zu 
halten, aber ich habe noc immer die Meinung, daß ein ähn- 
liches Zufammenhalten der jchaffenden und faufenden Elemente, 
wie wir es hier angebahnt und mit gutem Erfolge für beide 
Theile bis jeßt durchgeführt haben, auch für manche anderen 
Plätze, welche nicht das Glück Haben, Kunftftätten zu fein, jehr 
zu empfehlen jei, und jo habe ic) unſere Saßungen zur Prüfung 
und als Anjtoß zu weiteren, befjeren Werfuchen auf dieſem 
Gebiete mit beigegeben. 

Der nachfolgende Vortrag ift gemäß $ 1, 4 der Sabungen 
in dem genannten Verein am 25. November 1897 in München- 
Gladbach gehalten worden und hat, was Inhalt und Ausführung 
angeht, an den in den Sabungen niedergelegten Zweden des 
Vereins feine Schranken gehabt. Eine etwaige Beurtheilung 
wolle dies gütigft berücjichtigen. Es fam eben mehr auf un- 
mittelbar für Handwerker und Käufer brauchbare Gejichtspuntte, 
als auf akademiſche Vertiefung derjelben an. 





Die Kunft, dieje herrlichite aller Gaben des Schöpfers, 
Ihafft freie Werke, die fich jelbft Zweck find. 


Sammlung N. %. XII. 807. 1* (698) 


4 





Freilich iſt auch der größte Künftler ein Menſch und als 
Menſch nicht nur in jeinem Schaffen an die Grenze der Menſch— 
lichkeit gebunden, ſondern auch genöthigt, durch jein Schaffen 
fi) jeine menschlichen Bedürfniffe zu bejchaffen. Aber joweit 
er wirklich Künſtler ift, hat er feinen anderen Zwed, als 
im Stoff körperlich das zu geftalten, was geiftig in ihm 
lebt und nach Gejtaltung ringt. Seine Werke find als Kunſt— 
werfe nur ſich felbft Zwed. Freilich erfüllen auch dieje 
Kunftwerfe wieder irgend einen Nebenziwed und jei es nur den 
der Ausihmücdung. Aber darin liegt nicht die Hauptbedeutung 
des Kunſtwerkes; des Kunſtwerkes Hauptzwed iſt, durch ſich 
ſelbſt zu wirken, und es würde jo wirken auch ohne Zuſammen— 
hang mit irgend welcher Umgebung, wenn dies überhaupt 
möglich wäre. Man nehme eine klaſſiſche Statue, ein klaſſiſches 
Bild und ſtelle es wohin man will, ſeine wirkliche Bedeutung 
wird nichts verlieren, wenn auch die Geſamtwirkung ſonſt unter 
anderer Umgebung eine großartigere wäre. 

Das Handwerk Schafft Gegenftände zum täglichen Gebrauch: 
Wohnung, Kleidung, Sitgelegenheit, Verſchlüſſe, Liegegelegenheit 
und jo fort. 

Zwiſchen dieje beiden tritt das Kunfthandwerf. Es bleibt 
der Hauptjache nad; Handwerk, es ſchafft auch nur Gegenftände 
zum täglichen Gebrauch. Sobald es über dieje Grenze Hinaus- 
geht, Hört e8 auf, Kunſthandwerk zu fein und tritt in Wett 
bewerb mit der Kunst; der Kunſthandwerker verjucht dann, ein 
Künftler zu werden. Uber dieſe Gegenstände zum täglichen 
Gebrauch ſucht das Kunſthandwerk jo zu geftalten, daß fie wo— 
möglih den Schein reiner Kunftwerfe in uns erweden. Es 
jucht uns zu täufchen über den projaischen Zweck des jeweiligen 
Gegenjtandes und ung einige Augenblide die Borftellung zu geben, 
als befänden wir ung einem wirklichen Kunſtwerk gegenüber. Laſſen 


Sie mid) das an einigen ganz gewöhnlichen Beijpielen erläutern. 
(694) 


5 


Die Borderjeite eines Haufes iſt — erichreden Sie nicht 
vor dieſer projaiihen Anjchauung! — eine Baditeinwand mit 
Löchern, die theils undurchfichtig, theils durchſichtig verjchlofjen 
find. Die undurchfichtigen Verſchlüſſe nennen wir Thüren, 
die anderen Fenſter. Durch die letzteren jollen Licht oder 
Wärme, durch die erjteren die Bewohner in das Haus hinein. 
Zu diefem Zwecke haben wir nicht? anderes nöthig, als einige 
aneinander genagelte Bretter fir die Thür und einen Rahmen 
mit Glas für die Fenfter. Nun kommt der Kunfthandwerfer 
und ftellt ung auf der Vorderjeite unferes Haujes eine ganze 
Menge von Heinen Eingangspforten ber. Säulen bilden die 
Träger für einen großen Sturzbalfen oder Stein, und wir 
haben eben jo viele hübjche Pforten als wir Löcher Hatten. 
Er verbindet dieje Einzelpforten wieder zu einem größeren 
Ganzen, ordnet fie jedenfall ſymmetriſch, oder es gelingt ihm 
auch wohl, eine Einheit aus dem Ganzen zu jchaffen, etwa die 
Faſſade eines antiken Tempels; oder das Ganze ftellt ein großes 
Thor dar, wie die Vorderſeite der Kunjthalle zu Düffeldorf. 
Es ift diejelbe Wand mit Yöcyern, die wir vorher hatten, aber 
der Kunſthandwerker hat uns daraus etwas anderes gezaubert. 

Oder wir betrachten unjere Stehlampe vor uns auf 
dem Tiih. Da haben wir einen fejten Fuß, einen Petroleum: 
behälter und eine das Licht zertheilende und mildernde Glode. 
Der Kunfthandwerfer kommt, macht uns aus dem Fuß einen 
Blumentopf, läßt aus diefem ein Gewächs hervorfprießen, defjen 
fräftige Blüthe nunmehr unfere Lichtquelle enthält und deſſen 
Blätter die Glode vertreten; oder er baut und einen langen 
Leuchtturm auf und von oben herab jtrahlt uns, wie dem 
Schiffer aus der Finſterniß des Meeres, nunmehr das Licht 
entgegen; oder er jtellt die Lampe auf eine jchlanfe Säule oder 
er jchmiedet uns ein jonderbares Schilfgewächs, das oben in 
einer Blüthe die Birne des Glühlichtes trägt. Sie jehen, Die 


(695) 


6 


projaijche Lampe mit ihren proſaiſchen Beftandtheilen ift zwar 
ganz diejelbe geblieben, aber fie it äußerlich in die Form des 
Kunſtwerkes gejchlüpft. 

Ebenjo ſucht uns der Kunſthandwerker bei unjeren Bildern 
und Spiegeln zu täufchen und glauben zu machen, wir hätten 
nicht mehr einen Holzrahmen, jondern ein jchönes Blättergeranf 
um denjelben. WBielleicht ſchwingt er feine Fittiche noch höher 
und macht aus unjerem Bett ein einziges rieſiges See-Ungethüm, 
in deſſen Bauch wir dann, wie weiland Jonas, friedlich ruhen; 
die unjchönen, jpigen Eijenjtangen des manchmal jo nothwendigen 
Gitters wandelt er ung in Ranken mancherlei Art um, und jo 
fünnten wir ohne Ende fortfahren, aber Sie jehen wohl deutlich, 
was der Kunſthandwerker will: er will auch bei den Gegen- 
jtänden des täglichen Gebrauches ung die angenehme Täufhung 
ermöglichen, als hätten wir überall Kunſtwerke vor uns. 

Und eifrig find fie gewejen, unjere Kunſthandwerker. Nur 
in den allerärmjten Hütten findet fich Heutzutage noch das 
primitive, nur der Nothwendigkeit dienende Geräth, ſonſt aber 
iſt alles verziert und jei es 3. B. auch nur durch eine Eleine 
Ausichweifung des Stuhlbeined. Die Art diefer Verzierung 
icheidet den Gejchmadvollen und Meiſter vom Stümper. Es 
ift nicht jo leicht, wie es jcheint, den profaischen Gegenſtänden 
des täglichen Lebens die Gejtalt von Kunſtwerken zu gebeı. 
Gar viele Forderungen treten dabei an den Kunſthandwerker 
heran, viele Gejege hat er zu beobachten. In Aufriß und 
Linienführung ſoll fein Werk tadellos fein, von der Brofilirung 
verlangt man viel, man will Symmetrie und Doch wieder Durd): 
brechung derjelben, man verlangt Farbenharmonie, und nun gar 
erit die bejonderen Stilforderungen im Bunde mit dem allge: 
meinen Schönheitsgejes, und zu alledem und alledem muß das 
Erzeugniß des Kunſthandwerkers ſchließlich und zwar an erjter 
Stelle auch noch unbedingt praftifch fein! Mit alledem Hat 


(696) 


fi) der Kunſthandwerker auseinander zu jegen. Alle dieſe auf: 
gejtellten Forderungen könnte man mit Fug und Recht zum 
Bortrage verwenden; fie jind aber auch alle jchon mehr oder 
weniger behandelt. Eine Forderung aber jcheint mir bisher 
noch zu wenig beachtet; behandelt habe ich fie im Zuſammen— 
hang eigentlich nirgendwo gefunden: das ijt das Grundgeſetz 
vom gefunden Menjchenverjtand. ES lautet: „Alles, was 
du Shaffft, mein Lieber Kunftbandwerfer, darf 
dem gejunden Menjchenveritand feinen Anlaß zu ge- 
rehten Bedenfen geben.“ 

Das klingt jo einfach und jo jelbjtverftändlih! Wenn man 
aber deswegen glauben wollte, es jei auch überall befolgt, jo 
würde man jehr irren. Begleiten Sie mid), bitte, auf einem 
furzen Gang durch eine Stadt und durch ein Haus, ich meine 
nicht durch unjere Stadt, denn wenn ich auch zuweilen das eine 
oder andere Beijpiel hier gefunden Habe, jo iſt es doch nicht 
unjerer Stadt allein eigenthümlich, jondern was ich jage, 
ift überall anzutreffen. Möge aljo Niemand von den geehrten 
Damen und Herren, die mir hier die Ehre jchenfen zuzuhören, 
glauben, ich hätte ſie gemeint, wenn das eine oder andere 
meiner Beijpiele hier oder da zutreffen jollte. 

Bevor ich indes mit meiner Betrachtung beginne, muß ich 
Sie erſt noch um einige Augenblide Gehör bitten für eine 
Borbemerfung, die für alles das gilt, was ich zu jagen 
gedenfe, damit ich nicht jpäter mehrmals dasjelbe zu jagen 
brauche oder Sie im Inneren mir glauben widerjprechen zu 
müſſen, wenn ich nicht jedesmal wieder auf dasjelbe aufmerkfjam 
made. Es ijt Ihnen allen befannt, daß es in der Kunſt 
Symbole giebt, d.h. erſtens gewilje Kennzeichen, be 
ftimmte Beigaben, woran man 3. B. eine menjchliche Figur, die 
im übrigen jeder anderen gleicht, als eine überfinnliche oder 


höher jtehende erkennen kann (wie 3. B. der ältere Mann, der 
(697) 


8 


auf einen kurzen Stod fich ftüßt, an dem eine Schlange fich 
empor ringelt, eben durch diejes Symbol der Schlange als der 
Bater der Heilkunde, Aeskulap, gekennzeichnet ift), zweiten 
aber auc) eine mehr oder weniger volljtändige Zeihenjchrift, 
die geichaffen wurde, als der Künftler den unbezähmbaren 
Drang in fich jpürte, Ueberfinnliches zu finnlicher Darftellung 
zu bringen. Ich brauche Sie hier nur an die vielen religiöjen 
Synibole, den Fiich, den Pelikan u. |. w. zu erinnern. In der 
profanen Kunſt verdanken die Tylügelgeitalten, die Löwen als 
Sinnbilder der Kraft, die Sphinre und viele® andere dieſem 
Streben ihr Dafein. An alle folhe Symbole werden wir uns 
in unferer weiteren Betrachtung nicht kehren. Ob man in ihnen 
eine hohe Errungenschaft des Fünftleriichen Strebens fieht, ob 
man fie als unentbehrlichen Nothbehelf betrachtet oder ob man 
der Anficht ift, daß fie eine gänzlich unberechtigte Erfindung 
jeien, jol ung bier weiter nicht fümmern, wir haben mit ber 
Thatjache zu rechnen, daß Symbole in der Kunft aller Zeiten 
vorfommen, und damit müfjen wir ihnen, wenn wir gerecht 
jein wollen, auch ihre Berechtigung zugeſtehen. Yinden wir 
aljo bei einem Kunſtwerk — ich erinnere Sie beifpieläweije an 
unjeren Gladbacher Altarjchrein von Meifter Narings — irgend 
ein Bauwerk, eine Säule und dergl. auf Löwen gejtüßt, io 
find das eben feine Löwen in Wirklichkeit, fondern fie bedeuten 
nur die edle Kraft. Da alles, was die eigentliche Kunſt ver- 
wendet, auch im Kunſthandwerk vorfommt, fo werden wir aljo 
auch für dieſes den Gebrauch folcher Symbole ohne weiteres 
als berechtigt zugeben müfjen. Neben der Symbolit macht jede 
Kunſt auch einen weiten Gebrauch; von der Ornamentif. 
Dede Kunft jcheut leere Flächen irgend welcher Urt und jucht 
diefelben durch Bekleidung mit allem möglichen zu theilen und 
zu verzieren. Dieſe Verzierungen, das ganze Gebiet der 
Ornamentif, find Ihnen zur Genüge befannt. Sie brauchen 


1608) 


9 





nur in unſere Münſterkirche zu gehen, um an den Kapitälen 
dort zunächſt das gebräuchlichere Laubwerk in ſtiliſirter Form 
zu ſehen, dann aber auch werden Sie ſehr bald Thiere in dieſem 
Laubwerk und gelegentlich auch Geſichter entdecken. Gewiſſe 
Thiere kommen nun ja ganz natürlicherweiſe in gewiſſen 
Laubwerken vor, aber Sie werden auch ſonderbare Thiere darin 
als herumwandelnd dargeſtellt finden; ein Menſchengeſicht aber 
bat in dem Laubwerk oben auf einer Säule von Natur wegen 
nie und nimmer etwas zu jchaffen, und Sie haben Hiermit zum 
eriten Male eine naturwidrige Verwendung. Ebenjo findet fich 
bereit3 im romanijchen Stil das untere Ende von Kragſteinen 
mit irgend einem Menjchen- oder Thiergeficht verziert, was ganz 
gewiß naturwidrig iſt. Es ijt eben bloße Verzierung und man 
darf nach der Berechtigung gerade diejer Verzierung im einzelnen 
dabei nicht mehr fragen. Die Gothik übernimmt diefes Erbe 
des romanischen Stils und breitet e8 womöglich noch weiter 
aus. Da erjcheinen geflügelte Drachen als Schlußjteine, 
Menjichengefichter unter Zaub als Ende eines Giebelfeld-Schluffes; 
Thürffopfer find eingelaffeu in Menfchen. und Thierköpfe, welche 
mitten aus der blanfen Thür herauswachſen, und Jedem fallen 
wohl am meijten oben am Dachende die verjchiedenartigen 
Wafjeripeier auf, welhe an und für fich jo naturmwidrig wie 
möglich find, da weder eine Thier-, noch eine Menjchenfigur in 
ſolcher Lage in Wirklichfeit auch nur wenige Augenblide zus 
bringen fann, ſondern nach den Gejegen der Phyſik in die Tiefe 
herabſchießen müßte. Dieſe Wafjerjpeier können auch unter Die 
Iymbolifchen Zeichen gerechnet werden, denn man jagt, es feien 
böje Dämonen, die, von dem Heiligen im Gotteshaufe verjagt, 
voll Entjegen nah allen Seiten in die Tiefe flüchteten. 
Aber mag man fie nun als Symbol oder bloßes Ornament 
auffafjen, fie wiberjprechen an fic) dem gefunden Menſchen— 


verftand und find nur als von jeher beitehend zu dulden. Es 
(699) 


10 





ift nur ein weiterer Schritt, wenn die Gothik jolche Waſſerſpeier 
oder die Köpfe im Laubwerk von den Säulenfapitälen danı 
weiterhin bei dem Chorgeftühle in Holz nachbildet oder im 
Lettner aus Schmiedeeifen zur Darjtellung bringt. Sie haben 
zwar an beiden feine eigentliche Stätte, aber es ift auch Hier 
mit der Thatjache des Vorhandenſeins einfach zu rechnen. Als 
man einmal auf ſolch' Keine Naturwidrigfeiten gefommen war, 
machte man bald darin weitere Fortichritte.e Schon die Gothif 
hat als Eden 3. B. der oberen Hälfte von Kanzeln ſitzende 
Figuren angebracht, die feine Stüße haben, folglich) nur an der 
Kanzelede angeleimt jein fünnen. Schon die Gothif hat als 
Verzierung auf eine Säule eine menjchliche Büſte gejeßt, welche 
dann weiterhin, gerade wie die Säule es thun jollte, eine von 
oben kommende Laft trägt. Noch weiter gebt in allen diejen 
Dingen die Renaiffance. Sie geht weiter erſtens, weil fie nicht 
nur im firchlichen Ideenkreiſe fich bewegt, jondern die ſämtlichen 
Myıhen des klaſſiſchen Altertfums und deren Gejtalten mit 
verwendet. Engelköpfe mit Flügeln finden in der Nenaifjance 
als Ornament eine ausgedehnte Verwendung, daneben aber 
Niren und Necde mit und ohne Flügel, Frauenköpfe und Blumen: 
mädchen, aus Kelchen hervorwachſend, Löwen, Sphinze, Harpyen 
und alle möglichen fabelhaften Thiere tummeln jich im bunten 
Durcheinander als Drnament auf den Erzeugnijjen der Re: 
naifjfance herum. Namentlich ift es die Menjchengeitalt und be- 
ſonders wieder das menschliche Gelicht, das ungeheuer frei und 
ohne vernünftigen Grund als Ornament verwendet wird. Der 
Künftler Scheint eben ſehr oft einzig und allein auf die Schönheit 
der Linie geachtet zu haben. Won den nachfolgenden Stilen, 
dem Rokoko und Barod oder der modernen Zeit, jofern fie nicht 
reine Nahahmung it, will ich Lieber gar nicht reden. Auszunehmen 
ift nur die allerneueſte Kunft in ihren befjeren Leitungen. 
Sie jehen, wir haben es in der Symbolik und Ornamentif mit 


(700) 


— 


einer eigenen Kunſtſprache zu thun. Wir dürfen hier den ge— 
wöhnlichen nüchternen Menſchenverſtand nicht allzu ſcharf walten 
laſſen, ſondern müſſen der Nöthigung des Künſtlers, zahlreiche 
Flächen zu verzieren, und der Thatjache, daß ſeine Erfindungskraft 
nicht gerade unerfchöpflich war, ſchon einige Zugejtändnifje machen 
und ung zufrieden geben, wenn feine Ornamentif unjeren gejunden, 
natürlichen Anjchauungen nicht geradezu ins Geficht ſchlägt. 
Unter ſteter Berüdjichtigung diejes eben erörterten Gejichts- 
punfte® wollen wir nunmehr das Grundgejet vom gejunden 
Meenjchenverftand: „Alles, was du jchaffit, mein 
lieber Kunfthbandwerfer, darf dem gejunden Menjchen: 
verjftand feinen Anlaß zu geredten Bedenfen 
geben,” auf unjere Kunjthandwerfer anwenden. Beginnen 
wir mit dem Aeußeren des Haufes, jo ift e8 da nur zu natürlich, 
wenn man vorjpringende, mehr oder weniger jchwere Theile der 
Borderjeite oder auch thurmartige Ausbauten, eben weil jie aus 
der glatten Wand herausragen und den Eindrud einer jehr 
großen Laft machen, demgemäß auch genügend zu jtügen verfucht. 
Alſo überträgt man die Laſt durch den befannten jchrägen 
Balken auf untere Theile der Wand, wie Sie es bei den meijten 
Balkonen und Erfern zu jehen gewohnt find, und ebenjo be- 
fanntlich verziert man diejen Balken in jeder möglichen Weiſe, 
denn es würde doch zu roh ausſehen, wenn man ihn fo Lafjen 
wollte, wie er iſt. Inſofern fich dieſe Verzierungen nun in 
dem Rahmen des bloßen Ornamentes halten, müfjen wir dem 
Stuccateur oder fonftigen Kunſthandwerker natürlich all’ Die 
Freiheiten des Ornamentes zugejtehen, geht er aber darüber 
hinaus und will er mir ftatt des verzierten Balkens eine andere 
jelbjtändig gemachte Stütze jchaffen, jo bin ich durchaus be- 
rechtigt, an dieje felbjtändigen Stützen aud die Anforderungen 
des gejunden Menjchenverftandes zu jtellen. Bringt er mir 


daher unter dem Balkon zwei Herkuleſſe an, die denjelben jtüßen, 
(701) 


12 
jo ijt er verpflichtet, mir auch die Beine und den Stüßpunft 
der Beine diefer beiden Träger zu zeigen, ſonſt babe ich zwei 
Träger, die auf nichts drauf ftehen, alſo felbjt nicht geſtützt 
find und folglich auch nicht ſtützen können. Das ift ein hand— 
greiflicher Widerjpruch in ſich, und man jollte denken, daß er 
in Wirklichkeit nirgendwo vorfommen fünnte. Nun durchwandern 
Sie aber, bitte, die Straßen irgend welcher Stadt, und Sie 
fünnen zu Dutzenden Balfon- oder Erfer- oder Ausbauträger 
finden, welche überhaupt nur halb find, und von dieſen halben 
Trägern klebt wiederum ein großer Theil einfad) unter dem 
Balken in mwagerechter Linie dran. Nun verjuchen Sie einmal 
von irgend einer Grundlage aus, Ihren ganzen Oberkörper bis 
in die Mitte der Oberjchenfel frei jchwebend in die Leere hinaus 
auszuftreden. Ob Ihnen das wohl gelingt? Diefe armen 
Balfonträger aber haben nicht nur dieſes Kunſtſtück zu voll» 
führen, jondern fie müfjen auch noch die jchwere Laft, die auf 
ihrem wagerecht gejtredten Leibe ruht, volljtändig tragen. So 
wenigftend will der Stuccateur es mir weis machen. Wir 
lafjen uns das aber nicht weiß machen. Iſt der Stuccateur 
geichicter, jo ftellt er den Träger nicht wagerecht, jondern im 
Winkel von 45°. Leider hat er aber auch hierbei in weitaus 
den meijten Fällen vergejjen, daß ich mich frage, wo denn diejer 
Träger darauf jtehen kann. Ich kann mir ja denken, daß der 
Träger mit feinem unteren Ende in der Wand drin ftedt, aber 
wenn ic dann mir die Lage feiner Beine berechne und finde, 
daß er damit jo etwa in der Hälfte der Fenfteröffnung aus: 
fommen würde, jo muß ich mir wieder jagen, daß der Mann 
da nicht ſtehen kann, weil e3 in diejer Höhe feinen Boden im 
Haufe giebt. Alſo kann ich auch den jchräg ftehenden Träger 
nur dann gebrauchen, wenn ich für feine Beine irgendwo einen 
feiten Stüßpunft entweder wirklich jehe oder mir denken fann. 
Zuhülfenahme irgend einer Symbolit nützt mir hier nichts; 


(702) 


13 


denn wenn ich mir Hundertmal einen Atlas oder Herkules unter 
diefer Figur vorjtelle, jo fennt doch die ganze Mythologie 
nirgendwo einen Halb-Atla8 oder Halb-Herfules. Auch diefes 
jcheinen einige Stuccateure eingejehen zu haben. Sie jannen 
auf Abhülfe und find dabei auf eine Idee gekommen, die nod) 
pofjirlicher ift, al3 dag bisherige. Sie verlängerten den halben 
Herfules nad) unten und jchufen ihm irgend einen phantaftifchen 
Unterleib, gegen den ich gar nichtS würde einzuwenden haben, 
wenn fie ihm etwa einen Fiſchſchwanz gleich den alten Tritonen 
al3 Unterleib gegeben hätten. Uber was haben die biederen 
Stuccateure aus jeinem Unterleib gemacht? Ein langes nad) 
unten jpig zulaufende® Trapez, welches fie mit Ornamenten 
verziert haben! Es ijt das eine ganz neue Sorte von Wejen, 
die freilich noch nie dagewejen find. in Träger, der aus 
einem verzierten Stüd Stud oder Sandftein und einem halben 
Menjchen bejteht.* Doch die Stuccateure waren noch erfinderifcher. 
Sie jahen vermuthlich auch bei diejer Erfindung das Unzuträg: 
liche ein und löften nunmehr das fchwierige Problem endgültig. 
Hier Haben Sie die endgültige Löſung vor fi (Abbildung 1). 
Sie jehen hier den Halben Mann als Träger, und nun fage 
mir noch einmal einer, daß der feinen Stüßpunft habe. Der 
ſteht doch auf einer zwar ärmlich ausjehenden, aber hoffentlich 
um jo fejteren Säule. Solder aus einer Säule hervor: 
wachſender Träger können Sie eine große Zahl bei einiger 
Aufmerkſamkeit in unjerer Stadt entdeden. Leider müfjen wir 
dem erfindungsreichen Stuccateur hier wieder jagen, daß wir 
auch mit dieſer Löſung nicht zufrieden find, denn eine Säule 


* Ic bitte jehr, diefe Stuccateur-Erfindung nicht mit den ſchönen 
Renaijjance-Raryatiden zu verwechjeln, die entweder völligen Raum für 
die untere Hälfte des Trägers in ihrer Verkleidung bieten, oder den Träger 
als Herme bilden. Vgl. F. S. Meyer, Handbuch der Ornamentif. 1890°, 
©. 266 ff. 

(703) 


14 





hat von Natur die Beitimmung, eine Laſt zu tragen. Die 
Lat, die fie Hier trägt, ift die Büſte eines halben Menjchen, 
damit hat die Säule ihre Beitimmung vollftändig erfüllt, die 
Säule ift das Tragende und die Büfle, die darauf fteht, das 
Getragene. Diejes Getragene fann jelbit auch noch irgend eine 
Kleinigkeit tragen, aber fie kann vernünftigerweije feine Laſt 








Abbildung 1. 
Bon einem Haufe in München-Gladbach. 
mehr tragen, die jchwerer ift, als fie ſelber. Sollte fie das, jo 
müßte fie mir doch den Eindrud einer viel größeren jelbftändigen 
Kraft machen, und den kann ich von einem jelbft fo leicht ge- 
jtügten Wejen durchaus nicht gewinnen. Weshalb jeht dann 
der thörichte Stuccateur mir da durchaus dieſen verlogenen 
halben Menſchen auf feine Säule Hin? Hätte er ftatt defjen 
ganz einfach eine ordentliche Säule unter feinen Vorbau gejeßt, 


1704) 


RL 


jo würde allen Anforderungen des gejunden Menjchenverjtandes 
Genüge geleijtet fein. Aber man will eben etwas Feines haben. 
Gut, dagegen ift auch gar nichts einzuwenden, nur überlege man 
fi) vorher, ob denn das Feine aud) einen Sinn hat. 

Nicht fo ſchlimm, wie die hier in Bild und Wort vor- 
geführte Widerfinnigkeit, ift eine andere, die Sie ebenfalld in 
unferer Stadt an zahlreichen Worderjeiten der Häufer jehen 
fünnen. Da find die Fenſter der oberen Etagen recht hübſch 
mit ordentlichen, echten Säulen zu beiden Seiten und einem 
ſchönen Giebelfeld als Eingangsthor für Luft und Licht finn- 
bildlich verziert. Das find wirkliche, hübjche Portale, die da 
manchmal angebracht find. Daß er diefe Säulen in der Höhe 
der oberen Etagen ſtützen müfje, begriff der Stuccateur nun jehr 
wohl, aber er entledigte ſich jeiner Aufgabe in den meijten 
Fällen dadurch, daß er ein einfaches, ganz kleines Konjölchen 
unter die jchwere Säule ſetzte. Das iſt jo Hein, daß, wenn 
ih mir jo ein Fenjterportal betrachte, id) den Eindrud nun 
und nimmer [08 werde, daß im nächiten Augenblide das ganze 
Ding herunter ftürzen müfje, und doc hatte der Stuccateur 
in diefem Falle e8 jo leicht, mir den volljtändigen Eindrud der 
unbedingten Feftigfeit feiner Konftruktion zu verjchaffen. Unter 
jeder Fenfterreihe jeder Etage Läuft befanntlich der betreffende 
Bimmerboden her und meiſtens ift diefe Bodenlinie auch äußerlich 
am Haufe in dem Verputz durd) eine mehr oder weniger jtarfe 
Querlinie gezeichnet. Was war nun einfacher, als daß er jeine 
Säule um die Fenſter herum auf eine auf diejer Bodenlinie 
laftende Bafis ſtützte? Im manchen Fällen hat er diejed auch 
gethan, aber in der Mehrzahl find die ganz Eleinen, nichtigen 
Konfölchen bevorzugt. Es ijt offenbar Gedankenlofigkeit und 
handwerfsmäßiges Nachahmen, denn Material wird dabei kaum 
geipart. Die ganze Vorderſeite des Hauſes ift ab und zu 


einmal von einem muthigen Architeften als Ganzes aufgefaßt. 
(7065) 


16 
In unjerer Stadt wüßte ich augenblicklich Fein Beiſpiel für fo 
hohen Flug der Phantajie, aber Sie haben vielleicht ſonſtwo 
irgend einmal ein Haus gejehen, deſſen ganze Vorderſeite etwa 
durch hochgezogene Eorinthifche Säulen den Eindrud der Border: 
jeite eines griechifchen Tempels machte. Bekannt dürfte Ihnen 
jedenfall® wohl die Worderjeite der Kunfthalle zu Düffeldorf 
jein. Dieje Vorderſeite jtellt nichts anderes dar, als ein ge: 
waltig großes Eingangsthor. Daher der riefige Bogen, der die 
Grundidee des Ganzen bildet. Da das Gebäude fi) Kunit- 
halle nennt, jo war es durchaus pajjend, als Eingang zu der 
Halle die Fdee des einen großen Thores zu verwerthen. Sehen 
Sie ſich nun etwas weiter nad) den modernen öffentlichen 
Banten unjerer Großjtädte um, jo werden Sie finden, daß man 
dieje in dem Düfjeldorfer Falle jo wohl angebrachte Idee jehr 
oft verftändnißlos Eopirt hat. Namentlich werden Sie das an 
verjchiedenen neueren Bahnhofsgebäuden finden, wo zwar überall 
auch eine Halle dabei ijt, aber, foviel ich weiß, niemals das 
vordere, große, einzige Eingangsthor zu der Schmaljeite dieſer 
Halle Hinführt, aud) niemals eine gefreuzte Halle ſich findet, 
jondern die einzige Halle meiftens rechtwinklig zum Haupt» 
gebäude verläuft. 

Dod damit hätten wir uns ja in die Architeftur verirrt; 
bleiben wir lieber bei unſerem Kunſthandwerk! Wir treten in 
das Haus hinein oder lieber gleich in ein Zimmer, denn wenn 
ich wieder über den Eingang, Treppenlage, Treppenhaus und 
dergleichen reden wollte, würde ich mich wieder auf höhere Ge. 
biete begeben. Da Habe ich irgendwo in einem Haufe ein 
Schreibpültchen gefunden, welches dieje Abbildung hier zeigt 
(Abbildung 2). So einfach und jchliht das Pültchen iſt, 
jo verjtändnißlos hat der Schreiner dabei feiner künſtleriſchen 
Neigung Raum gegeben, indem er an den beiden Seitenwänden 
diefe lang gezogenen Lijenen, wie er meinte, zur Verzierung 


(706) 


17 





glaubte anbringen zu müfjen. Eine Säule hat die Beitimmung, 
etivas zu tragen, und was tragen dieje beiden Liſenen hier? 
Gar nichts. Alſo erfüllt die Säule ihre Beſtimmung nicht und 
aljo gehört jie nicht Hierher. Sie meinen, das müſſe auch ein 
jehr ungefchickter Schreiner gewejen jein. Ich kenne ihn nicht, 
weiß daher nicht, ob er geſchickt oder ungejchidt war. Das 
aber weiß ich ganz genau, daß auch unjere geichicteften Meifter 
oder Kunjtjchreiner derartige Ungejchidtheiten heutzutage noch 
genug begehen, und ich fenne irgendwo einen gothiſchen Schreib 
tiih, der im Uebrigen recht geſchickt und 
hübjch entworfen und angefertigt ijt, oben 
aber zu beiden Seiten einer ganz pafjenden 
Galerie Flankirthürmchen mit Zinnen zeigt. 
Sole Thürmchen waren in der guten 
Zeit der Nitterburgen dazu bejtimmt, daß 
die DBewaffneten ſich drauf jtellten und 
zwijchen den Deffnungen der Binnen Hin: 
durch auf die unten nahenden Feinde herab: 
ſchoſſen. Auf was für einen Feind jollen Abbildung 2. 

denn nun hier die unfichtbaren Bewohner Ranghn Gladbad. 
meines Schreibtijches Hinabjchiegen? Auf mi? Denn ich nahe 
ihm doc) am meijten. Oder jollen fie die böjen Geijter, welche 
beim Schreiben meinen Gedanfengaug jtören könnten, zu meinem 
Beiten von oben herab beijchießen? Kurz, Sie jehen, der jehr 
tüchtige Kunftjchreiner, der das Stüd gemacht hat, hat hier etwas 
fopirt, wobei er fich nichts Rechtes gedacht hat. Sa, hätte er eine 
fo freie Phantafie und geſchickte Geſtaltungskraft beſeſſen, daß er 
mir meinen ganzen Schreibtijch als eine einzige große Nitterburg 
fomponirt hätte, jo hätte ic) gegen die Flankirthürmchen mit ihren 
Binnen gar nicht? einzuwenden. — In einem jchönen Saale eines 
Öffentlichen Gebäudes unferer Stadt jind die Eingangsthüren von 


innen, nicht etwa von außen, gleichfall3 mit gothijchen Binnen 
Sammlung. N. %. XII. 307. 2 (707) 





18 
überthürmt. Wiederum eine gedanfenloje Verwendung einer 
ſonſt ganz gerechtfertigten Verzierung, denn wenn man an diefen 
Thüren nun einmal Zinnen anbringen wollte, jo hätte man fie 
doch von außen anbringen müfjen, denn von außen kommen bie 
Feinde, gegen welche die im Saale weilenden Leute geichügt 
werden fönnten. Oder wollte etiwa der Künftler, welcher dieje 
Verzierung angegeben hat, damit jymbolisch andeuten, daß der 
Aufenthalt in dem betreffen» 
den Saale Jedem unbedingt 
jo angenehm fein müfje, daß 
er bei Strafe von Leib und 
Leben nicht mehr hinaus 
gehen dürfe? Sie meinen, 
das ift anderswo auch jo; 
daran zweifle ich nicht im 
mindeſten, aber etwas Fal— 
ſches wird durch die Häufig> 
feit jeines VBorfommens nod) 
nicht zu etwas Nichtigem. 
Auf dem folgenden Bilde 





Abbildung 3. (Abbildung 3) jehen Sie ein 
Aus: Blätter für Kunftgewerbe von R.v, Wald» R 
Heim, ®b. XIII, Seit 4, Taf. 21. in den modernen Salons jo 


jehr beliebtes Möbel: eine 
Staffelei. Sie ift entworfen von Prof. U. Hellmefjen in Graz, und 
Sie finden die Zeichnung in den Blättern für Kunſtgewerbe (Wien, 
R. v. Waldheim, Band XIII, Heft IV, Tafel XXD. Wenn es 
nicht ausdrücklich darunter gedrucdt jtände, daß ein Profefjor 
diejes Monftrum entworfen hätte, würde ic) den Entwurf einem 
ganz unbegabten Winfelfchreiner zugejchrieben Haben, denn jo 
etwas Tolles wie dieje beiden Säulen am Fuße bier dürfte 
wohl noch nicht dagewefen jein. Die Säule, das wurde oben 
ihon gejagt, hat ihrer Natur nad) die Beitimmung, zu ftüßen 


- 
‘ 


08 


19 





und zu tragen. Um diejer Bejtimmung aber gerecht werden zu 
fünnen, muß fie, und das weiß jeder Fleine Junge, der fich aus 
Holz irgend ein Häuschen baut, ja jogar der noch Eleinere, der 
mit feinem Baufaften jpielt, muß fie num und in alle Ewigfeit 
jenfrecht jtehen. Der Herr Profeſſor aber jtellt jie jchräg! 
Haben Sie jchon einmal eine jchräg jtehende Säule gejehen? 
Sie meinen, das jei ja bloß Verzierung. Freilich ijt es bloß 
Berzierung, aber auch eine Berzierung darf nicht widerfinnig 
jein. Es ift aber ein Widerfinn und zwar ein durd) feine 
Ornamentik oder Symbolik erträglich gemachter Widerfinn, eine 
Säule, den Grundtypus der Senfredhtigkeit, jchief zu ftellen. 
Daß die ganze Staffelei ein Dreibein ift und dabei die 
Ihrägen Stüßen tragen, ijt eine Erwägung aus der Phyſik; 
die Verzierung aber wendet ji) an mein Auge, nicht an meine 
Phyfil-Kenntniffe. Bei dieſer Gelegenheit möchte ich übrigens 
daran erinnern, daß auch in der Gothik ſich zwar nichts jo 
Widerfinniges, aber doch etwas jehr Bedenkliches im Punkte der 
Säule findet, das ift nämlich die allerdings jelten vorfommende 
gebogene Säule, wie Gie fie 3. B. in der hiefigen 
Franziskanerkirche unten am St. Joſephs-Altar beobachten fünnen. 
Auch die erkläre ich unbedenklich für ein ganz unftatthaftes Ver— 
fegenheit3:Erzeugniß des betreffenden Künftlers. Ebenjo wenig 
wollen mir die gewundenen Süulen des Rokokoſtiles gefallen, 
welche Sie in zahlreichen Kirchen antreffen fünnen. Der Ein: 
drucd der Stetigfeit und Fejtigkeit geht durch diefe Windungen 
ganz entjchieden verloren, und man mag in der Natur umber- 
ihauen, wo man will, e8 find immer nur Schlinggewächie, 
welche in diefer Weije ſich miteinander verflechten fünnen, und 
denen hat noch Niemand eine bedeutende Tragkraft zugetraut. 
Ganz anders ift es bei der zujammengejegten Säule in der 
Gothik, denn eine Menge eng nebeneinander geitellter Baum: 
jtämme fann jehr wohl eine äußerft gediegene Stütze bieten. 
2* (709) 


20 





Doh über fämtliche Erjcheinungen des Baroditiles kann der ge- 
funde Menjchenverftand wohl zur Tagesordnung übergehen, jo 
berechtigt auch diefer Stil zu feiner Zeit war und jo Schönes 
er auch in feiner Art gefchaffen Hat. 

Eine jehr beliebte 
Berzierung an unferen 
tragenden Möbeln aller 
Urt iſt die Verwen— 
dung von Huf, Klaue, 
Kralle, Pranfen und 
dergleichen Thier-Geh- 
werfzeugen als Stüße 
bei Stühlen, Staffe- 

leien, Kandelaberı, 
Dreifüßen u. |. mw. 
Ebenfo Häufig, wie 
diefe Verzierung ſich 
findet, iſt fie auch 
zur Klippe für Den 
Künftler oder Kunit: 


Abbildung 4. . bandwerfer geworden. 


Aus: Kunftgewerbliche Borbilder aus dem Alterthum. s : 
Hundert Blätter nach ben beiten Quellen zufammengeftellt Wo ein Huf, an 
von Brof. Guft. Kachel, autographirt von F. S. Mever. Klaue u. i. w. ſich 
3. Ausgabe. Karlsruhe (Bielefeld). 
Taf. 42. Muf. Nap. III. Paris, Grätko⸗Italiſch. findet, da iſt aud) ein 


Ä Thier, oder ich habe 
einen abgejchnittenen Huf, eine abgejchnittene Kralle, und 
die hat wenig Kraft zum Stügen mehr. Soll ich wirklich 
Geftübtes jehen, jo muß mir das Ganze, an dem diefe Stütze 
verwerthet ift, irgendwie den Eindrud des Thiere® machen 
fünnen. Nun aber betrachten Sie diejen Dreifuß (Abbildung 4). 
Er iſt gräfo:italisch und jet in dem Mufeum Napoleons II. 
in Paris. Macht Ihnen das Ganze den Eindrud eines Thieres? 


(710) 





21 


Das müßte ein jonderbares Thier fein, welches mit Scharnieren 
zujammengehalten werden muß. Auch hätte dieſes Thier drei 
Köpfe. Wollen Sie aber drei Thiere ald Träger ſich denken, 
jo müſſen das wieder jonderbare Thiere fein, die auf einem 


einzigen Bein durch die Welt hüpfen. 
jame Manier, zu tragen, denn Die 
Laſt ftügt fih auf den hinteren Rand 
ihres Hemdfragensd. Ich weiß ja nun 
freilich wohl, daß man fi) mit Er- 
zeugnifien des Kunſthandwerks gleich 
den vorjtehenden längjt befreundet 
bat und nichts Auffällige® mehr 
darin findet. Wenn Sie dagegen 
andererſeits jehen, wie gejchidte, wirf: 
liche Künftler uns bei ähnlichen Ge— 
brauchsgegenftänden die Idee des Be- 
huften, Beflauten, Befrallten u. j. w 
im ganzen ihrer Schöpfung zum Aus: 
druck gebracht haben, jo würden Sie 
mit mir mindeftens der Anficht fein, 
daß diefe Durchführung der Idee das 
Beijere jei und daß der Kunſthand— 
werfer im Gebrauch jolcher, aller: 
dings recht bequemen Stüßen viel 


Auch haben fie eine jelt: 





Abbildung 5. 
Franzöfiiche Arbeit, 16. Jahrhundert. 
Aus: Die Renaiffance im Kunfts 
gewerbe.. Sammlung ausgeführter 
Gegenftände des 16, und 17. Jahr- 
hundert®, redigirt und gezeichnet 
von Mar Bad. Mit 72 Tafeln in 
Farbendrud. Stuttgart (Guſt. Weiſe). 

Taf. VIII, 1. 


vorjichtiger werden müfje, al3 er es bis jegt im allgemeinen ift. 

Thiere aller Art als Stützen find von jeher jehr beliebt ge- 
wejen. Ich Habe davon bereit3 vorhin bei Bejprechung der 
Symbolik geredet, fie finden fi aber auch jonjt jehr zahl- 


reich, namentlich in der Renaifjance. 


Sie finden fi) aber hier 


auch Häufig durchaus falſch. Das Bild hier (Abbildung 5) 
zeigt ein Uhrgehäufe, es ift franzöfiiche Arbeit aus dem 
16. Jahrhundert. Der Kunfthandwerfer ließ den oberen Aufjag, 


711) 


22 
wie Sie jehen, durch Delphine ftügen. Dagegen wäre nun gur 
nicht3 einzumenden, wenn er dieſe jehr dankbare Thiergattung 
nur in eine andere Stellung gebradht hätte. Wllerdings iſt 
ein Delphin ein Filch, und als flinfer Wafjerbewohner kann er 
ja auch einen Purzelbaum fo jchlagen, daß fein Kopf unten 
und fein Schwanz oben in der Höhe ſich befindet. Daß er 
aber in diejer Stellung 
in feiner Schwanzſpitze 
noch eine irgendivie 
nennenswerthe Trag: 
fähigkeit bejäße, will 
und gerade wegen jei- 
nes lujtigenTZummelns 
im Wafjer nicht ein» 
—* leuchten. Der Verſtand 
des Künſtlers iſt ihm 
mit ſeiner Phantaſie 
durchgegangen. Aehn— 
liche falſche Stützungen 
—— finden ſich in der Re— 


Aus: Gothiſches Muſterbuch, herausgegeben von ®. Stay naiſſance jehr viele. 
und G. Ungewitter. Mit einer Einleitung von U. Reichen: s 
iperger. Leipzig (T. D. Weigelt) 1856. Xaf. 109, 1. Draden, die ſonſt 


zwar ſolider Weiſe 
auf ihren vier Beinen ruhen, ringeln ihre Schwänze zu ge— 
waltiger Höhe empor und tragen auf ihren Schwanzſpitzen zu 
Dreien oder Vieren ganz große Laſten, z. B. einen breit aus— 
geführten und hochragenden Kandelaber. Man mag ſagen, da 
der Drache ein Wunderthier ſei, ſo habe er auch wunderbare 
Kraft und dieſer Kandelaberfuß ſei daher ſymboliſch aufzufaſſen. 
Man mag noch viel mehr jagen, mir fällt immer beim Be 
trachten ſolcher Erzeugnifje zu allererft der Widerjpruch zu der 


gemeinen Naturgejchichte auf. 
(712) 











Ein eben jolcher Widerjpruch zur gemeinen Naturgeichichte 
und offenbar ein reines Berlegenheit3-Erzeugnig des Künitlers 
ift der auf Abbildung 6 dargejtellte Fuß eines gothijchen Tauf: 
beckens aus der Kirche zu Wetter a. d. Ruhr. Der Künjtler 
batte offenbar einmal etwas gehört von den ſymboliſchen Löwen, 
die ald Träger fchwerer Laſten verwendet werden, aber er kam 
in Widerjtreit zwijchen der Symbolif und feinem natürlichen 
Menſchenverſtand; die Symbolif wollte ihm nicht einleuchten, 
und jo folgte er feinem natürlichen Menjchenverjtand und jtellte 
die Säulen auf feiten Boden, war aber dabei jo ſchwach, daß 
er glaubte, die Löwen beibehalten zu müfjen, und jo jchnitt er 
denn jeinen Löwen mitten entzwei und flebte das eine Ende 
vorn, das andere hinten an die Säulenbaſis an. So waren 
beide Dinge, Symbolik und gejunder Menjchenverjtand, glücklich 
miteinander vereinigt! 

Daß eine Verfündigung gegen den gefunden Menjchen- 
verjtand im Kunſthandwerk auch bei der freiejten Phantaſie und 
bei den jchwierigjten Aufgaben durchaus nicht nothwendig ijt 
und daß es nur davon abhängt, ob der betreffende Schöpfer 
ein wirklicher Künftler iſt oder nicht, fieht man ganz deutlich 
aus dem folgenden meiner Bilder hier, welches eine Seiten: 
wange aus dem Chorgeftühl im Dom zu Mainz (Abbildung 7) 
darſtellt. Die fjämtlihen Verzierungen an dieſem ſchönen 
Renaifjancewerf aus der lebten Hälfte des 16. Jahrhunderts 
find mit ungeheuer freier Phantafie gejchaffen und die Auf: 
gabe, die Hier im bejonderen vorlag, eine ſolche Seitenwunge 
fünftlerifch frei und micht bloß dekorativ zu verzieren, iſt 
gewiß feine leichte. Aber betrachten Sie, wie der Künftler fie 
gelöjt hat. Mitten auf der Armlehne ruht feit und ficher das 
wunderbare, aus Menjchenleib, Pferdeleib und Drachenſchwanz 
zujammengejeßte Wejen, welches oben auf dem gerollten Doppel: 
ſchweif der Heinen Piyche ficheren Sit gewährt, die ihrerjeits 


(713 


— 





wieder ſo ein kleines, doppelt geſchweiftes Weſen zu herzen 
ſcheint. Weit feinen beiden Armen hebt das ſonderbare Märchen- 


’ M \ ll 
cc „ —— - . 
INS_1: 21 * 


Abbildung 7. 


Aus: Die Chorſtühle im Kapitelſaale des Domes zu 
Mainz, herausgegeben von M. Nohl und R. Bogler, 
Architekten, 22 Blätter, mit einer kunſtgeſchichtlichen 
Einleitung von W. Lübke. Berlin (Mar Spiel: 
mener), urfprünglich 1868, mit neuer Berlagsangabe 


ohne Jahr. Taf. IV. 


1} B 
- = 


wejen ein feines Kind 
zu ſich empor, welches 
mit dem einen Knie an 
dem abſchüſſigen Theil 
der Wange fich ftügt und 
mit dem linken Fuß auf 
dem Schädel des ganz 
unten hodenden Drachen 
noch eben aufjteht. Und 
damit auch dieſes Auf- 
ftehen des Stleinen auf 
dem Drachenjchädel na» 
türlich möglich erjcheine, 
ift der Hals des Drachen 
ganz bejonders eigen: 
thümlih und jtarf vom 
Holzichniger gebaut. Eine 
viel phantajtiichere Ver— 
zierung kann man fid) 
wohl faum denfen. Es 
it auch wohl jehr die 
Stage, ob man, zumal 
bei jolchem Gegenjtande, 
die Phantafie jo frei 
walten laflen dürfe oder 
nicht. Das aber jehen Sie 
Har und deutlich: giebt 


man dieſe Märchenwelt, wie fie fi) hier offenbart, überhaupt 
einmal zu (und das muß man wohl thun), jo findet man nirgend 


einen Verſtoß gegen unjere Naturgejebe. 


(714) 


Abgejehen von den 


jonderbaren Geftalten jelbjt bleibt alle8 ganz natürlih. Das 
ganze Chorgejtühle aus dem Dom zu Mainz, dem dieje Ab: 
bildung entnommen iſt, zeichnet ſich durch Diejelbe ‘Freiheit, 
wenn man will, Wildheit der Phantajie au. Das Ganze 
zeugt von einem gewiffen Uebermuth des Könneng bei jeinem 
Meifter, aber bei all’ diefem Uebermuth Hat er überall den 
gefunden Menjchenverftand walten laſſen. Das ift aber und 
leider namentlich) in manchen Erzeugnijfen gerade der neueren 
Beit jehr oft nicht der Fall. 

Zum 1. April 1895 ftifteten die Lehrer der höheren 
Schulen Preußens Seiner Durchlaucht dem Fürften Bismard 
eine filberne Gedenktafel, die Bauratd U. Heyden entworfen 
hat. Es ift im großen und ganzen eine recht hübſch in Spät- 
renaiffance gehaltene Kartufche, welche in ihren Ornamenten jo 
gut wie feinerlei Anlaß zu Bedenken giebt, aber ihr leeres 
Feld ift mit einer ganz wunderbaren Germania oder Boruffia, 
das kann man wicht deutlich unterjcheiden, verziert. Beſagte 
Boruſſia ift in ihrer oberen Hälfte gepanzert und trägt den 
Helm auf ihrem Haupte. Ueber diefem Panzer trägt fie aber 
den Krönungsmantel. Das ließe ſich nun zur Noth nod) recht: 
fertigen, aber fie ift aud) bewaffnet und zwar mit Schild und 
Schwert. Auch das wäre an fi) noch gar nichts Auffälliges, 
aber fie hält nicht etwa feſt geitüßt dajtehend den Schild, 
mit der linfen auf die Erde geitemmt und die Nechte kühn am 
Echwertgriff, jondern fie ift fchreitend aufgefaßt, hat die Schwert: 
jcheide unten an der Spitze in der rechten Hand gefaßt umd 
trägt dad Schwert mit dem Griff weit nad) Hinten über der 
rechten Schulter, grade alfo wie etwa der Handwerksburfche 
jeinen Spazierftod unten anfaßt und dann über der Schulter 
jein Bündel trägt, und den Schild benußgt fie in der Iinfen 
Hand oben angefaßt als Spazierftod beim Gehen! Allerdings 


eine ganz originelle Germania oder Borujfia. 
(715) 


Ganz bejonders habe ic) gefunden, daß unfern neueren 
Künftlern bei den oft ganz prachtvollen Kannen, ſei e8 aus 
Metall, jei e8 aus anderem Material, der Henkel Schwierig» 


feiten macht. Nicht als ob es 





Abbildung 8. 
Aus: Vorlagen für Gold» und Silberarbeiten, 
vorwiegend nad Entwürfen ber hervor» 


ragendften Meifter der Neuzeit. Wien (M. 

v. Waldheim). Xaf. 16. Radirung von 

Birgil Solii. Auch in ®. Teirih, Blätter 
für Kunſigewerbe, L Band, Heft 11. 


jhwer wäre, einen Henkel zu 
machen und diejen pafjend zu 
verzieren, Nein, das iſt ja 
gar fein Kunſtſtück, aber man 
muß originell fein, originell um 
jeden Preis, und wenn man in 
diejem Streben nad) Driginellem 
aud) den größten Unfinn hervor: 
bringt, das thut nichts. Viele 
unjerer neueren Künjtler kehren 
den Sat des alten Weijen: 
„Allen gefallen iſt jchwer” in 
der Weile um, daß fie zu ihrer 
Richtſchnur den Grundfaß neh: 
men: „Seinem gefallen ijt 
ſchwer.“ Sie find gewiß, daß 
fie doch irgendwo Bewunderer 
finden werden, und fomponiren 
in diejer Gewißheit Ungeheuer: 
lichkeiten zujammen, wie Die, 
welche Sie hier auf diefem Bilde 
(Abbildung 8) jehen. Es it 
eine Kanne, radirt von Virgil 


Solis, entnommen aus B. Teirichs Blättern für Kunftgewerbe, 
I. Band, Heft XI, aud) zu finden in Vorlagen für Gold» und 
Silberarbeiten von R. von Walheim, Wien, Tafel XVI. Sie 


haben hier einen ganz wunderbaren Henkel. 


Mindejtens zwei 


hoch ſeltſame Gejchöpfe find durch ein Metallband mit ihren 
Schwänzen jo aneinander gebunden, daß fie einen Henkel dar- 


(716) 


au 
2 


ftellen.. Da ijt erjtend das in feiner Naturgeichichte vor: 
fommende Thier, welches Sie hier unten jehen, nämlich eine 
Stlaue, die für fich ein Lebendes Weſen darjtellt, aber aus 
nicht8 weiterem als aus Klaue und Schwanz bejteht, uud 
dann das darüber befindliche jonderbare Gewächs, welches 
eine Schlange mit Menjchenkopf zu fein jcheint, kurioſerweiſe 
aber den Kopf in der Mitte ftehen Hat, jo daß es vorn 
und Hinten einen Schwanz aufweilt, — oder wollten Sie 
den Auswuchs unter dem Kopf als ein drittes Wejen auf: 
fajjen, jo hätten wir wieder ein ganz neues Thier, welches bloß 
aus dem Schwanz bejtände. Und dann weiß ich auch nicht, wie 
ic) mir den ganzen Henkel mit feinen verjchiedenen Thieren 
phylifaliich geftügt denken jol. Liegt der Schwerpunkt des 
wunderlihen Schlangenmenjchen unten auf der Klaue? Dann 
war fein Band zwijchen ihren Schwänzen nöthig, denn der 
Schlangenmenſch hält fi) durch den bloßen Drud auf der 
jelbftändig ftehenden Klaue. Soll aber der Henkel das jein, 
was er wirklich ijt, ein Aufheber der Laſt von oben Her, dann 
fam e3 darauf an, die Befejtigung der Klaue in ihrem Unter: 
jaß recht deutlich” zu machen, dann mußte der Künſtler das 
Klauenweſen fi unten in den Haarwujt des Stopfes, der dort 
al3 Ornament dient, einkrallen laſſen. Er hat das nicht gethan, 
und wenn Sie nun oben unter den Schlangenmenfchen greifen, 
um die Laſt zu heben, jo muß die loſe aufjigende Klaue not- 
wendigerweile in die Höhe gehen, und Sie heben nicht Die 
Kanne, jondern verbiegen bloß den Henkel. Es muß indes 
zugeftanden werden, daß auch die jpätere Renaifjance Schon manche 
ſolcher bedenklichen Henkel erfunden hat. Da ijt eine ziemliche 
Menge von allerlei menschlichen und thieriichen Figuren angebracht, 
die eine eigentliche Berechtigung oder einen eigentlichen Sinn 
nit haben, und man muß das Auge, mit dem man mur 
Ornamentif jieht, manchmal ziemlich bedeutend zudrüden. Nach— 


(717) 


28 


geben aber ſollte man auch hier durchaus nicht, denn andrer- 
jeit8 zeigt auch auf dieſem Gebiet eine große Zahl wirklich 
jchöner Leiftungen und fünftlerifcher Löfungen, daß der echte 
Künstler auch bei diefem Problem gegen den gejunden Menjchen- 
verjtand nicht verjtößt. Beſonders oft Habe ich mich bei Henkeln 
über menjchliche Figuren geärgert, die ftatt zweier Arme mir 
nichts dir nichts einfach zwei runde Knöpfe hatten, und es wäre 
doch jo Leicht gewejen, die Arme über den Kopf empor zu heben 
oder Hinten auf dem Rüden zufammen zu falten oder Gott weiß 
was damit vorzunehmen, und ich kann es nur für Unverjtand 
des Künſtlers erfären, der noch nicht begriffen Hat, daß er zu 
jeinen Verzierungen nicht jedes Beliebige verwenden darf, was 
ihm gerade in den Mund läuft. 

Die Verwendung von menschlichen und thieriichen Geftalten 
ift überhaupt im Kunſthandwerk jo weit verbreitet, daß man 
ji fat allgemein daran gewöhnt Hat, auf allen möglichen 
ungehörigen Stellen irgend eine Menichen- oder Thiergeitalt 
ganz oder theiweije zu finden. Ueberall da, wo dieje ganz 
oder zum Theil erjcheinenden Gejtalten des Iebenden Wejens 
uns erjichtlich nur Verzierung fein wollen, d.h. als Flach— 
ornament auftreten, wird man wohl nicht3 mehr dagegen ein- 
wenden dürfen. Sie werden aber auch jehr häufig als Rund— 
bildwerf zu einer Verzierung ohne weitere Bedenken bei einer 
Unzahl von Gegenftänden, namentlich der kleinen Kunſt, zur 
Verwendung gebradt. Sch muß zugeben, daß es dabei jchwer 
ift, eine Grenze zu ziehen, wo das Erlaubte aufhört und Das 
Unerlaubte anfängt, aber wenn Sie fi) dieſe alt» etrusfijche 
Haarnadel hier (Abbildung 9) betrachten, jo werden Sie fich 
vielleicht mit mir an der Knopfverzierung ftoßen. Sie jehen, 
al3 Knopf hat der Kunſthandwerker hier einen Widderfopf ver- 
wendet. Blumen, Sträucher, Blätter und viele andere Dinge 


fommen nun in der Natur ſowohl in großem wie in Eleinem 
(718) 


29 


Maßſtabe vor, und fehr oft hat eine und diejelbe Art große 
und auch eine Unterarten, von der jungen, erjt heranmwachjenden 
Blume gar nicht zu reden. Da ift der Künftler und Kunft- 


handwerker vollftändig berechtigt, die Größe 
einigermaßen nad) feinem Belieben zu bejtimmen. 
Ein Widderfopf aber hat jchon gleich bei feinem 
Eintreten in die Natur eine ziemliche Größe, 
und ich glaube nicht, daß irgend Jemand jemals 
einen Widderfopf gejehen hätte, der die Grüße 
eines ordentlichen Nadelkopfes nicht überschritten 
hätte. Wir haben in diefem Nadelfopf aber 
fein Flachornament, jondern der Widderfopf ijt 
ein Rundbildwerf. Und da fann ich mir nicht 
helfen, ic) muß mir entweder den Widderkopf 
fein genug denfen, daß er als Nadelfopf dienen 
fünnte, und dann wideripricht meine Kenntniß 
der Natur, oder ich muß mir den Widderfopf in 
feiner natürlichen Größe denken, dann bin ich 
aber auch gezwungen, die Nadel mir in der 
entjprechenden Länge und Stärfe zu denfen und 
das wibderjpricht der Natur der Nadel. Biel: 
leicht denken Sie anders, meine verehrten Damen 
und Herren, und ich kann das Jhnen nicht ver: 
argen, denn gerade in Erzeugniffen der Klein— 
kunſt diefer Art, gerade bei den Schmudjachen 
findet fich eine folche Menge diejer naturwidrigen 
Berfleinerungen und zwar von den älteften Zeiten 
ber, daß man fi) eine Gewöhnung daran jehr 





' 


Abbilbung 9. 
Aus: Kachel, 
Kunftgewerbliche 
Borlagen aus dem 
Ulterthum, 
Taf. 73. (Samm: 
lung Campana.) 


wohl erklären kann. Nichtsdeftoweniger aber fann ich mic) 
mit dieſen Naturwidrigfeiten gar nicht befreunden, und wenn 
man eine Feine Tijchklingel (Abbildung 10) voritellt, deren Griff 
oben ftatt des Knopfes einen Menjchenkopf oder vielmehr ein 


(719) 


30 

Menjchenköpflein trägt, jo will mir nun und nimmer diejes 
Menjchlein oben auf dem kleinen Klingelgrifflein in den Kopf. 
Sa, wenn ich noch ein ganzes kleines Menfchlein da oben 
darauf hätte, das fünnte ich verftehen. Es giebt ja jo Heine 
Püppchen, womit unfere Kinder fpielen; wir begeben ung damit 
in eine Zwergenwelt, und damit haben Sie den Widerjprud) in der 
beichriebenen Klingelverzierung klar 
Fü‘ und deutlih. Die Klingel gehört 
\ der wirflichen, unferer, die Ver— 
zierung ihres Griffes der Jwergen : 
welt an. Wollte der Kunjthand: 
werfer dieje Klingel jo verzieren, 
daß fie dem gefunden Menjchen- 
verjtand entſprach, und wollte er 
durchaus jein Menfchenköpflein an— 
bringen, jo mußte er mit diefem 
Menjchenköpflein ein Menſchen— 
rümpflein mit Aermlein und Bein- 
IF — lein ſchaffen und aus der Klingel 
an — iirgend ein anderes Ding aus der 
Abbildung 10. Bwergenwelt, etwa einen fleinen 
un; U — Zwergenberg oder etwas ſonſtiges 
ſchaffen, auf dem dann das Zwerg— 
männlein mit Fug und Recht hätte ſitzen dürfen. Wollte der 
Kunſthandwerker ſeinen Nadelkopf ſachgemäß verzieren, ſo müßte 
er mir ſtatt des Widderkopfes einen kleinen Käfer oder ſonſt 
ein Lebeweſen darauf anbringen, was in unſerer Welt zur Größe 
eines Nadelkopf paßt, denn die Nadel ſelbſt gehört in unſere 
Welt, der Widderkopf aber darauf gehört nicht mehr in unſere 

Welt, ſondern in die Zwergenwelt hinein. 
Damit, meine verehrten Herren und Damen, hätte ich 
einiges von dem vielen vorgeführt, was ich hier und da 


pn, 
GA 








31 

in der Wirkichkeit und in Bildwerfen aufgefunden, was gegen 
den gejunden Menjchenverjtand verftößt. Ich Habe Lange 
nicht alles vorführen fünnen, was mir aufgeftoßen ift, und 
alles das, was mir aufgeftoßen ift, ift wiederum noch lange 
nicht alles, was fi) auf dieſem Gebiet auffinden läßt. Sie 
brauchen nur in Ihrer alltäglichen Umgebung die Augen zu 
öffnen, ich bin gewiß, Sie werden bald vielleicht Beiträge zu 
diejem Kapitel jelbjt finden. Allzu ſcharf darf man natürlich 
nicht fein. Das Gebiet der Ornamentif und Symbolik ift ein 
ehr großes und das Gebiet des Möglichen ein noch größeres. 
Dieje beiden Gebiete find oft viel weiter als unjere bejchränfte 
perjönliche Erfahrung reicht. Das aber bleibt für alle Zeiten 
bejtehen, was immer der Künftler und KHunfthandwerfer uns 
vorzaubert, das muß jo bejchaffen fein, daß e8 mit den Grund: 
gejegen des gejunden Menjchenverjtandes nicht durchaus in 
Widerjpruch jteht. 


Diejes alles jagt der gefunde Menjchenverjtand dem Kunit: 
handwerfer bei jeinem Schaffen des Einzelnen. Er fagt ihm 
auch noch mehr. Auch im ganzen, das heißt, in dem Zus 
jammenpafjen aller in dem NRaume oder zu einem größeren 
Ganzen vereinigten Erzeugnifje des Kunſthandwerkes muß der 
gejunde Menjchenverftand zur Geltung kommen. Da haben 
wir in unſerem Zimmer ein mächtige8 Buffet, ein prächtiges 
Erzeugniß des Kunjthandwerfes, Binnen oben, Erfer, Galerien, 
furz das Ganze ftellt jo etwas wie eine Nitterburg vor, oder 
wir haben dasjelbe Buffet im Renaiſſanceſtil mit allerlei 
offenen Veranden, mehreren Etagen, Einzelthürchen, jo daß 
das Ganze einen an den Innenhof eines italienijchen palazzo 
erinnert. Daneben jteht in demjelben Zimmer ein Schranf mit 
glatten, einfach mur mit einem Blumengewinde verzierten 
Wänden, daneben ein Tiſch, ein glattes kyklopiſches Ep: 


(721) 


32 

brett mit WUusrutfchpatent von X. 9%. 3. Iedes einzelne 
Stück ift für fih ſehr Schön, aber alle zujammen pafjen 
nicht zu einander. Wollte das Buffet den Anſchein einer 
Burg gewähren, jo ift das übrige Zimmer, in welchem es fteht, 
offenbar nicht3 anderes, wie die Landjchaft zu diefer Burg, und 
folglich müßten die anderen Möbel fi) dem Charakter der 
Landichaft anpafjen. So im allgemeinen läßt fich über das, 
was ich hier im Sinne habe, nicht gut reden, da8 kann man 
viel befjer in jedem einzelnen gegebenen Falle, aber Sie werden 
begriffen haben, was ich meine. Es genügt nicht, daß das 
einzelne Stück ſtilgerecht, jchön und vielleicht großartig ſei, 
alles andere, was ihm Gefellichaft leiten muß, muß aud) dazu 
pafjen, jonft erzielen wir eben feinen einheitlichen Geſamtein— 
drud, und gerade hierin liegt die zauberhafte Wirkung, und 
dieje8 Zuſammenwirken aller Theile in einem Sinn ijt das 
höchſte Fdeal des Kunſthandwerkers. Daß wir davon noch 
ziemlich weit entfernt find, dürfte eine eingehendere Betrachtung 
der kunſthandwerkmäßig ausgejchmücten Räume, in die wir 
fommen, jeden von Ihnen recht bald ergeben. Aber das jchadet 
auch nichtö, denn wo wollte der Kunſthandwerker und wo wollte 
der reiche Bejteller bleiben, wenn es nichts Neues mehr zu er- 
jtreben gäbe? Alſo bemühen wir ung im angegebenen Sinne; 
wofern wir nur die Augen offen Halten, werden wir aud in 
viefer Beziehung recht bald erfreuliche Fortſchritte machen. 

Die oben entwidelte Natur des Kunfthandwerfes ſetzt vor- 
aus, daß wir über die blanke Nothdurft hinweg find, ja man 
muß auch die Stufe der Behäbigfeit jchon überjchritten 
„ben, ehe man zum Kunfthandwerf übergehen kann. Das Kunjt- 
handwerk fann nur da gedeihen, wo ein gewiffer Weberfluß 
vorhanden iſt. Es ift überjchüffige Kraft, welche da verwendet 
wird, denn ich habe es gar nicht nöthig, mir eine Feine Burg 


als Schrank in mein Zimmer zu ftellen, weil mir zum Zwecke 
(722) 


33 
des Schrankes eine einfache Bretterfifte genügt; es ift über: 
ihüffiges Geld, was dem Kunſthandwerk Nahrung giebt, denn 
den einfachen Stuhl, wie ih ihn im Wirklichkeit brauche, kann 
ic für ein Zehntel desjenigen Geldes mir verfchaffen, welches 
ih dem Kunfthandwerfer für den feineren geben muß. Folglich 
fein Kunſthandwerk ohne Weberfluß. 
Ueberfluß ift num zwar ein jehr relativer Begriff. Schon 
Fabrikdämchen jcheinen im MUeberfluß zu eben, wenn man 
ve Sonntagsffeidung und bejonders ihren Sonntagshut be- 
trachtet. Uber das ijt meift nur Vorjpiegelung faljcher That- 
jachen, und Feder weiß, daß dieſe Leute jehr vieles andere ent: 
behren müſſen, um fich jenen Schein geben zu fünnen. Der ver- 
nünftige Menſch wird erjt dann glauben, daß er Weberfluß 
habe, wenn alle anderen nothwendigen und mühlichen Bedürf— 
nifje vollauf befriedigt find. So lehrt der gejunde Menjchen- 
verjtand, leider aber wird nicht überall darnad) gehandelt. 
Die Mode ift eine große Tyrannin, und im unferer Zeit, wo 
ftilgerechte Möbel und jonjtige Erzeugnifje des Kunſthandwerks 
zur Mode gehören, iſt mancher Braut ganzes Vermögen in diejen 
ftifreihen Möbeln aufgegangen. Das ift wider den gefunden 
Menfchenverftand und wenn auch nod) jo jehr das Kunfthand- 
werk dadurch gefördert wird. Aber diejes wird gar nicht ein» 
mal dadurd) gefördert, denn als es Mode wurde, feinen Raum, mit 
Erzeugniffen des Kunſthandwerks auszufüllen, mußten die Mode 
auch Diejenigen mitmachen, die feinen Ueberfluß hatten, fie mußten 
alfo fuchen, die funftgerechten Möbel fein billig zu befommen, 
und das hat uns die großen Karlsruher und Berliner Fabriken 
geichaffen, auf deren Kunftjtühle man fich lieber nicht hi: 
weil fie das nicht immer vertragen fünnen. Dieje Fabriken 
haben unfer Publikum an Preije gewöhnt, bei denen ein richtiges 
KunfthHandwerk nicht mehr beftehen fan. Sie haben aud) den 
begüterten und im Ueberfluß Lebenden die VBerjuchung nahe gelegt, 


Sammlung. N. F. XIII. 307. 3 (723) 


34 


dieje eben jo jchön ausjehenden, äußerlich wenigſtens eben fo 
viel darjtellenden Fabrikmöbel zu kaufen und den Kunfthand» 
werfer laufen zu lafjen, denn wer fann dieje Fabrikmöbel noch 
von den echten unterjcheiden? Dazu gehört jchon ein Fachmann. 
Weshalb jollte man nicht fein Geld anderswie nußbringend 
anlegen? Das Gegentheil von diejen Leuten, welche ohne ge: 
nügende Mittel Erzeugnifje des Kunſthandwerkers wenigſtens 
dem äußern Scheine nach fich erwerben wollen, bildet der Groß— 
proß, der nidht3 finden kann, was foftbar und theuer genug 
ift. Auch er widerjtrebt dem gefunden Menjchverftand, denn 
nicht in der Anhäufung einer möglichjt großen Menge mög» 
lichſt koſtſpieliger Kunft: und Kunfthandwerkerzeugniffe zeigt 
fi) der echt Fünftlerifche Sinn, fondern in der alljeitigen 
Harmonie auch bejcheidener Ausrüftungsgegenftände.. Ob in 
diefem Punkte der gejunde Menjchenverjtand wird zur Geltung 
gebracht werden können, ift mir jehr fraglich, und ich will des: 
halb lieber die etwaigen Rathſchläge, die fi) da geben ließen, 
ganz unterdrüden. Wenn der Einzelne für fich möglichjt viel 
Geſchmack fich aneignen kann, jo wird er in diefem Punkte jchon 
von jelbft fertig werden, und da möchte ich ganz beſonders auf 
die im allgemeinen, wie mir fcheint, künſtleriſch mehr veranlagte 
Damenwelt Hinweilen und fie bitten, bei Ausichmüdung des 
Haufes ihr natürlic”richtige Gefühl walten zu lafjen und ihr 
fräftige8 Wort recht energijch mit in die Wagjchale zu werfen. 
Wer ſonſt in diefer Beziehung Rathichläge wünſcht und Mufter 
zu ſehen begehrt, dem fteht das alles in unjerm Gewerbemujeum 
zu Düfjeldorf ausgiebig zu Gebote. 

Und nun noch ein legter Punkt. Ich möchte noch Kunſt— 
handwerk und Geldfrage im Lichte des gejunden Menſchen— 
veritandes furz betrachten. „Ja die Preiſe, die Preijel Es ift 
alles jo theuer, und man weiß nicht recht, wo man dran it.“ 
Ganz richtig. Es ift feit Anfang der Welt jo gewejen und wird 


(724) 


35 





aud) ftet3 jo bleiben, daß Erzeugnifje der Kunſt und des Kunſt— 
handwerks jich nicht allgemein gültig und ficher ihrem Geldwerthe 
noch jchäßen lafjen. Die Kunft, welche in dem Kunftwerfe, und 
der Abglanz von Kunft, welcher in dem Kunjthandwerk verkauft 
wird, ift etwas Geiſtiges. Das läßt fich nicht mit dem mate- 
riellen Werthmeijer, Silber oder Gold, ausmefjen, das muß 
nothwendig in Geld unbejtimmbar bfeiben. Folglich kann mit 
vollem Recht ganz dasjelbe Kunftwerf in dem einen Lande um 
das Vier: oder Fünffache mehr bewerthet werden, wie in dem 
anderen, zu der einen Zeit das Vier- oder Fünffache mehr werth 
jein, wie zur anderen Zeit. Es geht da nicht wie mit der Baum: 
wolle, wo das Rohmaterial jo und jo viel, der Arbeitslohn jo 
und jo viel, der Unternehmergewinn wieder jo und jo viel, 
aljo das Ganze einen ziemlich genau beſtimmten Werth darftellt. 
Es bleibt bei der Kunjt und bei dem Kunſthandwerk immer, 
man mag rechnen, wie man will, ein unmeßbarer Werthfaftor 
bejtehen, der fi) je nach der Höhe, in welcher der Künſtler 
oder Kunſthandwerker jelbjt jeine Thätigfeit und feine Gedanfen 
einjchäßt, und je nach der Freude des Erwerber mehr oder 
weniger verjchieben muß. Es läßt fich aljo jchlechterdings nicht 
jagen, ob irgend ein bejtimmtes Erzeugniß der Kunſt oder des 
Kunjthandwerfes zu theuer oder zu billig it. Man kann nur 
jagen, es jcheint mir zu theuer oder zu billig, und demgemäß 
den Ankauf ablehnen oder thätigen. Dies war vorauszujchiden, 
und nun können wir Kunjthandwerf und Geldfrage etwas näher 
ind Auge fafjen. Zwei Berjonen jtehen da einander gegen: 
über: der Kunſthandwerker und der Bejteller. Beider 
Suterejlen find vom gejunden Menfchenverjtand aus betrachtet 
gemeinjame, und jo würden auch Beide zu beiderjeitiger Freude 
miteinander arbeiten können, wenn nicht eben Beide Menjchen 
wären mit ihren menjchlichen Bejtrebungen und Fehlern. Nehmen 
wir fie Beide einzeln vor. Der Kunſthandwerker fehlt im 


3* (725) 


36 
Punkte der Geldfrage häufig nach beiden Seiten Hin, die über- 
haupt möglich find. Er werthet fein Erzeugniß manchmal zu 
hoch und manchmal zu niedrig, und glauben Sie nicht, meine 
verehrten Zuhörer, daß das leßtere weniger oft vorfäme, als das 
eritere. Nun ift es ja, wie vorausgeſchickt wurde, jchwer, einen 
unbedingt fejten Preis für ein Erzeugniß des Kunſthandwerks 
zu bejtimmen, aber der Kunſthandwerker hätte zu einer einiger: 
maßen ficheren Preisbeitimmung doch meines Erachtens Mittel 
genug. Wenn er jein Material, jeine Arbeitszeit berechnet, dabei 
dann aber auch fein Geſchick oder auch Ungeſchick zur Arbeit 
mit berüdfichtigt, fi für jeine Entwürfe, wenn er fie jelbit 
gemacht, etwas rechnet und auch einen entiprechenden Unter: 
nehmergewinn darauf jchlägt, jo muß er doch ohne jonderlid) 
viel Mühe auf einen fejten und bejtimmten Preis fommen, und 
die genannten fünf Nechnungsfattoren find doch wahrhaftig jo 
Ichwierig nicht zu behalten. Nun muß ich es aber bier aus: 
jprechen, daß noch ziemlich viele unferer hiefigen Kunſthandwerker 
das Rechnen fchlecht gelernt haben. Doc ich will nicht weitere 
Borwürfe machen und habe auch den gemadten Vorwurf nur 
aus lauterem Wohlwollen für unjere Kunfthandwerfer jelbjt 
gemadt. Ic will ftatt weiterer Vorwürfe nur zwei ganz be: 
jtimmte Forderungen hier aufjtellen, denen unjere Kunfthand- 
werfer unbedingt nachfommen müfjen. Sie müſſen unter allen 
Umftänden den Preis des ihnen bejtellten Gegenjtandes zum 
voraus vor der Anfertigung unbedingt angeben. Es wäre ja 
freilich jehr Schön, wenn alle unfere Bejteller bier im Bezirke 
Kröſuſſe wären, deren Geldmittel nun und nimmer erjchöpft werden 
fünnten, und wenn ferner alle unjere Kunſthandwerker jo grund- 
ehrliche und biedere und tüchtige und begabte Leute wären, day 
man fie ruhig fich jelbjt überlaffen könnte und mit dem fchließlich 
zu Stande gefommenen Erzeugniß der Kunft in jeder Beziehung 
zufrieden jein fönnte. Das iſt jo etwa das deal, welches 


(726) 


37 

einigen unferer Kunſthandwerker vorſchwebt, und ich fann einigen 
davon in der That das Zeugniß ausjtellen, daß fie eine jolche 
ideale Behandlung wohl auch verdienten, aber wir leben nicht 
in einer Welt der Ideale, jondern in einer jehr ärmlichen, ja 
man jagt, jchledhten Welt. Da muß auch der Weiche, wenn 
nicht mit feinen Pfennigen, jo doch mit feinen Marf rechnen; 
er muß voraus wijjen, was ihm irgend eine beabjichtigte Neu: 
anſchaffung foften wird, denn er hat voraus fich klar zu machen, 
ob er auch in der Lage jein wird, nachher Zahlung zu leijten. 
Zweitens muß der bejtimmte Preis, den unjere Kunfthandwerfer 
unter allen Umftänden im voraus anzugeben haben, ein Höchit: 
preis jein. Er mag bei jeiner Berechnung immerhin in feinem 
arbeitenden Kopf für die Möglichkeit, daß er in dem oder jenem 
Punkte feiner Rechnung zu niedrig gegriffen haben fünnte, einen 
ungemejjenen Aufichlag zu jeinem Endergebniß hinzufügen, der 
Preis aber, den er angiebt, muß ein Höchjtpreis ſein. Er darf 
unter feinen Umftänden nachher bei Ablieferung des Gegenftandes 
fommen und einen erheblichen Mehrbetrag verlangen wollen, 
e3 jei dann, daß man nachträglich, wie das allerdings oft vor: 
fommt, ihm allerlei Wenderungen an dem feſtgeſetzten Plan 
gemacht hat. Daß natürlich ein jolcher Preis nicht gerade auf 
den Heller im voraus angegeben zu werden braucht, verjteht 
fih ja von ſelbſt. Dieje beiden Forderungen zu erfüllen, liegt 
im ureigenften Intereſſe unjerer Kunjthandwerfer, und fie werden 
nun und nimmer die Gunjt und Neigung des faufenden Publi— 
fums fi erringen können, wenn fie in diefem Punkte dem 
Geforderten ſich nicht anbequemen wollen. 

Diejes faufende Publikum aber andererjeit3 möge dod) 
niemals vergefjen, was ich oben von der Werthung von Erzeugnifien 
der Kunſt oder des Kunſthandwerkes vorausgejchickt habe. Diefe 
Dinge lafjen fi nicht allgemein gültig mechanisch abſchätzen. 
ebenfalls aber wäre es durchaus verkehrt, wollte man auf dieſe 

(797) 


38 
Erzeugnijje das übliche kaufmännische Handelsverfahren anwen- 
den. In der Induſtrie mag es kaufmänniſch richtig jein, den 
Berfäufer jo weit zu drüden, als das überhaupt möglich ift. 
Da fann der PVerfäufer ja ganz genau wiljen, was die Ware 
fojtet, und was ihm abgedrüdt wird, kann ihm nur von jeinem 
Unternehmergewinn verloren gehen. Will man aber den Kunft- 
handwerker in derjelben Weije weiter und weiter drüden, jo geht 
dem dabei nicht nur jein Unternehmergewinn, jondern auch das 
Verdienft für feinen Entwurf, ja aud) das Verdienſt für jeine 
förperliche Arbeit zum Theil verloren. Der Kunfthandwerfer 
jteht in diejer Hinficht gerade jo da, wie der Arbeiter, der nur 
jeine Arbeitskraft auf den Markt zu bringen hat. Wie fich beim 
Arbeiter die Entlohnung nicht unter ein gewiſſes Maß herab- 
drücken läßt, jo fann auch der Kunſthandwerker unter ein gewiſſes 
Maß nicht herunter gedrückt werden. Freilich iſt es bei ihm 
ſehr viel jchwieriger zu bejtimmen, wo dieſes gewilje Maß liegt, 
als dies beim Arbeiter der Fall if. Wie es nun Sade eines 
verjtändigen Arbeitgebers iſt, einzufehen, daß es nur fein ureigen- 
jte8 Interefje ijt, wenn jeine Arbeiter gut ftehen, — deun nur 
der mit mir zufriedene Arbeiter wird in meinem Intereſſe 
arbeiten und jo mein Gejchäft fördern, — ebenjo wird auch nur 
der zufriedene Kunſthandwerker mir das liefern, was ich wünjche 
und wie ich es wünfche, ganz abgejehen davon, daß der mit Noth 
ringende Kunſthandwerker überhaupt für die Kunft verloren ift. 
Und danı, ob man wohl glaubt, man habe etwas verdient, 
wenn man an einem Gegenſtand des Kunſthandwerkes, jagen 
wir einmal im Werthe von 100 ME. mittelft allerlei Druck— 
prefjen 20 ME. abgeknappſt hat? Das fann fich doc) Jeder jelber 
jagen, daß der betreffende Kunſthandwerker, wenn ihm irgend 
eine Möglichkeit dazu gegeben ijt, die abgezwadten 20 Mt. 
Geld wieder in Holz, Eifen oder Arbeit ſeinerſeits abzwaden 
wird. Zweimal zwei iſt vier, das ijt eben ein alte8 Grund- 


728) 


— 


geſetz, und man muß ſchon ein ſehr großes Vertrauen zu ſeiner 
eignen Schlauheit haben, wenn man glaubt, dem Nebenmenſchen 
wirklich weis machen zu können, daß es fünf wäre. Alles in 
der Welt beruht auf dem Satze von Leiſtung und Gegenleiſtung. 
Beide Faktoren, der Kunſthandwerker und das kaufende Publi— 
kum, haben zuſammmen zu wirken; unſere Kunſthandwerker 
müſſen kaufmänniſcher und unſere Beſteller dem Kunſthandwerker 
gegenüber etwas weniger kaufmänniſch werden. Das iſt zum 
beiderſeitigen Vortheil, dann werden ſie einander verſtehen 
lernen, gegenſeitig Vertrauen zu einander gewinnen, und erſt 
auf dieſem Boden kann ein allſeitig befriedigender Erfolg erreicht 
werden. 
So lehrt der geſunde Menſchenverſtand. 


Satzungen 
des Vereins zur Förderung des Kunſthandwerks 
in Stadt und Kreis M.-Gladbad). 





81. 
Den in feinem Namen ausgejprochenen Zwed ſucht der Berein zu 
erreichen: 

1. durch Ausstellungen mit Berlojungen; 

2. durch Beihaffung von Modellen, Zeichnungen, Fachzeitſchriften u. j. w. 
zur dauernden Sammlung oder vorübergehenden Wusitellung ; 

3. durch Vermittelung jachverftändiger Begutahtung und Hathichläge 
zu den eigenen Entwürfen der Meifter, jowie Beihaffung neuer 
Entwürfe; 

4. durch befehrende und anregende Vorträge. 

82. 
Die Ausftellungen des Bereins finden jährlich ftatt, wandernd über 
M.Gladbach, Rheydt und Vierſen. Zu jeder Wusftellung jchieht die 


Bereinskafje einen Betrag zur Dedung der nothwendigen Auslagen bei; 
(729) 


40 





was darüber hinaus verausgabt wird, fällt dem jedeömaligen Orts- 
vorftande zur Laſt. Die ſtets für drei Sahre gültige Feitießung des 
Buichußbetrages erfolgt nad) Schluß einer Vereinsausſtellung. Preiſe oder 
Auszeihnungen werden auf den Wusftellungen nicht vertheilt. Es ift 
auzujtreben, mit biejen Ausſtellungen folche der Fortbildungsſchulen zu 
vereinigen. 

83. 


Mit jeder Ausstellung wird eine Lotterie verbunden. Zur Verlojung 
fommen ausſchließlich Erzeugniffe des Kunſthandwerks von Mitgliedern 
des Bereind. Als Gewinne jollen vorwiegend Fleinere Gegenftände bes 
täglihen Gebrauches und zur Scıhmüdung des Heims genommen werden. 
Die gejamte Einnahme aus dem Berkaufe von Lojen zu 2 Mark muß 
ohne jeden Abzug zum Ankauf von Gewinnen verwendet werben. 

84. 

Die Sammlungen werden in M.Gladbach. Rheydt und Vierſen 
angelegt; ihre Vereinigung mit den gleihen Einrichtungen der Yort- 
bildungsjchulen ſoll angeftrebt werden. Pie Berwaltung liegt in den 
Händen der Drtsvorftände Bon jedem Erwerb eine® Werles oder 
Sammelftüdes ift den anderen Ortsvorftänden, jowie dem Hauptvorjtande 
jofort Anzeige zu erftatten. Die Ortövorjtände haben die Gegenjtände 
ihrer Sammlungen thunlichjt untereinander auszutaujhen. GStüde, die 
dem ®ereine gejchenft werden, werden der Sammlung zu M.-Glabbach 
einverleibt. 

85. 


Die Leitung des Vereins Tiegt in den Händen der Ortövorftände, 
begw. eines Hauptvorjtandes. 

S 6. 

Ortsvorftände werden gebildet in M.Gladbach, Rheydt und Bierjen 
und jegen fich für M.-Gladbah aus wenigſtens zwanzig, höchſtens dreißig, 
beziehentlich für Rheydt und Vierſen aus menigftend zehn, höchſtens 
zwanzig gewählten Mitgliedern zujammen; außerdem find die Bürger- 
meijter der drei Städte, jowie die jedesmaligen Leiter der Haudmerfer- 
Fortbildungsichulen dajelbft ohne Wahl Mitglieder der Ertsvorftände ihrer 
Städte und ebenjo gehört der jedesmalige Landrath des Kreijes dem 
DOrtsvorftande zu M.Gladbad an. Sobald die Ortsvorftände in obiger 
Mitgliederzahl zujammengetreten find, ergänzen fie ihre Ausfälle je für 
fih. Die Gejchäftsvertheilung innerhalb der Ortsvorftände bleibt dieſen 
ſelbſt überlafjen. 

8.7. 

Die Ortsvorjtände wählen aus der Zahl der gejamten Vereins: 
mitglieder die Mitglieder des Hauptvorftandes für je drei Jahre, und 
zwar M.Gladbach vier, Vierjen und NHeydt je zwei. Die Art der Stell- 

(730) 


41 
vertretung im Behinderungsjalle hat der Ortövoritand zu regeln. Der 
Landrat; gehört als Vertreter der übrigen Bezirke des Kreijes, ſowie der 
Präfident der Handelöfammer dem Hauptvorftande ohne Wahl an. Beide 
fönnen durd ihre Rertreter im Amte aud hier vollgültig vertreten 
werden. 

S8. 


Der Hauptvorftand wählt aus jeiner Mitte den Vorfigenden, den 
Kafjenwart und Schriftführer. Er beichließt und entjcheidet in allen 
ragen des Vereins, die nicht durch diefe Satzungen den Ortsvorftänden 
überlafjen oder rein örtliher Natur find. Nechtzeitig ver jeder Aus- 
jtellung hat der Hauptvorftand den einzelnen Ortsvorftänden die verfüg- 
baren Beftände zu überweijen, für welche fie in ihrem Bezirke Arbeiten 
zur Berlojung in Wuftrag geben können. Der verfügbare Beſtand joll 
nad der Gejamtzahl der Mitglieder der einzelnen Ortsverbände vertheilt 
werden. Der Reſt aus den Lotterieeinnahmen wird vom Hauptvorſtande 
jelbft zum Ankaufe von Gewinnen auf der Ausjtellung verwendet. 

89. 

Die Vertretung des Vereins erfolgt durch den Borfitenden des 

Hauptvorjtandes oder deilen Vertreter. 
$ 10. 

Mitglied des Vereins fann Feder werden, der unbeicholtenen Rufes 
ıft, ohne Unterjchied des Standes und Geſchlechts; er gehört alsdann 
dem Ortöverbande jeiner Stadt, beziehentlih dem nächſten Ortsverbande 
an. Die Mitglieder jcheiden fi in: a) Handwerksmeiſter aus Stadt und 
Kreis M.-Gladbadh, b) in Nichthandwerker und c) in Ehrenmitglieder. 

$ 11. 

Der Beitritt der Mitglieder zu a und b erfolgt dur Erklärung 
einem Borftandsmitgliede gegenüber oder durch Eintragung in die zu 
diefem Zwed aufliegenden Lijten. Der Handwerfsmeijter hat als Mitglied 
für fi, jeine Gejellen und Lehrlinge einen Anjprucd auf Förderung (S 1) 
durd den Verein und übernimmt dagegen jeinerjeit$ die Verpflichtung: 

1. zur Zahlung eines jährlichen Beitrages von 1 Marf; 

2. von jedem Lehrlinge ein Gefellenjtüd zu fordern und dieſes auf 
Vorſchlag ſeines Orisvorjtanded auf die nächſte Auzftellung des 
Vereins zu jchiden; 

3. jede Bereinsausftellung außerdem nocd nad) Möglichkeit zu be- 
ſchicken. 

Durch ſeine Ausſtellung können dem Handwerker nur die Koſten 
der Beförderung, Verpackung und Aufſtellung ſeiner Sachen entſtehen; 
die Verſicherung der ausgeſtellten Gegenſtände gegen Feuersgefahr über- 
nimmt der Verein. 

(731) 


42 


Nihthandwerker und Handwerker find ald Mitglied gleihmäßig zur 
Bahlung eines jährlichen Beitrages von 1 Mark verpflichtet, wofür freier 
Eintritt zu beliebig häufigem Beſuche der Ausſtellungen gewährt wird 
und ein Anſpruch auf Benugung aller Einrihtungen ded Vereins entjteht, 
insbejondere auch Zutritt zu den Vorträgen. Nichthandwerfer haben 
außerdem bei den jährlihen Ausftellungen ein Los abzunehmen im Rauf- 
werthe von 2 Marf. 

8 12. 

Ehrenmitglieder ernennt die Verſammlung der vereinigten Orts— 
vorftände auf begründeten Borjchlag des Hauptvorftandes, um ſolche Ber- 
jonen auszuzeichnen, die fih um den Verein bejonders verdient gemacht 
haben. Sie haben ohne Pflihten alle Rechte der Mitglieder und können 
außerdem an den Beſchlüſſen und Berathungen jedes Ortsvorftandes, 
jowie der vereinigten DOrtsvorftände ftimmberedhtigt theilnehmen. 


$ 13. 
Ueber Ausjhluß eines Mitgliedes enticheidet der Hauptvorjtand auf 
begründeten Antrag eines Ortsvorſtandes. 


8 14. 


Die Ortövorftände beforgen die Erhebung der Mitgliederbeiträge 
und führen von jeden Beitrage 0,50 Mark an ihre eigene Kaffe, den Reſt 
zur Kaffe des Hauptvorftandes ab. 


8 15. 


Der Hauptvorftand wie die Ortsvorftände haben bei Schluß jeden 
Jahres einen Kaffenbericht öffentlich befannt zu machen; die Ort3vorjtände 
haben dieje Rechnungslage vor Beröffentlihung dem Hauptvorftande vor» 
zulegen. 

$ 16. 

Aljägrlih bei Eröffnung der Ausftelung müfjen die Ortsvorjtände 
vereinigt zur Berathung zujammentreten mit dem Hauptvorjtande. Diejer 
Verſammlung der vereinigten Vorftände liegt auch der Beichluß über Auf 
löſung des Vereins ob. In der Verſammlung der vereinigten Drte- 
vorjtände hat der Ortsvorftand von M.-Gladbady zwanzig, von Bierjen 
und Mheydt je zehn Stimmen. 

$ 17. 

Zu allen Beihlüffen der vereinigten wie der einzelnen Vorſtände 
fönnen die WVereinsmitglieder durch abgeordnete Vereinsmitglieder mit, 
wirten. Jeder Abgeordnete, welcher durch Borlegung von zwanzig Mit- 
gliedertarten als von deren Inhabern gewählt angejehen wird, hat gleiche 
Rechte in der Verſammlung wie jedes Vorjtandsmitglied. 


(742) 


45 


8 18. 

Die Sagungen fünnen nur durch Beichluß der Verſammlung der 
vereinigten Vorſtände, und zwar $ 1 nur mit Dreiviertel-Stimmenmehrbeit 
abgeändert werden. Alle anderen Beſchlüſſe und Wahlen in den ein- 
zelnen, jowie vereinigten Vorſtänden werden mit einfaher Stimmen- 
mehrheit gefaßt, bei Stimmengleichheit giebt die Stimme des Vorjigenden 
den Ausihlag. Zur Beihlußfähigkeit ift jedesmal die Mitwirkung der 
Hälfte aller ſtimmberechtigten Mitglieder der Vorſtände erforderlich. 
Sämtliche bei dem Vereine vorfommenden Wahlen geichehen geheim durch 
Stimmzettel oder, falld fein Widerſpruch erhoben wird, durch Zuruf. 


8 19. 
Bei Auflöjung des Vereins fällt jein Bermögen den Städten 
M.Gladbach, Rheydt und Bierjen zu in einer vom Hauptvorftande näher 
zu beftimmenden Weije. 


— 4— 


(733) 


Derlagsankalt und Drukerei 3.:6. (vormals 3. F. Richter) ir Hamburg. 











In der Sammlung „gemeinverftändlicher wiflenfchaftliher Vorträge” 
find erjdienen und zu den beigejegten Preijen durd jede Buchhandlung zu 


beziehen: 

Ueber Kunſt, Muſik und VBerwandtes. 
30 Hefte, wenn auf einmal bezogen a 50 Pf. = 15 Marl. 

" Adler, Die Weltjtädte in der Baukunſt. 2. Aufl. (51)......... 
— Der Feljendom und die heilige Grabesfirhe zu Serujalem. Mit 
5: SUIORTRHRNEN: "(ISBN nun aan ee aan 
Ballhorn, br se und jeine Ausgeftaltung dur Phidias. 
( re 
— Der Antheil der Plaſtik an der — —— Götterwelt 
und die Athene des Phidias. (M. F. 1745) ................. 
— Die Benus von Milo. (N. F. 231) ...................... 
Blümner, Dilettanten, Kunftliebhaber und Kenner im Alterthum. (176) 
— Techniſche Probleme aus Kunft und Handwerk der Alten. (278) 
Bruchmann, Leber die Darjtellung der rauen in der griechiichen 
ZEGAINE: RD). ee 
a Ueber ornamentale Kunſt auf der Wiener Weltausftellung. 
Dobbert, Die monumentale Darftellung d. Reformation durch Rietſchel 
EB REINE: Denen 
Doehler, Entjtehung und Entwidelung der religiöfen Kunſt bei den 
0 —— 
Furtwäugler, Der Dornauszieher und der Knabe mit der Gans. 
Entwurf einer Geſchichte der Genrebildnerei bei den Griechen. 
Mit 2 Holzichnitten. (245/246).......................... 
Henfe, Zeichnen und Sehen. 2. Aufl. (115) .................. 
Hoffmann, Der Sinn für Naturjhönheiten in alter und neuer Zeit. 
BE, 0: 
Kaiſer, Kaulbachs Bilderkreis der Weltgeſchichte. (319).......... 
— Homer und die Sibylle in Kaulbachs Bilderkreis der Welt- 
geſchichte. (N. F. 268) ................................. 
Küppers, Der Apoxyomenos des Lyſippos und die griechiſche 


Paläſtra. Mit 1lithograph. Tafel. (191) . . . . . . . . . ....... 
Löwy, Lyſipp und ſeine er zur griechiſchen Plaſtik. Mit 
17 Abbiibungen. BE er 
Mandıot, Der Chriftus, —— in S. Maria ſopra Minerva 
jin UAön ea rennen 


Menge, Romiſche — im Zeitalter des Auguſtus. (309) 
Meyer, Bruno, Die Beziehungen der Gewerbezeichenſchulen zur 


Kunftinduftrie und zur Volksbildung. (109) — re a 
Naumann, Deutſchlands muſikaliſche Heroen in ihrer Rücwirkung 
at Di Ratio: ID eek 


— Das goldene geitalter der Tonfunjt in Venedig. (248)...... 
Hanke, Anfänge der Kunſt. Unthropologiiche Beiträge zur Geſchichte 
des Eirnnmenis: BD) ic. une nenener 
Niegel, Ueber Art und Kunft, Kunſtwerke zu jehen. (194)....... 
Reineck, Drei Bilegeitätten deuticher Gartenktunft. (N. F. 215)... 
Neikmann, Die Kunſt und die Geſellſchaft. (N. F. 146) ........ 
Schuls, Die Tonkunſt nach Uriprung und Umfang ihrer Wirkung. (422 
Seidlis, Die Entwidelung der modernen Malerei. (N. %. 265).. 
Spieh, Der Tempel zu Jeruſalem während des legten Jahrhunderts 
jeines Beftandes nah Sofephus. Mit 1 Tafel. (358) ....... 
Spitta, Die Paſſionsmuſiken von Sebaftian Bad) und Heinrich 
S IR WII) ei aaa ehe 
——* Die deutſche Kunſt und die Reformation. Mit 2 Holz. 
idnitten. 2. 





50 rtiegung ſiehe Xerzeichniß fämtlicher in der „Sammlung“ erichienenen See 


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Exfurter Ihentervoritellungen 


in der auten alten Zeit, 


Von 


Dr. Albert Pi, 


Oberlehrer am Königlichen Gymnaftum in Meferig. 


Hamburg. 
Berlagsanftalt und Druderei A.G. (vormals 3. F. Richter), 
Königliche Hofverlagsbuchhandlung. 
1899. 


Das Recht der lleberjegung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 


Drud ver Verlagkanſtalt und ÜDruderei Actien-Befelichait 
(vormals J. F. Richter) in Hamburg, Königliche Hofbuchdruderei 


(Sine der erfreulichjten Errungenjchaften, welche die mächtig 
aufjtrebende Metropole Thüringens ın den legten Jahren gemacht 
bat, ift ihr Stadttheater. Noch vor einem Jahrzehnt konnte 
man es erleben, daß Diejenigen Erfurter Bürger, die ſich an 
einer guten theatralifchen Aufführung erfreuen wollten, genöthigt 
waren, nad) Weimar oder Gotha zu pilgern. Von um jo 
größeren: Interefje ift daher die aftenmäßig verbürgte Thatjache, 
daß ſchon vor einhundertdreiumdvierzig Jahren im 
Erfurt der Verjuch gemacht worden ift, ein regelrechtes Theater 
zu begründen. 

Ehe wir jedoch auf diejen Verſuch eingehen, dürfen wir 
wohl die Frage jtellen: „Gab es jchon im weiter zurücliegenden 
Jahrhunderten in diejer Stadt nachweisbar theatralifche Auf: 
führungen, die unjerer Theilnahme würdig find?“ 

Nicht dazu möchten wir den uralten Walpert3zug rechnen, 
bei dem es ja allerdings auch etwas zu jchauen gab. Einſt— 
mals vielleicht das ſymboliſche Einholen des Frühlings 
aus der Wagiweide, ftellt er fich in Hijtorifcher Zeit dar als ein 
Ausmarſchiren der waffenfähigen Mannjchaft zum Bwede der 
Mufterung. Dem Zuge voran jchritten befränzte Spielleute; 
man trug eine wallende Fahne, und Viertelsknechte, in Tuch 
von mancherlei Farben gekleidet, jchloffen fih an. Draußen im 
Grünen aber wurden zwei Eichen gefällt, und nun entwidelte 
fi) ein echtes Volksfeſt. Es lag diefem Feſte die Erinnerung 


Sammlung. N. 5. XIII. 308. 2° (737) 


+ 
an uralte Zeiten zu Grunde. War ja der Walpurgistag, der 
erjte Mai, in der heidnifchen Vorzeit dem Donar geweiht; an 
ihm wurden Opfer dargebradht, auch Gerichtstage und die Mai- 
verjammlung abgehalten. 

Soweit diefer Walpertözug nicht bloß ein Feſtzug war, 
fünnte man ihn höchjtens eine Bantomime nennen. 

Deutlicher knüpfte fih in anderen Gegenden, wie ın 
Franken, an den Eintritt des Frühlings eine Mummerei, die 
al wirfliher Keim zum Drama gelten darf. Dort jtreiten 
mit einander nad) dem Berichte des Sebajtian Frank „zween 
angethane Mann, einer in Singrün oder Epheu, der heißt der 
Summer, der ander mit Gmöß (Moog) angelegt, der heißt der 
Winter.” „Da liegt der Summer ob und erjchlecht den Winter 
darnad) geht man darauf zum Wein.” ! 

Bon den befannten litterarifchen Anfängen des deutjchen 
Schauſpiels aber, die man doc fonft „von Lübeck bis nad) 
Bajel” Hinauf verfolgen kann, fehlt hier leider faſt jede Spur. 
Da iſt nicht von den jogenannten Moralitäten, welche Pa— 
rabeln und allegorijche Begriffe, wie Todtentänze, vorführten; — 
auch nichts von Faſtnachtsſpielen, den eigentlichen Poſſen, 
die zur Faftnachtszeit gegeben wurden, und denen magfirte 
Umzüge von zwei bis vierzehn Perſonen zu Grunde lagen, 
wobei die Handlung oft aus komiſchen Gerichtsfcenen bejtand. 

Nur von der ernjten Art der Myjterien — eigentlich 
wohl Minifterien, d. 5. gottesdienftlichen Darftellungen — 
oder Mirafel, in denen biblische Perjonen bezw. Heilige auf- 
traten, ift ein vermuthlih zu Erfurt aufgeführtes 
Stüd auf uns gefommen. 

In derjelben Mühlhauſer Handichrift nämlich, welche das 
zu Eifenady 1322 aufgeführte Spiel „von den Eugen und den 
thörichten Jungfrauen“ enthält, das einen fo unbeilvollen Ein- 
drud auf den Landgrafen Friedrich gemacht hat, ebenda ift auch 


(738) 


2 





eined „von der heiligen Katharina“ enthalten. Gemeint 
ift damit jene jchöne und gelehrte Jungfrau aus königlichem 
Geichlehte in Alerandria, die der Ueberlieferung zufolge im 
Jahre 327 enthauptet wurde, weil fie bei einem vom Kaiſer 
Maxentius veranftalteten Opferfeite öffentlich ihren Glauben be- 
fannte und fich weigerte, zum Heidenthum zurüczufehren. Sie 
gilt als Batronin der Philofophie und der Schulen; die Kunſt 
des Mittelalter hat ihr als Attribut entweder ein zerbrocheneg, 
mit Meſſern beſetztes Rad, oder ein Schwert gegeben. 

Ihre Schidjale führt das in deutichen Verſen gejchriebene 
Schauſpiel recht erbaulich vor. Es mußte zur Aufführung des 
legteren jedenfall eine Bühne von drei Stodwerfen vorhanden 
fein, die fich aber in einer größeren Kirche improvifiren ließ: 
die Scene war in Himmel, Welt und Hölle gejchieden. In 
einer jolchen Kirche war wohl mehr Raum vorhanden, als auf 
mancher städtiichen Bühne von heute. Da fonnte der Kaiſer 
Marentius opfern und Katharina auftreten; im Hintergrunde 
jah man das ferne Land und die Weijen, die zur Widerlegung 
Katharinas herbeigeholt waren. Zum Kerker für fie dürfte eine 
Seitenfapelle genügt haben, für die himmlischen Erjcheinungen 
eine Empore, für den Höllenrachen ein leere8 Erdgewölbe Der 
Herausgeber dieſes Ludus de beata Katerina, Heinrich Stephan, 
weilt auf zwei Stellen in dieſer Dichtung Hin, die erfurtifches 
Gepräge tragen. Zu allerlegt jagt nämlich Qucifer zu den 
ihren Lohn begehrenden Höllenfnechten:”? Davon sal vch ezu 
lone werde dy fleysdeyse an deme stalberge. Nun ijt „deise“ 
mittelniederdeutich — hochdeutih Darre, siccarium.“ Danach 
bedeutet „Fleysdeyſe“: „Fleiſchdarre“; aljo ein Ort, wo Fleisch 
troden und dürr wird, — ein vulgärer Ausdrud für Galgen, 
welch’ leßterer bei Erfurt von alter Zeit her auf dem Stoll: 
berge,* an der nach Seröpleben führenden Straße, ftand. 


Dazu paßt auch daz kapellichen vor den greten (= „vor den 
(739) 


6 


Graden“, d. 5. den zum Dome hinaufführenden Stufen), welches 
nad) dem Vorhergehenden die Teufel auch haben jollen.? Das- 
jelbe ift vermuthlich ein Euphemismus für das Henkerhaus 
mit feiner unheimlichen Umgebung, dem Pranger, der die 
armen Sünder den Bliden des Volkes ausſetzte, dem Trill- 
bauje, in dem die Delinquenten bejtändig herumgewirbelt 
wurden, und den mit freisrunden Qöchern verjehenen Quer: 
balfen, die ven Stod bildeten, jene Umrahmung, aus der die 
Hände und Beine der hierzu Berurtheilten gefejjelt hervorragten. 
Diejen thatſächlich und moraliſch anrüchigen Ort, der ſich auf 
dem heutigen Friedrich) Wilhelms: Plate befand, konnte des 
Dichters Phantafie gleichfall8 wohl den unholden Geiftern über- 
liefern. 

Bielleiht ift der Verfaſſer dieſes Spiels von der hei- 
ligen Katharina ein Erfurter Predigermönch gewejen, und 
als jolcher Haus- und Zeitgenofje des großen Myſtikers Meifter 
Edhard von Straßburg; — wenigjtens jtammt das, wie 
erwähnt, in derjelben Handjchrift befindliche und erjt fünfhundert 
Jahre nach feiner Niederjchrift von Reinhold Bechitein heraus» 
gegebene Spiel von den zehn Jungfrauen von Eifenacher 
Dominifanern. Auf alle Fälle war der Dichter ein litterarijch 
gebildeter Mann, der auch das „Nibelungenlied“ kannte;° denn 
an den Wortlaut desjelben finden fich unleugbare Anflänge in 
unjerem Drama. 

Indeſſen meldet uns feine Chronif von diefer oder 
anderen dramatiichen Vorjtellungen des Mittelalter8 in Erfurt. 

Auch aus der „Neueren Zeit” ift trog der einmaligen An- 
wejenheit de8 Hans Sachs in Erfurt wenig Erwähnens: 
werthes auf dramatijchem Gebiete überliefert. 

Allerdings Hatte das ſiebzehnte Jahrhundert, wie 
ung Alfred Kirchhoff? erzählt, Theatervorjtellungen in Erfurt 
gezeitigt.. Danach) Hatten im Jahre 1612 die Sejuiten, 


(740) 


7 





welche Schulen hielten, zum Feſte Sanctorum Innocentium ein 
Drama zur Aufführung gebracht, daS „der Neuheit wegen“ 
aud vornehmen Zufchauern außerordentlich gefiel, und im Jahre 
1647 wurde vor den nach Erfurt gefommenen fürjtlichen Brüdern 
Friedrid und Hermann von Hefjen wieder im Jeſuitenkollegium 
eine Vorjtellung gegeben, und zwar der Filius prodigus. 
Hartung® meint, daß auf dem Theater in der lateinijchen Schule 
der SJejuiten, dem Prüfungsjaale der jpäteren Lorenz: Schule, in 
der fich jebt das Verfaufslofal der Gärtnerei von J. C. Schmidt 
befindet, zur Prüfungszeit von den Schülern Eleine VBorftellungen 
gegeben worden jeien, nad) deren Beendigung Prämien auf der 
Bühne an die fleißigjten Schüler vertheilt worden wären. 

Ob dort oder im „Rathsgymnaſium“, wo nachweisbar 
die Komödien des Terenz und Plautus gelejen wurden, 
auch etliche von diefen Stüden zu Schulfeftlichkeiten aufgeführt 
worden jind, entzieht fich unferer Kenntniß, ijt aber einem Ge: 
rüchte zufolge als thatfächlich anzunehmen. Es handelt ji 
indes vielmehr in den erwähnten, die Jeſuitenſchule angehen: 
den Fällen um die Darftellung biblijcher Stoffe. 

Das Nämliche ift nach Kirchhoffs Bericht der Fall gewejen 
bei dem Marionettentheater des Erfurters Clemenz 
Fiſcher, der am 22. Dftober 1644 den Rath der Stadt um 
die Erlaubniß bat, „etliche Hijtorien auf unterjchiedliche Tage 
bier agiren zu laſſen.“ „Sch babe“, jchreibt er, „die Hiftorie 
aus Matthäus 25 in deutiche Reime gebracht, in eine Komödie 
verfaßt, mit jchönen und wohljtaffirten Bildern und Figuren 
zu agiren laut meine? Stammbuchs und eingelegtem Briefe.“ ? 

Bon einem anderen PBuppenjpiele in Erfurt berichtet die 
„Thüringiſche Vaterlandskunde“.!“ Dasjelbe fand am 26. Mai 
1685 jtatt. „Es war freilich nicht“, heißt e8 dort, „in Göthens 
Sinne, aber es erreichte doc den Zwed, das Volk weidlich zu 
unterhalten. Das Bolf hatte eine jolche Beluftigung nach der 


(741) 


8 


großen Peſt jehr nöthig. Tie Puppen Hatten auch damals 
Ihon den großen Hanswurſt zu ihrem Präſidenten.“ Leb- 
terer las jeinen Mitjpielern, hoc) und niedrig, tüchtig den Tert 
und warf jie, wenn fie nicht hören wollten, zur Thür Hinaus, 
daß es Hatjchte. 

Auch in dieſem lächerlichen Hanswurft ftedt ein tieferer 
Sinn; man meint, daß fich in jeine Maske altgermanifcher Gott 
und griechiicher Satyr verloren haben. Will man aber nicht zu 
jo nebelhaften Erklärungen feine Zuflucht nehmen, fo muß jeden- 
falls anerfannt werden, daß „Kaſpar“ — fo nannte man gar 
bald den Hanswurſt — „von jeher im Mittelalter der Name 
eine3 der heiligen drei Könige war, die in den Myſterien, in 
den Drei-Königs:Spielen und ſonſt dem Volk jährlich vor Augen 
traten. Seit dem fünfzehnten Jahrhundert wird Kaſpar eine 
Iujtige Perſon, tritt al8 Mohr mit gefchwärztem Gefichte auf 
und ift Wortführer in der Buppen-Gejellichaft.”"! 

Ein im Jahre 1703 in Erfurt geplantes Puppentheater 
wurde, der „Baterlandsfunde” zufolge, nicht genehmigt. 

So ijt wohl nad) dem Niedergange des Mittelalters, ab- 
gejehen von den gelehrten Schulen, die Bühnenkunft Jahrhunderte 
fang in unjerer Gera-Stadt auf höchſt primitive Weije vertreten 
gewejen, und ziwar nur durch ſogenanntes „Fahrendes Volt.” 

„Nur einzelne Hiftrionen”, jagt Conjtantin Beyer,'? „Mario- 
nettenfpieler oder Marktichreier, die auf einer auf großen Bier- 
fäffern erbauten Bühne vor den Graden die luſtigen Abenteuer 
eines Vielfraßes, oder eine mit gewaltigem Trompeten- und 
Paufenlärme begleitete Haupt: und Staatsaktion dem fich im 
chaotiſchen Gewühle um ihren wadeligen Mujentempel drängen: 
den Pöbel, aber bloß als Mittel zur Empfehlung ihrer Bur- 
ganzen und Vomitive, zum Beſten gaben, hatten bisher auf die 
unverantwortlichjte Weiſe Thalien in unſern Mauern mißhandelt. 


Unter ihnen zeichnete fi) vor allen andern ein gewiſſer Ungar 
(742) 


9 


von koloſſalem Wuchſe, Namens Farkas, aus, der mit großem 
Gepränge, von einem mit Gold und Silber verbrämten Gefolge 
begleitet, durch alle Straßen unſerer Stadt ritt und das 
Publikum zu jeinen Gaufeleien und Quadjalbereien einlud, und 
dadurd) der damal3 mit jehr wadern Männern bejegten medi— 
zinischen Fakultät, die diefen Unfug nicht verhindern konnte, 
öffentlich Hohn ſprach.“ — — — 

Gern hätten wir eine Spur jener engliſchen Komddianten 
aufgefunden, die in einzelnen Trupps in der zweiten Hälfte des 
jechzehnten und in der erjten des fiebzehnten Jahrhunderts in 
größeren Orten Deutſchlands, vornehmlich an fürftlichen Höfen, 
auftraten, — fo in Kajjel, Dresden, Wolfenbüttel und 
Sranffurt aM. —, und die ald Zeitgenofjen und theilweije 
frühere Gehülfen William Shafejpeares „die perſönliche Kunft 
des mimijchen Spiels bei uns aufbrachten und zugleich die- 
jenigen Bühneneinrichtungen einbürgerten, die jeitdem dem Theater 
eigen geblieben find.“ Indeſſen waren alle nad) diejer Rid)- 
tung hin angejtellten Bemühungen vergeblic). 

Der nachweisbar erjte Verjuch, weltliche Theater- 
tüde in Erfurt ordnungsmäßig aufzuführen, fällt 
in die Jahre 1756 und 1757, unter die Statthalterjichaft 
de3 Freiherrn von Warsberg und ijt eng verknüpft mit dem 
Namen des bekannten Schaujpielers Karl Theophilug 
Dödi(b)elin. 

Diefer aus Königsberg i. Pr. gebürtige Komödiant, der 
eigentlich ein verpfujchter Halliicher Student der Rechtswiſſen— 
ſchaft gewejen ift, ficherte zunächft Dadurch jeinem Namen 
einen ehrenvollen Pla in den Annalen der Schaufpielfunft, 
daß er im Jahre 1767 in Berlin eine Gejellichaft begründete, 
die nach einiger Zeit unruhigen Wanderns eine feſte Bühne in 
der Nefidenz eröffnete. Lebtere wurde im Jahre 1789 an den 


Königlichen Hof abgetreten und hat unter dem Namen „National 
(743) 


10 


Theater” die Grundlage für das jpätere Berliner Hoftheater 
gebildet. „Döblb)elin fcheint allen Nachrichten zufolge ein Natur: 
genie und gewaltiger Bramarbas gewejen zu jein, welcher die 
wilde engliihe Manier wieder aufleben machte und durch jein 
Donnergepolter als „Raſender Dedipus“ und als „Richard III.“ 
das Berliner Publikum vergnügte.““ 

Zweitens hat Döbf(b)elin am 14. April 1783 auf jeiner 
Berliner Bühne in der Behrenjtraße die erjte Aufführung von 
Lejfings „Nathan der Weije” veranftaltet, wie er auch 
1772 die „Emilia Galotti” in Braunjchweig zum erjten 
Male aufgeführt hatte. 

Daß jich diefer Künftler feiner dramaturgiichen Verdienſte 
wohl bewußt war, geht aus einem jpäteren originellen Briefe 
hervor, den er an einen mißliebigen Sritifer richtete, und defjen 
Wortlaut folgender ift: 

„Mein Herr! 
(Profejjor kann ich Sie nicht nennen) 
Beitungsjchreiber! 

Sie haben in der heutigen Voſſiſchen vom 16. Nov. mid), 
meine Direktion und mein Theater auf die umwürdigfte und 
unverantwortlichite Weije angegriffen. Ich bin zu alt, um von 
einem galljüchtigen Menfchen mich herumhudeln zu lafjen. Ich 
habe zu lange als Märtyrer der Kunft gelitten. Wer bat 
zuerft Minna von Barnhelm aufgeführt? Döbelin! Wer hat 
Emilia Galotti zuerft im Manufeript auf die Bühne gebracht! 
Döbelin in Braunfhweig! Wer hat's unter den Deutichen 
gewagt, Nathan den Weifen mit aller Würde, neu Ddecorirt, 
neu gekleidet, auf die Bühne zu bringen? Diejer von Ihnen 
unverantwortlich gehudelte D. 

Ich bitte Sie um Gotteswillen, lernen Sie mich befjer 
fennen oder Sie wagen zu viel und hören alddann auf, Zei: 


tungen zu fchreiben und Kritikaſter zu fein. 
(744) 


11 


Gott verdamme mich, wenn Sie ein Frey-Billet bekommen, 
das der junge Herr Voß für Sie bei mir gejucht! 
Leben Sie wohl, bejjern Sie ſich, dies wünjcht Ihr tödtlich 
beleidigter Döbelin, dem Sie das Brot zu jtehlen juchen.'? 
Berlin, den 16. Novenber 1784. 
Döbelin.” 


Wie fam nun im Jahre 1756 der damals neun: 
undzwanzigjährige Döb(b)elin nah Erfurt? 

Er Hatte ſchon eine bewegte Bergangenheit hinter fi. In 
Gemeinjchaft der Neuberin Hatte er zuerit die Bühne betreten, 
war dann mit fremden wandernden Truppen umbergezogen und 
hatte hierauf eine eigene Schaujpielergejellihaft um ſich ver: 
jammelt. Mit diejer befand er fich zur Zeit auf der Wander: 
Ihaft; denn er jagt jelbjt in feiner Eingabe, die im Erfurter 
Stadtarhive aufbewahrt wird, daß er vorher „an großen 
Höfen und an großen Dertern” mit Beifall Vorſtellungen ge’ 
geben habe. 

Damals war eben in Erfurt eine Behörde eingejegt worden, 
welche Kommerzien- oder Merkfantildeputation hieß und Die 
Aufgabe Hatte, „alles zu unterfuchen, was zur Verbeſſerung 
der Nahrung und Handlung, überhaupt zum allgemeinen Wohl 
der Stadt Erfurt und ihres Gebiete gereichen könnte.” 

Diefe „Deputation“ nun richtete, wenige Wochen ehe 
Friedrich der Große den fiebenjährigen Krieg begann, an den 
Kurfürften Philipp Karl von Mainz als an den Landesheren 
eine Eingabe, die uns die Situation fchildert. Das Schrift: 
ſtückis lautet wörtlich: 


„Hochwürdigſter Erz-Biſchoff. 
Gnädigſter Churfürſt und Herr Herr. 
Nach Eurer Churfürſtlichen Gnaden höchſt preiswürdigſten 


Intention und der Uns gegebenen gnädigſten Vorſchrift das 
(745) 


12 


Wohl und Aufnehmen Höchjtderojelben lieben und getreuen 
Stadt Erfurth zu befördern und empor zu bringen, So verab- 
jäumen wir nach diefem höchſten Befehl feine Gelegenheit, 
welche hierzu beitragen fan. Wir haben dahero erwogen, daß 
eine gejittete und regelmäßige Gejelfchaft teütſcher Schaufpieler 
gleichwie in anderen Städten, aljo auch alhier das Publicum 
durch Vorjtellung moralischer Schau Spiele gefitteter und 
nachdenfender gemacht und dadurch nicht wenig Fremde an— 
gelockt werden Fünten. 

Da ſich nun gefüget, daß Carl Theophilus Doeblin fi) 
mit einer geſchickten und regelmäßigen Geſelſchaft teütſcher 
Commedianten hier eingefunden, welcher alhier joldhe aus: 
erlejene moralijche Stüde aufgeführet und ich jeither feines 
Hierjeyns mit feiner Gejelichaft jo fitfam betragen, daß wir 
ihm nichts anderes als alles um das Publicum verdientes Lob 
beilegen können So juchet derjelbe in dem angebogenen unter- 
thänigften Supplicat um die Gnädigfte Concession unterthänigjt 
nad), jederzeit alhier mit Ausſchließung aller anderen Com- 
medianten teütſche Schau-Spiele aufführen zu dörfen. 

Unfer nad) Höchſt Derojelben Gnädigjten Intention vor 
das Wohl und Aufnahme hiejiger Stadt unterthänigjt geäußerter 
Endzwed und beigelegtes Zeügniß laßet Uns unterthänigft an- 
hoffen, daß Eure Churfürjtlihen Gnaden dem unterthänigjten 
Supplicanten in jeinen Suchen um jo mehr gratificiren werden, 
je größere Zierde ein wohl eingerichtetes Theatre Hiefiaen Ort 
beilegen wird. Damit aber deßen vor jezo zwar gefittet und 
regelmäßige Gejelichaft fernerhin in jolhen Umftänden erhalten 
werden mögte, So haben Euren Churfürftlichen Gnaden Wir 
unterthänigit vorjchlagen und bitten wollen, uns dahin gnädigft 
zu authorisiren, daß wir dieje Doebelinijche oder eine andere, 
wovon man in Publico den vorgejezten Nuzen Hoffen könne, 
in Höchſt Derofelben Nahmen privilegiren dörften und daß das 


746) 


13 


Directorium von allen Schau-Spielen aladann von Uns de- 
pendiren jolle. 

Die Wir in tieffter Erniedrigung erharren 

Eurer Chur Fürftlichen Gnaden 
Unſers Gnädigften Herrn Herrn 
unterthänigſt 
gehorſamſte 
zur 
Comercien-Deputation 
gnädigit anhero verordneter 
Praeses, Director, Räthe und Beyhſitzer. 
Erfurth, den 26ten July 1756.” 

Betrachten wir die Eingabe genauer, jo jehen wir, daß 
man damals einen dDoppelten Zweck mit Einbürgerung einer 
Scaujpielertruppe im Auge Hatte. Erſtens war die Abficht 
vorhanden, die und ganz modern anmuthet, durch die Vor: 
ftellungen jener eine möglichſt große Anzahl von 
Fzremden nah Erfurt zu loden. Bon den legteren hoffte 
man wohl, daß jie viel Geld dort lajjen würden. 

VBielleiht dachte man auch daran, auf dieſe Weije den 
Beſuch der Erfurter Univerfität zu heben. An dieſer hatten jich 
im genannten Jahre“ mehrere vornehme Standesperjonen auf- 
nehmen lajjen, unter anderen der Neichsgraf Franz Anton von 
Khevenhüller von Wichelberg, faijerlicher Kammerherr und Erb. 
ftatthalter im Herzoathum Kärnthen, aus Wien, ferner Der 
Reichsgraf Carl Philipp von Ingelheim aus Mainz, jowie der 
Neffe des NKurfürften, Marimilian Reichsgraf von Oſtheim, 
ebenfalls aus Mainz, Franz Anton Freiherr von Gudenus aus 
Würzburg, die Fürften Joſeph und Chriftian von Hohenlohe: 
Bartenjtein, Grafen von Waldburg und Limburg und Herren 
von LZangenburg — und Andere mehr. 

Bweitens jollte das Bublifum durch ER 


(747 


14 


„moraliſcher Schauſpiele“ gejittet und nadhdenfender 
gemacht werden. Das verjegt und mit einem Sclage 
in die von Gottjched beherrjchte Litteraturperiode, in die Zeit 
der Gellertichen Zuftipiele, der comedies larmoyantes, die nach 
dem Urtheil der Sacjverftändigen nicht3 weiter waren, als 
dramatifirte moralische Abhandlungen, welche vor allem Rührung 
bezwedten. 

Auch Gottſched bezeichnete „Die Hebung der Sittlich— 
feit“ als Zwed der Kunjt; darunter verjtand er freilih nur 
den äußeren Anſtand.“ Hat ja doch aud Friedrich 
Schiller im Einverjtändniffe mit Iffland einen Aufſatz in der 
„Thalia“ veröffentlicht mit der UWeberjchrift: „Die Schau- 
bühne als eine moralijche Anjtalt betrachtet.“ 

Die auf das Schreiben der Kommerziendeputation folgende 
Eingabe Döb(b)eling felbft verräth ung den Titel eine von ihm 
vor furzem zur Aufführung gebrachten Stüdes. Er rühmt fich 
nämlich, das Glück gehabt zu haben, die Gunjt „des Hiefigen 
Adels und Publikums durch ein bei Gelegenheit des Geburts: 
tages des Kurfürſten (aljo Anfang Mai) vorgeführtes Vorfpiel 
und darauf aufgeführte® Trauerjpiel „Polieuftes” errungen zu 
haben. Alſo die Tragödie des großen Pierre Corneille 
„Bolyeucte”, die durch Kompofition und Charakterzeichnung 
jehr bemerfenswerth ift, gehörte zu Döb(b)elins Aepertoire. 

Die Aufführungen der Döbfb)elinfchen Truppe für Erfurt 
genehmigte der KHurfürft durch ein Dekret aus Aichaffenburg 
vom 14. Auguſt 1756, jedoch „nicht länger als auf ferneres 
Wohlverhalten“. 

Bereit3 am 19. Juni genannten Jahres war im 25. Stüd 
der „Wöchentlihen 'Erfurtiihen Anfrag- und Nad- 
richten” folgende Ankündigung erlafjen worden: 

„Die alldier neu angefommene Döb(b)eliniche Gejellichaft 
deuticher Schaufpieler, welche ſich durch Borjtellung gefitteter 


748 | 


15 


Schauſpiele jchon jeit furzer Zeit die Gnade, den Beyfall und 
die Gewogenheit vernünftiger Kenner erworben, wird Dienstags, 
Mittwochs, Freytags und Sonntags gute Stüde nach beftem 
Geſchmack aufzuführen fortfahren. Es Hat diefe Gejellichaft 
durh Schlegels Canut, Regnart3 Democrit und Bol: 
taires Dedipe gezeigt, wie viel Gutes man ſich fünftig von 
Ihr zu verjprehen haben wird. Zu kommende Woche wird 
das Trauerjpiel des Herrn von Voltaire, Mahomet der 
Schwärmer, das jchöne Quftjpiel des Herrn Krügers, der 
blinde Ehemann, des Herrn Profeffor Gottjched ſter— 
bender Gato und das Gejpenft mit der Trommel aus 
Gottiheds Schaubühne!? aufgeführt werden. Die VBorftellung 
wird diefer neuen Bühne ohne Zweifel Ehre machen. 

Sehen wir uns die angeführten Stüde näher an. Der 
„Sanut“ Johann Elias Schlegel3, eines talentvollen 
Schülers von Gottiched, ijt eines der beiten Trauerjpiele feines 
Verfaſſers; das Stück erjchien 1746 in Kopenhagen. E3 brand: 
marft den politifchen Egoismus und führt einen Charakter aus 
der däniſchen Borzeit, den des Ulfo, auf die Bühne, der in 
jeiner gewiſſenloſen Herrjchjucht vielleicht nur mit Shafeipeares 
„Richard III.” verglichen werden kann. 

Das zweite hier genannte Stüd ift „Demofrit“ von 
Jean Francois Regnard. Diefer, ein franzöfischer Zuftipiel: 
dichter des ausgehenden fiebzehnten Jahrhunderts, kann als 
glücklicher Nachfolger Molieres bezeichnet werden. Unter feinen 
fünfzehn Luftipielen nimmt der „Demokrit“ freilich nicht den 
erſten Platz ein. 

Von Voltaire werden hier zwei Stücke genannt: „Oedipe“ 
und „Mahomet“. Während dieſes eines von den ſpäteren 
Stüden des Autors ift — es jtammt aus dem Jahre 1742 —, 
wurde der „Dedipe” in den Jahren 1717—18 verfaßt, und 


zwar in der Baftille, im Verlaufe einer elfmonatlichen Gefangen- 
(749) 


16 

fchaft, die ſich Voltaire durch ein fatiriiches Gedicht auf den 
Negenten Philipp von Orleans zugezogen Hatte. Das Stüd 
war wejentlid; im Gejchmade Corneilles, doch in Anlehnung 
an Sophofles gehalten. Es zeichnet fi) durch glänzenden 
Versbau und eine prunfende Rhetorik, aber auch durch ratio» 
naliſtiſche Tendenz aus. 

„Der blinde Ehemann“, ein LZuftipiel des ſchon 1750 
verjtorbenen Berliner Dramatikers Johann Chriftian 
Krüger, war 1747 erjchienen. Das Stüd beruht auf einem 
alten, durch den Titel Hinlänglic) angedeuteten Motive; es ift 
eilfertig gearbeitet und fällt, wie Erich Schmidt jagt, unter die 
Rubrik der jählishen Komödie. Vom Verfaſſer urtheilt Leſſing 
in der „Dramaturgie“, daß er Talent zum Niedrigtomijchen 
hätte; ein deutſcher Moliere war er nicht. 

Den 1733 erjhienenen „Sterbenden Gato” nennt 
Gottiched jein Werk, „weil er die Sterbejcene aus Addiſons 
„Cato“, dag übrige Stüd aber, worin Cäſar als Liebhaber der 
Tochter Catos auftritt, aus dem Franzöliichen de Deschamps 
entnommen hatte.‘ 1? 

Ziehen wir die Quintefjenz aus diejer Litterarhiftorifchen 
Abſchweifung: Wir ftehen mit diefen ſceniſchen Auf: 
führungen mitten in der Gottſchedſchen Periode. 

Gottſched Hatte, wie man weiß, herangebildet durch das 
Studium der Alten, einen Widerwillen gefaßt gegen die bis 
dahin üblichen gejchmadlojen „Staatsaktionen” — fo nannte 
man Gelegenheitsjtüde, die eine ernjte Handlung im Stelzen: 
tritte vorführten —, wie aud) gegen die findilchen Stegreif- 
fomödien und vor allem gegen den „Hanswurſt“. 

Begeiftert für den feierlichen Ton und die Regelmäßigfeit 
der franzöfiichen Tragödie, legte er jelbjt den Grund zu einem 
würdigen Stof von Bühnendichtungen durch metrijche Ueber: 


ſetzung der Stüde von Corneille und NRacine, 
750) 


17 


Nun sprachen die Schaufpieler in ſtolzen Alerandrinern; 
nun fühlten fie fi) durchdrungen von einem an der Antike 
entzündeten Pathos, und wenn ſich auch Gottiched dem Er- 
beiterungsbedürfnig des großen Publikums gegenüber nicht 
durchaus ablehnend verhielt, jo herrichte doch jelbjt in feinen 
komiſchen Scenen eine wohlthätige Zurüdhaltung. 

Daher der freudige Willlommen, welchen die beiten 
Männer Erfurts damals unferem Döb(b)elin als dem berufenen 
Vertreter von Gottjcheds bahnbrechenden Neuerungen entgegen» 
brachten! 

Indeſſen war dieſer brave Mann, wie aus ſeiner Eingabe 
vom 22. Mai des folgenden Jahres (1757) hervorgeht, ver: 
hindert worden, von dem ihm für 1756 ertheilten Theater: 
privilegium einen ausgedehnteren Gebrauch zu machen, weil er 
angeblich jchon vorher mit dem fürftlich ſächſiſchen Hofe in 
Weimar ein Engagement getroffen hatte. 

Da er nun aber, ein Jahr jpäter, in Weimar feines 
Dienjtes ledig geworden wäre und die Freiheit erhalten Hatte, 
jein Brot zu fuchen, wo.es ihm gefällig wäre, jo erjuchte er 
die hochlöbliche Kommerziendeputation in Erfurt, ihm ein neues 
Gertififat auszuftellen, auf Grund deſſen er wenigſtens drei 
Monate im Jahre in ihrer Stadt zubringen und „unanftößige 
Schaujpiele zur Berbejjerung der Sitten und zum 
unjhuldigen Vergnügen“ aufführen dürfe. 

Tags darauf — am 23. Mai 1757 — wurde ihm jeine 
Bitte gewährt. Seine Gejellichaft wurde nun als eine von 
„eigens privilegirten Churfürſtlich Mayngifchen Commoedianten“ 
bezeichnet; zugleich wurde fie unter den Schuß der in Erfurt 
bejtehenden kurfürſtlich mainzischen Polizei- und Kommerzien— 
deputation gejtellt. 

Diesmal ging das Unternehmen ganz glatt von jtatten; 


da3 jehen wir aus einer Quittung Döb(b)elins vom 5. Juni 1757, 
Sammlung. N. F. XIII. 308. 2 (751) 


18 


in der dieſer befennt, „zur Herbeifchaffung einiger Perjohnen 
zu Completirung jeiner privilegirten Geſellſchaft deutjcher 
Scau-Spieler” als Geldvorſchuß durch den Herrn Kammerrath 
Spoenla aus dem hiefigen Pfandhaus Einhundertfünfzig Thaler 
„Anlehensweije” ausgezahlt erhalten zu haben, und in der er 
verjpricht, daS Geld in vier Wochen zurüdzuzahlen. Er ver- 
pfändet dafür fein bereit3 vorhandenes und zufünftiges Ver— 
mögen, in specie aber jeine ganze Garderobe. 

Gleich an demfelben Tage - am 5. Juny 1757 — bezeugt 
das Kaijerliche Reichspoſtamt in Erfurth, daß ein mit Ajfignation 
von 105 Thalern bejchwertes Schreiben an Mr. Schubert in 
der hiefigen Erpedition der fahrenden Poſt zur Beſtellung über- 
geben jei, ebenjo ein mit 45 Thalern beichwerte® Schreiben an 
Madame Schulgin in Dresden. 

Wir jehen aljo, Döbfb)elin hat die geliehenen 150 Thaler 
wirklich zu Gagen für neue Schaufpieler gebraudt. 

Zulegt Haben wir auh noch in dem Altenſtücke eine 
„Specificatio Derer Kojten wegen des Theatri.“ — Was für 
Bretter, Holz, Latten, Nägel, Schrauben, — für Zimmermanns:, 
Schreiner: und Malerarbeiten —, für Bier und Branntwein 
zur Stärfung der arbeitenden Leute ausgegeben wurde, ift 
genau darin angegeben. Die Summe dieſer Spejen betrug 
85 Thaler 21 Gr. 9 Pf. — Darunter ftehen die Worte: 
„Diejes hat Herr Wieber pro Notitia hergegeben, was ihn 
jein Theater gefoftet.” — Diefer Johann Ernſt Wieber 
war damals "und bis 1781 Beſitzer des „Ballhauſes“, des 
heutigen „Kaiſerſaals“, in dem im vorigen Jahrhundert jo 
vielfach, und aud) im Anfang dieſes Säkulums zur Zeit des 
Erfurter Kongrefjes theatraliiche Aufführungen ftattgefunden 
haben. 

Das Gebäude, Gemeinde Matthiae Nr. 1, „Zum rothen 
Hirſch“ genannt, war bi8 1734 nur ein Privathaus. Lange 


(752) 


19 

Beit war es im Befite des Patriziergejchlechts der „Reynbothe“ 
geweſen; von 1693 ab gehörte es der Frau von Brettin, ge 
borenen von Kreugberg. Seit 1734 aber hatte darin der Re 
ftaurateur und Ballmeifter (wohl „Univerfitäts-Ballmeifter“) 
Georg Sommer gewohnt. „Vielleicht“, meint Hartung, ? 
„nannten die Studenten infolge des Charakters ihres Wirthes 
das Kneip-Lofal „Ballhaus.“ * 

Hinter dem Ballhaufe nun erhob fich diejes erjte ftändige 
Theater Erfurts, das, wie wir jahen, in den Jahren 1756 und 
1757 entftand, zunächſt als Schaupla für die Thätigfeit und 
Kunſt Döbfb)eling. 

Der theatralifchen Kampagne Döb(b)elind in Erfurt vom 
Sahre 1757 dürfte wohl jene weltgejdhichtliche Komödie ein 
Ende bereitet haben, die ſich auf thüringiichem Boden am 5. 
November genannten Jahres bei Roßbach abjpielte. — — — 

Die nächte Nachricht über Erfurter Theater-Aufführungen 
ftammt angeblich) aus dem Jahre 1770, gehört aber vielmehr, 
wie wir feftftellen können, ins Jahr 1769. 

Hierüber meldet der Erfurter Chronift Conjtantin Beyer ?' 
folgendes: 

„Durch den Auf der rejtaurirten Univerfität angelodt, 
fam um dieſe Zeit endlich einmal eine regelmäßige Schaujpieler- 
Geſellſchaft, unter der Direktion eines gewijjen Abt, bier an, 
und gab auf dem Theater des Univerfitäts-Ballhaujes eine Reihe 
von Vorjtellungen, die ſtark befucht wurden, und denen jelbft 
ein Wieland, der feine Vorftellung verjäumte, jeinen Beifall 
zollte. Madame Abt, die Frau ded Direktors, zeichnete fich 
vortheilhaft aus, und fie glänzte bejonders als „Marwood“ 
in Leſſings Trauerjpiel Miß Sara Sampſon und als 
„Julie“ in Weißes Trauerjpiel „Romeo und Julie.“ 

Das „Erfurtifche Intelligenz.Blatt” vom 21. Januar 1769 


berichtet?? zur Sache folgendes: 
2* (758) 





20 


„Herr Abt, der von der Natur Talente erhalten Hat, die 
ihn zu einem unjerer beften Schaufpieler erheben werden, und 
von welchem fein Freund Wieland uns verfichert, daß es auf 
ihn felbft anfomme, ob er ein deutjcher Garrick werden wolle, 
bat aus den Trümmern der Starkifchen Gefeliichaft eine neue 
errichtet, und mit folher bey uns zuerjt die Bühne betreten. 
Der Trupp ift noch Hein; eben deswegen und wegen einiger 
vortreffliher Schauspieler verdient Herr Abt Nachſicht“ ... 

Zur Erklärung diefer Worte jei bemerkt, daß der Auf 
David Garrids, des genialen Schaufpieler® vom Drury- 
Lane-Theater zu London, damals die ganze Welt durchlief. 
Wieland, der hier zweimal Erwähnung fand, war bekanntlich 
vom 1. Zuni 1769 bis zum 21. September 1772 als Profefjor 
an der Erfurter Univerfität angeſtellt. Er mußte wohl ein Ur: 
theil in theatralifchen Dingen haben; denn Leſſing feiert ihn 
als Ueberjeger Shafejpearejcher Dramen. 

Die Schaubühne wurde am 29. Dezember 1768 mit ber 
„Minna von Barnhelm“ eröffnet. Herr Abt war Zell: 
heim, die Madame Abtin: Minna. Einen Prolog Hatte 
Profefjor Friedrich Juſt Riedel, Wielandg Kollege, ge- 
dichtet. 

Wir haben hier aljo eine Aufführung von Leſſings bedeu- 
tendſtem Quftipiele in Erfurt, ein Jahr nad) Beröffentlichung 
desjelben — das Stüd war 1767 in Berlin erjchienen —, 
aufgeführt höchſt wahrjcheinlich im Beifein Wielands, — eine 
für die Theatergejchichte bemerfenswerthe Thatjache! 

Wir find in der Lage, den Anfang des Niedeljchen Pro- 
1098 zur „Minna von Barnhelm“ mitzutheilen, aljo Töne wieder 
zu erweden, die einhundertunddreißig Jahre gefchlummert haben: 


„Wer Blut im Bulje fühlt, und mit dem warmen Bujen 
Entgegen Mopft den Spielen unſrer Mujen, 
Dem ſey died Spiel der Frölichkert 


(754) 


2 


_ 


Bon Lejjings Wig, durh Garrids Kunft geweiht. 

Denn welche Harlelin an feine Bühne witzelt, 

Zum Beyfall zwingt, zum Lachen figelt, 

Die reizt das beßre Schaujpiel nie — 

Ihr Befall ift ein Werk der lieben Sympathie; 

Sie laſſen ſich vom Harlekin entzüden, 

Weil fie fich jelbft in ihm erbliden. 

Ihr aber, deren Ohr jogleih den Miston hört, 

Wenn ungeihlifner Scherz die Bühn’ und Euch entehrt, 

Ihr, ganz geichmelzt von Tugend und Gefühl, 

Für euch, für euch ift unſer Spiel.” ... 

Bon den gegen Ende des Jahres 1768 und in der 
eriten Hälfte des Januar 1769 aufgeführten Stüden jeien zur 
Kennzeihnung des damaligen Gejchmades folgende Titel 
genannt: 

1. Der Einfiedler. 

2. Regnard, Die verliebten Thorbeiten. (Ein Luſtſpiel.) 

3. Der politische Kannegießer. 

4. Voltaire's Zaire. 

5. Goldoni, Der wahre Freund. 

6. Richard III. 

7. Weißes „Romeo und Julie.” — — — 

Bekanntlih) hat Chriſtian Felix Weiße Shafejpearejche 
Stoffe nach den franzöfiichen Regeln bearbeitet, indem er die 
Handlung vereinfachte und die Einheit von Ort und Zeit 
möglichjt durdhführte. 

Wir gewahren hier, daß die Bewunderung der fran- 
zöſiſchen Dichter ihren Höhepunkt überjchritten hat, und daß 
man jchon bei Shafejpeare, auf den Leſſing ja doch wiederholt 
hinwies, echt tragische Charaktere von Fleiſch und Blut zu 
bewundern anfängt; ja es jteht feit, dab man damals bereits 
die altgriehifchen Tragödien ſtudirte. So nämlich müfjen wir 
die Worte aus Riedels Prolog zu „Romeo und Julie“ 


veritehen: 
(755) 


22 


„Wenn aber Sophocled im prächtigen Eothurne 

Die Tugend groß im Glüd, noch gröffer an der Urne 

Mit ftarfen Zügen mahlt, wenn Schadspeard Muje täuſcht, 
Voltaire Wunder thut, Racine Zähren heiſcht, 

Dann weint der Menihen Freund, der Redliche, der Weile, 
Und iede Thräne flieft der Menſchlichkeit zum Preiße.“ 


Um 21. Januar 1769 gejtaltete fich auf der Erfurter Bühne 
dieje Aufführung von „Romeo und Julie“, die von Herrn 
Abt jorgfältig vorbereitet worden war, zu einer Glanzvorftellung. 
Das Haus war gedrängt voll, und bei den pathetiichen Stellen 
waren alle gerührt bis auf fünf oder ſechs Perjonen, die lachten. 
Der darob entrüftete Rezenſent ruft aus: 


„Do ſolche Mäulerchen, die bei Romeo lachen, 
Soll Jupiter zu Affenmäulern maden!“ 


Beſonders entzüct ift der Beurtheiler von Frau Abt. Er 
jagt: „Um Madame Abtin, ald Julien, zu loben, müßte man 
einige Bogen Dramaturgie jchreiben. Felſenherzen bewegte fie 
durch die Sprache ihrer Zunge, ihrer Augen, ihrer Hände und 
durch die ganze körperliche Beredſamkeit, die fie jo jehr in ihrer 
Gewalt hat.” 

Sie muß in der That eine tüchtige Frau geweſen fein, 
die fich auch in der Noth zu helfen wußte. Als nämlich eine 
von Abts Truppe in Erfurt gegebene Vorftellung infolge des 
ſchlechten Souffleurs in Verwirrung gerieth, und das Publikum 
anfing zu pfeifen, ftellte jie, wüthende Blicke auf den Souffleur- 
fajten jchießend, die Ruhe wieder her durch die an die Zufchauer 
gerichtete exrtemporirte Anrede: „Sie haben Recht zu pfeifen, 
wir verdienen es!“ 

Auch diefe Theater-Saifon ging zu Ende. Die Geſellſchaft 
ging am 20. Februar 1769 von Erfurt nad) Hannover. Ihre 
legte Borftellung am Geraftrande waren nad) dem Berichte E. 


Beyers „Die Kandidaten, oder die Mittel, zu einem Amte zu 
(756) 


23 


gelangen,” ein Luſtſpiel in Proſa und fünf Akten von Krüger. 
Hierauf hielt Madame Abt eine Abjchiedsrede, und den Beichluß 
machte ein großes, fomijches Ballet, betitelt: „Der Iuftige Schuh 
macher oder der blaue Montag.“ 

Das damals aufgeführte Krügerjche Luftipiel „Die Kandi: 
daten” ijt, dem Urtheile Erih Schmidts zufolge, eines der rüh— 
renden, unter Graffigny-Gellertſchem Einfluß entjtandenen, aber 
mit draftiichen Elementen verſetzt. — „Es ijt reich an Ueber: 
treibung . .. ., doc nicht ohne Bühnenkenntniß. Männlicher 
Edelmuth und weibliche Unschuld fiegen über die Intrigue der... 
Kofetterie. Die edle Zofe ift vornehmer Abkunft, ihr Vetter 
findet fie, fie erhält die Familiengüter.““ — 

Herr Abt jcheint ein jehr gewiljenhafter Mann geweſen zu 
fein. Denn im „Erfurtiichen Intelligenz.Blatt“ von Sonnabend, 
den 25. Februar 1769, Iefen wir folgende Anzeige von ihm: 

„Es wird dem Publico hiermit befannt gemacht, daß ich, 
jo viel mir wifjend, alle Paßiva, ſowohl vor mich, als meine 
Geſellſchaft, jo lange fie unter meiner Direction gejtanden, be- 
reit3 getilget habe, auch feinem von meiner bisherigen Gejell- 
ſchaft laut deren Unterſchrift das geringjte jchuldig bin; jollten 
fih aber noch einige von hieſiger Bürgerjchaft finden, die eine 
rechtmäßige Forderung zu haben glauben, jo fünnen fich die» 
felben noch vor meiner Abreife in meinem Logis melden, und 
aller Satisfaction gewärtigen.” — — — 

Mittlerweile Hatte ſich das Intereſſe für die Bühnenwelt 
den Erfurter Studenten mitgetheilt, und jo erjcheint es 
nicht wunderbar, dab dieje öfter „im Ballhauſe“ jelbjt Komö— 
dien aufführten. Karl Philipp Morih Hat in feinem „piy: 
chologiſchen Roman” Anton NReijer jeine eigene Jugendge: 
fchichte erzählt, und dabei jchildert er ung auch feine Erfurter 
Studienzeit, die in die Jahre 1776 und 1777 fällt. Er war als 


biutarmer Jüngling von neunzehn Jahren nach der hochberühmten 
(757) 


24 





Mujenftadt gefommen, und fein dortiger Aufenthalt wurde ihm 
durch die edle Fürſorge zweier erfurtiicher Gelehrten, de Prä- 
laten Günther vom Peterskloſter, der damals gleichzeitig Rektor 
der Univerfität war, und des Theologie-Brofefjors augsburgifcher 
Confeſſion, Dr. Froriep, welcher damals Kirchengeſchichte las, 
ermöglicht worden. 

In dem Stüde „Medon oder die Rache des Weifen” von 
Profefjor Elodius in Leipzig — einer Dichtung, die Goethes 
Spott auf fi) zog —, gab Morig?* die Rolle der Elelie, der 
Geliebten des Medon, aljo eine Frauenrolle, „weil fih an 
jeinem Kinn noch die wenigjte Spur von Bart zeigte.“ 

Ein andermal jpielten die Studenten „Den Argwöhniſchen“ 
und „Den Schab“ von Lejfing. Im der einen Bluette erhielt 
Mori wiederum zwei Frauenzimmer-Rollen, und in der anderen 
die des Mascarill, und nun war bei jeinen Kommilitonen jein 
Ichaujpielerifcher Kredit feſt gegründet. 

Wir müfjen geftehen, daß unjere Mujenjühne damals noch 
auf einer ziemlich tiefen Stufe der jchaufpielerifchen Kunft ſtan— 
den; denn jchon mehr als Hundert Jahre früher hatte man im 
engliihen Theater die Frauenrollen an Frauen über» 
tragen, nämlich jeit dem Jahre 1656, während die in Frank. 
reich jhon 1629 und in Spanien gar ſchon 1534 geſchehen 
war. „sn Deutjchland Hatte die Entwidelung der Oper die 
weiblichen Rollen an Frauen und Mädchen gebracht.” ?° 

Schon lange trug Morik ſich mit dem Gedanken, Berufs» 
Schaujpieler zu werden, und als eines Tages die Sp... ſche 
Truppe (leider konnte der volle Name des Direktor nicht mit 
Sicherheit fejtgeftellt werden; vielleicht war es Speid) in Er- 
furt einzog und die Erlaubniß erhielt, auf dem Theater des 
„Ballhauſes“ zu jpielen, ließ fih Mori heimlich) vom Leiter 
der Truppe anwerben und übernahm in dem Weißejchen Stüd 
„Die Poeten nah der Mode“ die lächerliche Rolle des 


1768) 


25 

Gottjchedianer8 „Reimreich“, dem der in gleicher Weije perji- 
flirte Bodmerianer „Dunfel“ gegenüberfteht. An dem für die 
Aufführung beftimmten Tage prangte jein Name auf den Zetteln 
an allen Eden. Da erichien kurz vor Beginn des Stüdes ein 
Bote bei Moritens neuem Prinzipal und verfündete, daß der 
Doktor Froriep jogleich zum Statthalter fahren und Beſchwerde 
über ihn führen würde, wenn er es wagte, den Studenten, 
defjen Name auf dem Komöbdienzettel gedrudt jtünde, das Theater 
betreten zu laſſen. Der arme Brinzipal war in gewaltiger 
Berlegenheit, wie er num die jo ſchnell erledigte Rolle wieder 
bejegen follte, da man jchon auf dem Heuboden zum Unfange 
trommelte, bis ſich ein Schaufpieler erbot, die Rolle des Reim: 
rei) mit gewohnter Routine nad) dem Souffleurfajten zu jpielen. 

Noc von einer anderen Erfurter Vorftellung der nachher 
in fo klägliche Verhältnifje gerathenen Sp.'ſchen Truppe weiß 
Mori zu berichten. 

Es wurden „Die dramatifirten Leiden des jungen Werther“ 
gegeben.** Dieje Vorftellung verunglüdte auf eine ſeltſame 
Weile. Dem Dichter ded „Werther“ nämlich) verjagten die 
beiden verrojteten Piſtolen. Schnell entſchloſſen durchſtach er 
fih zum Screden der Zujchauer Rod und Weite mit einem 
Brotmejjer. Trotzdem jtürzte jein Freund Wilhelm herein und 
rief pathetiich, wie es in feiner Rolle ftand: „Gott! ich hörte 
einen Schuß fallen!” — 

Mir find mit diefer Dramatifirung von Goethes „Wer: 
ther“ der klaſſiſchen Beriode nahe gefommen, jener Zeit, 
deren Wahlſpruch „Rückkehr zur Natur!“ lautete, und die aud) 
in Erfurts Theater-Berhältniffen einen großen Umjchwung be 
wirken follte. Dieſe öfter bejprochene Periode liegt im wejent- 
lihen außerhalb des Rahmens der vorliegenden Darjtellung. 
Erwähnen müfjen wir daraus nur, daß in den achtziger Jahren 
des vorigen Jahrhunderts, aljo in der Dalbergjchen Zeit, im 


(759) 


26 
befannten Lokale in der Futterjtraße zu Erfurt ein „Geſellſchafts- 
theater“ eriftierte, auf dem, wofern nicht die Weimaraner 
Gaftvorftellungen gaben, Dilettanten, in der Regel Freitags, 
ein Stüd fpielten. Die Titel diefer Stüde („Lift über Lift“, 
„Die drey Töchter”, „Der Stridy duch die Rechnung“, „Der 
Schneider und fein Sohn” — ſämtlich Quftipiele —, ferner 
die einaftige Oper „Walder“ u. a.) find verjchollen, nur eines 
derjelben erwedt eine Eaffiiche Erinnerung: Am 18. Januar 
1788 wurde Ifflands „Verbreden aus Ehrſucht“, ein 
Scaufpiel in fünf Akten, Hier aufgeführt, ein Stüd, welches 
feinen Titel unferm Friedrih Schiller verdantt,?” wie um— 
gekehrt befanntlih Schillers „Quife Millerin“ von Iff— 
land umgenannt worden ift in „Kabale und Liebe“. — — 

Ueberjchlagen wir fühn einen Zeitraum von fiebzehn in. 
haltsreichen Jahren. Nicht mehr die Studenten in bejonderen 
und die Gebildeten im allgemeinen jchwärmten für das Theater; 
die Begeifterung für dasjelbe hatte alle Stände durchdrungen. 
Ein Beweis hierfür ift die Thatfache, daß im Todesjahre 
Schillers, 1305, und zwar zu Martini, am 11. November, 
verfhiedene Shuhmadergejellen unter Leitung eines 
gewiſſen Ehriftian Fratichner aus Weißenfeld von der Erfurter 
Stadtbehörde die Erlaubniß erbaten und erhielten, 
Schillers Räuber „am Steiger”, d. h. „im Gteiger- 
hauſe“ aufzuführen? — — — 

Seitdem hat die dramatische Muſe längft in Erfurt eine 
traute Heimftätte gefunden, und anerfanntermaßen jebt dieje 
Stadtgemeinde, wie ſchon oben eingangs angedeutet ift, in edlem 
Wetteifer mit den benachbarten thüringiichen Nefidenzen ihre 
Bemühungen um echte dDramatifche Kunft auch heute noch aufs 
eifrigite fort. 


(760) 


27 


Anmerkungen. 


! Dr. €. Gößinger, Realleriton der deutſchen Aiterthümer, 2. Aufl., 
Leipzig 1885, S. 125. 

® Unus dyabolus dicit Lucifer vil liber here. wy komen 
mit grozen eren. wy dinen dir met rechte. wy brengen dir maxentium 
vn alle sine rittere vn knechte. dy haben vns gedinit liber here. dy 
habe wir erworben mit lib vn ouch mit sele. $ Lucifer Respondet. 
Je sit mir lib wan ir sit richs vnde drete (raſch und ſtark). habet vch 
daz kapellichen vor den greten. davon sal vch czu lone 
werde. dy fleysdeyse an deme stal berge. Vergl. Friedrich 
Stephan, Neue Stofflieferungen für die deutſche Gejchichte, befonders auch 
für die Sprahe des Rechts und der Litteratur. Bmweites Heft. Mühl. 
haufen 1847, ©. 172—173. 

» Schiller und Lüben, Mittelniederdeutiches Wörterbuch, ©. 498. 

+ 3.9.0. Faldenftein, Hiftorie von Erffurth. Erffurth 1739, ©. 42. 

5 Friedrich Stephan, a. a. D. ©. 153—154. 

® Bergl. Stephan, ©. 161 (Servus), 3. 8—10: 

wi da wedir wolde spreche. 
an dem wil he sich reche. 
He sy man edir wip 
He muz verlisen sinen lip. 
Dazu Nibelungenlied (Lahmann) 2, 3/4: 
Kriemhilt was si geheizen und was eine schoene wip. 
dar umbe muosen degene vil verliesen den lip. 
ferner Stephan ©. 162, 3. 15 (Maxentius ad katherinam): du en lazis 
dese rede ste. iz muz dir an daz leben ge. Dazu Nibelungen- 
Lied (Lachm.) 1892, 4: in erner der übel tiuvel, ez muoz im an sin 
leben gän. Vergl. aud Stephan ©. 163, 8. 16 (Cursates respondet): 
Here ich tu gerne den willen dyn. edir iz get mir an daz leben 
myn. &.164, 3.10—11 (Cursates ad Katherinam): krige mit meisteren 
kunstenen wis. da mus du verlisen dynen pris. Endlid Stephan 
©. 172, 8. 4—6 (vnus angelus dicit): wan su was vol der gotlichen 
gnode. vn en ruchte wedir frunt noch moge vn von allen eres 
herczen synnen behutte su sich vor sunden, Dazu NRibelungenlied 
(Zahmann) 1972, 1 u. ö.: ze füezen böt sich Irine mägen unde 
man.... 

? Mittheilungen des Vereins für die Geihichte und Alterthumskunde 
von Erfurt. Viertes Heft. Erfurt 1869, ©. 191ff. Alfred Kirchhoff: 
Die älteften Theateraufführungen in Erfurt. 

(761) 


— 


Bernhard Hartung, Die Häuſerchronik der Stadt Erfurt. I. 
Erfurt 1861, ©. 182, 

Falls Kirchhoff mit feiner Vermuthung recht hat, daß diefe Dra- 
matifirung ſich auf den letzten Theil des genannten Kapitel3 aus Mat- 
thäus bezieht, jo ift uns der Tert diejes Buppenjpiels vielleicht 
erhalten in der „Wahrhaitigen Beſchreibung des Jüngſten 
Gerichts im Thal Joſaphat“ u.f.w. bei K. Simrod, Die deutſchen 
Vollsbücher. Geſammelt und in ihrer urjprüngliden Echtheit wieder- 
bergeitellt. XI. Bd. (Chr. Winter, Frankfurt a. M., 1865.) Der Anfang 
davon lautet: 

Joel ein Prophet bin ich genannt, 
Den Gott hat in die Welt gejandt 
Bu warnen alle Menjchentind, 

Daß fie abftehen von der Sünd'; 


Denn der legte Tag, der wird bald fommen, 
So habe id von Gott vernommen. 


Thüringiſche Baterlandsfunde. Jahrgang 1805. ©. 323. 

 Gößinger, a. a. D. ©. 484. 

" Eonjtantin Beyer, Neue Chronik von Erfurt, oder Erzählung alles 
dejjen, was fid) vom Jahr 1736 bis zum Jahr 1815 in Erfurt Dent. 
würdiges ereignete. Erfurt (o. J.) S. 158. 

 Gößinger, a. a. D. ©. 130. 

“* Die deutihe Bühne | deren | geichichtliche Entwidelung | in Bild 
und Wort | dargeftellt | von | einem Weimaraner. | Dresden, W. Streit, 
1882. S. 70—71. 

Aus einem Aufſatze, betitelt „Iffland und bie Theater- 
kritik“, mit der Chiffre ng. Illuſtrirtes Sonntagsblatt, 46. Jahrgang, 
Nummer 10, Beiblatt, erfte Geite. (Gedrudt und herausgegeben von 
„Gutenberg“, Druderei und Verlag Aktien-Geſellſchaft, Berlin W., Lützow- 
ftraße 106.) 

ı° Erfurter Stadtardiv. Alten XVI, e Nr. 40, 

” Conftantin Beyer, a. a. D. ©. 33 und die „Erfurter Matrikel“. 

” Wilhelm Wadernagel, Geſchichte der deutſchen Litteratur, 2. Aufl., 
bejorgt von Ernft Martin. II. Bd. Baſel 1894, $ 148, S. 358359. 

Die deutſche Schaubühne nach den Regeln und Erempeln ber 
Alten. Leipzig 1740—45, in 6 Bänden. 

20 Wadernagel, a. a. D. ©. 361, mit Anm. 37. 

2 Gonftantin Beyer, a. a. ©. ©. 158—159. 

= sub Tit. XII. Vermiſchte Nachrichten: 1. Die Erfurtifche Schau- 
bühne betreffend. 

(762) 


29 


» Allgemeine deutiche Biographie, Bd. XVII, ©. 230—231. Bergl. 
Leſſing, Hamburgiihe Dramaturgie, St. 83. Zeitlich folgen hier die den 
nämlidhen Charakter wie die Abtſchen tragenden Borftellungen des Di- 
reltor8 Ilgener, der in Erfurt 1774 drei Monate und dann mwieber 1782 
furze Zeit ſpielte. (Mittheilung des Herrn Stadtarchivars Profefjor 
Dr. €. Beyer in Erfurt.) 

”* HM. Borberger, Erfurt3 Stellung zu unſerer klaſſiſchen Litteratur- 
pertode, in einer Reihe von Vorträgen, Erfurt 1869, S. 145—147, und 
„Anton Reijer” (Neudrud herausg. von Geiger), D. L. D. Nr. 23. 1886. 
404, 17. 408, 19ff. 414, 31. 416, 32 u. ſ. w. 

20 Johannes Scherr, Geſchichte der engliichen Xitteratur, 2. Aufl., 
Leipzig 1874, ©. 61. 

»o Vielleicht ift e3 die Dramatifirung von Andre gewejen, die 1776 
in Franffurt aM. bei Garbe erjchien, unter dem Titel: „Die Leiden des 
jungen Wertherd. Ein Trauerjpiel in drey Aufzügen, zum Behuf bes 
deutſchen Theater® ganz aus dem Driginal gezogen.“ — Dod kommen 
auch noch drei andere Dramatifirungen des Stoffes in Betradht, darunter 
eine ebenfall3 1776, und zwar in Bern, erjchienene Ueberjegung des fran- 
zöfiihen Dramas: „Les malheurs de l’amour.“ Vergl. Goedeke, Grund- 
riß zur Gejchichte der deutichen Dichtung. II. S. 881—882. 

=" Wadernagel, a. a. D. II, 8 163, Anm. 25, ©. 528. 

» Albert Pick, Schiller in Erfurt. Halle a. S. 1898, ©. 13 ff. 


TE De — 


(763) 


Delft und feine Fayencen. 


Carl Blümlein 


ın Frankfurt a. M. 


Hamburg. 
Verlagsanftalt und Druderei A.G. (vormals I. F. Richter), 
Königliche Hofbuchdruderei. 
1899. 


Das Recht der Ueberjegung in fremde Spraden wird vorbehalten. 


Drud der Berlagsanftalt und Uruderei Actien ˖ Geſellſchaft 
(vormals J. F. Richter) in Hamburg, Königliche Hofbuchbruderei. 


Der Name Delft erfreut fich weithin eines guten langes; 
ruft er doch fjofort in Jedem die Erinnerung wach an die 
„Delfter Ware”, von den Engländern jchlechthin Delft genannt, 
jene fojtbaren Fayencen, die, in den bejjeren Stüden dem Meißner 
Porzellan fait ebenbürtig, den Stolz jeder Sammlung bilden 
und das Auge des Laien wie des Kunſtkenners in gleicher Weiſe 
entzüden. Delft jelbjt aber, die Geburtsjtätte jener feramijchen 
Erzeugnifje, ift nur Wenigen befannt; denn der große Zug der 
Reiſenden, die, alljährlich aus den Nachbarländern fommend, dem 
Lande der Mynheers ihren Beſuch abjtatten, geht nach den See: 
bädern und den großen Städten, die das eigentlich Holländifche 
nur in bejchränftem Maße bieten; die kleineren Plätze jedoch, 
obgleich fie einjt in der Geſchichte des Landes eine hervor: 
ragende Rolle gejpielt haben, wie Haarlem und Delft, Nijmegen 
und Allınar und noch manche andere, läßt man, als abjeits von 
der großen Heeritraße liegend, unbeachtet, obwohl man nirgends 
Landesbraud und Sitte und holländische Architektur und Malerei 
- echter und unverfälſchter als gerade hier antrifft. Beſonders 
Delft, das zugleich eine Stätte bedeutender gejchichtlicher Vor: 
gänge ijt, die eine Fülle Hiftorijcher Erinnerungen wachrufen, 
verdient es in erjter Linie, bei einem Beſuche Hollands berück— 
fichtigt zu werden. Möge der geneigte Leſer und auf einem 
Ausfluge nach diefer Stadt begleiten. 


Sammlung. N. F. XII. 309. 1* (767) 


4 


Im Haag, unferm Ausgangspunft, befteigen wir die Dampf- 
jtraßenbahn, die ung während der Fahrt eine bequeme Umſchau 
in der Gegend, die wir Durcheilen, gejtattet. Früher bildete 
das Hauptverfehrsmittel zwiſchen Delft und der Reſidenz die 
Trekschuit, jenes von einem Pferd oder einem Manne gezogene 
Schiff, das ſo vielfach von den Reifenden befchrieben worden ijt. 

Sobald wir die Stadt verlafjen haben, jehen wir vor 
unferm Auge eine echt holländiſche Landichaft ausgebreitet. Zur 
Rechten und Linken erjtreden ſich bis in die in Nebel gehüllte 
Ferne weite Wiejen in üppigjtem Grün, durchjchnitten von 
gligernden Kanälen. Hin und wieder taucht am Horizont ein 
gleines Gehölz auf oder eine Neihe hochragender Erlen und 
Pappeln, zahlreihe Windmühlen drehen langjam ihre Flügel 
im Wind, bie und da zeigt fi) ein jpiger Kirchthurm, ein 
kleines Bauerngehöft oder die Segel eines Schiffes, das janft 
auf einem der Kanäle dahinfährt. Schwarz und weiß gefledtes 
Vieh von der ſchweren und milchreichen holländischen Raſſe, wie 
e3 der Pinſel Cuyps und Paul Potters verherrlicht hat, weidet 
auf den hellen Wiejenflächen, über die von Zeit zu Zeit die 
langen jchwarzen Schatten der am blauen Himmel vom Seewind 
getriebenen Wolfen gleiten. Zum Schuß gegen die Kälte und 
Näffe haben die Thiere, die auc des Nachts im freien bleiben, 
ihr Winterfoftüm angelegt, eine dicke zwilchene Dede, welche 
Rücken und Flanken bededt. Mit nicht wenig Stolz belehrt 
uns der uns begleitende Holländer, daß fein Volk einen jolchen 
Reichthum an Rindvieh aufzuweifen habe, als fein Vaterland, 
wo auf drei Einwohner ein Stüd der gehörnten Vierfüßler 
fomme. 

Schön gepflegte Gärten, liebliche, meift an der Stelle alter 
Ritterfige liegende Landhäufer, zerjtreute, von breiten Gräben 
eingejchloffene Vorwerke verrathen die Nähe eines größeren Ortes. 


Nicht lange dauert es, jo find wir in Rijswijk, aus der Ge 
(768) 


5 


ihichte bekannt wegen des 1697 zwijchen Frankreich, England 
und Holland abgejcylofjenen „ewigen“ Friedens, auf den man 
im Lande den Spottverd machte: 


Een eeuwgen vrede sloot men hier, 
Die eeuwig duurde — een jaar drie, vier.! 


Denn 1702 brach der Krieg aufs neue los. Won dem präch— 
tigen Luſtſchloß Belvedere, in dem die Geſandten der verjchiedenen 
Staaten über den ‘Frieden verhandelten, ijt fein Stein mehr 
vorhanden; einige vieredige Weiher und verwildertes Gehölz 
verrathen die Stelle, wo e3 einſt geitanden. Ein hoher Stein- 
obelisf, 1792 von Wilhelm V. errichtet, macht den Ort jchon 
von weiten fenntlih. Für den Kenner der holländischen Litte- 
ratur iſt Rijswijf noch von Intereſſe, weil hier der Dichter 
H. Tollens die legten Jahre feines Lebens verbrachte und auf 
dem Dorffirchhof jeine legte Ruheſtätte gefunden hat. 

Da der Ort ſonſt nichts Bemerfenswerthes bieter, verfolgen 
wir den nach Delft führenden, vun hohen Bäumen bejchatteten 
Weg weiter. Auf der einen Seite begleitet denfelben ein 
breiter Kanal, der große und Heine Fahrzeuge trägt. Im 
Sommer gewährt diejfer Weg mit dem reizvollen Ausblid auf 
den von Sciffen belebten Kanal, auf die im goldenen Sonnen: 
ſchein jchimmernden Wafjergräben und Wiejen, die in weiter 
Ferne in zarten Nebeljchleiern verjchwinden, dem Wanderer einen 
hohen Genuß, jo daß man die begeifterten Aeußerungen des 
alten Neijenden über die Schönheit diejes Weges wohl verjtehen 
fanıı: De Delft & la Haye on ne peut imaginer combien les 
bords du Canal, qu’y mene, sont pares et embellis. 

Wir treten in die Stadt an der Stelle ein, wo früher Das 
Haagſche Thor ftand; Hier haben wir fofort ein Bild von jo 
ausgeprägt Holländifchem Charakter vor uns, wie wir es nur 


felten anderswo im Lande antreffen: die alte breite Gracht in 
(769) 


6 


der Mitte der Straße, umſäumt von langen Reihen von Linden» 
bäumen, deren Zweige die Maften der auf dem Wafjer jchau- 
felnden Schiffe ftreifen, der jchmale, mit Badjteinen, fogenannten 
Klinfers, gepflajterte Fußiteig, der ſich längs der beiden Häufer, 
fronten Hinzieht, die vielen über die Grachten führenden Brüden, 
die kleinen Häufer jelbjt, freundlich aumuthend durch ihr nettes 
und fauberes Ausfehen, erbaut aus rothen und gelblichen Bad- 
fteinen, oft mit hohen Staffelgiebeln, die Fenſterrahmen mit 
einem weißen oder anderem hellen Anftrich verjehen. Es gewährt 
einen überrafchend prächtigen Anblid, wenn die eine Häuferreihe 
von der Sonne hell bejchienen ijt, während die andere in 
dunklem Schatten ruht. Das Grün der Bäume, die roth und 
weißen Gebäude, die dunklen Gewäfjer der Grachten, in denen 
fi) der blaue Himmel und die Giebel der Häuſer wiederjpiegeln, 
die am Kiel bunt bemalten Schiffe mit ihren rothen und grauen 
Segeln, alles das bildet zujommen eine Farbenvereinigung von 
jeltfjamem Reiz, wie fie bunter und doch wohlthuender nicht 
gedacht werden fanı. Immer und immer wieder haben die 
holländijchen Maler verjucht, ein jolch’ vielfarbiges Bild auf die 
Leinwand zu bannen, aber nur einem ift es jo recht gelungen, 
einem BDelfter Kinde, Johannes Vermeer, deſſen wunderbare 
Anfiht von Delft neben der Anatomie Rembrandt3 und dem 
Stier Potters den größten Schmud der Galerie im Haag bildet; 
an Farbenzauber und dem umerklärlichen Reiz der Darjtellung 
hat das Bild, wie ein neuerer Kunfthijtorifer bemerkt, nicht 
jeinesgleichen. 

Was wir freili) an Gebäuden auf unjerer Wanderung 
durch die Straßen der Stadt erbliden, geht mit wenigen Aus» 
nahmen nicht über den Anfang des jechzehnten Jahrhunderts 
hinaus; doch läßt fich die Gejchichte der Stadt ſelbſt viel höher 
hinauf verfolgen. Ihren Urjprung verdankt fie wohl dem Um: 
Itand, daß die fruchtbare Umgegend einen Pla für einen Markt 


(770) 


7 





nöthig Hatte. Der Name, von dem 899 erwähnten Pachthof 
eine® Theolf oder von dem holländijchen Zeitwort delven 
(graben) abgeleitet, weit vielleicht auf den Kanal Hin, den der 
römische Feldherr Corbulo von der Maasmündung nach dem 
Ausflug des Rheins bei Katwijt führen ließ, um feinen Schiffen 
die Fahrt auf dem jtürmijchen Ozean längs der an Sandbänfen 
jo reichen Küfte zu erjparen. Ziemlich ficher ift, daß Gottfried 
von Lothringen, mit dem Beinamen „der Buckelige“, im elften 
Jahrhundert Delft ald Dorf gründete, das zwei Jahrhunderte 
jpäter gleichzeitig mit Haarlem zur Stadt erhoben wurde. Bon 
einem jtattlichen Kranz von Wällen und Gräben umgeben, in 
der vorzüglichen Lage an der Schie, an deren Ausfluß in die 
Maas die Stadt jpäter den eigenen Hafen Delfshaven anlegte, 
erlangte Delft allmählich Anjehen und Bedeutung. Hauptſächlich 
find es drei Induſtrien, welche der Stadt nacheinander Ruhm 
und Reichthum verjchafft Haben. 

Die erjte war die Fabrikation von Tuch, Tüchern, Gobe- 
lins u. ſ. w., die bejonders im dreizehnten und vierzehnten Jahr: 
hundert in Blüthe ftand; der Konkurrenz Leidens, das in diejen 
Artikeln ebenfall® vorzügliches leijtete, konnte Delft die Spihe 
bieten, jeit ihm Graf Wilhelm IV. wichtige Privilegien verliehen 
hatte. Auf allen Mürften genoß daS „Delfs puyck“ eines 
hohen Rufes. Selbjt noch in jpäterer Zeit Ieifteten die Delfter 
Weber Hervorragendes, wie der von Jooſt Jansz Lindaert, 
Tapissier te Delft, 1587 gewebte Gobelin, die Belagerung von 
Leiden darjtellend, beweilt. (Im Beſitze der Stadt Leiden.) 
Weiter verdient noch die Fabrik des Herman van der Gucht 
bejonderer Erwähnung. 

Neben der Wollinduftrie waren es beſonders die Bier 
brauereien, welche nicht wenig zur Wohlhabenheit der Bürger 
beitrugen. Die Kanäle und Grachten der Stadt wimmelten von 


Schiffen, welche das Bier, das dem Londoner und Hamburger 
(771) 


8 


an die Seite geftellt wurde, nad) Zeeland, Flandern und in die 
anderen Provinzen des Landes verjchifften. Ueberall fannte 
man die Delfter Bierforten Luyks, Pharao und Israel. In 
der Stadt jelbjt trank das Wolf gewöhnlich das Keuyte ge- 
nannte Bier, das freilich recht dünn war, da das Wafjer, wie 
ein EChronift jagt, nur über den Rüditand von Malz und Hopfen 
floß. Obgleich während der ſpaniſchen Wirren die meijten Heere mit 
Delfter Bier verjehen wurden und fo ein reicher Abjat des braunen 
Tranfes erzielt wurde, erjchwerten die friegerifchen Händel, wie 
früher jchon die drüdenden Beftimmungen Karls V. und Philipps II. 
die Ausbreitung dieſer Induftrie in immer höherem Maße. Dazu 
fam die Konkurrenz durch die Brauereien von Breda, Haarlem, 
Dordredht und Rotterdam.f, So ift es nicht zu verwundern, daß 
das Brauen allmählich immer mehr eingefchränft wurde; auch 
nad) Beendigung des Krieges konnte fich die Induftrie Delfts 
von den erlittenen jchweren Einbußen nicht mehr erholen. Waren 
1600 noch 57 Brauereien vorhanden, fo war 1645 ihre Zahl 
ſchon auf 28 und 1729 gar auf 15 herabgefunfen, welche den 
humor dulcis aquae, sed igne coctae, quam succo Ceres imbuit 
salubri, wie Hugo Grotius den Gerjtenjaft nannte, brauten und 
verzapften. 

Wenn auch die genannten bedeutenden Hülfsquellen Delfts 
nad) und nad) verfiegten, jo blieb es doch auch im fiebzehnten 
Jahrhundert immer noch eine angejehene Handelsjtadt, was es 
nicht zum wenigften der Oftindifchen Kompagnie zu verdanken 
hat, die hier einen Stapelplat und eine Niederlage der von ihr 
eingeführten Waren errichtete. Freilich ließ der Mangel der 
Lage an einem größeren Stromgebiet den Handel allmählid an 
das befjer gelegene Rotterdam übergehen, das während der 
eigentlichen Blüthezeit Delft3 ein unbedeutende Dorf war. 

Auch blieben der Stadt jchwere Schäden anderer- Art nicht 


eripart, die aber durch die Art und Weije, wie fie getragen und 
(772) 


9 


. wieder gut gemacht wurden, zeigen, über welch” reiche Mittel 
Delft verfügte. So verheerte 1536 eine jchwere Feuersbrunft 
die Stadt und 2300 Gebäude gingen in den Flammen auf. Für 
das zufünftige Ausjehen Delft war diefer Brand injofern von 
hervorragender Bedeutung, als fi) von ihm ab eine neue Epoche 
der lokalen Baugeichichte datiren läßt; hatte doch die verheerende 
Feuersbrunſt von wichtigen Baulichkeiten nur das Rathhaus, 
die Hauptfirche und die Feſtungswerke mit ihren fieben archi- 
tektoniſch interefjanten Thoren verjchont, von denen heute leider 
die meisten dem Erdboden gleichgemacdht find. Aus dem Brand 
ging die Stadt nach den Worten eines alten Gejchichtsjchreibers 
hervor wie ein Phönix aus feiner Ajche, um, durch das Feuer 
gereinigt, viel herrlicher al3 zuvor zu erjtehen. Doc) wurde 
einem Theil diejer Herrlichkeit 1654 wieder ein Ende gemacht 
durd) die Erplofion des Pulvermagazins, die mit einem jolchen 
Donnergetöje erfolgte, daß man den Schlag auf der Injel Terel 
vernahm. Die Zerjtörungen waren graufig. Auch von diefem 
Unfall erholte fich die Stadt wieder; hatte fi) doc) mittlerweile 
eine neue Quelle de3 Erwerbs und Reihthums für fie eröffnet 
in der Fabrifation der Fayence. Sie ift die dritte und wich 
tigite der großen Induſtrien Delft; wir werden deshalb weiter 
unten etwas ausführlicher auf fie eingehen. 

Berfolgen wir nad) diefem Rückblick auf die Gejchichte der 
Stadt unjern eingejchlagenen Weg die Dude Delft entlang weiter, 
jo treffen wir gleic) zur Linken auf die unbedeutende lutheriſche 
Kirche und etwas weiter auf die Alte oder Hippolytusfirche, 
ihon von weitem kenntlich an dem mächtigen gothiſchen Thurm 
mit feinen fünf Spigen. Sie bildet eine dreijchiffige Baſilika 
mit Kreuzſchiff; die Holzgewölbe find erft 1574 eingefügt worden. 
Die alten Glasgemälde, welche früher einen ftattlichen Schmud 
der hohen Fenſter bildeten, gingen durch die jchon erwähnte 


Pulvererplofion zu Grunde Im Innern der um 1240 geitif- 
(778) 


10 


teten Kirche find bejonders jehenswerth die Orgel, da3 ältejte 
derartige Inftrument in Holland, und die Grabjtätten dreier in 
der Geſchichte des Landes wohlbefannter Berjonen; ruhen doch 
bier die berühmten Seehelden Pieter Pietersz Hein und Maerten 
Harpertsz Tromp. Der erftgenannte hatte ſich, als er durch 
die Einnahme von San Salvador und die Eroberung der ſpa— 
nischen Silberflotte im Jahre 1628 genug Ruhm und Reid): 
thum erworben, in Delft ein Haus gekauft, um dort die legten 
Sahre feines Lebens in Ruhe zu verbringen. Aber diefe war 
nur von kurzer Dauer, denn bereit3 im nächjten Jahre rief ihn 
das Vaterland, und er folgte dem Auf ohne Zaudern; er jegelte 
mit einer Flottenabtheilung ab, um die Einwohner von Dün— 
firchen zu züchtigen. In der Nähe desfelben ftieß er auf drei 
feindliche Kaperjchiffe, die er ohne Zögern angriff. Sie wurden 
zwar genommen, aber der Sieg war theuer erfauft, denn der 
Abmiral fiel, von einer feindlichen Kugel zu Tode getroffen. 
Das ganze Vaterland trauerte über das Hinfcheiden des volks— 
thümlichen Mannes, und noc) lange fangen die Kinder: 


Piet Hein, zijn naam is klein, zijn daad is groot; 
Hij heeft genommen de zilvere vlood!? 


Noch größerer Berühmtheit erfreute fi; der andere See- 
held, der in der Nähe von Piet Hein von feinen Thaten aus- 
ruht, Tromp. BZweiunddreißig Seejchlachten ſchlug er, und 
wenn er auch nicht immer vom Glück begünjtigt war, jo zeigte 
er ſich doch allezeit als ein umjfichtiger Feldherr und um: 
erichrodener Soldat. Schon als Knabe von neun Jahren 
wohnte er an Bord eines Schiffes der Seeſchlacht von Gibraltar 
bei, an der Küſte von Guinea erlebte er den Schmerz, feinen 
Bater im Kampfe mit einem Raubſchiff fallen zu jehen; auf 
der Fregatte, die er fommandirte, verjchied Piet Hein an feiner 
tödtlihen Wunde. Die Sonne des Erfolges leuchtete Tromp 


(774) 


—11 
erſt, als er 1639 die engliſche Flotte bei Dünkirchen angriff; 
ein glänzender Sieg machte ſeinen Namen weithin bekannt.“ Im 
Beginn der fünfziger Jahre, in dem blutigen Ningen zur See 
(in vierzehn Monaten wurden zwölf Seeichladhten gejchlagen), 
trugen meift die holländijchen Waffen unter feiner Führung den 
Sieg davon. Doch war es ihm nicht vergönnt, die Früchte 
jeiner Heldenthaten zu pflüden, da er in einem Kampfe mit 
dem feindlichen Gejchwader fiel. Mit Hecht jagt die Grabſchrift 
von ihm: 

Batavae gentis decus, virtutis bellicae fulmen, iacet qui 
vivus nunquam iacuit et imperatorem stantem mori debere 
exemplo suo docuit, amor civium, hostium terror, oceani 
stupor X. Aug. An. Aerae Christianae 1653 aet. LVI. vivere 
ac vincere desiit. 

Das geihmadvolle Denkmal, in feinem oberen Theil das 
Wappen Tromps, im unteren eine Darjtellung der Seeſchlacht 
zeigend, in welcher der Held fiel, jtellt ihn dar, wie er in 
voller Rüftung mit dem Kommandoſtab in der Nechten in 
ruhigem Todesſchlummer liegt; das entblößte Haupt ruht auf 
einem Kanonenlauf. Der Künftler, der das Grabmal anfertigte, 
it Rombout Verhulſt, deſſen bedeutendfies Werk in der Nieuwe 
Kerk zu Amjterdam ebenfalls einen Seehelden verherrlicht, den 
berühmten Admiral de Ruyter. Mit Tromp ruht in demjelben 
Grabe des großen Vaters großer Sohn, Cornelis Tromp, der 
Nebenbuhler und Kampfgenofje de Ruyters. Das gefällige 
Grabmal, das die jterblichen Reſte der beiden Helden umſchließt, 
ift künftleriich deswegen bemerfenswerth, weil e8 noch frei iſt 
von der Symbolit und dem jtatuarischen Pathos, wie es Die 
Werke der beiden de Keijjer aufweilen. Nicht fern davon be- 
findet fich die Auheftätte eines Mannes der Wiſſenſchaft, deſſen 
zu gedenken gerade in unfern Tagen am Plage ift, weil ohne 


jeine epochemachenden Erfindungen die moderne Balterienforichung 
(775) 


12 
ein Ding der Unmöglichkeit fein würde. Der hier jchlummert, 
heißt Ant. A. Leeuwenhoek; nur der Gelehrte kennt feinen Namen, 
das aber, was feinem Scharfjinn zu verdanken ijt, ift Jedem 
befannt: das Mifroffop; ohne zu prahlen, rühmt von dem Manne 
die Aufichrift feines Grabmals, de toto terrarum orbe optime 
meruit, naturae penetralia et physices arcana microscopiis 
ab ipso inventis et mirabili arte fabricatis assiduo studio et 
perscrutatione detegendo. Leeuwenhoek, in Delft geboren, hat 
faft fein ganzes langes Leben in feiner Vaterſtadt zugebradt. 
US junger Menſch kam er nad Amfterdam auf ein Handels: 
comptoir, wo er eine Zeitlang die Stelle eines Kaſſirers verjah, 
aber das geräufchvolle Treiben der mächtig aufblühenden Handels» 
jtadt war nicht nach jeinem Sinn, ihn zog e8 mit allen Faſern 
feines Herzens nach dem jtillen Städtchen an der Schie hin, 
wo er in ruhiger Muße feinen Naturbeobadtungen vobliegen 
fonnte, die ihm über alle theuer waren. So begab er fich 
denn wieder nach Delft zurüd, wo er bi an den Abend jeines 
Lebens das Amt eines „Kammerdienerd der Herren Schöffen“ 
verſah; in feiner freien Zeit lebte er ganz feinen Studien, er 
Ihliff Linfen und fertigte aus Metall Gejtelle für dieſe an. 
Durch pafjende Zujammenftellung der erfteren gelang es ihm, 
ein Mikrojfop Herzuftellen, das über hundertmal vergrößerte. 
Bermitteljt ſolch' jcharfer Apparate, die alles bisher Dagewejene 
übertrafen, wies er u.a. die in einem Tropfen Waffer vorhan- 
denen unzähligen Infufionsthierchen nad. Weithin verbreitete 
ji infolgedeflen der Auf des Mannes, da8 Ausland ehrte ihn 
mannigfach, die Londoner Royal Society ernannte ihn zu ihrem 
Mitglied, in Löwen prägte man eine filberne Medaille auf ihn, 
fremde Gelehrte eilten nach Delft, den Forfcher und feine 
wunderbaren Entdedungen fennen zu lernen. Von feiner großen 
Beicheidenheit zeugt das Schreiben, dag er an die Spender der 


erwähnten Medaille richtete. „Wenn ich,“ jagt er darin, „der 
(776) 


13 


Lobezerhebungen in Ihrem Briefe und des Gedichts gedenfe, jo 
werde ich vor Scham roth und meine Augen füllen fich mit 
Thränen. Die Urbeit, der ich viele Jahre hindurch obgelegen, 
ift nicht gethan worden, um ſolches Lob zu erwerben, jondern 
aus Wifbegierde, die mich, wie ich jehe, mehr bejeelt al3 andere 
Menfchen.” Sein Vaterland zeigte ſich undankbar gegen ihn; 
feine Auszeichnung, feine Belohnung, fein Amt wurde ihm zu- 
theil. Leiden, die Nachbaruniverfität, kümmerte fi) nicht um 
den bejcheidenen Gelehrten in feinem Kleinen Studirftübchen in 
Delft. Sie zeigte fich gleichgültig gegen ihn, wie gegen Die 
andern Propheten, die dem Vaterlande erjtanden waren, einen 
Grotius, Huygens, Spinoza, Smwammerdam,* die eines Rufes an 
die Hochjchule nicht gewürdigt wurden, während man von aus— 
wärts Gelehrte mit hohem Gehalt Heranzog, wie Scaliger, der 
eine prächtige Wohnung und 2000 Gulden Gehalt befam, nur 
um durch jeine bloße Anwejenheit den Glanz der Univerfität zu 
erhöhen; denn von der Berpflichtung, Vorleſungen zu Halten, 
war er entbunden. 

So blieb denn Leeuwenhoef ruhig in Delft — Kamerbe- 
waarder. Die neuerdings aufgeftellte Behauptung, diejeg Amt 
jei eine bloße Sinefure gewejen, beruht auf einem Jrrthum; 
denn Leeuwoenhoek verjah es thatjächlich faft vierzig Jahre ge 
gen ein Gehalt von 300—400 fl., wovon er noch 54 fl. an 
einen Gehülfen zahlen mußte; dafür Hatte er für Reinigung 
und Inftandhaltung der Zimmer, Feuerung u. a. zu jorgen. 
Erjt nach langer Thätigfeit wurde er mit Belafjung des vollen 
Gehalt! zur Ruhe gejebt. Sein erjtes, zu Delft 1684 erjchie- 
nened Werk führt den Titel: „Natuurs verborgentheden ont- 
dekt“. 

Bon den übrigen firchlichen Gebäuden ift das einzig nen: 
nenswerthe, aber die auch von hervorragender Bedeutung, die 


1383 begonnene Neue oder St. Urjulafirche, in der Anlage der 
(777) 


14 


Alten Kirche ähnlich; ihre Hauptzierde bildet der mächtig em. 
porjtrebende Thurm, an dem gerade Hundert Jahre (vom 6. 
September 1396 bi3 zum gleichen Datum 1496) gebaut wurde. 
Die Kappe, welche ihn früher frönte, wurde ebenfo wie viele 
andere Bierrate desjelben durch den Brand von 1536 zeritört 
und iſt jetzt durch eine nicht pafjende Spibe erjegt. Eine ver: 
fleinerte Kopie des Thurmes finden wir an der Kirche zu 
Nheenen. Eine Herrliche Rundficht bietet der Ausblid von der 
Höhe desjelben. Drunten zu unferen Füßen liegen die zier- 
lichen, jauberen Häuschen mit ihren Staffelgiebeln, dazwiſchen 
die glißernden Grachten, die großen und Fleinen Brüden — 
man zählt deren an fiebzig — uud die grünen Baumreihen; 
umgeben jehen wir die Stadt von jmaragdgrünen Weiden, 
durchichnitten von den Silberfäden der Kanäle; dort zieht ſich, 
das Weſtland begrenzend, die Maas in langem Streifen hin, 
zahlreichen Dörfern und Städten begegnet unjer Blid, Schiedant, 
der Heimat des weltberühmten Genevers, dem weitgejtredten 
Rotterdam, Rijswijk, Voorburg und wie fie alle heißen, deren 
Häufer und Kirchthürme aus dem Grün hervorbliden; und in 
der Ferne leuchten die gelben Dünen und dahinter im Sonnen- 
glanze die See. 

Da in Holland faft feine Kirche ohne Glodenfpiel ijt, jo 
bat natürlich) auch der Thurm der Neuen Kirche ein jolches, 
und wenn es aud) aus achtunddreißig Gfoden bejteht und von 
dem berühmtejten Fabrikanten derartiger Muſikwerkzeuge, von 
Frans Hemony angefertigt worden ift, jo ijt der Genuß, den 
e3 bereitet, doc) immerhin ein recht zweifelhafter, und ich pflichte 
dem Altmeifter Goethe bei: 


Wer leugnet’3! Jedem edlen Ohr 
Kommt das Geflingel widrig vor. 
Und das verfluhte Bim— Baum — Bimmel, 


Umnebelnd heitern Abendhimmel, 
(778) 


15 


Miſcht ſich in jegliches Begebniß, 
Vom erſten Bad bis zum Begräbniß, 
Als wäre zwiſchen Bim und Baum 
Das Leben ein verſchollner Traum. 


Das Innere der Kirche birgt reiche Schätze der Kunſt; 
den Kenner entzückt die maleriſche Perſpektive der Anlage,“ die 
reihe Sammlung von Grabmälern, der prächtige Predigtftuhl 
von 1548, dejjen Verfertiger leider unbekannt ift, der Hijtorifer 
jteht andächtig bewundernd, wenn er der Männer gebenft, die 
bier zum ewigen Schlaf gebettet find. 

Es iſt in der That Heiliger Boden, den Hier unfer Fuß 
betritt. Was St. Denis für den Franzofen, was Wejtminfter 
für den Engländer ift, das ijt die Nieuwe Kerk in Delft für 
den Niederländer. 

Ruht doch hier, um des Größten zuerjt zu gedenken, der 
große Oranier unter dem prunfvollen Denkmal, das Hendrik de 
Keijfer begonnen und Pieter de Steijfer vollendete. Das Grabmal 
beiteht aus einem mächtigen Katafalf, auf dem die aus weißem 
Marmor gebildete Gejtalt des Todten ruht; über dem Ganzen 
erhebt fich ein von zweiundzwanzig Säulen getragener, mit hohen 
obelisfenförmigen Aufjägen verjehener Baldachin. In den vier 
durch die Säulen gebildeten Bogen jtehen die Frauenbilder der 
Treiheit, Religion, Gerechtigkeit und Tapferkeit, deren Köpfe 
fi) dur) zarte Schönheit auszeichnen. Zu des Todten Füßen 
ſchwebt die Bronzefigur der fliegenden Fama, beachtenswerth 
durch die wunderbare Technik in der Wiedergabe der rajchen 
Bewegung. Störend wirkt die Doppelte Darjtellung des Prinzen. 
Zu Häupten des Todten nämlich ift diefer auch einmal als 
lebend im Harniſch mit dem Helm an der Seite dargejtellt 
doch verdient die Figur des ſitzenden Feldherrn alles Lob. 

In demfelben Grab find die zwei großen Söhne Wilhelms, 
die Prinzen Maurits und Hendrik Frederik beigejegt. Auch 


(779) 


16 


noch zahlreiche andere Glieder des Fürjtenhaufes der Dranier 
haben hier ihre lebte Nuheftätte gefunden, darunter auch der 
legte König der Niederlande, Wilhelm ILI., mit dem der Mannes- 
ftamm der Nafjau-Oranier ausgejtorben ift. Nicht mindere Be— 
achtung als dieſes Prunfgrab verdient das einfachere von van 
Bwol 1645 angefertigte Grabmal des größten Sohnes Delfts, 
des Hugo Grotius. Am 10. April 1583 geboren, zeigte er 
ſchon als Knabe außerordentliche Anlagen. Durch geſchickt aus— 
gewählte Bibelzitate brachte er feine Mutter dahin, daß fie zum 
evangeliichen Glauben übertrat; acht Jahre alt, verfertigte er 
lateiniſche Gedichte, jo eines auf die Feier des Uebertritts der 
Stadt Nijmegen auf die Seite des Prinzen Moriß, das begann: 


Plaudite Mauritio vietori quotquot adestis, 
Namque is Caesaream Neomagum venit in urbem, 
Vel potius Domino Victori plaudite Christo. 


Schon fünf Jahre fpäter lag er eifrig den Studien auf 
der Leidener Hochichule ob, und die erſte Frucht derjelben war 
die Ausgabe der Martianus Capella (1599). In demfelben 
Fahre promovirte er in der juriftischen Fakultät. Oldenbarne— 
velt, das Talent des Jünglings durchichauend, nahm ihn als 
Begleiter auf feiner Reife nach Frankreich mit und machte ihn 
mit Heinrich) IV. befannt, der ihn feinem Hof mit den Worten 
vorjtellte: „Hier ift das Wunder von Holland!” Nach feiner 
Rückkehr entfaltete der unermüdliche junge Gelehrte auf fait 
allen Gebieten des Wiſſens eine ausgebreitete Thätigfeit, und 
fein Auf wuchs von Tag zu Tag. Trotzdem verjäumte es 
Leiden, das „Delftihe Orakel”, wie man Grotius hieß, an 
feine Hochjchule zu ziehen. 1613 wurde er wegen jeiner aus» 
gezeichneten juriltiichen Kenntniffe zum Naatspenfionarius er- 
nannt. Sein Eintreten für die Sache der Arminianer diente 


zum Vorwand, um ihn wie Dfdenbarnevelt, weil ihre republi- 
(780) 


17 


fanifche Gefinnung dem Kronprätendenten Wilhelm unbequem 
war, unjchädlich zu machen; Oldenbarnevelt wurde enthauptet, 
Hugo Grotius zu lebenslänglihem Gefängniß verurtheilt und 
in der Burg Xoevejtein internirt. Hier lag er fünf Jahre Hin- 
durch eifrig feinen Studien ob, bis ihn 1623 feine treue Gattin 
Marie van Reygersbergh auf jedenfalls originelle Weiſe befreite. 
In einer großen Kijte befam nämlich ihr Ehegemahl von Zeit 
zu Beit Bücher zu jeinen Studien gebradt. Statt nun beim 
NRüdtransport die großen Folianten in die Kiſte zu legen, ver- 
barg Marie ihren Gatten darin, während fie jelbjt im Gefäng- 
niß zurüdblieb. Die Kifte wurde auch glüdlidy nad) Gorkum 
gebradjt, wo der Berborgene feiner engen Behaujung entjtieg.® 
Als Maurer verkleidet, flüchtete er von bier nad) Antwerpen 
und von da nach Frankreich, wo er an dem Hof Ludwigs XI. 
aufgenommen wurde. Hier in Frankreich jchrieb Grotius jein 
epochemachendes Werk, Vom Recht des Friedens und des Krieges”, 
zwar ein „edelmüthiges Hirngejpinft“, aber wichtig deshalb, weil 
ed einen Fräftigen Anftoß zur Ausbildung des internationalen 
Völkerrecht? gab. Nach dem Tode des Prinzen Mori bejuchte 
Grotius fein Vaterland wieder, aber die Ränke zahlreicher Geg— 
ner nöthigten ihn, der Republif den Rüden zu fehren, von der 
er von num an nicht3 mehr wifjen wollte. Ruhelos, aber immer 
raftlos thätig, verlebte er die Folgezeit in Deutjchland und 
Schweden, wohin ihn die Königin Ehriftine berufen hatte. Troß 
mannigfacher Ehrenbezeugungen jah er ſich doch durch die Ka— 
balen des Hofe und das Klima, das ihm nicht zujagte, ge 
zwungen, feinen Abjchied als ſchwediſcher Staatsrath zu nehmen. 
Auf der Fahrt nach Lübeck wurde jein Schiff an die pommerjche 
Küfte verjchlagen. Im offenen Wagen mußte er einen weiten 
Weg nad) Roftod zurüdlegen, wo er todtfranf anlangte. Hier 
verjchied er am 28. Auguſt 1645, an demjelben Tage, wo er 
vor fiebenundzwanzig Jahren zu ewigen Gefängniß verurtheilt 
Sammlung. N. F. XIII. 309. 2 (781) 


worden war. Seine Eingeweide wurden in Roftod beigejeßt, 
die Leiche aber nach Delft übergeführt, wo ihm feine Familie 
1761 () in der Nieuwe Kerf ein einfaches Denkmal jehte. Die 
bombaſtiſche Infchrift desjelben jtammt von Burman; 1886 
wurde auf dem vor der Kirche liegenden Plate das einfache, 
aber würdevolle, von Stradse entworfene Denkmal des großen 
Sohnes der Stadt Delft enthüllt. 

In die Gejchichte der Neuzeit führt uns das Grabmal der bei 
der Eroberung der Antwerpener Eitadelle 1830 gefallenen Offiziere 
Beim Heraustreten aus der Kirche fällt unjer Blick auf den 
großen freien, rechtedigen Marktplatz, der auf den beiden Längs— 
leiten von einer langen Reihe der zierlichen Badjteinhäufer um— 
jäumt wird; die öjtliche Schmaljeite des Groote Markts dagegen 
wird von der Nieuwe Kerk eingenommen, während die gegen- 
überliegende einen wirfungsvollen Abſchluß erhält durch das 
Nathhaus. ES ift in der erften Hälfte des fiebzehnten Jahr- 
hundert3, der Zeit, wo jo viele der holländijchen Städte, wie 
Nijmegen, Amjterdam, Haarlem, Schoonhoven, ſich mit fchönen 
Rathhäufern ſchmückten, von dem bereit3 oben erwähnten H. de 
Keijjer erbaut. Leider find jetzt manche Theile, wie die Fenſter— 
rahmen und der Eingang modernifirt; der jchöne Aufgang mit 
fünf Treppen, wie ihn die alten Stiche zeigen, ift der Reſtau— 
rirung zum Opfer gefallen. Sein Aeußeres iſt durch die 
„monumentale Palaſtform“ überaus wirkungsvol. Auch im 
Innern ift leider jo viel reftaurirt worden, daß von dem Alten 
nur noc wenig erhalten ift. Wir bejchränfen ung darauf, auf 
die Bilder Wilhelms I. und jeines Sohnes aus der großen 
Vorträtfabrit des Mierevelt und auf einige Malereien von 
Maerten van Heemskerck, der 1498—1574 vornehmlich in Delft 
wirkte, hinzuweiſen. 

Neben dem Rathhaus iſt ald monumentales Kleinod das 


Gemeindelandhaus an der Dude Delft zu nennen. Der wohl- 
(782) 


19 


habende Schultheiß Ian de Heuyter, der feinen Reichthum dem 
Handel in Nürnberger Spielwaren zu verdanken hatte, erbaute 
e3 ji) um 1590. Später wohnte in dem prächtigen, durch Die 
Feinheit feiner Ornamente ausgezeichneten Bau ein Lieutenant, 
Graf von Hohenlohe, der zum Hofitaat Wilhelms gehörte. In 
der Mitte des fiebzehnten Jahrhunderts fam das Haus in den 
Beſitz des Dijkgrafs und der Hoogheemraden, die hier ihre 
Sitzungen abhielten. Volksthümlich wurde e8 jchon früh durch 
die auch in Deutjchland durch die Dichtung befannt gewordene 
Geſchichte von den Störchen, die auf einem der Schornfteine 
ihr Nejt mit Jungen Hatten. Bei einem großen Brand machten 
fie vergeben? Anftrengungen, diefe aus dem Feuer zu retten, 
und als ihnen dies nicht gelang, dedten fie die Jungen mit 
ihren Fittichen und famen mit ihnen in den Flammen um. 

Die jonft noch zu erwähnenden Baulichkeiten der Stadt 
find weniger von architektoniſchem als gefchichtlichem Intereſſe; 
jo da3 große Stapelhaus der Dftindiichen Kompagnie, die hier 
die Produfte von Indiens Eilanden lagerte und von bier aus 
in alle Welt verjandte; ferner das Zeughaus mit der Inſchrift 
„Armamentarium ordinum Hollandiae et Westfrisiae.“ Das 
finftere Gebäude liegt an der Rotterdamjchen Brücde, gegen- 
über der Stätte, wo fich früher eins der fieben Stadtthore 
erhob. 

Ebenfalld im Dienfte des Krieges — es wurde zur Kaſerne 
umgewandelt — ftand fpäter das St. Agathenflofter, das Hijto- 
riſch interefjantefte Bauwerk Delft. Diejes Klofter, das heute 
einen zwei Höfe einfchließenden Gebäudefompler umfaßt, war 
eines der reichjten Stifte Hollands; es verfügte infolge des großen 
Landbeſitzes, der ſich rings um die Stadt hinzog, über bebeu- 
tende Einkünfte. Mancher hohe Herr kehrte darum gerne bei 
dem Abte des Trauenfonventes ein, wo es allzeit einen gut 
bejegten Ziih und reihen Trunk gab. Auch Prinz Wilhelm 


2° (788) 


nahm oft, jo lange er noch Statthalter von Holland und Weit: 
friesland war, hier fein Abfteigequartier, zumal er mit dem 
gelehrten Prior Cornelius Mufius gut befreundet war. Frei— 
lich konnte feine Freundſchaft diefen auch als lateiniſchen Dichter 
berühmt gewordenen Geiftlichen nicht retten, ala er in die Hand 
de3 Grafen von der Mark, Herrn von Lumey, gefallen war, 
der den hochbetagten Mann in Leiden nach gräßlichen Torturen 
aufhängen ließ. Eine neue Wera brach für das St. Ugathen- 
kloſter an, ald Wilhelm im Jahre 1572 feine Reſidenz in das: 
jelbe verlegte, weil er den Aufenthalt in dem ftarfbefeitigten 
Delft dem in dem offen und ungeſchützt vor allen feindlichen 
Angriffen daliegenden Haag vorzog; Andere berichten, daß für 
Wilhelms Entſchluß die gejunde Luft Delft? ausjchlaggebend 
gewejen jei. Zwölf Jahre feines Lebens verbrachte der Prinz 
bier, bis die fichere Kugel eines Meuchelmörders diejem ein 
jähes Ende bereitete. 

E3 war am 7. Juli 1584. Die Mitglieder des Staaten 
Generaal waren gerade zu Delft verfammelt, um über die Er: 
nennung de3 Prinzen zum Grafen zu berathichlagen. Diele 
Berathungen waren noch nicht zum Abſchluß gebracht, ald am 
10. jih die Kunde von dem Morde des Prinzen verbreitete. 
Wie ein Blitz aus heiterem Himmel wirkte diefe Trauerfunde. 
Bei der jofort angejtellten Vernehmung des Mörders ftellte fich 
folgendes heraus: daß derjelbe Balthaſar Gerards heiße, fieben- 
undzwanzig Jahre alt jei und aus der Franche Comté jtamme; 
ferner, daß er die That zum Nutzen des Königs von Spanien 
vollbracht habe. Bekanntlich Hatte der Lebtere eine hohe Summe 
für den Kopf des Prinzen ausgejeßt. So mußte der Monarch, 
in deſſen Reich) die Sonne nicht unterging, der über die grüßten 
Reichthümer und die geübtejten Truppen gebot, fich feile Bra- 
vos dingen, um ſich eines Gegners zu entledigen, der es gewagt 
hatte, die Hand gegen den „Schreden Europas“ zu erheben. 


(784) 


„Und damit,“ heißt es in Philipps Erlaß, „die Sache jchneller 
erledigt, und die Nation um jo eher von diejer Tyrannei und 
Unterdrüdung befreit werden möge, ... verjprechen wir auf 
unjer Wort als König und Diener Gottes, daß, wenn Jemand, 
mag er unter unjern Unterthanen oder unter Fremden gefunden 
werden, ... die Mittel weiß, dieſen Auftrag auszuführen und 
uns von diejer Peſt zu erlöfen, indem er ihn (Wilhelm) uns 
lebend oder todt überliefert, oder ihm das Leben nimmt, wir 
diefem für ſich und feine Erben in einem Landgut oder in Geld 
nad) jeiner Wahl die Summe von 25000 Goldgulden verheißen.” 
Dazu verjpricht das königliche Edikt, den Mörder jowie feine Hel- 
jershelfer in den Wdeljtand zu erheben. Man kann diejes Vor: 
gehen Philipps nicht damit entichuldigen, daß er in feinem 
Erlaß Holländifchen Vorbildern folge, da Jan, der lebte Graf 
aus dem holländischen Haufe, 1299 dem Mörder eines Rebellen 
10 Pfund vom Gut des Lebteren verjprad), oder da der Raat 
vom Staate 1586 ähnlich handelte. Wilhelm war fein Rebell, 
jondern ein ehrlicher Feind, den der König ausdrüdlid als 
jolhen durch die Pacififatie von Gent und die Friedensunter- 
handlungen von Breda und Köln anerfannt Hatte; dadurch 
hatte der Monarch) das Recht verwirkt, feinen Gegner als Em: 
pörer und Verräther zu behandeln. 

Nun, er hatte gut jpefulirt; wiederholt fanden ſich feile 
Subjefte, die den auf des Prinzen Kopf gejegten Preis zu 
verdienen juchten. Aber ihre Attentate mißlangen jämtlich; erjt 
Gerard war glüdliher. Auf Grund von Empfehlungen war 
er in Delft von Wilhelm empfangen worden, nachdem er fich 
bei den Sejuiten das Verfprechen der Abjolution für jeine beab- 
fihtigte Greuelthat geholt Hatte. Schon im Mai hatte er dem 
Brinzen jeine Dienjte angeboten, indem er jich ald Opfer von 
Berfolgungen jeitens der Katholiken Hinftellte. „Ich werde,” 


jchrieb er damals in feinem Briefe, mit dem er den Adreſſaten 
785) 


22 


in Sicherheit wiegte, „mich befleißigen, durch meine jehr niedrigen 
Dienfte mich der Gunjt würdig zu machen, die Ew. Erxcellenz 
mir zu verleihen belieben. Womit, Durchlauchtiger Herr, ich 
Gott bitte, daß er Ew. Ercellenz in voller Gefundheit ein 
langes und glücliches Leben ſchenke.“ Welch’ ein Hohn! Der 
Mörder, der bereits den Morditahl gejchliffen, wiünjcht jeinem 
Opfer ein langes und glüdliches Leben. 

Der Prinz, ſonſt jo menjchenkfundig, Tieß fich täufchen und 
gab Gerards einem im Auftrag der Staaten nad Frankreich 
reijenden Herrn als Begleiter mit. ALS er zurüdfehrte, um 
dem Prinzen den Tod de Herzogs von Anjou zu melden, 
wurde er von Wilhelm, der zu Bett lag, empfangen. Die Ge» 
legenheit, ihn Hier zu ermorden, ließ Gerards vworübergehen, 
vielleicht weil er feine Waffen bei fich trug. Nachdem er alle 
Tragen des Prinzen beantwortet Hatte, gab diejer ihm zehn 
Gulden und forderte ihn auf, fih am andern Tage wieder bei 
ihm einzufinden, um feinen Paß und Briefe zur Bejorgung 
nad) Frankreich abzuholen. Der verhängnißvolle Tag brach 
an. Bon dem erhaltenen Geld faufte Gerards von einem Sol- 
daten ein paar PBijtolen und fand fich zur feitgejeßten Stunde 
im St. Agathenklojter ein. Der Statthalter, begleitet von Damen 
und Herren feines Hofes, fam die Treppe herab, um ſich in den 
Speijejaal zu begeben, und gab gerade jeiner Gemahlin den 
Arm, der wegen ihrer Schönheit gefeierten Zouife von Coligny, 
die Schon ihren Vater, den Admiral, zu ihren Füßen hatte 
ermorden ſehen. Als Gerards auf den Prinzen zutrat und um 
die verfprochenen Papiere bat, bejchied ihn diefer auf eine jpätere 
Stunde. 

Nach einem heiteren Mahl verließ der Statthalter den 
Speijefaal, um fich wieder in feine Zimmer zu begeben. Im 
dem Augenbfid, als er den Fuß auf die unterften Stufen der 
Treppe ſetzte, ertünte ein mächtiger Knall, der fi) dröhnend 


(786) 


in dem Treppenhaus fortpflanzte. Der Mörder hatte jeine That 
vollbracht. Hinter einem Pfeiler ftehend, hatte er die mit drei 
Kugeln geladene Bijtole losgeſchoſſen und fein Ziel nicht ver- 
fehlt. Tödtlich getroffen janf der Prinz in die Arme eines 
Diener mit dem Ausruf: „DO mein Gott, habe Mitleid mit mir 
und mit diefem armen Volke!“ Noch lebend erreichte er den 
Speijefaal, wo er in den Armen feiner Schweiter Katharina 
von Schwarzenburg verjchied. Der Mörder war entflohen, aber 
es gelang einigen Dienern, ihn auf der Straße zu ergreifen, 
ehe er den Platz erreichen konnte, wo ein gejattelte8 Pferd zu 
feiner Flucht bereit ftand. 

Nach des Brinzen Tod wurde der Hof wieder nach dem 
Haag verlegt, und das ehemalige St. Agathenklojter, jet Prinzen- 
hof genannt, diente fortan nur noch als gelegentliches Abjteige: 
quartier für hohe Berjonen. Aus dem Speijejaal, in dem Wil: 
helm jeine Seele aushauchte, wurde ſpäter ein Turnlokal ge- 
macht, aus den anderen Gebäuden eine Sajerne; aud) das 
Gymnafium wurde im vorigen Jahrhundert in den Prinzenhof 
verlegt, und noch erzählt die Injchrift am Eingang vom Gym- 
nasium publicum iuventuti pietate, linguis et artibus im- 
buendae dicatum MDCCLXXV. Die Treppe, auf welcher der 
Prinz fterbend niederjant, führte zu Kafernenftuben und ftarrte 
von Schmuß ebenjo wie faſt alle anderen Gemächer des Gebäudes. 
Der aud) in Deutjchland wohlbefannte Groen van Prinjterer 
war der erjte, der auf den unwürdigen Zuftand der interejjanten 
Baulichkeiten aufmerffam machte. Aber erjt in den achtziger 
Fahren gelang es, die Geldmittel zu bejchaffen, um einen Theil 
der Gebäude, an welche ſich die theuerjten Erinnerungen des 
holländischen Volkes knüpften, in einen bejjeren Zuftand zu 
verfegen. Der große Saal wurde einfach aber würdig reſtau— 
rirt, die ſechs Fenſter mit Glasgemälden (meijt Wappen und 


Kartufchen mit Injchriften) geſchmückt und eine Sammlung von 
(787) 


24 

Abbildungen des Prinzen und feiner Verwandten und Hervor- 
ragenden Beitgenofjen aufgeſtellt. Der Pla, wo die Kugeln, 
welche dem Prinzen den Tod gaben, in die Wand gejchlagen 
waren, war durch die Betaftungen der früheren Bejucher feines 
ganzen Mörtelbewurfes entkleidet, jo daß fich ein Loch in der 
Wand vorfand, wie es eine Bombe, nicht aber eine Biftolenkugel 
hätte verurjachen können; durch jährliche Anfülung mit Kalt 
wurden — pia fraus — die alten Proportionen wieder her: 
gejtellt. Sebt verkündet eine an der Wand angebrachte Injchrift 
die denfwürdige Stelle. 

Auf Grund eines Ediktes ebendesfelben Philipp, der den 
Mord des Prinzen veranlaßte, mußte ein anderer Einwohner 
von Delft, kurz ehe der Statthalter dorthin kam, jein Leben 
laſſen. Es war der Buchdruder Hermann Schindel, ein hoc): 
achtbarer Märtyrer des evangeliichen Glaubens, der, weil er 
die Pſalmen und den reformirten Katechismus gedrudt? und 
unter der Hand verbreitet hatte, 1568 verurtheilt wurde, „auf 
dem Marktpla auf das Schaffot gelegt und mit dem Schwert 
hingerichtet zu werden, alle feine verbotenen Bücher verbrannt 
zu werden, alle jeine Güter fonfiscirt zum Nuten jeiner König- 
lihen Majejtät.” Bewundernswerth ijt die Faſſung, mit welcher 
der Dann jein Schidjal ertrug, rührend find die Briefe, die e 
fur; vor jeinem Tode an Frau und Kinder richtete. Es jei 
geftattet, einige Zeilen aus dem Schreiben an jeinen jüngjten 
Sohn anzuführen, aus denen jo recht das tiefe Gemüth und 
die wahrhaft evangelijche Frömmigkeit Schindel3 hervorleuchtet. 
„O, allerliebjter Sohn Bruno,” jchreibt er, „Du bijt die dritte 
und jüngfte der Früchte, die mir Gott gegeben hat, und Du 
wirt Did) Deines Vaters nicht mehr erinnern. Du warjt ge» 
boren am 1. März 1567, jo daß Du jett noch faum 1!/. Jahre 
alt bift. Als ich verhaftet wurde, ſtandeſt Du im Stehjtuhl 
in der Ktüche und lachtejt mich an, doc) ich vergalt Dein Lächeln 


(788) 


25 


mit Weinen. Wenn Du herangewachſen bift und tüchtig, um 
die Schule zu beſuchen, jo... ſei allzeit aufmerfjam und 
arbeitjam, vertraue auf den Allmächtigen, Du ſollſt gewißlid) 
jeinen Segen empfangen. Deines Vaters Tod wird Dir nicht 
zur Schande angerechnet werden, denn ich leide nicht wegen 
Ihändlicher Thaten. Wenn aber Jemand jo unverjtändig jein 
jollte, Dir jolches zur Schande vorzuwerfen, jo ertrage es in 
Geduld und Demuth, denn ſolches ziemt fich für einen guten 
Menſchen u. j. w.“ 

Doch wenden wir unjeren Blid hinweg von den traurigen 
Bildern einer finjteren Zeit auf das moderne Delft. Das ift 
nun ein ftille8 Landftädtchen geworden, in das jelbit die Gar: 
nijon und die Studenten, welche das Polytechnitum bejuchen, 
nur wenig Xeben bringen; denn wenn dieje ſich amüfiren wollen, 
gehen fie nach dem Haag. Nur die gejhichtlichen Erinnerungen 
leben in Delft und umjchweben den Wanderer auf Schritt und 
Tritt, wenn er feinen Weg durch die ftillen Straßen nimmt; 
die Einwohner jterben, wie der Läftermund jagt, an Langeweile. 

Was aber ijt aus der dritten der großen Induftrien Delfts 
geworden, der Fayencefabrifation, die einft Tauſende regjamer 
Hände in Arbeit jegte? Vergeben wird der Fremde nad) irgend 
einer der zahlreichen berühmten Fabriken Umjchau Halten, ver: 
geben wird er fragen, wenn ihn nicht ein Kundiger nach der 
einzigen Fabrik weit, die in einer bejcheidenen Straße verborgen 
genug liegt. In der That, auch Ddieje ſtolze Induftrie, Die 
einjt den Namen Delft3 über die Stadtgrenzen hinaus in alle 
eivilifirte Welt trug, ijt verfchwunden, und von ihrer Eriftenz 
melden bloß ihre Fabrifate in den Mujeen und Brivatjammı: 
lungen und die Urfundenbücher, welche das Stadthaus auf: 
bewahrt. Sie verdient es aber, daß man ihr einige Betrachtung 
ſchenkt. 

Ihr Urſprung liegt, wie der der Fayence überhaupt, im 


(789) 


26 





Dunkeln; man hat fogar noch in neuejter Zeit, durch mißver- 
jtandene Zahlen, die fi) auf mandyen Fayencegegenjtänden befinden, 
getäujcht, die Entjtehungszeit der erften Fabrikate ins fünfzehnte 
Sahrhundert Hinaufrüden wollen. Das ijt jedoch ein Irrthum; 
ih babe Delfter Fayencen gejehen, welche fogar die Zahl 1361 
trugen; das find natürlich nur Fabrifationsnummern, und auf 
fie ift bei der Beltimmung des Alters der Gegenftände feine 
Nücdfiht zu nehmen. Soviel fteht feit, daß vor 1600 Feine 
Stüde Delfter Herkunft nachzuweijen find. Um dieje Zeit 
lebte in Delft der von Haarlem eingewanderte Herman Pieters, 
der einige Jahre fpäter, unterjtügt von jeinem Gehülfen Tomes 
Jansz, einem früheren Soldaten, der das Schwert mit dem 
Pinjel vertauscht hatte, und von Hans de Windt die Fayence 
bereit3 in der Form und Vollkommenheit herſtellte, wie jie ſich 
drei Jahrhunderte hindurch faſt unverändert erhalten Hat. 
Havard in feinem danfenswerthen, wenn aud) nicht erfchöpfenden 
Wert „Histoire de la Fayence de Delft“, Amjterdam und 
Paris 1878,° möchte Pieters die Erfindung felber zuijchreiben 
und glaubt, daß der Anfertigung feiner Fayencen jahrelange 
Berjuche jeitens desſelben vorausgegangen feien; ich möchte 
jedoch meinen, daß Pieters die Art und Weiſe der Herftellung 
der Fayence nicht erfunden, jondern bereit3 in Haarlem fennen 
gelernt und von da einfach nach Delft verpflanzt Hat. Zu diejer 
Unfiht führt mich die Thatſache, daß jchon 1572 Adrian 
Bogaert, geleijer plateelbakker, ferner 1596 Jan Nanningrz, 
geleijbakker, 1600 Jacob Jansz, plateelbakker, 1603 Cor: 
nelis Dirkxz, plateelbakker, erwähnt werden. Aucd in Amſter— 
dam finden wir ſchon 1584 einen Plateelbaffer, Carjtiaen van 
den Abeele, wie denn dort und jpäter auch in anderen Städten 
des Landes Fayencefabrifen erijtirten, über deren Geſchichte wir 
heute leider noch ebenſo ſchlecht unterrichtet find, wie über ihre 
Fabrikate. Gegen die Autorſchaft Pieter ſpricht ferner die 


(79) 


— 


belangreiche Mittheilung, welche Carel van Mander in ſeinem 
bekannten „Schilderboeck“ über den um die Mitte des ſechzehnten 
Jahrhunderts in Haarlem lebenden Cornelis Henrickſen macht. 
Derſelbe widmete ſich, wie er ſagt, der Kunſt, Plateelen oder 
Porceleijnen zu machen, er verfertigte Fayencen, ausgezeichnet 
dur Zeichnung und Farben; als beſonders merkwürdig be- 
zeichnet Mander dejjen Zrinfgefäße, die ſog. pots A surprise. 
Der Sohn dieſes Künftler® war der 1566 geborene Henrid 
Corneliſſen Vroom; auch diefer widmete fi) jchon jung dem 
Porzellanmalen, und da er bejondere Vorliebe für Darftellungen 
aus dem Marineleben Hatte, malte er auch oft auf feine Por— 
zellangegenjtände Sciffhen u.a. In Sevilla treibt er wieder 
das Porzellanmalen bei einem Italiener; in Venedig malt er 
Majolita oder Porzellane (man fieht aus diefem Ausdrud, 
daß unter Porzellan die Fayence verjtanden ift), ebenſo in 
Urbizziolo (Heute Arbiſſola). Bor Ende des Jahrhunderts war 
er wieder in Haarlem, wo er mit Vorliebe Entwürfe zu Gobe- 
lins anfertigte, die in Delft gewebt wurden. An einer anderen 
Stelle erwähnt derjelbe Autor den Jan Floris, der 1550 in 
der St. Lufasgilde vorkommt; er fei ein jo berühmter „gleijs- 
potbacker“ gewejen, daß nie in den Niederlanden jeinesgleichen 
war; borzüglid tüchtig war er im Bemalen de „aerdwerck“ 
oder „porceleijn“ mit allerlei „historikens“ und „beeldekens“. 
Havard thut die Haarlemer „Porceleijn“fabrikanten und »maler 
einfach ab mit der Bemerkung, fie jeien fabricants de fayences 
grossieres gewejen. Wie reimen fic) aber damit die Angaben 
van Manders zujammen, der, jelbjt ein tüchtiger Maler, dieſe 
Männer gar nicht erwähnt haben würde, wenn fie nicht Aus— 
gezeichnete in ihrer Kunft geleiftet hätten? Und daß er nicht 
von bloßem Hörenjagen fpricht, geht daraus hervor, daß er 
mittheilt, er habe Stüde von Floris Hand im Haufe von dejjen 


Bruder Frans gejehen. Daß die genannten Männer wirklich 
(791) 


28 
vorzügliche Sachen lieferten, verräth auch ihre Lebensgejchichte. 
Ueber Vos haben wir jchon kurz gejprocdhen, von Floris jei 
nur noch erwähnt, daß ihn der König von Spanien mit nad) 
Madrid an feinen Hof nahm, wo er, nod) jung, ſtarb. Das 
waren aljo feine fabricants de fayences grossieres. Van 
Mander und die anderen Quellen würden überhaupt nicht fort: 
während die Ausdrüde aardewerck oder porceleijn oder 
majolika gebrauchen, wenn fie nicht durch den Zujaß porceleijn 
hätten bezeichnen wollen, daß die Fabrikate nicht mit dem ge: 
wöhnlichen aardewerck, jondern mit dem jchon damals aus 
Indien eingeführten Borzellan zu vergleichen waren, wie ja 
auch die italienische Fayence von ihnen porceleijn genannt 
wird. Das Gejagte, wie der Umijtand, daß ſchon vor 1600 
zwijchen Delft und Haarlem manche fünjtleriichen Beziehungen 
beitanden, und ferner die Thatjache, daß Pieters — nad) 
Havard der Erfinder der Delfter Yayence — aus dieſer Stadt 
ftammt und erjt 1584 fi) nad) Delft verheirathet Hat, das 
alles legt doch eher die Vermuthung nahe, Pieters Habe die 
Kunft, Fayence herzuitellen, in Haarlem fennen gelernt, als er 
habe fie nach jahrelangen Verſuchen erfunden. 

Bon den Erzeugnifjen der Pietersichen Kunft ijt bis jet, 
abgejehen vielleicht von zwei Kacheln mit dem Bilde des Prinzen 
Morig von Oranien und allegorischen Darftellungen, noch nichts 
Sicheres nachzuweilen; dagegen haben wir von Tomes Jansz 
eine große Platte mit mehr als vierhundert Figuren, das jüngite 
Gericht darjtellend und TOMESWA gezeichnet. 

In den erjten vier Jahrzehnten des fiebzehnten Jahrhunderts 
machte die Fayenceinduftrie nur langjame Fortichritte, denn von 
1616 bis 1640 wurden in die Lukasgilde nur zehn Plateelſchilder— 
meijter aufgenommen, und bis zum leßtgenannten Jahre waren 
in Delft nur dreißig Fayencefabrifanten thätig gewejen. Die 
günftigen Handelsverbindungen der Stadt, der Ueberfluß an 


(792) 


233 


Kapital und Arbeitskräften — waren doch dur) das Dar- 
niederliegen de3 Brauereigewerbes viele Hunderte von Arbeitern 
beichäftigungslos geworden — trugen viel zur weiteren Ent: 
faltung der Fayenceinduftrie, wie fie feit der Mitte des Jahr: 
hunderts zu Tage tritt, bei. Eine Fabrik nad) der anderen 
entjtand, oft in den Räumen, welche früher al3 Brauereien 
gedient Hatten, weshalb auch dieje Fabriken meijtend den Namen 
und das Scildabzeichen der feßteren annahmen, wie die Fa— 
brifen Der metallene Pot, Die drei Gloden, Der Pfau, Das 
griehiihe A u.a. In der St. Lufasgilde, an deren Spibe 
bisher vier Meifter ftanden, wurde die Zahl derjelben auf ſechs 
erhöht und zwei Plateelſchilder, die bis dahin noch nicht im 
Borjtand vertreten waren, erhielten von nun an darin Sitz und 
Stimme. In der furzen Zeit von 1651 bis 1662 wurden jechs- 
unddreißig Meifter aufgenommen. Jeder, der Meifter werden 
wollte, mußte eine zweijährige Lehrzeit durchmachen und dann 
vor der Gilde fein Meifterftücd anfertigen, und zwar waren für 
den Dreher vorgejchrieben: ein Sirooppot, eine Salatjchüffel 
und ein Salzjaß mit Fuß aus einem Stüd gedreht, für den 
Maler (schilder) die Dekorirung von einem halben Dutzend 
Schüfjeln größten Formats und dreißig Heinen Tellern, ferner 
das Bemalen eines großen ?sruchtteller8 mit Ornamenten; der: 
artige Meifterftüde find noch vorhanden, 3.8. auf dem Stadt- 
bauje in Delft. 

Die meiften Fabrifanten hatten eine Marke, mit der fie, 
wenn auch nicht durchgängig, ihre Ware bezeichneten. Dieje Marten, 
jowie die in den Meijterbüchern der St. Lukasgilde erhaltenen 
Berzeichnifje der Maler und Fabrifanten ermöglichen es uns, 
unter jteter Zuratheziehung der noch vorhandenen Fabrikate eine 
Gejhichte der Delfter Fayence zu konſtruiren. Wir lernen 
daraus als Hauptvertreter der zweiten Periode (etiva jeit 1650) 


fennen Abraham de Kooge, der zugleich Glasmaler und Kunſt— 
(793) 


händler war, Welbregt de Keiſer, Meſch, Milde. Bejonders 
hervorragend find die beiden Erftgenannten, beide nicht aus 
Delft gebürtig; Keifer ift außerdem noch zu erwähnen, weil er 
japaniſches Borzellan, vornehmlih Taſſen und Zeller, nach- 
ahmte.!° Seine Fabrikate erfreuten fich eines ſolchen Anjehens, 
daß in der Folge jeine Marke von mehr "ald zwanzig Kon- 
furrenten nachgeahmt wurde; feine Schwiegerjöhne, die beiden 
Pynader, leifteten ebenfalls Bedeutendes, auch in der Nach— 
ahmung von japanijchen Vorbildern. Der eine, Adrian, wandte 
mit Vorliebe die Polychromie in Roth, Blau und Gold an; 
Doch wurde auch feine Marke jpäter häufig gefälfcht. 

Kooge, ein tüchtiger Maler, Tiefert gute Landichaften und 
Porträts, und jeine Nachfolger, die Hoppejteen und $. Kohl, 
wirfen in feinem Geijte fort. Neben diejen ift noch Frytom 
zu nennen, deſſen Porträts und Landichaften an wunderbarer 
Seinheit in Ton und Zeichnung fi) Hoher Werthſchätzung er- 
freuen. Wir unterlaffen es, Namen hervorzuheben aus der 
ftattlihen Zahl der Künftler zweiten Ranges, welche die großen 
Schüfjeln, die mächtigen Vaſen mit allegorifchen und ſymboliſchen 
Darftellungen, mit phantaftifchen Ornamenten und Gebilden im 
japanischen und chineſiſchen Stil ohne eigentliche Verſtändniß 
der Formen deforirten. Nur Zambertus Cleffius fei hier noch 
erwähnt, weil er in einer Anzeige im Haarlemer Courant vom 
13. Auguft 1678 erklärt, er habe zuerjt das chineſiſche Porzellan 
nachgemacht, und zwar im Jahre 1672. Daß dieje Bekannt— 
machung nur ein Gejchäftsfniff ift, dürfte aus dem früher Ge- 
jagten hervorgehen. Gerade damald war die Nachfrage nad) 
dem afiatifchen Porzellan außerordentlich groß; e3 wurden zwar 
durch die holländiichen Kauffahrteifchiffe viele Schiffsladungen 
diefer Waren nad) Europa gebracht, aber dem Verlangen nad) 
dem begehrten Zurusartifel konnte nicht völlig Genüge gethan 


werden. Da trat die Delfter Fabrikation ein und ftellte aus 
9) 


31 





ihrem Material nach chineſiſchen und japaniſchen Muſtern jene 
Taſſen, Teller, Vaſen und anderen Stücke her, die ſich in faſt 
allen Beziehungen, die Feinheit des verwendeten Grundſtoffes 
ausgenommen, den aſiatiſchen Vorbildern ebenbürtig an die 
Seite jtellen fonnten. Kein Wunder, daß man auch in anderen 
Ländern das ſog. Delfter Porzellan, das jo flotten Abſatz fand, 
nachzuahmen ſuchte. Bejonders die Franzoſen machten in diejer 
Beziehung große Anftrengungen; erfreuten fich doch die Delfter 
Fayencen folcher Beliebtheit, daß man ihnen faſt in allen großen 
Inventaren und felbft in den Verzeichniſſen über den Beſtand 
der föniglihen Schlöffer begegnet. So jehte der Franzoſe 
Louis Poterat in Rouen Ende des fiebzehnten Jahrhunderts in 
einem Schreiben an den König auseinander, daß er la fayence 
d’Hollande fopiren wolle; 1751 zeigt Louis Saladin an, da 
er das Geheimniß der Fayence entdedt Habe und fie jo ſchön 
wie in Holland machen könne. Zahlreiche franzöfiiche Fabri— 
fanten ftellten bald die Ware her, die unter dem Namen Delphes 
ging, nicht par une singuli&reaberration g&ographique jo benannt, 
wie Havard meint, jondern weil Delft im mittelalterlichen Latein 
Delphi und danad) franzöfifirt Delphes genannt wurde. Der 
holländische Einfluß auf die Fabrikation der Frauzojen, die ihre 
eigenen Wege ging, ließ etwa um 1740 nach.“ 

Wie die japanischen und chinefiichen Porzellane, zählte auch 
die Delfter Fayence anfangs lange Zeit hindurch zu den Luxus— 
gegenftänden, und nur die Wohlhabenden konnten ihre Zimmer 
damit ausſchmücken. Allmählich aber, mit dem Wachsthum der 
Fabriken, verallgemeinerte fich der Gebraud. Kapitaliften und 
Händler thaten ſich zufammen, erhöhten die Produktion und 
drüdten die Preiſe. Damit jchwindet freilich auch der eigent- 
liche fünftferifche Charakter der Gegenftände, der Gejhmad wird 
ordinär, die Darftellung überladen, die Anfertigung flüchtig. 
Die Ware wird als Fabriks- und Dubendware gemöhnlid; man 

(796) 


32 


beijchränft fi nicht mehr auf die Herftellung von Tellern, 
Schüfjeln, Taffen und Vaſen; faft alle Gegenjtände des täglichen 
Gebrauch werden jeßt aus Fayence hergeftellt, Daneben mannig- 
fache Spielereien, ja jogar veritable Violinen, von denen noch 
fünf Eremplare bekannt find. Doch begegnen wir unter der 
großen Zahl der mittelmäßigen Maler immer noch einigen, die 
recht Waderes Ieiften, jo G. Verhaaft, 3. van der Haagen, 
J. Verhaagen und bejonder8 den beiden Dertra, welche das 
ſächſiſche Porzellan nicht ohne Glück nachzuahmen ſuchten. 

Im Jahre 1729 war die Zahl der Fabriken auf neun— 
undzwanzig geſtiegen; alle hatten einen Namen; ſo gab es 
außer den ſchon oben erwähnten eine Fabrik Der Hirſch, Das 
porzellanene Beil, Der alte Mohrenkopf, Die Roſe. Auch da— 
mals noch hatten die einzelnen Fabrikanten beſtimmte Marken, 
mit denen fie ihre Ware zeichneten; da dieſe jedoch, wie jchon 
angedeutet, häufig nachgemacht wurden, erließ die Stadt im 
Sahre 1764, als es freilich Schon längſt zu jpät war, eine Ber: 
ordnung, daß jeder Fayencefabrikant und «händler feinen eigenen 
Namen oder ein bejtimmtes Merkzeichen auf jeinen Fabrifaten 
anbringen jolle, bei einer Strafe von 600 Gulden im Unter- 
lafjungsfalle. 

In jenem Jahre 1729 jchreibt Boitet in feiner „Beſchrijving 
der Stadt Delft”, die er auf Grund des 1667 erjchienenen 
Bleyswijcdichen Werfes herausgab: „Das Delftiche Porzellan, 
überall begehrt und nach allen fernen Gegenden verjandt, nimmt 
jo jehr zu, daß bereits neunundzwanzig Borzellanfabrifen ge 
funden wurden, und weil dieje Ware weit und breit hin ver: 
trieben werden kann, fann man leicht begreifen, daß viel Arbeits- 
volf nöthig, um das dazu nöthige Material vorzubereiten, zu 
formen und zu bemalen; es ift ficher, daß das inländijche Bor- 
zellan nirgends feiner und jchöner gemacht wird als in dieſer 


Stadt, die ohne Zweifel die Chinejen in der kunſtvollen Bemalung 
(796) 


33 


übertrifft. Ich will nicht leugnen, daß noch anderswo, in dieſer 
oder jener Stadt, auch wohl gutes Porzellan verfertigt wird, 
doch daß dieje nicht mit dem Delftichen wetteifern fünnen, wird 
Niemand in Zweifel ziehen, weswegen nicht allein Brabant, 
Flandern und die umliegenden Provinzen, jondern auch Frank: 
rei, England, Spanien und andere fremde Küönigreiche !? ihre 
gebrannten und bemalten Gejchirre vernachläffigen; ſelbſt Oſt— 
indien, woher doch das feinjte fommt, ftrebt jogar danach, mit 
diejer Delftihen Ware zu prunfen.” Wenn Havard behauptet, 
die Neifebejchreibungen aus dieſer Zeit ſchwiegen beharrlich von 
diefer Induſtrie, jo befindet er fi im Irrthum: ſchon dem 
Schweizer Dichter Haller fielen bei feinem erjten Beſuch Hollands 
die zahlreichen Fayencen im Innern der Häujer auf; der Ber: 
fafjer de Journal du voyage de Hollande, 1730, jpricht aus» 
führlich über die Delfter Fayencefabrifation, deren Blüthe er 
bezeichnenderweije den franzöfiichen proteftantifchen Arbeitern, 
die Holland an fich ziehe, zufchreibt;'? das unten angeführte 
Werk giebt eine genaue Anleitung zur Herjtellung der Delfter 
Ware; de la Barre de Beaumarchais, de Fébure, Forjter und 
zahlreiche andere Autoren des achtzehnten Jahrhunderts wiſſen 
von Diejer wichtigen Erwerbsquelle Hollands zu berichten. 
Forſter, der ſich jehr für dieje interejjirte, giebt bemerfenswerthe 
Aufichlüffe, doch findet er die Form und die Malerei der Delft: 
ſchen Fayencen geſchmacklos; Erwähnung verdient noch ein 
Bericht im Deutfchen Muſeum vom Jahre 1779, woraus wir 
entnehmen, daß im diefer Zeit noch fünfzehn Fabriken mit je 
dreißig bis vierzig Arbeitern in Delft in Betrieb waren. Man 
fieht daraus, daß die Fabrikation allmählich abnahm, denn nad 
zuverläjligen Berechnungen hatte Hundert Jahre vorher die 
AUrbeiterzahl, wenn auch nicht zehntaufend, wie Demmin will, 
fo doc fünfzehnhundert bis zweitaujfend betragen. Die Gründe 


für das Erlahmen diejes wichtigen Induftriezweiges liegen einer: 
Sammlung. N. F. XIII. 309, 3 (797) 


34 


jeit3 in der Konkurrenz der in anderen Städten errichteten Fa— 
brifen, andererjeit3 in dem Aufkommen des englijchen Steinguts 
und vor allem des immer wohlfeiler werdenden Borzellans. 
Afien fchicte ungeheure Mengen desjelben nach) Europa, die zu 
Spottpreijfen verkauft wurden,“ in Holland jelbjt entjtanden 
zahlreiche Porzellanfabrifen, fo jchon 1754 zu Amjterdam, 1772 
zu Loosdrecht (die jehr jeltenen Stüde find kenntlich an den 
hellblauen Blumen mit grünen Blättern und den vergoldeten 
Nändern), um 1780 im Haag, die ſächſiſches Porzellan nad): 
ahmte (Marke: Der Storch) u. a. 

Wohlfeil war freilich auch die Delfter Ware geworden, 
aber fie konnte ſich troßdem der Konkurrenz des engliichen Stein: 
guts und des Porzellans, das jeht Modeartifel geworden war, 
nicht mehr erwehren; jo fojtete, wie wir einem Preisverzeichniß 
von 1758 entnehmen, ein Dußend große Schüfjeln mit blauen 
oder farbigen Deſſins 2 Gulden 50 Cents, d. i. das Stüd etwa 
35 Pfennig, das Heute mit ebenjoviel Mark bezahlt wird. 
Kaffeetafjen, blau und roth deforirt, famen das Dutzend auf 
etwa 70 Pfennig zu ftehen. Daß bei jo billigen Preiſen und 
dem immer mehr verringerten Abjag ſich die Produktion nicht 
mehr lohnte, ift leicht einzujehen. Daher finden wir im Jahre 
1808 nur noch acht Fabriken, die alle ein fümmerliches Dajein 
frifteten,; eine nach der anderen von ihnen ging ein, bis 1850 
mit den unter der Direktion von J. van der Putten & Co. 
jtehenden „Drei Gloden” auch die letzte Delfter Fayencefabrif 
zu bejtehen aufgehört Hatte. Erjt im legten Jahrzehnt wurde 
von dem unternehmenden Jooſt Thooft, jpäter im Verein mit dem 
jegigen Befiter Labouchere, die längjt entichlafene Fabrik „Die 
porzellanene Flaſche“ wieder ins Leben gerufen. 

Ueber die Art und Weije der Verfertigung der Delfter 
Fayence finden wir die genaueften Nachrichten bei Gerrit Baape 
dejjen 1794 zu Dordrecht erfchienenes Wert „De Plateelbakker* 


(798) 


— 35 — 


den zwölften Theil der „Volledige Beschrijving van kunsten, 
ambachten etc.“ bildet; es iſt von Havard in feiner oben- 
genannten Arbeit zum Theil ins Franzöſiſche überſetzt worden. 
Weitere Auskunft giebt das Havard unbekannte „Technologisch 
Handboek, uitgegeven door de Maatschappij Tot Nut van’t 
Algemeen. Amsterdam 1809.* 

Dad Material, das zur Anfertigung der Fayence diente, 
bejtand gewöhnlich aus dreierlei Erdjorten, Doornikjcher, Ahein- 
ländiſcher (aus der Gegend von Mülheim a. d. Ruhr) und 
Deljter Erde, die, in Farbe und Feſtigkeit voneinander ver: 
ichieden, meift im Verhältniß von 6:3:2 genommen wurden. 
Die Miihung wurde in Erdwajchereien gejchlemmt, durch ein 
fupfernes Sieb getrieben und gefnetet. Die wohldurchgearbeitete 
plajtiihe Mafje wurde nun zu dem Dreher gebracht, der aus 
derjelben auf der Drehicheibe die Gegenſtände verfertigte, aus 
freier Hand oder nad) einem Modell oder in Gipsformen. Die 
aus der Hand des Dreherd hervorgegangenen Stüde wurden in 
der Nähe des Ofens forgfältig getrodnet und, ehe jie den 
Trodenprozeß völlig zu Ende durchgemacht, vom Dreher von 
allen Unebenheiten und Rauhheiten befreit. Alsdann gingen 
die Stüde gut getrodnet zum erjten Brand in den Ofen. Diefer 
war vieredig und bejtond aus drei Etagen; in der unterjten 
wurde das Holzfeuer unterhalten, in der zweiten und dritten 
ftanden die zu brennenden Gegenftände in aus feuerfeitem Stein 
gefertigten Muffeln, zwijchen denen die Flamme und der Rauch 
hindurchftrihen. Achtundzwanzig bis dreißig Stunden dauerte 
die Feuerung, dann ließ man den Ofen langjam abfühlen und 
öffnete ihn am dritten Tage nad) dem Aufhören des Brandes. 
Die fo zum erften Male gebrannten Gegenjtände, heute Biskuit 
genannt, von gelblichbrauner Färbung, wurden nun durch Ein- 
tauchen in eine Flüffigkeit, daS jog. Wit, eine Zinnglafur, mit 


einem Ueberzug verjehen, der nad) dem zweiten Brand das 
3° (799) 


36 


weiße Email bildete. Auf das getrocdhnete Wit malte nun der 
Maler, der freilich nur in den feltenften Fällen jelbftändig ent- 
warf, da er jich nach bejtimmten Vorlagen richtete, feine Ara- 
besfen und Figuren; doch verfuhren die Schilder (fo hießen die 
Maler) Hierbei nicht jlaviich, jondern fomponirten fich oft aus 
verjchtedenen der ihnen vorliegenden Modelle wieder ein neues; 
mit bejonderer Vorliebe wurden Landjchaften von Berchem und 
Wouverman, Schilderungen von Teniers, Jan Steen und anderen 
Sittenmalern kopirt oder verwerthet. Bei der Herſtellung 
jog. Dutzendware wurden die Umriſſe der Zeichnung mit einer 
Nadel in Papier geitochen, dieſes auf den zu bemalenden Gegen» 
jtand gelegt und dann durd) Betupfen mit einem Sädchen voll 
feiner Holzfohlenajche auf dieſen übertragen.!? 

Bom Maler gingen die deforirten Stüde zum jog. Vloer— 
werfer, der fie durch längeres oder Fürzeres Eintauchen in 
die Glaſurflüſſigkeit mit einem gelblichweißen Ueberzug verjah, 
unter welchem die Malerei völlig verſchwand. Darnad) wurden 
die glafirten Gegenjtände wiederum in die feuerfejten Muffeln 
eingefeßt, wobei forgfältig darauf acht zu geben war, daß ſich die 
einzelnen Stüde nicht berührten, weil fie jonjt zufammengebaden 
wären. In diefen Muffeln wurden fie nun zum zweiten Male 
in den Ofen gebracht, dem fie nad) vollendetem Brand fertig 
zum Berjand entnommen wurden. 

Die moderne Fabrifationgweife, in welche ung von dem 
Befiter der Fabrik „Die porzellanene Flaſche“ Einfiht zu 
nehmen in fiebenswürdiger Weile gejtattet wurde, tft, abgejehen 
von den praftijcheren maschinellen Einrichtungen, von der bisher 
betrachteten alten nicht wejentlich verjchieden,'* am bemerfens- 
werthejten ift der große Ofen, der von neun mit Kohlen ge: 
jpeijten Feuern geheizt wird; eine andere Methode befolgt die 
im Haag befindliche Fayencefabrit Noozenburg, deren Defen 


durch mächtige Gasflammen, welche die Muffeln entlang ftreichen, 
(800) 


57 





die nöthige Temperatur erhalten. Ferner weicht man in Bezug 
auf die Glafur und Bemalung ab, indem man bei dem Neubdelft 
direft auf das Biskuit malt und dann die Malerei mit einer 
Glaſur überzieht, welche die Emaille hervorruft, ohne daß Die 
Farben von ihr gededt werden. 

Die PBrodufte der neuen Delfter Fabrik unterjcheiden fich 
jedoch merklich von der alten Delfter Ware; das verwandte 
Material it, wie angedeutet, ein anderes, daher ift der Bruch 
der neuen Fayence fajt weiß, während das alte Delft eine 
gelbbraune Farbe des Bruches aufweilt. Die Formen der 
Gegenjtände, bejonders bei den Vaſen und Tellern, find im 
großen und ganzen diejelben geblieben, dagegen iſt die Art und 
Meile der Deforirung eine völlig neue; denn die Fabrik geht 
nicht darauf aus, altes Delft in möglichjt gelungener Nach: 
ahmung herzuftellen, jondern jelbjtändige, originelle Arbeiten 
hervorzubringen. Zu dem Zweck läßt fie einen Theil ihrer 
Borlagen von tüchtigen Künſtlern Herjtellen und von vierzig 
Malern, die in der Fabrik thätig find, ausführen. Das erhöht 
natürlich den Preis der hergejtellten Stüde beträchtlich, aber 
auch ihren fünftleriichen Werth, da jedes Stück ein Kunſtwerk 
im Eleinen ijt, an dem jedes Strichelchen mit der Hand, nicht 
mit Hülfe der Schablone hervorgebracht it. Die von der 
Fabrik hergeftellten Gegenjtände find jo gejucht, daß Diejelbe 
der Nachfrage oft nicht genügen kann. Dieje würde meiner 
Anſicht nach größer fein, wenn man fich in der Verfertigung 
der Stüde mehr an die guten, alten Delfter Mufter, nicht an 
die oft zweifelhaften Leiftungen moderner Maler anjchlöfje. 
Da feine Gebrauchs-, jondern nur Lurusgegenftände fabrizirt 
werden, muß die Fabrif natürlich auf die Herjtellung einer 
außerordentlich großen Zahl von Artikeln verzichten, welche 
unter den alten Delfter Waren eine Hauptrolle jpielen. Ein 
Bid in ein holländijches Hauswejen aus dem Anfange des 


(801) 


38 


achtzehnten Jahrhunderts wird ung zeigen, wie mannigfach dieje 
waren. 

Nachdem wir mit der Glode ein Zeichen gegeben, wird 
die Hausthüre geöffnet, und wir treten ein in den jchmalen 
Flur, deffen Wände mit quadratijchen Delfter Ziegeln belegt 
find; ergöglih im ihrer Mannigfaltigfeit find die Malereien, 
die wir auf denjelben wahrnehmen. Blumen, LZandjchaften, 
Figuren bilden die Hauptgegenftände der Darſtellung. Im 
einem feinen Vorzimmer, das zum Salon führt, bemerfen wir 
eine Kijte von Nußbaumholz, auf der fich fünf mit japanischen 
Muſtern geſchmückte Vaſen von verjchiedener Form befinden; in 
ihrem Innern birgt fie verjchiedene Kaffee und Theejervice. 
Sm Saal ſelbſt fallen uns die mächtigen, ebenfall3 mit chine- 
fiihen oder japanischen Darftellungen verjehenen Vaſen auf, 
die den Kamin zieren; an den Wänden erbliden wir große, 
vieredige Platten, deren Malerei gejchichtlihe und biblifche 
Sujet3 zu Grunde liegen, jo Adam und Eva im Paradies, 
umgeben von wilden Thieren, mit der freilich durch verjchiedene 
Schreibfehler des nicht ſprachkundigen Malers verunftalteten 
Unterjchrift: Nitimur in vetitum semper cupimusque negata. 
Ferner jehen wir die alten Helden Scipio und Hannibal, in 
deren Nachbarſchaft eine große, die Glaubensartifel enthaltende 
Schüffel hängt, während eine andere Wandfläche durch eine 
Tafel geſchmückt wird, welche die Abbildung eines phantaftiichen 
Palaſtes mit der Erklärung: Salomons paleis zeigt. Auf einer 
mejjingbejchlagenen Kommode jtehen verjchiedene Leuchter, ſowie 
Blumenvafen, mit vielen Deffnungen verjehen, in welchen ab» 
gejchnittene Tulpen und Hyazinthen jteden. Kaum zu bejchreiben 
find die zahllofen Nippfachen, die fich um diefe Vaſen gruppiren, 
da jehen wir alte Frauchen mit einer großen Brille auf der 
Naſe, Papageien, Kühe, Löwen, Affen und mancherlei andere 


zierlihe Sachen. Wir würden eine ganze Menagerie zufammen- 
(802) 


u 


bringen fönnen, wenn nicht der Hausherr die Anweſenden 
nöthigte, an den reichbejegten Tafeln im anjtoßenden Eßzimmer 
Platz zu nehmen. Prächtig heben fi von dem jchneeweißen 
Linnen die blau deforirten Stüde des Delfter Service ab, das, 
ein Hochzeitsgefchent, mit dem Wappen und Namen des Beſitzers 
und feiner Ehehälfte, fowie mit dem Datum des Vermählungs- 
tages verjehen ift. In der Mitte der Tafel ſtehen Wafjerfannen 
aus Fayence, zierliche Pfeffer: und Salznäpfe, Ejfig- und Del- 
jtänder, Blumenvajen, alle verziert mit den blauen Arabesken 
und Scildereien der Delfter Künftler. Eine fräftige Erbjen- 
fuppe, ein bolländijches Nationalgericht, wird in einer großen 
Terrine, einem Meifterftüct des Drehers wie des Malers, auf 
den Tiſch gebracht. Als zweiter Gang folgt Seezunge in hol- 
ländiicher Tunke; die Hier verwandten Teller enthalten Dar: 
ftellungen, die fi) auf den Theehandel beziehen; in diefem Hat 
nämlich der Hausherr jein Vermögen verdient. Daß auch die 
Hefte der Mefjer und Gabeln aus Fayence beftehen, fei noch 
erwähnt. Nun folgt Gang auf Gang, Gericht auf Gericht. 
Wir jtaunen, wie über die Menge und Mannigfaltigkeit der 
Speijen, jo über die der aufgetragenen Teller und Schüfjeln. 
Beſonders auffallend find die Salatſchüſſeln, die Konfektichalen 
und die Butterdojen. Zur Erheiterung der Gäfte wird, nachdem 
die jchier zahllofen Süßigkeiten verjpeift find, ein mit Wein 
gefüllter Krug bereingebraht und den Anweſenden vorgejeßt; 
aber Keiner vermag es, dem trügerifchen Gefäß einen Tropfen 
zu entloden, denn wie er die Deffnung des Kruges an den 
Mund jegt, ſpritzt ihm aus einer anderen der Wein ins Geficht 
und auf das zierlich gefaltete Spitenjabot. Der Hausherr zeigt, 
dab das Trinken nur möglich it, wenn man eine Kleine, ver: 
borgene Deffnung des Vexirkruges mit dem Finger zuhält. 
Nach beendeter Mahlzeit greifen die Herren zu den Pfeifen, den 
langen Goudaer Pfeifen, welche mit Tabafsdojen, Ajchenbechern 


(808) 


—“ 


und dem Behälter mit brennendem Torf zum Anzünden des 
braunen Krautes auf die Tafel geſtellt werden. Die Damen 
dagegen ergötzen ſich am Thee, der in einem echt chineſiſchen 
Service aufgetragen und kredenzt wird. 

Es würde zu weit führen, noch mehr Geräthſchaften und 
Gegenſtände des Luxus“ wie des häuslichen Gebrauchs aufzu— 
zählen, welche der Delfter Fayenceinduſtrie ihre Entſtehung ver— 
danken; nur auf die Aufſchriften, welche viele dieſer Stücke 
tragen, ſei hier noch hingewieſen. Dieſe, meiſt kurze Sprüche, 
ſind naturgemäß größtentheils in holländiſcher Mundart ab— 
gefaßt, doch begegnen wir auch ſolchen in andern Sprachen, 
z. B. der lateiniſchen und franzöſiſchen.'s Vorzugsweiſe find ſie 
didaktiſchen Inhalts, wie: In spijs en praat How middelmaat 
(Beim Sprechen und Eſſen Das Maß nicht vergefjen!) oder fie 
geben einem religiöjen Gedanfen Ausdruck: 


Dankt Godt voor zyne Goeldigkeit 
Eer gy van den dis afscheidt. 
(Eh’ ihr von dem Tiiche geht, 
Danft dem Herren im Gebet.) 


Undere find Humorijtiiher Art, jo leſen wir auf einem 
Rafirbefen: Het jaar is om, Betaald de som (Das Jahr ift 
vorbei, denk' ans Bezahlen), eine Mahnung an den Kunden, 
ähnlich wie wir fie auf dem Teller lejen, der einer Wirthichaft 
entjtammt: Zie eens wat hier achter staat (Sieh einmal, was 
auf der Rückſeite jteht!), drehte man danı den Teller um, jo 
mahnten die dort befindlichen Worte: Betaalt eer dat gy heenen 
gaat (Bezahlt, ehe ihr weiter geht), und bisweilen war nod) 
Hinzugefügt: Of anders hoed of mantel laat (oder laßt Hut 
oder Mantel zurüd!). 

Oft finden ſich auch Sprüche, welche die auf den em 


zelnen Stüden befindlichen Bilder erläutern; jo leſen wir auf 
(804) 


Tellern, deren Malereien den Theehandel darjtellen, poetijche 
Erklärungen, wie: 


Zoo Knegt brengt monsters aan en toond de zuiverheid, 

Een Koopman ruikt en proeft en zeg dan u bescheid. 

(Der Knecht bringt Mufter herbei und zeigt ihre Reinheit, 

Der Kaufmann riecht daran und prüft fie und jagt dann Beſcheid.) 


Sehr zahlreih find die auf die Freiheit, den Kampf fürs 
Baterland und das Herrſcherhaus der Dranier bezüglichen Auf: 
ſchriften; an der Hand derjelben läßt ſich die ganze Gejchichte 
der Niederlande während des fiebzehnten und achtzehnten Jahr: 
Hundert3 verfolgen, von Mori von Oranien an, den wir auf 
den ältejten Fayencefliefen abgebildet jehen, bis zu den Partei— 
fümpfen um die Wende des vorigen Jahrhunderts. Wir können 
hier nur einiges hervorheben; jo lieft man unter zwei mitein- 
ander im Kampf befindlichen Schiffen: 'T Hollands bloet is 
nog vol moed (Das holländiſche Blut ift noch voll Muth); auf 
einer Theebüchſe: Zo lang als son en maan zal staan, zal 
nooyt de oranje kleur vergaan (So lang’ als Sonn’ und Mond 
beitehn, Wird Oraniens Farbe nicht vergehn), oder: Bid voor 
u voorst wensch hem geen kwaad (Bitte für deinen Fürft, 
wünsche ihm nichts Böſes). Unter einem Bilde Wilhelms V. 
ſteht: Hier is de deugt en roem geplant, den vorst van’t 
vrije Nederland (Tugend ijt hier und Ruhm gepflanzt, der 
Fürft vom freien Niederland). Auf einem Teller jehen wir dag 
Bild desjelben Regenten in der niederhängenden Schale einer 
Wage, während in der andern, in die Höhe gejchnellten, das 
Bild ſeines Gegners H. Hooft fich befindet. Darunter jteht 
dann das ironiſche Sprücdjlein: Het kan niet lukken, wij 
moeten voor Oranje bukken (Es fann nichts helfen, wir müfjen 
und vor Dranien beugen). Als der vertriebene Wilhelm V. 


wieder ind Land zurüdkehrte, da fertigten die Delfter Schüfjeln 
(805) 


42 
au, auf denen zu lejen war: De prins herstelt: vry van 
gewelt: geen blyder dag: ik nimmer zag (feinen freudigeren 
Tag ich jemals ſahſ. Ein Prinzenanhänger aß, wie ein Ge: 
ihichtichreiber jagt, nicht mit Appetit, wenn er den Prinzen 
von Oranien nicht auf feinem Teller jah mit der Devife „Oranje 
boven!“ (Hod Dranien!), wie andererjeitS fein Patriot — jo 
hießen die Gegner Wilhelms — feine Mahlzeit einnahm, ohne 
auf jeiner Schüfjel die tröjtenden Worte zu lejen: Ik bijt op 
mijn tijt (Ic warte auf meine Beit); er wartete freilich ver: 
geblih. Auch manches fulturgejchichtlich Interefjante findet ſich; 
jo meldet ein Zeller: In’t jaer 1692 den 18. Sept. wasser, 
aardbewingh overal (Wafjer und Erdbeben überall), Eine 
Buderdofe von 1720 erinnert ung an den Aktienſchwindel jener 
Beit durch die Auffchrift: Ja, ja mijn axsies, o mijn soete 
axsies (Ja, ja meine Aktien, o meine ſüßen Aftien!). Ein Teller 
vermeldet: 

Un Sennor en Espagne, 

Un Milord en Angleterre, 
Un Monsieur en France, 
Un Hidalgo en Portugal, 
Un &veque en lItalie, 


Un Comte en Germanie 
Sont pauvre compagnie, 


der Mynheer gehört natürlich nicht zu diefer armen Gejelichaft. 

Die Delfter Ware ift in den legten Jahren ziemlich jelten 
geworden; die werthvolleren Stüde find in die großen Samm— 
lungen von Evenepoll in Brüfjel, London und Stuerd im Haag 
und in die verjchiedenen Muſeen übergegangen. Manches be: 
findet fi) nod) in dem Befig holländiſcher Familien, wo man 
oft recht Hübjche Gegenjtände aus den alten Delfter Fabriken 
antrifft. Was fich in den Händen der UAntiquare im Lande 
jelbjt findet, gehört meijt zur jogenannten Dußendware und wird 
den Fremden gewöhnlich zu hohen Preiſen aufgejchwagt. Auch 


(806) 


43 


moderne Fälſchungen werden für alt ausgegeben, jo daß den 
Nichtlennern beim Einkauf von Delfter Ware Vorficht anzurathen 
it. In Delft jelbit befitt die Firma Thooft & Labouchere eine 
hübſche Sammlung alter Delfter Stüde, die ihr von dem ver: 
jlorbenen König zum Gejchent gemacht wurde. Auch dieje möge 
man bei einem Beſuch von Delft berücfichtigen, den wir hiermit 
allen, welche ihre Schritte nad) Holland lenken, empfohlen haben 
möchten. 


Anmerkungen. 


’ Einen ewigen Frieden ſchloß man hier, 
Der ewig dauerte, drei Jahre oder vier. 

: Ein Standbild von ihm ift in feinem Geburtsort Delfshaven 
errichtet worden. 

’ Aus jeinem Namen Martinus Trompius wurde das hübſche Ana- 
gramm verfertigt: Tu promtus in mari es (Du bift fchlagfertig zur See). 

* Diejer ift ein Vorgänger Leeuwenhoeks in ber Unterfuchung der 
Welt bes Kleinen, „der wunderbarſte Schriftfteller über die ganze Anatomie 
der wirbellojen Thiere.“ An Bejcheidenbeit und frommem Ginn, der 
jpäter in Myſtizismus ausartete, übertrifft er den Delfter Gelehrten bei 
weitem; man vergleiche nur die Titel jeiner Schriften, z. B. „Das menſch— 
fihe Leben, abgebildet in ber Eintagsfliege“, oder die Widmung einer 
andern: „Durchläuchtiger Herr, ich präjentire Ew. Edelgeboren allhier deu 
allmäcdtigen Finger Gottes in der Anatomie einer Laus.“ 

5 Auf manden Gemälden finden wir das Slircheninnere wieder. 
gegeben, jo auf denen von Gerard Houdgeeft (zwei Bilder von 1650 im 
Haag) und Emanuel de Witte, der mit Vorliebe Innenanſichten ber 
Nieume Kerk malte. 

° Die denfwürdige Kifte, auf welche Grotius ſelbſt ein Tateinijches 
Gedicht verfertigte „Dulces latebrae, temporis domus parvi, angusta 
laxo quae viam facis caelo“ u.j.mw., wird noch heute aufbewahrt. 

Es mag bei dieſer Gelegenheit daran erinnert werden, dab in 
Delft 1477 aud die erfte niederdeutiche Bibel gedrudt wurde. 

8 Neben Havard ift für das Studium der Fayence das große Werf 
von Ris⸗Paquot, Histoire generale de la fayence ancienne frangaise et 
etrangere, nebjt deſſen kleineren Arbeiten zu empfehlen. Won deutſchen 
Arbeiten nennen wir die verjdhiedenen Handbücher von Jännicke und 
D. dv. Falles „Majolika“. 

(807) 


44 





® Beiläufig ſei noch erwähnt, daß der um 1625 in Haarlem lebende 
Willem Janſſ. de Rue jo vorzügliche Fayence herftellte, da Ampzing in 
jeiner Bejchreibung diejer Stadt von feiner Ware jagt, man finde nirgends 
im ganzen Zande jchönere. 


10 Daß er nicht der Erfte war, wie Havard meint, geht aus einer 
Nejolution der Staaten-Generaal vom 4. April 1614 hervor, wo es heißt: 
Is Claes Jansz Wytmans geaccordeert octrooi omme voor den tyd van 
5 jaeren alleen in de Vereenichde Nederlanden te maken ofte doen 
maken allerley porceleynen, by hem geinventeert, die de schilderie ende 
aerde tamelyck gelyckformich sullen syn de porceleynen, comende uyt 
wyde vreemde Landen. 1650 befommt Nat. Evens zu Amſterdam das 
Privileg, herzuftellen „skere syne nieuve inventie van verscheyden cleyn 
posteleinwerck“, bejtehend in Kännchen. Flaſchen u. a., der Utrechter 
J. Gerritsz van Overmeer das Recht, „verscheyden soorten van Steen- 
platelen ende diergelyke, oock op de maniere van porceleynen* her- 
zuſtellen. Nicht ohne Einfluß auf die Ausgeſtaltung der holländiichen 
Fayence im allgemeinen iſt vielleicht die Gründung der Fayencewerkitatt 
in Antwerpen durch den Staliener Guido Savino vor 1548. In dem 
Steen in Antwerpen ift noch ein 1547 datirtes Fliefengemälde aus jeiner 
Fabrik vorhanden. Ausführlicheres über die Entjtehung der Delfter Fayence 
gebe ich in den Berichten des Fr. deutjchen Hodhjitiftes, N, $. XV. 


ı Ermwähnt jei noch, daß auch Böttger, der bekannte Erfinder des 
Porzellans, um 1707 zuerft darauf ausging, das „holländiiche Delfter“ 
nachzumachen. Die Franzojen gingen manchmal in der Nahahmung jo 
weit, daß fie auch die holländischen Fabritmarfen auf ihren Fabrikaten 
anbradten. Holändiihe Kaufleute waren es auch, die nach einem Bericht 
des Hanauiſchen Magazins (VII, 128) jchon 1650 eine Fayencefabrif in 
Hranffurt a. M. und bald darauf eine ſolche in Hanau errichteten, die 
von dem damals regierenden Grafen von Hanau mit anjehnlichen Frei: 
heiten bedadht wurde. Sie beftand noch gegen Ende des achtzehnten Jahr- 
hunderts und hatte 1784 noch 21 Arbeiter. 


2 Tegenw., Staat der vereenigde Nederl., Amfterdam 1742, IV, 
©. 474, ſpricht aud von einem Export nad) Weftindien; die Fabrif 
de Romein verjandte jogar viele Waren nad) Nordamerita. 


Noch interefjanter ift, daß das Titelfupfer des Teegenwoord. 
Staat. IV, welches die vier erften Städte Hollands darftellt, Delft durch 
eine Frauengeſtalt charalterifirt, zu deren Füßen mannigfahe Stüde 
Delfter Fayence aufgeftapelt find. Eine wejentliche Handhabe zur Chrono. 
logie der Delfter Fayence dürften die Darftellungen von Delfter Ware 
auf den Gemälden der um die Wende des fünfzehnten Zahrhunderts 

(530) 


45 





(ebenden Meifter bieten. Eine Durdmufterung bes jehr zerftreuten Ma- 
terials ift bisher noch nicht verjucht worden. 

* Die Mufter wurden oft von Holland aus aufgegeben. Welche Mengen 
angeführt wurden, mag aus dem Berzeichniß der Fracht zweier Schiffe 
erjehen werden, die am 4. Januar 1734 von Kanton abgefahren und am 
27. August in Terel angelommen waren; fie führten u. a. 80000 Baar 
Kaffeejervice, 300833 Theejervice, 29553 Schofoladejervice, 45600 Tafel- 
teller, 1683 Schokoladetaſſen, 1996 Fruchtichalen, 4498 Paar Tafjen und 
Untertafien, 2715 Baar Kannen, viele Zuderdojen u. ſ. m., fchließlich 1658 
Paar Rojenwafjerfläihchen und — 187 Paar Nachttöpfe. 

15 Unter den verwandten Farben jpielte Blau die Hauptrolle, dä die 
meilten Gegenftände nur in Blau deforirt wurden; es wurde aus Saphir 
hergeitellt und war deshalb ziemlich koſtſpielig. Für die Polychromirung 
fam noch in Betraht Roth (fünf- bis ſechsmal geröfteter Bolus), Gelb, 
Violett und Braun. Mit leßterem wurden die Ränder der Schüjjeln und 
Zeller braun gefärbt. Genaue Anmweifungen über alle verwendeten Materialien 
und ihre Miſchung finden fi bei Gerrit Pape a. a. D. 

is Die neue Fayence wird hergeftellt aus plaftiihem Thon, aus 
Devon in England eingeführt, aus Porzellanerde, um die weiße Farbe zu 
erhöhen, aus gebranntem Feuerftein, der Stärfe und Klang giebt, und 
aus Cornwallitein, einem halbvermitterten Feldipath, der im Feuer die 
Nolle des Bindemittels jpielt und das ganze Gemenge zu einer gleichartigen 
Maſſe zuſammenſchmilzt. 

7 Vom Delfter Gemeinderath wurden ſilberbeſchlagene Kannen aus 
Fayence Fürſten und vornehmen Perſonen als „kostelyke“ Verehrung 
angeboten. Daß die verehrten Stücke recht werthvoll geweſen ſein müſſen, 
geht aus den Stadtrechnungen hervor, wo wir z. B. für das Jahr 1667 
den Poſten finden: den 20. Nov. an Wouter Eenhoven, Fayencefabrifant, 
für Lieferung verjchiedener Fayenceftüde, die von der Stadt der Gräfin 
von Dona u.j. mw. verehrt wurden, 378 Gulden 10 St., und an Daniel 
de Berg für Lieferung von filbernen Kannendeckeln 148 Gulden bezahlt. 
Als die Staaten 1613 dem Sultan von der Türkei behufs Sicherung ihrer 
Handelsbeziehungen mit der Levante Gejchenfe im Werthe von 20000 fl. 
ihidten, befanden fih auch zahlreihe Stüde Delfter Fayence darunter, die 
zu hohen Preiſen (z.B. fiebzig Taffen à Stüd 2 fl. 80 c.) in Amfterdam 
gefauft worden waren. 

is Daß fih viele Sprad- und Schreibfehler in denjelben finden, 
erklärt ſich aus der geringen Bildung der betreffenden Maler. 


— Hr —— 


(809) 


Die Pſeudonyme 


der neueren deutſchen Litteratur. 


Vortrag, 
gehalten zu Porpat am 29, Povember 1896, 


Von 


3. Hintenis 


in Dorpat. 


Hamburg. 
Verlagsanftalt und Druderei A.“G. (vormals J. F. Nichter), 
Königlihe Hofverlagshandlung. 
1899. 


Das Recht der Ueberjegung in fremde Spradhen wird vorbehalten 


Trud ber Berlagsanftalt und Druderei AG. (vorm. 3. F. Richter) in Hamburg. 
Königliche Hofbuchdruderei. 


Men Fürſten außer Landes gehen und dabei alle Die 
Umstände und Unkoſten vermeiden wollen, welche ihr Rang 
ihnen auferlegt, hüllen fie fich in ein Infognito, d. h. fie nehmen 
ftatt ihres wirklichen Namens einen weniger bedeutenden Titel 
an. Zumal wenn fie einfach menjchliche Zwecke verfolgen, machen 
fie e8 wie Peter der Große auf feiner Bildungsreije durch Weſt— 
europa:! er wollte nur als Mitglied einer Gejandtichaft unter 
Le Forts Führung gelten; jpäter in Saardanı ließ er fich jogar 
als Zinnmermann unter dem Namen Michaelow einjchreiben, und 
um fich nicht zu verrathen, lebte er mit den übrigen Zimmer: 
leuten auf völlig gleichem Fuß. 

Als Goethe 1779 mit feinem Fürften in die Schweiz reijte, 
fehrte im Frankfurter Elternhaufe der Sohn nicht mit dem 
Herzog Karl Auguft, fondern nur mit dem „Baron Wedell“ 
ein; jo machte e8 Karl Auguft den Hausgenofjen möglich, von 
allen Geremonien abzujehen und mit ihm zu verfehren, al3 wäre 
er Shresgleichen. 

Das fürftliche Inkognito wird natürlich rejpektirt, wenn: 
gleich Jeder weiß, wer fi) dahinter verbirgt; auf diefe Weije 
erreichen Fürften zeitweilig ihre Abficht, fi) in der Fremde 
frei und bequem zu bewegen. 

Etwas anderes iſt es, wenn ein Fürſt unerkannt mit feinen 


eigenen Unterthanen verkehren will; verkleidet oder jonjt um: 
Sammlung. R. F. XIII. 310, 1° (813) 


4 


kenntlich gemacht, miſcht er fi) unter das Volk, um von den 
Leuten allerhand zu erfahren oder fie zu beobachten. 

Was die Sage von gelegentlichen Abenteuern Harun al 
Raſchids erzählt, mag zu den zahlreichen Mythen gehören, welche, 
wie um jeinen großen Zeitgenofjen Karl, jo um den Chalifen 
gewoben find, der ſich taufend und eine Nacht lang die welt: 
befannten Märchen hat erzählen laſſen. Gewiß aber ijt, daß 
von volfsthümlichen, volfsfreundlichen Fürjten der Neuzeit an— 
jprechende Erlebnifje erzählt werden, wie fie die Leute veranlaffen, 
fi) unbefangen auszuſprechen, oder ihnen behüfflich find, aus 
mißlicher Lage oder ſelbſt ernjter Gefahr fich zu retten; 3. B. 
von Joſeph II. oder Maximilian II. von Bayern. 

AUbgejehen davon, daß es jolchen hohen Herren bejonders 
erwünjcht fein mag, einmal alle die Rüdjichten, welche ihre 
Stellung ihrer Umgebung vorjchreibt, beijeite jchieben zu können, 
erfahren fie auch auf diefem Wege am leichteften, was fie fonft 
nicht immer unverfäljcht haben künnen — die Wahrheit. 

Eine analoge Erjcheinung nun, ein Inkognito im erfteren 
und letzteren Sinne, hat fich feit umndenflichen Zeiten in der 
Litteratur ausgebildet. Schriftjteller, welche fich nicht zu ihrem 
Werke befennen wollen, laſſen dasjelbe pſeudonym oder anonym 
ericheinen. 

Es iſt ja durchaus nicht nöthig, daß der Verfaſſer fi) auf 
dem Titel nenne, was hilft e8 uns, daß wir Ilias und Odyſſee 
dem Homer zujchreiben, da wir doch von einem ſolchen Dichter 
abfolut nichts wiffen, feinen Namen für eine ſymboliſche Be: 
zeichnung Halten, ja jogar zweifeln müfjen, ob jene beiden 
Epen überhaupt von einem und demjelben Dichter herſtammen 
fünnen? Im Gegentheil, es ijt häufig wenig rathſam gewejen, 
fih als Berfaffer zu erfennen zu geben. Nicht nur Bücher 
haben, wie das Sprichwort jagt, ihre Schicjale; ebenfogut find 
auch wohl Verfaffer vom Gejchide heimgejucht worden. 


(814) 


5 


Gefängniß und Scheiterhaufen drohten Ketzern, welche 
mißfällige Anfichten verbreiteten; Quther, der ſtets offen mit 
jeinem Namen hervorgetreten ijt, hätte das Scidjal von Huß 
und Savonarola getheilt, wenn man ihm nicht auf die Wartburg 
in Sicherheit gebracht hätte. 

Doch war es nicht nur religiöje Heterodorie, welche rüd» 
jichtslos verfolgt wurde, fondern ebenjo politiiche und jogar 
wifjenjchaftliche Ueberzeugung. Won den zahlreichen Märtyrern 
befjerer Erfenntniß brauche ich nur an Giordano Bruno und 
Galileo Galilei zu erinnern. 

Derartige BVerfolgungen und Hinrichtungen begeben fich 
noch weit über das fechzehnte Jahrhundert Hinaus; doch begann 
man im jiebzehnten Jahrhundert ſchon manchmal ſich mit 
geringeren Strafen zu begnügen. 

Kurz vor der englischen Revolution, ums Jahr 1637,? Hatte 
ein Sachwalter Prynne in puritanifchem Eifer eine „Geißel 
des Schaujpielers” Hyſtriomaſtix gejchrieben, worin Tanz und 
jede Art von Verkleidung „als Werf des leidigen Teufel3 ver: 
dammt” wurde Dafür ward er verhaftet und zum Verluſt 
beider Ohren verurtheilt, jein WBuch verbrannt. Die Ohren 
ließ er fich wieder annähen; dann jchrieb er von neuem, ward 
von neuem verhaftet und erlitt nach drei Jahren dasſelbe 
Urtheil. 

Ehe Daniel Defoe ſein Weltbuch, den Robinſon Cruſoe, 
ſchrieb, Hatte er gleichfalls für ein politiſch-konfeſſionelles Pam— 
phlet büßen müfjen;? „mit meilterhafter Ironie war darin 
vorgejchlagen, die Feinde der Kirche”, die Difjenters, „bis auf 
den legten Mann auszurotten”, was jo ziemlich den Wünjchen 
der Hochkirchlichen entſprach. Er wurde zu 200 Mark Strafe, zu 
dreimaligem Pranger und zu fieben Jahren Gefängniß verurtheilt. 
Defoe Hatte jelbit eine Hymme auf den Pranger gedichtet; als 


er nun „am 30. und 31. Juli 1703 an drei verjchiedenen 
(815) 


— 


Orten Londons an die Schandſäule geſtellt ward, erſchien dieſe 
Hymue, das Volk belegte den Platz, auf dem er ſtand, mit 
Blumenteppichen, Kränze über Kränze wurden ihm zugeworfen, 
ein Lebehoch erſchallte nach dem andern“. Aus dem Gefängniß 
endlich mußte man ihn bereits 1704 wieder entlaſſen, weil die 
Regierung ſeine gewandte Feder nicht entbehren konnte. Noch 
gelinder verfuhr man damals in Frankreich. Zwar Lafontaine 
mußte“ wegen ſeiner leichtfertigen Contes einen Stachelgürtel 
anlegen, ehe ihm die Geiſtlichkeit Abſolution ertheilte, und 
Voltaire wurde auf den bloßen Verdacht Hin, Verfaſſer einer 
Satire auf die franzöfifchen Zuſtände zu fein, in die Baltille 
gejegt — meiſtens jedoch ließ man e3 bei der Verbrennung 
des Buches durch Henfershand bewenden, während der Berfafjer 
ftraflo8 ausging oder entichlüpfen durfte; man jah es nicht 
ungern, wenn er fich nicht zu erfennen gab, weil man dann 
jeine Berfönlichfeit aus dem Spiel lafjen konnte und ihn 
ignoriren durfte. 

Durch Hentershand verbrannt worden find folgende all: 
befannte Bücher: Voltaires Briefe über die Engländer; de la 
MettriesNaturgejchichte des Geistes; Helvetius’ Buch de l’ Esprit; 
Roufjeaus Emile; jogar das harmlofeite der Bücher, Fenelong 
Telemaque wurde lange Zeit unterdrücdt, weil man es für 
eine Satire auf den franzöfiichen Hof hielt. Den Berfaffern 
geihah nichts weiter, als daß fie etwa das Land verlaffen 
mußten. Rouſſeau erlebte es jogar, daß er, im Begriff, fich 
in Sicherheit zu bringen, den Häjchern begegnete, die ihn wegen 
jeine® „Emil“ verhaften follten; fie grüßten ihn lächelnd und 
wanderten weiter nad) Montmorency, ihn zu ſuchen; er aber 
entfam in die Schweiz. 

Unter jolchen Umständen war es fein Wunder, daß immer 
häufiger Bücher anonym oder pfeudonym erjchienen und zugleich 
einen falfhen Drudort auf dem Titel führten; denn auch 


(816) 


N — 


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Drucker oder Verleger konnten in Ungelegenheiten gerathen. 
Am beliebteſten waren Amſterdam, London, Köln und Frank— 
furt für franzöſiſche Bücher; für deutſche Amſterdam, Phila— 
delphia, Köln, Freyſtadt. 

Faſt alle hervorragenden Werke, welche Franzoſen in den 
hundert Jahren vor dem Ausbruch der Revolution geſchrieben 
haben, zogen es vor, Verfaſſer und Druckort zu verheimlichen; 
als Beiſpiele nenne ich nur: Pascal, Lettres Provinciales; 
Fénélon, Télémaque; Montesquieu Lettres Perſannes; Voltaire, 
Henriade, Pucelle, Siecle de Louis XIV; Rouſſeau, Discours 
sur les Sciences et les Arts, Contrat Social, Emile; Hol— 
bad), Systeme de la Nature. 

Am dreifteiten jegte fich Voltaire über jegliche Verant— 
wortung hinweg ;° „überall, wo Noth an Mann fam, verleugnete 
er frech feine Bücher, ſtatt ehrlich und mannhaft für fie ein- 
zuftehen”; Voltaire war eben fein Huß, fein Luther, nicht 
einmal ein Galilei oder Fénélon, welch’ Lebteren man vom 
Hofe in jein Erzbistfum Cambray verwies, weil er Die 
Duietiftin Marie de Guyon offen gegen die Jeſuiten in Schuß 
genommen hatte. 

Es waren aljo vorwiegend Schriften religiöjen, politischen, 
jpäter auch naturwifjfenfchaftlichen, d. 5. meift materialiftischen 
Inhalts oder Satiren mit perjönlichen Beziehungen, welche 
Anftoß erregen und Anlaß zu Verfolgungen und Verurtheilungen 
geben fonnten. 

Den Urjprung und das Alter der Pjeudonymität über 
Gutenbergs Zeitalter hinaus zu verfolgen und zu ermitteln, liegt 
nicht in meiner Abficht. Ich bejchränfe mich auf wenige ältere 
Beiſpiele. 

Aus einer Stelle des Suidas hat man geſchloſſen — nicht 
bewieſen, Xenophon habe, vermuthlich aus politiſchen Gründen, 
die Urheberſchaft der Anabaſis (in der bekannten Stelle Hellen. 


(817) 


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II, 1. 2.) dem Themiftogenes von Syrafus, aljo wohl einem 
Pſeudonym zujchieben wollen. 

Ganz ausgejchloffen find die zahlreichen Namenswechjel,? 
welchen wir bei orientalifchen Völkern begegnen, namentlich bei 
den Semiten, denn erjteng vertaufchen Orientalen überhaupt 
ihon bei Lebzeiten leicht ihre Namen gegen gefälligere oder 
bezeichnendere, wie auch heute noch Juden gern weniger jemitijch 
flingende Namen annehmen — aus Loeb Baruch wird Ludwig 
Boerne; aus Levin Marcus — Robert Tornow, dejjen Sohn 
ih Ludwig Robert nennt; aus big Jeitteles — Julius 
Seidlig; aus Julius Levy — Jul. Rodenberg; ſchon Saulus 
hatte fich in den römischen Bürger Paulus verwandelt. Sämt- 
liche Päpſte find diejer Sitte gefolgt. 

Zweitens wurden in früheren Zeiten Dichtern und Schrift: 
jtellern von anderen Menjchen neue Namen verliehen, durch 
welche Anerkennung, Hochachtung, Bewunderung ausgeſprochen 
werden ſollte. 

Um ihn über alle Dichter zu erheben, nannten die Perſer 
den Abul Kaſem Manſur fortan Firduſi, den Paradieſiſchen, oder 
den Schems eddin Mohammed — Hafis, den Bewahrer des Koran. 

Eine etwas andere Bewandtniß hatte eg, wenn Ariſtokles 
in Plato umbenannt wurde. 

Solche neue Bezeichnungen jollten Niemanden täufchen, es 
find aljo feine Pſeudonyme. 

Wenn e8 wahr wäre, daß Baco von Berulam der Dichter 
des Hamlet und der übrigen Dramen wäre, als deren Ber: 
faffer er einen objfuren Schaufpieler vorgejchoben Hätte, jo 
müßte nach Homer Shafejpeare als das hervorragendite Pſeu— 
donym der Welt gelten. Nach ihm folgt jedenfall® Voltaire, der 
aus feinem wirklichen Namen? Arouet le Jeune jenes Anagranım 
gebildet hat, das alsbald jo geläufig wurde, daß man ihn auch 


im bürgerlichen Leben nur den Herrn von Boltaire nannte. 
(818) 


9 


Obige Beiſpiele mögen genügen, um das Alter und die 
weite Verbreitung des Pſeudonyms anzudeuten. Wenden wir 
uns nun zu dem Gebrauche desſelben für die litterariſche 
Praxis Deutſchlands, insbeſondere dem des neunzehnten Jahr— 
hunderts. 

Dieſer neueſte Gebrauch iſt in keiner Weiſe originell; es 
haben ſich nur die vereinzelten Methoden der früheren drei 
Jahrhunderte maſſenhaft ausgebreitet und dabei an Quantität, 
nicht an Qualität gewonnen. 

Zwar der urſprünglichen Sitte? der Drucker und Verleger, 
die in ihrer Offizin herzuſtellenden Werke ſelbſt zu verfaſſen, 
konnten nur ſo gelehrte Familien, wie die Aldus oder Stephanus 
gerecht werden. Bald trennten ſich Verfaſſer und Drucker; da 
aber, wie oben gezeigt wurde, Beide zur Rechenſchaft gezogen 
werden konnten, jo war es im ſechzehnten und ſiebzehnten Jahr: 
Hundert unzweifelhaft häufig eine weiſe Mafregel, wenn der 
Verfaſſer fich Hinter einem faljhen Namen, der Verleger Hinter 
einem falichen Drudort verbarg. Indeſſen hatte diefe Vorficht 
Ihon im vorigen Jahrhundert bedeutend an Nothwendigfeit 
eingebüßt;!° für unjere Zeit ijt das Pjeudonym faſt bedeutungs- 
[08 geworden. 

Als Joh. Fiſchart sec. 16 mit feinen Satiren gegen die 
Mönche, namentlich gegen die Jejuiten vorging, folgte er feinem 
Lehrmeifter Rabelais, indem er jeinen Namen hinter allerhand 
Verkleidungen verbarg. Er übertrug ihn, der Gewohnheit 
jeiner Zeit folgend, ins Griechiſche (Elloposkleros); er ver- 
wandelte! ihn in Jeſuwald Bichardt, Alonicus Meliphron 
Theutofrancus, Emerich Lebus, Adam Nachenmofer von Brand- 
wälden, Winhold Wüftblut von Nebelihiff, Engelpreht Möre- 
winder von Fredewart aus Seeland, Georg Goldrich Saltz— 
wafjer van Badborn, Huldrich Chrijt zu Gotjtatt bei Bethanen; 


endlich Heißt er nur Widartus de Moguntiaco, wie er denn 
(819) 


10 


zu feinem eigentlichen Namen ſelbſt hinzufügt: Joh. Fiichart 
genannt Menter, d. 5. aus Mainz gebürtig.'? Er gab hier 
wie überall feiner jprudelnden Laune und tollen Wortbildung 
den Zügel frei. Wenn er es auch vielleicht gar nicht nöthig 
hatte, ſich jo vielfach zu maskiren, jo machte e8 dem wigigen 
Manne doch offenbar Vergnügen. 

Einer ähnlichen Liebhaberei an bunten Wortjpielen be: 
gegnen wir Hundert Jahre ſpäter beim Verfaſſer des Simpli— 
ciſſimus, Hans Chriſtophel von Grimmelshauſen. Die zahlreichen 
Buchſtaben feines Namens ermöglichten es ihm, mit immer 
neuen Anagrammen desjelben Hervorzutreten, und dieje Seine 
Gewohnheit hat big vor jechzig Jahren den Litteraturhiltorifern 
Mühe genug verurfacht, bis fie Hinter alle Umftellungen jeines 
Namens gefommen find. 

Er nennt fich vor feinen verjchiedenen Schriften:!? German 
Scleifheim von Sulsfort, Samuel Greiffenfon von Hirjchfeld, 
Signeur Meßmahl, Philarhus Grofjus von Trommenheim, 
Michael Rechulin von Sehmsdorff, Erich Steinfeld von Grufens— 
holm, Simon Lengfriih von Hartenfels, Israel Fromſchmidt 
von Hugenfeld; dann Hat er feinen Namen in Buchſtaben 
aufgelöft und nad) dem Alphabet geordnet; endlich ijt auch 
der wirflihe Name feines Helden, des Simpler: Melchior 
Sternfel3 von Fuchshaim ein Anagramm von Chriſtophel 
von Grimmelshaujen. Seinen Wohnort Renchen aber verjtellt 
er in Gernhein, Aheinnec, Hercinen. 

Fiſchart und Grimmelshaufen jchiwelgen aljo förmlich iu 
Namenerfindung, und aus deren Mannigfaltigfeit läßt fich ein 
großer Theil der Praris ableiten, nad) welcher man bis heut: 
zutage Pjeudonyme bildet. 

Noch eine weitere Erjcheinung, welche der Zeit nach 
zwilchen Beide fällt, muß in Betracht gezogen werden, wenn 
wir die durchichnittliche Entftehung der Pjeudonyme de3 acht: 


(820) 


ML 


zehnten und neunzehnten Jahrhunderts verjtehen wollen, ich 
meine die Dichterorden des fiebzehnten Jahrhunderts. 

Im Jahre 1617 war zu Weimar die „Fruchtbringende 
Gejellichaft” gegründet worden; ihr Zwed war Vervollkommnung 
deutjcher Sprache und Litteratur, ihre Mitglieder vorherrichend 
Fürften und Herren, zu denen fich im Laufe der Zeit angefehene 
Dichter gejellten. Alle die circa neunhundert Mitglieder, welche 
in den jechzig Jahren feines Beſtehens beitraten, erhielten von 
Ordenswegen neue Namen, welche im Kreije des Ordensverkehrs 
ausschließlich gebraucht wurden. Dieje Namen bejtanden ſämtlich 
aus Adjektiven oder Partizipien, die auf ein Pflanzeniymbol 
oder ein vegetabiliiches Produft Bezug Hatten. Ordensſymbol 
war die Balme, daher der Name Palmenorden. Bon Perjonen: 
jymbolen und Namen einige Proben: Der Stifter des Ordens, 
Kaspar von Teutleben, hieß „Der Mehlreiche” und fein Attribut 
war „Neines Weizenmehl“; der erfte Vorfigende, Ludwig von 
Anhalt Köthen, Hieß „Der Nährende” und Hatte ein „Weizen: 
brot” als Sinnbild. Sein Nachfolger im Vorſitz, Wilhelm von 
Sachſen-Weimar, der Dichter von „Herr Jeſu Ehrift, Dich zu 
uns wend’”, hieß „Der Schmadhafte”, denn er führte „eine 
Birne mit dem Wespenftich” im Ordenswappen; deſſen Bruder, 
der Feldherr Bernhard von Weimar, „Der Austruffende”, Hatte 
„eine reife Quitte“ zugetheilt befommen; Chrijtian von Anhalt, 
der damals den Handjchuh feiner angebeteten Herrin, der Pfalz 
gräfin Elifabeth, am Hute führte, ward wegen diefer Schwär: 
merei „Der Sehnliche” benannt und erhielt als Symbol feiner 
romantischen Verehrung „einen langen Stengel von Sonnen: 
blumen, fi) nach) der Sonnen wendende”. Der dritte und 
legte Ordensmeijter endlih, Auguft von Weimar, „Der Wohl: 
gerathene”, war im Porträt mit „Bibenelle“ '* umfränzt. 

Alle dieje kindiſchen Spielereien hat uns der Sefretär des 


Ordens, Georg Neumark, der Dichter von „Wer nur den lieben 
(821: 


12 


Gott läßt walten”, gewifjenhaft berichtet in feinem Werfe „Der 
Neufprofjende Balmbaum” 1668, neben dejjen Titel jein Ordens- 
bild prangt; ihn umkränzen „Braungefüllte Nelken” und er 
heißt „Der Sprofjende”. 

Neben dem Balmenorden gewann die 1644 geitiftete „Ge— 
jellichaft der Blumenjchäfer” an der Pegnig, die Nürnberger 
Hirtengejellichaft, die weiteite Verbreitung. Die Stifter Hars- 
dörfer — befannt als Berfaffer des „Poetiſchen ZTrichters“, 
deſſen drei Bände zu Nürnberg 1647—50 erſchienen — und 
Klaj gingen wie Teutleben von Jtalien aus und adoptirten 
insbejondere die italienische Sitte, ſich in arfadiiche Hirteneinfalt 
einzuhüllen. Diefe Schäferjpiele — Schäfereien zeichneten ſich durch 
befonders thörichte Abgeichmadtheit aus; aber die Mode, mit 
griechischen oder lateinischen Schäfernamen zu prunfen, bejtand 
und überdauerte jedenfalls die Schäfereien. Harsdörfer nannte 
ih Strephon;'? andere Hirtennamen find: Alcidor, Floridan, 
Helianthus, Myrtillus, Beriander. Nocd bis in Klopftods und 
Leſſings Zeiten begegnen wir Namen wie Damon, Thyrfis, 
Menanthes, Pallidor, deren Träger nicht mehr zu den Nürn. 
bergern gehören. Indeſſen war der Sinn für die idyllische 
Scäferwelt jchon geſchwunden, als Sal. Geßner mit feinem 
Daphnis und den Idyllen ihn neu zu beleben ſuchte; weit mehr 
Werth hatten Geßners anmuthige Kupferjtiche, welche auch heute 
noch geichägt find. Verdrängt wurde die Schäferpoefie durch 
Klopſtocks Bardengejänge, aus deren Sphäre aud) die ent: 
jprechenden Bardennamen fich verbreiteten: Sined, Rhingulph, 
Knorr. Auch Heute noch fehlt es nicht an Proben von dieſem 
Geſchmack. 

Unſere großen Klaſſiker ſind anfangs zuweilen anonym 
aufgetreten: Klopſtock mit den Oden, Goethe mit dem Goetz, 
dem Werther, ſpäter noch mit den Römiſchen Elegien und den 
Venetianiſchen Epigrammen, Schiller mit den Räubern ꝛc. Einen 


(822) 


13 

faljhen Drudort führt nur Sciller® Anthologie von 1782: 
Tobolst. Doc ziehen fie es meiftend vor, ihren Namen auf 
den Titel zu jeben: Gelehrtenrepublif, herausgegeben von Klop: 
tod; Clavigo, ein Trauerjpiel von Goethe; Iphigenie auf 
Tauris, ein Schaufpiel, und Fauft, ein Fragment von Goethe; 
Muſenalmanach, Herausgegeben von Schiller, Wilhelm Tell, 
Schauspiel von Schiller; oder fie fügen auch die Vornamen 
hinzu, wie Leifing meiftens thut. Pſeudonym Hat fich feiner 
von ihnen eingeführt, nur daß Goethe als Juſtus Amman 
einige Gedichte veröffentlicht in demjelben Muſenalmanach für 
1799, in welchem feine Euphrofyne und andere Gedichte 
mit feinem wirklichen Namen unterzeichnet find. Goethe und 
Schiller aber jehten über diejenigen Epigramme des Almanachs 
für 1797, welche von den anonymen Kenien abgejondert waren, 
die Chiffre G. und S., was durdhfichtig genug war und wie 
alle Bezeichnungen durch Unfangsbuchitaben, die in den Alma: 
nachen fo häufig find, als Wfeudonym nicht in Betracht 
fommen fann. 

Für den größten Theil der deutſchen Schriftjteller beſtand 
in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts fein ernites 
Bedenken mehr, daß fie nicht offen ihren Namen auf die Titel 
ihrer Werke hätten ſetzen dürfen;'® und jo wäre nach dem 
Borbilde der Klafjifer das Pſeudonym immer entbehrlicher ge: 
worden, wenn nicht die Nomantifer es wieder zur Modejache 
gemacht hätten. 

Sid, wirklich unfindbar zu machen, fonnte einem Schrift 
jteller nur jchwer gelingen; es gehörte viel Vorſicht dazu, die 
Wißbegier zu täufchen und die Meittheilfamfeit zum Schweigen 
zu bringen. Auch lag eben in den meilten Fällen Niemandem 
viel daran, ſich abjolut verborgen zu Halten, wenn nicht ein 
Konflikt mit der Herrichenden Bolitf oder Hierarchie zu fürchten 


war. Nur jelten blieben, jo weit wir jehen fünnen, Verfaſſer 
(828) 


14 


wichtiger, auffehenerregender Schriften bei Lebzeiten wirklich 
unentdedt. 

In den letzten Jahren des dreißigjährigen Krieges erjchien 
eine Flugſchrift (Hippolytus a Lapide, De ratione status zc.), 
welche mit großer Energie die Anmaßungen der öjterreichiichen 
Politik in Deutjchland in ihre Schranfen zurüdwies; wir wifjen 
auch heute nicht mit Bejtimmtheit, ob fich Hinter dem Pjeudonym 
der in ſchwediſchen Dienften ftehende Bog. Phil. von Chemnig 
verborgen hat. 

In England!" waren 1769 —72 die berühmten Junius: 
briefe erjchienen; derjelbe Bolitifer hatte vorher jchon unter den 
Namen Denemon, Atticus, Brutus Angriffe gegen die englijche 
Negierung gerichtet, aber die Juniusbriefe überboten jene In: 
veltiven an Schärfe und Rückſichtsloſigkeit, namentlich der Heftige 
Brief vom 19. Dezember 1769 gegen Georg III. Es ijt damals 
troß aller Anjtrengungen nicht gelungen, dem Brieffchreiber auf 
die Spur zu fommen; alle Vermuthungen gingen fehl. Erit 
1813 vermochte Taylor nachzuweijen, daß Sir Philipp Francis 
jene Fehde geführt haben müſſe, und gewifje Umftände, welche nach 
Sir Francis’ Tode 1815 beobachtet wurden, jcheinen die Entdeckung 
zu bejtätigen. Baron Hnlbad) '® veröffentlichte fein Systeme 
de la nature 1770 unter dem Namen eines alten, lange ver: 
ftorbenen Herrn Mirabaud, der natürli) daran volllommen 
unjchuldig war; Ddiejes zwar wußte man von vornherein; der 
geheimnigvolle Berfafjer des materialijtiihen Werkes aber wurde 
erjt nad) jeinem Tode von einem Nahejtehenden der Nachwelt 
verrathen. 

Karl PBojtel,1? geboren 1793 in Mähren, war Ordens: 
geiltlicher geworden; da ihm aber diejer Stand unerträglich 
war, entfloh er nach Amerifa, wurde Schriftiteller und nahm 
endlich den Namen Sealöfield an, unter welchem er zahlreiche 


Land: und Seeromane herausgegeben hat. Die lebten zwei— 
(824) 


19 


unddreißig Jahre feines langen Leben? hat er in Europa zus 
gebracht, doch erjt nach jeinem Tode 1864 ift das Geheimniß 
jeine3 Namens an den Tag gefommen. 

Benedicte Naubert?? hat dreißig Jahre lang anonym zahl: 
reihe Romane veröffentlicht (ich habe fiebzig Bände gezählt); 
erft nach ihrem Ableben erfuhr das große Publikum, wer fie 
verfaßt habe. Erjt kurz vor ihrem Tode ward wider ihren 
Willen das jorgfältig verjchwiegene Schaffen bekannt; und doc 
hatte fie das Meijte diktiren müfjen. 

Solche Fälle langer Berheimlichung find eben recht jelten. 
Wenn es gleihwohl manches unentdecdte Pjeudonym giebt, jo 
liegt das meilt daran, daß Niemand ein bejonderes Intereſſe 
daran hat, es Flarzulegen. 

Das Material der deutichen Pſeudonyme des neunzehnten 
Sahrhunderts, welches ic) mir habe jammeln können, ?! ijt freilich 
bei weitem nicht volljtändig und bejchränft fich hauptſächlich auf 
die Dichter, hat aber den Vorzug, daß es auch die jüngjten 
Schriftjteller der Neuzeit enthält, joweit fie ji) nur irgend er: 
mitteln ließen. 

Sch will nun verjuchen, das verjchiedenartige Berfahren 
zu Eonjtatiren, welches Männer und Frauen einschlagen, wenn 
fie fich entichließen, ein Pjeudonym zu wählen. 

Entziehen ſich auch zahlreiche Fälle jeder Unterfuchung und 
Erklärung, jo läßt jih doch bei der Mehrzahl eine gewifje 
Konjequenz beobachten, jo daß an einem bedeutenden Prozentjag 
der Pieudonyme eine ftatiftiiche Skala prägnant hervortritt. 

Den Uebergang vom Anonym zum Pjeudonym bilden jene 
Angaben: „vom Berfafjer der Lebensläufe”, „von der Ver— 
fafferin von Godwie Caſtle“; „der große Unbekannte”, Walter 
Scott verbarg ſich hinter dem „Berfaffer von Waverley”. Es 
ift rühmlich und dient als Empfehlung, wenn man fi) auf ein 
allgemein gejchägtes früheres Werk berufen fann. 


(825) 


16 


Die nächſtliegende Methode, feinen Namen zu ändern, be: 
fteht darin, daß man den Familiennamen wegläßt und fih auf 
zwei Vornamen bejchräntt; das thun vorwiegend Männer. 
Unfere meilten männlichen Vornamen dienen zugleih als 
Familiennamen; man. kann jehr wohl einer Familie Arnold, 
Barthold, Friedrich, Otto, Walter angehören. Unzählige Schrift- 
fteler haben diejen einfachen Weg eingefchlagen; ich will nur 
Sean Paul und Theod. Hermann (Bantenius) nennen. 

Dder man behält bloß einen Bornamen, jeßt aber den 
Anfangsbuchſtaben des Familiennamens davor; dann wird aus 
Rud. Bunge = B. Rudolf, aus Otto Münzer = M. Otto; aud) 
fann eine Frau ihren Vornamen entjprechend umändern: 
Nudolfine Ettlinger = E. Rudolfi. 

Noch einfacher endlich ift e8, nur einen Vornamen zu feßen, 
welcher dann auch nur für einen jolchen gelten kann. Tovote 
bat früher, wie es fcheint, fi) noch vor jeinen Leſern genirt 
und nur Heinz genannt. Seht thut er beides nicht mehr, 
jondern jeßt vor jedes neue Machwerk feinen vollen Namen. 

Gejelliger Elingt e8, wenn zwei Freunde Compagnie bilden 
und unter gemeinfamer Firma auftreten: Heinz und Hans — 
Heinrich Vogel und Hans Berthold; Emil Leo — Emil Bölfel 
und Leopold Engel. 

Mehrjildige Familiennamen müſſen fich bisweilen eine 
wejentliche Verkürzung gefallen laſſen, jo daß nur eine oder 
einige Silben beibehalten werden, die dem Anfang oder Ende 
des Ganzen angehören: Braunjchild wird alfo Braun, Buch 
hol = Bud, Gravenreuth — Graven, Domeyer = Dom; oder 
Anzengruber = Gruber, Bettelheim — Tellheim, Steinkeller = 
Keller, Wafjerburger — Burger, Zitelmann — Telmann. 

Bejonders empfiehlt fich diefe Methode bei jo langen Namen, 
wie Marianne Aurnhammer von Aurnſtein, die Verfaſſerin 
des „Bollendeten Damenchie“, ihn befigt; fie hat die umſtänd— 


(826) 


17 


liche Silbenmenge auf die Hälfte reducirt: Hammer-Stein; da 
jedoch diejer Name in letter Zeit etwas in Mißkredit gefommen 
ift, wird fie wohl auf ein anderes Mittel finnen müſſen. 

Ueberhaupt haben Defterreicher — jene Dame ijt geboren 
und lebt in Wien — häufiger als andere Landsleute Beran- 
lafjung, Pjeudonyme zu wählen; Defterreih ijt die Heimath 
wunderlicher und langwieriger Familiennamen. Man muß zu. 
geben, daß es faſt eine Nothwendigfeit war, Niembſch von 
Strehlenau in das mwohllautende Lenau, Leopoldine von Mora: 
weh-Dierfes in Leo v. Dierfes, Graf Heufenftamm zu Heißen- 
jtein und Gräfenhaufen in Stamm abzufürzen. 

ALS gälte es, jede nur denkbare Möglichkeit durchzuprobiren, 
haben dagegen Inhaber furzer Namen vorgezogen, diefelben zu 
verlängern: Ach nennt fich Ajchenborn, Herloß — Herlosjohn, 
Miller — Nesmüller, Riedel — Niedeljtein, Schmidt — Hart: 
ſchmidt. 

Auch durch Abſonderung des vorderen Buchſtaben des 
Familiennamens zu ſcheinbarem Vornamen läßt ſich eine leidliche 
Entſtellung erzielen, wenngleich wenig Scharfſinn dazu gehört, 
aus G. Bauer — Gebauer, aus B. Renz — Behrens, aus 
B. Seke — Beſeke herauszuleſen. 

Dieſes Spiel wird auch mit bereits fertigen Pſeudonymen 
getrieben, denn es finden ſich Vexirnamen wie P. O. Eta, 
Ed. Mund, A. Lethes, G. R. Obian, Leo Pard, J. C. H. 
Wages. 

Umgekehrt folgt Herr Julius Kopf der Grille, ſich in 
Juliuskopf, Herr Karl Weiß, ſich in Karlweiß zu verdichten. 

Solche Spielereien ſind eben keine Empfehlung für den 
Ernſt und die Würde der bezüglichen Werke; ſie leiten uns hin— 
über zu den eigentlichen Buchſtabenräthſeln, welche die Pſeudo— 
nyme uns jo häufig aufgeben. 

Zunächſt die Afroftiha. Die berühmte Ueberjegerin der 


Sammlung. N. F. XII. 810, 2 (827) 


15 


wundervollen jerbiichen Volkslieder Thereje Albertine Zouife von 
Jacob hat aus den Anfangsbuchjtaben jener fünf Worte das 
befannte Taloj gebildet; demgemäß entjteht aus E. N. Cor: 
mann — Enc, aus Giegbert Meyer — Siegmey, aus Emil 
Jaſper — Eljr, au Carl Pinn — Earpin. 

Weniger finnreih, eher ungefüge pflegen Palindrome zu 
gerathen; nur jelten ergiebt ja die Umfehr eines regelrechten 
Wortes wiederum ein gleichgeläufiges. Zwar Ettoir, Trebor, 
Seith klingen noch wahrjcheinlih; aber Nelda, Nenrew, M. 
Edlita, Zirom, Redew find Schon zu auffallend, um nicht als: 
bald erraten zu werden; ganz mißlungen aber jcheinen 
Bildungen wie Znare, Sierf, Grebjom, Leppiz, Nielk, oder 
gar Nielk Floda, Regnis Legov. 

Den allerfreiejten Spielraum gewährt das Anagramnı, 
zumal wenn man e3 damit nicht allzu genau nimmt. E83 wird 
auf die verjchiedenfte Weife angewendet; aus allen oder einigen 
Buchſtaben jeines Namens bildet man neue Worte, nimmt auch 
fremde Buchjtaben zu Hülfe, kurz, man verfährt in der Weile 
Srimmelshaujeng; jeine Bieljeitigfeit hat freilich Fein Neuerer 
erreicht. 

Aus Hunderten mögen einige Beijpiele Zeugniß ablegen 
von größerer oder geringerer Gejchidlichkeit:?? Braun — Urban, 
Buſſe = Sebus, Ehlers — Sehler, Döhler — Hölder, Ernjt = 
Stern, Ernjt Krauſe = Carus Sterne; Herzfeld — Held, Arnold 
Nuge — Durangelo. So gelungen wie diefe Proben find nun 
freilich die meijten Anagramme nicht; ich jeße dagegen Herting 
— Nehting, Urſchner — EChrujen, Mandel = Delman, Maier — 
Serma, Kainz — Zinfa, David — Bidda, Baeßler — Bereslas, 
Conitzer — Zernifo, Müller — Meruell. 

Ich will nicht durch eine längere Reihe ermüden; ich be: 
merfe nur, daß viele auf den bisher gejchilderten Bahnen ge» 


bildete Pſeudonyme weit bejjer befannt find als die wirklichen 
(828) 


19 


Kamen, 3. B. Lenau, Wehl, Taloj; daß ferner Mehrere ihr 
Pſeudonym gleich) Voltaire ins bürgerliche Leben mit hinüber 
genommen haben, wie Martin Greif (Friedr. Herm. Frey). 

Gewiſſe Pjeudonyme find den wirflihen Namen analog 
oder entgegengejegt gebildet: ein Herr Sperling nennt fich Fink, 
ein anderer Dr. Späßlein; ein Herr Lilie — Roje, Flad) = 
Eben, Fuchs — Neinefe, Hildebrandt — Gregor VII., König — 
Kaifer, Wald — Forft, Müller = Mühlbach, Rubiner — Stein; 
dagegen wird aus Filcher — TFleilcher, aus Tannen — Eihwald, 
Raab — Renard, Bauer — Biedermann, Schwarz — Weiß. 

Eine einzeln jtehende Analogie ift in folgendem Fall zu 
erkennen: wie oben gejagt, hatte Klara Müller fih in Luiſe 
Mühlbach verwandelt; nach ihrer Verheirathung mit Th. Mundt 
war aljo 2. Mühlbach das Pjeudonym für Clara Mundt; 
deren Zorbeeren brachten Johanna Mund auf den Einfall ſich 
entjprechend Joh. Mühlheim zu nennen. 

Ueberhaupt find viele befannte oder berühmte Namen zu 
Pſeudonymen gewählt worden; aus der Weltgeſchichte: Barbarofja, 
Eginhard, Münnich, Turenne, Wallenftein; von Künftlern und 
Schriftitellern: Aeſop, Bellami, Bodmer, Claudius, Dickens, 
Hutten, Rafael, Sceffel ꝛc. Ja, ein zweiter Richter hat Die 
Kühnpeit, ji Jean Paul zu nennen. Aus Dichtungen ſtammen 
Appiani, Ddoardo und Tellheim; Bardolph, Cordelia und 
Polonius, Daphne, Dido und Fbycus; Ahasver, Dr. Joh. 
Fauft und Münchhaufen u. ſ. w. Fräulein Maria Mirbad) 
tritt jogar als Marianne Meifter auf! 

In merfwürdigem Gegenjab zu diefer Vorliebe für Cele- 
britäten verjchiedenen Grades jteht die Beſcheidenheit zweier 
Erben großer Namen: Aug. Herm. Frande und Theod. Leſſing 
haben zu geringeren Pjeudonymen ihre Zuflucht genommen, 
als fühlten fie fich gedrücdt durch die Größe der berühmten 


Inhaber ihrer Namen aus dem vorigen Jahrhundert und 
2* (825) 


20 


als Hätten fie die Abficht, ſich aller Verantwortlichkeit zu ent 
ziehen. 

Im jechzehnten Jahrhundert war es bekanntlich Gebrauch 
der Gelehrten, ihre deutichen Familiennamen ins Griechiſche oder 
Lateinische zu übertragen. Aurifaber, Chiomujus, Gigas, 
Melanchthon, Melifjander, Musculus, Dekolampadius, Placo— 
tomus und unzählige Andere find jo verfahren. Diejer Sitte 
begegnen wir auch noch jebt, troßdem daß die Abneigung gegen 
griehiiche und römische Bildung ftetig zunimmt und die neuejte 
Richtung den äjthetiichen Prinzipien der Alten ſchnurſtracks 
zuwiderläuft. Da nennen jih Bauer — Ruſtieus, Berger = 
Montanus, Eiben — Tarus, Groß — Magnus, Nagel — Clavus, 
Schneider — Sartorius; oder Baumftod — Dendrojthenes, 
Hausmann — Oekander, Ejperance von Schwarz — Elpis Melena, 
Volkmann — Leander u. ſ. w. 

Auch ind Engliſche, Italieniſche, Franzöfiiche flüchten ſich 
Manche; ich beſchränke mich auf je ein Beiſpiel: Gans — Gooſe; 
Schmidt — Ferrari; Liſa Weiſe — Liß Blanc. 

Offenbar ſoll das Pſeudonym manchmal gewiſſe Grundſätze 
zu erkennen geben, ſoll eine Stimmung oder Geſinnung aus— 
drücken, welche in den Schriften der Betreffenden vorherrſcht. 
Es wird vielleicht der Mühe werth ſein, dieſer zur Schau ge— 
tragenen Symbolik nachzuſpüren. 

Zunächſt erwähne ich eine kleine Gruppe von Onkeln und 
Tanten, welche ein gemüthliches, kinderfreundliches Element 
bilden; ich ſtelle mir vor, daß Onkel Ludwig, Onkel Tom oder 
Tante Adolfine, Tante Hedwig ſich ſo familiär einführen, um 
ihre Neffen und Nichten — dieſe Worte haben ja keine Grenze — 
zu unterhalten, zu begeiſtern. 

Auch in direkter Form fpricht nicht ſelten ein heiteres, zu» 
friedenes Gemüth aus dem Pjeudonym: Friich, Flott, Fröhlich, 
Glückſelig, Wohlgemuth juchen ihre Leſer durch beneidenswerthe 


(880) 


21 


Laune zu feſſeln; Gottvertrauen redet zu ung durch Traugott 
Allweg, Glaubrecht, Gotthelf, Gottwalt, Wagsmitgott; fried- 
fertiges Wejen durch Fried, Friedeburg, Friedland, Friedlieb, 
Friedmann, Friedmund, Friedwald; Nechtichaffenheit und Zuver— 
läffigfeit: Lebereht, Treu, Treudank, Treuhorſt, Bleibtreu, 
Eichentreu; endlich Aufrichtigkeit und Wahrheitsliebe: Freimund, 
Treumund, Wahrmann, mehrfach Veritas, Philalethes u. U. 

Wie hoc Schriftiteller Freiheit, Freiſinn, Unabhängigkeit 
ſchätzen, das beweijen die zahlreichen Berjonififationen ent: 
jchlofjener Gefinnung: Freimuth, Freimann, Hellmuth, Kühne 
fehren immer wieder; jelbjt eine Dame hat Courage genug, ſich 
„Lionheart“ zu nennen. Eine andere freilich, welcher der tapfere 
Sinn in der Wiege bejchert war, Johanna Zoewenherz, hat ſich 
ein ganz harmlojes Pjeudonym gewählt (— Vonderwied; fie tft 
eine NRheinländerin). 

Patriotiſches Gefühl athmen folgende Namen: Germanusg, 
Arminius, Deutihmann; jelbjt einen Ghibellinus ?? giebt es 
wieder jeit dem Kulturfampf. 

Vertreter der Weisheit und Lehrhaftigkeit heißen: Humanus, 
Sophus, Lehrer, Lehrreid). 

Den Gegenjag zwijchen geiftlichem und weltlihem Stande 
betonen: Clericus, Laicus. 

Das Leben iſt eine Wallfahrt, daher giebt es Wanderer, 
Peregrinus, Pellegrin. Aus der argen, böſen Welt haben ſich 
in die Stille zurückgezogen: Einſiedler, Klausner. 

Alle dieſe Namen kehren mehrfach wieder; ſie bezeugen 
eine gewiſſe Gleichförmigkeit der Erfindungsgabe, aus der ſich 
eine ſtatiſtiſche Conſtanz ableiten läßt. 

Nicht anders finden wir es bei den Aeußerungen des 
Humors, des übeln, wie des gemüthlichen, harmloſen. Jener 
erſcheint in der Form des Tadels, des Spottes, überhaupt in 


verſtimmter Laune: Scharfmund, Jeremias Deutlich, Jeremias 
(831) 


22 


Krittler, Asper, Bitter, Iſegrimm, Groller, Schrill; diejer be- 
gnügt fich mit ſanfter Bosheit: Schalt, Scherzbold, Wippchen, 
Bliemchen; jener berühmte Mann aber, der ſich gelegentlid) 
Scartenmayer nennt, der Wejthetifer Friedr. Th. Viſcher, Hat 
all feine fatiriiche Caprice vor dem dritten Theil des Fauſt 
zujammengefaßt in das wohllautende Pjeudonym: Deutobald 
Symbolizetti Allegorowitih Myſtifizinsky. 

Eigenthümliche Andeutungen liegen wohl in folgenden 
Pjendonymen: Hedera helix (jchon im vorigen Jahrhundert gab 
e3 einen „Epheu”); Blume, Blumenreih, Fringilla, Hirundo, 
Moderatus Diplomaticus (eine Dame!), Bartout, Raſch, Unruh, 
F. de Siecle ꝛc. Weil fie ein Herz und eine Seele find, haben 
Carmen Sylva und Mite Kremnig ihren Freundjchaftsbund 
bejiegelt mit Dito und Idem. 

Nach) dem Vorbilde von Fr. Rüdert — Freimund Raimar 
hat fi) Hugo Reimund gerichtet; natürlich giebt e8 auch Sänger, 
Spielmann u. |. w. 

Ganz jeltiam klingt Adam Evaſon; dieſe Bildung iſt 
ſachlich ebenſowenig gerechtfertigt, als etwa Eva Adamſon 
ſprachlich zu billigen wäre. 

Endlich haben einige deutſche Schriftſteller ſich ſſaviſche Namen 
beigelegt; wie Gregor Samarow dazu gekommen iſt, weiß ich 
nicht; Oſſip Schubin hat ſeinen Urſprung bei Turgenjeff. 

Im Gegenſatz zu den Römern, welche mindeſtens zwei 
Namen führten, begnügten ſich die Germanen zur Zeit der 
Völkerwanderung noch mit einem, dem nach patriarchaliſcher 
Sitte höchſtens etwa der des Vaters zugefügt wurde. 

Seit aber die germanischen Nationen fich bleibend nieder- 
gelafjen Hatten, als große und Kleine Herren inmitten ihrer 
Beligungen hauften, noch ehe diefe alle erblich wurden, benannten 
fi) die Inhaber nach ihren Sigen, Burgen, Bergen oder Höfen. 


So entjtanden die fürftlichen und adligen Familiennamen, die 
(832) 


23 
auch aus der Litteraturgejchichte Hinreichend befannt find. 
Wolfram von Eſchenbach, Wulter von der Vogelweide, Rudolf 
von Hohenems ftammten aljo von gleichnamigen Familienjigen. 

Uber auch bürgerliche Namen laufen in diejer Form mit 
unter, nur find Städte Heimath der Träger: Meiſter Gottfried 
von Straßburg, der Predigermönd Berthold von Negensburg, 
der erite, Dichter des Neinefe Fuchs Hinrif von Alkmar find 
von bürgerlicher Herkunft. 

In der Neformationgzeit läßt der Bürgerjtand das „von“ 
meijtens weg, benennt ſich aber immer noch gern nach dem 
Heimathsort: Andreas Karljtadt, Balentin Troßendorf, Alerander 
Hegius u. A., oder nach der Landichaft: Eobanus Hejjus und 
Luther nennt feinen treuen Gehülfen oh. Bugenhagen mit 
Borliebe Dr. Bommer. 

Nach einer Unterbrechung von zwei Jahrhunderten ijt dieje 
Methode wieder in jtetem Zunehmen begriffen. Man bildet 
nicht nur häufig zu bequemerer Unterjcheidung Zufammenjtellungen 
wie: Hoffmann von Fallersleben, Miller von Königswinter, 
Schmidt: Weißenfel3, Braun: Wiesbaden, jondern man jet 
geradezu den Heimathsort als Pjeudonym, namentlich den Ge: 
burt3ort jtatt des Familiennamensd. Schon der Begründer der 
„Spinnftube“, Wilhelm Dertel, Prediger in Horn, hatte ich 
mit dem befannten Autornamen: W. D. v. Horn eingeführt; 
nun heißen Friedrich und Ludwig Meier — Friedrich und Ludwig 
von München, Clajen-Schmid — Curt v. Wildenfeld, Franz 
Neitterer — Franz dv. Friedberg. 

Nach heimathlichen Flüſſen“ benennen ſich: Heinz von der 
Donau, Auguste und Gujtav von der Elbe, Emil von der Have, 
German vom Saravus, Hans von der Weiß, 2. Bonderwied u. U. 

Einfad) bürgerlich bezeichnen fih: Hettauer, Sellin, Saren- 
baujen, Heimwahl, Rodenberg ” u. v. U. Eelbjt ein „PBommer” 
bat jich wiedergefunden. 

(838) 


24 

Werden nicht beftimmte Orte oder Gegenden auserjehen, 
jo doch Worte von allgemeiner Tandjchaftliher Bedeutung: 
Benno und Philo vom Walde, Fridolin vom Wald, Frik von 
der Wieje, Wilhelm von der Aue, Martin im Grund, Ernit 
vom Strand, Adelheid, Guftav und Henricus vom See, Hans 
am See, Robert vom Fels, Roderich Fels, Alfred, Alerander u. |. w. 
Berg, Ernſt, Hans, Marianne und Mori vom Berg, Agnes, 
Albreht und vier weitere Thal, Thalberg, Waldbah, Wald- 
berg, Waldfeld, Waldfreund, Waldhaus, Waldheim, Waldhorit, 
Waldlieb, Waldjee u. ſ. w. 

Bor den andern drei Himmelsgegenden ijt der „Norden“ 
jtarf bevorzugt worden; von zehn noch lebenden Inhabern diejes 
Pjeudonyms hebe ich nur den Kunftkritifer Julius Norden 
hervor. Auch Dit und Weit haben noch Liebhaber gefunden 
und kommen in verjchiedenen ?yormen vor; nur der Süden 
fehlt. 

Welches Pjeudonym mag wohl das beliebtejte jein? Nach 
meinen Ermittelungen iſt es gegenwärtig der Name „Ernſt“, 
den ich in fiebzehn Fällen finde; ?* Stein in dreizehn; Berg in 
zwölf; Walter und Walther zujammen zwölfmal; Friedrich 
elfnial; Werner achtmal; Franz desgleichen — alles find unjere 
Beitgenojjen. 

Hinter den meijten der eben genannten Pjeudonyme haben 
Damen fich zu verbergen verjucht; überhaupt jcheinen Frauen 
verhältnigmäßtg häufig dazu ihre Zuflucht zu nehmen. Wollen 
fie es fich ganz bequem machen, jo vertaufchen fie nur ihren 
Bornamen mit einem männlichen: aus Clara wird Karl Drejjel, 
aus Amanda—Amadeus Georgi, aus Henriette—Henry Berl, aus 
Sohanna—Fulius Willborn. Oder fie beichränfen fi) auf den 
bloßen Anfangsbuchjtaben, dem man jein Gejchlecht nicht anjehen 
fann, und erjt aus dem Litteraturfalender erfährt man, daß man 
eine Dame vor ſich hat, 3. B. Dr. E. Menſch. 


(884) 


25 


Ganz ausgeichlofjen bleibt natürlich, joweit möglich, der 
unvermeidliche Namenwechjel bei der Werheirathung, dem ſich 
indeffen Frauen bekanntlich dadurch einigermaßen entziehen, daß 
fie ihren Mädchennamen beibehalten oder ihn zu dem des 
Mannes hinzufügen. 

Kurze, flotte, fertige, wenn auch zuweilen nichtsjagende 
Pleudonyme find bei Frauen bejonders beliebt: Karl Detlef, 
Hugo Falkner, Hans Arnold, Feodor Helm, Hans Werder 
fünnen als Typen diefer Gruppe gelten. 

E3 wäre gewiß ein zeitgemäßes Thema für den nächſten 
internationalen Frauenfongreß, zu erörtern, weshalb wohl 
Frauen jo Häufig männliche Pjeudonyme ſich aneignen und 
warum dieſer Gebrauch in neuerer Zeit jo jehr zunimmt. 

Es ift eine mäßige Genugthuung, welche ſich in der That- 
ſache darbietet, daß doch auch circa zehn Männer unter weib: 
lihen Autornamen auftreten; zwar Wilhelmine Buchholz ift 
natürlich nicht ernft gemeint; wohl aber Marie Biebus für Fri 
Edard, Elarifja für Johannes Claſſen, Doris für Iſidor Strauß, 
oder Emilie Kronau für Erich Körner. 

Meiftens find diefe Herren wohl durch naheliegende Wort- 
jpiele zu der jonderbaren Wahl veranlaßt worden; Ddesgleichen 
fommt auch ſonſt vor: Scheidlein verwandelt fich in Chatelain, 
Filtih — Field, Lehmann — Lehnsmann, Holzer = Holzmann. 

Wie viel Pjeudonyme hat ein Schriftjteller durchjichnittlich 
nöthig ? Nun, die meiften fommen mit einem aus, zumal wenn 
e3 bald jo angejehen oder berühmt wird, daß man den wirf- 
lihen Namen aus den Augen verliert oder gar nicht jucht, wie 
Wilibald Uleris, Nicolaus Lenau, Friedrih Halm, Wilhelmine 
Heimburg, Laura Marholm; find doch diefe falfchen Namen 
viel verbreiteter als die wirklichen. Wie wenige Menjchen 
fennen den wahren Nanıen der Marlitt oder Oſſip Schubins ? 


Doch aud zwei Pſeudonyme für einen und denfelben 
(835) 


26 





Schriftiteller finden fi Häufig; Gregor Samarow ijt neuer: 
dings zu Leo Warren geworden. 

Seltener jchon bereichert ſich Jemand durch ein drittes, 
viertes, fünftes, bis Einzelne noch ſechs, jieben, acht, neun an— 
häufen. Selten erlauben fi) Damen diefen Lurus. Doc ift 
e3 eine Frau, welche durch die enorme Menge von dreizehn 
Bieudonymen?? alle Anderen übertrifft: die 1877 verjtorbene 
Katharina Zitz. 

Ohne Wahl vertheilt das Scidjal die angejtammten 
Namen und macht es mit diefer Vererbung am Ende Wenigen 
recht. Bereits ganze Reihen von drei bis fieben Gliedern lafjen 
ji) verfolgen, Beweije von der Unzufriedenheit und dem ver: 
Ichiedenen Gejchmad des Menjchen: Simmel nennt ſich Schrader 
Schrader — Schleier, Schleyer — Frohjang; oder Roß — 
Wertheim, Wertheimerr — Brumner, Brunner — Dorn, 
Dorn — Andor; ferner Volger — Hildebrand, Hildebrandt — 
Günther — Ernjt = Wilhelm; endlich Koch — Bold, Bolt — 
Clarus, Claar — Walther = Lipps, Lipp — Richter — Paul 
— Silva. Es ijt nur Zufall, daß die Reihe nicht noch weiter 
geht und jchließlich in den Anfang zurüdläuft; wenn man jich 
die Mühe nehmen wollte, ließe fi) wohl auch dafür endlich) 
ein Beijpiel finden. 

Manchem Hat freilich das eigenfinnige Schidjal in baroder 
Laune einen Namen zugetheilt, mit dem er alles Recht hat, 
unzufrieden zu jein. Wenn auch nicht Alle von einer jolchen 
Kalamität viel Weſen machen, fondern tapfer mit ihrem un— 
gewöhnlichen, ja anjtößigen Namen hervortreten — was id) 
ganz in der Ordnung finde —, jo mag doch eine ganze Reihe 
von Dichtern fich geicheut haben, Namen wie Barnidel, Blech), 
Bottermund, Brigelmayr, Guggenbichler, Hammelrath, Hun- 
degger, Kürbis u. ſ. w. unter ein gefühlvolle® Gedicht oder 
vor eine feinfinnige Novelle zu jegen. 

(836) 


27 


Wenn man jelbjt auch von Klein auf an feinen Namen 
gewöhnt ift, er mag fo wunderlich fein, wie er will, fo bleibt 
er doch fremden Menjchen immer auffällig. Bejonders emp: 
findlich find vielleicht Damen in diejem Punkt; Namen wie 
Bürftenbinder, Gutbier, Knackfuß, Kophamel, Maul, Nidel, 
Schmedebier, Story) fünnten am Ende die jchönfte Illuſion 
jtören; wenigftens erjchweren fie ficherlich den erjten Schritt 
ind Bublifum; nimmt man Dagegen in jolcher Lage zum 
Pſeudonym feine Zuflucht, jo ift man aller Verlegenheit über: 
hoben. 

Hie und da findet fich freilich ein jonderbarer Name durd) 
ein noch häßlicheres Pjeudonym übertrumpft: ein Herr Hajen- 
fra nennt fi) Uhu von der Wuotach. Ueberhaupt ijt fein 
Mangel an gejchmadlojen Pſeudonymen, welche offenbar ab: 
fichtlich einer abjtrujen Laune entjprechen: Objtladen, Ochjen: 
ſchauer, Rufhorn, Spiskifiu, Stallknecht, Weinjteng! ftehen obigen 
Beilpielen wenig nad. rauen haben dieſer unvortheilhaften 
Geſchmacksrichtung jelten nachgegeben; Allerleirauh und Fitchers- 
vogel hat Giſela Grimm den befannten Märchen entnommen; 
Hoffnaß mag feine bejondere Veranlafjung haben; warum die 
berühmte Schaujfpielerin Joſephine Gallmeyer nicht bei ihrem 
urjprünglichen Namen Tomafelli geblieben ift, habe ich nicht 
ermitteln fünnen. 

Angeficht des ungeheuren Aufwandes von oft fragwürdigen 
Mitteln, ſich zu maskiren, fragt es fich freilich, welchen Erfolg 
dieje Masferade Hat und welche Bedeutung fich ihr beimefjen läßt. 

Hat es einen vernünftigen Zwed, infognito aufzutreten, 
wenn e3 doch weder Umstände, noch Unkojten erijpart? d. 5. 
wenn doc alsbald Jedermann willen fann, wen er vor fi 
bat, und wenn die Kritif doch auf Pjeudonyme begreiflicherweije 
feine Rüdficht nimmt ? 

Ubgejehen von den vorher erwähnten Nothfällen mag es 

(837) 


28 


zuweilen wünfchenswerth jein, wenigjtens für kurze Zeit unbekannt 
zu bfeiben. Bei der zunehmenden Deffentlichkeit litterariſcher 
Berhältniffe und Borgänge, bei der wachjenden Neugier und 
Indiskretion — Schattenjeiten der modernen Journaliſtik — 
ift allerdings die Wahrjcheinlichkeit gering, daß ein Pſeudonym 
lange ſchütze. Aber es erleichtert den erften verlegenen Schritt 
beicheidener Talente, es überhebt zunächit den Sritifer der an- 
genehmen Pflicht, nad) der litterariſchen Zugehörigkeit eines 
Verfaſſers zu fragen. 

rauen insbejondere mag das Bewußtfein der Umficherheit, 
die Scheu vor der nächſten Umgebung, auch wohl der Wunich, 
objektiv beurtheilt zu werden, e8 nahe legen, vor der Hand 
pjeudonym zu erjcheinen. Haben doch aus ähnlichen Gründen 
von jeher Schaujpieler gern ihre Namen gewecjjelt, auch um 
Nachfragen zu entgehen; ja wir haben angejehene Konzertgeber 
aus Rückſicht auf ihre vornehme Familie unter nachgebildetem 
Namen auftreten jehen. 

Sogar Männer wie Felix Dahn, Eduard von Hartmann, 
Frauen wie Bertha von Suttner, Helene Stökl haben fich 
anfangs pfeudonym eingeführt, obwohl fie gewiß wenig Be- 
denken zu haben brauchten. 

Wenn ich die politiiche Litteratur beifeite lafje, über 
welche ic) ohnehin mir fein Urtheil habe bilden mögen, aljo 
auf die jchönwiffenjchaftliche mich beſchränke — die wiljenjchaft: 
fihe macht ja vom Pjeudonym höchſt jelten Gebrauh —, jo 
erjcheint mir die Benugung des Pjeudonym immerhin als eine 
recht überflüjfige Maßregel. 

Gar zu oft ſchaut eine gewifje Selitgefälligfeit, auch wohl 
Kofetterie aus der Maske, welche einem Verfaſſer, der jeine 
Aufgabe ernjt nimmt, fern liegen follte. Oder fie begnügt fich 
mit einem nichtsfagenden Alltagsausdrud, einer Allerweltsmiene, 
welche ebenjowenig Reſpekt einflößt. 


(838) 


29 

Will ein Verfaſſer fürs erjte jeinen Namen nicht auf den 
Titel een, jo mag er jein Werk anonym erjcheinen laſſen; 
findet e8 Beifall, jo wird er fich bald dazu befennen — macht 
e3 feinen Eindrud, jo hat er das ja nicht nöthig. Sind unjere 
Klaſſiker mit diefem Verfahren ausgelommen, jo wird es wohl 
auch Hundert Jahre jpäter noch am Platz jein. Das Pjendonym 
macht Meittelmäßiges nicht beſſer; das Borzügliche dagegen 
Ichafft fi) Geltung auch ohne den Namen feines Urhebers. 

Bedenklich ift e8 immer, daß das Haſchen nad) diejem 
durchfichtigen Schleier, der fo wenig verhüllt, immer lebhafter 
zu werden jcheint, als gehöre diefer Schleier zur nothwendigen 
NRüftung eines modernen Tederhelden. 

Heutzutage wird alles gar zu leicht zur oberflächlichen 
Modeſache, zum Sport, zum Unfug. Die nervöje Haft, welche 
Eijenbahn und Telegraphen beflügelt, daß Leib und Seele blik- 
Schnell dahinfahren, ift auch, fürchte ich, für die Sudt nad) 
pjeudonymer Originalität verantwortlicd) zu machen; Häufig ift 
da8 Pſeudonym nichts als ein Symptom von franfhafter 
Wichtigthuerei. 

Je offener, gerader und ehrlicher ein Schriftiteller ſich 
jeinen Leſern vorjtellt, dejto unbefangener und bereitwilliger 
werden diejelben ihn würdigen. 

Uhland Hat, denke ich, das Richtige getroffen: 


Heilig achten wir die Geijter, 
Aber Namen find und Dunft. 





(839) 


30 


Anmerkungen. 


' Stade, Erzählungen aus der neueren Geſchichte, 1876, S. 273. 

° Dahlmann, Zwei Rejolutionen, I, ©. 162. 

® Hettner I, ©. 297. 

* Bornhaf, Lexikon, s. v. 

° Hettner II, ©. 140. 

° Hettner II, ©. 153. 

” Gott felbit nennt Abram Abraham, Jacob Israel. Die Drien- 
talen fultiviren noch heute die Namensjymbolif. 

° Hettner II, ©. 148. 

’ Fr. Nicolai war noch in der glüdlichen Lage, feine Schriften halb 
anonym erjcheinen zu laſſen. Er nannte fih nur als Verleger. 

i0 In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts hatte fich dafür 
eine andere Kalamität eingeftellt, welche Scriftjtellern und Berlegern viel 
Kummer machte — der gewiſſenloſeſte gewerbsmäßige Nahdrud. i 

Sch folge hier den Angaben von Weller, Die falſchen und fingirten 
Drudorte, Band I, und Goedetes Grundriß, ©. 386 ff. 

 Yus den vier Worten Joh. Fiſchart genannt Menger bildet er 
das Akroſtichon: Im Fiſchen gilts Miichen. 

is H. Kurz Grimmelshauſen, Simplicianiſche Schriften, 1863, I, S. X. 

* Nah der Zeichnung bei Neumark iſt es ſicher nicht Pimpinella, 
eher Poterium sanguisorba, die auch Bibernelle heißt. 

is Wer die ganze Wiglofigfeit der gelchrien Tändelei fennen lernen 
will, betrachte in Neumarks Neuipr. Palmbaum, S. 70, das Tächerliche 
Bild Strephons; er figt an der Pegnig, jpielt mit Steinden, deren adıt- 
undzwanzig die Worte „Die fruchtbringende Gejellihaft“ tragen; fünf 
davon fallen ind Wajler, die übrigen ordnet er in „anagrammatifirender 
Luſt“ zu den finnigen Worten: „Gleiches, reiches Tugendband“ ! 

is Die Dichter vom Sturm und Drang nennen fi wohl meift jehr 
gern auf dem Titel: Klinger, Wagner, Maler Müller. Lenz fand es ge- 
rathener, jeinen „Hofmeifter* und die „Soldaten“ anonym in die Welt 
zu ſchicken, weil fie gar leicht periönliche Beziehungen veranlafjen konnten; 
er machte Klinger willig, fi für den Berfajjer der „Soldaten“ aniehen 
zu laſſen, weil er Händel mit Offizieren der Straßburger Garnijon fürd)tete, 
deren leichtfertiges Treiben er bioßitellte. Die wichtigſten Werke anderer 
Richtungen erihienen anonym: Sophiens Reiſe, Das Fräulein von Stern«- 
heim, Sebaldus Nothanker, Siegwart, Ardinghello und Hildegard von 
Hohenthal, Agnes von Lilien, Das goldene Kalb u.v.a. Pſeudonyme 
benugen Zung-Stilling und Morig-Keijer. 

(540) 


31 


 Hettner I, ©. 375. 

is Settner II, ©..364. 

 Bornhaf, Lexikon, s. v. 

?° Goedeke II, ©. 1135. 

2! MWeller8 Lexicon Pseudonymorum, 2. Aufl., 1886, war für meinen 
Zweck jo gut wie unbraudbar, reicht auch nicht bis zur Gegenwart. Es 
it bei allem Umfang unvollftändig. Fehlt doch jelbjt „Voltaire“. Das 
Beite verdante ich Goedekes Grundriß, Brümmers beiden Lerici3 und 
Kürfchners Litteraturkalender. 

” Hier wie faft überall fteht zuerft der wirkliche Name, hinter dem 
— das Pieudonym. 

» Heinrich Fränkel; jeine Schrift: Kailer, werde hart! fnüpft an 
die Worte des Schmiedes von Ruhla an, welche der Landgraf Ludwig 
infognito anhören mußte. 

* Am häufigften nah dem Rhein: vom Rhein, Rheinländer, 
Rhenanus. 

* Modenberg hat bekanntlich jein Pjeudonym im bürgerlichen Leben 
beibehalten; Juden nennen fid nad) alter Handwerksburſchenſitte überhaupt 
gern nach ihrer Heimath: Berliner, Danziger, Defjauer, Kowner, Leip- 
ziger, Qubliner, Warjchauer ıc. ıc. 

20 Meller zählt 38 „Ernft“ jeit 1685. — „Wahrmund“ bei Weller 
49 mal jeit 1618. 
” „it dies ſchon Wahnfinn, hat es doch Methode” ! 


(841) 


lleber 
blüthenteagende Schmarogerpllanzen. 





Hamburg. 
Berlagsanftalt und Druderei A. G. (vormals I. F. Richter), 
Königliche Hofverfagsbuhhandlung. 
1899. 


Das Recht der Ueberjegung in freinde Sprachen wird vorbehalten 


Drud der Verlagkanſtalt und Druderei A.-&. (vorm. I. F. Richter) in Hamburg. 
Königliche Hofbuchdruderei. 


Symbioſe und, Paraſitismus bezeichnen das engere Zu— 
ſammenleben lebender Weſen, wobei man für den erſteren Zu- 
ſtand auch gegenjeitige8 Schmarogerthum jagen könnte, da jedes 
der beiden Lebewejen Nugen vom andern zieht und erjt in diejer 
Gemeinschaft das rechte Gedeihen findet. 

Namentlich hat man in neuerer Zeit diefem merkwürdigen 
Verhältniß zwijchen einer Weihe von Gewächſen und den 
Ameifen jeine Aufmerkſamkeit zugewandt, und der Begriff 
Ameijenpflanzen entftand aus dieſen Betrachtungen und Ent- 
dedungen, worüber nunmehr eine große Litteratur vorliegt. 
Als Symbioje zwilchen zwei Pflanzen wollen wir das Zu- 
jammenleben von Pilzen und einzelligen Algen erwähnen; dieje 
Naturkörper jah man vor gar micht zu langer Zeit noch als 
eine bejondere Klafje unter den Gewächſen am und bezeichnete 
fie al3 Flechten. Nenerdings hat dann die jogenannte Pilz. 
wurzel oder Mycorrhiza viel von fich reden gemacht, wobei es 
fi um die VBerbindimg von Saugwurzeln höherer Gemwächje 
mit den Mycelium niederer Pilze Handelt; auf dieſe Weife 
werden einer Reife von Bäumen Nährftoffe zugeführt. Für 
den Landmann hat diejes Auftreten von Pilzen an dem Wurzel: 
ſyſtem gewifjer jeiner Kulturfrüchte, wie namentlich der Schmetter- 
lingsblüther, große Vortheile, infofern die Wahrjcheinfichkeit der 
Anfiht, dag die Aſſimilation des freien Stidjtoff® nur eine 
Funktion der niederen chlorophylllofen Organismen ift, immer 


mehr an Boden gewinnt. 
Sammlung. N. F. XIII. 311. 15 (846) 


4 


Als Symbioſe zwiſchen zwei Thieren ſei des Zujammen:- 
wohnens einer kleinen Krabbenart mit gewiſſen Steckmuſcheln 
gedacht oder der faſt ſtetigen Verbindung von Einſiedlerkrebſen 
mit Seerofen. 

Doc mit diefem gegenjeitigen Paraſitismus wollen wir 
uns heute nicht bejchäftigen, jondern uns den einjeitigen Schma- 
roßern zuwenden, ſoweit fie die Pflanzenwelt betreffen. 

Der Ausdrud Schmaroger oder Parafit dürfte 1720 zu: 
erſt von Micheli für eine Pflanze angewandt fein. Der: ge 
nannte Gelehrte verftand. hierunter nach Kerner Gewächſe, 
welche lebenden Pflanzen oder Thieren organische Verbindungen 
entnehmen und fich die Arbeit jparen, felbft jolche Verbindungen 
aus Waller, Nähbrialzen und Gemengtheilen der Luft zu bilden. 

Freilih dauerte es geraume Zeit, bis man jelbft auf 
Grund diefer Definition Schmaroger von anderen unfchuldigen 
Pflanzen unterjcheiden lernte, und bei einer Reihe von Arten 
it man ſelbſt . heutzutage noch nicht Hinreichend über. ihre 
Lebensweije unterrichtet, um mit Sicherheit behaupten zu Fünnen, 
man babe es mit einem . Barafiten zu thun oder nicht. 

Bunädjt glaubte man damals, alle Gewächje als Schmaroger 
ansprechen zu dürfen, welche zeitleben® auf dem Leibe anderer 
angetroffen werden. Ging aljo zum Beijpiel, um die Farben gfeich 
etwas ſtark aufzutragen, einmal der von einem Vogel verfchleppte 
Same einer Eberejche auf einem alten Weidenkopfe auf, jo war 
man drauf und dran, die Eberejche für einen Schmaroßer zu 
halten. Auf diefe Weile famen die Ueberpflanzen, welche fich 
in ganz unfchuldiger Weile auf wenig Erdreih in Aftlöchern, 
abgebrochenen Kronen u. ſ. w. anzufiedeln pflegen, in einen 
üblen Auf, ja auch Kletterpflanzen, Mooſe und Flechten, welche 
ji vielfah an Bäumen finden, jollten einfach zu PBarafiten 
geitempelt werden. 

Dem gegenüber fonn nicht genug und wiederholt nachdrüd: 


(846) 


5 


fichjt: darauf Hingewiejen werden, daß das Charafteriftiiche an 
den Schmarogern das Entnehmen. von Nährftoffen aus dem 
Körper des Wirthes ift, und ein zufällige Bewohnen mit dem 
Barafitismus gar nichts zu thun hat. 

Die echten pflanzlichen Schmaroger fann man nun von 
vornherein in drei große Gruppen theilen. Nach der Haren 
Definition Anton Kerners umfaßt die erſte derjelben durchweg 
mifrojtopifche Gebilde, welche im Innern lebender Menjchen 
und Thiere, und zwar häufig im Blute leben; es find dieſes 
die Bakterien, welche man als die Träger von allerhand Krank— 
heiten immer mehr erkennt. Sie jollen ung nicht weiter jeßt 
beichäftigen. 

Die zweite Abtheilung begreift die Bilze, deren Mycelium 
befähigt. iſt, mit der ganzen Oberfläche der fadenförmigen Bellen 
oder mit folbenförmigen Ausſackungen derjelben aus dem durch: 
jegten und überwucherten Gewebe des Wirthes Nahrung zu 
entnehmen; bier hat man es mit mehreren Taujend verjchiedener 
Scimmel-, Hut. und Scheibenpilze zu thun, Die troß der 
Mannigfaltigkeit ihrer Entwidelungsgejchichte und troß der un. 
endlichen Bielgejtaltigkeit ihrer Fruchtkörper dod) in betreff ihrer 
Nahrungsaufnahme, jowie in der Art, wie fie ihre Wirthe an: 
fallen und ausjaugen, miteinander große Webereinjtimmung 
zeigen. Auch dieje Reihe, welche hauptſächlich die Pflanzenfranf: 
heiten hervorruft, wollen wir diejes Mal unberücjichtigt Lafjen. 

Dagegen werden die folgenden Zeilen nur von den Blüthen- 
pflanzen handeln, deren aus dem Samen hervorgegangener Keim 
ling mit jeiner Saugwurzel oder mit einem die Rolle der 
Saugmwurzel übernehmenden anderen Theile, in den Wirth 
eindringt, um demjelben Säfte zu entziehen. 

Als wunderbar wollen wir gleich die Notiz einfügen, daß ſich 
Ihmarogende Pflanzen nur auf der unterjten Stufe der Gewächs— 


leiter und auf ihren höchſten Sprofjen finden; von den Bakterien 
(847) 


6 


und Pilzen müfjen wir mit UWeberjpringung der Cormophytae, 
welche die Lebermooſe, Mooje und TFarrenkräuter im großen 
und ganzen begreifen, der Gymnoſpermae, hauptſächlich aus 
den Nadelhölzern bejtehend, und der großen Gruppe der Mono» 
cotylen uns gleich zu den zweilappigen Blüthenpflanzen wenden, 
deren Beſprechung freilich auch höchſt mannigfaltig und abwechie- 
lungsreich ſich geitaltet. 

Zunächſt wird es bei dem Leſer Intereſſe erwecken, daß 
beiläufig 1000— 1500 Phanerogamen der Klaſſe der Schmarotzer 
zugezählt werden müſſen, von denen allein etwa die Hälfte auf 
die Familie der Loranthaceen entfällt. Dieſe ſogenannten 
Riemenpflanzen — wir kommen im Laufe unſerer Darlegung 
noch öfters und eingehend auf ſie zurück — bewohnen zum 
größten Theil die Tropenländer, und haben ihre Hauptver— 
breitungscentren in Amerika und Aſien, während unſer Heimaths— 
Erdtheil nur zwei einzelne Gattungen und drei Arten aufzu— 
weiſen hat. 

In Bezug auf die Art und den Grad der Anpaſſung an 
den parafitiichen Ernährungsmodus machen fi nah Johow 
bei den einzelnen Formen nad) mehreren Richtungen hin 
bemerfenswerthe Werjchiedenheiten geltend, die es fich empfehlen 
wird gleich bier hervorzuheben. 

Ganzparafiten umfaffen alle die Arten, welche ihren ge- 
Jamten Kohlenſtoff in Form organischer Berbindungen 
gewinnen und jomit des Chlorophylls entbehren fünnen, wie wir 
e3 an der Kleeſeide zu beobachten Gelegenheit haben. Als Halb- 
paraliten will Johow die Angehörigen des Gewächsreiches an- 
gejehen wiſſen, welche wohl ihre grünen affimilirenden Organe 
befigen und nur jo nebenher etwas Paraſitismus betreiben ; 
als Beijpiel wollen wir den auf allen Wiejen gemeinen Klapper: 
topf (Rhinanthus) anführen. 


Eine ganz jtrenge Sonderung in dieje zwei Kategorien iſt 
(8548 


7 





nun nicht möglich; man fann eine Reihe von Uebergängen auf: 
jtellen, wie denn die Natur niemald jprung:, fondern ſtets 
jchrittweife vor ſich get. So führen die Orobanchen oder 
Würger etwas Chlorophyll, doch reicht es allein nicht aus, um 
den Lebensbedarf dieſer Gewächſe zu deden, jie müſſen Die 
Hauptjache ihres Unterhaltes durch Schmarogerthum zu erlangen 
juchen. 

Da das Chlorophyll fich ftet3 Hauptjächlich in den Blättern 
fonzentrirt findet, fann es nicht wundernehmen, daß bei der 
Abwefenheit der grünen Farbe auch die Blattipreiten über- 
flüffig werden und demgemäß al3 etwas Unnübes volljtändig 
unterdrüct werden. So zeigt die Drobandhe ftet3 nur Schuppen, 
man vermag an ihr fein Blatt zu entdeden. Umgekehrt iſt 
der Schluß aber nicht richtig; die WBlätterigfeit einer Pflanze 
muß nicht jtets mit Chlorophyll-Abwejenheit verbunden jein, wie 
wir dieſes recht jchlagend an Thesium aphyllum, einer Ber: 
wandten unſeres Verneinkrautes, jehen. 

Auch nah dem Gefichtspunft Hin vermögen wir eine 
Trennung unjerer parafitifchen Gewächſe vorzunehmen, ob fie 
Ihmarogen müjjen oder es nur fakultativ fönnen. Die Mehr: 
zahl aller in Frage fommenden Arten fällt unter die eritere 
Bedingung. 

Die Wahl der Wirthe kann weiterhin als ein Eintheilungs: 
grund genommen werden. Eine Reihe von Formen vermag 
nur auf einer Wirthpflanze zu gedeihen, find fie auf andere 
Gattungen, ja oft jogar nur auf andere Specied angemwiejen, 
jo gehen fie unrettbar zu Grunde bezw. vermögen gar nicht erſt 
anzufangen zu gedeihen. Doc) ijt die Mehrzahl der Pflanzen- 
Ihmaroger nicht jo wähleriſch; fie können mehrere Arten der: 
jelben Gattung heimſuchen, oder verwandte Genera aus einer 
Familie fi) erkiefen oder gar auf den Vertretern verjchiedener 
natürlicher Ordnungen fi) niederlaffen. Immerhin aber pflegen 


(849) 


8 


die einzelnen Schmaroger eine gewifje Vorliebe für einzelne 
Arten, Gattungen oder Familien zu zeigen, derart, daß fie, 
wenn ihnen ihre Lieblingswirthe zu Gebote ftehen, ihre ſonſtige 
Umgebung verjchonen. Freilich giebt es auch Hier die richtigen 
PBroletarier, denen es nur auf das Schmarogen anfommt, die 
jedwede erreichbare Pflanze befallen und feinen Unterjchied in 
ihren Opfern machen. 

Beigt ſich für gewiffe Arten eine derartige Auswahl unter 
den Wirthen, fo fünnen auch für ganze Gattungen oder jogar 
Familien von Schmarogern die Wirthe mehr oder minder 
harakteriftiich fein. So weiſt Johow darauf Hin, daß alle 
Klappertopf- (Rhinanthus) und Augentrojt- (Euphrasia) Species 
vorwiegend auf Gräfern gefunden werden, die Guscuteen, wie 
unſere Flachs- und Kleejeide, nur Dicotylen heimjuchen. Der: 
jelbe Gelehrte jchlägt deshalb vor, zur Bezeichnung diejer ver: 
ſchiedenen Grade von Freiheit in der Wahl der Wirthe fi 
der Ausdrüde wirthsſtet, wirthshold und wirthsvag zu be 
dienen, wobei freilich für diejelben Pflanzenjchmaroger je nach den 
Gegenden zuweilen verjchiedene Bezeichnungen zu wählen wären. 

Eine weitere Scheidung ift darnach zu bewerfftelligen, ob 
die Barafiten Holzpflanzen zu ihren Wirthen wählen oder fich mit 
Kräutern begnügen, wobei eine Zwijchengruppe diejenigen Formen 
umfafjen würde, welche darin feinen Unterjchted erkennen lafjen. 

Auch finden wir die jehmarogenden Organe keineswegs auf 
allen Theilen der befallenen Pflanzen, jondern in der Regel 
werden nur ganz bejtimmte Glieder des Pflanzenkörpers in 
Anſpruch genommen. So Hat man einen Angehörigen der 
Zoranthaceen oder die Niemenblume noch niemals? anders als 
auf Zweigen beobachtet, die Balanophoren oder Kolbenjchofjer 
jcheinen ſtets auf das Wurzelſyſtem angewiejen zu jein, 
während die Euscuteen oder Seiden Blätter und Zweige in 
gleicher Weije ſich tributpflichtig machen. 


(850) 


9 


Anton von Kerner theilt die ſchmarotzenden Blüthen— 
pflanzen, und mit dieſen beſchäftigen wir uns ja allein, nach 
den gegebenen Einſchränkungen, in ſechs Reihen ein, welche er 
folgendermaßen charakteriſirt: 

Die erſte Reihe begreift Gewächſe, welche der grünen 
Blätter und überhaupt des Chlorophylls entbehren, aus deren 
auf der Erde feimendem Samen ein fadenfürmiger Stengel 
hervorgeht, welcher durch eigenthümliche Bewegungen mit der 
Wirthspflanze in Berührung fommt, ſich um dieje herumjchlingt 
und Eaugwarzen ausbildet, mit deren Hülfe er der überfallenen 
Pflanze die Nahrung entnimmt. 

Zwei Gattungen gehören hierher, deren eine auch in 
unferer Flora durch verjchiedene Arten vertreten iſt. Es ift 
die berüchtigte Eeide (Cuscuta), welche mit ihren europäijchen 
Vertretern hauptſächlich Stauden, Sträucher und Kräuter aus— 
nutzt, während die nordamerifanischen Verwandten höher hinaus 
wollen und fich bis in die höchſten Spitzen der Bäume hinauf 
ihwingen. Man kennt von diefem Genus etwa fünfzig bis 
achtzig Arten, welche die wärmeren und gemäßigten Klimate 
der ganzen Erdoberfläche bewohnen, je nachdem man den Species- 
begriff weiter oder enger zu faſſen geneigt ıft. Am verbreiteten 
ift die Cuscuta europaea, deren volfsthümliche Benennung als 
Teufelszwirn bereits jagt, weß' Geiftes Kind fie ift. Doch kann 
man ihr nicht gerade nachrühmen, daß fie bejonderen Schaden 
anrichte, da ihr Lieblingswirtd — die Brennejjel ijt. Daneben 
zieht fie Kartoffeln, Hopfen, Heidekraut, Hanf, Widen, Weiden, 
Schlehen, Erlen, Hollunder u. j. w. in ihren Bereich, jo 
daß es jchwer fällt, alle die Pflanzen zu nennen, mit denen 
fie gewifjermaßen Blutgemeinfchaft pflegt. 

Weit ſchlimmer it die Stleejeide (Cuscuta Epithymum Smith, 
bez. Trifolii Bab. and Gibson), welche die Klee: und Quzerne 


felder oftmals in jchredlicher Weile verwüjtet, daneben aber 
j (851) 


10 


uendel, Heidekraut, Ginjter, Thymian u. ſ. w. nicht verſchmäht. 
Dabei kann man die Pflanze an fich jogar Hübfch finden, die 
langen purpurroth angebauchten Stengel, welche mit ihren faben- 
fürmigen &ebilden ein artiges Netzwerk darftellen, und die glocken— 
fürmigen Blumenfronen, welche in Knäueln dichtgedrängt fiten, 
bieten immerhin ein eigenes Bild. 

Mit dem ftetig zurücgegangenen Flachsbau, defjen Hebung 
fi) ja neuerdings die Regierung wejentlich angelegen fein läßt, iſt 
auch die Flachsjeide etwas jeltener geworden, die grünlich-gelbe 
Stengel und mehr gelblich-weiße Blüthenkronen trägt. 

Könnten wir auch noc mehrere andere Arten namhaft 
machen, jo bleibt die Art und Weije, wie dieje Formen ihre 
Wirthe befallen, um den Lebensjaft ihnen abzuzapfen, ſich 
jchließlich doc, ziemlich gleich, wenn auch jeder Erdtheil feine 
ihm eigenthümflichen Formen hat. 

Die Keimung der Euscuta-Samen geht ziemlich jpät im Jahre 
vor fi), damit die Keimpflanze Gelegenheit finde, fich in der 
bereitö weiter vorgejchrittenen Vegetation durch Umjchlingen 
etwaiger in der Nähe befindlicher Stengel, Halme u. j. w. einem 
pafjenden Wirthe nähern zu fünnen. Fehlt ſolche Stüße, fo 
jtirbt nach Kerners Ausführungen die Keimpflauze gänzlich ab, 
und es ijt jedenfall ein jehr merkwürdiges Ereigniß, daß 
derjelbe Faden, der jofort Saugwurzeln entwidelt, wenn er ſich 
an eine lebendige Pflanze angelegt hat, in die feuchte Erde feine 
jolhe Saugorgane einzufchieben im ftande ift. Dabei fehlen 
dem SKeimling der Guscutaarten die Keimblätter, derjelbe lebt 
vielmehr bis zur Ausbildung der Hauftorien, welche ihm die 
Schatzkammer jeiner Wirthe jchranfenlos öffnen, von den in 
jeinem folbigen, bald verjchrumpfenden Ende aufgejpeicherten 
Nejerveitoffen. Sehr interejfant it e8 auch zu beobachten, wie 
geichieft die juchende und jchlingende „Seide todte Stüben ver: 
meidet, wie fie nur im Nothfalle, wenn lebende Pflanzentheile 


(852) 


11 

in der Nähe unerreichbar jind, ſich der erjteren bedient, um 
lebende Gewächje zu umgarnen. it diefes der jungen Cuscuta 
gelungen, hat fie feiten Fuß auf einem Wirthe gefaßt, jo löſt 
fie bald jedwede Verbindung mit dem Erdboden, um deſto 
eifriger mit ihren Spigen neue Opfer zu juchen, fie zu um— 
winden und zu umjtriden, bis ein unentwirrbare® Ganzes ent- 
ſteht. Da blüht denn die Pflanze und trägt taujendfältige 
Frucht, welche vom Winde weithin zerftreut wird und das 
Unkraut an ganz entfernten Stellen von Neuem keimen läßt. 

Vermögen wir nun auch nicht genaue Zahlen beizubringen, 
welche Unmafje von einzelnen Samenförnern eine einzige Seiden: 
pflanze hervorzubringen im jtande ift, jo lehrt doch der Augen— 
fchein, daß die Ziffer nicht gering it. Das Beiſpiel anderer 
Unfräuter zeigt auch, daß gerade derartige Pflanzen über ein 
ungeheure NReproduftionsvermögen verfügen und infolge der 
Kleinheit ihrer Samen durch den Wind auf weite Sireden 
hin verweht werden.! 

Die erjchredende Ueberhandnahme der Seidenpflanzen in 
den lebten Jahrzehnten, jchrieb Nobbe 1876, ijt unzweifelhaft 
zum guten Theile dem Saatgut zur Laſt zu legen. Die Mehr- 
zahl der im Handelswege erworbenen Kleewaren enthält die 
Samen der Schmaroger, oft in überrajchender Zahl. Unter 
336 von Nobbe darauf unterſuchten Rothklee- Proben erwiejen 
fit) damals 186 jeidejanenhaltig und nur 145 waren frei von 
diefen unliebjamen Beimengungen. Die größte Menge der ge: 
fundenen Euscutafamen betrug 107355 pro Silogramm, der 
Durchſchnitt 1499 Körner! Im Weißklee und jchwedischen Klee 
ilt die Verunreinigung etwas jeltener, obgleich in leßterem immer- 
bin noch bis zu 16000 Samen konſtatirt werden konnten. 

Gegen ſolche Unholde Hilft nur Vorfiht und vor allem 
die peinlichjte Sorgfalt bei der Auswahl des Saatgutes. Ta 


ferner der Seidenjame, um dem Unkraut möglichite Mittel zur 
(858) 


12 





Berbreitung an die Hand zu geben, jelbjt den Verdauungskanal 
der Thiere paffirt, ohne jeine Keimkraft zu verlieren, jo vermag 
man ſich vorzuftellen, wie ein von Seide befallenes Feld die 
Nachbarſchaft zu infiziren vermag. 

Neben den Euscuten ift die Gattung Cassytha von der 
Familie der lorbeerähnlichen hier zu erwähnen, die mit ihren 
ungefähr dreißig Arten hauptſächlich in Auftralien ihre Heimath 
hat, aber auch jonjt in mwärmeren Gegenden. Vertreter auf- 
weift, wie im tropijchen Afrika, auch auf den wejtindijchen 
Inſeln, in Merito und Brafilien vorfommt. Dabei ähnelt 
fie in ihrem ganzen Habitus, ihrer gejamten Erjcheinung unjeren 
Seidenformen in jo täujchender Weije, daß man geneigt iſt, fie 
für nahe Verwandte unjerer Cuscuta zu erklären, mit der fie 
in betreff der Nahrungsaufnahme volljtändig übereinjtimmt. 
Ob die Cassytha- Species freilid auch nur ähnliche Ber 
heerungen wie unjere Seidenformen anzurichten im ftande find, 
muß zunächjt dahingeftellt bleiben, da wir in dieſer Hinſicht 
zunächſt noch im Dunfeln tappen. Nur joviel fteht feit, dab 
in Neuholland zumeijt die Keulenbäume oder Casuarina-Species, 
weiche mit ihren gegliederten blattlofen Aeſten eine große Aehn- 
lichkeit mit hochgeſchoſſenen Schadhtelhalmen zeigen, und Die 
myrthenähnlichen Melaleucae von der Cassytha heimgejudt 
werden und zwar hauptſächlich in ihren Zweigen, während die 
Cuscuta fid) mehr an Kräuter hält und die Stengel mit ihrem 
Saftreihthum bevorzugt. 

Die zweite Reihe jchmarogender Blüthenpflanzen wird von 
Kräutern gebildet, die grüne Laubblätter tragen, und deren 
Same einen mit Samenlappen (im Gegenjag zu der Seide!) 
und Wurzeln ausgejtatteten Keimling enthält. An ſich chloro— 
phylihaltig, entnehmen jie zwar dem Boden einen Theil ihrer 
Nahrung Direkt, entziehen daneben aber auch durch bejondere 


Saugmwurzeln anderen Pflanzen gewijje Nähritoffe, freilich meiſt 
(854) 


13 
erſt in etwas vorgerüdterem Lebensalter. Zwei große Familien 
fommen hierbei in Betracht, nämlich Santalaceen und 
thaceen. 

Erjtere find in der deutjchen Heimath nur durd eine ſehr 
geringe Zahl einer Gattung vertreten, nämlich Thesium, das im 
Volke Bergflahs oder Verneinkraut Heißt, auch wohl nody 
andere Bezeichnungen führen mag. | 

Die Santelblütler umfafjen etwa zweihundert Arten, von 
denen etwa die Hälfte zu unjerer Schmarogergruppe gehört; 
die Heimath der Ordnung reicht von der warmen Zone. in ge⸗ 
mäßigte Gegenden hinein. 

In viel ſtärkerer Anzahl ſind dafür bei uns die Rhinan— 
thaceen oder Klappertopf-Gerwächje vertreten. Neben dent typi— 
jchen Klappertopf treffen wir da auf den Augentroft (Euphrasia), 
den Wachtelweizen mit jeinen buntgefärbten Hochblättern (Melam-ı 
pyrum), das Läuſekraut oder den Mooskönig (Pedicularis), 
und eine Anzahl weiterer Gattungen, die wie Tozzia und Trixago: 
nur dem Mittelmeergebiet angehören. 

Der eine Klappertopf tritt hauptjächlich auf Getreidefeldern 
auf und theilt fich mit einem großen Augentroſt in die Rolle, 
des Landmannes Ernte zu jchmälern; andere Verwandte diejer‘ 
Genera fiedeln ſich wohnlih auf Wiefen an und nähren fich' 
auf Gräjern, jo daß man im Volksmunde wohl auch dieje 
legteren Schmaroger direft als Milchdiebe bezeichnet. 

Als allen gemeinfames Merkmal kann man die Mafjen- 
baftigkeit hinftellen, mit der diefe Parafiten oder Halbſchmarotzer 
auftreten. Mag man an den Augentroft in der Wieſe denken, 
ftelle man fich) den Slappertopf auf Aeckern oder feuchten Wiefen 
vor, erinnere man ſich an die ſtets jcharenweile auftretenden 
Wachtelweizen- Arten mit ihrem bunten Ausjehen oder bewundere 
man die Läufefräuter an nafjen Stellen, ſtets fommt dem Be: 
Ichauer leicht der Eindrud, als ob diefe Pflanzen gewifjermaßen 


855) 


14 


ausgejäet jeien. Wenn nun auch jedes einzelne Individuum nur 
zum Theil von dem Safte anderer Pflanzen lebt oder auch nur 
die durch die Ausjcheidungen ihrer Duafi-Wirthe löslich ge: 
machten Bodenbejtandtheile fich in einer gewifjen Menge zuführt, 
jo vermag man doc den Schaden einzufehen, den dieſe ganze 
Sippichaft den anderen Gewächſen zufügt. Freilich im Vergleich 
mit der Cuscuta, welche ſich vollftändig mit ihren Wirthöleuten 
identifizirte und, vom Boden loßgelöft, fich gänzlich von den 
unfretwilligen Quartiergebern ernähren ließ, fann man es als 
bejcheiden bezeichnen, daß 3. B. die ausdauernden Arten der 
Läufefräuter meift an jeder der langen Wurzelfajern nur eine 
einzige Saugwarze entwideln. Mit dieſer Einzahl begnügen fich 
denn auch die Gruppengenofjen nicht, laſſen aber ihre Hauftorien 
durchgehends nicht weit in die Wirthspflanzen eindringen. Dieje 
mit volljtändig grünen Blättern verjehenen Gewächſe, welche jo 
gar nicht den Eindrud von Schmarogern hervorrufen, wurden 
dadurch ald Paraſiten entlarvt und erfannt, daß fie nach dem 
Verpflanzen gewöhnlich bald eingingen, da ja ihre Nährquelle 
fehlte. Hinzu fam der Umftand, daß bei Verjuchen in Töpfen 
aus dem Samen jo oft Keimlinge in gewöhnlicher Weile ent- 
widelt wurden, diejelben aber meist jchmell jtarben, weil fie eben 
feine Wirthöpflanzen zu ihrer Verfügung hatten. 

Die dritte Reihe jchmarogender Blüthenpflanzen ift nach 
den Ausführungen des Wiener Botaniker im Gegenja zu der 
aus zahlreichen grünbelaubten Santalaceen und Rhinanthaceen 
gebildeten zweiten Reihe wenig umfangreih. Die hierher 
gehörenden Arten — wir folgen wieder den Worten unfjeres 
Führers — unterjcheiden ſich von jenen der zweiten Reihe 
vorzüglich durch den Mangel an Chlorophyll und find durch— 
gehends Gewächje, die unterirdiich auf den Wurzeln von Bäumen 
und Sträuchern leben, zahlreiche, tiefe, in der Erde geborgene, 
dicht beichuppte, blüthenloje, ausdauernde Sprofjen entwideln, 


(856) 


15 
neben dieſen aber alljährlih auch vergängliche und blüthen- 
bejegte Stengel an das Licht emporjchieben, welche dort Früchle 
reifen und nach dem Ausfallen des Samen wieder abfterben. 

Als Repräjentant dieſer Gruppe diene die Schuppenmwurz 
(Lathraea Squamaria L.), die in feuchten Wäldern und Ge- 
büjchen hauptſächlich auf Hajelwurzeln jchmarogt, aber auch 
andere Zaubhölzer, wie Erlen, Pappeln, Hainbuchen u. |. w., 
ihren Zweden dienftbar macht. Die röthlichweiße oder hell. 
purpurne bis jchneeweiße Pflanze, die mit weißen Schuppen jtatt 
der Blätter befleidet ift, mit meijt tiefpurpurnen Blumen: 
fronen, fällt im März und April jo manchem Spaziergänger 
auf, zumal die in nidenden, dichten, einjeitwendigen Trauben 
ftehenden Blüthen etwas Ausländisches an fich Haben und fich 
durch die direft aus dem Erdboden tretenden Blüthenfiengel — 
die eigentliche, viel verzweigte Achſe bleibt im Erdreiche ſelbſt — 
in hohem Maße auffällig bemerkbar machen. Auch dadurch ift 
dieſes Gewächs merkwürdig und der Beachtung in hohem Maße 
werth, daß es mit feinen Blüthen thierijche Körper fängt, auf: 
löſt und verdaut. Die Schuppenwurz dürfte in unjeren heimath- 
lichen Gefilden die am frühejten fich entwidelnde Pflanze fein, 
welche den Thierfang ſyſtematiſch betreibt. Da fie nebenher 
noch jchmarogt, fann man fie als den Typus hinftellen, welcher 
in Deutjchland es am weitejten in der Kunſt gebracht hat, auf 
Anderer Koften zu leben. Um diefem Zwecke noch weiter fürder- 
ih zu fein, entwideln die einzelnen Stammftüde beim Xelter- 
werden denn auch bejondere Beimwurzeln oder Nebenjenker, welche 
ſich in benachbarte Theile des Wirthes einbohren, um jo den 
Saft des Quartiergeber® möglichſt bequem in ihr eigenes Ich 
hinüberleiten zu können. Man fennt nur vier Arten Schuppen- 
wurze, von denen die bereit erwähnte Europa und Aſien 
bewohnt, während zwei weitere im Orient bis nad) der Krim 
ihre Heimath haben, und eine lebte auf Weft- und Südeuropa 


(857) 


6 


beſchränkt ift. Dieje legte Form verdient deshalb hervorgehoben 
zu werden, weil fie ihre Saugwarzen bis zur Größe von Linfen 
ausbildet; derartig umfangreide Saugwarzen fennt man bei 
feinem anderen Gewächs, als bei diejer Lathraea clandestina L. 
Eine vierte Reihe der jchmarogenden Blüthenpflanzen läßt 
Kerner von chlorophylllojen Gewächſen bilden, deren Same einen 
formlojen Keimling ohne Samenlappen und ohne Wiürzelchen 
enthält. Der Same feimt auf der Erde, der Keimling wächſt 
als ein fadenförmiger Körper in den Boden, heftet ſich dort 
an die Wurzel einer Wirthspflanze an, drängt fich in dieje ein 
und verwächſt mit derfelben zu einem Knollenftode, aus welchem 
fi jpäter blüthentragende Stengel über die Erde erheben. 
Eine ganze Familie iſt hier zu nennen, die Orobanchaceen 
oder Braunjchupper, auch Sommerwurz-Arten genannt. Unſere 
Flora — denn exempla docent — beherbergt namentlich Ver: 
treter der Gattung Orobanche felbjt, die an den verjchiedenften 
Gewächſen ihr Schmarogerthum bethätigt, bejonder® aber die 
Schmetterlingsblüthler und Zabiaten bevorzugt.” Krautige, mehr: 
jährige Pflanzen jind als Wirthe in der Regel beliebt, Holz 
pflanzen nur ausnahmsweiſe. Sind viele Orobandhen und 
Berwandte auf bejtimmte Nährpflanzen oder gar Pflanzenformen 
bejchränft, vermögen fie nur bei diefen befonderen Wirthe ihren 
PBarafitismus zu entfalten, und gehen fie zu Grunde, wenn es 
dem Keimling nicht gelingt, fi) der Wurzel eines jolchen zu 
bemächtigen, jo fünnen andere Sommerwurz:Arten wieder auf 
den verjchiedenjten Pflanzenwurzeln zur Entwidelung gelangen. 
v. Bod vermochte 3.8. die Orobanche minor als auf adtund- 
fünfzig verfchiedenen Gewächſen jchmarogend darzuftellen, und 
für Orobanche ramosa, den Hanfwürger und Qabaksfeind, 
gelang es ihm immerhin noch, fünfunddreißig Wirthspflanzen 
aufzuzählen. | 
Die Blüthenfarbe der Drobanchen ift eine recht verjchiedene; 


(858) 


17 





wir finden ganz dunkle Töne, die an tiefbraun und an den 
Amethyft erinnern, andere find jo recht fleifchfarben, noch andere 
rein wachsgelb; dazwifchen ließe ſich noch eine ganze Skala ein- 
ichieben mit allerhand Uebergängen. So mannigfaltig dieſe 
Blüthenfarbe ift, jo vielgeftaltig ift aucd die äußere Form der 
Braunfchupper, wenn auch im großen und ganzen Blüthenbau 
wie die Entwidelung jelbjt übereinftimmen. Die morphologijchen 
Merkmale vartiren in ſtarkem Maßſtabe, aber im einzelnen find 
die Abweichungen oft äußert gering. So kann es fommen, daß 
die eine botanifche Autorität die Zahl der befannten Orobanche— 
Species auf hundertachtzig Arten angiebt, während der andere 
Gelehrte mit der Hälfte auszufommen glaubt und den Reſt auf 
Barietäten herabdrüdt. Das jüdliche Europa und die Gegenden 
nah dem Orient zu weijen die ſtärkſte Entfaltung diejer inter: 
ejianten Gattung auf, deren einer nordamerifanifcher Vetter im 
Gegenjag zu den enditändigen Aehren unjerer Arten nur mit 
einer einzigen Blüthe am Ende des Stengeld prangt. Die 
Größe, zu welcher dieje Schmaroger gedeihen können, variirt in 
ähnlicher Weife, wie die Species jelbjit. Erreichen manche 
Sommerwurz.Arten, wobei wir die jo nahe verwandten und oft: 
mals als eine Gattung bezeichneten Orobanche und Phelipaea 
gemeinfam betrachten, oftmals noch nicht einmal die geringe 
Höhe von einem halben Fuß, jo fennen wir namentlich einige 
in Nordafrifa einheimiiche Arten, die im ausgewachjenen Zu— 
ftande ſich wirflih einen halben Meter über den Erdboden 
erheben; in betreff des Umfanges können wir jolche finden, die 
es an Schlanfheit mit einem hölzernen Häfelhafen, wie er zu 
Wollarbeiten Verwendung findet, aufnehmen, während jene 
Nordafrifaner fait armdid werden. In der Regel find Die 
Braunjchupper einjtengelig, doch fommen auch Veräjtelungen vor, 

Als eine Neuheit gegenüber den feither betrachteten Schmaroger: 


Bilanzen müfjen wir bei den Orobanchen des häufig auftretenden 
Sammlung. N. 5. XI. 312. 2 (859) 


15 


Wohlgeruches gedenken. Verfaſſer erinnert ſich namentlid) am 
Siteiner Klo — in Baden bei Freiburg gelegen — zuerft durch 
den Duft, welchen eine Anzahl von Braunjchuppern dort aus 
jtrömten, auf diefe Pflanzen aufmerfjam geworden zu fein, während 
die Erfurfion hauptjächlich den jeltenen Orchideen jenes Gebietes 
galt. Leider liegen noch feine hinreichenden Nachrichten darüber 
vor, ob fich diefer Geruch bei der Mehrzahl der Arten findet, 
oder auf beftimmte Vertreter beſchränkt ift. Die Formen mit 
ziemlich lebhaften Farben oder gar auffälligen Tönen hätten 
wohl nicht nothwendig, noch bejondere biologiſche Eigenthüm: 
lichkeiten zu entwideln, um Inſektenbeſuch zur Befruchtung ihrer 
Blüthen und Erhaltung ihres Geſchlechtes herbeizuziehen ; 
anders fteht es in dieſer Hinficht mit den gelblichbraunen Ge: 
jellen, welche nur zu leicht an einen vertrodneten Stengel 
erinnern. So iſt e8 gar wohl möglich), daß dieſen Arten, 
die neben ihren offenen rachenförmigen Blüthen über Feine 
Eigenschaft verfügen, welche den zur Befruchtung nothwendigen 
Beſuch von allerlei friechendem und fliegendem Gethier herbei: 
zuführen geeignet ift, die Gabe des Duftens verliehen jei 
Sehr oft jucht die Natur die Nachtheile, welche fich für Blüthen 
mit unfcheinbarem Ausjehen, ungünftiger Stellung oder theo— 
retiſch unzweckmäßiger Aufblühezeit für die Befruchtung ergeben, 
durch andere PVortheile wieder wettzumachen. Das Beilchen, 
welches im Verborgenen bfühet, iſt ja ein Allen wohlbefanntes 
vecht typiſches Beilpiel; die Mondviofe riecht des Abends ſtark 
nelfenartig, um den Schmetterlingen in der Dämmerung oder 
der Dunkelheit den Weg zu den hHonigtragenden Blüthen bejjer 
zeigen zu können, 

Auch auf eine Art von Mimifry wollen wir Hinweijen, 
welche zwijchen den Orobandyen und einer Neihe des Chlorophylls 
entbehrender Orchideen bejteht. Auf welcher Seite die Nach— 
ahmung liegt, und welche Abficht diefer Anpafjung zu Grunde 


60) 


2. 


liegt, hat die junge, bisher noch wenig fortgejchrittene biologijche 
Wiſſenſchaft noch nicht zu ergründen vermocht. Thatjache iſt aber, 
daß zum Beiſpiel das Vogelneſt (Neottia nidusavis Rich.) 
mit jeinem einer vertrodneten Pflanze ähnelnden Ausſehen oft- 
mal3 mit einer Orobanche verwechjelt worden ijt, was bei der 
merkwürdig gleichen Tracht auch nicht wundernehmen kann. 
Ebenjo leuchtet ein, daß die Mär, das Vogelneſt jei ebenjv 
wie die anderen Orchideen ohne die grünen Blätter — id) 
nenne noch die Storallenwur; (Coralliorrhiza innata R. Br.), 
den blattlojen Widerbart (Epipogon aphyllus Sw.) und das 
prächtige violette Limodorum abortivum Tourn., das in. Nord: 
deutjchland fein Fortfommen mehr hat — zu den Schmarogern 
zu zählen, in derjelben Mimikry ihren Uriprung Hat. 

Als weitere Angehörige diejer Reihe haben wir es mit 
den Balanophoraceen oder Kolbenjchoijern zu thun, welche haupt: 
Jächlich die Urmwälder der Yequatorialzone bewohnen, aber auch) 
in Europa einen Vertreter zeigen, den pilzähnlichen Maltapilz, 
der im Mittelmeergebiet eine gemwifje Rolle jpielt. Diejes in 
alter Zeit als Heilmittel hochgeichägte Cynomorium, auch Hunde: 
folben oder Hundsruthe genannt, liebt den Meeresitrand, Die 
feuchte Luft und den falzgejchwängerten Gijcht, der vom Meere 
über die Strandflora reichlich Hinüberjprigt. Der mit eifürmig 
zugeipißten, ziegeldachartig liegenden Schuppen Dicht bejebte, 
abenteuerlich ausjehende Kolben läßt bei der geringiten Wer: 
letzung einen blutrothen Saft austreten, welcher beim Eintrocknen 
einen tieffatten Ton annimmt, jo daß eine gemwifje Aehnlichkeit 
mit friſchem Blute und eingetrodnetem Blute nicht von der 
Hand zu weiſen if. Da man früher vielfacdy Gleiches mit 
Gleichem zu heilen gedachte, galt denn der Kolben für ein 
fichere8 Mittel gegen Blutungen, die fofort nad) dem Auf— 
bringen eines Stüdes des Kolbend oder auch Bededung der 
MWundflähe mit dem getrodneten Safte jtehen jollten; der 


2* 861) 


20 





Name Maltejer- Schwamm war denn in weiten Streifen des Volkes 
befannt, wobei die Bezeichnung Maltejer wohl daher ftammte, daß 
diesmal Malta ein Hauptlieferungspunft dieſer weithin ver: 
triebenen Handel3ware war. An den Gejtaden des Mittelmeeres 
jo fich der Gebrauch des heimathlichen Heilmitteld gegen Blut- 
flüffe, Mundfäule und Durchfälle noch heutigen Tages bewähren! 

Sonft haben wir es bei den Balanophoreen mit recht ver: 
Ichieden gejtaltigen Typen zu thun, welche ſich mit ihren vierzig 
Arten etwa auf 15 Gattungen vertheilen, von denen wir nod 
einige in den Kreis unferer Betrachtung ziehen wollen. 

Da ift zum Beifpiel das Genus Langsdorffia, welches mit 
drei Arten im tropijchen Amerika zu Haufe ift, dort aber die 
fühleren Regionen bewohnt und Die heißen Striche meibdet. 
Die häufigſte Specie® (L. hypogaea oder die unterirdifche) 
zeigt namentlich als eine Bejonderheit in ihrem Innern eine 
Reihe von Gängen, die mit Wachs angefüllt find. Die troden 
gewordenen Strünfe diejer wunderbaren Pflanze werden deshalb 
gefammelt, um in ihrem Naturzuftand eine Verwendung als 
Kerzen zu finden; freilich ift e8 vortheilhafter, da Wachs aus 
den Schmarogern auszujchmelzen und erft dann Beleuchtungs: 
artifel daraus herzujtellen. Aeußerlich ijt die Langsdorffia mit 
einem mehr oder minder ſtark auftretenden Filz bededt, und 
die jtrunfigen, bisweilen jchlangenförmigen Aeſte dieſer Bara- 
jiten jollen vor der Zeit, wo die Blüthenkolben ſich entwideln, 
nach der Ausſage von Reiſenden am das mit flaumiger Haut 
überzogene Geweihe eines Rehes erinnern. Als Wirth der 
Langsdorffia werden Palmen und TFeigenbäume angegeben. 
Der Blüthenſtand jelbit iſt mit dachziegelfürmigen Schuppen 
umgeben, die wachsgelb bis orange auftreten, auch bisweilen 
röthlich angehaucht find, jo dat eine gewiſſe Aehnlichkeit mit 
Smmortellen entjteht, namentlid) wenn man die großblüthigen 
Formen vom Kap der guten Hoffnung im Gedächtniß hat. 


(862) 


21 

Weit feltener tritt in eben jenen Gegenden die Gattung 
Seybalium auf, welche an Stelle des jchlangenfüörmig verzweigten 
Strunkes eine klumpige, fnollige, öfter8 unregelmäßig gelappte 
Verbindung mit der Wirthspflanze befigt, wie Ludwig fich aus— 
drüdt. Bereits die Bezeichnung fungiforme der einen Art zeigt zur 
Genüge, daß die Geftaltung jehr an Die eines Pilzes erinnert, 
wobei die eigentliche Hauptmafje der Pflanze bald rundlich, bald 
icheibenförmig auftritt, die Gejtalt einer Fauſt nachahmt oder 
jonftige Körper vortäufcht. Fruchtblüthen und Staubblüthen 
treten an verjchiedenen Blüthenjtänden zu Tage, und dag Ganze 
hat zur Zeit des Aufblühens nad) Kerner eine unleugbare 
Aehnlichkeit mit dem Blüthenjtande einer in Frucht über- 
gegangenen Artiihode und in einem noch jpäteren Stadium 
mit dem eines Hutpilzes. 

Ebenfalls ein Bürger Amerikas ift die Gattung Helosis, 
deren kolbige, langgeftielte, zapfenförmige Blüthenftände fich 
jenfredht von den Ausläufern erheben, die durch erbjengroße 
Knollen mit den Wirthöpflanzen verwachſen. Man fünnte eine 
gewiffe Aehnlichkeit zwiſchen diefem Wusläuferneg und den 
vielfach) verzweigten Grundachjen der früher bejchriebenen Lathraea 
oder Schuppenwurz dem Aeußeren nach herausfinden. 

Als Bejonderheit der Helosis mag mitgetheilt werden, daß 
bei diejer Pflanze der fnollige Bau, von dem die Ausläufer 
ihren Ausgang nehmen, entweder jelbjt wieder austreibt und 
neue Kolben bildet, oder dieſe Arbeit einem anderen Kolben 
der unterirdiichen Netze überträgt, während bei den anderen 
Balanophoreen die einzelnen Stöde nach dem Fruftifizirungs- 
Prozeß zu Grunde zu gehen pflegen. Die blühenden Kolben 
find auch hier wieder blut- oder purpurroth, wie denn dieje 
Farben bei unjeren Kolbenjchoffern eine jtarfe Verbreitung auf 
zuweiſen haben. 


Helosis dient in ihrem Baterlande vielfach als Adſtringens. 
(868 ) 


22 





Corynaea mag fid) hier anreihen, die von der vorigen 
Gattung namentlich durch den Mangel jedweder Ausläufer unter: 
jchieden ijt und die Anden Südamerikas, Peru, Ecuador, wie 
Neugranada bewohnt. 

Bon der neuen Welt führt uns die eigentlihe Gattung 
Balanophora wieder in die alte zurüd, wo Vertreter dieſes 
Genus im Himalaja - Oftindien heimiſch find, Java, Ceylon, 
Borneo, die Philippinen u. ſ. w. bewohnen, und fid) bis auf die 
Gomoren auf der Oſtküſte Afrifas Hinziehen, wo unſer be: 
rühmter und leider jo früh verftorbener Afrifaforjcher Hildebrandt 
die Balanophora Hildebrandtii entdedte, die jeinen Namen un: 
jterblich gemacht hat. Ein anderer Zweig ift in Neuholland 
heimifch, wo Eucalyptus wie Feigenbäume die Wirthöpflanzen 
abgeben, während im Himalaja Eichen, Ahorne und Azaleen 
unter diefen Schmaroßern zu leiden Haben. Die Reiſenden, 
welche die erjten Balanophoren auffanden, konnten nicht genug 
Wunderbares von diejen Gewächſen erzählen, die Bilzen täujchend 
ähnlich fehen, mit ihnen gejellig zufammenwacdjen, ebenjo 
fleiihig find und gleicherweije des Chlorophylls entbehren; find 
die Hutpilze vielfach bunt gefärbt und jchillern fie in allen 
möglichen Farben, jo thun es ihnen die Balanophoren in diejer 
Hinfiht nach und ftehen mit ihren rothbraunen, fleiichfarbigen, 
purpurnen wie goldgelben Tönen nicht Hinter ihnen zurüd. 
So jchreibt der befannte Entdedungsreijende und Schilderer der 
javanischen Natur, Junghuhn: Da ftanden fie da, die räthjel: 
haften Gejchöpfe, blüthen- und blattlos, in dem fich die Bildung 
der Spiralgefäße in einem balanophoriichen Träger mit der 
Fruktifikation unvolllommener Hyphompceten vereinigt. 

Man muß aber diefe abenteuerlichen Gejtalten in einem 
botanischen Muſeum gejehen haben, wie der Stnollenftod bis: 
weilen zu der Größe eines Menjchenkopfes anjchwillt, dann 


wieder eher einem Korallenjtod ähnelt, um in einem dritten Falle 
(864 


23 

einem aufgeblajenen Schirm zu gleichen, dejien Windungen umd 
alten fich der Größe entiprechend vertiefen bezw. heraustreten. 
Aus diefen Bildungen Heraus treten dann die Hutpilzähnlichen 
Kolben hervor, welche, ähnlich wie die Langsdorffia, vielfad) 
eine wachsähnliche, zähe Mafje enthalten; dieje leßtere iſt im 
der auf Java äußert verbreiteten B. elongata reichlich enthalten, 
und das majjenhafte Vorkommen dieſes Schmarogerd läßt Die 
Leute aus feinem Einjammeln ein Gewerbe machen. Bambus- 
jtäbe mit dent gewonnenen Wachs bejtrichen oder in heiß ge- 
machtes und flüßige® Balanophorenwachs eingetaucht, ſollen 
vortrefflihe Tadeln abgeben, denen der Wind jo leicht nichts 
anzubaben vermag. 

Mit der bereitö beiprochenen Helosis verwandt ftellt ich. 
ung die Rhopalocnemis phalloides dar, welche von Java wie 
dem öſtlichen Himalaja bisher befannt ijt und auf Feigen, 
Eichen u. ſ. w. ihre Schmarogerfünfte treibt, der geographifchen 
Berbreitung wegen aber hier folgen mag. Der Knollenftod 
dieſes Gewächſes giebt an Größe einem Menjchenjchädel oft 
nicht viel nach und gewährt einen recht grotesfen Anblid, wenn 
aus diejem Klumpen die Blüthenzapfen in der Länge von etwa 
30 cm und der Dide von beiläufig 5—6 cm hervorbrechen. 
Da der Grundſtock fleiſchig ift und gelblich: bis röthlichbraun 
ausſchaut, jo heben fich dieje mehr Hellbraunen Kolben gut von 
dem Untergrunde ab. 

Welch' eine Fülle von Nahrungsjtoff dazu gehört, um 
derartig umfangreiche Gebilde, wie wir fie in den Balanophoren 
und Rhopalocnemis fennen lernten, zu ernähren und zu erhalten, 
fann man fich vorjtellen, und daher auch begreifen, daß dieſe 
Schmaroger nur auf den Wurzeln ftarfer Bäume zu leben 
vermögen oder wenigitens ſolcher Stämme, in denen ein jtarfer 
Saftſtrom zirkulirt. 

Bermochten wir bei den bisher betrachteten Parafiten jtet3 


(865) 


24 


mit Sicherheit feitzuitellen, wo ber Wirth anfing und der 
Schmaroger endete, fonnten wir in allen Fällen verfolgen, wo 
das auffigende Gewächs fich angeflammert oder feine Saugwarzen 
in den Wirth verjenkt hatte, jo tritt uns nun eine Untergruppe der 
Balanophoreen entgegen, bei der ung dieſes Merkmal vollftändig 
in Stich läßt. Die mit Sicherheit nocd dem Holze der Nähr- 
wurzel angehörenden Zellen bejigen z. B. punftirte Wandungen. 
Die unzweifelhaft im jchmarogenden Knollenftocde entjtandenen 
Bündel zeigen dagegen Bellen, welche nebig-verdidt find und 
bei geringer Vergrößerung wie quergeftrichelt ausjehen. Dort 
aber, wo dieſe punfktirten und neßig-verdidten Zellen zujammen- 
fommen, find nad) Kerner auch Zellen eingejchaltet, welche 
weder mit den punftirten der Nährwurzel, noch mit jenen 
nebig-verdidten der Schmaroger übereinjtimmen, jondern eine 
mittlere Form zeigen. In älteren Knollenſtücken namentlich 
find die zellign Elemente der beiden dajelbjt verbundenen 
Pflanzen oftmals derart verjchlungen und durchdrungen, daß es 
unmöglich wird, eine Grenze zwijchen beiden anzugeben. 

Dieje Untergruppe wird aus Lophophytum, Ombrophytum 
und Lathrophytum gebildet, welche jämtlih im centralen 
Umerifa leben. Namentlid) Lophophytum mirabile fommt 
jtellenweife derart häufig vor, daß der ganze Boden von diejen 
Schmarogern im Urwalde eingenommen zu fein jcheint, welcher 
in der Größe von Form einer Fauſt bis zu einem Mannestopf 
variirt. Die Blüthen figen in getrennt» rundlichen Köpfchen 
einer fleiſchigen Spindelart von jchwärzlich » brauner Farbe; 
im Verlauf des Aufblühens ſieht man dann die dottergelben bis 
orangefarbenen Fruchtblüthen und die Staubblüthen in blaß- 
gelber Farbe. Mimojen bilden durchgehende die Wirthspflanzen. 

Eine andere Art von Lophophytum überbietet die vorige 
Wunderblume in Hinficht auf die Farbenpracht noch bedeutend ; 
bei diefem Lophophytum Leandri, das in Brafilien feine Hei- 

(#66) 


25 


math hat, finden wir eine blaß-violette röthliche Spindel, etwa 
roth.gelblihe Dedichuppen, gelbe Fruchtknoten, rothe Griffel 
und weiße Narben. Da diefe Töne nun jelten rein auftreten, 
ſondern jtetig etwas variiren und gemischt erjcheinen, vermag 
man ſich ein Bild von der Buntheit dieſes Gewächjes zu machen. 

Wie in unferem Baterlande jo manche Blüthen oder jonjtige 
Theile von Pflanzen infolge ihre wunderbaren Ausjehens in 
den Geruch von Heilfamfeit gefommen find und jelbft in unjerer, 
jcheinbar jo aufgeflärten Zeit noch mannigfaltige Verwerthung 
im Bolfe finden, jo gilt auch von den abenteuerlichen Geftalten 
der Lophophytum-Arten jo manche Sage und jo mancher Glaube. 
Die einen Reifenden berichten uns, daß der heimliche Genuß 
von blühenden Exemplaren dem Betreffenden die Liebe jeiner 
Schönen unfehlbar gewänne, andere Forſcher wollen vernommen 
haben, daß diejes Verzehren noch viel weitergehende Fähigkeiten 
verleihe, daß gerade die Eigenschaften, welche diefem wilden 
oder Nomadenvolfe am werthvollften find, als Gewandtheit und 
Glück, Kraft und Ausdauer beim Jagen wie auf dem Kriegs— 
pfad dadurch zu erwerben jeien. 

Könnten wir auch noch manche Verwandte dieſes Lopho- 
phytum bier anreihen, welche die neue Welt bevölfern, jo wollen 
wir uns doc nun nach dem dunklen Erdtheil wenden, welcher 
in Bezug auf diefe Schmaroger bisher eine recht Flägliche Aus— 
beute geliefert hat. Aber in Bezug auf Merkwürdigfeit kann 
es die alte Welt mit Amerifa und feinen Schäßen wohl auf: 
nehmen, was die Barafiten unſeres Schlages anlangt. Bereits 
die Bezeichnung Filchleichnam deutet auf ein etwas jonderbares 
Gewächs Hin, das man nad) einen Synonym aud) Fleiſchpflanze 
nennt. Der Name ward diefer Sarcophyte, weil fie nad) faulen 
Fiſchen riecht, jonft aber fieht fie einer von der Wurzel empor: 
gewachjenen Weintraube mit warzigen Beeren, auch wohl der 


allgemein befannten Fruchtſtaude des in Gärten viel gezogenen 
(867) 


26 


Rieinus ähnlich, nur daß Hier wieder die rothe Farbe die bei 
den Balanophoreen jo gewöhnliche Rolle jpielt. Mimofen, be- 
fonders Afazien, geben die Wirthspflangen für die Sarcophyten 
wie zwei andere Schmaroßer im Kaplande ab. Bemerkenswerth 
für dieſes Ungethüm ift, daß fich die Achſe feines Blüthenſtandes 
in die, wiederholt getheilte fleiſchige Aeſte auflöft, was nad 
Kerner Ausführungen bei feiner anderen Ungehörigen der 
Gruppe der Balanophoreen der Fall ift. 

Man fieht immer wieder, wie jo manches diejer Gewächſe 
bei aller Uebereinftimmung in morphologijcher und biologijcher 
Beziehung mit jeinen Verwandten doc immerhin noch einzelne 
Befonderheiten entwidelt, wodurd; das Studium diejer inter: 
ejfanten Gruppe tet? von neuem jangefacht wird. Weshalb 
aber diejer jogenannte Filchleichnam, um den paradoren Namen 
noch einmal zu wiederholen, gerade Aeſte oder Zweige bildet 
und warum dieſe Erjcheinung jonjt bei diefen Schmarogern 
vermißt wird, darüber fehlt biß heute noch jeder Fingerzeig, ja 
auch nur jede VBermuthung. 

Das nämliche Südafrifa bewohnen zwei weitere Para: 
fiten (Hydnora africana und triceps), welche im fernen 
Brafilien einen Better aufzuweifen haben, und fich ebenfalls 
durch einen unangenehmen Aasgeruch bemerklich machen. Die 
Blüthenknofpen zeigen anfangs eine Kugelgejtalt, um dann all- 
mählich fich derart auszuwachſen, daß man glaubt, eine Rieſen— 
feige oder eine ungefüge Keule vor fich zu Haben. Da kein 
Dedblatt, feine Dedjchuppe oder ein irgendwie ähnliches Ge— 
bilde zu jehen ijt, wird dieſer Eindrud noch weſentlich erhöht. 

Bon diejer vierten Reihe jchmarogender Blüthenpflanzen 
fommen wir zu den Rafflefiaceen, welche — um ung wieder 
an Kerner anzulehnen — ſich in ihrem allgemeinen Anjehen, ſowie 
auch durch den Mangel an Chlorophyll und den ungegliederten, 


nur aus Zellen bejtehenden Keimling an die Balanophoreen und 
(868) 


27 
Hydnoreen anschließen, in früherer Zeit auch mit ihmen unter 
dem Namen WRhizantheen zujammengefaßt wurden, aber mit 
Rückſicht auf ihren eigenthümlichen Blüthen- und Fruchtbau jetzt 
als eine bejondere Familie betrachtet werben. 

Bei den Rafflefiaceen bildet der Keimling unter der Rinde 
einen Hohlcylinder, der den Holzkörper der Wurzel oder den 
Stamm der Wirthöpflanze umwuchert, ohne fnollenförmige 
Bildungen Hervorzubringen, wie wir fie bei den Balanophoreen 
wiederholt Gelegenheit zu jchildern Hatten. Die Rinde der 
Wirthspflanze wird jtet3 nur da zerjtört, wo fie der Keimling 
beim Eindringen durchbohrt Hat, oder dort, wo in jpäterer Zeit 
die Blüthen bervorgebrochen find. 

Eine Anzahl der Rafflefien oder Riejenblumen — auch 
Wunderblumen wäre recht geeignet — jtehen in einem intimen 
Berhältniß zu den Elephanten, weldye namentlich ıhre Weiter: 
verbreitung und das Ausjtreuen des Samens bejorgen. Das 
Vorkommen mancher Rafflefien kann man deshalb ſtets mit 
Standorten oder Lieblingspfaden dieſer Dickhäuter in Verbin: 
dung bringen, welche die Früchte diefer Schmaroger mit ihren 
folofjalen Füßen zeritampfen und Die in eine Art breiiger 
Fruchtmaſſe eingebetteten Samen von ziemlich Feiner Geftalt 
weiter befördern. 

Hafteten dieje Vertreter am Boden und jchmarogten haupt: 
fählih auf Wurzeln von Cissus u. j. w., jo zeigen andere 
Arten einen Zug in die Höhe, fie bevorzugen Baumziveige und 
Iuftige Lianen, weshalb fie Beerenfrüchte ausbilden, die von 
Affen oder jonftigem Gethier verjpeift und vertragen werden, da 
fie den Darmfanal ftetS ohne jeden Schaden paffiren. Eine 
dritte Gruppe endlich zeitigt klebrige Samen, um mit Hülfe 
diefer zähflüjfigen Maſſe ſich an ein vorbeiftreifendes Thier 
baften zu fünnen und jo im ftande zu fein, für ihre Weiter: 
verbreitung zu jorgen. 

(869) 


28 

Bleiben wir einmal zunächjt bei der erjten Gruppe der 
Rafflefiaceen, jo finden wir in ihr die größte Blüthe, welche 
bisher überhaupt entdedt ift und in ihrem natürlichen Stand- 
orte einen geradezu übermwältigenden Eindrud hervorrufen muß. 
Die auf Sumatra wachjende Rafflesia Arnoldi bildet eine 
Blüthe aus, welche 90 cm bis 1m im Durchmefjer aufweiit, 
die Kleinigkeit von etwa 5 bis 8 kg wiegt und gegen 4 Liter Wafjer 
in jich aufzunehmen im ftande ift. Der Entdeder Arnold giebt 
eine höchſt eingehende Bejchreibung diejes Naturwunders, welche 
man zuerjt als reichlich übertrieben anſah, bis andere Forjchungs- 
reijende ihren Inhalt vollauf bejtätigten. Dieſe Rielenblume 
— man findet fie in botanischen Mufeen wohl täufchend in 
Wachs nachgemacht — gleicht vor dem Entfalten ihrer Blüthe 
etwa einem ungeheuren Weißkohlkopf, um nad) dem Aufblühen 
eine fleiſchrothe Farbe anzunehmen, die allmählich in einen 
Ihwarzbraunen Ton übergeht. Iſt der Anblick diejer, einem 
Niejenvergißmeinniht in der Form nicht unähnlichen Blüthe, 
großartig, jo werden die Geruchönerven in gleicher Weile wie 
die Sehnerven jtrapazirt, denn einen ähnlichen Yasgeruch ſoll 
man faum fennen. Freilich hat diejer Duft das Gute, daß die 
Beitäubungs-Vermittler mit unfehlbarer Sicherheit herbeigezogen 
werden; ob aber diejelben — was für Arten dafür in Betracht 
fommen, jcheint noch nicht fejtgejtellt zu jein — über ein 
derart jchlechte8 Geruchsvermögen verfügen, daß ein jolcher 
Aufwand von Odeur nothwendig if, mag dahingeftellt bleiben. 
Wird doch jogar berichtet, die Fliegen ließen ſich von dem 
Höllengejtant beeinfluffen, glaubten ein verweſendes Stüd 
Fleiſch vor ſich zu Haben und legten ihre Eier in all’ die 
Blüthenpracht und den Greuelgeitant! Si non & vero, & ben 
trovato. 

Vier andere NRafflefien fennt man noch von den Inſeln 
des indischen Dceans, doch fommt an Größe feine der Arnoldi 


(870) 


29 


glei, wenn auch zum Beiſpiel die Rafflesia Padma immerhin 
noch Blüthen von reichlich '/s m Durchmefjer entfaltet. 

Im Gegenjah zu diefen Rieſen im Pflanzenreiche oder 
richtiger Blüthenreiche find die Blüthen von Apodanthes und 
Pilostyles, welche wieder Angehörige des tropijchen Amerikas 
find, durchgehende Hein, und Kerner vergleicht fie mit der 
Größe der Flieder, Jasmin: oder Wintergrün-Blüthen. 

Der Keimling erzeugt bei diefen Gewächſen unter der 
Rinde feinfädige einfache oder verzweigte, ſich auch zuweilen 
neßförmig verbindende Wegetationskörper, welche mit den 
Moycelien der Hutpilze die größte AUehnlichkeit haben. Bei 
dem erjten Untreffen dieſer Bildungen glaubte man es denn 
auch mit echten Pilzen zu thun zu haben, bis fich jpäter der 
Irrthum herausjtellte. 

Diefe Reihe unſerer Schmaroger führt und denn aud) 
wieder einmal in unjeren Heimathserdtheil, wenn der Hypocift 
(Cytinus Hypoecistis), auch nur jeinen füdlichjten Gürtel, jo 
weit das mittelländijche Florengebiet in Frage fommt, bewohnt. 

Während das Sonnenröglein (Helianthemum) im Norden 
Europas faum eine Rolle jpielt, und mit wenigen Arten mehr 
ein erbärmliches Dafein friftet, entfaltet fich in der Mittelmeer» 
Flora die ganze Ueppigfeit diejes Gejchlecht, die bei ung faum 
einmal 30 cm Höhe überjchreitenden Arten weichen Ber: 
wandten, die impojante Büſche bilden und in einer Art die 
Wappenblume Spaniens lieferten. Dieje Ciſtenroſen bilden die 
Wirthspflanzen des Hypociſts, der fich namentlich dort recht zahl» 
reich entwidelt, wo die Wurzeln der Helianthema und Cisti 
nur ſchwach unter Flugſand verborgen find oder ganz bloß 
liegen. 

Als eine jonft ziemlich jeltene Yarbenzufammenjtellung im 
Pflanzenreiche, wenn wir von den Früchten, wie den Aepfeln 


beifpielöweife, oder einzelnen Fällen wie den purpurwolligen 
(871) 


30 

Staubfäden mit den gelben Blumentronen jo mander Königs 
ferzen u. ſ. mw. abjehen wollen, treffen wir bei dem Cytinus 
jcharlachrothe jchuppenartige Dedblätter und gelbe Blüthen, wobei 
dus Gelb im frijchen Zuftande, namentlich im Beginn des Blüthen: 
ſtadiums, noch recht fichtbar ift, während Herbar-Eremplare nur 
jtet3 einen dunfelrotden Ton erfennen laſſen. Ein Ertraft aus 
diefem Schmaroger dient an den Gejtaden des mittelländischen 
Meeres von Alters her der Medicin, der Saft ſchmeckt jänerlich, 
herb, etwas zufammenziehend, doch jcheint ihm troß feines noch 
heutigentages vielfachen Gebrauches fein bejonderes Heilvermögen 
innezumwohnen; die betreffenden Schriftiteller gehen wenigitens 
über allgemeine Redensarten nicht viel heraus, während in der 
Regel eine ganze Reihe von Krankheiten und Gebrechen bei 
derlei Bolfsheilmitteln aufgezählt zu werden pflegt. 

Eine befjere Verwendung finden ficher die jung hervor: 
iprofjenden Pflanzen, wenn fie wie Spargel zubereitet, verjpeijt 
werden, eine Notiz, die fi in Hermann Karjtens Flora findet. 

Die Gattung Cytinus befist noch eine Verwandte am 
Kap der guten Hoffnung und zwei weitere Arten in Merifo, 
was der Vollftändigfeit halber hier noch mitgetheilt ſei, wobei 
natürlich andere Wirthspflanzen als unfere Eijtrojen in Frage 
kommen. Bejondere Abweichungen Iafjen ſich von diejen Ge: 
wächlen nicht beibringen. 

Die jehste und zugleich legte Reihe der jchmarogenden 
Blüthenpflanzen umfaßt Uebergewächle von bujchigem Ausfehen 
mit vielgabelig verzweigten Weiten, grüner Rinde, grünen 
Blättern und beerenartigen Früchten, deren große Samen un- 
mittelbar auf den Weiten und Zweigen jener Bäume feimen, 
welche ihnen als Wirthspflanzen einen Theil der Nahrung ab» 
treten müjjen. 

Dieje Parafitengruppe entnimmt dem Wirthe im Gegenjage 
zu den früher beiprochenen Reihen nur die rohe, noch nicht 


(872) 


3l 





affimilirte Nahrung; jie enthalten in ihren Hauftorien nur 
Xylemelemente zur Leitung der Mineralftoffe, während bisher 
jtet8 auch Siebröhren zur Fortichaffung der Ajfimilate in den 
Sangwarzen vorhanden waren. 

Hier fommen wir denn zu dem Schmaroßer, welcher wohl 
unferen Leſern am meijten befannt fein dürfte, zu der Miftel, 
dem heiligen Kreuzholz oder wie ſonſt die landläufigen Be: 
nennungen diejer weitverbreiteten Pflanze heißen mögen. 

Man fennt etwa dreißig Arten diefer Gattung, von denen 
freilich nur die weiße Mijtel in Deutfchland vorfommt. Als 
Eigenthümlichkeit jei hervorgehoben, daß man eine Mijtelart 
jogar auf anderen PBarafiten — auf jpäter zu bejprechenden 
Loranthaceen — jchmarogend gefunden Hat. 

Unjere Miftel jchmarogt auf Laub- wie Nadelbäumen und 
jcheint, je nach den jeweiligen Gegenden, bald den Baum und 
bald einen andern zu bevorzugen und bald jolche zu verſchmähen, 
auf denen fie anderwärts vielfach wählt. Immerhin kann man 
aber wohl behaupten, daß fie hauptſächlich Aepfel und Birnbäume, 
wie Schwarzpappel bevorzuge, dann die Nadelhölzer, Tannen 
und Fichten heimjuche, während das Vorkommen auf Eichen 
als eine Seltenheit zu betrachten ift. Es wäre jchwer, alle die 
Bänme oder ſelbſt Sträucher aufzuzählen, auf denen einmal 
ein Viscum angetroffen wurde, doch jeien zur VBervollftändigung 
nod genannt: Weiden, Birken, Linden, Eberejche, Ejchen, 
Weißdorn, Mijpeln, Mandelbäume, NRobinien, Ulmen, Walnuß, 
Ahorn, Rojen, Weinreben. Scheinbar gänzlich gemieden werden 
von der Miftel Birken, Buchen und Platanen, ein Umftand, 
welcher mit dem Bau der Rinde diejfer Bäume in einem bisher 
unbefannten Zujfammenhang jtehen muß. 

Die Miftelbüfche erreichen bisweilen eine jtarfe Aus» 
Dehnung und man hat deren von 4m Umfang beobachtet. Da 


diefe gegabelten Zweige mit den lederartigen Blättern bejonders 
(873) 


32 





im Winter auf den dürren Weiten der Bäume hervortreten, 
eignet ſich dieje Jahreszeit bejonders dazu, fie aufzujpüren. 
Man wird erjtaunt fein, wie Häufig man diefem Schmaroger 
in den Waldungen begegnet, wenn man nur erjt etwas auf Die 
eigenthümliche Erjcheinung diefes Paraſiten hat achten lernen. 

Allerhand Bogelzeug, vor allem aber die Drofjeln, ftellen 
den Beeren eifrig nad), und bewirken durch die Ablage der un— 
verdauten Samen mit ihrem zäbflüjfigen Koth die Weiterver: 
breitung der Miftel, wodurch fid) auch die Erjcheinung erklärt, 
daß die Schmarogerbüjche jeitwärt® und unterwärt® aus dem 
Zweigen der Wirthe hervorſprießen. Die narkotifch-giftigen 
Beeren waren als zertheilend erweichendes, ſchwach ziehendes 
Mittel früher officinell, find jet aber aus dem Arzneiſchatz ge- 
ftrihen. Dejto größere Vorliebe zeigt aber der Vogeljteller für 
die Beeren mit dem zähen jchleimigen Fleiſch, aus dem er den 
Vogelleim bereitet, obwohl wir aud) die Anficht vertreten finden, 
daß nur Loranthus-Beeren fid) dazu eigneten. 

Hat ein Mijtelfame an einem Aft gefeimt, jo breitet er 
fid) dort zu einem flachen Gebilde an der Rinde aus und 
haftet jo mit einer Art Sceibe feſt. Won dort dringen dann 
jogenannte Senker bis zum Holzkörper vor, ohne ihn ſelbſt zu 
verlegen. Es findet vielmehr von dem Holze ſelbſt eine 
Neaktion jtatt, und das zweite Jahr fieht man den Senfer 
von der Holzmafje ſelbſt umwachſen und ummwallt, wie etwa 
ein Nagel in einem Baumjtamme von der Rinde volljtändig 
überzogen wird. Vollſtändig ftimmt der Bergleich freilich nicht, 
denn der Senker hebt ich ſtets durch) das Einjchieben von Zell- 
reihen von feiner Baſis in eben dem Maße, wie ihn die Holz- 
maſſe zu begraben ftrebt, er wird jcheinbar wachjen, wehrt fich 
aber nur, um die einmal erfaßte Bofition zu behaupten. 

Die Hypertrophiiche Wucherung des Nährholzes iſt nad 
Friedrich Johows Meittheilungen an der Anjabftelle zumeilen 


1874) 


35 
recht bedeutend und macht fi) äußerlich in fuolligen An— 
jchwellungen oder unregelmäßigen Protuberanzen bemerkbar, 
die im Volksmunde die Bezeichnung Holzrojen führen. 

Ab und zu wacjen wohl aud) an Stellen, wo Mark— 
jtrahlen an der unteren Fläche des Senkers münden, furze Ge- 
webefortjäge von dieſem aus in den Holzkörper hinein, der 
Hegel nach aber verjchont der Senker den Holzkörper. 

Der Theil des Senfers, welcher immer an der äußeren 
Grenze des ald Nährboden dienenden Aſtholzes an der inneren 
Rindenjeite fich befindet, jchreitet dann im Verlaufe der nächiten 
Jahre zu der Ausbildung von allerlei Ausläufern, welche der 
Botaniker Rindenwurzeln nennt. Lebtere laufen ftet3 mit dem 
Zweig oder Ajt der Länge nad) parallel, jo daß fie fich ſelbſt 
niemal8 berühren oder ein negähnliches Zuſammenwirken her— 
vorbringen könnten. Jede Spite jendet Daun von Neuen 
Center bis zum Holze vor, worauf jic) das gejchilderte Spiel 
wiederholt. . 

Diefe Gliederung de3 inneren Baues hält in der Regel 
auch mit der äußeren Entwidelung ziemlich Schritt. Kann die 
Miftel ihrem jeweiligen Wirthe reichlicdhe Diengen von Nahrung 
entziehen, ohne ihn gerade in zu hohem Maße zu jchädigen, 
wie e8 zum Beifpiel bei der jaftreichen Bappel der Fall ift, jo 
treibt fie nach außen kräftige Büfche in größter Ueppigfeit; fließt 
der Saft nur jparjam, wird durch die Senfer nur wenig 
Nahrung gefpendet, jo fommt es nur zur Entfaltung kleiner 
niedriger Büjchel. In dem erjteren Falle jucht die Miftel dann 
auch den etwaigen Ueberfluß fjofort zwedmäßig zu verwerthen, 
und es entjpringen auch von den Rindenwurzeln Brutfnofpen, 
welche zu neuen Miftelausjchlägen Beranlafjung geben. 

Kerner vergleicht dieſe Ausjchläge in der Wurzelbrut, welche 
aus den unter der Erde hinfriechenden Wurzeln der Zitterpappel 


heranwächſt, und es ijt diejer Vergleich um jo zutreffender, als 
Sammlung. NR. F. XIII. 311. 3 (875) 


34 


der Ausſchlag von Wurzelbrutfnojpen bei der Miftel durch das 
Abjchneiden des Miftelbufches gerade jo befördert wird, wie bei 
den Bitterpappeln das Heranwachſen von ſolchem Wurzelaus: 
Ichlage durch das Fällen der Bäume, welchen jene Wurzeln an- 
gehören. 

Man wird überhaupt bei der Mijtel leicht an die lernäiſche 
Hydra erinnert, deren von Herkules abgejchlagene Köpfe fich 
jofort in der Zweizahl auf den joeben vom Haupte entblößten 
Rumpfe erhoben; denn das Abbrechen eines auf einem Aſte 
jchmarogenden Viscum-Buſches befreit nicht etwa den Zweig von 
einen Barafiten, jondern das Vorgehen giebt diefen jogar Wer: 
anlaffung, fi) an verjchiedenen Stellen zu erheben, denn an 
zahlreihen Punkten entjtehen jet aus den Rindenwurzeln 
Wurzelausichläge in der vorhin gejchilderten Art und jtatt der 
einen Miftelpflanze raubt nun eine Reihe diefer Gewächſe Dem 
Baum ihren Lebensunterhalt. Man kennt Baumftämme in 
Deutjchland, welche reichlich dreißig große und vielleicht Die 
doppelte Anzahl kleiner Miftelbüfche tragen, jo daß man im 
Winter faum das eigentliche Baumlaub vermißt, da überall fich 
die gelblihen Spreiten des Viscum bervordrängen. 

Unſere Miftel vermag ein ziemliches Alter zu erreichen, 
und wenn wir auch nicht genau über die höchſte Spanne Zeit 
wiſſenſchaftlich unterrichtet find, jo haben doch Holzftüde gezeigt, 
daß vierzig Jahresringe um die Senfer herumgewallt waren, 
was vierzig Jahren Lebensdauer zum mindeſten entjpricht. 

Daß die Miftel einen bejonderen Auf bejigt, daß fie 
im Kultus mancher Völker eine bejondere Rolle gejpielt hat 
und zum Theil noch heute jpielt, daß mit ihr eigenthümliche 
Gebräuche verbunden find, dürfte zum Theil bekannt fein. Wir 
haben ja im Laufe unjerer Abhandlung wiederholt die Wahr- 
nehmung gemacht, daß alle abenteuerlich ausjehenden Pflanzen 


leicht dazu reizen, ihnen hervorragende Eigenjchaften anzudichten. 
(376) 


35 


Es wird zum Beifpiel berichtet, die Gabelzweige der 
Miftel mit ihrer goldgrünen Rinde und den lederartigen Blättern 
jeien die alten Wünfchelruthen gewejen, denen Nichts widerftand; 
die Hajelgerte ſei erjt bedeutend jpäter zu dieſem Zwecke in 
Anwendung gekommen, habe aber in der Form fich wenigftens 
an ihr Vorbild angelehnt, und noch heute muß eine rechte und 
echte Wünfchelruthe deshalb gegabelt fein. Bereits in der 
Ueneide muß der gefeierte Held im Walde den „wie die Miftel 
im winterlihen Wald“ jchimmernden hervorragenden Zweig zu 
ergattern juchen, damit fich ihm die Pforten der Unterwelt 
öffnen. 

Theophraft macht in feinen botanijchen Werfen die Be— 
merfung, die Behauptung, daß einige Samen in der Erde nicht 
feimen könnten, fcheine wunderbar und faft unglaublih. Jeden— 
falls ift e8 ein Wunder, daß diefe Pflanzen, welche doch eine 
tüchtige Frucht bejigen, durchaus nicht in der Erde feimen. Ob 
nun dieſe Notiz auf die Miftel oder die demnächſt zu be- 
jprechenden Verwandten zu beziehen jei, ift dabei gleichgültig ; 
man muß wenigjten® annehmen, daß dem alten Schriftiteller 
bereit3 etwas von dieſen Baumjchmarogern zu Ohren ge 
fommen  fei. 

Auch Homer kennt die Miſtel und ihre Gabe, zum Reich— 
thum zu verhelfen, ja er dichtet der Pflanze auch die Fähig— 
feit an, Schlummer herbeizuführen und ſelbſt Todte zu erweden. 
Wie der letztere Vorgang jich abipielen joll, welche Bejonder- 
heiten dazu nothwendig feien, erfahren wir leider nicht, jo daß 
e3 wohl mehr auf ein Epitheton ornans, eine allgemeine Aus: 
ſchmückung herausläuft, als auf eine reale Grundlage. 

Die Edda beichäftigt fich wiederholt mit dem Mistilteiun, 
welcher in der Hand des Wintergoites die Geftalt des Sonnen- 
und Sommergotte8 darniederftredt und zum Weichen zwingt. 


Da die Miftel gerade zur Winterzeit recht fichtbar wird, da fie 
3* (877) 


36 
dann nicht mehr von dem Laube ihrer Wirthspflanze verdedt 
ift, jo erjcheint nur natürlich, daß dieje Pflanze, welche auch im 
Schnee und Eije ihre immer-grünlich-gelblichen Blattjpreiten 
behält, dem Vertreter der rauhen Jahreszeit als jtändige Be— 
gleiterin gegeben wurbe. 

Ebenfo iſt es zu verftehen, daß die Kelten und wohl auch 
die Germanen am Neujahrstage die Miftelbüjche jammelten und 
um die Jahreswende mit diejen, allein an die grüne Natur er- 
innernden Stüden, ihre Häujer uud ihre Wohnungen jchmücten ; 
e3 galt, dem kommenden Frühjahr an der Jahresjchwelle ge- 
wiffermaßen ein Willftommen zuzurufen. Im einigen Theilen 
Frankreichs ſoll fich diefer Gebrauch noch Heutigentags erhalten 
haben, und Kinder juchen mit dem Miftelzweig in der Hand 
Haus bei Haus ab, um erjt nad) Empfang von allerhand Gaben 
die Stätte wieder zu verlafjen. 

In England Hat fich die Sitte auf die Weihnachtstage 
jelbit zurüd datirt; in Großbritannien giebt e8 wohl um Ddieje 
Beit fein Wohnhaus, in dem nicht Miftelzweige anzutreffen 
wären, wie denn diefe Pflanze auf den dort zum Chriſtfeſt in 
großen Mengen verjandten Gratulationskarten — ein Gegenftüd 
zu unjeren Neujahrswünjchen — eine recht erhebliche Rolle jpielt. 

Ein naher Verwandter der weißen Mijtel jchmarogt 
namentlich auf Wachholderbüjchen des Mittelmeergebietes, doch 
wollen mauche Botaniker ihn auch zu einer eigenen Gattung 
Arceutholobium erheben. Jedenfalls fällt ung bei der Betrachtung 
dieſes Gewächſes auf, daß wir jtatt der breiten Spreiten des 
uns geläufigen Schmaroßer3 nur kleine Schuppen antreffen, daß 
die Holzentwidelung fehlt und wir es ftatt ihrer mit Fraut- 
artigen Gebilden zu thun haben, und daß die Früchte blau und 
länglich, aber faſt ganz jaftlos find. 

Derjelben Familie angehörend vollendet die Riemenblume 
das europäiiche Dreiblatt diejes Conſortiums. Diefer Loran- 


(878) 


37 


thus europaeus L. wagt ſich faum nad Mitteleuropa nod) 
binein, Böhmen, Mähren bildet mit einem Standort im König- 
rei” Sadjen die nördlichjte Grenze ſeines Vorkommens. 
Eichen: und Kaftanienbäume bilden feine Wirthe und laſſen 
ihm derart viel Nahrung zufommen, daß feine Stüde. zu 
reinen Gebüjchen auf den Bäumen werden. Die Riemenblume 
bildet wie die Miftel Holzſtämme aus, welche bis zu 5 cm 
Stärke erreichen ; ein nahezu hundertjähriger Buſch von Loranthus 
foll 3. B. eine Höhe von 1, m und beinahe 6 m Umfang er: 
reiht haben, wobei das Eichenholz ſelbſt noch um den eigent- 
lihen Schmaroger herum eine Wucherung von 7 cm geleijtet 
hatte. Es ijt überhaupt merkwürdig, wie dieſe Loranthus-Büjche 
faft durchgehende in einem ſolchen Wall ftehen, welcher jie 
ähnlich wie der Eichelnapf die Eichel umgiebt. 

Die Berührungsfläche des Eichenholzes bezw. Kajtanien- 
Holzes mit der Loranthus-Wurzel fann man mit einer Treppe 
vergleichen, deren unterjte Stufe die Baſis bildet, und deren 
oberjte die Spige der Wurzel darjtellt.e Da die Schmaroger- 
wurzel eine dunklere Färbung als ſelbſt das Eichenholz aufweiit, 
läßt fi der Zujammenhang auf Schnitten prächtig verfolgen. 

Vermag Europa nur mit der einen Art der Riemenblume 
aufzuwarten, jo entfaltet fi) die Gattung in wärmeren Ländern 
zu ungeahnter Entwickelung. Wir fennen jet weit über drei- 
hundert Arten aus diefem Genus, und die neuen Entdedungen 
auf den Forſchungsreiſen lafjen den Schluß als berechtigt er: 
jcheinen, daß wir wahrſcheinlich noch eine große Zahl Neuig- 
feiten zu erwarten haben. 

In ähnlicher Weife müffen wir das Viscum album nur 
für einen verjprengten Flüchtling halten, das Centrum der 
Gattung hält fich wieder an die Yequatorialzone. Loranthus 
wie Viscum find die reinen Weltbürger, fie bewohnen alle fünf 
Erbtheile. 


(873) 


_ 38 


Weiterhin müßten wir hier von den anderen Zoranthaceen- 
Gattungen reden, denn die ygejamte Familie gehört zu Den 
Schmarogern. Da aber die beiden großen Genera Viscum und 
Loranthus genannt find, glaube ich den Reſt mit dem einfachen 
Hinweis ihrer Eriftenz abthun zu können, zumal feine Bejonder- 
heiten zu melden find, welche 3. B. die Balanophoreen im 
Einzelnen jo interefjant machen. 

Sind wir in den vorftehenden Zeilen Anton von Kerner 
in den Hauptzügen gefolgt, jo wollen wir noch eine andere 
Eintheilung mittheilen, welche Friedrich Johow vorjchlägt, um 
die biologischen Eigenthümlichkeiten, fowie den Bau ihrer 
Vegetationsorgane geordnet betrachten zu fünnen. Das Natür- 
lichſte erfcheint legtgenanntem Forſcher deshalb, die Eintheilung 
der gejamten Schmarogergruppe auf phylegenetiichen Gefichts- 
punften zu bafiren. 

Alle von organischer Nahrung lebenden Pflanzen, jeien fie 
nun Schmaroger, Fäulnißbewohner oder Infektenfrefler, find 
nämlich unzweifelhaft ald Hyfterophyten zu betrachten, das heißt 
als Abkömmlinge autotropher Pflanzen, von denen fie fich 
durch die Gewöhnung an den anomalen Ernährung3modus und 
damit Hand in Hand gehende Umgeftaltung ihrer Vegetation: 
Organe entfernt haben. Unter den autotrophen Pflanzen unter: 
jcheidet man nun leicht folgende, durch die Wachsverhältnifje 
und das Vegetationsmedium charakterifirte biologischen Gruppen: 
Waſſerpflanzen, Epiphyten (oder Luftpflanzen) und aufrechte 
oder klimmende Bodenpflanzen. Beziehungen zu diejen Gruppen 
glaubt Johow nun bei der Mehrzahl der phanerogamen 
Blüthenpflanzen deutlich zu erkennen. Durchmuftert man die 
Reihen derjelben, jo finden wir erftens, daß die meiften parafitifchen 
Santalaceen, manche LZoranthaceen, alle Rhinantheen wie Oro: 
bancheen aufrechte Bodenbewohner find, die fich, wie ihre ſyſte— 


matiſchen Verwandtjchaftsbeziehungen zeigen, aus gewöhnlichen 
(880) 


34 


autotrophen Bodenpflanzen entwidelt haben. Die Lauraceen: 
Gattung Cassytha, wie die Euscuteen find zweitens Schling- 
gewächle, deren Herkunft von autotrophen Schlingpflanzen jicher 
nicht zu bezweifeln ij. Die Mehrzahl der Loranthaceen und 
einige Gattungen der Santalaceen find ferner Baumbewohner, 
die ji) von den gewöhnlichen Epiphyten nur durch ihre para: 
fitiiche Verbindung mit der Wirthspflanze, wenn auch deutlich 
und marfant, unterjcheiden. Viertens und letztens find Die 
einzigen parafitiihen Whanerogamen, welche heute Feinerlei 
Analogie und feine Berwandtichaft mit einer autotrophen Gruppe 
mehr erfennen lafjen, die Balanophoreen und Cytinaceen; da 
fi diejelben aber gemeinschaftlich jehr gut durch ihren pilz 
ähnlichen Habitus charakterifiren, vereinigt fie Johow vorläufig 
unter Benugung diejes Merkmales zu einer bejonderen vierten 
Gruppe. Da wifjenjchaftlich bekanntlich fremdipradjliche Be: 
zeichnungen in der Regel eine viel genauere Bräcifirung erlauben, 
ihlägt Johow vor, diefe vier Klajjen oder Gruppen euphytoide, 
lianoide, epiphytoide und fungoide Paraſiten zu taufen. 

Bu den euphytoiden Schmarogern rechnet derjelbe Gelehrte 
in jeinen weiteren Ausführungen etwa 400 befannte Arten, 
welche fi auf etwa 35 Gattungen und 5 Familien vertheilen. 
Wie bereits aus den früheren Zeilen erhellt, participirt Deutſch— 
land im großen und ganzen ziemlich) bedeutend an Diejer 
Gejellichaft, da Orobanchen und die mandherlei Ahinantheen mit 
Thesium in unjerer Heimath vorwiegend verbreitet find. Der 
Habitus ift durchgehends der gewöhnlicher Bodenpflanzen. 

Zu den Epiphytoiden gehören etwa 500 Loranthaceen, 
jowie 15—18 in den antarktiichen Gegenden Südamerikas 
wachiende Santalaceen. Der Mehrzahl nad) haben wir es Hier 
mit aufrechten Sträuchern zu thun, doch fommen auch Eimmende 
Loranthus-Arten vor und Arceutholobium, bereits früher als 
krautig geichildert. 


Lianoid wachſen nur zwei Genera, die Cuscuta mit ihren 
etwa 30 Arten und Cassytha, deren Species in der Höhe von 
etwa 20 jämtlic zu den Exoten zählen. 

Die Seidenarten werden jedem Lejer aus unjerer Bejchrei- 
bung wohl noch hinlänglih im Gedächtniß haften, jo daß auch 
bei diefer Gruppe Europa nicht zu kurz kommt. 

Die Gruppe der fungoiden Schmaroßer umfaßt die Familie 
der Balanophoraceen und Cytinaceen, wenn man leßtere über- 
haupt als eine befondere Familie gelten laffen will. Die Bala- 
nophoraceen werden in 19 Gattungen mit einigen 30 Arten 
eingetheilt, von denen wir ja einen Bruchtheil vorführen konnten. 
Die zweite Reihe der Fungoiden ſetzt fi aus 7—8 Genera 
und der reichlich dreifachen Ziffer an Species zufammen. 

Konnten wir bei den bisherigen Schilderungen auch hin 
und wieder einige Worte über die Verbreitung der einzelnen 
Schmaroger einfließen Tafjen, jo mußten doch dieſe pflanzen- 
geographiichen Notizen gegen die Morphologie und Biologie 
zurüdtreten. 

Wir wollen aber zum Schluß an der Hand des Fundigen 
Liebe und wenigftend mit einigen diefer Familien noch mäher 
in diefer Hinficht beichäftigen und verjuchen, dem Leſer auch 
ein Bild der räumlichen Vertheilung ziffernmäßig zu entrollen, 
wenn auch zugegeben werden joll, daß die Zahlen fich jeit der 
Abfaffung der Liebe’schen Art zum Theil im einzelnen vermehrt 
oder verjchoben haben; der Haupteindrud ift aber heute noch 
derjelbe, und ob wir jet 20 Loranthus-Species in Afrika zählen 
oder 22, das Ändert im großen und ganzen nichts. 

Liebe ftellte 3. B. eine Tabelle auf, aus der hervorgeht, 
daß von den 13 Gattungen und 250 Arten der Loranthaceen, 
welche er fannte oder berücdjichtigte, 9 Genera mit 258 Species 
auf Amerika fielen, während Aſien 6 mit 373 beherbergte, 
Auftralien über 4 und 34 verfügte und Afrifa mit 2 Gattungen 


(882) 


41 





und 34 Arten betheiligt war; Europa bewohnten 3 Gattungen, 
denen er 5 Arten zuertheilte. 

Im jpeciellen wachſen von den 258 amerikanischen Arten 
allein in der Wequatorialzone 160 Species, die reine Tropen- 
zone fonnte nur 30 aufweifen. Der jubtropijchen Zone waren 
38 Formen eigen, 10 verftiegen fich im die nördlich wärmere 
gemäßigte Zone, 8 gehörten der ſüdlich wärmeren und fälteren 
Bone an. Bei 12 Arten verfagte die Geographie. 

2 der 9 Gattungen Amerifa® kommen [nur im ‚der 
dortigen Wequatorialzone vor. Am ftärkjien tritt Loranthus 
auf, nämlich) mit 168 Angehörigen, dem fich Viscum mit 67 
anreiht. 

Für Afien zeigt fi) im allgemeinen dasjelbe Verhältnig 
in der Verbreitung der Arten, wie in der neuen Welt, injofern 
fi) das Gros mit 152 zwifchen den Wendefreijen findet. Lo- 
ranthus ift wieder der Matador, er jtellt 134 Arten ins Feld, 
denen Viscum nur 33 anzureihen vermag, 2 Gattungen find 
abermals der Aequatorialzone eigenthümlich. 

Afrika begnügt ſich vollftändig mit den beiden Gattungen 
Loranthus und den Miften. Das Kap der guten Hoffnung 
verfügt allein über 3 Niemenblumen und 9 Visca von ben 
34 Vertretern der Schmaroger. 22 Species haben ihre Heimath 
zwifchen den Wendefreijen. 

Neuholland befigt 4 Gattungen, zu denen Loranthus 27 
und Viscum 3 Formen beijteuert. 

Die Fünffpecieszahl bei Europa ift nur auf eine andere 
Art-Eintheilung zurüdzuführen; wir betrachten die Formenkreiſe 
heute ander und fommen fo wieder auf die Dreizahl, welche 
in den Schilderungen erwähnt ijt. 

Faſſen wir die berüchtigten Seidenarten einmal etwas in 
betreff ihrer geographiichen Verbreitung ins Auge, jo finden 
fi nach den Angaben ihres bekannten Monographen Engel: 


1883) 


42 
mann von 77 Species 44 in der neuen Welt, 23 in Aſien, 
13 in Afrika, während zum Glüde unferer Landleute Europa 
nur 9 aufzuweifen Hat und Auftralien es auf 7 Vertreter bringt. 
Amerifa muß wohl als der Entjtehungsort diejer Gattung auf- 
faßt werden, denn allein 39 von jenen 44 Formen find außer: 
halb der neuen Welt nirgends aufgetreten; bei Ajien ijt etwa 
die Hälfte auf dieſen Erdtheil beſchränkt, ein Verhältniß, das 
bei Afrika fich wiederholt. Wir befien Feine uns eigenthüm— 
lihe Seide. Bei der Abgeichiedenheit Neuhollands kann es 
nicht auffallen, wenn 5 der 7 Species dort als endemijch zu 
gelten haben. 

Bon den Balanophoraceen gehört den tropiichen und jub- 
tropifchen Gebirgen von Afien und Südamerika die größte 
Anzahl an, wo fie wahrſcheinlich in nahezu gleichen Verhält— 
nifjen vorfommen. 

Doc genug von den Schmarogern. Den Schluß mögen 
einige Worte von Hermann Schacht bilden, der bereit? 1854 
diefe Gewächſe jo richtig jchilderte: 

Der wahre Paraſit fann die Zerjegungsprodufte der Orga: 
nismen nicht direft für fich benußen, er bedarf der lebenden 
Nährpflanze, deren friichen Nahrungsfaft er in fich aufnimmt. 
Wenn die Nährpflanze ftirbt, vergeht deshalb mit ihr auch der 
Barafit; er gleicht dem Säugling an der Mutterbruft, der jelbit 
nicht fähig ijt, die rohe Nahrung direkt für fich zu verwerthen. 


Anmerkungen. 


' Ueber die Fruchtbarkeit einer Reihe unjerer gemeinjten Unkräuter 
vergl. meine Schrift: Die Unfräuter Deutjchlands, 1897, S. 37 ff. 

° 26 Familien haben die Botaniker bereit? zufammengeftellt, auf 
deren Angehörigen die Braunichupper gefunden wurden. 88 Arten gehörten 
zu den Schmetterlingsblüthern, S6 zu den Kompofiten, dann fiel die Zahl 


(854) 


43 


gleich auf 46 bei den Labiaten und 31 bei den Doldenträgern; über 5 An- 
gehörige jtellten dann noch Rubiaceen (13), Solanaceen (12), Dipjacaceen (9), 
Geraniaceen (6), Bolygonaceen (6). 


Litteratur zum weiteren Studium. 


Die Litteratur über unjeren Gegenftand iſt unendlich groß, doch 
behandelt die Mehrzahl der Schriften nur einzelne Parafiten oder in 
ausgedehnter Weile den Vorgang der Nahrungsaufnahme ſelbſt. Jmmer- 
hin werden die nachſtehend aufgeführten Urbeiten im ftande fein, dem Leſer 
ein erfchöpfenderes Bild zu geben, als es und auf dem zugemwiejenen Raume 
möglich war. 

Johow, Friedrid, Die Phanerogamen-Schmarogerpflanzen. Grund» 
lagen und Material zu einer Monographie berjelben. VBerhandfungen- 
des deutſchen mwifjenjchaftlichen Vereins zu Santiago. Band II. 1890. 

Kerner von Marilaun, Anton, Pflanzenleben. Band I. Leipzig 
und Wien 1890. 8°, 

Liebe, Theodor, Leber die geographiiche Verbreitung der Schmaroger- 
pflanzen. Brogramm der ftädtiichen Gewerbeſchule zu Berlin. 1862. 4°. 

Ludwig, Friedrich, Lehrbuch der Biologie der Pflanzen. Stuttgart 
1895. 8°. 


(885) 


Die Lohenarinfnge 
und ihre poetifhe Geflaltung, 


Hamburg. 
Derlagsanftalt und Druderei A.G. (vormals J. F. Richter) 
Königliche Hofverlagsbuhhandlung. 
1899. 


Das Recht der Ueberjegung in fremde Sprachen wird vorbehalten. 


Drud der Berlagsanftalt und Druderei Actien ⸗Geſellſchaft 
(vormals 3. F. Richter) in Hamburg, Königliche Hofbuchbruderei. 


„Nie ſollſt du mich befragen, 
Noch Wiſſens Sorge tragen, 
Woher ich fam der Fahrt, 

Noh wie mein Nam’ und Art”, 


So läßt bekanntlich Richard Wagner in feiner Oper 
„Lohengrin“ feinen Helden zu Elſa jprechen und legt ihr damit 
die jchwere Prüfung auf, nie nach feinem Namen und feiner 
Herkunft zu fragen. Wie mächtig aber der Trieb in dem 
Menfchen trog aller Warnungen einerfeit3 und troß gegebener 
Verſprechungen andererjeit® wirft, hinter das Geheimniß zu 
fommen, und koſte e8 auch unjer Glück, ja jelbit das Leben, 
davon handeln viele rührende Sagen und Märchen; ja ber 
Drang nad) verbotener Erfenntniß des Räthjelhaften und Ge: 
heimnißvollen reicht ſelbſt in die finnige Allegorie vom Sünden: 
falle des erſten Menjchenpaares® im Paradieſe zurüd. Ganz 
befonders erfchütternd, wenn auch in der Löſung räthjelhaft und 
geheimnißvoll hat ung das Schiller in jeinem Gedichte: „Das 
verjchleierte Bild zu Sais“ und deſſen tragiiche Beitrafung 
veranjchaulicht. Hier liegt der Schwerpunkt bei der Deutung 
des myſteriöſen Sinnes ohne Zweifel auf der Antwort des be- 
fragten unglüdlihen Jünglings: „Weh dem, der zu der Wahr, 
heit geht durh Schuld: fie wird ihm nimmermehr erfreulich 
jein.” Alſo das Uebertreten eines Gejeßes oder Verbot3 kann 
den Menfchen nur etwas Trauriges, etwas Niederjchmetterndes 


erbliden lafjen. 
Sammlung. N. 5. XIII. 812. 1? (889) 


4 


Tragen wir und aber nun, was der feiner Lebensluſt 
beraubte und einem frühen Grabe entgegenfiechende Jüngling 
hinter dem vorwibig und frevelhaft gelüfteten Vorhang der 
Erfenntniß gejchaut haben mag, jo läßt ung der Dichter ſelbſt 
im Dunkeln und giebt damit unjerer Phantaſie zu rathen auf. 
Es mag wohl das Bild feiner eigenen bevorjtehenden, von ihm 
nit jo rajch vermutheten Auflöfung inmitten eines jchuld. 
befledten Lebens gewejen fein, das ihn unvorbereitet und eben 
im Bewußtjein der begangenen Sünde jo vernichtend traf. 

Doch dies Beiſpiel erſchöpft nicht völlig das Weſen unjerer 
Trage; es zeigt ung wohl die Tragik der Folgen fträflicher 
Neugier, aber nicht den Grund der Umjchleierung eines Ge: 
heimniſſes für den Sterblichen. Ohne Zweifel liegt der Kern: 
punkt in der wehmüthigen Thatfache, daß, wenn fi), wie dies 
Motiv in der Sagenbildung fehr beliebt ift, ein göttliches Wefen 
zu einem jterblichen herabwagt, oder gar eine dauernde Ber: 
bindung mit ihm eingeht, jeine Eigenart für den Menjchen ein 
Geheimniß bleiben muß, jofern Glück und Segen aus einer 
jolhen Bereinigung erjprießen jollen; muß oder ſoll fich die 
Gottheit offenbaren, „erfennft du ihn“ jagt Zohengrin, „dann 
muß er von dir ziehn”. Es fjcheint, daß der unvolllommene 
Menſch den Glanz und die Hoheit göttliher Majeftät nicht 
verftehen, würdigen, ja ertragen fann. Als in dem 
finnigen griehijchen Mythus Jupiter der geliebten Semele auf 
ihr ungejtümes Drängen, fi) ihr doch einmal in feiner ganzen 
und vollen Wejenheit zu offenbaren, nachgiebt und ihr unter 
Blitz und Donner erjcheint, verjengt er und zerjchmettert er fie, 
die als Schwache Sterbliche jeine Gottheit nicht verträgt. 

Den Zug aber, daß unbefugte Neugier den Segen und 
das Glüd, welches göttliche oder dämoniſche Wejen in ftillem 
Schaffen den Menjchen bereiten, zerjtört, finden wir in unzäh- 
ligen deutjchen Sagen von Elfen und Niren veranfchaulicht, fei 


(890) 


5 


es num, daß hülfreiche Wichtelmännchen und wohlthätige Heinzel- 
männchen heimlich arbeiten, aber nicht beobachtet oder gar durch 
Schabernad gejtört fein wollen, oder jei e3, daß Vertreter der 
Geifterwelt ſich mit Sterblichen in Liebe vereinen. Im leßteren 
alle gejchieht e8 immer unter Geheimhaltung ihrer Wejenheit, 
mit dem Verbote, nach ihrer Eigenart zu forjchen; wird Dies 
übertreten, verjchwinden fie, und mit ihnen Glück und Segen, 
die fie gebradt. Wir erinnern Hier nur an das befannte 
deutjche Volksmärchen von der jchönen Melufine. Umgekehrt, 
von der Verbindung eines göttlichen Weſens mit einem menſch— 
lichen haben wir dieſe Borjtellung jchon in dem reizenden 
antiten Märchen von Amor und Piyche illuftrirt, und nicht 
anders ift e8 in der Zohengrin-Sage. 3 unterliegt aber 
feinem Zweifel, daß wir es in diefer urjprünglic” mit einem 
göttlichen LXichthelden zu thun haben, den — und dies iſt 
wiederum ein tragiicher Zug — bei all’ feiner Erhabenheit, die 
Sehnſucht nah irdiihem Liebesgenuß treibt, ſich mit einer 
Sterblichen zu verbinden; es giebt demnach jelbjt im Himmel 
fein vollkommenes Glüd. 

Diefe Auffaffung enthält nicht nur darum eine Art von 
Troft, die und mit unferer menjchlichen Unzulänglichkeit aus, 
jöhnen kann, weil fich jelbjt ein Gott nad) irdijchem Glücke 
jehnt, jondern fie erfüllt und zugleich mit einem ausgleichenden 
Mitleid für das wahrhaft menjchlice Leiden, das jelbjt ein 
göttliche Weſen empfindet, wenn jein gefühlvolles Herz von 
Wehmuth und Trennungsjchmerz zerrijjen wird beim Scheiden 
von einem genofjenen, in der Gemeinschaft mit einem irdischen 
Geichöpfe liegenden Liebesglüd. Ja, es erinnert in lebter 
Hinfiht an die zum Heile der Menjchheit am Kreuze ausge: 
ftandenen Qualen eine SHeilands, nur mit dem Unterjchied, 
daß in der Sage mit dem Scheiben des beglüdenden Weſens 


auch der von ihm gejpendete Segen aufhört. 
(891) 


6 


Eine andere Seite, die diefe Sagen von der Tragif einer 
ungleichartigen Verbindung eines göttlichen Weſens mit einem 
menjchlichen darbieten, daß fie nämlich in den Augen der chrift- 
lichen Geiftlichkeit für jündhaft und verdammungswürdig ericheint, 
weil jene dämoniſchen Vertreter der Geifterwelt für heidniſch und 
teuflijch gelten, wollen wir nicht weiter verfolgen. Sie tritt 
uns in jo manchen Elfen: und Nirenjagen, vornehmlich aber 
in der Zannhäuferfage, entgegen; für unjer heutiges Thema 
fommt es und nur darauf an, die beiden Momente zu beleuchten, 
daß ein göttliches Welen in der Verbindung mit einem menſch— 
lichen irdijche Liebe zu genießen hofft, jeine Eigenart aber darum 
in den Schleier des Geheimnijjes hüllt, einmal weil die menſch— 
fihe Natur unfähig erjcheint, göttliche Wejenheit vollauf zu 
verjtehen, zu würdigen und zu ertragen, und weil mit der 
Enthüllung und Offenbarung der göttlichen Natur zugleid die 
Löfung ihrer Verbindung mit einem irdischen Gejchöpfe erfolgen 
muß. Außerdem enthält die dem Menjchen auferlegte Verpflichtung 
der Wahrung eines Geheimnifjes, beziehungsweije das Verbot, 
in die Entdefung des Namens und der Herkunft des göttlichen 
MWejend zu dringen, einen Prüfftein für das Vertrauen und 
die Standhaftigkeit des durch den göttlihen Glauben beglüdten 
Menjchen. 

Eigenthümfich ift ja immer für die Zohengrin-Sage das 
Moment des Schweigens, das als eine Pflicht und eine Tugend 
erjcheint, während dasjelbe Moment in der Parcival:Sage, als 
deren Fortjegung zuerjt in der Dichtung Wolfram! v. Ejchen- 
bach am Sclufje die Peripeftive auf das Schidjal jeines 
Sohnes und Nacjfolger8 Lohengrin uns begegnet, daß gerade 
im Barcival aljo das Schweigen des Helden beim Unblid des 
ſiechen Amfortas und der Wundererjcheinung des Grals als 
ein Verſchulden aufgefaßt wird, wodurd er ſich anfangs jein 
Heil vericherzt. Ja, wir finden jogar die Anficht vertreten, 


(892) 


7 


daß eben zur Strafe für die damals unterlafjene theilnehmende 
Trage nach des Amfortas’ Leiden den Nachfolgern in der Hut 
des Grals die Verpflichtung auferlegt worden jei, bezüglich 
ihre3 Namens und ihrer Herkunft den andern Menfchen gegenüber 
Schweigen zu beobachten. Dieſe Auffaffung will ung wenig 
einleuchten, iſt auch zum richtigen Verftändniß der Lohengrin» 
Sage keineswegs nothwendig. 

Jene Andeutung oder jkizzenhafte Perſpektive am Schlufje 
der Barcival-Dihtung von Wolfram v. Eichenbady hat aber 
eine andere, ziemlich weitjchweifige und ungeſchickte Behandlung 
der Rohengrin» Sage veranlaßt, die man, wiewohl mit Unrecht, 
dem Verfaſſer des Parcival zugejchrieben hat. Die Erzählung 
der Scidjale Lohengrins erjcheint darin zujammengejchweißt 
mit der Schilderung des Sängerkriegs auf der Wartburg und 
wird dem Sänger Wolfram v. Ejchenbad) geradezu in den 
Mund gelegt; doch fie ähnelt weder im Stil noch im Ausdrud 
der pathetifchen und dunkeln Diktion des Dichter des Parcival 
und Steht an poetiihem Gehalt weit unter der Werthſchätzung 
jenes gewaltigen und tiefjinnigen Genius. 

Ehe wir auf den Inhalt diejes ziemlich unbedeutenden 
Machwerks, ſowie einer andern faft gleichzeitigen mittelalterlichen 
Dihtung Konrads v. Würzburg, betitelt: „Der Schwanenritter”, 
näher eingehen, ſei es ung vergönnt, den muthmaßlichen Ur- 
fprung diejer rührenden Sage nachzuweiſen, die Dichtern und 
Komponiften jo wirfjamen Stoff zur weiteren Ausgeftaltung 
und Vertiefung geliefert. 

Wie unfere bedeutendften Germaniften und Sagenforjcher 
mit richtigem Spürfinn erkannt, führt die Entjtehung unjeres 
Mythus auf ein granes Altertfum zurüd. Schon Jakob Grimm 
wies auf einen uralten Mythus der Angeln hin, die urjprünglich 
in Schleswig-Holjtein anjäjfig waren, and der dort jchon im 


fünften Jahrhundert heimifch war. Er wird mit dem Beginn des 
(893) 


8 


dortigen Königthums und den Anfängen der Kultur im Angeln. 
volfe zuſammengebracht, die fi) an die wunderjame Ankunft 
eines geheimnißvollen Fremdlings anjchliegen. In einem jteuer: 
loſen Schiffe landete einft, jo erzählt die Sage, auf einer Garbe 
Ichlafend, ein nadtes Knäblein, das von den Küftenbewohnern 
wie ein Wunder aufgenommen und forgfältig erzogen ward. 
Man gab ihm nad) dem Getreidebiindel (angliich skeaf), auf 
dem es ruhend angefahren fam, den Namen Skeaf, und es 
wuchs zu hohen Ehren heran. Ja, Skeaf zeichnete ſich ſpäter 
jo durch Tapferkeit und Klugheit aus, daß er zum König der 
Angeln erforen ward. Als er nach einer ruhmvollen Regierung 
aus dem Leben jchied, ward feinen legten Worten gemäß jein 
Leihnam unter allgemeiner Trauer von feinen Mannen aus 
Meeresgeftade getragen, wo feiner ſchon ein Schiff harrte. 
Darauf ward der Held mit Waffen und Stleinodien gebettet 
und trieb auf den Wogen Hinaus in eine weite unbefannte 
Ferne. Niemand wußte, woher er fam und wohin er entjchwand. 
Bon ihm entjtammte ein edle Königsgejchleht. Allgemein 
aber war der Glaube verbreitet, daß es der Herricher des 
Himmels jelbjt gewefen, der in Menfchengeftalt zu jeinem Volke 
herabgeftiegen jei, um ihm Segen und Glüd, Kultur und ge 
ſicherten Befi zu gewähren. 

Man wäre hier faft verjucht, an den ausgejegten Mojes 
oder an das nadte Kindlein in der Krippe zu denken, dem 
die heiligen drei Könige aus dem Morgenlande ihre Verehrung 
bezeugten und von dem das Glück nnd Heil der Welt ausging. 

Wir finden dieſen Mythus nicht nur bei den Angeln 
heimiſch, ſondern auch bei fajt allen Küftenbewohnern des hohen 
Nordens verbreitet. Bei den Frieſen erzählt die Sage, daß 
der Himmeldgott Tivaz, d. 5. der Leuchtende, als jchwanen: 
gleicher Fremdling einft aus geheimnißvoller Ferne von feinem 
himmlischen Wolfenjee herabjteigend, and Geftade trieb und 


(894) 


9 





nach kurzem, ſegensreichen Walten unter den Menſchen ebenſo 
räthſelhaft wieder entſchwand. So leſen wir im angelſächſiſchen 
Liede „Beowulf“, daß mit „ſchaumigem Halſe, einem Vogel 
gleich,“ ein Schiff die See durchſchnitt, um den mythiſchen 
Ahnherrn des Königsgeſchlechts der Skyldinge, Skyld, den Sohn 
Skeafs, der einſt als Knabe auf einem Schiffe ans Geſtade 
getrieben war, wieder aufzunehmen und ihn ebenſo geheimnißvoll 
auf den Wogen in eine unbekannte Ferne zu führen, wie er 
gekommen. Der Schwan, der hier noch nicht ſelbſtthätig auf— 
taucht, ſondern nur als Beiwort bald dem Gotte ſelbſt, bald 
dem Schiffe beigelegt wird, war ohne Zweifel urſprünglich ein 
Sinnbild der Wolfen, die ſchwanengleich am Himmel ziehen. 
Wohl denkbar, daß die gejchäftige Phantafie der Küftenbewohner 
den auf einer Schwanenwolfe herabjegelnden Himmelsgort in 
einen räthjelhaften Fremdling verwandelte, den in einem Schiffe 
ein Schwan 309. 

Doch greifbar erjcheint diefer Vogel erſt im zwölften Jahr- 
Hundert in einer Weiterbildung der Sage bei den alten Franken 
an den Mündungen des Rheins und der Schelde, und zivar firirt 
zunächſt in franzöfiichen Gedichten, doc, ohne Zweifel mit Auf: 
nahme altgermanischer Sagen. Hier erjcheint der Held im 
Glanze mittelalterlichen Rittertfums etwa um 1180 in einem 
altfranzöfiichen Gedichte: „Chevalier au cygne“ betitelt. Man 
machte ihn zum Ahnherrn Gottfrieds v. Bouillon, des Helden 
des erjten Kreuzzugs. Hier fommt auch ſchon das Motiv von 
der Vermählung, nämlich mit der Herzogin v. Bouillon, vor; 
doch find darin, wie der Germanift Golther einleuchtend nad) 
weift, deutlich zwei, urſprünglich wohl felbftändig für fich be. 
ftehende Märchen zu erkennen, nämlich das eigentliche Schwanen: 
märchen und die Sage von dem Schwanenritter, die ich in 
Kurzem hintereinander wiedergeben will. Das Schwanenmärchen 
lautet wie folgt: 

(895) 


10 


„Einjtmal3 traf der König Oriant v. Lillefort — d. ı. 
eine ferne Meeresinſel — auf der Jagd bei einem Brunnen 
eine wunderjchöne Jungfrau, Namens Beatrix, die er zu jeiner 
Gemahlin erfor. Doc jo jehr fie ihren Gatten mit ihrer Liebe 
beglücdte, jo gram war ihr die böje Mutter Oriants, Mata- 
brune, und ſann auf Verderben. Hierzu benußte fie die Ab» 
wejenheit ihre8 Sohnes auf einer Heerfahrt und jchob jtatt der 
fieben Kinder, die Beatrir geboren, junge Hunde unter. Die 
Kindlein aber, e3 waren ſechs Knaben und ein Mädchen, und 
alle waren mit jilbernen Kettlein am Halje auf die Welt gekommen, 
übergab fie einem Diener, fie im Walde umzubringen. Diejer 
aber empfand Mitleid mit ihnen und jeßte jie aus. Ihr Ge: 
wimmer vernahm ein frommer Einfiedler, Namens Helias — 
der Name erinnert an den bibliichen Elia8 —; er nahm fie 
mit in feine Klauſe und ließ fie von einer Rehgeiß jäugen. 
Sp zog er fie auf und gab dem einen Snäblein, das er be: 
ſonders Tiebte, feinen Namen. Als Oriant bei feiner Heimkehr 
die jchwere Anklage gegen feine Gattin hörte, ließ er fie ein- 
ferfern. Matabrune erfuhr jedod) von einem Jäger, daß die 
Kinder noch lebten und fandte ihn in den Wald, fie zu tödten. 
Er traf aber nur ſechs in der Klauſe, denn der Einjiedler war 
mit jeinem Liebling ausgegangen. Zuerſt zog er ihnen num die 
filbernen Kettlein vom Halje, und jofort verwandelten fie fich in 
Schwäne und entflogen ihm. Erjchroden brachte er wenigftens 
jeinen Raub Matabrunen. Dieje übergab die ſechs Silberfetten 
einem Goldjchmied, einen Becher daraus zu jchmieden; doch er 
verarbeitete nur eine einzige und behielt die andern für fidh. 
Aber Matabrune ruhte nicht, bis fie die gefangene Beatrir 
völlig verdürbe. Sie gewann einen faljchen Zeugen, der fid) 
erbot, jeine Berleumdung gegen die Unjchuldige im Gottesurtheil, 
d. h. im Zweikampf mit Jedermann, zu erhärten. Der König 


befahl, die Angeklagte auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen, 
(896) 


11 


falls sich Fein Kämpfer für fie ſtelle. Da betete Beatrir in 
ihrer Noth zum Himmel, ihr einen Retter zu fenden. Gott 
erhörte ihr Flehen und ließ den Einfiedfer durch einen Engel bie 
Bedrängniß der Königin wiffen. Sein Lieblingspflegefohn Helias 
war bereit, die Unſchuld feiner Mutter zu vertheidigen. Schon 
barrte Alles in banger Erwartung auf den Ausgang des Gottes. 
gerichtE, da erfchien der Jüngling Heliad und erfchlug mit einer 
Keule den Ankläger. Die teuflifhe Schwiegermutter ward 
verbrannt, und als auch der Goldſchmied die filbernen Ketten 
wiederbrachte, wurden fünf Schwäne, die auf dem Weiher ſich 
jehnjüchtig dem Geftade näherten, durch Heliad in feine Ge: 
jchwijter verwandelt; einer aber mußte ein Schwan bleiben, 
weil ſein Kettlein in einen Becher verarbeitet war. Dies war 
berjelbe Schwan, der fpäter Helias in einem Kahn zur Herzogin 
von Bouillon 309.” — 

Man erkennt in diefem Märchen, das die Jugendgeſchichte 
des Schwanenritter8 enthält und in ähnlicher Gejtalt in Grimms 
Kindermärchen vorfommt, bekannte und verwandte Motive von 
unschuldig verleumdeten Dulderinnen, wie Genovefa, und Gottes: 
urtheilen, in denen ein heldenmüthiger Sohn die fälichlih an- 
gellagte Mutter vertheidigt und erlöft, wie 3. B. in dem Volks— 
märchen Hirlanda. 

Die Fortfegung dieſes Märchen? führt uns aber auf die 
eigentliche Schwanenritterjage, die alſo lautet: 

„Eines Tages erblidte Helias einen Schwan auf dem 
Schloßweiher, der einen Kahn hinter ſich herzog, und jah Hierin 
ein Zeichen des Himmeld. Sogleih nahm er Harniih und 
Schild und beftieg das ſeltſame Fahrzeug. Beim Abjchied 
überreichte ihm König Oriant ein Horn, das ihm in der Gefahr 
Hülfe bringen follte. Nach langer abenteuerlicher Fahrt landete 
endlich die Wunderbarfe in Nymwegen, wo gerade der Kaiſer 
Dtto I. Gericht hielt. Die Herzogin Clariſſa von Bouillon 


(897) 


12 


— — — — 


ſollte ſich nämlich wegen der ſchweren Anklage ihres Schwagers, 
des Grafen Renier von Sachſen — oder von Frankenburg? — 
verantworten, daß ſie ihren Gemahl, ſeinen Bruder, vergiftet und 
während ſeiner dreijährigen Meerfahrt in ehebrecheriſcher Buhlſchaft 
eine Tochter erzeugt habe; darum müſſe das Land jetzt an ihn fallen. 

Ein Gottesurtheil ſollte entſcheiden und die Herzogin ſich 
einen Kämpen ihrer Unſchuld erwählen. Als ſich Clariſſa und 
ihre Tochter in ihrer Noth nach Hülfe umſahen, vernahm man 
plötzlich vom Waſſer her ein Horn blaſen. Voll Verwunderung 
gewahrten alle das Schwanenſchiff, worin Helias gewappnet 
ſtand. Gerade erzählte die Herzogin ihrer Tochter einen ſelt— 
ſamen Traum, den ſie gehabt, — von einem Schwan, der über 
ihrem Haupt ſchwebte und das Feuer des Scheiterhaufens, zu 
dem ſie verurtheilt war, auslöſchte. Da nahte Helias, den 
Kaijer ehrerbietig arüßend und fi) zum Kämpfer für die Her- 
zogin erbietend. Nach einem heißen Gefechte jchlug der 
Schwanenritter jeinem überwundenen Gegner das Haupt ab. 
Da entjagte die befreite Herzogin zu Gunften ihrer gleichnamigen 
Tochter der Herrichaft und vermählte fie mit Helias. Die 
Hochzeit ward mit allem Glanze in Nymwegen gefeiert, worauf 
das junge Baar nad) Bouillon 309. Dort lebten fie in Glück 
und Freuden, und die junge Herzogin gebar ihm ein Töchterlein, 
das den Namen Ida erhielt. Nur eins quälte fie: ihr Gatte 
hatte ihr verboten, nach jeiner Herkunft und feinem Namen zu 
fragen. Sechs Jahre lang hielt fie das Gebot, aber im fiebenten 
that fie in einer Nacht die verbotene Frage. Am folgenden 
Tage zogen fie wieder nach Nymmegen zu Kaiſer Otto. Dort 
nahm Heliad unter Thränen von Weib und Kind, von Kaijer 
und Land Abjchied, und jo jehr man auch in ihn drang, zu 
bleiben, — er ließ ſich nicht Halten. Schon Harrte auch feiner 
wieder der Schwanennachen, der ihn in feine Heimath zurüd. 


geleitete; doch Niemand wußte, wohin.“ 
(898) 


Hier bricht am beiten die Schwanenritterfage ab, die in 
manchen jpäteren Weberarbeitungen noch durch allerlei unge: 
ſchickte Auswüchſe verunftaltet worden if. Aus den Söhnen 
der Herzogin jollen nachmals die Helden des erjten Kreuzzuges 
geworden fein: Gottfried von Bouillon und feine Brüder Bal- 
duin und Euſtachias. 

Aus dem Schwanenmärchen haben wir erjehen, daß hier der 
Nimbus des Geheimnißvollen, der über der dunfeln Herkunft 
des Götterfnaben liegt, gänzlich fehlt, inden es ung genau über 
die Abſtammung des Heliaß berichtet. Bei der Verbindung 
dieſes Schwanenmotivg mit dem urjprünglichen Göttermythus 
von Skeaf ift aber diefe ganze Vorgeſchichte fallen gelaffen und 
jo der reizvolle Schleier des Geheimmifjes für unfere Sage ge 
wonnen. Neu Hinzugetretene Momente find die Gerichtsjcene 
und der Zweikampf. Es find dies im Mittelalter jehr beliebte 
Romanmotive, die erjt jpäter in die Erzählung hineingetragen 
wurden. Dunkel bleibt allerdings der Berfnüpfungspunft des 
Göttermythus mit dem Schwanenmärden. Im Göttermythus 
von Sfeaf fehlt noch ganz der Schwan, der das Schiff zieht. 
In der von mir oben mitgetheilten friefiichen Weberlieferung 
der Sage fand fich ein Schwacher Anhaltspunkt in dem fchwanen: 
gleih in einer Wolfe herabjegelnden Himmelsgotte Tivaz; 
eine andere jehr einleuchtende Hypotheje jtellt der Germaniit 
Golther auf, der das Bindeglied der beiden Sagenbeftandtheile 
in folgender Faſſung ſucht: 

Bermuthlich nahte ſich der göttergleiche Fremdling in dem 
Schwanenrittermythus zuerſt als ſog. Schwanelbe, aljo in 
Schwanengeftalt, dem geliebten Weibe, wie einjt Jupiter der 
Leda, oder der Schwan ijt ohne weitere® aus dem Märchen 
in die Sage herübergenommen worden. 

Ein eigenartiger Zauber und Reiz liegt fchon an und für 


fich in der geheimnißvollen Erjcheinung des gottgejandten Ritters, 
(899) 


14 


wie er in goldener Rüftung, einem himmliſchen Wejen gleich, 
in jeiner von einem jchneeweißen Schwan gezogenen Wunder: 
barfe plöglich zum Erjtaunen aller verfammelten Zujchauer ang 
Meeresgeſtade gezogen kommt, die Unjchuld einer faljch ver- 
flagten Fürſtin zu vertheidigen. Dann das Gotteögericht und. 
das myſteriöſe Verbot an das geliebte Weib, nicht nach jeinem 
Namen und feiner Herkunft zu fragen, die aus verzeihlicher 
Neugier oder infolge böswillig eingeftreuten Argwohns veran- 
laßte Verlegung des Gebots, jowie die troß reumüthigen Jam 
mern der Gattin erfolgte Wegfahrt Lohengrins in demſelben 
Schwanennachen in ein „Reich voll Glanz und Wonne,” — 
das alles ijt vom duftigften Hauche wahrer und echter Poefte 
umkleidet, es iſt jchon an und für fich das reizvollite Gedicht. 
Kein Wunder, wenn die Dichter fi) bald dieſes danfbaren 
Stoffe bemächtigten. Wir wollen von den altfranzöfifchen 
Behandlungen des „Chevalier au cygne“ abjehen und uns nur: 
den deutichen Bearbeitungen zuwenden. 

Nach Deutichland kam die Schwanenritterfage in ver: 
ichiedener Fafjung, jo in dem Gedichte Konrad von Würz. 
burg (1260—70), das auf franzöfiihem Texte beruht, und in 
der jog. Xohengrin-Dichtung, einem Theile des mittelalterlichen 
Liedes von „Süngerfrieg auf der Wartburg”, zu der Wolfram 
von Eſchenbach am Schluſſe jeine® „Parcival“ die Anregung 
gab. Wolframs Duelle war wohl aud; eine franzöfiiche Vor— 
lage, ein Auszug des Gedicht® vom „Chevalier au cygne“ 
worin diejer zu einem Nachkommen Parcivals gejtempelt ward. 
Wir wollen uns zunächſt mit dem Inhalt der Dichtung Konrad 
eingehender bejchäftigen. 

Auch hier Handelt e8 fi) um die ſchwere Bedrängniß der 
Herzogin von Bouillon, die nad) dem Tode ihres Gatten von 
defien Bruder, dem Sacjjenherzog Renier, der gewaltiam ihr 


Land an fich reißen will, verklagt wird. König Karl hielt zu 
(900) 


15 


Neumagen (d. 5. Nymwegen) im Niederlande Gericht, vor dem 
auch die Herzogin — „von Brabant“ titulirt fie der Dichter — 
mit ihrer Tochter erjchien. Als die beiden Damen jo jammernd 
vor des Kaiſers Gerichtsjtuhl ftanden, erblicdte diejer auf ein: 
mal durdy das Fenſter auf dem Wafjer einen weißen Schwan, 
der an einer filbernen Kette ein Schifflein nad) ſich zog, worin 
ein, in eine rojenrothe Dede gehüllter Ritter jchlief, mit Teuch- 
tender Waffenrüftung, die neben ihm lag, und das Haupt auf 
fein Schild, wie auf ein Sifjen gelegt. Sogleich forderte 
Kaifer Karl feine Mannen auf, mit ihm zum Geftade zu eilen, 
den ſeltſamen Antömmling zu begrüßen. Als der Schwanen- 
nachen landete, erwachte der Nitter und ward vom Kaiſer in 
allen Ehren empfangen und von jeinen Leuten die Rüftung des 
fremden Gajtes zur Burg getragen. Der Ritter aber wandte 
fi zu feinem geflügelten Piloten mit den freundlichen Worten: 
„Flieg' deinen Weg, lieber Schwan! Wann ich deiner wieder 
bedarf, will ich dir rufen!” 

Darauf drehte der Wundervogel um und war bald mit 
jeinem Nahen aller Augen entjchwunden. Mit Staunen aber 
betrachteten Ritter und Frauen die herrliche Erjcheinung des 
fremden Helden. Darnach nahm Kaifer Karl wieder jeinen 
Sit auf dem Gerichtsftuhl ein und fette feinen Gaft neben fich. 
Nun erhob die Herzogin von Brabant, die ihre minnigliche Tochter 
an der Hand führte, ihre Klage gegen den Sachjenherzog, der 
fie ihre Landes und ihrer Leute beraubt habe, obwohl ihr 
verftorbener Gatte Gottfried fie nad) allem Rechte zur Erbin 
eingejegt; nad Konrad von Würzburg hat fie davon die ur« 
fundlichen Beweije in der Hand. Allein der Herzog macht das 
ſaliſche Recht geltend, wonach jeine Frau Regentin im Lande 
werden joll; da nun Gottfried feinen Sohn Hinterlafjen, jei er 
als Bruder der erbberechtigte Nachfolger, und wer ihm das 


Land ftreitig machen wolle, möge mit ihm darum kämpfen. 
(901) 


— 


Dazu ſind natürlich die beiden ſchwachen Frauen nicht fähig; 
ſie berufen ſich auf ihre verbrieften Rechte und appelliren an 
den Gerechtigkeitsſinn des Kaiſers. Dieſer verſprach den Schutz— 
flehenden zunächſt den Beſitz ihres Landes, verwies dem Herzog 
ſeinen Gewaltakt und bedeutete ihm, feine Sache nicht durch 
Krieg, jondern durch Schiedsrichterſpruch jchlichten zu laſſen. 
Da verlangte dieſer eine Entjcheidung durch Gottesgericht, Die 
Herzogin erjchraf; denn es lebte in ganz Niederland fein Kämpe, 
der an Größe und Stärke ihrem Gegner gewachſen jchien. 
Auch der Kaijer ward traurig und redete dem Sachſenherzog zu, 
aber diejer bejtand auf dem Zweikampf. Nicht minder große 
Beitürzung zeigte die ganze Umgebung. Troſtlos ließ da die 
Herzogin ihre thränenfeuchten Augen nad einem Bertheidiger 
ihrer Sache umherſchweifen. Weinend rief ihre Tochter aus: 
„Erbarme dich, allgütiger Gott! Fit denn Niemand zu finden, 
der unferer Noth beijteht ? Hätte e8 doch mein Vater gar wohl 
verdient, da er Jeruſalem eroberte und dort zum König gekrönt 
ward, daß die Himmlifchen Heerjcharen feiner Gattin und 
Tochter zu Hülfe kämen!” 

Das Jammern der Jungfrau trieb jogar manchem Ritter 
die Thränen in die Augen, 

Da erhob fi der Schwanenritter zur Seite des Kaijers 
und redete die Fürftin folgendermaßen an: 

„Werthe Herzogin! Sch bin in dieſes Reich gejandt, Euer 
Land zu bejchirmen und für Euer Recht zu fämpfen. Ich ver: 
traue auf Gott, daß er mich meinen Gegner befiegen läßt und 
Euer Land befreit.“ 

Bol Dankbarkeit und Rührung Füßten ihm die beiden 
Damen die Wugenlider, aber der Sachſenherzog erhob ſich 
grimmig und forderte den Schwanenritter, den er durch Zauber 
über die See geführt wähnte, zum Kampfe heraus. Der Vor— 


wurf der Zauberei reizte den gottgejandten Ritter, und er bat 
(902) 


17 


den Kaijer um ein ſtarkes Roß. Viele der vorgeführten Pferde 
erwiejen ſich zu ſchwach, bis er einen grauen Apfelichimmel 
feiner Stärfe angemejjen fand. Nun wappnete ſich der Held, 
der einen Schwan als Wappen führte. Eingehend bejchreibt 
der Dichter feine Ausrüftung und Gewandung, wie auch die 
jeine® Gegners, der an Gejtalt und Roß den Schwanenritter 
überragte. Es entjpinnt fid nun ein fürmlicher Turnierfampf. 
Nachdem die beiden Ritter ihre Lanzen zerjplittert, griffen fie 
zu den Schwertern. In hoher Spannung und mit Bangen 
ihauten der Kaifer und feine Mannen zu. Hieb und Stich 
gingen hin und wieder, heiß brannte der Kampf, wie man feinen 
je geſehen. Schon jchien der fremde Streiter vor dem grimmigen 
Sachſen in arger Noth, jo daß es den Frauen um fein Leben 
bangte, ſchon jeßte ihm der Gegner mit fiegesgewiljem Hohne 
zu, — da holte der Schwanenritter zu einem legten fräftigen 
Hiebe aus, jo daß des Feindes Haupt ind Gras rolltee Nun 
brach ein großer Jubel aus, womit man den Sieger beglüd: 
wünjchte; die Herzogin aber war mit ihrer Tochter ihrem 
Netter zu Füßen gefallen. Darauf folgte die VBermählung des 
Schwanenritter® und der Tochter und die erjte Zeit ihrer 
glüdlihen Ehe, nad) Konrad gebar ihm die junge Herzogin 
zwei Söhne. 

Doc) findet fich Hier, wie zu Anfang des Gedichtes eine 
Lüde. Ohne Zweifel ſtand darin das Verbot, nad) feinem 
Namen und feiner Herkunft zu fragen. Dies geht aus Folgen: 
dem klar hervor. 

Auf die Vorwürfe jeiner Gattin, daß die Dunkelheit feines 
Gejchlechtes dem Anjehen feiner Söhne jchade, und auf ihr 
wiederholte® Drängen wendet ſich der Ritter traurig mit den 
Worten ab, daß er jet von Weib und Kind fcheiden müſſe. 
Mit thränenfeuchten Bliden nahm er gerührt von ihnen Ab— 


ichied, und Niemand vermochte ihn mit Jammern und Bitten 
Sammlung. N. F XII. 312. 2 (908) 


15 


zurüdzubalten. In derjelben Rüftung und Gemwandung, wie 
er gekommen, ging er zum Gejtade, wo der Schwan mit bem 
Scifflein jchon feiner harrte. Unter Segenswünjchen jtieg er 
hinein und fuhr unter dem Jammergejchrei feiner Gattin und 
jeiner Kinder von dannen. Die Herzogin in ihrer Witwentrauer 
fand nur einigen Troſt in der Erziehung ihrer beiden Kinder, 
von denen nachmals die vornehmen Gejchlechter der Grafen 
von Geldern, Cleve und Rienede abjtammten, die alle den Schwan 
im Wappen führen. 

Wir erfahren aljo über den Namen und die Herkunft 
unjered Ritter in diefem Gedichte nichts; es jcheint auf eine 
Berherrlihung des Haufes Cleve abgejehen, deren Abjtammung 
bis auf Gottfried von Bouillon Hinaufgeführt wird. 

Bollftändiger erjcheint in dieſer Hinficht die in dem Liede 
vom „Süngerkrieg auf der Wartburg“ enthaltene Lohengrin— 
Dichtung, wo Name und Herkunft aus dem geheimnißvollen 
Wunderreich des Grals hinzukommt. Der Schöpfer dieſer Auj- 
färung ift ohne Zweifel, wie bereit3 erwähnt, Wolfram von 
Eſchenbach, in deſſen Parcival am Schluffe deſſen Sohn und 
Nachfolger „Zoherangrin“ durch eine Injchrift am Grale zum 
Bertheidiger der bedrängten Elja von Brabant berufen wird. 
Doch enthalten dieſe Schlußverje des gewaltigen und fonft fo 
ausführlichen und weitjchweifigen Epos nur eine flüchtige Skizze, 
in der wir jehr wichtige und wejentliche Züge der Sage ver- 
mifien. Da ijt feine Rede von einer Anklage der Fürftin von 
Brabant, von einem Gericht vor dem Kaiſer, von einem Gottes: 
urtheil. Auch erjcheinen bei Wolfram nicht zwei Frauen, 
Mutter und Tochter, in Bedrängniß, jondern nur eine jugend: 
lihe Elja, die, weil fie von einem ihr vom Himmel zugejandten 
Ritter ſchwärmt, alle übrigen Bewerbungen jtandhaft abweiſt. 
Vermuthlich folgte Wolfram einer altfranzöfiichen Quelle. . Den 
Namen Lohengrin Hat man auf den Helden eines franzöfifchen 


(904) 


19 





Gedichte: „Garin li Loherains“, d. 5. Garin der LZothringer, 
zufammengezogen Xohengrin, zurüdgeführtt. Wolfram Hatte eine 
bejondere Borliebe für ſeltſame Namen. | 

Fußt nun aucd der Dichter auf einer altfranzöfifchen 
Ueberlieferung, jo jcheint doch da Moment der verbotenen 
Frage nad) Namen und Herkunft des Ritters neu und eigen- 
artig, und eine überaus glüdliche Erfindung ift eg, die Schwan. 
ritterjage mit dem Mythus vom heiligen Grale zu verbinden. 
Dadurch erhält die Dichtung einen ebenjo glanzvollen, wie er- 
greifenden Hintergrund. 

Der Legende nach verjteht man unter dem „Gral“ eine 
fojtbare Baje oder Schüfjel, die aus einem Edelſtein gearbeitet 
war, welcher der Krone Lucifers entfiel, als er wegen feines 
Abfalld von Gott aus dem Himmel gejtürzt ward. In diefer 
joll Joſef von Arimathia, al3 der Lanzenknecht Zonginus des 
Heilands Seite durchſtach, das Blut Ehrifti anfgefangen haben. 
Ja, zuvor hatte ſich ſchon Jeſus beim heiligen Abendmahl ihrer 
im Hanje des Nifodemus bedient. Einer genuefiichen Tradition 
gemäß joll urfprünglich die Königin von Saba diejes koſtbare 
Gefäß dem König Salomo verehrt haben. Bon diefem kam es 
an Herobes, dann an Nikodemus und jchließlih an Joſef von 
Arimathia. Dieſe Wundervaje verlieh dem Joſef von Arimathia, 
der von den Juden, weil er den Leichnam Ebrifti vom Kreuze 
genommen, in den Kerfer geworfen ward und vierzig Jahre darin 
jchmachtete, die Kraft des Lebens und neue Stärle im Anjchauen 
berfelben. Der Kaiſer Titus, angeregt von der heiligen Veronika, 
die bekanntlich ein Schweißtuh mit dem Abbild des Heilands 
bejaß und vom chriftlihen Glauben erleuchtet, erjchien mit 
einem Heere vor Jeruſalem, zerftürte es, und fein Sohn Bes: 
pafian befreite Joſef von Arimathia aus feinem Kerker, den 
er von himmliſcher Klarheit erleuchtet fand. Joſef taufte 


heimlich den Kaifer und trat mit jeinem Gral, der ihn wunder: 
2° (905) 


20 


bar erhielt, eine Pilgerreije an, auf der er bejonders die Un- 
gläubigen befehrte. 

Sein Nachfolger Alain jättigte einft mit einem einzigen 
Fiſche fich und jeine ganze Schar von Gläubigen. Seit der Zeit 
führte er den Titel:; „Der Fiſcherkönig“ („Le roi p&cheur‘‘), 
und es ijt bedeutjam, daß in der chriftlichen Symbolik der 
Fiſch Chriſtus ſelbſt vorſtellt. Hat man doch die Buchjtaben 
des griehifhen Worte® „LOVI“, aljo zujammengejeßt: 
Insous Xgıoröog Ocoũ Yiog Iwrye, d. h.: „Jeſus Chriſtus, 
Gottes Sohn, Heiland.” Vielleicht hatte man auch den fiichenden 
Petrus und die Worte Ehrifti im Sinne: „Ihr werdet Menfchen: 
fiiher fein.” Im Anklang hieran findet auch wohl Parcival in 
der Dichtung Wolframs den fiechen Amforta® zuerjt fiſchend 
am Weiher. 

Die Etymologie des Wortes graal ift dunkel; Manche leiten 
e3 von den lateinijchen Wörtern sanguis regalis, d. h. fünigliches 
Blut, Andere von gradale, was man fälſchlich mit Schüfjel über- 
jet hat; denn urjprünglid) bedeutet e8 einen Theil des Kirchlichen 
Neiponjoriengefangs und dann dag Buch jelbit, das ihn enthielt. 
Erjt jpätere Gralromane gaben ihm die Deutung „Schüfjel”. 
Nahmals ward dieje heilige Schüffel, weil fie das Blut des 
am Kreuze hängenden Heilands auffing, mit dem Abendmahls- 
kelch ſelbſt identifizirt. Wer nun dieſen jegen- und wunder: 
ipendenden Pokal anjchaut, jchöpft ſtets neue Kraft, und ſei er 
auch noch jo jiech, ihm bleichen nicht dag Haar und die Wangen, 
er altert nicht. Jeden Charfreitag bringt vom Himmel eine 
Ichneeweiße Taube eine Hoftie, durch die fich die Wunderfraft 
des Gral3 erneuert. Aus der Gralögemeinde, deren Herzen 
mit jeliger Reinheit begnadet find, entwickelt fi) nachmals eine 
ritterliche Brüderjchaft, die an die geiftlichen Ritterorden zur 
Beit der Kreuzzüge erinnert; an der Spite des Heiligthums 
jteht der Gralfönig. 


(906) 


21 

Wie uns die Legende weitererzählt, fam einmal eine Zeit, 

wo fih die Gralshüter ihrer hohen Aufgabe nicht mehr ge- 
wachjen zeigten, und fich fein würdiger Nachfolger Alains mehr 
fand. Da follen die Engel den Gral jo lange jchwebend in 
den Lüften gehalten haben, bis fie Ziturel, den jagenhaften 
Sohn eines chrijtlichen Königs von Anjou, zum Pfleger des 
HeiligthHums erjahen. Diejer brachte das Kleinod, das ihm die 
Engel aus wunderbar ſchimmernden Wolfen niederjenften, nad) 
Salvaterre in Biscaya und erbaute auf dem unnahbaren Berge 
Montfalvage eine prachtvolle Gralburg. Obwohl bereit3 400 
Jahre alt, vermählte jich Hierauf Titurel und hütete den Gral. 
Der Berg Montjalvage ragte inmitten eines dichten Waldes 

von Ebenholzbäumen, Eyprejien und Gebern, durch welchen 
Niemand ungerufen Hindurchdringen konnte, in die azurblaue 
Luft, feine Fläche von Onye ward glatt geichliffen, daß fie 
feuchtete wie der Mond. Darauf zeigte ſich eines Morgens 
wunderbarerweife von Gotte® Hand der Grundriß nad dem 
Plan des Tempels in Jeruſalem gezeichnet. Bon rothem Gold 
und Edeljteinen (Türfifen, Amethyjten u. a.), ſowie von koſt— 
baren Hölzern ward das Urbild aller irdiſchen Gralstempel 
erbaut. Zweiundſiebzig achtedige Chöre und Kapellen bildeten 
die Rotunde, und auf je zwei Kapellen ragte ein Thurm mit 
ſechs dreifenftrigen Stodwerfen empor, zu denen von außen 
fihtbare Spindeltreppen fich Hinanwanden. Alle diefe Thürme 
überragte ums doppelte ein gewaltiger Mitteltfurm. Das 
Ganze ruhte auf ehernen Säulen, und den Plafond zierten 
Bildwerfe von Gold und Perlen. Das Gewölbe leuchtete von 
blauem Saphir, darüber waren grüne Sammetdeden gebreitet. 
In Schimmernden Diamanten und Topajen waren an der Dede 
die goldene Sonne und der filberne Mond nachgebildet, jowie das 
Heer der flimmernden Sterne, jo daß man auch zur Nachtzeit 


den geftirnten Himmel über fich zu erbliden glaubte. Die 
(907) 


2 


Tenjter von Kryſtall, Beryllen und farbigen Edelſteinen 
flanmten im Sonnenliht wie im Negenbogenglanz, und an 
den Wänden waren goldene Lauben von Weben-, Lilien: und 
Rojengewinden, darinnen ſich Vögel wiegten, die durch ein 
fünftliches Orgeljpiel mwunderlieblid fangen. Der Ejtrich von 
wafjerhellem Kryjtalle ahmte die Meerestiefe nach, in der alle 
Thiere und Pflanzen des Gewäſſers zu fluthen jchienen. Die 
Thürme ftrahlten von Edeljteinen und Gold; die Dächer waren 
mit rothem Golde geblanft und mit blauem Schnielzwerf ver- 
ziert. Jeder Thurm trug auf brennendem Rubinknopf ein 
fryjtallenes Kreuz, worauf ein rothgoldener Adler mit ausge: 
breiteten Schwingen jchwebte. Won der Ferne meinte man, 
der Bogel kreiſe in freier Luft, da man das durchfichtige Kreuz 
nicht erkennen fonnte. Den Knopf des Hauptthurmes bildete 
ein riefiger Karfunfel, der auch bei Nacht weithin leud,tete und 
den Gralßrittern zum Leitjtern diente. Mitten unter dem Kuppel: 
gewölbe war der ganze Bau noch einmal im Kleinen als 
Saframentshänschen dargeftellt; Hierin ward der Gral jelbit 
aufbewahrt. 

Drei Thore führten zum Tempel: von Morgen, Mittag 
und Mitternaht; das waren die Pforten des Glaubens, der 
Hoffnung und Liebe. Zwei Thore führten zum boden Chor, 
genannt: „Unſchuld und reines Leben“, und die andern: „Reue 
und aufrichtige Buße“; fie bezeichneten den Doppelweg zum 
Himmel. Zehn große Baljamlichter verfinnlichten die zehn 
Gebote; zwölf Leuchtende Edelſteine jymbolifirten die zwölf 
Tugenden oder Glaubenslehren. 

In dreißig Jahren vollendeten die Baumeifter mit Hülfe 
der Engel das Prachtwert ohne Meihel und Hammer; denn fie 
fanden alle Steine gejchnitten vor. 

Bei diefer Schilderung wäre man verjucht, an ein Märchen: 
gebilde aus 1001 Nacht zu denken und jollte nicht meinen, 


(908) 


23 


etwas Aehnliches in Wirklichkeit darftellen zu können. Und 
doch verjuchte die Künftlerhand, nach diefer Bejchreibung des 
Dichter Albreht v. Scharfenberg in jeinem Gedichte: „Der 
jüngere Titurel” (um 1270) einen jolchen Wunderbau auf Erden 
zu verwirklichen. Es ift die prächtige Sreuzfapelle auf der Burg 
Karljtein bei Prag, welche der Kaiſer Karl IV. nach dieſem 
Modell zur Aufbewahrung der böhmischen Reichsinfignien er: 
bauen ließ. Auch bei der Sophienfirche in Konftantinopel und 
der durd König Ludwig I. von Bayern im Ritterjtift zu Ettal 
bei Oberammergau im NRotundenftil erbauten Kirche joll das 
Modell des Graltempels vorgejchwebt haben, und jo diente wohl 
auch bei Erbauung moderner Feſtſpielhäuſer, wie zu Baireuth 
und Worms das Bild des Graltempeld als Modell. 

Wie jich jo die Bhantafie gefiel, den Graltempel zu erhalten, 
jo aud) den Gral ſelbſt. Bis in die neueſte Zeit zeigten die 
Genuefer einen Gral in einer dem Johannes dem Täufer ge 
weihten Kapelle ihrer San Lorenzo - Kirche unter dem Namen: 
„il sacro catino“, den fie 1101 bei der Einnahme von Cäſa— 
rea gefunden Haben wollen; angeblich beitand dieſe Schüfjel 
aus einem einzigen Smaragd; er erwies fich aber bei näherer 
Unterfuhung als Glasfluß. Auch Konftantinopel wollte den 
echten Gral bejigen, ebenjo Paris u. a. Orte. 

Der Sage nad) jollen ihn Engel bei der immer mehr zu- 
nehmenden Gottlofigkeit des Abendlandes mitfamt feinem Tempel 
tief in den Drient getragen Haben, in das Wunderland des 
Priefterd Johannes. 

Man begreift leicht und fühlt e8 unwillfürlih, wie jehr 
die ganze Sage durch ben Reiz der geheimnißvollen Abkunft 
de3 Nitterd gewinnt und welcher leuchtende Hintergrund und 
welche entzüdende Perjpeltive dem Hörer eröffnet werben, wenn 
fein geiftiger Blid die Wunder des Grals erjchaut. Wie mußte 
der gottgefandte Erretter noh in Elſas und aller Zuhörer 


(909) 


24 





Augen gewinnen, wenn er, wie in R. Wagners Oper in einem 
von überirdijcher Sphärenmufif begleiteten Necitativ feine Her- 
funft und Abjtammung erzählt: 


„Im fernen Land, unnahbar euren Schritten, 
Liegt eine Burg, die Montjalvat genannt; 

Ein lichter Tempel ftehet dort inmitten 

So foftbar, wie auf Erden nichts befannt: 
Drin ein Gefäß von mwunderthät’gem Segen 
Wird dort als höchſtes Heiligtyum bewacht, 

Es ward, daß jein der Menjchen reinfte pflegen, 
Herab von einer Engelihar gebradt; 
Aljährlich naht vom Himmel eine Taube, 

Um neu zu ftärfen jeine Wunderfraft: 

Es heißt der Gral, und jelig-reinfter Glaube 
Ertheilt durch ihn fich jeiner Nitterichait. 

Wer nun dem Gral zu dienen ift erforen, 

Den rüjtet er mit überird’iher Macht; 

An dem ift jedes Böjen Trug verloren, 

Wenn ihn er fieht, weicht dem des Todes Nacht; 
Gelbft wer von ihm in ferne Land’ entjendet, 
Zum GStreiter für der Tugend Recht ernannt, 
Dem wird nicht jeine heil’ge Kraft entwendet, 
Bleibt als jein Ritter dort er unerkannt. 

So hehrer Art doch ift des Grales Segen, 
Enthüllt — muß er des Laien Auge flieh'n; 
Des Nitterd drum ſollt Zweifel ihr nicht hegen, 
Erfennt ihr ihn, dann muß er von euch zieh'n. 
Nun Hört, wie ich verbotner Frage ohne: 
Bom Gral ward id) zu euch dahergejandt, 
Mein Vater PBarcival trägt jeine Krone, 

Sein Ritter id — bin Lohengrin genannt.“ 


Einen ſolchen Gatten zu verlieren, muß für die zurüd. 
gelafjene Unglüdliche doppelt ſchmerzlich und vorwurfsvoll fein. 
Aber auch dem jcheidenden Lohengrin geht beim Abjchied ein 
Schwert durchs Herz. Wir fühlen hier die Nachklänge des alten 
Mythus, wie der nad) wahrer und wirklicher Liebe fich jehnende 
Gott fi zum irdifchen Weibe herabneigt, wie ihn aber die 


(910) 


25 





Uebertretung de8 zur Wahrung feines göttlichen Geheimniſſes 
gegebenen Gebote um jein erhofftes Glück bringt und wie hier 
wiederum der rein menschliche Schmerz durchbricht. 


„D Elja, was hajt du mir angetfan? — 

Als meine Augen dich zuerft erjahn, 

Zu dir fühlt’ ich in Liebe mich entbraunt, 

Und jchnell hatt’ ich ein neues Glück erfannt: 
Die hehre Macht, die Wunder meiner Art, 

Die Kraft, die mein Geheimniß mir bewahrt, — 
Wollt’ ich dem Dienst des reinften Herzens weihn: 
Was riffeft du nun mein Geheimniß ein? 

Set muß ih, ad, von dir gejchieden ſein!“ — 


Ehe wir jedoch näher auf die Wagnerjche Oper eingehen, 
müfjen wir nocd ein paar Worte über die in das mittel. 
alterliche Lied vom „Sängerfrieg auf der Wartburg“ eingejchaltete 
Lohengrin-Dichtung fagen. Hier trägt nämlid Wolfram v. 
Eihenbah, von dem Zauberer Klingjor provozirt, die Ge: 
ihichte Lohengrins vor. 

Die Erzählung hebt mit der Noth Elſas von Brabant 
an, die an ihrem Roſenkranz ein Glöcklein trug, das fie läutete, 
wenn fie in Bedrängniß war. Diejen Klang vernahm man. in 
König Artus Neich, der hier jeltjamerweife als Gralshüter 
auftritt; Parcival als Lohengrins Vater jpielt eine mehr 
untergeordnete Role. Zum Netter Elja8 wird Lohengrin 
entjandt, doch zunächſt die Veranlaſſung ihres Leidens ge» 
ihildert. Nach ihrer Eltern Tode hatte fi Graf Telramund 
um ihre Hand beworben, ward aber als einfacher Lehensmann 
abgewiejen, obwohl ihm die Fürjorge für Elja anvertraut 
worden war. Zornig verflagte fie nun diefer vor dem Kaiſer 
wegen Eheverjprechens, und die Jungfrau jollte zu ihrer Ber- 
theidigung einen Kämpfer ftellen, doc Niemand wagte den 
Kampf mit dem gewaltigen Telramund. Da ließ Elja in ihrer 
North ihr Glöcklein erklingen. Der Ton jchwoll gewaltig an 


(911) 


26 





und ward im Gralsheiligtfum vernommen. Eine Injchrift an 
der Tempelwand verkündete Elſas Bedrängniß und bezeichnete 
Lohengrin zum Kämpen. Schon wollte er ſich wappnen und 
ein Roß bejteigen, da fam ein wilder Schwan mit einem 
Scifflein die Fluthen dahergezogen. Lohengrin hielt dies für 
ein Zeichen des Himmel? und bejtieg die Wunderbarfe.. Er 
hatte jede Art von Proviant mit den Worten ausgefchlagen : 
„Ber Herr, in deſſen Dienften ich jtehe, wird jchon für mid) 
forgen !“ 

Fünf Tage lang trieb er jo, ohne Nahrung, der Winde 
und der Wellen Spiel, auf der hohen See. Einmal fing der 
Schwan einen Fiſch und jchlang ihn hinunter. Als ihm Lohen- 
grin Vorwürfe machte, daß er ihn vergefle, tauchte er unter 
und bradte ihm eine Hoftie, die der Ritter mit jeinem ge- 
flügelten Fährmanı theilte. Hierauf jang ihm der dankbare 
Wundervogel eine entzücdende Weije. 

Endlich Tandete der Held in Antwerpen, wo Alles ver- 
wundert zum Strande lief, den ſeltſamen Anfümmling, der, auf 
jeinem Schilde jchlafend, im Schwanennachen anfam, zu begrüßen. 
Ja, er ward in feierlicher Prozeſſion unter Glodenläuten und 
mit flatternden Fahnen wie ein göttliche Wunder in die Stadt 
geleitet. Auch Elja hieß ihn willkommen, und er ergriff ihre 
Hand, indem er ſich zu ihrem Beichüger erbot. Doc von dem 
Sottesurtheil ift vorläufig noch nicht die Rede. Es folgt nun 
eine weitläufige Bejchreibung von Feitlichkeiten, Verfammlungen, 
Berathungen und Feierlichkeiten in der Kirche. 

Endlich) zieht man nad) Mainz, wohin Kaifer Heinrich der 
Finkler einen Reichstag berufen Hatte. Dort überwand Lohen: 
grin jeinen Gegner im regelrechten Turnierfampf, und der über: 
wundene Telramund wird nad) Eingeftändniß feiner Züge hin- 
gerichtet. Elja wird hierauf dem Heißgeliebten Graläritter in 
Antwerpen angetraut und groß ift ihr Minneglüd, worüber ſich 

012) 


der Dichter mit recht unverhüllter Sinnlichkeit gleich) Wieland 
ausläßt, nur eins quält die junge Frau: ihr Gemahl hatte 
ihr verboten, nach feinem Namen und jeiner Herkunft zu fragen; 
ſonſt müfje er fie verlafien. 

Um den Gralsritter auch auf dem Schlachtfelde als Helden 
zu zeigen, läßt der Dichter ihn an Kämpfen gegen Ungarn und 
Sarazenen theilnehmen. Durch die Befämpfung der Ungläubigen, 
gegen die befanntlich Heinrich der Finkler nicht focht, jollte wohl 
Lohengrin noch ein bejonderer Nimbus verliehen werden. Dazu 
fommt, daß dies Alles in unendlicher Breite gejchildert wird. 

In Köln fäte die Herzogin von Eleve, deren Gemahl von 
Lohengrin im Turnier befiegt worden war, Miftrauen in Eljas 
Herz bezüglich der ritterbürtigen Abkunft ihres Gatten. Nun 
quält Elja Lohengrin, ihr feine Abftammung zu offenbaren, 
damit ihren Nachkommen kein Makel anklebe. Umjonjt verjucht 
ihr Gemahl fie zurüdzuhalten und zu beichwichtigen. Da, als 
ihr Drängen immer ungeftümer wird, verjprady er ihr ernit, 
ihr Rede zu jtehen. Zu dem Zwecke bat er den Kaijer und 
jeine Umgebung, ihn wieder gen Antwerpen zu begleiten. Er: 
ftaunt willfahrte ihm diejer, und dort enthüllte Zohengrin dann 
jeine Abkunft von Parcival und die Wunder des Grals im 
Reiche des Königs Artus. Weinend empfiehlt er Weib und 
Kind der Fürſorge des Kaijers, Hinterläßt ihnen Ring, Horn 
und Schwert zum Andenken und bejteigt den Schwanennachen, 
der inzwijchen wieder genaht ift. Alles ijt von tiefer Rührung 
ergriffen, und jelbit „der Kaijer brüllte wie ein Rind”, meldet 
jehr naiv das Lied. 

Dann folgt noch al3 Anhang eine gereimte Kaifergejchichte 
bis Heinrich II. 

Die Einmiſchung der intriguanten Hofdame von Cleve 
trug vielleicht zur lokalen Fixirung der Sage in Cleve bei. Dort 
nennt fich die Herzogin Beatrix und ihr gottgejandter Ritter 


(913) 


28 


Helias. Noch gemahnt an die Begebenheit der Schwan im 
Scloßthurme zu Eleve. 

Nah einem Ausläufer der Sage wird Lohengrin nach 
jeiner Rückkehr zum heiligen Gral jpäter noch einmal entjandt 
und zwar zur Fürjtin Belaye (d. h. „Schön-Aja“) von Lyza— 
borie (Luxemburg), deren Gemahl er wird. Dieje weiß die 
verbotene Frage bejjer mit der Zunge zu hüten, ja fie liebt 
ihren Gatten jo über alle Maßen, daß fie wie todt zu Boden 
fällt, wenn er fi) einmal aus ihren Armen windet, auf die 
Jagd zu gehen. Da rieth ihr eine Kammerfrau, ſich ihren 
Gatten durch Zauber zu bannen: fie müfje, wenn er, ermattet 
von der Jagd, im Schlummer liege, ein Stüd Fleiſch aus 
jeinem Leibe jchneiden und ejjen. Davor wandte fich jedoch 
Belaye jchaudernd ab und Ächidte die Zofe weg. Da ging 
dieſe erbojt zu Belayes Verwandten, die ihr den herrlichen 
Gemahl neideten, und log ihnen allerlei vor, um fie zu bereden, 
das Fleiſch aus Lohengrins Leib zu jchneiden. Als nun der 
Held einjt, von der Jagd müde, fchlummerte, däuchte ihm im 
Traum, über ſich taufend gezüdte Schwerter zu jchauen. Er: 
ihroden fuhr er auf und jah in der That ob jeinem Haupte 
die Waffen der Verräther. Feige bebten fie zurüd und er 
erjchlug ihrer mehr ala Hundert. Doch fie ließen nicht ab und 
rubhten nicht, bis fie. ihm am linken Arme eine jchwere, un- 
heilbare Wunde beigebracht Hatten. Darnach reute fie ihre That 
und fie fielen ihm zu Füßen; doch e8 war zu jpät: der Held 
ſtarb. Die Leiber beider Gatten wurden einbalfamirt und in 
einem Sarg zujammengebettet,; über der Gruft ward ein 
Klofter erbaut. Das Land Lyzaborie nannte fich jetzt Lotha— 
ringen. — 

Es erübrigt mir nun noch, über Richard. Wagners bahn- 
brechende Tonſchöpfung „Lohengrin“ ein paar Worte zu jprechen : 

Liszt ſchrieb darüber: begeiftert feinem Freunde: . 


(914) 


29 


„Mit dem Lohengrin nimmt die alte Opernwelt ein Ende; 
der Geijt jchwebt über den Wajjern, und es wird Licht!” 

Und in der That findet fich hier bezüglich der Auffafjung 
des gottgefandten Gralsritters und Elſas das Höchſte und 
SFoealfte in Wort und Handlung verbunden mit einer fait 
überirdifchen Sphärenmufit, wie e3 die Kunft aller Zeiten bis 
dahin noc) nicht zum Ausdrud gebracht. Es überfommt Einem 
wie eine göttliche Offenbarung des Schönften und Erhabenjten, 
und verzüdt wird der Geift emporgetragen in ein Lichtreic) 
voll Glanz und Wonne. 

Während feines Aufenthaltes in Paris (1842) bejchäftigte 
jih der Meijter mit dem wunderlichen Gedichte vom Sänger: 
frieg auf der Wartburg, worin die. Zohengrin-Dichtung einge: 
ihaltet ift. Doc; zunächſt war e3 die Geftalt Tannhäuſers, 
die ihn feſſelte. Darnach tauchte ihm. auch der Gralgritter 
wieder und zwar in verflärter Beleuchtung auf. Er jchied das 
Unwefentlihe und Weitjchweifige aus und rücte die Thatjachen 
auf einen Scaupla, nämlich nad) Antwerpen zujfammen. 
Ebenfo entlehnte er . auß verwandten Sagen wirkungsvolle 
Motive, wie den böjen Rath der Zofe Belayend von Lyzaborie, 
ihrem Gemahl ein Stüd Fleiſch aus dem Leibe jchneiden zu 
lafjen. Aus dieſer Zofe und jener intriguanten Herzogin von 
Cleve, deren Gemahl von Lohengrin im Turniere befiegt worden, 
ſchuf der Meifter feine dämonijche Ortrud, die zugleich als 
Ausüberin hölliſcher Zauberfünfte und Anhängerin des germani- 
jhen Heidenthums einen wirfungsvollen Kontraft zu dem gott- 
gejandten Gralgritter und. der chriftlihfrommen Elja bildet. 
Auch aus dem Schwanenmärchen entlieh er anziehende Motive. 
Bekanntlich ift ja darin der Schwan der nicht wieder ent: 
zauberte Bruder des Helias, der ihn im Nachen zur Herzogin 
von Bonillon zieht. Daraus machte Wagner einen Bruder 


Eljas, den Ortrud verzaubert hatte, worauf fie die unjchuldige 
(915) 


30 


Schweiter verflagte, ihn im Weiher ertränkt zu haben, in der 
Abficht, allein regieren zu können. Bekanntlich entzaubert ihn 
Lohengrin am Schluſſe der Oper durch fein inbrünftiges Gebet, 
und ſtatt des Schwanz zieht nad) des Komponiften eigener 
Erfindung die Gralstaube den gottgefandten Ritter heimwärts 
nad) Montjalvage.. Wie genial der Meifter zu kombiniren 
verftand, geht auch aus dem dem Nibelungenlied entlehnten Rang- 
jtreit der beiden Fürftinnen beim Gang ind Münfter hervor. Dabei 
nimmt auch Telramund die Gelegenheit wahr, Elſa in ihrem 
Vertrauen und Glauben ihrem Gatten gegenüber wankend zu 
machen und fie zu bejtimmen, die Thüre des Brautgemachs zum 
nächtlichen Ueberfall offen zu Lafjen, fcheinbar um ihm nur den 
Finger zu rigen, in Wahrheit aber, um ihn zu tödten. Sie 
ſchwankt und finft dem warnenden Gatten weinend an Die 
Bruft. Nach Telramunds und Ortruds Borgeben jollte das 
Riten des Fingers den Zwed Haben, ben Helden im feiner 
Menichlichkeit zu offenbaren, zu jeden, ob ihm rothes Blut ent« 
riejele; die Geifter nämlich hatten wäſſeriges Blut. 

Ob Wagner, wie Munder („Beil. d. Allgem. Augsburg. 
Zeitung 148, 1891”) nachzuweiſen verjucht, in der dämonijchen 
Eglantine in Weber Oper „Euryanthe” das Vorbild zu jeiner 
teufliichen Ortrud gefunden, wollen wir dahingeftellt fein laſſen. 
Unferer Meinung nad) geht man in dem Aufftöbernwollen jog. 
Quellen und Vorlagen viel zu weit, und gewifje Aehnlichkeiten, 
wie 3. B. Lohengrins Zweikampf mit Telramund mit dem 
Gottesurtheil in Marjchner® Dper: „Templer und Jüdin“ be 
weijen noch feine direkte Entlehnung. Ebenjo verhält es ſich wohl 
auch mit der Parallele der Brautnachticene zu einer verwandten 
Situation in Immermanns dramatifcher Mythe: „Merlin“. Dort 
ringt nämlich) auch das Weib dem Manne, ben fie liebt, fein 
Geheimnig ab und vernichtet jo fein Glück, doch Hat die ſonſt 
ſeelenlos fofettirende Niniane wenig Aehnlichkeit mit Elſa. 


(916) 


31 


Alle diefe Hinweife find nicht imftande, der Originalität 
Wagners Abbruch zu thun, der in die eigentliche Geftaltung 
und Bertiefung der Sage die jeiner genialen Wejenheit ent. 
jprechenden Züge und Auffafjungen bineintrug, die Charaktere, 
Handlungen, jowie den ganzen technischen Aufbau des Dramas 
jelbftändig jchuf. Seine Hauptidee war ohne Zweifel bie, 
daß ein ſterbliches Geſchöpf die Offenbarung eines göttlichen 
Weſens nicht verträgt, wie Semele den geliebten Jupiter nicht, 
als er ihr im feiner ganzen olympiichen Majeſtät erjchien, 
Was Zeus bei Semele juchte und fand, war die ausgefprochene 
Sehnſucht und die Enthüllung des Wejens der Liebe. „Mag 
fih da8 Sehnen des Menjchen noch jo hoch über die Grenzen 
des Irdiſchen hinausjchwingen, auch aus den höchſten Sphären 
kann er endlich doch nur wiederum das Reinmenſchliche begehren; 
die Liebe verlangt nothwendig nad) voller finnlicher Wirklichkeit. 
Um Liebe zu finden, fteigt der Göttlichgeartete zu dem menſch⸗ 
lihen Weibe herab, unerfannt; denn er jucht nicht Bewunderung 
und Anbetung, jondern volle unmittelbare Liebe, die ſich dem 
Geliebten in unbedingtem Glauben Hingiebt; er will warm 
empfindender und warm empfundener Menjch fein. Doch der 
Glanz feiner höheren Natur verräth ihn; das Geheimniß feiner 
Göttlichkeit wird ihm entriffen; er muß erkennen, daß die Liebe, 
die er empfunden, auf Anbetung fich gründete, und fehrt, in 
jeinem höchften Sehnen unbefriedigt, in feine überirdijche Ein- 
ſamkeit zurüd. Aber wie er, um wahrhaft geliebt zu werben, 
fih in den Schleier des Geheimnifjes hüllen muß, jo muß das 
Weib um ihrer Liebe willen den Schleier heben. Den Unbe: 
fannten kann fie bloß bewundern, nur wen fie in feinem vollen 
Weſen erkernt, den kann fie lieben. Nicht als neugierige Evas- 
tochter thut Elja die Frage nad) Lohengrins Namen und Urt, 
jondern als ein Weib, das der höchften Liebe theilhaftig werben 
will, jei es auch um den Preis des eignen Unterganges. Ihre 

917) 


32 

That, nach ihrem fittlihen Weſen tiefberechtigt, obgleich fie gegen 
ein äußeres Geſetz verjtößt, wird jomit zur tragischen Schuld. Elſa 
iſt die tragifche Heldin des Dramas; wie auch jonft mehrfad) bei 
Wagner, iſt das Weib die handelnde Hauptperjon der Tragödie. 
Sie wird jchließlih dur ihren Tod von Schuld und Qual 
erlöft; Zohengrin ift durch jeine höhere Natur vor dem phyfiichen 
Untergang gejchüßt, nicht aber vor dem jeelijchen Leid, daß ihm 
in feine Einjamfeit folgt. Er fteht durchaus nicht etwa kalt 
erhaben den menjchlichen Empfindungen gegenüber; diefem Irrtum 
vorzubeugen bat Wagner überall Sorge getragen und von der 
piychologiichen Entwidelung des Gralsritters alles Uebernatür: 
lihe und Wunderbare entfernt. Dagegen wußte er das Wunder: 
bare jeines äußeren Erfcheinens vortrefflic für den künftlerijchen 
Aufbau der einzelnen Akte zu verwerthen. Ueberall tritt Xohen- 
grin jelbjt erſt im Augenblic der höchſten dramatiſchen Erregung 
ein; er iſt es immer, nach dem alles fich jehnt, dem alles ge: 
jpannt entgegenblidt.“ 

Was aber noch weiter bewundernswerth ift in Wagners 
Lohengrin, das ift bei aller poetifchen Auffafjung und Ber: 
flärung feines Stoffes die gejchichtliche Wahrheit und Treue, 
womit er mittelalterliche Zuftände und Sitten charafteriftiich 
darſtellt. So entipricht die Vorführung des Gerichtstages, 
was Ort, Zeit und Art der Berhandlung anbetrifft, ganz 
genau einem altdeutjchen jog. Ding. Solche Volksverſammlungen 
fanden ja zu alten Zeiten meijt unter freiem Himmel, in heiligen 
Hainen, auf Bergen, in Thälern, auf Wiefen und Auen und 
bejonder8 gern in der Nähe von Gemwäfjern ftatt, unter dem 
Schatten geweihter Linden und Buchen, aber namentlich gern bei 
mächtigen, alten Eichen, woher heute noch die Namen „Dreieichen, 
Siebeneichen“ u.dergl. Ein vierediger oder runder Raum war für 
den Richter und die Urtheiler abgejondert, und außen herum jtand 
das Volf im jog. Umftand. Die Zeit war in der Regel Vormittag. 


(918) 


35 


Dies alles ftimmt mit der Scenerie bei Wagner: man 
denfe fi) eine Aue am Ufer der Schelde bei Antwerpen. Es 
handelte fih um einen jog. gebotenen oder außerordentlichen 
Gerichtötag, um den Heerbann aufzurufen. Der König jelbit 
als oberjter Gerichtsherr und Vertreter des Reichsrechts führt 
den Vorſitz, und die Stelle der Schöffen vertreten die ſächſiſchen 
und thüringiichen Großen, die des mittelalterlichen Frohnboten, 
der mit der Ladung und Handhabung der Ordnung betraut 
war, vertritt in unſerem Drama der Hervorrufer mit dem 
Heroldsjtab in der Hand. 

Meiiterhaft it die fernige Aniprache des Königs, worin 
in knappen, treffenden Worten Die ganze Vergangenheit des 
deutfchen Reiches mit ihrer Ungarnnotd und die Verdienſte 
Heinrichs I. als Städtegründer und Bildner eines Reiterheeres 
geichildert werden und zugleich des Komponiften eigene echt 
deutiche Gefinnung hervorleudtet. So namentlich auch in den 
Worten des dritten Aktes: 


„Wie fühl ich ftolz mein Herz entbrannt, 

Find ich in jedem beutichen Land 

So fräftig reihen Heerverband! 

Nun joll des deutſchen Reiches Feind fih nahn, 
Wir wollen tapfer ihn empfahn, 

Aus feinem öden Oſt daher 

Soll er fih nimmer wagen mehr: 

Für deutihes Land das deutiche Schwert! 

So jei des deutfchen Neiches Kraft bewährt!” 


Ganz nad) Recht und Braud) tritt nun in umfer jog. Ding 
der Kläger vor, und die abwejende Verklagte wird vom Frohn—⸗ 
boten vor Gericht geladen. Vortrefflich iſt die Theilnahme des 
nach beiden Seiten bewegten Volkes gemalt. Da angeſichts 
der harten Anklage einer jo angeſehenen Perſönlichkeit, wie 
Telramunds, die Entjcheidung ſchwer zu treffen ijt, jo legt ber 


König das Urtheil in Gottes Hand, appellirt aljo an ein fog. 
Sammlung. R. F. XII. 312. 3 (919) 


34 


Gotteögericht, indem man annahm, die Gottheit jelbjt würde 
zum Siege der Unfchuld eingreifen. Hier ijt e8 die Form des 
Bweifampfes, bei dem die Frau ſich einen Vertheidiger ihrer 
Unschuld ftellen mußte. In der Traumvifion freilich, jowie in 
dem Erjcheinen des gottgejandten Ritters verläßt der Dichter 
den Boden der Wirklichkeit und betritt daS Neich der Wunder. 
Dementjprechend tragen uns die vibrirenden Tonwellen bei der 
Ankunft des Schwanennachens in jo wunderbar ergreifenden, 
faft überirdijchen Sphärenklängen von dieſer Erde weg in ein 
leuchtendes Reich de8 Himmels und der Engel. Wer fünnte 
fi dem Zauber dieſer in jeligfüßem Schauer und beraujchen- 
den Muſik entziehen. Und wie wird uns bei den traulich ⸗weh— 
müthigen Worten ums Herz, womit der jtrahlende Ritter feinen 
Schwan entläßt! — 

Der Zweikampf, die Abſteckung des Kampfgebietes, der 
fromme Anruf der Gottheit — alles das vollzieht fich genau 
im Geifte der Zeit, und eigentlih müfjen auch nad) dem jieg- 
reichen Ausfall des Duell3 Lohengrin und Elja, wie es R. Wagner 
vorjchreibt, triumphirend auf die Schilde gehoben werden. Auf 
größeren Bühnen, 3. B. in Frankfurt a. M., habe ich e8 auch 
jo gejehen. 

Wenn nun weiter der Komponift dem Beilager einen 
firchlichen Akt im Münſter vorausgehen läßt, jo entjpricht dies 
allerdings nicht ganz der damaligen Zeit, wonach eine firchliche 
Einjegnung noch nicht ftattfand, wohl aber entjpricht fie dem 
chriſtlich göttlichen Charakter des Helden im Gegenjag zur 
Heidin Ortrud. 

In der nun folgenden Brautleite und Einjegnung des 
Paares durch den König als den natürlichen Stellvertreter des 
Bormunds, bewegt fich der Tondichter ganz im Geiſte damaliger 
Zeit. Nicht minder in der Darftellung, wie der verfehmte 
Zelramund im Schutze der Kirche eine fogen. Urtheilsjchelte, 


(9201 


35 


d. h. eine Umftoßung des Gottesgericht3 verlangte auf Grund 
eine begangenen Formfehlers, da man feinen Gegner nicht 
geprüft, ob er adelig und ebenbürtig fei. Nur die Heiligkeit 
des ganzen Wejend im Lohengrin kann den Proteſt, der auf 
Alle verwirrend wirkt, zu Boden jchlagen. 

Doch die möge genügen zu zeigen, wie treu im Geiſte 
der Beit der große Komponift jein Drama ſchuf. Wie jehr er 
e3 aber verjtand, den Worten und Empfindungen jeiner Helden 
den treffendften Ausdrud zu verleihen, das vermögen natürlich 
empfängliche Gemüther, wohl unbewußt und räthjelhaft fich die 
Erklärung jchuldig bleibend, zu empfinden, aber jo recht wür— 
digen und deuten fann es nur der geborene Muſiker. Wen 
aber, ob Laien oder Mufikverftändigen, hätte es nicht gleicher: 
maßen entzüdt und überwältigend beraujcht beim Vernehmen 
der vertrauensjeligen Worte Eljad der dämonijchen Ortrud 
gegenüber: 

„Du Aermſte kannſt wohl nie ermeflen, 

Wie zweifellos mein Herze liebt! 

Du haft wohl nie das Glüd bejefien, 

Das fih und nur durd Glauben giebt! 

Kehr bei mir ein, laß mich dich lehren, 

Wie jüß die Wonne reinfter Treu] 

Lab zu dem Glauben dich befehren: 

Es giebt ein Glüd, es giebt ein Glüd, das ohne Neu!“ 

Und weffen Auge jchaute nicht im Geifte den Himmel 
offen, wenn Lohengrin zum Sclufje in jenem unvergleichlichen 
Necitativ die Wunder des Grals enthüllt?! Uns iſt, als 
ftiege der Wunderbau des Graltempels hernieder, als jenkte 
fi) der Himmel zur Erde. Ja, wenn Schiller feinen Mortimer 
von den finnberaufchenden Kultformen der katholiſchen Kirche 
fagen läßt: „Nicht von diejer Welt find diefe Formen“, 
jo möchte ich von diefer Muſik entzüdt und begeiftert ausrufen: 
„Richt von dieſer Welt find dieſe Tönel“ — 

—un — 5° (921) 


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