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Full text of "Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen mit besonderer Berücksichtigung der Homosexualität"

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Jahrbuch  für  sexuelle 
Zwischenstufen  mit  besonderer ... 

Magnus  Hirschfeld,  Wissenschaftlich-Humanitäres 
Komitee  (Berlin,  Germany) 


Boston 
Medical  Library 
8  The  Fenway. 


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Jahrbuch 

für 

sexuelle  Zwischenstufen 

mit  besonderer  Berücksichtigung:  der 

Homosexualität. 


Herausgegeben 
unter  Mitwirkung  namhafter  Autoren 

im  Namen  des 
wissenschaftlich-humanitären  Komitees 

von 

Dr.  med.  Magnus  Hirschfeld, 

piakt.  Arzt  in  Charlottenburg. 


V.  Jahrgang  I.  Band. 


Leipzig. 

Verlag  von  Max  Spohr. 
1903. 

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Inhalts-Verzeichnis. 


Ursachen  und  Wesen  des  Uranismus.  Von  Dr.  Magnus 
Hirsch  fei  d- Charlottenburg  (auch  separat  unter  dem 

Titel:  „Der  urnische  Mensch"  erschienen)     ...  1 

I.  Das  urnische  Kind                #     0  47 

II.  Das  Harmonische  der  urnischen  Persönlichkeit  67 
HI.  Die  Unausrottbarkeit  der  Homosexualität  104 

IV.  Die  Naturnotwendigkeit  der  Homosexualität   .  125 

V.  Heredität  und  Homosexualität  .  .138 
Anhang.  Lebensgeschichte  des  urnischen  Arbeiters  S.  159 

Einige  psychologisch  dunkle  Fälle  von  geschlechtlichen  Ver- 
irrungen  in  der  Irrenanstalt.   Von  Medizinalrat  Dr.  P. 

Näcke-Hubertusburg   194 

Chirurgische  Überraschungen  auf  dem  Gebiete  des  Schein- 
zwittertums.  Von  Dr.  med.  Franz  Neugebauer- 
Warschau    205 

Brief  Wolfgang  von  Goethes  über  die  mannmännliche  Liebe 

in  Rom   425 

Felicitas  von  Vestvali.  Von  Rosa  v.  Braunschweig     .  427 

Quellenmaterial  zur  Beurteilung  angeblicher  und  wirklicher 

Uranier.   Von  Professor  Dr.  F.  Kar  sc  h -Berlin    .      .  445 

4.  Heinrich  Hößli  (1784—1864)      ....  449 

5.  Franz  Desgouttes  (1785—1817)  .      .  .557 

6.  Herzog  August  der  Glückliche  (1772—1822)     .  615 

7.  Mademoiselle  Maupin  (1673—1707)   .  .694 


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Richard  Freiherr  von  Krafft-Ebing 

geb.  14.  August  1840  in  Mannheim,  gest.  22.  Dezember  1902  in  Graz. 


c.H 


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Ursachen  und  Wesen 

des 

Uranismus. 


Von 

Dr.  Magnus  Hirschfeld. 


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Nietzsche:   Fröhliche  Wissenschaft.   Aph.  7: 

Alle  Arten  Passionen  müssen  einzeln  durchgedacht 
werden,  einzeln  durch  Zeiten  und  Völker,  groiie  und 
kleine  Einzelne  verfolgt  werden;  ihre  ganze  Vernunft 
soll  ans  Licht  hinaus! 


Thoraas  Carlyle: 

Jedes  Gute,  das  irgend  möglich,  wird  einst  wirklich 
sein;  »o  tief  und  traurig  wir  es  empfinden,  dall  wir  noch 
in  finsterer  Nacht  stehen,  so  fest  und  unerschütterlich 
ist  unser  Vertrauen,  daß  der  Morgen  nicht  ausbleiben 
wird.  Schon  sehen  wir,  vorausblickend,  im  Aufgang 
Streifen  der  Dämmerung.  Wenn  die  Zeit  erfüllt  ist, 
wird  der  Tag  anbrechen. 


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„Beobachten,  meine  Herreu,  beobachten!"  mit  diesen 
Worten  begann  und  schloß  raein  verehrter  Lehrer,  Frei- 
herr von  Recklinghausen,  von  der  Universität  Straßburg, 
fast  jede  seiner  Unterrichtsstunden.  Kr  zeigte  sich  mit 
diesen  Worten,  deren  Inhalt  dem  geistvollen  Mann  ganz 
in  Fleisch  und  Blut  übergegangen  war,  als  echter  Schüler 
Virchows  und  jener  Richtung,  welche  in  den  ersten  Jahr- 
zehnten des  letzten  Jahrhunderts  ihr  Hauptaugenmerk 
daraufrichtete,  mit  den  naturphilosophischen  Spekulationen 
früherer  Zeiten  aufzuräumen,  anstelle  theoretischer  Erwä- 
gungen exakte  Ermittelungen  zu  setzen.  Nicht  vergilbte 
Pergamente,  nicht  der  tote  Buchstabe,  die  lebendige  Natur 
selbst  sollte  die  einzige  Quelle  der  Naturerkenntnis  sein. 
Es  galt  als  Erfordernis  der  Wissenschaftlichkeit,  mit  oder 
ohne  Zuhilfenahme  von  Instrumenten,  selbständig  Einzel- 
beobachtungen zu  sammeln,  aus  ihnen  Schlüsse  zu  ziehen, 
die  um  so  zwingender  waren,  je  größer  das  zugrunde  gelegte 
Material  war.  Auch  der  Uranismus  ist  eine  Erscheinung, 
die  sich  nicht  bei  der  Studierlarape,  sondern  nur  am  Objekt 
ergründen  läßt.  In  den  letzten  Jahren  haben  viele  Männer 
über  ihn  geschrieben,  die  Literaturkenntnis  und  Sach- 
kenntnis, Geschichtsforschung  und  Naturforschung  für 
gleichbedeutend  hielten.  Was  würden  wir  wohl  von  einem 

1* 


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—    4  — 


Autor  halten,  der  über  die  Ursachen  der  Tuberkulose 
schriebe,  ohne  je  einen  Schwindsüchtigen  untersucht  zu 
haben,  der  vom  Wesen  des  Weibes  spräche,  ohne  eins 
zu  kennen?  Kürzlich  wandte  sich  ein  Gelehrter,  der 
mancherlei  über  die  Homosexualität  veröffentlicht  hatte, 
mit  der  Bitte  an  mich,  ihm  doch  Homosexuelle  vorzu- 
stellen, da  er  bisher  nicht  Gelegenheit  gehabt  habe,  solche 
persönlich  kennen  zu  lernen.  Ein  anderer  Autor,  Dr.  Iwan 
Bloch,  ein  um  die  Geschichte  der  Medizin  sehr  verdienter 
Forscher,1)  berichte^  wo  er  von  der  nach  seiner  Meinung 
sehr  großen  Seltenheit  der  Homosexualität  spricht,  von 
Effertz,*)  daß  dieser,  —  wir  zitieren  wörtlich  —  „aus 
dessen  Buche  eine  große  Erfahrung  spricht,  noch 
niemals  einen  echten  Homosexuellen  gesehen  haben  will." 
Wenn  aber  irgendwo,  so  führt  auf  dem  Gebiete  des  Ura- 
nismus nur  das  Kennen  zum  Erkennen,  nur  die  objektive 
Beobachtung,  Untersuchung  und  Vergleichuug  zum  rich- 
tigen Verständnis. 

Man  hat  der  exakten  Methode  nicht  ganz  mit  Unrecht 
vorgehalten,  daß  sie  zu  ausschließlich  mit  den  Sinnes- 
organen arbeite,  Dinge,  die  diesen  nicht  direkt  zugänglich 
seien,  hintansetze,  in  der  Erforschung  des  Menschen  über 
dem  Zellenleben  das  Seelenleben  vernachlässigt  habe. 
Demgegenüber  ist  zu  betonen,  daß  auch  der  Einblick  in 
Geist  und  Seele  des  Menschen  nur  durch  zahlreiche 
exakte  Einzelbeobachtungen  gewonnen  werden  kann!  Nur 
wer  eine  große  Menge  —  sagen  wir,  mindestens  hundert  — 
Homosexuelle  eingehend  und  sorgsam  persönlich  erforscht 
hat  und  zwar  solche  aller  Altersstufen  und  Gesellschafts- 
schichten, solche,  deren  Eindruck  nicht  durch  akzidentielle 
Krankheiten  und  Konflikte  verwischt  ist,  wird  mit  voller 


*)  Dr.  med.  Iwan  Bloch:    Beiträge  zur  Ätiologie  der  Psyeho- 
pathia  sexualis.  I.  Teil.  Dresden,  Verlag  von  Dohm,  1902.  Seite  218. 
*)  0.  Effertz:  Über Neurasthenia sexualis.  Ne\v-Yorkl894.  S.192. 


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—    5  — 


Klarheit  inne  werden,  daß  das  Wesen  des  Uraniers  nicht 
mit  der  Richtung  seines  Geschlechtstriebes  erschöpft  ist. 
Wie  man  beim  Mann  den  männlichen,  am  Weibe  den 
weiblichen  Charakter  als  Hauptsache  empfindet,  so  steht 
auch  beim  Urning  die  urnische  Art,  sein  Gesamtcharakter 
im  Vordergrund,  diese  eigentümliche  Mischung  männ- 
licher und  weiblicher  Eigenschaften,  welche  zwar  für  die 
Fortpflanzung  nicht  geeignet,  aber  darum  noch  nicht 
unfruchtbar  ist.  Wer  raeint,  homosexuell  sein  heiße  ledig- 
lich, sich  zum  gleichen  Geschlecht  hingezogen  fühlen,  oder 
gar,  homosexuell  sei  jemand,  der  sexuelle  Handlungen 
mit  Personen  desselben  Geschlechts  vornimmt,  müßte 
folgerichtig  definieren :  Ein  Mann  ist  jemand,  der  ein  Weib 
liebt  und  umgekehrt,  als  ob  nicht  zur  männlichen  und 
weiblichen  Beschallen  hei t  eine  Unmenge  anderer  geistiger 
und  körperlicher  Kriterien  gehörten.1) 

Es  würde  uns  in  diesen  Jahrbüchern  sehr  wenig 
interessieren,  ob  und  wie  ein  Urning  sich  betätigt,  wenn 
nicht  von  den  Gegnern  immer  auf  den  Akt  das  Haupt- 
gewicht gelegt  werden  würde  und  —  wenn  nicht  Menschen- 
gesetze vorhanden  wären,  die  Naturgesetze  wegdiktieren 
zu  können  glauben.     Die   Wachenfeld*)    und  Bloch 

*)  Es  würde  sich  daher  auch  empfehlen,  das  schon  sehr  weit 
verbreitete  Wort  Homosexualität  möglichst  oft  durch  das  umfassen- 
dere Uranismus  zu  ersetzen.  Homosexualität,  gebildet  aus  dem 
griechischen  fyiof,  gleich,  und  dem  lateinischen  sexus,  Geschlecht,  ist 
nicht  nur  in  der  Form  eine  Monstrosität,  sondern  auch  im  Inhalt, 
denn  in  Wirklichkeit  liebt  der  Urning  nicht  das  gleiche,  sondern 
ein  anderes  Geschlecht.  Ein  nicht  unbekannter  Schriftsteller  bemerkte 
in  der  Beantwortung  unseres  Fragebogens:  „Am  Weibe  stiitlt 
mich  das  Gleichgeschlechtliche  ab."  Das  neuerdings  in 
Süddeutachland  mehrfach  gebrauchte  Wort  „Freundling"  ist  schon 
deshalb  ungeeignet,  weil  es  nicht  die  Ableitung  anderer  Worte 
gestattet,  was  bei  Urning  (urnisch,  Uranismus,  Urningtum,  Urninde 
etc.)  in  reichlichem  Matte  der  Fall  ist. 

9)  Prof.  Dr.  Wachenfeld:  Homosexualität  und  Strafgesetz. 
Leipzig  1901. 


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denken,  wenn  sie  von  Homosexuellen  reden,  immer  nur 
an  bloße  sinnliche  Handlungen,  an  die  „Mechauik 
der  Liebe",  sie  übersehen,  daß  es  eine  reine  Liebe  gibt, 
es  ist  ihnen  entgangen,  daß  Homosexuelle  vorkommen  — 
wir  kennen  nicht  wenige  derart,  die  sich  auch  als  homo- 
sexuell bekannten  —  die  keusch  leben.  Das  hängt  nicht 
mit  der  Richtung,  sondern  mit  der  Stärke  des  Triebes  und 
des  Willens  zusammen.  Wie  es  frigide  Frauen,  asexuelle 
Männer  gibt,  so  auch  leidenschaftslose  Urninge,  die  sich 
naturgemäß  am  ehesten  beherrschen  können.  Die  Art 
der  geschlechtlichen  Betätigung  Erwachsener  sollte  dritten 
Personen  wirklich  gleichgültig  sein.  Etwas  anderes  ist 
es  mit  der  Kenntnis  des  Uranismus  überhaupt.  Diese 
scheint  uus  für  jeden,  der  im  Menschen  nach  Goethe 
„das  höchste  Studium*  sieht,  ganz  unerläßlich  zu  sein. 
Noch  ist  der  Beweis  nicht  erbracht,  welche  Rolle  der 
Uranier  in  der  Entwickelungsgeschichte  der  Menschheit 
gespielt  hat,  aber  er  wird  erbracht  werden.  Dieser  Zweck 
der  Jahrbücher  steht  uns  viel  höher,  als  die  Abschaltung 
des  §  175,  die  Wachenfeld1)  ihnen  als  einzige  Tendenz 
unterschiebt;  denn  diese  hat  doch  nur  dann  einen  Zweck, 
—  Vorgänge  in  straffreien  Ländern  haben  es  zur  Evidenz 
erwiesen  —  wenn  die  öffentliche  Meinung  das  Wresen  der 
homosexuellen  Individualität  erfaßt  hat,  die  —  wir  be- 
tonen das  ausdrücklich  und  wiederholt  —  gewiß  nicht 
besser  ist,  wie  der  männliche  und  weibliche  Komplex, 
aber  auch  nicht  geringwertiger. 

Wie  das  Wesen,  so  kann  man  auch  die  Ursachen 
der  konträren  Sexualempfindung  nur  auf  dem  Boden 
eines  großen  Tatsachenmaterials  stehend  aus  direkt  Ge- 
seheuem  ableiten.  Wie  will  man  beispielsweise  ein  Urteil 
darüber    fällen,    ob   dieser  Trieb   eine  Degenerations- 

')  Wachenfeld:  Zur  Frage  der  .Strafwürdigkeit  des  homo- 
sexuellen Verkehrs,  in  Goltdaramers  Archiv  f.  Strafrecht.  11)02.  .8.  38. 


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erscheinung  ist,  wenn  man  nicht  zum  mindesten  einige 
Dutzend  damit  Behafteter  eingehend  auf  körperliche  und 
geistige  Degenerationszeichen  untersucht  hat.  Es  ist  recht 
bedauerlich,  daß  ein  so  fleißiger  wissenschaftlicher  Arbeiter, 
wie  Iwan  Bloch,  diesen  allein  rationellen  Weg  der  Objekt- 
forschung nicht  eingeschlagen  hat.  Es  wären  ihm  dann 
viele  sachliche  Irrtümer  nicht  unterlaufen.  Um  an  dieser 
Stelle  nur  einen  zu  erwähnen,  so  hebt  Bloch  mehrfach 
die  große  Seltenheit  der  Homosexualität  unter  den  Juden 
rühmend  hervor.  Er  sagt  (S.  60),  wo  er  von  dem  prä- 
ventiven Einfluß  der  Ehe  auf  die  Entstehung  geschlecht- 
licher Anomalien  spricht,  wörtlich:  „Ein  treffendes  Bei- 
spiel hierfür  liefern  die  Juden,  in  deren  mustergültigem 
Familienleben  und  tief  innerlicher  Auffassung  der  Ehe 
seit  ihrer  Zerstreuung  in  alle  Länder  die  Hauptursache 
zu  suchen  ist,  daß  sexuelle  Perversionen,  insbesondere 
Homosexualität,  bei  ihnen  kaum  vorkommen/ 
Hätte  Bloch  die  Homosexualität  an  den  Quellen  studiert, 
so  wären  ihm  in  Berliner  Urningskneipen  jüdische  Volks- 
typen, wie  die  , Rebekka"  und  die  „Rahel",  ebensowenig 
entgangen,  wie  die  zahlreichen  israelitischen  Urninge  im 
Gelehrtenstand  oder  in  der  Damenkonfektion,  vielleicht 
auch  nicht  jener  alte  jüdische  Antiquitätenhändler,  der 
die  Urninge  der  hohen  Aristokratie  mit  abgekürzten  Vor- 
namen anzureden  sich  gestatten  darf.  Ich  selbst  sah 
unter  ca.  1500  Homosexuellen,  die  ich  im  Laufe  der 
letzten  7  Jahre  sorgfältig  beobachtete,  43  Juden  und 
11  Jüdinnen,  also  54  auf  1500  oder  3,6  %;  am  1.  De- 
zember 1900  zählte  Deutschland  590000  Juden  unter 
56 345 014  Einwohnern,  mithin  1,0%.  Aus  diesen  Zahlen  geht 
mit  Sicherheit  hervor,  daß  jedenfalls  der  Anteil  der  Juden 
kein  geringerer  ist,  als  der  der  übrigen  Bevölkerung. 
Die  jüdischen  Urninge  sind  in  christlichen  Ländern  nur 
in  dem  Sinne  selten,  wie  die  protestantischen,  von  denen 
man  Gleiches  behauptet  hat,  in  katholischen  Gegenden. 


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Im  Gegensatz  zu  den  Juden  soll  nach  Bloch  ')  und 
Wachenfeld2)  die  Homosexualität  unter  den  Romanen 
besonders  stark  verbreitet  sein.  Letzterer  schreibt:  „Auch 
ohne  statistische  Belege  ist  es  sicher,  daß  in  den  romani- 
schen Ländern,  die  keinen  Urningsparagraphen  kennen, 
namentlich  in  Italien,  die  Homosexualität  in  einer  Weise 
verbreitet  ist,  wie  man  sie  in  Deutschland  nicht  ahnt". 
Wir  haben,  um  die  Verbreitung  des  Uranismus  unter 
den  verschiedenen  Völkern,  Rassen  und  Ständen  ver- 
gleichsweise zu  ermitteln,  eine  völlig  unparteiisch  ge- 
haltene Anfrage  bei  einer  beträchtlichen  Anzahl  uns  als 
urnisch  bekannter  „ Globetrotters"  veranstaltet.  Es  gibt 
unter  den  Urningen  viele,  die  ihr  ganzes  Leben  von 
Lande  zu  Lande  ziehen.  Unter  40  einwandsfreien  Aut- 
worten  sprechen  sich  18  dahin  aus,  daß  sie  die  Homo- 
sexualität überall  in  gleicher  Ausdehnung  gefunden  hätten, 
sämtliche  andere  betonen,  daß  sie  bei  den  germanischen 
und  angelsächsischen  Völkern  verhältnismäßig  mehr  Homo- 
sexuelle vorfanden,  wie  bei  den  Romanen.  Ein  abwechselnd 
in  Italien  und  Deutschland  lebender  Arzt  schreibt:  „Die 
rein  germanische  Rasse  weist  mehr  wirklich  Homosexuelle 
auf,  als  die  lateinische."  Ein  vielgereister  Kaufmann  be- 
richtet: „Ich  habe  die  Erfahrung  gemacht,  daß  gleich- 
geschlechtliche Liebe  in  Frankreich,  Spanien,  Italien  und 
der  Türkei  weniger  vorkommt,  als  in  Deutschland, 
Schweden  und  Dänemark.-  Ein  Schriftsteller  bemerkt: 
„In  Italien,  einem  Lande,  das  ich  durch  fünfjährigen 
Aufenthalt  kennen  lernte,  sah  ich  die  Gleichgeschlechtlich- 
keit viel  weniger  hervortreten,  als  in  Deutschland."  Ein 
anderer  Schriftsteller  antwortet:  „Homosexualität  kommt 
im  Norden  mehr  vor,  wie  im  Süden ;  besonders  ist  sie  in 
England  sehr  häufig.    In  Italien  geben  sich  zwar  junge 


l)  Blochs  Beiträge  etc.   S.  10  ff. 

*)  Wachenfeld  in  Goltdammers  Archiv  S.  ö7  ff. 


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Leute  für  Geld  zu  allem  her,  es  gibt  aber  weniger 
eigentliche  Urninge  dort.*  Ein  Mitglied  der  hohen 
Aristokratie  endlich,  das  ganz  Europa  kennt,  antwortet 
in  etwas  ironischer  Form:  „Wenn  die  Homosexualität 
für  einen  Staat  den  Niedergang  politischer  Machtstellung 
bedeutet,  so  werden  England  und  Deutschland  und  in 
Deutschland  Preußen  ganz  sicherlich  zuerst  untergehen.* 
Sieben  Experten  heben  hervor,  daß  in  Paris  trotz  der 
Straffreiheit  der  homosexuelle  Verkehr  viel  weniger  häutig 
sei,  wie  in  Berlin.  Drei  weisen  auf  die  große  Häufigkeit 
der  Homosexualität  in  den  russischen  Ostseeprovinzen  hin, 
die  auch  wir  auf  grund  ausländischer  Korrespondenz- 
eingänge bestätigen  können.  In  einer  Antwort  heißt  es: 
„Ungewöhnlich  groß  scheint  die  Zahl  der  Urninge  unter 
den  Kurländern  deutschen  Stammes  zu  sein.*  Ein  Herr 
kennt  in  Riga  persönlich  einige  hundert  Uranier.  Ein 
Dolmetscher  endlich,  welcher  mehrere  Erdteile  durchzogen 
hat,  teilt  mit:  „Autfallend  viel  fand  ich  in  dem  niederen 
Volke  Oberbayerns,  das  doch  wirklich  ein  kräftiges  und 
gesundes  ist"  Wir  sehen  also  auch  hier  mit  Sicherheit,  zu 
welchen  Trugschlüssen  theoretische  Erwägungen  über  Ein- 
fluß des  warmen  Klimas,  Rassenentartung  etc.  führen 
können  oder  auch  vereinzelte  Beobachtungen,  die  ein  Autor 
ohne  Nachprüfung  dem  andern  entnimmt.1) 

Immerhin  müssen  wir  den  genannten  Autoren 
dankbar  sein,  daß  sie  sich  bemühten,  wenn  auch  mit 
unzureichenden  Hilfsmitteln,  der  Sache  auf  den  Grund 
zu  kommen.  Schließlich  und  endlich  ist  doch  jede 
Wissenschaft  nichts  anderes,  als  Erforschung  der  Kau- 
salitätsgesetze.   Für  den  Uranismus  hat  aber  die  Er- 


J)  Bloch  stützt  sich  beispielsweise  wiederholt  auf  A.  Ferguson, 
dessen  Werk  1768  in  Leipzig  erschien,  auf  Doppet,  welcher 
seine  Studien  veröffentlichte,  von  zahlreichen  noch  älteren  Autoren 
ganz  zu  schweigen. 


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kenntnis  der  Ursachen  nicht  nur  einen  theoretischen, 
sondern  auch  einen  eminent  praktischen  Wert  in 
kritischer,  forensischer  und  therapeutischer  Hinsicht. 
Kritisch  insofern,  als  die  gelehrten  und  ungelehrten  Stände 
den  Homosexuellen  ganz  anders  beurteilen  werden,  wenn 
sie  seinen  Zustand  als  einen  ihm  von  Geburt  an  mit- 
gegebenen ansehen,  als  wenn  sie  glauben,  er  sei  durch 
Onanie  (Bloch  S.  135  ff.)  oder  Vielweiberei  (Bl.  S.  170.) 
entstanden.  Gelingt  es  uns,  dem  Volke  unzweifelhaft  zu 
beweisen,  daß  niemand  homosexuell  werden  kann,  der  es 
nicht  ist,  daß  äußere  Umstände  weder  einen  Homosexuellen 
normal  noch  einen  Normalsexuellen  konträr  machen  können, 
daß  die  Urninge  ihrer  ihnen  eingeborenen  Natur  nach 
nicht  widernatürlich  handeln,  so  wird  sich,  wie  es  bereits 
vielfach  geschehen,  Haß  und  Hohn  in  Milde,  Mitleid  und 
Achtung  verwandeln. 

Auch  für  den  Strafrichter  wird  es  ein  wesentlicher 
Unterschied  sein  —  wir  stimmen  hier  Wachenfeld  ■)  völlig 
bei  —  ob  die  Neigung  des  Homosexuellen  „als  ein  ihm 
in  die  Wiege  gelegtes  Mißgeschick  oder  als  Folge  seines 
Lebens wandels*  zu  gelten  hat.  Hans  Groß2)  behauptet 
zwar:  „Für  uns  Kriminalisten  ist  die  Frage,  ob  ange- 
boren oder  erworben,  gleichgiltig,  weil  die  Frage  der 
Strafbarkeit  hiervon  nicht  abhängig  sein  kann",  und  auch 
Moll8)  vertritt  in  einer  seiner  letzten  Veröffentlichungen 
denselben  Standpunkt,  indem  er  meint,  daß  man  dann 
auch  mit  demselben  Recht  behaupten  könne,  Leute  mit 
angeborenem  Blödsinn  müßten  straffrei,  Leute,  die  an 
erworbenem  Blödsinn   leiden,  bei   gleichen  kriminellen 

*)  Goltdaimners  Archiv,  49.  Jahrgang.  1.  und  2.  Heft.   S.  40. 

s)  Im  Archiv  für  Kriminalanthropologie,  10.  Band.  1.  und  2. 
Heft.  8.  195.  Bei  Besprechung  von  Blochs  Beiträgen  zur  Ätiologie. 

3)  Albert  Moll:  Sexuelle  Zwischenstufen,  in  der  Zukunft, 
10.  Jahrgang  1902.    Nr.  50.   S.  427. 


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—  11  — 


Handlungen  strafbar  sein.  Dem  ist  aber  entgegenzu- 
halten, daß  wohl  schwerlich  eiu  Gesetzgeber  auf  den 
Gedanken  gekommen  wäre,  die  „widernatürliche  Unzucht" 
unter  Strafe  zu  stellen,  wenn  er  nicht  in  Verkennung  der 
Motive  geraeint  hätte,  die  zu  Bestrafenden  hätten  den 
ihnen  natürlichen  Gebrauch  des  Weibes  verlassen  (Römer- 
brief I.  24  ff.).  Derselbe  Umstand,  welcher  zum  Erlaß 
des  Paragraphen  geführt  hat,  ist  auch  die  Ursache  seines 
Bestandes:  mangelnde  Kausalitätserkenntnis.  Unwissen- 
heit hat  aber  von  jeher  mehr  Verheerungen  angerichtet, 
wie  Böswilligkeit. 

Für  den  Strafzweck  ist  die  richtige  Beurteilung  des 
Urnings  gleichfalls  von  Belang.  Handelt  es  sich  um  ein 
angeborenes,  unheilbares  Leiden,  so  wird  nur  die  Un- 
schädlichmachung in  Frage  kommen.  Dann  würde  es 
folgerichtig  sein,  den  unverbesserlichen  Schädling  entweder 
zum  Tode  zu  verurteilen  oder  ihn  lebenslänglich  in  einer 
geschlossenen  Anstalt  unterzubringen.  Hierzu  wird  sich 
der  Staat  allerdings  im  Hinblick  auf  die  Qualität  und 
Quantität  der  Uranier  schwerlich  entschließen.  Liegt 
aber  nur  als  Grund  „Wüstlingtum*  (Bloch  S.  171),  „ge- 
wohnheitsmäßiger Alkoholgenuß*  (Bl.  S.  55)  oder  Einfluß 
der  „modernen  Frauenbewegung4  (Bl.  S.  248)  vor,  so 
wird  man  auch  den  Zweck  der  Abschreckung  und  Besserung 
nicht  außer  Acht  lassen  dürfen. 

Ähnliche  Gesichtspunkte  kommen  auch  bei  der  Be- 
handlung der  Homosexualität  in  Betracht.  Sehr  richtig 
hat  dies  schon  Schrenck-Notzing ')  erkannt.  Er  sagt : 
„Für  die  Beurteilung  der  konträren  Scxualempfindung, 
namentlich  in  Bezug  auf  Prognose  und  Therapie,  ist  ihre 
Ätiologie   von   ausschlaggebender   Bedeutung"   und  an 

l)  Dr.  A.  Freiherr  v.  Schreuck-Notzing:  Die  Suggestions- 
therapie bei  krankhatten  Erscheinungen  des  Gesehlechtssinnes  etc. 
Stuttgart,  1892.  S.  127  und  8.  119. 


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-  12 


anderer  Stelle:  „Je  mehr  sich  die  Zahl  der  Fälle  häuft, 
in  denen  bleibende  therapeutische  Resultate  erzielt  worden 
sind,  um  so  geringer  erscheint  nach  unserer  Meinung  der 
Anteil,  den  die  erbliche  Disposition  in  der  Entstehung 
dieser  Anomalie  beanspruchen  kann/  Gewiß  sind  die 
Aussichten,  einen  Trieb  durch  äußere  Einflüsse  zu  ver- 
lieren, wesentlich  größer,  wenn  derselbe  durch  äußere 
Anlässe,  wie  fehlerhafte  Erziehung  (Schrenck-Notzing 
S.  167  ff.),  hervorgerufen  ist.  Wir  werden  freilich  später 
—  wenn  wir  von  der  Festigkeit  der  uniischen  Indi- 
vidualität reden  —  klarzulegen  haben,  daß  die  hypnotische 
Heilbarkeit  noch  keineswegs  das  Erworbensein  eines  Zu- 
standes  beweist. 

Solange  das  Problem  der  Homosexualität  wissen- 
schaftlich erörtert  wird,  streitet  man  darüber,  ob  ihre 
Grundursachen  vor  oder  nach  der  Geburt  liegen.  Auf 
der  einen  Seite  befinden  sich  die  Forscher,  welche  über 
ein  sehr  großes  Beobachtungsmaterial  verfügen,  vor  allen 
Krafft-Ebing,  Moll  und  ich  selbst.  Diese  legen  auf  die 
eingeborene  Anlage  das  Hauptgewicht  und  messen  occa- 
sionellen  Momenten  demgegenüber  nur  untergeordneten 
Wert  bei.  Wie  Gelegenheitsursachen  aller  Art  den  nor- 
malen Trieb  auslösen,  erwecken  auch  äußere  Einwirkungen 
oft  den  schlummernden,  aber  doch  deutlich  vorhandenen 
homosexuellen  Trieb.  Diese  Anlässe  sind  jedoch  sekuudärer 
Natur,  das  Primäre  bleibt  die  besondere  Beschaffenheit 
des  Individuums,  seines  Gehirns,  seines  Geistes  und 
Körpers.  Ein  hervorragender,  selbst  urnischer  Psychiater, 
ein  Muster  gewissenhaften  Arbeitens,  stimmt  uns  in 
folgenden  Worten  bei:  „Ich  kann  und  muß  erklären,  daß 
ich  niemals  einen  Fall  von  Homosexualität  kennen  gelernt 
habe,  dem  ich  nicht  das  Prädikat  „angeboren"  hätte  bei- 
legen müssen.  In  allen  von  mir  untersuchten  Fällen  — 
sobald  die  Betreffenden  sich  nur  natürlich  gaben  und 
ihren  äußerlich  zur  Schau  getragenen  „Normal menschen 41 


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—    13  — 


bei  Seite  ließen  —  war  die  Homosexualität  etwas  so  sehr 
dem  ganzen  Wesen  des  Einzelnen  Entsprechendes,  dem 
Individuum  Adaequates,  daß  mir  jede  andere  Auffassung 
als  die  einer  angeborenen  sozusagen  psychisch  konstitu- 
tionellen Anlage  geradezu  unmöglich  erschien." 

Auf  der  andern  Seite  stehen  eine  nicht  unbeträcht- 
liche Anzahl  von  Gelehrten  (Tarnowsky,  Schrenck- 
Notzing,  A.  Hoche,  A.  Cramer,  K.  Kautzner,  Sänger, 
Meinert,  Wollenberg,  Rosenbach,  Siemerling  u.  A.),  welche 
den  entgegengesetzten  Standpunkt  vertreten.  Sie  glauben 
mit  Bloch1):  „Ein  völlig  heterosexueller  Mensch  kann 
in  ein  typisch  homosexuelles  Individuum  umgewandelt 
werden."  Der  Verfasser  dieser  These  bespricht  eingehend 
über  60  verschiedene  Ursachen,  welche  Homosexualität 
erzeugen.  Es  ist  wohl  kein  Zufall,  daß  vielleicht  mit 
Ausnahme  von  Schrenck-Notzing  alle  Autoren  der  Erwerbs- 
theorie zusammengenommen  nicht  soviel  beobachtete  Fälle 
aufzuweisen  haben,  wie  ein  jeder  der  drei  obengenannten 
Ärzte.  Auf  einem  Gebiete,  das  dem  subjektiven  Empfinden 
der  meisten  so  fern  liegt,  ist  es  aber  sicherlich  von  Be- 
deutung, ob  sich  ein  objektives  Urteil  auf  1500,  150,  50 
oder  5  Fälle  stützt.  Bloch  hat  viel  Zustimmung  gefunden; 
so  sagt  Prof.  Dr.  Eulenburg  in  der  Vorrede,  welche  er 
dem  Blochschen  Werke  widmet:  „Die  Lehre  von  dem 
„Angeborensein*  der  sexuellen  Perversionen,  zumal  der 
Homosexualität,  muß  also  fallen  gelassen  oder  doch  er- 
heblich eingeschränkt  werden.  Wir  Arzte  sind  freilich 
die  Letzten,  um  ihr  eine  Träne  nachzuweinen ;  denn  wenn 
wir  es  mit  erworbenen  und  zwar  zumeist  auf  grund 
äußerer  occasioneller  Veranlassung  erworbenen  oder  durch 
die  Verhältnisse  künstlich  gezüchteten  Übeln  zu  tun 
haben,  werden  wir  uns  weit  mehr  als  bisher  in  der  Lage 

')  Dr.  J.  Bloch:  Zweiter  Teil  der  Heiträge  zur  Ätiologie  der 
Psychopathia  sexualia.   Dresden  1<J03.    Vorwort  S.  XVIII. 


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-    14  — 


fühlen  dürfen,  ihnen  kurativ  und  vor  allem  präventiv, 
prophylaktisch  wirksam  entgegenzutreten."  Ein  Jurist  aber, 
Dr.  jur.  L.  Kuhlenbeck,  bespricht  in  der  von  ihm  heraus- 
gegebenen „Juristischen  Wochenschrift"  ')  Blochs  Buch 
äußerst  anerkennend  und  fügt  hinzu:  „Die  Hauptsache 
ist,  keine  unzeitige  Nachsichtigkeit  zuzulassen  gegenüber 
Bestrebungen,  die  das  Leben  an  seinem  Ursprung  ver- 
giften und  die  bereits  unter  Namen  wie  Homosexualismus 
oder  sexuelle  Zwischenstufen  literarisch  mit  einer  Scham- 
losigkeit das  Haupt  zu  erheben  wagen,  die  selbst  dem 
entarteten  Altertum  fremd  gewesen  zu  sein  scheint,  ob- 
wohl schon  der  Apostel  Paulus  ihre  Widernatürlichkeit 
als  eine  der  schlimmsten  Früchte  der  verfallenden  heid- 
nischen Zivilisation  kennzeichnen  mußte."  So  Kuhleubeck 
im  Jahre  1902. 

Es  stehen  sich  also  zwei  Ansichten  mit  großer  Ent- 
schiedenheit gegenüber.  Bloch  sagt  (Bd.  I.  S.  11):  „Die 
„angeborenen"  Fälle  von  Homosexualität  existieren  wohl 
überhaupt  nicht"  Wir  sagen:  „Nur  aus  dem  geborenen 
Urning,  aus  dem  urnischen  Kinde  kann  sich  der  homo- 
sexuelle Mann  und  das  homosexuelle  Weib  entwickeln." 
Bloch  behauptet:  (Bd.  I.  S.  215.):  „In  der  großen  Mehr- 
zahl der  Fälle  entspringt  die  gleichgeschlechtliche  Liebe 
äußeren  occasionellen  Momenten,  eine  originäre  Anlage 
zu  derselben  ist  sehr  unwahrscheinlich,  jedenfalls  sehr 
selten."  Wrir  behaupten:  „Es  kann  sich  wederein  männ- 
liches oder  weibliches  Wesen  in  ein  gleichgeschlechtlich 
empfindendes  verwandeln,  noch  ist  das  Umgekehrte 
möglich."  Bloch  meint,  die  Gründe  der  Homosexualität 
liegen  fast  stets  außerhalb,  wir  meinen,  sie  liegen  aus- 
nahmslos innerhalb  der  menschlichen  Organisation,  sie 
wächst  aus  dem  Innern  des  Menschen  heraus. 


>)  Nr.  55  und  56.  Berlin,  15.  August  1902.   Verlag  W.  Moeser. 


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-    15  — 


Es  sollte  selbstverständlich  sein,  muß  aber  nament- 
lich Wachenfelds  *)  Einteilungsversuchen  gegenüber  noch 
eigens  betont  werden,  daß  homosexuell  nur  jemand  ist, 
der  homosexuell  empfindet,  ob  er  sich  dabei  homo- 
sexuell betätigt  oder  nicht,  ist  vom  naturwissenschaft- 
lichen, wenn  auch  nicht  vom  juristischen  Standpunkt 
nebensächlich.  Ein  Normalsexueller,  der  sich  homo- 
sexuell betätigt,  ist  normalsexuell,  ebenso  wie  ein  Homo- 
sexueller, dem  es  gelingt,  mit  dem  anderen  Geschlecht 
zu  verkehren,  trotzdem  gleichgeschlechtlich  ist8)  Bei 
beiden  handelt  es  sich  nicht  um  Liebe  und  Geschlechts- 
trieb, sondern  um  mehr  oder  weniger  der  Onanie  ver- 
wandte Manipulationen.  Die  Zahl  und  Bedeutung  der 
Normalsexuellen,  die  nach  homosexueller  Art  verkehren, 
wird  vielfach  sehr  überschätzt.  Sie  gingen  uns  in  diesen 
Jahrbüchern,  die  den  sexuellen  Zwischenstufen  gewidmet 
sind,  überhaupt  nichts  au,  wenn  sie  nicht  von  den  An- 
hängern des  §  176  mit  Vorliebe  ins  Feld  geführt  werden 
Hürden.  Aus  welchen  Gründen  tun  diese  etwas  ihrer 
Natur  Widersprechendes?  Wir  können  hier  drei  Gruppen 
unterscheiden : 

a)  solche,  die  aus  Eigennutz  gleichgeschlechtlich 
verkehren :  Prostituierte,  Chanteure  ; 

b)  solche,  die  es  aus  Gefälligkeit,  Gutmütigkeit, 
Dankbarkeit,  Mitleid,  Freundschaft  etc.  tun; 

c)  solche,  die  aus  Mangel  andersgeschlechtlicher 
Personen  dazu  greifen,  wie  in  Internaten,  Schulen, 
Klöstern,  Gefängnissen,  Kasernen,  Schiffen  etc. 

')  Vgl.  Jahrbach,  IV.  Band.  Numa  Prätorius,  Widerlegung 
Wachenfelds. 

9)  Die  in  manchen  urnischen  Kreisen  übliche  Einteilung  trifft 
besser  den  Kern  der  Sache,  wie  Wachenfelds  Unterscheidung 
„Homosexueller"  und  „Kontrasexneller."  Diese  teilen  die  ihnen  be- 
kannten Personen  vielfach  ein  in  na.  s."  (auch  so),  „m.  m.u,  (macht 
mit)  und  „t.  u."  (total  unvernünftig.) 


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—    16  — 


Alle  diese  haben  das  gemeinsam,  daß  der  homo- 
sexuelle Verkehr  für  sie  nur  eine  vorübergehende  Episode 
darstellt,  daß  sie  völlig  normalempfindend  bleiben  und, 
sobald  ihnen  Gelegenheit  geboten  ist,  ehelich  oder  auch 
außerehelich  mit  dem  Weibe  verkehren.  Betrachten  wir 
die  Mitglieder  dieser  drei  Abteilungen  noch  etwas  näher. 

Die  Gründe,  welche  junge  Männer  veranlassen,  sich 
gewerbsmäßig  den  Homosexuellen  für  Geld  hinzugeben, 
sind  dieselben,  die  bei  weiblichen  Prostituierten  in  Be- 
tracht kommen,  wie  überhaupt  beide  Arten  gewerblicher 
Unzucht  in  ihren  Erscheinungen  sehr  viel  Gemeinsames 
aufweisen.  Auch  für  den  Mann  liegen  die  Ursachen,  sich 
zu  prostituieren,  teils  in  seiner  inneren  Veranlagung,  einer 
ererbten  oder  anerzogenen  großen  Willensschwäche,  Hang 
zum  Müßiggang  und  Wohlleben,  teils  in  den  äußeren 
Verhältnissen.  Aus  letzterem  Grunde  rekrutieren  sich 
die  männlichen  Prostituierten  in  der  großen  Anzahl  aus 
ärmeren  Kreisen.  So  unglaublich  es  klingt,  es  gibt  Eltern, 
die  nicht  davor  zurückschrecken,  ihre  Söhne  —  nament- 
lich wenn  sie  durch  ein  schöneres  Aussehen  dazu  geeignet 
erseheinen  —  ebenso  wie  ihre  Töchter  anzuhalten,  sich 
diesem  traurigen  Beruf  in  die  Arme  zu  werfen.  Von 
einem  der  bekanntesten  Berliner  Prostituierten  wird  zu- 
verlässig berichtet  und  von  ihm  bestätigt,  daß  seine 
eigenen  Eltern  ihn  bereits  in  seinem  14.  Jahre  in  diese 
Laufbahn  brachten.  In  den  weitaus  meisten  Fällen  sind 
jedoch  die  treibenden  Motive  die  Not,  demnächst  schlechtes 
Beispiel  und  Verführung.  Nur  ausnahmsweise  kommt  es 
vor  —  und  solche  Fälle  können  nicht  scharf  genug  ver- 
urteilt werden  —  daß  ein  Homosexueller  einen  Burschen 
zur  Prostitution  verführt,  indem  er  ihn  dem  Geschäfte, 
in  welchem  er  arbeitet,  entzieht.  Häufiger  schon  kommt 
es  vor,  daß  ein  junger  Mann,  welcher  außer  Stellung  ge- 
raten sich  vergebeus  abmüht,  wieder  in  Brot  zu 
kommen,  die  Bekanntschaft  eines  Urnings  macht,  mit  dem 


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—   17  — 


er  gegen  Entgelt  intim  verkehrt.  Dieser  gibt  ihm  Essen 
und  Kleidung,  behandelt  ihn  gut,  führt  ihn  in  bessere 
Kreise  ein,  was  seiner  Eitelkeit  schmeichelt.  Der  be- 
queme Verdienst,  der  ihm,  falls  er  selbst  homosexuell 
veranlagt  ist,  noch  dazu  Vergnügen  bereitet,  das  Faulenzer- 
leben werden  ihm  so  sehr  zur  Gewohnheit,  daß  er  nicht 
mehr  davon  lassen  kann,  auch  wenn  ihm  Gelegenheit  ge- 
boten würde,  in  ein  ehrliches,  arbeitsames  Leben  zu- 
rückzukehren. Sehr  oft  spielt  sich  der  Vorgang  etwa 
folgendermaßen  ab:  Ein  armer,  zerlumpter,  hungernder 
und  frierender  Junge  steht  obdachlos  an  einer  Ecke  der 
Friedrichstraße.  Bald  wird  er  die  feinen,  geschminkten 
„Herrchen"  gewahr,  die  Nacht  für  Nacht  von  10  Uhr 
ab  stundenlang  die  Straße  auf-  uud  abschlendern,  bis  sie 
ein  vornehmer  Herr  anspricht,  mit  dem  sie  erhobenen 
Hauptes  von  dannen  ziehen.  Er  macht  zuerst  schüchterne, 
dann  kühnere  Versuche,  es  dem  Vorbilde  nachzutun  und 
eines  Tages  glückt  es  ihm  auch.  Denn  manche  der  vor- 
nehmen Herren  lieben  gerade  diese  ärmlichen  Jungen  mit 
ihren  schmutzigen  Kragen  und  Schuhen,  den  faden- 
scheinigen Röcken  und  zerrissenen  Beinkleidern.  Ist  es 
ihnen  einmal  gelungen,  dann  halten  sie  ihre  Position  fest, 
es  ist  ihnen  gar  zu  schlecht  gegangen,  als  daß  sie  zurück- 
tauschen möchten.  Mit  den  sozialen  Ursachen  der  männ- 
lichen Prostitution  hängt  es  auch  zusammen,  daß  sich 
manche  besonders  schlecht  bezahlte  Berufsklassen  diesem 
Gewerbe  im  Nebenberuf  ergeben.  So  kann  es  als  ver- 
bürgt gelten,  daß  sich  in  Paris  unter  den  jungen  Ange- 
stellten des  Telegraphendienstes  viele  befinden,  die  ihr 
spärliches  Einkommen  (50 — 60  Frcs.  monatlich)  durch 
einen  solchen  Nebenverdienst  aufzubessern  suchen.  Ahnlich 
ist  es  in  London  mit  den  Messengerboys.  Ich  verdanke 
diese  und  andere  Mitteilungen  Uber  die  männliche  Pro- 
stitution einem  äußerst  zuverlässigen  urnischen  Gewährs- 
mann, der  sich  Pherander  nennt.    Derselbe  hat  die  ein- 

Jahrbuch  V.  2 


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—    18  - 


schlägigen  Verhältnisse  in  sehr  vielen  Großstädten  Europas 
sowie  Indiens  einem  sehr  eingehenden  Studium  unter- 
zogen. Er  unterscheidet  heterosexuelle  und  homosexuelle 
Prostituierte.  Unter  den  ersteren,  die  schon  durch  den 
Verkauf  ihres  Leibes  trotz  gegenteiliger  Naturanlage  ein 
besonders  hohes  Maß  von  Verkommenheit  bekunden, 
finden  sich  naturgemäß  die  meisten  Erpresser.  Es  steht 
außer  Zweifel,  daß  der  §  175  des  R.-St.-G.-B.  eine  her- 
vorragend schlimme  Seite  der  männlichen  Prostitution, 
wenn  nicht  großgezogen,  so  doch  gewaltig  gefördert  hat : 
Das  Erpre8sertum,  die  Chantagc.  Obwohl  man  nicht  be- 
haupten kann,  daß  es  ohne  dieses  Gesetz  keine  Erpresser 
mehr  geben  würde,  denn  die  Länder,  wo  kein  derartiges 
Verbot  homosexueller  Betätigung  existiert,  beweisen  das 
Gegenteil,  so  ist  doch  mit  Bestimmtheit  anzunehmen,  daß 
die  Chantage  nach  Aufhebung  des  Strafparagraphen  auf 
ein  sehr  geringes  Maß  herabgedrückt,  ja  nach  Aufklärung 
der  Massen  über  Ursachen  und  Wesen  des  Uranismus 
völlig  verschwinden  wird.  Die  zweite  Kategorie  der  Pro- 
stituierten, die  selbst  homosexuell  veranlagten,  teilt  Phe- 
rander  in  zwei  Unterabteilungen,  diejenigen,  welche  nicht 
nur  mit  den  ihrem  Geschmack  entsprechenden  verkehren, 
die  also,  trotzdem  sie  selbst  junge  Leute  lieben,  sich  doch 
mit  älteren  Männern  einlassen,  und  diejenigen,  die  nur 
ihrer  Neigung  folgen,  beispielsweise  feminine  Jünglinge, 
die  sich  zu  älteren  hingezogen  fühlen.  Es  ist  durchaus 
nicht  leicht  zu  entscheiden,  welcher  Kategorie  die  sich 
auf  den  Straßen  und  in  Lokalen  Feilbietenden  angehören, 
sehr  viele,  die  absolut  normal  sind,  spielen  sich  auf  „echt* 
heraus,  weil  dies  die  „Freier"  unbesorgter  macht.  Als 
besonders  geschickte  Schauspieler  gelten  die  „petits  Je*sus* 
in  Paris,  die  fast  alle  nicht  urnisch  sind.  Die  Menge  der 
sich  in  den  Straßen  von  Paris,  namentlich  auf  den  großen 
Boulevards,  herumtreibenden  Prostituierten  ist  verhältnis- 
mäßig nicht  so  groß  wie  in  Berlin.    Pherander  zählte  auf 


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—    19  — 


den  Boulevards  des  Italiens  und  Montmartre  während 
der  besten  „Geschäftszeit"  20 — 30  käufliche  "Männer, 
während  er  zu  derselben  Zeit  in  dem  belebtesten  Teil  der 
Berliner  Friedrichstraße  50 — 60  beobachtete.  Übrigens 
stellen  die  Prostituierten  keineswegs  das  Hauptkontingent 
zu  den  Erpressern.  Selbst  die  heterosexuellen  unter 
ihnen  nehmen  in  der  Regel  nicht  gerade  zu  Erpressungen 
ihre  Zuflucht,  weil  sie  sich  dadurch  leicht  ihr  „Geschäft" 
verderben.  Auch  herrscht  unter  den  männlichen  Pro- 
stituierten ein  gewisser  Korpsgeist,  der  es  verhindert,  daß 
einzelne  Mitglieder  sich  gar  zu  viel  erlauben.  Häufiger 
und  gefährlicher  sind  diejenigen  Chanteure,  welche  ge- 
legentlich einmal  —  oft  ohne  daß  sie  selbst  die  Gelegen- 
heit suchten  —  mit  einem  Homosexuellen  verkehrt  haben, 
dann  sich  selbst  als  den  „unschuldig  Verführten-,  ihren 
Gegenpart  als  den  „gemeinen  Wüstling"  hinstellen  und 
ihn  mit  einer  Anzeige  oder  Kompromittierung  bedrohen, 
wenn  er  nicht  eine  bestimmte  Summe  zahlt.  Sie  kommen 
immer  wieder,  hängen  sich  nicht  selten  wie  die  Kletten 
an  ihre  Opfer  und  lassen  sie  oft  nicht  eher  los,  bis  sie 
den  Urning  pekuniär  und  sozial  ruiniert  haben.  Eine 
weitere  Klasse  wird  von  den  ganz  berufsmäßigen  Chan- 
teuren dargestellt,  die  von  den  Prostituierten  selbst  sehr 
gefürchtet  sind.  Diese  lauern  vorsichtig  ab,  bis  sich 
ein  Herr  mit  einem  der  ihnen  dem  Aussehen  nach  wohl- 
bekannten „ Strichjungen"  einläßt,  folgen  unbemerkt,  warten, 
bis  der  Homosexuelle  die  Wohnung  des  Prostituierten 
wieder  verläßt,  und  machen  sich  dann  an  das  völlig  ver- 
dutzte Opfer  mit  ihren  Drohungen  und  Forderungen 
heran. 

Je  größer  eine  Stadt  ist,  umso  umfangreicher  ist  die 
männliche  Prostitution.  In  Deutschland  sind  Berlin,  Ham- 
burg, München,  Dresden,  Leipzig,  Breslau  und  Köln  die 
Hauptzentren,  welche  aus  diesem  Grunde  auch  häufig  von 
Urningen  aus  kleineren  Städten  oder  vom  Lande  aufge- 

2* 


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sucht  werden.  Mit  Vorliebe  werden  auch  von  der  männ- 
lichen, wie  von  der  weiblichen  Halbwelt  Abstecher  nach 
Orten  gemacht,  wo  sich  viele  Fremde  zusammenfinden. 
So  berichtet  Pherander:  „In  Kiel  hatte  sich  während 
der  sogen.  Kieler  Woche,  wo  alle  möglichen  Regatten 
abgesegelt  werden,  im  Sommer  1902  aus  Hamburg  eine 
Reihe  männlicher  Prostituierter  eingefunden,  um  auf  Faii£ 
und  auf  Erpressung  auszugehen.  Das  große  Publikum 
hat  gewiß  nichts  davon  bemerkt,  während  ich  selber  nach 
wenigen  Tagen  ihre  Anzahl,  die  sich  auf  zwölf  belief, 
festgestellt  hatte,  und  zwar  alle  in  der  Düsternbrocker 
Allee  gegenüber  den  Anlegebänken  für  Marineboote." 
Uber  Berlin  schreibt  unser  Gewährsmann:  Unter  allen 
Großstädten  Deutschlands  nimmt  Berlin  eine  Ausnahme- 
stellung mit  Bezug  auf  die  männliche  Prostitution  ein. 
Man  kann  mit  Fug  und  Recht  behaupten,  daß  sie  hier 
in  einem  solchen  Grade  vorkommt,  wie  nirgends  anders, 
nicht  nur  in  Deutschland,  sondern  Uberhaupt  in  Europa, 
vielleicht  mit  Ausnahme  Londons,  dessen  diesbezügliche 
Verhältnisse  ich  nur  aus  Schilderungen  und  nicht  aus 
persönlicher  Anschauung  kenne.  Es  gehört  ein  förmliches 
Studium  dazu,  auch  nur  annähernd  aus  dem  Wirrwarr 
der  verschiedensten  Arten  der  Berliner  männlichen  Prosti- 
tution klug  zu  werden.  Sie  tritt  hier  so  frei  und  offen 
hervor,  daß  sie  selbst  dem  Unaufgeklärten  auffallen  muß. 
Reine  Prostituierte,  die  ganz  von  ihrem  „Beruf"  leben, 
berechnet  Pherander  auf  400,  die  Anzahl  der  Halbprosti- 
tuierten dagegen  auf  10—12,000.  Unter  Halbprostituierten 
versteht  er  solche,  welche  sich  ebenfalls  für  ihre  „Liebe" 
bezahlen  lassen,  dabei  aber  meist  einer  inneren  Neigung 
folgen.  Sie  haben  gewöhnlich  irgend  eine  Beschäftigung, 
leben  vielfach  im  Hause  ihrer  Eltern  oder  bei  Verwandten, 
sind  in  keiner  Weise  angewiesen,  ihren  Körper  zu  ver- 
kaufen, betrachten  aber  die  Geldgeschenke  ihrer  Gönner 
als  angenehme  Nebeneinnahme,  um  allerhand  Wünsche 


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zu  befriedigen.  Viele  von  ihneu  —  soweit  sie  hetero- 
sexuell sind  —  könnten  ebensogut  in  unsere  zweite  Gruppe 
gerechnet  werden. 

Sehr  bezeichnend  ist  das  Verhältnis  der  männlichen 
Prostitution  zu  ihrer  weiblichen  Konkurrenz.  Von  eigent- 
licher Konkurrenz  zwischen  weiblichen  und  männlichen 
Prostituierten  kann  ja  kaum  die  Rede  sein,  da  die  betref- 
fende Kundschaft  eben  grundverschieden  ist.  Wer  Wei- 
bern den  Vorzug  gibt,  wird  die  jungen  Männer  im  allge- 
meinen unbeachtet  lassen  und  umgekehrt  „Deshalb  stehen 
sioh  die  beiden  Arten  der  Prostitution  auch  keineswegs 
feindlich  gegenüber,  im  Gegenteil,  ich  habe  häutig  zu  beob- 
achten die  Gelegenheit  gehabt",  schreibt  Pherander,  „daß 
sie  sich  gegenseitig  helfen  und  unterstützen,  so  gut  sie 
können." 

Das  Alter  der  männlichen  Prostituierten  ist  selten  unter 
16,  fast  nie  über  25  Jahre. 

Einigen  bringt  ihr  Erwerb  so  viel  ein,  daß  sie  sich 
recht  luxuriöse  Wohnungen  leisten  können.  Je  teurer 
und  eleganter  sie  wohnen,  desto  größere  Ansprüche  stellen 
sie  auch  an  die  Börse  ihrer  Kunden.  Manche  erwerben 
sich  durch  hohe  Preise  und  Erpressungen  ein  kleines 
Vermögen,  wovon  sie  auf  ihre  alten  Tage  leben  können. 
Ein  sehr  berüchtigter  und  bekannter  Berliner  „Strichjunge* 
aus  guter  Familie,  dessen  Hauptgeschäft  hinter  ihm 
liegt  und  der  den  Eindruck  eines  vollkommenen  Kava- 
liers macht,  wohnt  jetzt  sehr  komfortabel  und  fein  in  einem 
Appartement,  das  durch  seine  Ausstattung  beweist,  wie 
sehr  es  sein  Besitzer  verstanden  hat,  seine  „Ersparnisse" 
gut  anzuwenden.  Er  soll  früher  einen  ganz  enormen 
Einfluß  auf  seine  Kollegen  vom  Fach  ausgeübt  haben 
und  sein  Name  wird  noch  mit  einer  Art  Ehrfurcht  unter 
den  Berliner  Strichjungen  genannt. 

„Ich  habe  manche  andere  Wohnung  der  Prostituierten 
gesehen*,  schreibt  unser  Gewährsmann,  „und  mich  dabei 


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vom  Augenschein  überzeugt,  daß  das  Geschäft  mehr  ein- 
bringen muß,  als  man  denken  sollte.  Es  kommt  häufig 
vor,  daß  sich  zwei  oder  mehrere  junge  Leute  zusammen- 
tun. Vielleicht  sind  sie  von  Liebe  zu  einander  entbrannt 
oder  verkehren,  was  sehr  oft  vorkommt,  mit  einer  im 
Hause  wohnenden  weiblichen  Konkurrentin. " 

Allmählich  kommt  die  Zeit  heran,  wo  der  Prostituierte 
dem  Alter  seinen  Tribut  zollen  muß,  meist  viel  früher, 
wie  für  die  weibliche  Rivalin.  Alles  Rasieren  und  .Zurecht- 
machen" hilft  nichts  mehr.  Es  finden  sich  zwar  noch 
einige,  die  den  vollentwickelten  Mann  dem  Jüngling  vor- 
ziehen, aber  davon  kann  man  nicht  existieren  und  muß 
wohl  oder  übel  einen  anderen  Beruf  ergreifen. 

Hat  mau  Ersparnisse  gemacht,  so  eröffnet  man  ein 
kleines  Geschäft  oder  eine  Restanration  und  wird  ein 
sogenannter  ordentlicher  Mensch. 

Viele  aber  können  sich  nicht  mehr  an  ein  regel- 
mäßiges Leben  gewöhnen  und  werfen  sich  schließlich 
ganz  dem  Verbrecher-  oder  Zuhältertum  in  die  Arme, 
zu  dem  sie  auf  grund  ihrer  Veranlagung  und  ihres 
Milieus  höchst  wahrscheinlich  auch  ohne  ihre  Prosti- 
tuiertenjahre gekommen  wären. 

Eins  läßt  sich  deutlich  verfolgen.  Kein  hetero- 
sexueller Prostituierter  erwirbt  durch  Gewohnheit  gleich- 
geschlechtliche Triebe,  ebensowenig  wird  ein  homosexuell 
Veranlagter  aus  Übersättigung  am  Manne  heterosexuell. 

Eine  zweite,  nicht  unbeträchtliche  Gruppe  von  Normal- 
sexuellen, die  vorübergehend  zu  homosexueller  Betätigung 
gelangen,  sind  die  meist  jugendlichen  Personen,  welche 
den  Gegenstand  homosexueller  Liebe  bilden.  Es  ist 
zweifellos,  daß,  während  viele  Homosexuelle  ebenfalls 
urnisch  Empfindenden  bei  weitem  den  Vorzug  geben  und 
manchen  es  in  ihrer  Neigung  keinen  Unterschied  macht, 
ob  die  Betreffenden  konträr  fühlen  oder  nicht,  eine  ganze 


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—   23  — 


Anzahl  von  Urningen  ausschließlich  zu  normalsexuellen, 
kraftvollen  Naturen  neigen.  Oft  sind  ihnen  die  Gleich- 
fühlenden direkt  antipathisch,  sie  sind  ihnen  „zu  weibisch" 
oder  zu  verwandt.  „Wir  sind  zu  gleichartige  Naturen, 
die  passen  nicht  für  die  Liebe,  wohl  aber  für  Freund- 
schaft" erwiderte  eine  berühmte  urnische  Schauspielerin 
einer  Kollegin,  welche  ihr  ihre  Liebe  erklärte. 

Nun  verkehren  allerdings  viele  Homosexuelle  mit 
den  Jünglingen  oder  Männern,  in  die  sie  sich  verliebt 
haben,  überhaupt  nicht  geschlechtlich,  sie  verzehren  sich 
zwar  vor  innerer  Sehnsucht,  aber  sie  haben  nicht  einmal 
den  Mut,  den  Geliebten  zu  küssen.  Die  Angst,  sich  zu 
verraten,  den  Freund  zu  verlieren,  hält  sie  zurück.  Der 
Normale,  tiefgerührt  vou  der  zu  allen  Opfern  bereiten, 
hingebenden  Freundschaft,  ahnt  so  wenig  wie  seine  Um- 
gebung, daß  es  sich  auf  der  andern  Seite  um  eine  ganz 
andere  Empfindung,  um  Liebe  handelt.  Ich  habe  bei 
meinen  Klienten  mehr  als  einmal  die  qualvollen  Depressions- 
zustände  beobachtet,  die  ungeheuren  Seelenschmerzen, 
welche  sich  einstellten,  wenn  der  Heterosexuelle  »seinem 
besten  Freund  unter  strengster  Diskretion  zuerst  seine 
heimliche  Verlobung  anvertraute.* 

Bei  manchen  liebenden  Uraniern  kommt  es  zu  sexuellen 
Orgasmen,  ohne  daß  der  Normale  es  bemerkt.  Ich  kenne 
einen  allerdings  sehr  neurasthenischen  Studenten,  der  seit 
vier  Jahren  ein  festes  Verhältnis  mit  einem  anderen 
Studenten  hat  Letzterer  kennt  zwar  den  Zustand  seines 
Freundes,  doch  gewinnt  dieser  es  nicht  über  sich,  trotz- 
dem sie  zusammen  wohnen,  eine  sexuelle  Handlung  vor- 
zunehmen. Er  meint,  die  Poesie  ihrer  Freundschaft 
könnte  darunter  leiden.  Dagegen  hat  er  nicht  selten 
Ejakulationen,  wenn  der  Freund  sich  ihm  auf  den  Schoß 
setzt,  was  bei  gemeinschaftlicher  Arbeit  häufig  vorkommt. 

Durchaus  nicht  so  rar  sind  auch  die  eigentümlichen 
Fälle,  in  denen  sehr  feminine  Uranier  —  meist  Gynäko- 


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—   24  — 


mästen  —  mit  Normalsexuellen  verkehren,  ohne  daß  die 
Betreffenden  wissen,  daß  ihr  Partner  „ein  Mann*  ist. 
Ein  ungemein  weiblich  aussehender  Opernsänger  berichtet 
folgendes :  Er  geht  als  elegante  Dame  an  einem  Sonntag 
Abend  spazieren.  In  einem  Parke  verfolgt  er  einen 
Unteroffizier  mit  Liebesblicken.  —  Daß  sie  Unteroffiziere 
lieben,  ist  für  gewisse  Feminine  charakteristisch.  Gemeine 
Soldaten  pflegen  dieser  Spezies  „zu  jung*,  Offiziere  „zu 
fein  geschniegelt"  zu  sein.  —  Der  Unteroffizier  reagiert,  er 
reicht  der  Dame  den  Arm,  welche  vorschlägt,  in  einem 
Restaurant  zu  Abend  zu  essen,  doch  nur  unter  der  Be- 
dingung, daß  sie  bezahlen  darf.  Der  Soldat  nimmt  an. 
Sie  verleben  einige  vergnügte  Stunden  und  schließlich 
fährt  er  mit  ihr  in  ihre  elegante  Wohnung.  Im  dunklen 
Schlafzimmer  legt  der  Sänger  sein  weibliches  Nacht- 
gewand an  und  der  Unteroffizier  kehrt  am  frühen  Morgen 
in  die  Kaserne  zurück,  ohne  daß  ihm  auch  nur  im  ent- 
ferntesten äer  Gedanke  gekommen  ist  —  die  Schilderung 
der  Details  möge  man  uns  erlassen  —  daß  er  wenn  auch 
imbewußt  etwas  Ungesetzliches  verübt  hat. 

Wir  kommen  nun  zu  den  Verhältnissen  Homosexueller 
mit  Normalen,  in  denen  es  zu  sexuellen  Akten  kommt, 
meist  mutueller  Onanie,  also  einer  nicht  strafbaren  Tat. 
Meist  pflegt  sich  der  Urning,  wenn  es  sich  nicht  um  ganz 
flüchtige  Beziehungen  handelt,  des  von  ihm  Geliebten  mit 
großer  Treue  anzunehmen,  er  fordert  und  unterstützt  ihn, 
hält  ihn  in  beiderseitigem  Interesse  von  der  Automastur- 
bation  zurück,  steht  ihm  in  jeder  Beziehung  zur  Seite, 
läßt  ihn  oft  ausbilden  und  sorgt  häufig  auch  noch  für 
seine  Angehörigen.  Solche  Fälle  sind  ungemein  häufig. 
Gewöhnlich  pflegt  der  Nutzen  größer  zu  sein,  wie  ein 
etwaiger  Schaden,  den  der  Urning  zufügt.  Die  Normalen 
empfinden  diese  Episode  später  durchaus  nicht  als  unan- 
genehme Erinnerung,  was  sie  allerdings  nicht  hindert,  auf 
die  Päderasten  zu  schimpfen,  von  denen  sie  sich  eine  ganz 


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—   25  — 


andere  Vorstellung  machen.  Ein  urnischer  Leutnant 
schrieb  uns  vor  einiger  Zeit:  „Warum  bekümmert  man 
sich  denn  immer  um  den  Schw  ....  stall  des  dritten 
Geschlechts,  man  betrete  endlich  auch  unsere  gute  Stube, 
man  wird  staunen,  welche  Schätze  dort  herumstehen." 
Häufig  enden  die  zuletzt  geschilderten  Verhältnisse  mit 
der  Verlobung  des  Normalen.  Der  Urning  fungiert  meist 
als  Trauzeuge  oder  Ehrengast  bei  der  Hochzeit,  bleibt 
der  Freund  der  Familie,  wird  Taufpate  der  Kinder,  von 
denen  eins  oft  seinen  Namen  erhält,  und  ist  in  Notfällen 
bei  der  Hand.  Die  Freundschaft  des  Normalen  hält  sehr 
oft  länger  vor,  wie  die  Liebe  des  Urnings.  Eine  urnische 
Frau  liebte  aufs  zärtlichste  ein  gleichaltriges  normales 
Fräulein,  viele  Jahre,  sie  war  glücklich,  litt  aber  auch  sehr 
viel,  jetzt  ist  sie  abgekühlt,  aber  die  Freundin  schreibt 
ihr  noch  täglich  und  kann  nicht  „auf  die  ihr  so  wertvolle 
und  liebe  Verbindung  verzichten".  Ahnliches  kommt 
oft  vor. 

Ich  will  als  Paradigma  dieser  Gruppe  noch  die 
Schilderung  eines  Oberlehrers  angeben,  welche  auch  in 
anderer  Hinsicht  beachtenswert  ist. 

„Aus  guter  Familie  stammend",  so  berichtet  er,  „sorgsam  er- 
zogen, hielt  ich  die  Liebe  zum  Weibe,  nach  allem,  was  ich  hörte 
und  las,  fttr  etwas  ganz  Selbstverständliches.  Die  Idee,  daü  meine 
sehr  starke  Vorliebe  für  besondere  hübsche  Schulkollegen  einen 
erotischen  Beigeschmack  haben  könne,  ist  mir  nie  gekommen. 
Auch  fiel  es  mir  nicht  auf,  daß  es  mir  unmöglich  war,  in  ihrer 
Gegenwart  die  Toilette  zu  benutzen.  Als  Sekundaner  vollzog 
ich  deu  ersten  C'oitus  mit  der  einzigen  Prostituierten  meiner  kleinen 
Heimatstadt,  bei  der  fast  sämtliche  meiner  Landsleute  seit  20 
Jahren  fiir  eine  Mark  den  ersten  Coitus  vollzogen  hatten.  Kurze 
Zeit  darauf  suchte  ein  älterer  Herr,  von  dem  ich  jetzt  weili,  dali 
er  „auch  so"  ist,  mich  unzüchtig  zu  berühren ;  ich  versetzte  ihm 
eine  schallende  Ohrfeige,  die  einzige,  welche  ich  in  meinem  Leben 
ausgeteilt  habe.  Sehr  bestürzt  bat  er  mich  auf  den  Knieen  11111 
Verzeihung  und  Verschwiegenheit.  Auf  der  Universität  verkehrte 
ich  alle  zwei  bis  drei  Monate  mit  dem  Weibe,  ich  war  immer 
froh,  wenn  ich  die  Sache  hinter  mir  hatte,  doch  befremdete  mich 


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—    26  - 


meine  Gleichgültigkeit  ebensowenig  wie  mein  großes  Interesse 
flir  die  hübschen  Füchse  unserer  Korporation.  Ich  zog  mir  einen 
Schanker  mit  Bubonen  zn  und  schwängerte  ein  Dienstmädchen. 
So  verlief  alles  normal,  bis  ich  mit  20  Jahren  —  ich  war  bereits 
im  Beruf  —  einen  siebzehnjährigen  Jüngling  kennen  lernte,  dessen 
Schönheit  und  wunderbares  Wesen  —  eine  prachtvolle  Mischung 
von  Kraft  und  Anmut  —  mich  völlig  gefangen  nahm.  Seit  ich 
ihn  sah  bis  heute,  fast  8  Jahre,  war  er  täglich  mein  erster  und 
letzter  Gedanke.  Ich  ging  ganz  in  ihm  auf,  widmete  mich  seinen 
Interessen  und  sah  in  ihm  die  höchste  Vollendung.  Er  war  ein 
außerordentlich  befähigtes,  völlig  normalsexuelle»,  recht  leicht- 
sinnig veranlagtes  Menschenkind.  Es  ließ  sich  einrichten,  daß  ich 
7  Jahre  fast  täglich  mit  ihm  zusammen  war.  Sexuelle  Akte  blieben 
nicht  aus.  Er  hatte  sich  sehr  schwer  zu  dem  Opfer  entschlossen, 
tat  es  aber  schließlich  doch,  wie  er  sagte,  aus  Freundschaft  und 
Erbarmen.  In  seinem  eigenen  Empfinden  blieb  er  sich  in  den 
Jahren  unseres  geschlechtlichen  Verkehrs  stets  gleich.  Wiederholt 
geschah  es,  daß  er  sich  in  ein  Mädchen  verliebte.  Ich  litt  un- 
säglich imter  der  Eifersucht.  Dann  tröstete  er  mich  und  sprach: 
„Wenn  ich  zu  wähleu  hätte  zwischen  ihr  und  Dir,  möchte  ich 
lieber  sie  verlieren.  Ein  Mädchen  finde  ich  alle  Tage  wieder, 
einen  Freund  wie  Dich  niemals.  Sie  nimmt,  Du  gibst,  Du  löst 
in  mir  den  guten  Menschen  aus."  Eines  Tages  aber  lernte  er  Eine 
kennen,  die  liebte  er  so  rasend,  wie  ich  ihn.  Unser  Verhältnis 
wurde  unhaltbar.  Mit  wie  furchtbaren  Schmerzen  ich  Verzicht 
leistete,  vermögen  Worte  nicht  auszudrücken.  Noch  habe  ich  es 
nicht  Uberwunden,  aber  ich  werde  es  Uberwinden  und  Ersatz 
suchen  in  meinem  Beruf  und  der  Arbeit  für  das  öffentliche  Wohl. 
Zu  den  Enterbten  des  Liebesglücks  kann  und  will  ich  mioh  nicht 
rechnen,  denn  ich  habe  ja  das  irdische  Glück  genossen,  gelebt 
und  geliebt." 

Wir  sehen  an  diesem  Fall  zweierlei,  einmal,  wie  bei 
dem  Urning,  trotz  energischen  Zurückweisens  eines  homo- 
sexuellen Angriffs,  trotz  normalgeschlechtlicher  Betätigung 
vorher  und  nachher,  der  homosexuelle  Trieb  zum  Durch- 
bruch kam,  und  anderseits,  wie  der  Normalsexuelle  trotz 
homosexueller  Verführung  völlig  heterosexuell  blieb.  Die 
Richtung  der  sexuellen  Ergänzung  ist  eben  eine  viel  zu 
fest  normierte,  von  der  ganzen  Persönlichkeit  abhängige, 
als  daß  sie  in  ihr  Gegenteil  umschlagen  könnte.    Ich  habe 


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—    27  — 


bei  mehreren  durchaus  vertrauenerweckenden  urnischen 
Greisen  angefragt,  ob  je  Lieblinge  von  ihnen,  die  zum 
Weibe  inklinierten,  homosexuell  geworden  sind,  nicht  ein 
einziger  Fall  ist  zu  meiner  Kenntnis  gelangt.  Wir 
möchten  diesen  Abschnitt  aber  doch  mit  der  Empfehlung 
schließen,  daß  Eltern,  wenn  sie  ihren  Kindern,  sei  es 
selbst,  sei  es  durch  ihre  Ärzte,  die  in  vieler  Hinsicht  so 
notwendige  sexuelle  Aufklärung  geben,  auch  auf  die  Er- 
scheinung des  Uranismus  hinweisen,  damit  die  Söhne  und 
Töchter  Begegnungen  derart  klarsehend  gegenüberstehen. 

Als  weitere  Ursache  für  gleichgeschlechtlichen  Ver- 
kehr wird  von  vielen  Autoren !)  Weibermangel  angegeben. 
Offenbar  liegt  auch  hier  nicht  Homosexualität,  sondern 
eine  Abart  der  Onanie  vor,  selbst  wenn,  was  ausnahms- 
weise wohl  einmal  vorkommt,  immissio  in  corpus  statt- 
hat. Wie  wenig  diese  Personen  einen  solchen  Notbehelf 
dem  natürlichen  Verkehr  gleich  setzen,  zeigte  mir  einmal 
eine  Antwort,  die  mir  in  einer  urnischen  Soldatenkneipe 
Berlins,  die  ich  mir  ansah,  ein  reicher  Bauernsohn  gab, 

')  Beispiele  finden  sich: 

a)  Aus  Schalen  bei  Hoche,  Neurologisches  Zentralblatt  Bd.  15 
(1896)  S.  66.  Moll,  Die  konträre  Sex.  S.  874.  Note  2  mit  Mit- 
teilung von  Dr.  Bahrdt.  Rohleder,  Die  Masturbation  (1891» 
S.  111  u.  ff.,  welcher  u.  a.  hierfür  Rousseau,  Salzmann,  Chevalier, 
Fournier,  Blasemann,  Flirbringer  zitiert. 

b)  Aus  Klöstern  bei  Doppet,  Das  Geilieln  und  seine  Einwirkung 
auf  den  Geschlechtstrieb. 

c)  Aus  Schiffen  bei  Elbs  und  Symonds,  Das  konträre  Geschlechts- 
geflihl  (1896)  S.  11,  Note  1. 

d)  Aus  Gefängnissen  bei  Wey,  zitiert  bei  Ellis  n.  Symonds  S.  13. 

e)  Aus  Kasernen.  Tarnowsky,  Die  krankhaften  Erscheinungen 
des  Geschlechtssinns  (1886)  S.  66.  Elbs  und  Symonds  S.  10. 
Note  1.  Raffalovich,  Entwicklung  der  Homosexualität  (1895) 
S.  12. 

t)  Aus  der  französischen  Fremdenlegion.  Gramer,  Berliner  klinische 
Wochenschrift  Bd.  34.  S.  962  (1897)  und  Gerichtliche  Psychiatrie 
S.  ->H[  (1900). 


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-  28 


der  bei  den  Dragonern  diente.  Auf  nieine  Interpellation, 
weshalb  er  mit  Männern  verkehre,  erwiderte  er:  „Um 
meiner  Braut  treu  zu  bleiben/'  Ich  besitze  namentlich  aus 
Kadettenhäusern  eine  Reihe  von  Berichten,  die  bekunden, 
daß,  trotzdem  leider  wechselseitige  Onanie  in  ausgiebiger 
Weise  geübt  wird,  nur  ein  ganz  kleiner  Bruchteil  konträr- 
sexuell wird,  nämlich  solche,  die  nachweislich  nicht  voll- 
männlich, sondern  urnisch  sind.  Ich  will  den  von  anderen 
veröffentlichten  Beispielen  einen  recht  lehrreichen  Bericht 
aus  einem  katholischen  Waisenhause  hinzufügen.  Ich 
verdanke  die  Mitteilung  einem  mir  bekannten  sehr  zu- 
verlässigen Beobachter  K.  A.,  der  daselbst  10  Jahre  lang 
unter  120  Mitschülern  erzogen  wurde. 

„Ich  war  8  Jahre  alt,  als  ich  in  dies«'*  Institut  kam.  Da  ich 
schon  früher  gerne  mit  Knaben  zusammen  war,  hatte  ich  mir  die 
ersten  Tage  etwas  Heimweh  und  fühlte  mich  sehr  bald  wühl  unter 
den  120  Knaben  im  Alter  bis  äu  14  Jahren,  nur  wenige  waren 
15  und  16  Jahre  alt.  Der  freundschaftliche  Verkehr  unter  diesen 
Knaben  war  ein  so  inniger,  daß  man  glauben  mußte,  lauter  Urninge 
vom  reinsten  Wasser  vor  sich  zu  haben.  Fast  alle  von  den 
älteren  suchten  sich  unter  den  jüngeren  Knaben  einen  Freund, 
den  sie  alsdann  hegten  und  schützten.  Dieses  war  für  denjttugeren 
Teil  nicht  gerade  unangenehm,  denn  unter  soviel  Knaben  haben 
die  kleineren  gewöhnlich  manchen  Stoß  auszuhalten,  hatte  er  aber 
einen  älteren  zum  Freunde,  so  durfte  keiner  es  wagen,  ihn  hart 
anzufassen,  beide  Uberboten  sich  gegenseitig  in  Erweisungen  von 
Zärtlichkeiten.  Als  ich  selbst  9  Jahre  alt  war,  geschah  es,  daß 
2  ältere  auf  einmal  um  mich  warben  und  keiner  dem  anderen 
weichen  wollte.  Es  wurde  dann  durch  einen  Kampf  unter  den  beiden 
entschieden,  die  anderen  stellten  sich  herum,  damit  die  Wärter 
nichts  sehen  sollten,  und  schauten  zu,  bis  einer  kampfunfähig 
wurde,  der  Sieger  hatte  alsdann  ein  öffentliches  Anrecht  auf  mich. 
Dieser  war  mein  Freund  fast  ein  ganzes  Jahr  lang,  bis  er  bei 
seinem  14.  Jahre  aus  der  Anstalt  entlassen  wurde.  An  seine 
Freundschaft  erinnert  mich  noch  heute  ein  ziemlich  großer  Buch- 
stabe, der  Anfangsbuchstabe  seines  Namens,  den  wir  uns  gegen- 
seitig damals  mit  chinesischer  Tusche  und  einer  Nadel  in  den 
Oberarm  tätowierten.  Da  dies  sehr  oft  vorkam,  besaßen  einige 
darin  eine  ziemliche  Fertigkeit.    Ich  erinnere  mich  noch  heute, 


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wie  glücklich  ich  damals  war,  fUr  meinen  Freund  diese  Nadel- 
stiche ertragen  zu  dürfen.  Dieser  Junge  war  von  einer  solchen 
Liebe  zu  mir  beseelt,  daß  er  mir  alles  tat,  was  er  an  meinen 
Augen  absehen  konnte.  Da  er  vermögend  war  und  seine  Familie 
in  der  Nähe  wohnte,  bekam  er  jede  Woche  einmal  Besuch  und 
wurde  dann  mit  allem  möglichen  beschenkt ;  hatte  er  diesen  Be- 
such empfangen,  so  kam  er  gewöhnlich  immer  erst,  wenn  wir 
schon  im  Bette  lagen,  dann  war  sein  erstes,  an  mein  Bett  zu 
kommen  und  seine  Schätze  vor  mir  auszubreiten,  und  hatte 
oft  Mühe,  ihn  zu  bewegen,  daß  er  selbst  auch  etwas  davon  nahm. 
Er  unterließ  es  nie,  wenn  wir  abends  zum  Schlafsaal  geführt 
wurden,  einen  günstigen  Moment  abzuwarten,  mir  gute  Nacht  zu 
sagen  und  mich  zu  küssen.  Hatte  man  also  einen  Jungen  ge- 
funden, der  einem  besonders  gefiel,  so  warb  man  um  ihn,  man 
verfolgte  ihn  auf  Schritt  und  Tritt  und  suchte  überall  sich  ihm 
angenehm  zu  machen,  man  machte  ihm  Geschenke  oder  bat  einen 
Kameraden,  den  Vermittler  zu  spielen.  Ein  eigenartiges  Mittel 
wandte  einmal  ein  Junge  mir  gegenüber  an,  den  ich  übrigens 
auch  schon  lange  im  Stillen  gern  hatte,  der  aber  so  hübsch  war, 
dali  ich  eine  Erwiderung  für  ausgeschlossen  hielt,  und  mich  keiner 
Demütigung  aussetzen  wollte,  denn  einen  Korb  zu  bekommen 
galt  als  sehr  schimpflich.  An  einem  Abend  nun  kam  er  während 
der  Vorlesung  neben  mich  und  wir  setzten  zu  zweien  auf  seine 
Anregung  hin  ein  Spiel  in  Szene,  wobei  man  auf  die  Hand  des 
anderen  einen  Schlag  zu  versetzen  sucht,  der  andere  muß  dabei 
sehr  auf  der  Hut  sein,  da  die  Schläge  sehr  empfindlich  sind,  und 
deshalb  seine  Hand  schnell  fortziehen.  Nachdem  er  nun  an  die 
Reihe  kam,  hieb  er  nur  ganz  leise  und  lässig  zu,  und  als  ich  ihn 
nach  dem  Grunde  fragte,  sagte  er  mir,  er  könne  mir  nicht  wehe 
tun,  er  hätte  mich  zu  gerne.  Ich  war  glücklich;  wir  küßten  uns 
und  erzählten  uns  gegenseitig,  wie  wir  uns  schon  so  lange  gern 
gehabt.  Solche  Freunde  tauschten  dann  mittags  bei  Tisch  ihre 
Teller  und  ihr  Besteck,  weil  es  ihnen  ein  besonderes  Wohlgeftihl 
war,  aus  Gegenständen  zu  essen,  die  der  Freund  früher  benutzt 
hatte.  Derjenige,  der  das  Amt  hatte,  bei  Tisch  zu  bedienen, 
mußte  sich  deshalb  immer  auf  dem  Laufenden  erhalten  und  war 
genau  unterrichtet  von  jedem  neuen  Freundschaftsverhältnisse 
und  sorgte  genau  und  gewissenhaft,  daß  jeder  die  Gegenstände 
«eines  Freundes  bekam,  ebenso  wußte  er,  wenn  ein  Verhältnis  sich 
löste,  er  gab  alsdann  jedem  sein  richtiges  Besteck  wieder,  welches 
aber  alsdann  selten  von  diesem  wieder  bonutzt  wurde,  die  Teller 
zerbrach  man  gewöhnlich  und  das  Besteck   warf  man  in  den 


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—   :iO  — 


Schmutzkasten  und  kaufte  neue.  Ebenso  hatte  jeder  Knabe  im 
Winter  Beinen  bestimmten  Shawl,  man  trug  aber  stets  den  des 
Freundes,  da  derselbe  in  so  enger  Berührung  mit  dessen  bloßem 
Halse  gewesen.  Das  Tätowieren  der  Arme  mit  den  Anfangs- 
buchstaben des  Freundes  war  an  der  Tagesordnung,  jedoch 
mußte  man  bei  dem  allen  sehr  vorsichtig  sein,  damit  die  Lehrer 
nichts  merkten.  Sahen  diese  von  zweien  eine  besonders  zärtliche 
Freundschaft,  so  wurde  ihnen  strenge  verboten,  weiter  miteinander 
ssu  verkehren,  doch  tat  man  es  alsdann  um  so  lieber,  und  bekam 
man  Strafe,  so  war  man  glücklich,  für  den  anderen  leiden  zu 
können.  Hatte  einer  einen  Streich  gespielt,  so  geschah  es  oft, 
dall  der  Freund  die  Tat  auf  sich  nahm,  der  andere  dies  aber  nicht 
litt  und  der  Lehrer  alsdann  2  Missetäter  vor  sieh  stehen  sah  und 
nicht  wußte,  wer  der  eigentliche  war.  Bekam  der  Freund  Prügel, 
so  ging  das  dem  andern  so  nahe,  daß  er  mit  weinte.  Diese 
kleinen  Einzelheiten  zeigen,  wie  der  Freund  einem  alles  war,  welche 
Innigkeit  in  dieser  Freundschaft  lag.  Daß  dabei  der  ge- 
schlechüiche  Verkehr  nicht  ausblieb,  ist  selbstverständlich.  Ich 
war  9  Jahre  alt,  als  ich  die  Onanie  kennen  lernte,  manche  noch 
jünger.  Besonders  bot  der  Winter  zum  geschlechtlichen  Verkehr 
viel  Gelegenheit,  man  ging  abends  unter  dem  Vorgeben,  austreten 
zu  müssen,  hinaus,  der  Freund  folgte  einige  Minuten  später  und 
draußen  war  man  dann  ungestört,  wenn  dies  auch  hauptsächlich 
geschah,  um  sich  küssen  und  umarmen  zu  können,  in  der  Er- 
regung blieb  dann  das  andere  nicht  aus.  Dann  fand  der  Verkehr 
auch  viel  nachts  in  den  Betten  statt.  Natürlich  mußte  auch  vor 
den  übrigen  Knaben  dies  verheimlicht  werden,  da  ja  leicht  hätte 
ein  Verräter  darunter  sein  können.  Ich  glaube  bestimmt,  daß 
dabei  nur  Onanie  getrieben  wurde.  Kam  ein  neuer  in  die  Anstalt, 
so  wurde  sofort  darauf  geachtet,  ob  er  hübsch  war,  und  dauerte 
es  auch  nicht  lange  und  der  oder  jener  hatte  sich  mit  ihm  ange- 
freundet, wobei  es  oft  nicht  ohne  heftige  Eifersuchtsszenen  ab- 
ging. Es  würde  zu  weit  führen,  noch  mehr  Einzelheiten  anzu- 
geben. Man  findet  ja  in  allen  Instituten,  daß  die  Knaben  ge- 
schlechtlich miteinander  verkehren,  aber  wohl  selten  so  allgemein. 
Diese  leidenschaftliche  Liebe,  so  aufopfernd  und  hingebend,  wo 
man  glaubte,  alles  sei  tot  für  einen,  wenns  dem  Freunde  einfiel 
zu  schmollen,  und  man  toll  eifersüchtig  sein  konnte,  wenn  man 
einen  anderen  bevorzugt  glaubte,  müßte  auf  das  junge  Knaben- 
gemttt  verhängnisvoll  wirken ;  wenn  man  von  einem  Anerziehen 
der  Homosexualität  sprechen  könnte,  so  müßte  sich  dies  hier  doch 
bewahrheiten,  besonders  da  die  meisten  wenigstens  3  bis  4  Jahre, 


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-  31 


einige  bis  zu  8  Jahren  in  der  Anstalt  verblieben  und  so  lange 
diesem  Einflüsse  ausgesetzt  waren.  Wie  mir  genau  bekannt 
ist,  verkehren  alle  meine  Mitschüler  jetzt  sehr  rege 
mit  dem  Weibe.  Ich  selbst  interessierte  mich  schon  vor 
meinem  8.  Lebensjahre,  also  bevor  ich  in  dieses  Institut  kam, 
Mir  Männer,  sogar  geschlechtlich,  und  bin  daher  auch  nachher 
nicht  anders  geworden.  Besonders  will  ich  2  Knaben  erwähnen, 
der  eine  war  16,  er  kam  als  einjähriges  Kind  dorthin,  der  andere 
9  Jahre  in  der  Anstalt,  beide  haben  damals  sehr  stark  flir  den 
Freund  gefühlt  und  sehr  viel  mit  ihm  geschlechtlich  verkehrt  und 
fühlen  heute  nur  für  das  Weib.  Daß  grade  diese  Anstalt  einen 
so  starken  Freundschaftsverkehr  aufwies,  führe  ich  darauf  zurück, 
daü  die  Knaben  außer  der  Schulzeit  und  den  Stunden,  die  nicht 
durch  Gebet,  es  wurde  viel  gebetet,  ausgefüllt  waren,  zuviel 
auf  sich  selbst  angewiesen  waren.  Die  Anstalt  war  streng 
katholisch  und  glaubte  man  durch  vieles  Beten  die  Knaben  er- 
ziehen zu  künnen,  doch  wir  langweilten  uns  nur  bei  dem  ewigen 
Einerlei  des  Rosenkranzes  und  benutzten  die  Zeit,  geschlechtlichen 
Gedanken  nachzuhängen.  Für  Sport  und  Turnen  war  kein  Inter- 
esse vorhanden,  sogar  im  Schulstundenplan  war  kein  Turnen  an- 
gesetzt. Baden  galt  für  unsittlich;  man  fürchtete  die  Kinder  da- 
durch auf  unsaubere  Gedanken  zu  bringen.  Von  der  Außenwelt 
war  man  vollständig  getrennt.  Das  Haus  lag  vor  der  Stadt  und 
war  mit  hohen  Mauern  umgeben,  nur  Sonntags  wurde  man  einige 
Stunden  ins  Freie  geführt.  Die  Bücher  waren  einer  strengen 
Zensur  unterworfen,  es  genügte  schon  eine  kleine  unschuldige 
Uebesgescbichte,  um  dieselben  uns  zu  verbieten. 

Der  Verfasser  dieses  Berichts  hat  stark  gegen  seinen 
Zustand  angekämpft,  auch  eine  hypnotische  Kur  durch- 
gemacht Es  ist  ihm  nur  einmal  in  seinem  Leben  geglückt, 
mit  dem  Weibe  zu  verkehren  und  zwar  in  der  Karnevals- 
zeit mit  einem  jungen  Mädchen,  das  Knabenkleider  trug; 
er  schreibt  darüber,  „sie  sah  aus,  wie  der  reizendste 
Junge,  der  Akt  vollzog  sich  in  voller  Kleidung,  ob  es 
mir  sonst  möglich  gewesen,  kann  ich  nicht  sagen." 

Wir  sehen  hier  also,  daß  von  120  Waisenknaben,  die 
unter  genau  denselben  Verhältnissen  erzogen  wurden  und 
fast  sämtlich  stark  der  solitären  und  mutuellen  Mastur- 
bation ergeben  waren,  nur  ein  einziger  homosexuell  ge- 


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—   32  — 


worden  ist.  Hat  nun  Schrenck-Notzing,  der  in  der  Er- 
ziehung, Schimmelbusch,  der  in  der  Onanie  die  Ursache 
der  Homosexualität  erblickt,  Recht,  oder  diejenigen,  welche 
in  der  angeborenen  Beschaffenheit  des  Gehirns  deu 
Grund  dieser  Erscheinung  suchen? 

Außer  diesen  drei  Kategorien  sind  es  besonders  die 
heterosexuellen  Wüstlinge  und  Rouos,  von  denen  man 
annimmt,  daß  sie  „aus  Verlangen  nach  Variationen",  aus 
„Reizhunger",  Übersättigung,  Raffinement  schließlich  auf 
das  eigene  Geschlecht  verfallen.  Dieser  Glaube  ist  nicht 
nur  im  Volke  weit  verbreitet,  er  findet  sich  auch  bei 
vielen  Ärzten  und  Juristen.  So  beruft  sich  Bloch1)  auf 
Wollenberg*),  der  die  Homosexualität  in  den  meisten 
Fällen  als  das  Endprodukt  eines  lasterhaften  Geschlechts- 
lebens betrachtet.  Und  Wachenfeld8)  sagt: „Den  Verkehr 
mit  dem  gleichen  Geschlecht  als  einen  spezifisch  stärkeren 
Reiz  sucht  der  Roud,  der  nach  Durchkostung  aller  natür- 
lichen und  unnatürlichen  Genüsse  am  Weibe  übersättigt 
ist.*  Ich  habe  mir  große  Mühe  gegeben,  diese  „Wüstlinge" 
ausfindig  zu  machen,  es  ist  mir  nicht  gelungen.  Unter 
der  großen  Anzahl  Homosexueller,  die  ich  beobachtete, 
war  nicht  ein  vom  Weibe  Übersättigter,  die  meisten  wären 
froh  gewesen,  wenn  sie  überhaupt  nur  vom  Weibe  hätten 
„kosten"  können,  geschweige  denn,  daß  sie  satt  geworden 
wären.  Zweifellos  hätten  homosexuelle  Jünglinge,  die 
eine  Vorliebe  für  ältere  Männer  haben,  solche  Roues 
kennen  lernen  müssen.  Sie  stellen  ihr  Vorkommen  ent- 
schieden in  Abrede.  Ich  habe  es  mich  auch  nicht  ver- 
drießen lassen,  männliche  Prostituierte  und  Chanteure,  so- 
wohl homosexuelle  als  heterosexuelle,  zu  interpellieren, 

')  S.  235  a.  a.  0. 

a)  Wollenberg.  Über  die  Grenzen  der  strafrechtlichen  Zu- 
rechnungsfäbigkeit  bei  psychischen  Krankheitszuständen,  im  Neu- 
rologischen Zentralblatt  1899.  No.  9. 

8)  A.  a.  0.  in  Goltdammers  Archiv  S.  4H. 


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-   33  - 


von  welchen  Leuten  sie  lebten.  Sie  gaben  übereinstimmend 
eine  Antwort,  die  in  die  wissenschaftliche  Sprache  über- 
tragen lauten  würde:  »Ausschließlich  von  gleichgeschlecht- 
lieh  Veranlagten."  Es  müßte  nach  Analogie  dieser  Lebe- 
männer doch  auch  einmal  ein  homosexueller  Lebemann 
—  und  es  gibt  deren  genug  —  aus  Reizhunger  auf 
das  Weib  verfallen.  Es  wäre  dann  damit  vielleicht 
ein  therapeutischer  Weg  gegeben.  Aber  es  kommt 
nicht  vor.  Ich  halte  nach  meinen  Forschungen  diese 
Wüstlingspäderasten  für  ebensolche  Fabelwesen,  wie  die 
Hexen,  von  deren  Aussehen,  Sitten  und  Gewohnheiten 
man  zur  Zeit  der  Hexenprozesse  auch  so  ausführliche 
Schilderungen  zu  geben  wußte.  Man  erinnere  sich  nur 
der  köstlichen  Hexenszenen  in  Goethes  Faust.  In  ähn- 
licher Weise  erzählt  sich  das  Volk  auch  heute  noch 
allerlei  von  dem  stieren  Blick  der  warmen  Brüder,  ihrem 
ganz  kleinen  oder  sehr  langen  dünnen  Geschlechtsteil;  wie 
eine  Art  Ungeheuer  halten  sie  sich  mit  Vorliebe  im  Dickicht 
versteckt,  jeden  Augenblick  bereit,  über  einen  Knaben 
herzufallen  u.  dgl.  Noch  ein  neuerer  Schriftsteller1) 
schildert  das  Auge  der  „Anhänger  der  eigengeschlecht- 
lichen Liebe"  folgendermaßen:  »Sein  feuchter  Glanz  ist 
erloschen;  es  blickt  verschleiert,  gläsern.  Außerdem  hat 
sich  die  Lidspalte  fast  durchweg  verengt,  so  daß  nur  ein 
kleiner  Teil  des  Augapfels  sichtbar  geblieben  ist.  Vor- 
nehmlieh der  Urning  im  mittleren  und  reifen  Alter  leidet 
daran;  den  Greis  läßt  dieses  Kainszeichen  nicht  mehr  los.* 
Man  vergleiche  mit  dieser  Beschreibung  die  beigefügte 
Photographie  eines  urnischen  Arbeiters.  Wenn  man 
überhaupt  hier  von  einem  Typus  reden  kann,  so  ist 
dieses  große,  träumerische  Auge  —  der  genaue  Gegensatz 
des  geschilderten  —  in  viel  höherem  Grade  als  charakte- 
ristisch für  den  Urning  anzusehen. 

')  M.  BrauDschweig.  Das  dritte  Geschlecht.  Beiträge  zum 
homosexuellen  Problem.   Halle  a.  S.,  Carl  Marhold.  1902. 

Jahrbuch  V.  3 


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—   34  — 


Ist  mithin  diese  vielgenannte  Menschenklasse  der 
vom  Weibe  Ubersättigten  Homosexuellen  empirisch  nicht 
nachweisbar,  so  ist  sie  auch  theoretisch  höchst  unwahr- 
scheinlich. Wessen  Naturtrieb  mit  elementarer  Gewalt 
zum  Weibe  neigt,  kann,  wenn  er  auch  noch  so  wüst  ge- 


Th.  Widdig,  urnischer  Arbeiter. 

lebt  hat,  nicht  plötzlich  den  Manu  begehren.  Groß1^  hat 
vollkommen  Recht,  daß  ein  solcher  Umschlag  der  Ge- 
schmacksrichtung in  das  Gegenteil  außer  aller  Logik  und 

')  Groll:  Archiv  f.  Ktimiiialanthropülojrk'.         Hand.    1.  u  2. 
Heft.  S.  195. 


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—    35  — 


Wahrscheinlichkeit  liegt.  Das  Variationsbedürfnis  hat 
wohl  auf  die  Art  der  Betätigung  einen  Einfluß,  nicht 
aber  auf  die  Neigung  des  Geschlechtstriebes  an  und  für 
sich.  Dieser  Trugschluß  dürfte  auf  die  Annahme  zurück- 
zuführen sein,  daß  der  Homosexualismus  dem  Maso- 
chismus, Sadismus,  Fetischismus  und  ähnlichen  Störungen 
gleichzusetzen  sei,  mit  denen  er  seit  Krafft-Ebing  so  oft 
gemeinsam  dargestellt  ist.  Bei  letzteren  handelt  es  sich 
um  etwas  ganz  anderes,  nämlich  um  krankhafte  Hyper- 
trophieen  normaler  Triebe,  nicht  etwa  um  sexuelle  Zwischen- 
stufen (Mischung  männlicher  und  weiblicher  Eigenschaften), 
wie  manche  Autoren  in  völligem  Mißverständnis  des  von 
uns  gewählten  Titels  glauben.  Jeder  Liebende  will  die 
Geliebte  erobern,  der  Sadist  will  sie  unter  seine  Gewalt 
bringen;  der  Liebende  will  ihr  gefälliger  Diener,  der 
Masochist  ihr  Sklave,  ihr  „Hund"  sein;  der  Liebende 
legt  sich  die  Locken  seines  Mädchens  ins  Medaillon,  der 
Fetischist  bewahrt  sich  Weiberzöpfe  in  der  Schublade 
auf.  Selbstverständlich  kann  ausnahmsweise  ein  Homo- 
sexueller ebenso  wie  ein  Heterosexueller  Sadist,  Masochist, 
Fetischist  sein,  vielleicht  alles  zugleich,  aber  niemals  kann 
ein  Homosexueller  ein  Heterosexueller  sein  oder  umge- 
kehrt. Groß1)  bemerkt:  „Der  sogenannte  sexuell  Über- 
sättigte ist  aber  nicht  übersättigt,  sondern  er  empfindet 
nur,  daß  von  den  zwei  Wegen,  die  seiner  Natur  offen 
standen :  dem  heterosexuellen  und  dem  homosexuellen  — 
der  erstere  für  ihn  nicht  der  richtige  war  und  so  gelangt 
er  auf  den  zweiten  Weg." 

Der  Autor  fühlt  hier  ganz  richtig  heraus,  daß  es 
namentlich  die  psychischen  Hermaphroditen  oder  Bi- 
sexuellen sind,  die  von  vielen  als  Roues  oder  zum  min- 
desten als  Meuschen  angesehen  werden,  die  willkürlich 
das  Weib  verlassen.    Ich  gestehe  offen,  daß  ich  auf  grund 

»)  Archiv  f.  Kr.-A.  S.  105. 

3* 


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—    36  — 

meines  Beobachtungsmaterials  noch  nicht  in  der  Lage  bin, 
über  das  Vorkommen,  die  Häufigkeit  und  Bedeutung  der 
Bisexuellen  ein  abschließendes  Urteil  zu  fällen.  Früher 
hielt  ich  sie  für  eine  weit  verbreitete  Gruppe.  Aber  die 
gewissenhafte  Exploration  vieler  verheirateter  Urninge 
hat  mich  schwankend  gemacht.  Kratfl-Ebing  hob,  als 
er  die  psychische  Hermaphrodisie  als  erste  Stufe  der 
angeborenen  konträren  Sexualempfindung  beschrieb1),  her- 
vor, daß  in  diesen  Fällen  die  Neigung  zum  andern  Ge- 
schlecht viel  schwächer  und  episodischer  sei,  „während 
die  homosexuale  Empfindung  als  die  primäre  und  zeitlich 
wie  intensiv  vorwiegende  in  der  vita  sexualis  zu  Tage 
tritt.  ■  Um  hier,  wie  in  der  ganzen  Frage  klar  zu  sehen, 
muß  man  unbedingt  den  Geschlechts  trieb  von  den  ge- 
schlechtlichen Handlungen,  die  möglich  sind,  unterscheiden. 
Nur  der  natürliche  Trieb  ist  das  Ausschlaggebende.  Mau 
glaube  nur  nicht*  daß  wer  mit  beiden  Geschlechtern  ver- 
kehren kann,  auch  beide  liebe.  Wer  urnische  Ehe- 
männer befragt*  wird  meist  hören,  daß  sie  entweder  in 
völliger  Unkenntnis  ihres  Zustandes  heirateten  oder  weil 
sie  meinten,  von  ihrem  sie  quälenden  Triebe  loszukommen. 
Betrachten  wir  einmal  die  Verhältnisse,  wie  sie  wirklich 
sind.  Ein  junger  Uranier  wächst  heran.  Von  allen 
Seiten  hat  er  die  Liebe  zum  Weibe  preisen  hören,  sie 
erscheint  ihm  als  das  begehrenswerteste  Ziel.  Die  ganze 
heterosexuelle  Umgebung  wirkt  auf  ihn  wie  eine  mächtige 
Suggestion.  Die  erwachende  und  erstarkende  Sinnlichkeit 
führt  ihn,  indem  sie  ihn  dein  allgemeinen  Triebe  der 
Kameraden  folgen  läßt,  zu  einer  Art  Schwärmerei  für 
weibliche  Personen.  Vom  Uranismus  weiß  er  nichts;  die 
Päderastie  hält  er,  nach  allem,  was  er  gehört  hat,  für 
etwas  Abscheuliches.  Es  kommt  die  Zeit,  wo  ihm  „nur 
noch  die  Frau  fehlt.*    Mau  macht  ihn  auf  ein  Mädchen 


»)  Psych,  »ex.  S.  251. 


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—   37  — 


aufmerksam,  die  für  ihn  wie  geschaffen  ist  oder  er  lernt 
eine  kennen,  die  ihm  .sympathisch"  ist,  gewöhnlich  eine, 
die  ihrer  äußeren  Erscheinung  und  inneren  Veranlagung 
nach  viel  männliche  Eigenschaften  aufweist.  Die  Unter- 
scheidung von  Liebe  und  Freundschaft  ist  durchaus  nicht 
leicht;  so  geht  er  in  allen  Ehren  die  Ehe  ein  und  voll- 
zieht „pflichtschuldigst11  vielleicht  die  Woche  einmal  den 
Geschlechtsverkehr,  vielfach  —  wie  es  in  einem  Volks- 
lied heißt,  —  .nicht  um  der  schnöden  Wollust  willen, 
um  Gottes  Willen  zu  erfüllen".  Seine  Ehe  ist  sogar 
harmonisch,  während  es  ringsherum  viele  unglückliche 
Ehen  gibt,  in  denen  die  Männer  ihre  Sinnlichkeit  an 
fremden  Frauen  befriedigen.  Er  aber  begehrt  nicht  nach 
des  Nächsten  Weib.  So  stirbt  er,  ohne  sich  seines  Irr- 
tums bewußt  geworden  zu  sein;  denn  gar  viele  Menschen 
verbringen  ihr  Leben  in  einer  Art  Dämmerung,  automatisch 
folgen  sie  den  andern,  individuelle  Regungen  halten  sie 
für  .Schwächen,"  alles,  selbst  das  komplizierte  spielt  sich 
nur  in  ihrem  Unterbewußtsein  ab.  Ihre  Seele  funktioniert 
reflektorisch.  Sie  kommen  aus  einem  dumpfbriitenden  Zu- 
stand trotz  aller  scheinbaren  Aktivität  nicht  heraus. 
Vielen  aber  geht  doch  schließlich  —  ein  Licht  auf,  das 
Oberbewußtsein  hat  über  das  Unterbewußtsein  den  Sieg 
errungen.  Aber  oft  kommt  dann  die  Erkenntnis  zu  spät. 
„Seit  ich  wissend  bin,  schreibt  uns  ein  hoher  Staatsbeamter, 
kleide  ich  die  Freundschaft  zu  meiner  Frau  in  das  Ge- 
wand der  Liebe  und  die  Liebe  zu  meinen  Lieblingen  in 
das  Gewand  der  Freundschaft,  und  so  schreite  ich  mit 
einer  Täuschung  meiner  Umgebung  —  ursprünglich  selbst 
getäuscht  —  weiter  durch  das  Leben." 

Sehr  fein  hebt  Krafft-Ebing !)  hervor,  daß  es  sich 
bei  sexueller  Frigidität  in  Wirklichkeit  um  psychische 
Hermaphrodisie  handeln  kann.    Auf  die  Dauer  dürften 


')  A.  a.  0.  8.  252. 


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—    38  — 


aber  doch  nur  mit  sehr  schwachem  Geschlechtstrieb  be- 
gabte Personen  diesem  Irrtum  verfallen.  Viele  soge- 
nannte Bisexuelle  müssen  sich  zum  Coitus  stark  mecha- 
nisch erregen  lassen,  andere  bedürfen  psychischer  Kunst- 
hilfe. Ich  will  zur  Charakterisierung  dieser  Gruppe  eine 
Auswahl  von  Antworten  wiedergeben,  welche  ich  von 
Bisexuellen  über  die  Art  ihres  „normalen"  Geschlechts- 
verkehrs erhielt.  Ein  verheirateter  Universitätsprofessor 
berichtet:  „Ich  bin  zum  Coitus  mit  dem  andern  Geschlecht 
ohne  besondere  Vorstellungen  und  Kniffe  fähig,  habe 
keinen  Widerwillen  dagegen,  aber  auch  keinen  Genuß 
davon."  Ein  Fabrikant  schreibt:  „Hätte  ich  vorher  die 
über  die  Homosexualität  aufklärende  Lektüre  gekannt, 
ich  hätte  nicht  das  Unglück  der  Ehe  über  mich  herein- 
gebracht Es  war  gewissermaßen  ein  Verzweiflungsakt 
in  dem  törichten  Wahn,  ich  könnte  mich  doch  vielleicht 
ändern;  ich  habe  mich  aber  nur  doppelt  unglücklich  ge- 
macht und  leider  noch  dazu  eine  gute  Frau,  die  ein 
anderes  Glück  verdient  hätte,  als  einen  Urniug  zum 
Manne  zu  haben.  Der  Akt  ist  möglich,  ich  bringe  es 
zur  Ejakulation,  aber  ganz  ohne  Wonnegefühl  und  bin 
nachher  sehr  angegriffen.  Mir  bei  dem  mir  widersprechenden 
Verkehr  eine  edle  Jünglingsgestalt  vorzustellen,  bringe 
ich  nicht  fertig.*  Ein  Offizier  teilt  mit:  „Ich  habe  viele 
Bordells  besucht,  und  mit  Erfolg,  d.  h.  ich  blamierte  mich 
nicht.  Ich  sagte  den  Damen  immer,  daß  sie  bald  wieder 
einen  ordentlichen  Lebenswandel  führen  sollten  und  sie 
versicherten  mir  noch  uie  einen  solchen  braven  Herrn 
gesehen  zu  haben.  Vor  dem  Beginn  habe  ich  meistens 
gezittert,  aber  es  galt  meinen  guten  Ruf  zu  erhalten  und 
nachher  triumphierte  ich  wie  ein  Feldherr  nach  ge- 
wonnener Schlacht."  Ein  Dolmetscher  gibt  an:  „Ich  habe 
auch  viel  mit  Weibern  verkehrt,  aber  nur  im  angetrunkenen 
Zustand."  Ein  Arbeiter,  der  Frau  und  Kinder  hat,  gibt 
folgende  Schilderung:  „Ich  führe  den  Beischlaf  aus,  aber 


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—    39  — 


mit  größtem  Widerwillen  und  fühle  mich  dabei  zum 
Sterben  unglücklich;  am  liebsten  möchte  ich  unmittelbar 
darauf  den  Akt  mit  einem  Manne  ausführen  können/4 
Ein  Jurist  antwortet:  „Ich  gehe  seit  vielen  Jahren  alle 
zwei  bis  drei  Wochen  ins  Bordell.  Mit  anderen  Frauen 
als  Dirnen  habe  ich  nie  verkehrt.  Manche  anständige 
Mädchen  gefallen  mir  wohl,  aber  da  der  Mann  mich  doch 
intensiver  anzieht  und  ich  nach  dem  Verkehr  mit  dem 
Wreibe  mich  nach  männlicher  Umarmung  sehne,  nehme 
ich  mir  nicht  die  Mühe,  mich  den  langen  Präliminarien 
zu  unterziehen,  die  nötig  sind,  Mädchen,  die  keine  Dirnen 
sind,  zu  gewinnen.  Sentimentale  Liebe  habe  ich  abgesehen 
von  einer  Tanzstundenschwärmerei  im  17.  Lebensjahre 
für  Frauen  nie  empfunden,  für  Männer  dagegen  in  den 
letzten  zehn  Jahren  drei  heftige  Leidenschaften."  Ein 
Kaufmann  erwidert:  «Ich  kann  mit  Frauen  den  Verkehr 
ausüben,  aber  nur  durch  den  Gedanken  an  den,  der  vor 
mir  das  Weib  besessen  hat."  Ein  junger  Berliner  Arbeiter 
erzählt:  „Als  ich  siebzehn  Jahre  alt  war  und  sich  alle 
gleichaltrigen  Kollegen  Verhältnisse  und  Bräute  an- 
schafften, nahm  ich  mir  auch  mein  Mädchen.  Da  ich  mir 
meines  eigenartigen  Wesens  nicht  bewußt  war,  so  war  es 
mir  selbstverständlich,  daß  ich  mir  auch  später  als  Mann 
eine  Frau  anschaffen  mußte.  Beim  Geschlechtsakt  mußte 
der  sinnliche  Keiz  stets  durch  psychische  Mittel  herbei- 
geführt werden.  Nachher  war  ich  durch  die  große  An- 
strengung sehr  abgespannt  und  ich  schwur  mir,  mich  nie 
wieder  auf  derartiges  einzulassen.  Ich  fühlte  mich  damals 
zu  einem  Verwandten  sehr  hingezogen.  Ich  als  der 
Ältere  und  bei  den  Weibern  Einflußreichere  mußte  für 
ihn  immer  die  Mädchen  beschwatzen  und  so  haben  wir 
oft  nach  einander  den  Akt  vollführt.  Die  Beobachtung 
seines  heißen  Temperamentes  reizte  mich  bis  zum  äußersten 
und  war  mir  dann  die  Ausführung  des  Verkehrs  ein 
leichtes."     Ein    anonymer  Briefschreiber  meldet:  „Ich 


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—    40  — 


verkehre  auch  mit  Weibern,  aber  nur  mit  einfachen 
Mädchen  nicht  über  20  Jahr;  wirklich  erregt  hat  mich 
nur  eine  Polin,  die  kein  Korsett  und  kurze  Haare  trug 
und  sehr  jungenartig  war."  Ich  will  diese  Paradigmata 
aus  dem  Leben  mit  den  Angaben  eines  Patienten  schließen, 
der  mich  kürzlich  wegen  sexueller  Hyperästhesie  konsul- 
tierte, die  so  stark  war,  daß  er  beim  Überschreiten  der 
Berliner  Schloßbrücke  angesichts  der  Jünglingsstatuen 
Erektionen  bekam.  Es  war  ein  jüdischer  Kaufmann  von 
42  Jahren.  Um  die  potentia  coeundi  zu  erlangen,  genügte 
es  nicht,  an  einen  ihm  sympathischen  Mann  zu  denken, 
sondern  er  mußte  von  ihm  sprechen,  etwa  so:  „Erinnerst 
du  dich  an  den  Diener  des  Grafen,  der  Vormittag  die 
Waren  abholte  ?  Hat  er  dir  gefallen  ?  Ein  sauberer 
Bursche,  nicht  wahr?  Seine  Livree  schien  neu  zu  sein? 
Fandest  du  nicht,  daß  sie  ihm  etwas  eng  saß?  Für  wie 
alt  hälst  du  ihn?"  Nur,  wenn  er  solche  Gespräche  mit 
seiner  Frau  führte,  deren  Absicht  zu  verdecken  großes 
Geschick  erforderte,  gelang  es  ihm,  zu  ejakulieren  und 
—  Kinder  zu  zeugen,  deren  er  drei  besaß.  Ist  das  nicht 
wahre  Widernatürlichkeit?  Dieser  Herr  reiste  etwa  alle 
Vierteljahre  einmal  aus  der  Provinz  nach  Berlin,  um  hier 
mit  einem  Soldaten  zu  verkehren;  er  gehörte  mithin  zu 
den  „periodischen  Päderasten"  von  denen  Tarnowsky1) 
und  mit  ihm  Bloch2)  annehmen,  daß  es  von  Geburt  normal- 
sexuelle  seien,  die  nur  von  Zeit  zu  Zeit  einen  Anfall  von 
Homosexualität  bekommen,  der  dem  „periodischen  Irrsein" 
gleichzusetzen  sei.  In  Wahrheit  sind  es  aber  einfach 
Homosexuelle,  die  auch  heterosexuell  verkehren  können. 
Das  eine  ist  ihnen  Natur,  das  andere  Kunst.  Als  Bisexuelle 
können  wir  sie  so  wenig  betrachten,  wie  etwa  die  ge- 
schilderten Heterosexuelleu,  die  auch  im  homosexuellen 

')  Benjamin  Tarnowsky,  Syphilidologe  in  Petersburg:  Die 
krankhaften  Erscheinungen  des  Geschlechtsinns.  Berlin  1880.  Seite  43. 
«)  Bloch,  a.  a.  0.  S.  15. 


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—    41  — 


Verkehr  ejak ulier en  können.  Personen,  die  mit  allen 
Zeichen  der  Verliebtheit  einmal  vom  Weibe,  ein  anderes 
Mal  vom  Manne  gefesselt  werden  —  das  wären  wirkliche 
Bisexuelle  —  habe  ich  nicht  ermitteln  können.  Am  ehesten 
scheint  mir  noch  ein  annähernd  gleich  starkes  Empfinden 
für  beide  Geschlechter  bei  Fetiscbisten,  Masochisten  und 
Sadisten  vorzukommen.  So  kenne  ich  einen  Mundfeti- 
schisten,  der  fast  in  gleicher  Weise  zu  beiden  Geschlechtern 
neigt  und  eine  Sadistin,  die  feminine  Männer  ebenso  gern 
peinigt,  wie  normale  Mädchen.  In  solchen  Fällen  ist  die 
Perversion  als  solche  so  vorherrschend,  daß  sie  sich  über 
ein  bestimmtes  Geschlecht  hinwegzusetzen  scheint;  die 
Perversion  hebt  dann  die  Inversion  auf.  Theoretisch  könnte 
man  wohl  bei  den  sexuellen  Zwischenstufen  das  Auftreten 
der  Bisexualität  für  naheliegend  ansehen,  wenn  man  die 
Vereinigung  männlicher  und  weiblicher  Eigenschaften  be- 
rücksichtigt, die  beide  nach  einer  gewissen  Ergänzung 
streben.  Anderseits  ist  aber  zu  bedenken,  daß  jeder 
einzelne  Geschlechtscharakter,  zu  denen  doch  auch  schließ- 
lich der  Geschlechtstrieb  gehört,  sich  entweder  nach 
männlicher  oder  weiblicher  Richtung  gestaltet,  nicht  nur 
die  einfach  auftretenden,  sondern  auch  die  bisymmetrischen, 
wie  die  Keimdrüsen.  Daraus  könnte  man  folgern,  daß 
das  auch  für  das  sexuelle  Triebzentrum  der  Fall  ist.  Jeden- 
falls halte  ich  einen  ausgesprochenen  unkomplizierten 
Trieb  zu  beiden  Geschlechtern  für  unwahrscheinlich,  doch 
wiederhole  ich,  daß  ich  in  dieser  Frage  ein  abschließendes 
Urteil  noch  nicht  abgeben  möchte. 

Viele  H.-S.  halten  sich  für  bisexuell,  bis  sie  von 
einer  „grande  passion"  befallen  werden,  an  der  sie  den 
Unterschied  zwischen  „lieb  haben"  und  „lieben"  gewahr 
werden.  Ich  erinnere  an  den  obengeschilderten  Fall  des 
Oberlehrers.  Es  wurde  bereits  darauf  hingewiesen,  wie 
schwer  die  Selbsterkenntnis  des  urnischen  Seelenzustande* 
ist,  von  dem  man  garnichts  oder  doch  nur  ganz  Nach- 


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—   42  — 


teiliges  gehört  hat  Selbst  wenn  die  Erkenntnis  allmählich 
aufdämmert,  sträubt  sieh  bei  den  meisten  der  Verstand 
mit  aller  Kraft  gegen  das  Gefühl.  Mehr  wie  einmal  habe 
ich  aus  körperlichen  und  geistigen  Stigmen  die  Früh- 
diagnose der  Homosexualität  stellen  können,  bei  Personen, 
die  über  ihre  urnische  Natur  keine  Ahnung  hatten;  spätere 
Tatsachen  bestätigten  die  Richtigkeit  der  Diagnose.  So 
fällt  mir  ein  Herr  ein,  mit  dem  ich  vielfach  auf  Gesell- 
schaften zusammentraf.  Einmal  erzählte  er  mir  von  einem 
uns  beiden  bekannten  Selbstmörder  und  fügte  ziemlich 
wegwerfend  hinzu  „er  soll  mit  Männern  geschlechtlichen 
Umgang  gehabt  haben."  Ich  konnte  mich  nicht  enthalten, 
ihm  zu  erwidern:  „Wissen  sie  wer  ebenso  empfindet? 
Sie  selbst  ;  Ihre  keusche  Kameradschaftlichkeit  dem  Weibe 
gegenüber,  Ihre  langjährige  so  starke  Schwärmerei  für 
den  Bildhauer  X.,  Ihre  weiblichen  Charaktereigenschaften 
und  Bewegungen,  Ihre  Kunstfertigkeit  die  berühmte 
Sängerin  X.  in  Stimme  und  Haltung  zu  kopieren,  sagen 
genug."  Er  wies  meine  Annahme  in  breiten  Auseinander- 
setzungen mit  großer  Entschiedenheit  zurück.  'Nach 
längerer  Zeit  sah  ich  ihn  wieder,  glücklich  über  die  endlich 
erlangte  Klarheit  und  innere  Ruhe,  die  im  Anschluß  an 
meinen  berechtigten  Hinweis  bei  ihm  eingetreten  waren. 
Ist  es  schon  schwierig,  über  die  eigene  Natur  ein 
*  richtiges  Urteil  zu  gewinnen,  so  schwer,  daß  manche 
Unglückliche  sich  ihr  ganzes  Leben  schuldig  fühlen,  ohue 
es  zu  sein,  so  nimmt  die  Schwierigkeit  noch  zu,  wenn  es 
sich  darum  handelt,  die  Ursachen  eines  von  der  Norm 
abweichenden  Seelenzustandes  richtig  zu  bewerten.  Jeder 
Arzt  weiß,  wie  unzuverlässig  die  Angaben  eines  Patienten 
über,  den  Grund  eines  körperlichen  Leidens  sind,  wie  oft 
für  ererbte  und  bazilläre  Krankheiten,  beispielsweise 
tuberkulöse,  ein  Trauma,  eine  Erkältung,  Anstrengung  oder 
Aufregung  als  Ursache  angegeben  werden,  während  wir 
doch  genau  wissen,  daß  keiner  dieser  Anlässe  eine  causa 


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—   43  — 


sufficiens  abgeben  kann,  daß  die  Hauptbedingung  vorher 
da  sein  muß.  Ist  das  schon  auf  körperlichem  Gebiet 
möglich,  wie  viel  mehr  auf  geistigem.  Der  Laie  führt 
uervöse  und  psychische  Störungen  fast  nie  auf  innere 
Anlage,  sondern  stets  auf  äußere  Ereignisse  zurück. 
Selbstverständlich  wird  daher  ein  geschulter  und  gewissen- 
hafter Arzt  alle  Angaben  seiner  Klienten  kritisch  und 
vergleichend  würdigen  müssen.  Einem  Arzt  Leicht- 
gläubigkeit vorzuwerfen,  wie  es  in  der  Frage  der  Homo- 
sexualität wiederholt  geschehen  ist,  heißt  ihn  der  Kritik- 
losigkeit zeihen,  und  das  bedeutet  ein  arges  Mißtrauensvotum 
in  Bezug  auf  seine  fachliche  Tüchtigkeit.  Ebenso  arg  ist 
es  aber  auch,  die  Homosexuellen  für  verlogen  zu  erklären. 
Schrenck-Notzing  *)  meinte,  daß  „die  Selbstbekenntnisse  der 
Urninge  nur  mit  großer  Reserve  zu  berücksichtigen"  seien. 
Nur  in  einem  mißt  dieser  Autor  ihren  Aussagen  vollen 
Glauben  bei,  nämlich  in  dem,  was  sie  über  den  Heilerfolg 
der  Hypnose  berichten,  trotzdem  es  doch  bekannt  ist,  wie 
oft  gerade  Hypnotisierte  dem  um  sie  bemühten  Arzt  „par 
complaisance"  die  Unwahrheit  sagen.  Während  aber 
Schrenck  und  Gramer*)  nur  unbewußte  Autosuggestion 
unter  dem  Einfluß  diesbezüglicher  Lektüre  annehmen, 
geht  Bloch  8)  bedeutend  weiter,  er  spricht  von  subjektiven 
Täuschungen  und  Fälschungen,  die  sich  die  Urninge 
in  ihren  Autobiographieen  zu  schulden  kommen  ließen. 
„Die  kritiklosen  Theorien  eines  Ulrichs,"  so  meint  Bloch, 
„wurden  von  vielen  Urningen  für  Wahrheit  genommen 
und  auf  deu  eigenen  Zustand  übertragen."  Und  an  einer 
späteren  Stelle  4)  fügt  er  hinzu  „Ulrichs  Schriften,  die  von 

')  A.  a.  O.  8.  19f>. 

9)  A.  Cramer.  Die  konträre  Scxuulempfindung  in  ihren  Be- 
ziehungen zum  §  175  des  R.-Str.-(i.-B.  Berliner  klin.  Wochenschrift 
1897.    N.  13.  Seite  964. 

')  A.  a.  0  S.  13. 

»)  A.  a.  0.  S.  198. 


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-    44  — 


obscönen  Details  wimmeln,  sind  in  den  Händen  aller 
Urninge."  Wie  wohl  wäre  Ulrichs  gewesen,  wenn  diese 
Angabe  auch  nur  durch  hundert  geteilt  der  Wahrheit 
entspräche.  In  meinen  Händen  befindet  sich  ein  Brief, 
den  Ulrichs  aus  Aquila  am  6.  Februar  1892,  also  drei 
Jahre  vor  seinem  Tode  und  zirka  30  Jahre  nach  dem 
Erscheinen  seiner  eisten  Bücher  „über  das  Rätsel  der 
mannmännlichen  Liebe/'  an  einen  Bekannten  in  Deutschland 
richtete.  Er  schildert  in  dem  höchst  interessanten  aus- 
führlichen Schriftstück  seine  Lage  und  bemerkt  dann 
wörtlich : 

„Ihre  Absicht,  in  anderer  Weise  etwas  für  mich  zu 
tun,  ist  sehr,  sehr  freundlich.  Gewiß,  aber  setzt  mich  in 
Verlegenheit,  weiß  nicht,  was  dazu  sagen,  wie  mich  dem- 
gegenüber verhalten.  Ein  gewisses  Schamgefühl  hält  mich 
zurück,  während  ich  Abonnements  auf  mein  Blatt  rück- 
haltlos annehmen  könnte.  Mein  lateinisches  Blatt  ist  eine 
kleine  Uuterhaltungsschrift  für  lateinkundige  Gebildete, 
die  sich  nicht  auf  ein  bestimmtes  Feld  beschränkt,  vor- 
zugsweise Prosa,  doch  auch  kleine  Poesien  bringend  ;  er- 
scheint etwa  alle  zwei  Monat  einmal.  In  meinen  Schriften 
habe  ich  wiederholt  solche  Gedanken  ausgesprochen,  wie 
den  Ihrigen,  der  mich  erfreut  hat,  daß  wir  einen  großen 
unsichtbaren  Bund  bilden.  Daß  ich  Heimat  und  Vater- 
land hätte  verlassen  müssen,  ist  irrig.  Niemand  zwang 
mich,  Deutschland  zu  verlassen  und  jeden  Augenblick 
könnte  ich  zurückkehren.  Die  Schriften,  die 
Schriften  sind  es,  die  mich  an  den  Bettelstab 
gebracht  haben,  indem  sie  mir  nichts  ein- 
brachten. Sie  hätten  längst  neue  Auflagen  erleben 
müssen.  Statt  dessen  —  o!  Es  ward  mir  so  schwer, 
überhaupt  nur  Buchhändler  für  diese  Werke  zu  finden.'* 

So  schreibt  der  Mann,  dessen  Schriften  sich  in  den 
Händen  jedes  Urnings  befinden  sollen,  freilich  wird  Bloch 
diese  Angaben  nicht  glauben,  denn  Ulrichs  war  ja  ein 


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—   45  - 


Urning.  Mit  großer  Entschiedenheit  hat  bereits  Krafft- 
Ebing  den  so  bequemen  Einwurf  „er  sei  beschwindelt 
worden"  zurückgewiesen ,).  Neuerdings  ist  auch  Möbius  *) 
auf  diese  Beschuldigung  eingegangen;  er  schreibt:  „Die 
Behauptung,  diese  Leute  lögen  oder  machten  sich  selbst 
etwas  weiß,  ist  nicht  haltbar,  denn  auch,  wenn  sie  hie 
und  da  zutrifft,  bleiben  so  viele  unantastbare  Biographien 
übrig,  daß  an  der  Ursprünglichkeit,  der  Macht  und  der 
Dauer  der  abnormen  Gefühle  nicht  zu  zweifeln  ist"  Wir 
möchten  gegenüber  dem  schweren  Vorwurf  Blochs  gegen 
die  Homosexuellen  noch  hervorheben,  daß  die  große 
Ubereinstimmung  zahlloser  Anamnesen  von  Urningen  aller 
Stände,  namentlich  auch  von  urnischen  Arbeitern,  die  nie 
ein  Buch  über  den  Gegenstand  gelesen  haben,  die  Wahr- 
haftigkeit des  Gesagten  über  allen  Zweifel  erhebt)  ferner, 
daß  diese  Angaben  in  einer  sehr  großen  Zahl  der  Fälle 
von  den  Angehörigen,  Vätern,  Müttern  und  Bekannten 
bestätigt  wurden,  —  erst  vor  kurzem  konsultierte  mich 
ein  protestantischer  Geistlicher  mit  einem  urnischen  Sohn, 
der  ebenfalls  Theologie  studierte  und  sagte:  »Er  war  von 
Anfang  an  anders,  wie  meine  5  anderen  Söhne.*  Endlich 
rühren  die  Mitteilungen  oft  genug  von  Urningen  her,  die 
sich  nie  in  ihrem  Leben  homosexuell  betätigten,  Leute  von 
unantastbarer  Integrität,  für  die  auch  nicht  der  mindeste 
Grund  besteht,  die  Unwahrheit  zu  reden.  Ich  habe  von 
den  vielen  uns  zur  Verfügung  stehenden  Selbstbiographien 
nur  eine  einzige  im  Anhang  wiedergegeben,  sie  rührt  von 
einem  ganz  einfachen  Arbeiter  her,  ist  nicht  einmal 
orthographisch  richtig  geschrieben,  aber  für  die  Wahrheit 
dessen,  was  dieser  schlichte  Mann  aussagt,  stehe  ich  ein, 
wenn  es  überhaupt  noch  Treue  und  Glauben  gibt  Man 

')  In  der  Schrift  „Uber  sexuelle  Perversionen"  bei  Urban  und 
Schwarzenberg.    1901.   Seite  130. 

*)  Dr.  P.  J.  Möbius  in  Leipzig.  Geschlecht  und  Entartung 
bei  Marhold  in  Halle  1903.   S.  30. 


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—    4(5  — 


lese  dieses  Lebensbild,  wo  kann  da  von  einem  Variations- 
bedürfnis, von  Reizhunger,  der  leichten  Beeinflußbarkeit 
des  Geschlechtstriebes  durch  äußere  Einwirkungen,  von 
Suggestion,  Nachahmung  oder  choc  fortuit  die  Rede  sein? 
Enthält  nicht  allein  diese  eine  Biographie  eine  ganz 
furchtbare  Anklage  gegen  die  Wachenfeld  und  Bloch, 
welche  in  einer  so  wichtigen  Frage  vom  grünen  Tisch 
ihr  Urteil  fällen,  ohne  die,  welche  sie  richten,  gesehen, 
gehört,  beobachtet  und  untersucht  zu  haben? 

Es  genügt  natürlich  nicht,  die  Lebensgeschichte  der 
H.-S.  zu  durchforschen,  sondern  ein  jahrelanges  Beob- 
achten vieler  Urninge  aller  Altersstufen  und  Stände, 
ihrer  Lebensäußerungen  und  Lebeusgewohnheiten  ist  not- 
wendig, um  sich  über  die  Gesamtpersönlichkeit  ein  Urteil 
bilden  zu  können.  Diese  Aufgabe  wird  dadurch  er- 
schwert, daß  vielen  Urningen  nach  Lage  der  Verhält- 
nisse durch  Selbsterziehung  und  Gewohnheit  manches 
zur  „zweiten  Natur-  wird,  was  ihnen  ursprünglich  nicht 
zukommt.  Man  wird  bei  der  psychologischen  Erkenntnis 
nicht  nur  auf  positive  Äußerungen  zu  achten  haben,  sondern 
auch  auf  negative  Züge,  so  ist  beispielsweise  bei  manchen 
Uraniern  die  sexuelle  Negierung  des  anderen  Geschlechts 
viel  vorherrschender,  als  die  durch  intensive  Geistes- 
tätigkeit abgelenkte  oder  zum  Schweigen  gebrachte  posi- 
tive Neigung  zum  gleichen  Geschlecht. 

Sehr  wesentlich  wird  die  Exploration  und  Beob- 
achtung unterstützt  durch  die  Körperuntersuchung  mög- 
lichst zahlreicher  Zwischenstufen  aller  Art.  Den  Sektionen 
H.-S.  können  wir  hingegen  vorderhand  noch  keine  so 
hohe  Bedeutung  beimessen,  solange  das  sexuelle  Centrum 
im  Gehirn  noch  nicht  ermittelt  und  wir  über  die  Ge- 
schlechtsunterschiedc  zwischen  männlichen  und  weiblichen 
Gehirnen  noch  so  wenig  unterrichtet  sind.  Der  von 
Rüdinger  gefundene  und  neuerdings  von  Waldeyer  be- 
stätigte Satz,  daß  die  Windungen  des  Stirn-  und  Schlaf  cn- 


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-    47  — 


lappeos  beim  Weibe  schwächer  entwickelt  sind,  wie  beim 
Manne  stützt  sich  auf  ein  zu  geringes  Vergleichsmaterial, 
als  daß  er  eine  Grundlage  für  die  anatomische  Unter- 
suchung urnischer  Leichen  abgeben  könnte,  ebensowenig 
wie  die  Geschlechtsunterschiede  im  Kleinhirn,  auf  die 
wir  später  noch  eingehender  zurückkommen. 

Wir  sind  mit  den  angegebenen  Mitteln  ohnedies  in 
der  Lage,  sofern  nur  eine  genügende  Zahl  von  Einzel- 
beobachtungen vorliegt,  ausreichende  Schlüsse  zu  ziehen, 
wir  werden  als  Endergebnis  dieser  Objektforschungen  den 
sicheren  Beweis  erbringen  können,  daß  der  Uranismus 
und  das  gleichgeschlechtliche  Empfinden  d.  i.  die  Homo- 
sexualität niemals  durch  äußere  Ursachen  erworben,  nie 
anerzogen,  sondern  stets  angeboren  ist. 


I.  Das  urnische  Kind. 

Für  das  Angeborensein  einer  Eigenschaft  ist  es  in 
hohem  Maße  bezeichnend,  wenn  dieselbe,  soweit  die  Er- 
innerung reicht,  nachweisbar  ist.  Bereits  V.  Magnan, 
der  große  französische  Psychiater,  welcher  die  konträre 
Sexualempfindung  noch  zu  den  Geistesstörungen  der  Ent- 
arteten zählt,  sagt:1)  „Sie  zeigt  sich  oft  schon  in  früher 
Jugend  und  gerade  das  ist  charakteristisch ;  nichts  spricht 
deutlicher  für  die  ererbte  Beschaffenheit  dieser  Anomalie, 
als  ihr  frühzeitiges  Auftreten."  Und  zwei  Jahre  zuvor 
bemerkt  derselbe  in  einer  audcren  Vorlesung:  „Es  handelt 
sich  bei  dem  Zustand,  den  Westphal  konträre  Sexual- 
empfindung nannte  und  Charcot  und  ich  als  Verkehrung 
des  geschlechtlichen  Empfindens  (inversion  du  sens  genital) 

')  Psychiatrische  Vorlesungen,  11,111.  Heft  übersetzt  von  Möbius 
Leipzig  bei  Thieme  1892  in  der  11.  aus  dem  Jahre  1887  stammenden 
Vorlesung  Seite  2G  und  in  der  III.  über  geschlechtliche  Ab- 
weichungen und  Verkehrungen  vom  Januar  1885. 


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beschrieben,  um  ein  ab  ovo  krankhaftes  Gefühl,  denn  die 
Störung  macht  sich  schon  in  früher  Jugend,  zuweilen  vom 
fünften  Jahr  an  geltend,  also  bevor  fehlerhafte  Erziehung 
oder  lasterhafte  Gewohnheit  den  Menschen  verderben 
können.*  Ganz  vortrefflich  meint  auch  Schrenek-Notzing:*) 
„Sehr  wichtig  für  die  originäre  Anlage  zur  konträren 
Sexualempfindung  ist  der  Nachweis,  daß  der  weibliche 
Typus  im  männlichen  Kinde  schon  vor  der  Zeit  der 
ersten  sexuellen  Regungen  (nicht  der  Pubertät) 
charakterologisch  sich  entwickeln  und  daß  aus  diesem 
weiblichen  Charakter,  als  eine  folgerichtige  Teilerscheinung, 
weibliches  Geschlechtsgefühl  entstand  ohne  den  Zwang 
äußerer  Verhältnisse.1*  Schrenck  hielt  1892,  als  er  dies 
schrieb,  diesen  Nachweis  nicht  erbracht,  heute  scheint  es 
mir  sicher  zu  stehen,  daß  der  Uranier  von  vornherein  den 
Stempel  seiner  körperlichen  und  geistigen  Eigentümlichkeit 
trägt.  Seine  Besonderheit  ist  von  frühester  Jugend  vor- 
handen, während  sie  bei  anderen  beispielsweise  bei  Ge- 
schwistern trotz  gleicher  Erziehung  und  gleichem  Milieu 
fehlt  Jeder  Homosexuelle  erinnert  sich,  daß  er  anders 
geartet  war,  als  die  gewöhnlichen  Knaben.  Sehr  oft  war 
ihm  die  Tatsache,  wenn  auch  nicht  die  Ursache, 
schon  während  der  Schulzeit  klar.  Weniger  von  ihm 
selbst,  umsomehr  aber  von  den  Angehörigen  und  Fern- 
stehenden wird  in  dieser  Eigenart  das  Mädchenhafte  er- 
kannt. Wir  geben  einige  Urteile  der  Umgebung  wieder, 
die  in  größter  Mannigfaltigkeit  vorliegen.  Ein  homo- 
sexueller Schriftsteller  schreibt:  „Das  Wort:  „Du  wärst 
besser  ein  Mädchen  geworden,"  habe  ich  unendlich  oft 
hören  müssen.  Als  fünfjähriger  Junge  nahm  ich  oft  ein 
Tuch  und  schlug  es  um,  sodaß  es  schleppte,  und  sagte: 
nun  bin  ich  ein  Mädchen;  das  war  mein  größtes  Ver- 
gnügen!   Von  Knaben  zog  ich  mich  zurück,  ohne  aber 

*)  A.  a.  0.  S.  194.   Aus  dem  Jahre  1882. 


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damals  einzusehen,  daß  ich  anders  geartet  war."  Ein 
urnischer  Chemiker,  der  sich  noch  nie  in  seinem  Leben 
betätigte,  berichtet:  „Ich  war  als  Kind  sehr  artig  und 
habe  im  Gegensatz  zu  meinen  Brüdern  von  meinen  Eltern 
nie  Prügel  bekommen.  Onanie  ist  mir  unbekannt.  Die 
wilden  Knabenspiele  waren  mir  zuwider,  ich  schloß  mich 
mit  Vorliebe  an  Mädchen  an  und  hatte  deswegen  viel 
Neckerei  und  Spott  zu  erdulden;  das  war  mir 
sehr  unangenehm,  doch  konnte  ich  nicht  dagegen  an. 
Ich  liebte  zu  nähen,  zu  stricken,  beim  Kochen  und  Backen 
zu  helfen  und  mich  mit  Bändern  wie  ein  kleines  Mädchen 
zu  schmücken.  Es  ist  mir  jetzt  immer  sehr  peinlich, 
wenn  diese  Jugenderinnerungen  von  Angehörigen  ausge- 
kramt werden."  Andere  Mitteilungen  von  Urningen  lauten: 
„Im  Kadettenkorps  hieß  ich  die  keusche  Jungfrau."  „In 
der  Schule  nannte  man  mich  allgemein  Fräulein."  „Als 
ich  13  Jahre  alt  war,  sagte  unser  Hausarzt,  ich  sei  kein 
Kerl,  sondern  ein  hysterisches  Frauenzimmer."  „Mein 
Vater  rief  mich  Wilhelmine."  „In  der  Tanzstunde  nannten 
mich  die  Damen:  Willy  mit  den  Mädchenaugen."  „Schon 
zu  Hause,  wie  später  in  der  vornehmen  Gesellschaft  führte 
ich  den  Spitznamen:  Die  Baronesse."  „Wenn  ich  einen 
Stein  in  die  Luft  warf,  sagten  die  Jugendgespielen:  Dä 
Widdigs  Jong  wirft  grad  wie  ein  Mädchen"  „Meine 
Mutter  sagte  oft  von  mir,  er  ist  meine  kleine  Tochter." 
„Von  mir  und  meiner  ältesten  Schwester  hieß  es  stets, 
wir  seien  verwechselt  worden."  „Man  meinte  stets,  meine 
Schwester  hätte  der  Junge  und  ich  das  Mädel  werden 
sollen."  „Als  Kind  schon  hieß  ich  Mademoiselle."  „Zu 
Hause  nannte  man  mich  den  Träumer.*  „Als  ich  klein 
war  kämmte  man  mir  die  Haare  ins  Gesicht  und  freute 
sich:  der  Junge  sieht  wie  eine  kleines  Mädchen  aus.*  „Es 
wurde  oft  gesagt,  er  ist  kein  Junge."  „Meine  Stiefmutter 
meinte:  er  ersetzt  mir  mehr  als  eine  Tochter."  Urnische 
Damen  berichten:  „So  lange  ich  denken  kann,  wurde  ich 

JahrUicb  V.  4 


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—   50  — 


boy  genannt".  Eine  andere:  „Schon  als  Kind  trug  ich 
mit  Vorliebe  Mütze  und  Rock  meines  Vaters,  kletterte 
auf  die  höchsten  Bäume  und  wurde  immer  Junge  gerufen." 

Oft  nutzen  die  Angehörigen  die  Veranlagung  urnischer 
Kinder  aus.  Die  Väter  fühlen  sich  zu  urnischen  Töchtern 
besonders  hingezogen  —  man  denke  an  das  der  Wirk- 
lichkeit fein  abgelauschte  Verhältnis  zwischen  Bildhauer 
Kramer  und  seiner  Tochter  Michaelina  in  Gerhardt  Haupt- 
manns Michael  Kramer  —  die  Mütter  hingegen  lieben 
besonders  ihre  urnischen  Söhne,  welche  sie  gern  zu 
allerlei  häuslichen  Beschäftigungen,  wie  Beaufsichtigung 
der  Geschwister,  verwenden.  Man  glaube  nur  nicht,  daß 
erst  durch  die  Erziehung  diese  femininen  oder  virilen 
Eigenschaften  hervorgerufen  werden,  bei  einem  nicht 
urnischen  Knaben  würde  die  Mutter  überhaupt  nicht 
solche  Verwendung-  Versuchen.  Auch  hier  noch  zwei 
Beispiele.  „Meme  'neue  Mama  —  schreibt  W.  v.  S.  — 
ließ  sich  die  Vorzüge  meiner  angeborene^  Mädcheunatur 
wohl  gefallen,  ich  Verstand  im  Haushak  IÜ1  es  so  gut,  daß 
sie  sich  um  nichts  zuhämmern  brauchte,  ihre  Toiletten 
lagen  vollendet  bereit  zu  jeder  Gelegenheit  des  Tages, 
das  Haar  wurde  frisiert,  die  Hüte  auf  das  modernste 
garniert^  die  Wirtschaft  besorgt,  Menüs  bestellt  und  über- 
wacht, eigenhändig  die  Tafel  dekoriert,  und  kam  ich 
dann  zu  den  Gästen  in  den  Salon,  hieß  es  zu  nicht 
geringem  Erstaunen  der  Anwesenden:  „So  jetzt  ist  meine 
Tochter  fertig,  nun  kann  der  Sohn  uns  etwas  vorsingen." 
Gute  Alte,  ich  höre  sie  noch  und  habe  sie  so  lieb,  wie 
ich  ihr  aber  letztes  Jahr  die  Augen  öffnete  über  die 
Tochterschaft  ihres  vermeintlichen  Sohnes,  litt  und  kämpfte 
sie  sehr,  leider  vergeblich.*  Ein  junger  Leutnant  erzählt: 
„Sobald  ich  dem  Schulzimmer  entflohen  war,  eilte  ich  zu 
raeinen  Freundinnen;  ich  galt  überhaupt  bei  Bekannten 
und  Lehrern  als  Musterknabe.  Meine  Mutter  liebte  es, 
mich  zu  ihren  Geschäftsgängen  mitzunehmen  und  fragte 


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—    51  — 

mich  dann  bei  Einkäufen,  wie  mir  dieses  oder  jenes 
gefiele.  Bei  jedem  neuen  Hut,  den  sich  meine  Mutter 
kaufte,  wurde  ich  als  Modell  verwandt,  das  heißt,  mir 
wurden  die  verschiedenen  Damenhüte  auf  den  Kopf 
gesetzt  und  der  mich  am  besten  kleidete,  den  erkor 
meine  Mutter  für  sich.  „Du  siehst  wie  ein  kleines  Mäd- 
chen aus,  sagte  mir  meine  Mutter  häufig  bei  der  Hut- 
probe, schade,  daß  du  kein  Mädel  geworden  bist."  Der- 
selbe Gewährsmann  gibt  noch  folgende  sehr  bezeichnende 
Schilderung:  „Mein  Vater  war  Offizier  und  seinem 
Willen  gemäß  sollten  seine  drei  Söhne  auch  Offiziere 
werden.  Ich  stand  im  13.  Lebensjahr,  als  ich  zum 
Kadettenkorps  einberufen  wurde.  Von  meinen  Vorge- 
setzten habe  ich  nur  Gutes  erfahren,  da  ich  selbst  ein 
recht  braver  Schüler  war  und  zum  Tadeln  wenig  Veran- 
lassung bot.  An  den  wilden  Jugendspielen  beteiligte  ich 
mich  wenig  und  nur  auf  höheren  Befehl,  mein  liebstes 
waren  Plauderstündchen  mit  gleichgesinnten  Kameraden, 
die  wilden  mied  ich,  eines  Tages  aber  konnte  ich  die 
Erfahrung  machen,  daß  ein  solch  wilder  Bursche  eine 
besondere  Zuneigung  zu  mir  faßte,  mich  öfters  mit  Kleinig- 
keiten beschenkte  und  mir  half,  wo  er  helfen  konnte, 
dabei  bemerkte  er,  ich  besäße  ein  so  „ätherisches  Wesen", 
das  gefiele  ihm  so,  er  behauptete,  ich  duftete  immer  nach 
Vanille.  Im  Singen  war  ich  die  Säule  des  Soprans,  wie 
der  Lehrer  sich  ausdrückte,  und  als  in  der  Literatur- 
stunde Schillers  Jungfrau  von  Orleans  mit  verteilten 
Rollen  gelesen  werden  sollte,  und  es  sich  um  die  Be- 
setzung der  Jeanne  d'Arc  handelte,  da  war  raein  Lehrer 
keinen  Augenblick  im  Zweifel  und  übertrug  dieselbe  mir 
unter  allgemeiner  Akklamation  der  Kameraden.  Von  da 
ab  behielt  ich  im  Korps  den  Titel:  „Jungfrau  von 
Orleans"  oder  auch  „Fräulein  Johanna.""  Die  Vorliebe 
der  normalsexuellen  für  den  urnischen  Mitschüler,  dessen 
weibliche  Grundnatur  sie  instinctiv  herausfühlen,  ist  sehr 

4* 


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charakteristisch ;  so  berichtet  ein  anderer  Offizier,  der  auf 
einer  Ritterakademie  erzogen  wurde,  daß,  als  er  13  Jahre 
alt  war,  fast  alle  älteren  Knaben  in  ihn  verliebt  waren. 

Mit  der  Mädchenhaftigkeit  hängt  es  auch  zusammen, 
daß  urnische  Knaben  oft  eine  sehr  große  Ähnlichkeit  mit 
der  Mutter  haben,  bei  manchen  wird  auch  die  auffallende 
Übereinstimmung  mit  der  Großmutter  hervorgehoben. 
Doch  ist  beides  durchaus  nicht  durchgängig  der  Fall,  viel- 
mehr zeigt  die  Erfahrung,  daß  ebenso  wie  die  männlichen 
und  weiblichen  auch  die  urnischen  Kinder  körperlich  und 
geistig  unter  dem  Einfluß  der  gemischten  und  latenten 
Vererbung  stehen.  Viele  scheinen  in  der  Jugend  mehr 
der  Mutter,  später  mehr  dem  Vater  zu  gleichen. 

Von  manchen  Seiten,  besonders  von  Tarnowsky,  ist 
vorgeschlagen,  Knaben,  welche  zu  weiblichen  Beschäfti- 
gungen neigen,  recht  zu  verspotten,  um  so  der  Entwick- 
lung homosexueller  Triebe  vorzubeugen.  Es  heißt  die 
Macht  der  Erziehung  weit  überschätzen,  wenn  man  an- 
nimmt, daß  eine  so  tief  in  der  Persönlichkeit  wurzelnde 
Triebkraft  dadurch  nennenswert  beeinflußt  werden  könnte. 
Wir  halten  diese  prophylaktische  Maßnahme  nicht  nur 
für  wirkungslos,  sondern  auch  für  verhängnisvoll,  weil  sie 
geeignet  ist,  das  ohnehin  schüchterne,  empfindsame,  zum 
Weinen  geneigte  urnische  Kind  noch  zaghafter  und  scheuer 
zu  machen.  Diese  Kleinen  spüren  es  instinktiv,  daß  sie 
eigentlich  weder  zu  den  Knaben,  noch  zu  den  Mädchen 
gehören,  ihr  Selbstvertrauen  leidet  unter  diesem  Zwiespalt, 
sie  nehmen  alles  tiefer  und  ernster  wie  die  gleichaltrigen 
Kameraden.  Unter  den  jugendlichen  Selbstmördern,  die 
sich  wegen  gekränkten  Ehrgeizes  ein  Leid  antun,  befinden 
sich  gewiß  relativ  viel  urnische  Knaben.  Eine  wohl- 
bedachte Erziehung  sollte  das  psychologische  Erfassen  der 
Kindesseele  zur  Grundlage  haben,  sie  sollte  individuali- 
sieren, indem  sie  die  vorhandenen  guten  Keime  in  die 
rechten  Bahnen  leitet,  die  schlechten  Anlagen  liebevoll 


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hemmt.  Statt  dessen  wird  in  völliger  Unkenntnis  der 
Kindesnatur  von  Eltern  und  Lehrern  nur  zu  oft  generali- 
siert. Gerade  die  urnische  Kindesseele,  welche  sich  schon 
deutlich  von  der  Knabenseele  durch  eine  größere  Rezeptivi- 
tät,  von  der  Mädchenseele  durch  stärkere  Produktivität 
unterscheidet,  enthält  viele  Keime,  deren  sorgsame  Pflege 
sich  außerordentlich  verlohnen  würde. 

Die  meist  in  hohem  Maße  vorhandene  geistige  Be- 
fähigung urnischer  Kinder  wird  durch  eine  gewisse  Unsicher- 
heit und  Verträumtheit,  oft  auch  durch  Zerstreutheit 
infolge  allzureger  Phantasie  wesentlich  beeinträchtigt,  doch 
kommen  die  meisten  recht  gut  in  der  Schule  mit,  eine 
besondere  Vorliebe  besteht  für  schöngeistige  Fächer, 
namentlich  Literatur,  für  Geschichte  und  Geographie, 
Musik  und  Zeichen,  etwas  weniger  für  Sprachen,  dagegen 
zeigen  sich  von  100  urnischen  Kindern  90  ungewöhnlich 
schwach  für  Mathematik  veranlagt.  Merkwürdig  erscheint 
es  demgegenüber,  daß  von  den  übrig  bleibenden  10°io 
jedoch  4  eine  weit  über  dem  Durchschnitt  stehende  mathe- 
matische Befähigung  aufweisen.  So  schreibt  ein  urnischer 
Ingenieur:  „Ich  habe  auf  dem  Fragebogen  meine  geistigen 
Fähigkeiten  als  m hervorragend*  bezeichnet,  denn  ich  darf 
ohne  Uberhebung  sagen,  daß  ich  als  Knabe  das  Durch- 
schnittsinaß  sicherlich  ganz  erheblich  überragte.  Ich  war 
vor  allen  Dingen  als  guter  Rechner  und  Mathematiker 
bekannt  und  von  den  Kameraden  war  meine  Hülfe  bei 
ihren  Arbeiten  stark  gesucht.  Vokabeln  lernte  ich  spielend 
leicht.  Zu  Hause  zu  arbeiten,  hatte  ich  überhaupt  nicht 
nötig,  ich  lernte  alles  bei  der  ersten  Durchnahme  in  der 
Schule.  Das  sogenannte  Präparieren  und  Repetieren 
kannte  ich  überhaupt  nicht,  ich  extemporierte  stets,  ob 
es  sich  um  lateinische,  griechische,  französische  oder 
englische  Klassiker  handelte.  In  Mathematik  überraschte 
ich  meine  Lehrer  häufig  durch  rasche,  elegante  Lösung 
der  Konstruktionsaufgaben  und  fand  ein  großes  Vergnügen 


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daran,  meine  Lehrer  selbst  gelegentlich  „hineinzulegen." 
Den  Primusplatz  hatte  ich  bis  in  die  oberen  Klassen 
inne."  Was  die  übrigen  Fächer  anbelangt,  so  besteht  um 
die  Reifezeit  herum  bei  urnischen  Knaben  oft  eine  starke 
religiöse  Schwärmerei,  zum  Turnen  mangelt  es  oft  an 
Muskelkraft  und  Mut,  doch  wird  dieser  Ausfall  durch 
Geschicklichkeit,  ästhetisches  Wohlgefallen  an  den  körper- 
liehen  Übungen  der  Mitwirkenden  und  Eifer,  es  ihnen 
nachzutun,  ausgeglichen. 

Das  Interesse  für  den  Unterrichtsgegenstand  steht 
bei  vielen  im  engsten  Zusammenhang  mit  der  Person  des 
Lehrers.  Die  Verehrung  urnischer  Knaben  für  manche 
Lehrer,  diejenige  urnischer  Mädchen  für  bestimmte 
Lehrerinnen  und  Erzieherinnen  trägt  oft  den  Charakter 
hochgradiger  Schwärmerei.  Daneben  geht  neben  einer 
Zurückhaltung  vor  den  übrigen  Mitschülern  meist  eine 
heftige  Zuneigung  zu  einem  Kameraden,  dessen  Gesichts- 
typus besonders  reizt;  vielfach  ist  derselbe  aus  einer 
anderen  Klasse  oder  Schule.  Masturbiert  der  urnische 
Junge,  was  häufig  der  Fall  ist,  so  geschieht  es  ohne 
Phantasiegebilde  oder  unter  Vorstellung  männlicher 
Personen,  manche  haben  Abneigung  vor  solitärer,  dagegen 
Hang  zu  mutueller  Onanie.  Im  Traum  spielen  lange  vor 
dem  Erwachen  des  eigentlichen  Geschlechtstriebes  hübsche 
Kameraden  eine  große  Rolle.  Ein  Urning  teilt  uns  mit: 
„Es  bestanden  schon  sehr  frühe  schwärmerische,  unbewußt 
gleichgeschlechtliche  Empfindungen,  eine  besondere  Vor- 
liebe hatte  ich  für  schöne  Ministranten  und  das  schon 
mit  8,  9  Jahren.  Ich  konnte  mich  nicht  satt  an  ihnen 
sehen,  im  Traume  schwebten  sie  mir  wieder  und  wieder 
vor."  Die  leidenschaftliche  Zuneigung  uruischer  Kinder 
für  Personen  desselben  Geschlechts  ist  von  den  kamerad- 
schaftlichen Verhältnissen  normaler  Knaben,  die  auch  oft 
einen  erotischen  Beigeschmack  haben,  wesentlich  ver- 
schieden, indem  es  sich  bei  letzteren  oft  nur  um  einen 


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starken  Freundschaftsenthusiasmus,  oft  um  das  instink- 
tive Herausfühlen  des  Andersgeschlechtlichen,  Mädchen- 
haften im  Urningsknaben,  oder  auch  um  rein  onanistische 
Manipulationen  handelt  Ich  halte  die  namentlich  von 
Professor  Dessoir  vertretene  Auffassung,  daß  der  präpu- 
bische  Geschlechtstrieb  undifferenziert  ist,  nur  insofern 
für  richtig,  als  er  nach  der  Reife  erst  klarer  ins  Bewußtsein 
tritt.  Wie  alle  Geschlechtszeichen  bereits  vor  ihrer  Ent- 
faltung latent  einen  bestimmten  Charakter  tragen,  so  auch 
der  Trieb.  Nur  so  sind  die  vom  heterosexuellen  Kinde 
sichtlich  abweichenden  Ereignisse  zu  verstehen,  die  sich 
im  Urningskinde  abspielen,  von  denen  ich  noch  einige 
recht  anschauliche  Belege  geben  will;  die  ersten  drei 
Schilderungen  rühren  von  Edelleuten,  die  vierte  von  einem 
Kaufmann  her. 

1.  Als  Kind  lebte  ich  in  Märchenphantasieen  und  bekam 
häufig  Schelte,  weil  ich  mir  mit  den  Spielsachen  meiner  Schwester 
lieber  zu  schaffen  machte,  als  mit  Peitsche,  Schaukelpferd  und 
Zinnsoldaten.  1870  —  ich  war  8  Jahre  —  kam  ein  Wirtschafts- 
inspektor zu  uns,  der  mich  Willig  bezauberte.  Ich  starrte  diesen 
Mann  bei  Tische  so  unablässig  an,  daß  mein  Vater  mich  fragte, 
was  ich  an  ihm  habe,  worauf  ich  erwiderte,  sein  rötlicher  Bart 
gefiele  mir  Uber  alles.  Verabschiedete  siob  dieser  Herr  am  Abend 
von  meinen  Eltern,  lief  ich  ihm  auf  den  Korridor  des  Hauses 
nach  und  erbettelte  einen  Kuß  von  ihm.  Hatte  ich  einen  solchen 
erlangt,  drückte  ich  diesen  Kuß  in  meine  Linke,  ballte  diese  zur 
Faust  und  nahm  den  Kuß  so  mit  zu  Bett,  um  in  der  Dunkelheit 
die  Hand  immer  wieder  zu  küssen,  bis  ich  einschlief.  Sehr  liebte 
ich  es  auch,  den  Inspektor  Sonntags  in  seinem  Zimmer  zu  be- 
suchen und,  wenn  er  auf  dem  Sofa  lag,  mich  neben  ihm  hinzu- 
strecken. 

2.  Ich  haßte  Knaben  und  Knabenspiele;  das  größte  Glück 
war  mir  und  meiner  um  1  V«  Jahr  jüngeren  Schwester  unser 
gegenseitiges,  überaus  inniges  Verhältnis.  Wir  waren  beide  Uber- 
all die  Lieblinge,  sie  brünett,  graziös  und  energisch,  ich  blond, 
sinnend,  träumerisch,  am  glücklichsten  waren  wir  ohne  andere 
Menschen.  Meine  Schwester  war  mein  alter  ego,  während  mein 
1H  Jahre  älterer  Bruder,  ein  sehr  schöner  Mann,  mein  lojähriges 


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reines,  unschuldiges  Herz  furchtbar  verwirrte.  Ich  habe  ihn  weit 
mehr  seiner  Schönheit,  als  seiner  guten  Eigenschaften  wegen  an- 
gebetet. Dabei  wurde  ich  äußerlich  immer  schroffer  gegen  ihn. 
Mit  10  Jahren  weinte  ich  eine  ganze  Nacht,  als  ich  mich  in  seiner 
mir  schaurig-süßen  Gegenwart  zur  Ruhe  habe  begeben  müssen. 
Ich  empfand  ein  Schamgefühl,  wie  ich  es  in  Vaters,  Muttern  und 
Schwester»  Gegenwart  nicht  kannte.  Ich  erinnere  mich  genau, 
daß  im  6.  oder  7.  Jahr  vorübergehend  meines  Bruders  Schönheit 
mir  wie  ein  geoffenbartes  Mysterium  durch  Mark  und  Bein  zitterte. 
Klar  und  bewußt,  natürlich  als  tiefstes  Geheimnis  zumal  vor  ihm, 
habe  ich  ihn  vom  10.  bis  15.  Jahr  angebetet,  am  höchsten  stand 
diese  Verehrung  vom  10.  bis  12.  Jahr,  als  er  sich  verheiratete. 
Ich  war  totunglücklich,  daß  er  uns  dadurch  ferner  rückte  und 
empfand  es  als  etwas  Entsetzliches,  daß  er,  wie  ich  glaubte,  nun 
seine  Jungfräulichkeit  einbüßte. 

3.  Ich  bin  auf  dem  Lande  unter  denkbar  günstigen  Verhält- 
nissen aufgewachsen  als  achtes  Kind  unter  neun  Geschwistern, 
von  denen  eine  Schwester  früh  am  Scharlach  starb,  zwei  erlagen 
der  Schwindsucht  während  ihrer  Brautzeit.  Erwiesenermaßen  ist 
die  Krankheit  vom  Bräutigam  erst  auf  die  eine,  dann  auf  die 
andere  übertragen  worden.  Dies  sind  die  einzigen  Piüle  von 
Lungenschwindsucht,  die  überhaupt  in  unserer  Familie  vorge- 
kommen. Meine  Brüder  und  meine  übrigen  Geschwister  sind  das 
Bild  der  Gesundheit,  wie  ich  selber.  Von  Kinderkrankheiten  hatte 
ich  nur  Masern  und  Keuchhusten,  neigte  aber  bei  den  geringsten 
Erkältungen  sehr  leicht  zu  Jieber,  was  sich  aber  seit  meinem 
zehnten  und  elften  Jahre  gänzlich  gegeben  hat. 

Das  Entzücken  meiner  Kindheit  war  das  Puppenspiel.  Mit 
ausschweifendster  Phantasie  begabt,  zeichnete  und  schrieb  ich,  so 
gut  als  ich  es  damals  vermochte,  Modejournale  für  meine  Lieb- 
linge. Ich  erfand  zum  Entsetzen  meiner  jüngsten  Schwester, 
meiner  Spielgefährtin,  die  abnormsten  Kostüme,  ineist  Schlepp- 
te wänder  aus  zarten,  durchsichtigen  Stoffen  und  Schleiern;  insze- 
nierte Tauf-  Sterbe-  und  Heiratszenen,  ich  hielt  Reden,  bei  denen 
ich  mich  selber  zu  Tränen  rührte. 

Ich  lernte  sehr  rasch  und  leicht,  hatte  aber  ein  sehlechtes 
Gedächtnis  für  Zahlen,  während  ich  frühzeitig  Liebe  und  Talent 
für  lebende  Sprachen  entwickelte,  bei  deren  Erlernung  sich  stets 
mein  Gedächtnis  als  treu  und  fest  erwies.  Mit  ziemlichem  Wider- 
willen dagegen  betrieb  ich  Griechisch  und  Lateinisch.  Mathematik 
ist  stets  meine  größte  Schwäche  gewesen,  und  bin  ich  darin, 


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trotzdem  ich  seinerzeit  die  Abitnrientenprüfung  in  allen  Khren 
bestanden,  unglaublich  unwissend. 

Prtih  hatte  ich  ein  leidenschaftliches  Verlangen  selbst  schrift- 
stellerisch tätig  ku  sein«  Mit  acht  Jahren  verfaßte  ich  ein  Lust- 
spiel, das  als  Kuriosum  noch  bis  heute  in  unserer  Familie  erhalten 
blieb.  Ohne  je  einen  Roman  gelesen  zu  haben,  schrieb  ich  etwa 
ein  halbes  Mutzend  so  betitelter  Sachen  in  meinem  zehnten,  elften 
und  zwölften  Jahre.  Ich  habe  einiges  davon  autbewahrt,  und  lese 
manchmal  noch  mit  stiller  Freude  gewisse  Stellen,  die  ich  mir  in 
absoluter  Unkenntnis  des  sexuellen  Lebens  geleistet.  So  lasse  ich 
denn  unter  anderem  ein  Paar  Zwillinge  Uber  Nacht  im  Bett  des 
Vaters  zur  Welt  kommen.  Am  Morgen  bemerkt  der  Entzückte 
die  Überraschung,  und  beeilt  sich,  der  ahnungslosen  Mutter  die 
Freudenbotschaft  zu  Uberbringen. 

Da  es  mir  verboten  war,  andere  Sprachen,  als  die  in  der 
Schule  gelehrten  zu  betreiben,  so  verfaßte  ich  heimlich  eine  eigens 
erfundene  Sprache  mit  besonderen  Buchstaben.  Ich  schrieb  eine 
eigene  Grammatik,  in  der  Regeln  mit  den  ungeheuerlichsten  Aus- 
nahmen vorherrschend  waren;  ich  verfaßte  Übungsbücher  und 
Lexika.  Ein  Resultat  der  Stunden  der  physikalischen  Geographie 
waren  eigens  gezeichnete,  gemalte  und  geschriebene  Karten  von 
unseren  Buchten  und  inselreichen  Seen,  zu  einer  Zeit,  wo  ich  mir 
das  Wasser  als  Land  und  das  Land  als  Wasser  dachte.  Ja  ich 
schrieb  sogar  eine  Geschichte  der  damals  dort  lebenden  Völker 
und  deren  tragischen  Untergang  infolge  vulkanischer  Eruptionen, 
welche  dann  schließlich  die  heutige  Gestalt  der  Erdoberfläche  zur 
Folge  hatten. 

Üie  ersten  noch  unbewußten  Regungen  des  homosexuellen 
Lebens  fallen  etwa  ins  zehnte  und  elfte  Jahr.  Wir  hatten  einen 
Kutscher,  einen  schönen  und  kräftig  gebauten  Menschen  mit 
dunkelm,  langem  Schnurrbart.  Es  machte  mir  stets  Vergnügen, 
um  ihn  zu  sein  und  ihn  in  seinen  hohen  Stiefeln,  Lederhosen  und 
Livreerock  oder  Winters  in  seinem  russischen  Schafpelz  zu 
betrachten.  Ich  hatte  schließlich  das  unwiderstehliche  Verlangen, 
ihn  zu  umarmen,  da  das  aber  schwer  anging,  so  schlich  ich  mich 
öfters,  wenn  ich  ihn  bei  der  Arbeit  wußte,  in  seine  Wohnung, 
schlüpfte  in  seine  riesigen  Stiefel,  hing  seinen  Rock  oder  Pelz  um 
mich  und  hatte  ein  Gefühl  des  seligsten  Wohlbehagens.  Ich 
drückte  die  Kleidungsstücke  fest  und  krampfhaft  an  mich,  und 
der  Geruch  der  Lederstiefel  und  der  ledernen  Hosen,  welche  ich 
auf  meinem  Schoß  hielt  und  öfters  an  mich  drückte,  verbunden 
mit  dem  Gedanken  an  den  schönen  groß  gebauten  Kutscher,  den 


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ich  mir  dachte,  indem  ich  die  Kleidungsstücke  an  meinem  Körper 
befühlte,  verursachten  mir  heftige  Erektionen,  über  die  ich  jedes- 
mal, ohne  mir  bewußt  zu  sein  infolge  wovon  sie  entstanden,  ent- 
setzt war,  da  ich  sie  für  eine  krankhafte  Erscheinung  hielt.  

Eines  Tages,  nach  reiflichem  Hin-  und  Herdenken,  wußte  ich  mit 
Hilfe  meiner  Kameraden,  Knaben,  die  mit  mir  erzogen  wurden, 
eine  Szene  ins  Werk  zu  setzen,  bei  welcher  der  Kwtscher  veran- 
lagt wurde,  mich  zu  sioh  emporzuheben.  Diese  Gelegenheit 
benutzte  ich  nun,  da  meine  Kameraden  mich  ihm  entreißen  wollten, 
meine  Wange  an  sein  bärtiges  Gesicht  zu  legen,  meinen  Arm  um 
seinen  Nacken  zu  schlingen  und  meine  Beine  fest  an  seinen  Körper 
zu  pressen.  Ich  schloß  die  Augen  und  verspürte  ein  Gefühl 
schwindelnder  Wunne. 

Im  Sommer  pflegten  wir  ein  Haus  am  Strande  zu  beziehen. 
Dicht  an  der  Veranda,  zwischen  Haus  und  Meer,  führte  eine 
Straße  vorbei,  auf  welcher  zu  gewissen  Stunden  die  Strandgen- 
darmen vorbei  patroullierten.  Ich  fühlte  mich  sofort  zu 

den  strammen  Kerlen  mit  hohen  Stiefeln,  straffer  Uniform  und 
gebräunten  Gesichtern  mit  flottem  Schnurrbart,  hingezogen.  Bald 
konzentrierte  sich  all  mein  Denken  auf  sie.  Abends  im  Bett,  vor 
dem  Einschlafen,  malte  ich  mir  die  ungeheuerlichsten  Szeneu  aus: 
Es  klopft  ans  Fenster,  ich  öffne  neugierig,  da  langt  plötzüch  eine 
braune  Hand,  ein  Arm  herein,  an  dessen  Ärmel  ich  die  mili- 
tärischen Aufschläge  und  Knöpfe  wahrnehme.  Ehe  ich  mich 
umsehe,  werde  ioh  hinausgezogen.  Unter  dem  militärischen  Mantel 
geborgen,  an  der  Brust  eines  Mannes  Hegend,  den  ich  fest,  fest 
umklammere,  ho  daß  ich  mein  und  sein  Herz  zusammen  schlagen 
höre,  werde  ich  eilenden  Schrittes  davongetragen.  Dazu  höre  ich 
den  Säbel  klirren,  empfinde  den  festen  Tritt  der  derben  Stiefel 
und  den  Ledergeruch,  den  sie  ausströmen.  In  eine  Hütte  tief 
im  Walde  bringt  mich  der  Gendarm,  er  legt  mich  in  sein  Bett, 
küßt  mich  und  legt  sich  dann  mir  zur  Seite,  ich  klammere  mich 

fest  nn  ihn  —  und  bin  endlos  glücklich,  selig.  Resultat 

dieser  Phantasien  waren  die  Träume,  in  denen  sie  fortgesponnen 
wurden,  wobei  ioh  zum  erstenmal  Pollutionen  hatte,  bei  denen  ich 
stets  erwachte  und  entsetzt  war  über  die  merkwürdige  Erschei- 
nung, die  ioh  für  eine  Krankheit  hielt. 

Schließlich  verspürte  ich  ein  riesiges  Verlangen,  diese  Phan- 
tasien zu  verwirkuchen.  —  Abends   wenn  es  bereits  dämmerte, 
versteckte  ich  mich  im  Walde  hinter  einen  Busch  an  der  Straße 
auf  welcher  der  Gendarm  vorbei  kommen  mußte.   Wie  klopfte 
mein  Herz,  wenn  ich  seine  Schritte  hörte     Oft  ging  er  so  nahe 


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vorbei,  daß  ich  nur  meine  Hand  hätte  auszustrecken  brauchen, 
um  «eine  Füße  zu  berühren  —  aber  ich  tat  nichts  dergleichen  — 
in  einer  Art  Starrkrampf  lag  ich  da,  mit  geschlossenen  Augen,  in 
der  Hoffnung,  er  würde  mich  entdecken,  unter  seineu  Mantel  stecken 
und  mit  mir  davon  gehen  —  wie  im  Traum.  Da  das  zu  meinem 
unendlichen  Kummer  nie  geschah,  gab  ich  die  vergeblichen  Ver- 
suche schließlich  auf  und  tröstete  mich  in  meinen  Phantasien.  — 
Meinen  Angehörigen  teilte  ich  nie  etwas  von  meinen  Gedanken 
und  Gefühlen  mit  —  nicht  weil  ich  etwas  Unrechtes  zu  tun 
glaubte,  aber  doch  wohl,  weil  ich  mir  schon  damals  unwillkürlich 
werde  bewußt  gewesen  sein,  etwas  zu  empfinden,  das  nur  mir 

selber  verständlich  war.  —  — 

Ein  anderes  Erlebnis  Bteht  lebhaft  in  meiner  Erinnerung. 
Es  ist  ein  wolkenloser,  sonnig  klarer  Herbsttag.  Das  Getreide 
ist  geschnitten  und  liegt  in  schimmernden  Garben  auf  dein  Stop- 
pelfelde. Das  Laub  der  Bäume  in  den  Alleen  und  Gärten  schim- 
mert gelblich,  rötlich,  und  in  der  Ferne,  vom  dunkelsten  Grün 
bis  in  die  hellsten  Schattierungen  des  Blau,  dem  Himmel  gleich, 
»ich  verlierend,  die  endlosen  Wälder  meiner  Heimat.  Wir  Jungens 
sind  auf  der  Jagd  nach  Feldmäusen,  die  wir  unter  den  Getreide- 
haufen hervorscheuchen.  Da  ein  heller,  schallender  Ton,  der  mich 
aufhorchen  macht  —  und  in  der  Richtung,  wo  er  herkommt,  da 
blitzt  und  glitzert  es.  Die  Musik  wird  lauter  —  und  das  Blitzen 
und  Funkeln,  das  auf  der  Landstraße  näher  und  näher  kommt, 
ist  ein  Trupp  Soldaten  mit  blinkenden  Säbeln  und  Flinten.  Jetzt 
biegen  sie  von  der  Straße  ab  und  marschieren  über  die  Wiese, 
die  sich  längst  dem  Felde  hinzieht,  auf  dem  wir  uns  befinden. 
Den  Soldaten  voran  marschiert  ein  Offizier,  der  erste,  den  ich 
in  meinem  Leben  gesehen.  —  Er  ist  groß  und  kräftig,  mit  blon- 
dem Schnurrbart  und  blauen,  froh  leuchtenden  Augen.  Jede 

Bewegung  an  ihm  ist  Kraft  und  Leben  und  Freude  mir  ist, 

als  wäre  er  die  lustige  Militärmusik,  die  ich  hörte,  als  wäre  er 
der  klare  wolkenlose  Himmel  und  die  reine,  köstliche  Herbstluft, 
die  mich  umgab.  Es  überkommt  mich  ein  Gefühl  großer  endloser 
Freude,  ein  Gefühl  edler  Taten-  und  Schaffensfreudigkeit  und 
zugleich  eines  schrecklichen,  mich  erstickenden  Sehnens,  so  daß 
ich  unwillkürlich  die  Hände  emporstrecke  —  und  dann  zu  weinen 
beginne  —  mir  selber  nicht  bewußt  warum.  —  Die  anderen  Knaben 
waren  den  davonmarschierenden  Soldaten  nachgelaufeu,  so  war  ich 
unbeachtet  geblieben.  —  Zu  Hause  angekommen,  erfuhr  ich,  daß 
der  Offizier  unser  Gast  war.  —  Aus  welcher  Veranlassung  damals 
sich  dvr  kleine  Trupp  Soldaten  in  unsere  welteutlegene  Wald- 


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einsamkeit  verirrt  hatte,  vermag  ich  heute  nicht  zu  sagen.  

Im  Vorhause  entdeckte  ich  den  Säbel  und  Mantel  des  Offiziers. 
Ich  konnte  der  Versuchung  nicht  widerstehen,  den  Säbel  zu 
befühlen,  und  meinen  Kopf  in  den  Mantel  zu  stecken,  wobei  mir, 
mit  den  peinlichsten  Erektionen  verbunden,  deutlich  die  Szene  auf 
dem  Felde  vor  Augen  stand.  —  Bei  Tisch,  wo  ich  kaum  meine 
Augen  zu  erheben  wagte,  fesselten  die  strammen  Heine  unseres 
Gastes  meine  Aufmerksamkeit.  Ich  hätte  diese  Beine,  in  der 
kleidsamen  Uniform  sitzend,  umarmen  und  drucken  mögen.  Beim 
Abschiede  bängte  mir  der  Offizier  ein  goldenes  Kreuzchen,  an 
einer  braunseidenen  Schnur,  um  den  Hals.  Ich  war  damals,  wie 
wenigstens  meine  älteren  Geschwister  behaupten,  ein  ausnehmend 
hübscher  Junge.  —  Das  Geschenk  machte  mich  selig.  Man  stelle 
sich  daher  meinen  Schmerz  und  meine  Wut  vor,  wie  meine  streng 
orthodoxe,  evangelisch-lutherische  Mutter  mir  verbot  das  Kreuz 
zn  tragen,  weil  es  ein  nach  griechisch-katholischem  Muster 
geformtes  war,  und  es  mir  einfach  fort  nahm.  Ich  heulte,  aber 
was  half  es!  Noch  Jahre  ist  der  Besitz  dieses  Kreuzes  «las  höchste 
Ziel  meiner  Wünsche  gewesen,  ja  ich  ging  sogar  einmal  mit  dem 
Gedanken  um,  den  Schreibtisch  meiner  Mutter  zu  erbrechen,  um 
mich  so  in  den  Besitz  des  Heiligtums  zu  bringen.  Aber  die 
Jahre  vergingen,  und  das  Kreuz  ist  in  Vergessenheit  geraten. 

1.  Mein  Vater  las  und  studierte  viel,  zum  Landwirt  war  er 
garnicht  geeignet.  Störungen  liebte  er  garnicht.  Wenn  wir  zu 
laut  wurden,  und  dann  sein  Befehl  „Ruhe*  bis  in  die  Kinderstube 
drang,  wurden  wir  sofort  vor  Schreck  mäuschenstill.  Wir  mieden 
die  Zimmer,  in  welchen  er  sich  aufhielt,  tunlichst  und  waren  ihm 
eigentlich  stets  merkwürdig  fremd  geblieben.  Um  mein  Seelen- 
leben hat  er  sich  nie  recht  bekümmert.  Mein  weibliches  Wesen, 
meine  mädchenhaften  Eigenheiten  entgingen  selbstverständlich 
ihm  ebensowenig,  wie  Anderen.  „Der  Junge  ist  das  richtige 
Mädel",  äußerte,  er  Hich  zu  meinem  Ärger  oft  Fremden  gegenüber. 
Mit  Zinnsoldaten  spielte  ich  nur,  weil  ich  als  Junge  doch  eigent- 
lich mußte.  Das  war  der  Beginn  meines  Urningschicksals:  im 
Leben  stets  Komödie  spielen  zu  müssen,  beständig  etwas  Anderes 
vorstellen  zu  müssen,  als  man  in  Wirklichkeit  gern  möchte. 

Am  liebsten  stellten  meine  Schwester  und  ich  erwachsene 
Herren  und  Damen  dar.  Meiner  Schwester  imponierten  die 
schwarzen  Husarenoffiziere  der  Gurnison,  die  ständige  Besucher 
unseres  gastlichen  Elternhauses  waren  und  sich  manchmal  auf 
Bällen  den  Scherz  machten,  die  kleine  Dame  zu  einer  Extratour 
zu   engagieren.    Sie   umgürtete  sich  mit   einer  Elle  als  Säbel, 


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—   61  — 

stülpte  einen  ausrangierten,  altmodischen  mütterlichen  Muff  auf 
den  Kopf,  machte  sich  aus  Blumendraht  ein  Monokel  und  stellte 
den  Herrn  Leutnant  vor.  —  Ich  entlehnte  dem  Wäschekasten 
eine  gebrauchte  Kuchenschürze,  die  ich  verkehrt  umband,  um  die 
Schleppe  zu  markieren,  hing  mir  Mamas  alte  Mantille  um  und 
setzte  den  Gartenhut  meiner  Schwester,  dem  ich  durch  einen 
Fliederzweig  oder  eine  dem  Gärtner  entwendete  Rose  mehr  Chic 
zu  geben  suchte,  kokett  auf  den  Hinterkopf,  um  vorn  Raum  genug 
ilir  die  „Stirnlöckchen"  zu  haben,  und  bildete  mir  ein,  nun  eine 
sehr  schöne  und  vornehme  Dame  zu  sein.  „Gnädiges  Fräulein 
haben  beute  wieder  ganz  wun-der-bare  Toilette  gemacht",  näselte 
dann  meine  Schwester,  die  Hacken  zusammennehmend.  „Ach, 
Herr  Leutnant,  es  ist  nur  ein  ganz  einfaches  Kleid,"  flötete  ich, 
meiner  Meinung  nach  sehr  distinguiert  die  Augen  aufschlagend, 
indem  ich  die  Kattunschleppe  meiner  imaginären  Seidenrobe 
möglichst  graziös  aufraffte  und  mir  mit  einem  grollen  Klettenblatt, 
welches  den  Fächer  vorzustellen  hatte,  Kühlung  zuwehte.  Als 
ich  in  der  Stadt  zur  Schule  kam,  fingen  meine  Leidensjahre  an. 
Ein  nicht  normal  veranlagtes  Kind  sollte  man  nicht  nach  der 
Schablone  erziehen.  Für  mich  hätte  ein  einsichtsvoller  Privat- 
lehrer ein  Segen  soin  können.  Das  Gymnasium,  zu  dessen  Zierden 
ich  fortan  zählen  sollte,  war  für  mich  —  in  den  ersten  Jahren 
wenigstens  —  einfach  eine  Marter.  Wenn  man  ein  kleines, 
schüchternes  Mädchen  in  eine  Klasse  von  40  bis  50  wilden  Jungen 
steckt,  wird  es  sich  unter  diesen  sioher  nicht  behaglich  fühlen, 
und  es  hat  doch  wenigstens  den  Vorteil  voraus,  gleich  äußerlich 
als  andersartig  gekennzeichnet  zu  sein.  Ich  arme,  scheue,  länd- 
liche Mädchenseele  im  Knabenkörper,  befand  mich  nun  plötzlich 
inmitten  eines  halben  Hundert  derber  Grollstadt  jungen.  Ich  hatte 
grolle  Hoffnungen  auf  die  Schule,  angenehme  Lehrer  und  liebe 
Mitschüler  gesetzt;  ich  sollte  grälllich  enttäuscht  werden.  Von 
all  den  Jungen  hätte  ich  nicht  einen  zum  Freunde  haben  mögen, 
ebenso  hätte  sich  wohl  ein  Jeder  von  ihnen  für  meine  Freund- 
schaft bedankt.  Wir  waren  gar  zu  verschieden  geartet  und  erzogen. 

Mein  Lehrer  war  ein  Mensch,  der  gern  durch  unzarte 
Scherzchen  Uber  meine  Zimperlichkeit  den  Hohn  meiner  MitschlUer, 
die  ohnedies  zu  Hänseleien  nur  zu  sehr  geneigt  waren,  heraus- 
forderte. Zimperlich  war  ich,  das  steht  fest,  heute  mull  ich  selbst 
darüber  lachen.  Als  ein  Beweis  meiner  übergrollen  Schamhaftig- 
keit,  die  vielleicht  durch  meine  Veranlagung  bedingt  wurde,  sei 
erwähnt,  dall  ich  es  Jahre  lang  nicht  über  mich  gewinnen  konnte, 
den  gemeinsamen  Abort  zu  benutzen. 


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—   62  — 

Mit  einigen  meiner  Mitschüler  wurde  ich  genauer  bekannt. 
Für  einen  schönen  Polen,  ein  Bild  von  einem  Menschen,  inter- 
essierte ich  mich  Behr;  er  war,  wenn  ich  es  recht  bedenke,  meine 
erste  Liebe.  Küssen  durfte  ich  ihn  bei  allen  möglichen  Anlässen 
ohne  Auffälligkeit,  da  es  ja  bei  den  Polen  sehr  üblich  ist.  Ich 
machte  ihm  kleine  Geschenke,  erwies  ihm,  so  oft  es  anging,  Auf- 
merksamkeiten, um  wieder  geküßt  zu  werden;  zu  meinem  Leid- 
wesen tat  er  es  ganz  leidenschaftslos.  Er  war  jünger  als  ich, 
und  meine  Klassenkollegen  verdachten  es  mir  sehr,  daß  ich  mit 
dem  Jungen  umging  und  sie  vernachlässigte.  Meine  Neigung  war 
ho  groß,  daß  ich  mir  nichts  daraus  machte  und  die  Unliebens- 
würdigkeiten,  die  das  im  Gefolge  hatte,  willig  ertrug.  Er  besaß 
die  den  meisten  Polen  eigene  oberflächliche  Liebenswürdigkeit; 
sehr  tief  war  seine  Neigung  zu  mir  nicht,  es  schmeichelte  ihm, 
von  dem  Schüler  der  oberen  Klasse  bevorzugt  zu  sein.  Ge- 
schlechtliche Annäherungen  haben  weder  mit  ihm,  noch  mit 
anderen  Schülern  stattgefunden ;  ich  ergab  mich  stillen  Ergüssen. 
Als  ich  meinen  Adonis  nach  Jahren  wiedersah,  hatte  er  viel  von 
seiner  Schönheit  eingebüßt,  war  ein  großer  Mädchenjäger  ge- 
worden und  litt  an  einer  Geschlechtskrankheit 

Bemerkenswert  ist  noch  ein  Traum,  der  ganz  homosexueller 
Natur  war,  obgleich  ich  damals  von  gleichgeschlechtlicher  Liebe 
nicht  die  geringste  Ahnung  hatte.  Dieser  Traum  ist  für  mich  der 
untrüglichste  Beweis,  daß  mein  Urningtum  angeboren  ist:  Einer 
meiner  Lehrer,  ein  hübscher,  unverheirateter  Herr,  war  mein  Ideal. 
Bei  ihm  hatten  wir  Geographie  und  Geschichte,  meine  Lieblings- 
fächer. Um  ihm  zu  gefallen,  bereitete  ich  mich  für  seine  Stunden 
mit  der  größten  Sorgfalt  vor  und  blieb  selten  eine  Frage  schuldig. 
Von  ihm  träumte  mir  nun,  und  zwar  so  lebhaft,  daß  ich  noch 
beim  Aufwachen  das  deutliche  Gefühl  davon  hatte,  er  läge  bei 
mir  im  Bett.  Der  Traum  war  ungeheuer  wollüstig  und  bewirkte 
eine  Ejakulation.  Ich  mußte  sehr  oft  daran  denken,  sprach  aber 
zu  Niemandem  davon,  weil  ich  mich  schämte.  Als  ich  nach  dem 
Abiturienten-Examen  bei  ihm,  der  mir  in  der  letzten  Zeit  keinen 
Unterricht  mehr  erteilt  hatte,  meine  pflichtschuldige  Visite  machte, 
küßte  er  mich  glückwünschend  und  abschiednebmend  auf  die 
Stirn.  Dieser  Kuß  erregte  mich  so  stark,  daß  ich  an  mich  halten 
mußte,  ihm  nicht  um  den  Hals  zu  fallen.  Heute  bedaure  ich,  es 
nicht  getan  zu  haben;  ich  glaube,  er  hätte  mir  meine  Dreistigkeit 
verziehen. 

Die  letzten  Schuljahre  waren  besser  als  der  unglückselige 
Beginn.    Meine  Zeugnisse  waren  befriedigend,  und   die  Lehrer 


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—    r)3  — 


lobten  mein  musterhaftes  Betragen  —  ein  Wildfang  war  ich  ja 
nie  gewesen.  Während  der  letzten  drei  Jahre  war  ich  sogar 
Primus  und  meine  Mitschüler  gestanden  mir  aus  eigenem  Antriebe 
eine  gewisse  Autorität  zu.  Ich  konnte  also  sagen:  „Ende  gut, 
alles  gut!"  Diese  Vergeltung  war  mir  das  Schicksal  in  Anbetracht 
der  vielen  vorherigen,  ich  kann  wohl  sagen  —  unverdienten  Qualen, 
die  mir  die  Kindheit  vergifteten,  schuldig.  Der  Eindruck,  den 
die  Leiden  der  Knabenzeit  auf  mich  machten,  war  so  gewaltig, 
daß  ich  selbst  jetzt  noch,  „im  Schwabenalter"  bisweilen  von 
bangen  Schulträumen  heimgesucht  werde;  ich  erwache  beängstigt, 
um  dann  aufzuatmen  mit  dem  erhebenden  Bewußtsein,  daß  diese 
Kümmernisse  zum  Glück  längst  nicht  mehr  der  Wirklichkeit 
angehören. 

Von  hohem  psychologischen  Interesse  ist  auch  folgende 
Schilderung: 

Ich  habe  mein  Leben  lang  ein  so  zartes  Schamgefühl  be- 
sessen, wie  es  nur  wenigen  Menschen  eigen  zu  sein  pflegt.  Dieses 
Schamgefühl  äußerte  sich  spontan  und  unwillkürlich  immer  nur 
allein  dem  männlichen  Geschlecht  gegenüber.  Mädchen  gegen- 
über befliß  ich  mich  zwar  gleichfalls  eines  züchtigen  und  scham- 
haften Benehmens,  aber  ich  befliß  mich  desselben  eben,  ich  folgte 
einem  Gebot  der  Sitte,  es  war  nicht  ein  natürlicher  Instinkt,  von 
dem  ich  mich  angetrieben  fühlte.  Noch  erinnere  ich  mich  lebhaft 
daran,  wie  einst,  als  eine  Blatternepidemie  ausgebrochen  war,  der 
Arzt  erschien,  um  in  der  Schule  zu  impfen.  Die  Knaben  mußten 
die  Röcke  ausziehen  und  den  Herodärmel  zurückschlagen.  Darüber 
war  ich  nun  völlig  empört  und  ich  wollte  heimlich  davon- 
schleichen. Ich  gab  meinen  Unwillen  und  meine  Befangenheit  iu 
so  deutlicher  Weise  kund,  daß  ich  dem  Lehrer  auffiel.  Von  ihm 
befragt,  äußerte  ich,  daß  ich  mich  vor  den  anderen  Knaben  nicht 
mit  entblößten  Armen  sehen  lassen  wollte.  Es  nutzte  freilich 
nichts,  ich  mußte.  Aber  als  ich  an  die  Reihe  kam,  brannte  das 
Glicht  mir  heiß  vor  Scham  und  das  Herz  pochte  mir  hörbar  vor 
Aufregung.  Hätte  ich  mit  den  Mädchen  zusammen  mich  entblößen 
müssen,  es  wäre  mir  vollständig  gleichmütig  gewesen.  Ich  hatte 
nicht  die  leiseste  Spur  irgend  eines  Gefühls  der  Unlust  oder  der 
Scham  in  mir  wahrgenommen.  So  aber  ging  ich  nach  beendigter 
Impfung  gekränkt  und  in  meinem  kindlichen  Gemüt  aufs  tiefste 
verletzt  von  dannen.  —  Ich  hätte  um  alles  in  der  Welt  niemals 
mit  anderen  Knaben  zusammen  gebadet  oder  mich  auch  nur  mit 
offenem  Hemd  vor  ihnen  gezeigt.   Ich  hatte  deshalb  viel  von 


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—    64  — 

meinen  Kameraden  zu  leiden  und  wurde  oft  bis  zur  Unerträgliohkeit 
geneckt.  Auch  am  Gymnasium  ging  es  mir  nicht  viel  besser. 
Als  einst  der  Religionslehrer  vom  heiligen  Aloysius  erzählte  und 
erwähnte,  daU  dieser  es  nicht  einmal  Uber  sich  gebracht  habe, 
barfnll  vor  irgend  jemand  sich  sehen  zu  lassen,  da  ging  ein 
kicherndes  Gemurmel  durch  die  ganze  Klasse,  aus  dem  deutlich 
mein  Name  herauszuhören  war,  und  von  den  verschiedensten 
Seiten  richteten  sich  die  Blicke  auf  mich.  Am  Schluß  der  Stunde 
traten  einige  besonders  übermütige  Jungen  an  mich  heran  und 
apostrophierten  mich:  „Heiliger  Aloysius,  bitt  für  uns!"  —  Als 
einst  in  die  Wand  zwischen  dem  Abort  unserer  Klasse  und  dem 
eines  anderen  Kursen  der  Unterhaltung  wegen  ein  Loch  gebohrt 
worden  war,  wagte  ich  zwar  nicht  Anzeige  zu  erstatten,  da  ich 
dabei  verlacht  zu  werden  fürchtete,  aber  ich  nahm  nun  stets,  was 
flu-  ein  Bedürfnis  ich  auch  zu  befriedigen  haben  mochte,  ein 
Blatt  Papier  und  eine  Stecknadel  mit  mir,  so  lange,  bis  das  Loch 
vom  Schuldiener  bemerkt  und  Abhilfe  geschaffen  worden  war.  — 
Als  ich  zum  ersten  Mal  —  ich  war  etwa  16  Jahre  alt  —  von  deu 
Sitten  und  Gebräuchen  der  Kaserne  erzählen  hörte,  war  ich 
darüber  so  entrüstet,  daU  mich  ein  völliger  Hali  gegen  den  ganzen 
Militarismus  erfaüte.  Ich  erblickte  in  ihm  eine  Negation  meiner 
Natur  und  meines  Empfindens,  einen  Hohn  auf  meine  Gefühle. 
Und  ich  bin  seither  dem  Militarismus  nie  wieder  hold  geworden. 
Der  Tag,  an  dem  ich  mich  selber  stellen  inulite  —  ich  war  nur 
einmal  dazu  genötigt  —  ist  mir  einer  der  qualvollsten  meines  Lebens 
gewesen.  Dagegen  empfinde  ich,  wie  gesagt,  dem  weiblichen 
Geschlecht  gegenüber  nichts,  was  Über  ein  bloües  Anstandsgefühl 
hinausginge.  Ein  eigentüohes  Schamgefühl  dem  Weib  gegenüber 
kenne  ich  nicht.    Es  ist  mir  vollkommen  fremd. 

Diese  lebenswahren  Schilderungen,  herausgegriffen 
aus  einer  größeren  Anzahl  ähnlicher,  gewähren  einen  höchst 
wertvollen  Einblick  in  die  Psychologie  der  urnischen 
Kindesseele. 

In  der  Reifezeit  zeigen  sich  bei  urnischen  Knaben 
und  Mädchen  allerlei  von  der  Norm  abweichende  Er- 
scheinungen. Der  Stimmwechsel  tritt  oft  überhaupt  nicht 
ein,  manchmal  erstreckt  er  sicli  über  eine  lange  Zeit,  nicht 
selten  macht  er  sich  verhältnismäßig  spät  mit  19  oder 
20  Jahren  bemerkbar;  sehr  viele  haben  nach  der  Mutation 


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—    65  — 


noch  die  Neigung,  Sopran  oder  Fistelstimme  zu  singen, 
andere,  die  nicht  mutiert  haben,  sind  imstande,  durch 
methodische  Übungen  ihr  Organ  wesentlich  zu  vertiefen. 
So  berichtet  W.  v.  S.,  ein  ganz  hervorragender  Baryton- 
sänger  (mit  Tenorqualitäten),  dessen  Bild  in  Herren  —  und 
Damentracht  wir  beifügen1):  „Meine  Stimme  hat  nie  einen 
merklichen  Umschlag  oder  Übergang  gehabt,  mit  23 
Jahren  konnte  ich  Sopran  singen,  und  kann  es  noch 
heute  (30  J.),  tiefere  Sprech-  und  Singtöne  habe  ich  erst 
durch  Schule  und  Übung  erlangt."  Während  die  Ver- 
größerung der  Stimmbänder  ausblieb,  vergrößerten  sich 
während  der  Reife  um  so  mehr  die  Brüste,  die  noch  jetzt, 
wie  ich  mich  durch  Inspektion  und  Palpation  überzeugte, 
einen  vollkommen  weiblichen  Charakter  tragen.  Oft 
werden  junge  Urninge  wegen  ihrer  hohen  hellen  Stimme 
geneckt,  so  schreibt  ein  urnischer  Arbeiter:  „Meine 
Stimme  ist  nicht  gebrochen,  man  nannte  mich  in  Arbeiter- 
kreisen mit  19  Jahren  wegen  meiner  hellen  Stimme: 
„Gretchen."  Bei  vielen  bleibt  die  Stimme  ohne  männ- 
liche Kraft.  Urnische  Mädchen  bekommen  zur  Zeit  der 
Pubertät  oft  eine  tiefere  Stimmlage.  Ich  kenne  einen 
derartigen  Fall,  wo  ein  Spezialarzt  für  Halskrankheiten, 
weil  er  Kehlkopfkatarrh  annahm,  mehrere  Monate  pinselte. 
Eine  urnische,  jetzt  25 jährige  Journalistin  berichtet :  „In 
der  Reifezeit  trat  der  Adamsapfel  stärker  bei  mir  hervor. 
Ich  bekam  eine  Singstimme,  die  sich  nur  bis  zum  c 
zwischen  der  dritten  und  vierten  Linie  erstreckt,  dagegen 
das  tiefe  c  des  Basses  umfaßt.  Ich  pflege  Lieder  und 
anderes  stets  in  der  tieferen  Oktave  des.  Soprans,  also  im 
Tenor  zu  singen.  Man  sagt  allgemein,  ich  hätte  auch 
einen  Tenorklang."  Der  Bartwuchs  stellt  sich  bei  urni- 
schen  Jünglingen  oft  sehr  spät,  oft  auch  recht  spärlich 
und  ungleich  ein.     Dagegen  ist  ein  hie  und  da  mit 


')  Siehe  Tafel  1  in  Anlage. 

Jahrbuch  V.  5 


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—   66  — 


Schmerzhaftigkeit  verknüpftes  Anschwellen  der  Brüste 
zur  Reifezeit  ein  bei  urnischen  Knaben  durchaus  nicht 
seltenes  Vorkommen,  während  hingegen  urnische  Mädchen 
recht  häufig  sehr  mangelhafte  Brustentwickelung  darbieten. 
Bei  urnischen  Knaben  scheint  mir  endlich  nicht  selten 
ein  besonders  üppiger  an  das  Weib  erinnernder  Wuchs 
des  Haupthaares  vorzukommen,  hingegen  weist  die  Körper- 
behaarung urnischer  Knaben  oft  feminine,  die  urnischer 
Mädchen  oft  virile  Anklänge  auf.  Von  pathologischen 
Störungen  findet  man  bei  urnischen  Söhnen  verhältnis- 
mäßig häufig  Migräne  und  Chlorose,  zwei  Krankheiten, 
von  denen  sonst  mit  Vorliebe  das  weibliche  Geschlecht 
heimgesucht  wird. 

Sind  diese  letztgenannten  Zeichen  auch  durchaus 
nicht  in  jedem  Fall  nachweisbar,  und  läßt  sich  aus  ihnen 
auch  nicht  mit  unbedingter  Sicherheit  auf  homosexuelles 
Empfinden  schließen,  so  wird  die  Diagnose  im  Verein 
mit  den  vorher  geschilderten  psychischen  Symptomen 
doch  eine  völlig  sichere. 

Ich  habe  wiederholt  bei  10  bis  14jährigen  Kindern 
die  Diagnose  Uranismus  gestellt  So  konsultierte  mich 
eine  Mutter  mit  einem  12jährigen  Knaben,  der  an 
Migräne  litt,  sehr  schreckhaft  war  und  viel  weinte.  Er 
wurde  von  seinen  Mitschülern,  an  deren  Treiben  er  sich 
nicht  beteiligte,  viel  gehänselt,  war  am  liebsten  mit  einer 
Cousine  zusammen  und  besaß  einen  Freund,  den  er  in 
der  Sommerfrische  kennen  gelernt  hatte,  mit  welchem  er 
täglich  korrespondierte.  Er  liebte  besonders  Blumen  und 
Musik,  dagegen  konnte  er  Mathematik  „ nicht  kapieren.* 
Die  Untersuchung  des  bei  großer  Liebenswürdigkeit  außer- 
ordentlich schamhaften  Knaben  ergab  einen  noch  völlig 
unentwickelten  Genitalapparat,  der  Penis  glich  dem  eines 
4jährigen  Kindes,  dagegen  zeigte  sich  eine  Beschaffenheit 
der  Mammae  wie  bei  Mädchen  im  Beginn  der  Pubertät. 
Ich  stellte  die  Diagnose  auf  Uranismus  und  klärte  die 


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—    67  — 


Kitern  entsprechend  auf.  In  diesem  und  2  ähnlichen 
Fällen  ist  die  Zeit  noch  zu  kurz,  sodaß  eine  postpubische 
Bestätigung  ermangelt.  Dagegen  habe  ich  bei  einem  jetzt 
18jährigen  ausgesprochen  homosexuellen  Photographen 
bereits  vor  4  Jahren,  ehe  derselbe  entwickelt  war, 
Uranismus  diagnosti eieren  können.  Noch  eine  weitere 
Beobachtung  gehört  hierher.  Ich  erinnerte  mich  aus 
meiner  Gymnasialzeit  an  einen  Knaben,  der  von  den 
Mitschülern  „ Mieze"  genannt  wurde.  Neben  anderen 
femininen  Eigenschaften  besaß  er  eine  besondere  Kunst- 
fertigkeit im  Kochen  und  der  Verwendung  von  Flicken, 
die  er  Papierpuppen  sehr  geschickt  aufnähte.  Er  war 
der  vorjüngste  von  sieben  Geschwistern,  meistens  Knaben, 
die  alle  dieselbe  strenge  Erziehung  genossen.  Der  Vater 
wurde,  als  der  Sohn  in  Quarta  war,  versetzt  und  so  war 
mir  dieser  Mitschüler  völlig  entschwunden.  Bei  meinen 
Zwischenstufen-Studien  fiel  er  mir  ein  und  ich  forschte 
nach  mehr  als  20  Jahren,  was  aus  ihm  geworden 
sei.  Ich  erfuhr,  daß  er  Damenhutmacher  sei,  ledig 
geblieben  war  und  seit  Jahren  ein  anscheinend  sehr  ideales 
Verhältnis  mit  einem  von  ihm  überaus  verehrten  Freunde 
hatte,  auch  lagen  andere  Anzeichen  vor,  die  über  seine 
Geschlechtszugehörigkeit  keinen  Zweifel  ließen.  Aus  dem 
urnischeu  Kinde  war  ein  homosexueller  Mann  geworden 
mit  derselben  Naturnotwendigkeit,  mit  der  sich  aus  dem 
Normalkinde  ein  heterosexueller  Mensch  entwickelt. 


IL  Das  Hartnonische  der  urnischen 
Persönlichkeit. 

Es  spricht  ganz  außerordentlich  für  das  Angeborensein 
einer  Eigenschaft,  wenn  diese  mit  der  ganzen  Persönlich- 
keit aufs  innigste  verknüpft  ist,  mit  ihr  in  völligster 
Übereinstimmung  steht,  sozusagen  aus  der  Tiefe  der 
ganzen  Individualität  emporsteigend  mit  elementarer  Ge- 

5* 


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—   68  — 

walt  hervorbricht.  Das  ist  bei  der  Homosexualität  in 
höchstem  Grade  der  Fall.  Wären  die  gleichgeschlechtlich 
Empfindenden  körperlich  und  seelisch  in  Nichts  vom  weib- 
liebenden Mann  unterschieden,  wären  sie  dieselben  kraft- 
voll erobernden,  selbstbewußt  berechnenden,  mutig  wollen- 
den Menschen,  wären  die  homosexuellen  Frauen  die 
gefühl-  und  stimmungsvollen,  anschmiegenden,  zurück- 
haltenden, von  Kindessehnsucht  und  Mutterliebe  erfüllten 
Wesen,  die  Gegner  hätten  Recht:  diese  Menschen,  die 
zu  einer  Wiederholung  ihrer  selbst  Neigung  verspürten, 
böten  etwas  Disharmonisches,  Monströses  dar.  Es  gereicht 
der  Menschheit  zur  Ehre,  daU  ihr  so  kraÜe  Inkonsequenzen 
nicht  eigen  sind,  der  Mann,  der  Männer  liebt,  die  Frau, 
welche  Frauen  begehrt,  sind  nicht  Männer  und  Frauen 
im  landläufigen  Sinn,  sondern  ein  anderes,  ein  eigenes, 
ein  drittes  Geschlecht.  Naturgesetze  werden  durch 
mangelndes  Naturverständnis  nicht  Naturwidrigkeiteu, 
eine  Erscheinung,  deren  Sinn  wir  nicht  erfassen,  ist  darum 
noch  nicht  sinnlos,  so  wenig  etwas,  dessen  Zweck  uns  nicht 
klar,  zwecklos  ist.  Bei  der  Beurteilung  eines  Naturrätsels 
dürfen  wir  uns  freilich  nicht  an  Teile  halten,  sondern 
müssen  das  Ganze  zu  ergründen  suchen,  ein  körperlicher 
Teil  kann  irreleiten,  das  psychische,  dessen  Bedeutung  in 
unserer  materialistischen  Zeit  so  sehr  unterschätzt  wurde, 
bringt  uns  dem  Ding  an  sich  schon  näher.  Martials 
Pentameter,  „pars  est  unapatris,  caetera  matris  habet/  nur 
ein  Teil  ist  männlich,  alles  übrige  weiblich,  paßt  auch 
noch  heute  auf  sehr  viele  Menschen.  Wenn  man  auch 
diesen  Teil  als  den  Geschlechts  teil  xat  f'iox^v  bezeichnet, 
so  bleibt  er  doch  immer  nur  ein  Teil.  Die  Auffassung 
mancher  Gelehrter  über  die  Geschlechtszugehörigkeit  einer 
Person  erinnert  lebhaft  an  den  Vorschlag,  den  ich  als 
Sachverständiger  vor  Gericht  wiederholt  von  Laien  hörte, 
man  möchte  doch  den  Menschen,  die  sich  gegen  §  175 
vergingen,  den  Penis  abschneiden,  dann  würden  sie  ja 


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69  — 


ganz  brauchbare  Bürger  sein.  Ich  erwiderte  einmal,  man 
täte  dann  besser,  ihnen  den  Kopf  abzuschneiden,  denn 
dieser,  nicht  das  membrum,  sei  der  Teil,  „mit  dem  sie 
sündigten.*  Tiefer  in  den  Kern  der  Sache  drang  schon 
eine  Antwort,  die  ich  bei  einer  andern  Gerichtsverhandlung 
hörte,  zu  der  ich  als  Gutachter  zugezogen  war.  Als  der 
Vorsitzende  die  Zeuginnen  fragte,  was  sie  denn  von  «lern 
Angeklagten  gedacht  hätten,  der  beschuldigt  war,  Männer 
belästigt  zu  haben,  welche  mit  ihnen  im  Dunkel  des  Tier- 
gartens den  Koitus  vollzogen,  entgegnete  eine  der  Pro- 
stituierten unter  großer  Heiterkeit  des  Gerichtshofes: 
„Wir  glaubten,  es  sei  ein  Weib  iu  Männergestalt.*  Jeden- 
falls können  die  primären  Geschlechtscharaktere  allein 
nicht  den  Ausschlag  geben,  das  Zentrum  ist  so  wichtig, 
wie  die  Peripherie;  da  es  mehr  als  zwei  Geschlechter 
gibt,  ist  die  innere  Empfindung,  nicht  allein  die  äußere 
Erscheinung  das  Entscheidende. 

Die  Äußerungen  dieser  inneren  Empfindung  be- 
schränken sich  allerdings  keineswegs  auf  rein  geschlecht- 
liche Handlungen.  Die  Sexualpsyche  im  weiteren  Sinn 
beherrscht  mehr  oder  weniger  unbewußt  die  ganze  Lebens- 
führung und  Geschmacksrichtung  einer  Person.  In  einem 
auch  nicht  im  entferntesten  geahnten  Umfange  senden 
die  Schicksale  und  Werke  der  Menschen  ihre  geheimnis- 
volle Hauptaxe  in  das  Geschlechtszentrum  hinein.  Würden 
wir  bei  der  Beurteilung  und  Abschätzung  eines  Menschen 
seiner  Sexualpsyche  mehr  Berücksichtigung  zu  Teil  werden 
lassen,  wir  würden  die  Gestalten  und  Geschehnisse  der 
Weltgeschichte  ganz  anders  zu  verstehen  im  Stande  sein, 
wie  es  bisher  der  Fall  ist.  Mit  Recht  sagt  Nietzsche: 
„Grad  und  Art  der  Geschlechtlichkeit  eines  Menschen 
reicht  bis  in  den  letzten  Gipfel  seiues  Geistes  hinauf" 
und  der  Dichter  Przybvszewski  hebt  seine  Totenmesse 
(1893)  mit  den  gewichtigen  \Yrorten  an:  „Am  Anfang  war 
das  Geschlecht,  nichts  außer  ihm,  alles  in  ihm." 


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—    70  - 


Deshalb  ist  es  auch  für  das  Verständnis  hoher  und 
führender  Menschen  von  so  unschätzbarem  Wert,  ihre 
Sexualpsyche  richtig  zu  erfassen.    Man  meine  doch  nicht, 

—  ich  bemerke  das  besonders  gegenüber  Fuld  —  daß, 
wenn  wir  in  diesen  Jahrbüchern  große  Geister  sexual- 
psychologisch analysieren,  damit  zwecklose  Indiskretionen 
begangen  werden;  so  fern  es  uns  liegt,  wenn  von  Bismarcks 
männlicher  Kraft,  von  der  Weiblichkeit  der  Königin 
Louise  die  Rede  ist,  an  heterosexuelle  Handlungen  zu 
denken,  ja  so  abstoßend  der  bloße  Gedanke  daran  ist, 
genau  so  niedrig  sollte  es  sein,  homosexuelle  Akte  im 
Auge  zu  haben,  wenn  von  Michelangelos  oder  des  großen 
Friedrich  Urningtum  gesprochen  wird.    Der  Betätigung 

—  das  kann  nicht  oft  genug  wiederholt  werden  —  ist 
nur  ein  ganz  untergeordneter,  höchstens  symptomatischer 
Wert  beizumessen  gegenüber  der  Gesamtheit  der  psychi- 
schen Sexualität. 

Wenn  wir  im  folgenden  von  der  Urningspsyche  eine 
Schilderung  entwerfen  wollen,  so  sind  wir  uns  voll  be- 
wußt, nur  ein  Schema  geben  zu  können.  Denn  ist  es 
schon  schwierig,  das  Charakteristische  der  männlichen 
und  weiblichen  Seele  klar  zu  fassen,  das  individuelle  von 
dem  gemeinsamen,  das  nebensächliche  vom  wichtigen  zu 
trennen  und  zu  unterscheiden,  was  vom  Geschlecht,  was 
vom  Alter  abhängig  ist,  was  Natur,  was  Kunst  bewirkte, 
so  erhöhen  sich  diese  Schwierigkeiten  ganz  ungemein  bei 
dem  Urning,  wo  der  innere  und  äußere  Zwang  ein  un- 
gleich größerer  ist.  Die  meisten  bemühen  sich,  wesent- 
liches in  ihrer  Natur  zu  unterdrücken,  anders  zu  erschei- 
nen, als  sie  sind;  viele  sind  stolz  darauf,  wenn  sie  ihre 
männliche  oder  weibliche  Rolle  so  gut  spielen,  daß  „ihnen 
keiner  etwas  anmerkt." 

Es  kommt  hinzu,  daß  die  Typen  Mann — Urning — 
Urninde— Weib  nicht  fest  normiert  einander  gegenüber- 
stehen, sondern  daß  es  naturgemäß  zwischen  diesen  auch 


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—    71  — 

wiederum  t  Hergänge  gibt.  Die  weiblichen  Rudimente, 
die  in  jedes  Mannes  Geist  und  Körper  nachweisbar  sind, 
tinden  sich  in  geringerem  und  höheren  Grade,  bis  ihre 
Summe  so  stark  ist,  daß  für  den  Geschlechtstrieb  nicht 
mehr  in  dem  Weibe,  sondern  in  dem  Jüngling  die  Er- 
gänzung empfunden  wird.  Das  ist  die  Grenze,  von  wo 
ab  wir  den  Mann  als  Urning  bezeichnen,  in  dem  auch  die 
männlichen  und  weiblichen  Eigenschaften  verschieden 
stark  auftreten,  bis  sie  ganz  allmählich,  in  fast  lücken- 
loser Linie  über  das  urnische  Weib,  die  mehr  oder  weni- 
ger männliche  Frau  zum  Vollweibe  führen.  Würden  wir 
also  Mann — Urning— Weib  als  drei  Geschlechter  scharf 
getrennt  und  umgrenzt  gegenüberstellen,  so  verfielen  wir 
in  den  früheren  Fehler.  Wie  von  Mann  und  Weib 
können  wir  auch  vom  Urning  nur  einen  Durchschnittstypus 
geben. 

Wenn  wir  die  Wesenheit  der  reinen  Mannesseele  in 
der  Aktivität,  die  der  Frau  in  der  Passivität  zu  erblicken 
haben,  so  läßt  sich  von  der  Urningsseele  sagen,  daß  sie 
viel  aktiver,  wie  die  weibliche,  aber  nicht  so  aktiv  wie 
die  männliche  ist,  ferner,  daß  sie  viel  passiver,  wie  die 
männliche,  aber  bei  weitem  nicht  so  passiv  wie  die  weib- 
liche Psyche  erscheint. 

Äußere  Eindrücke  wirken  auf  den  Urning  ungleich 
stärker  ein,  als  auf  den  Mann,  sein  Gemüt  ist  weniger 
widerstandsfähig,  weicher,  empfindsamer,  die  Bestimmbar- 
keit größer,  die  Stimmung  wechselnder.  Freude,  Hoffnung, 
Begeisterung  heben  ihn  höher,  Schmerz  und  Leid  drücken 
ihn  viel  tiefer  darnieder.  Oft  besteht  eine  ausgesprochene 
Neigung,  sich  Stimmungen  hinzugeben;  so  berichtet  ein 
Urning,  er  schlösse  sich  mit  Vorliebe  Leichenbegängnissen 
an,  um  weinen  zu  können. 

Demzufolge  treten  auch  das  Mitgefühl,  das  Mitleid, 
die  Hülfsbereitschaft  stärker  hervor.  Der  erbitterte  Kon- 
kurrenzkampf, das  energische  Eintreten  für  gewöhnliche 


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72  — 


Interessen,  das  Kriegführen,  Schießen  und  Jagen  liegen 
dem  Urning  im  allgemeinen  nicht,  auch  ist  der  Haug  zu 
verbrecherischen  Handlungen  —  selbstverständlich  zu 
wirklichen  Verbrechen  —  bei  ihm  ganz  außerordent- 
lich selten.  Zum  strengen  Vorgesetzten  ist  er  nicht 
recht  geeignet.  Sehr  bezeichnend  ist  folgende  Schilderung 
eines  urnischen  Offiziers:  „Meine  Leute  hatten  mich  gern; 
ein  junger  Rekrut,  dem  infolge  Blutvergiftung  der  Arm 
amputiert  werden  mußte,  wünschte  ausdrücklich,  daß  ich 
bei  der  Operation  zugegen  sein  sollte.  Der  Arzt  will- 
fahrte seinem  Wunsche;  ich  reichte  ihm  die  Hand  vor 
der  Narkose  und  so  schlief  er  ruhig  ein.  Nach  der  <  >pe- 
ration  verließ  ich  auf  kurze  Zeit  das  Krankenzimmer  — 
da  hörte  ich  vom  Nebenzimmer  aus  meinen  jungen  Rekru- 
ten, der  soeben  wieder  erwacht  war,  die  Worte  aussprechen: 
„Wo  ist  denn  mein  Leutnant?"  Sofort  erschien  ich  wie- 
der am  Krankenlager,  reichte  meinem  armen  Patienten, 
der  mich  traurig  anblickte,  die  Hand.  Ich  nahm  mich 
meiner  Rekruten  in  jeder  Weise  an,  die  Leute  gingen  für 
mich  durchs  Feuer,  vermied  übermäßigen  Drill,  war  stets 
in  der  Kaserne,  da  ich  am  Wirtshausleben  keinen  lieiz 
fand  —  so  fiel  die  Rekrutenvorstellung  glänzend  aus  und 
dank  auch  meiner  guten  theoretischen  Kenntnisse  gewann 
ich  das  besondere  Lob  meines  Kommandeurs." 

Man  kann  häufig  beobachten,  daß  in  exklusiven  Ver- 
bänden, namentlich  in  militärischen  und  studentischen 
Korps,  urnische  Mitglieder  wegen  ihres  höflichen,  ge- 
fälligen, aufopferungsfähigen  Wesens  anfangs  sehr  wohl 
gelitten  sind,  im  Laufe  der  Jahre  aber  Schwierigkeiten 
haben,  weil  sie  sich  nicht  in  die  strenge  Etiquette  fügen 
können  und  mit  Außenstehenden  freundschaftliche  Be- 
ziehungen auknüpfen.  Ebenso  erwachsen  ihnen  oft  auch 
mit  ihren  Familien  Unannehmlichkeiten,  weil  sie  in  Krei- 
sen verkehren,  die  diesen  nicht  standesgemäß  erscheinen. 
Die  Unterschiede  des  Standes,  der  Religion,  der  Rasse 


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—  73 


und  Nationalität  spielen  bei  dem  Urning  nicht  im  ent- 
ferntesten die  Rolle,  wie  bei  dem  normalen  Manne. 

Er  besitzt  nicht  den  Stolz,  das  Selbstbewußtsein,  den  so 
häufigen  Dünkel  des  Vollmannes.  Für  den  strengen  Ehr- 
begriff fehlt  ihm  das  Verständnis.  Wohl  ist  er  empfindsam 
und  leicht  verletzt,  aber  die  Fähigkeit  zu  hassen  scheint  ihm 
abzugehen.  Er  ist  eben  nicht  das,  was  man  „einen  ganzen 
Kerl"  nennt.  Eine  Beleidigung  durch  eine  andere,  stärkere, 
zu  erwidern  ist  ihm  nicht  gegeben.  Findet  sich  doch  schon 
in  der  Grettissaga  (28)  der  kriegerischen  Wikinger  der 
bezeichnende  Spruch:  „Der  Sklave  rächt  sich,  der  Arge 
(d.  i.  der  Urning)  nie."  Weniger  aus  Feigheit,  als  weil 
ihm  das  Gefühl  der  Rachsucht  mangelt,  zieht  er  sich 
lieber  zurück,  meist  ohne  Groll.  Immer  wieder  zum 
Verzeihen  geneigt,  oft  in  zu  hohem  Maße  versöhnlich,  ist 
er  im  Gegensatz  zum  Weibe  gewöhnlich  weder  nachtragend 
noch  kleinlich.  Die  Gutmütigkeit  vieler  Uranier  geht  so 
weit,  daß  es  ihnen  unmöglich  ist,  eine  Fliege  umzubringen. 
Selbst  seinen  ärgsten  Feinden,  den  Erpressern  und  Dieben 
gegenüber,  bewahrt  der  Homosexuelle  ein  sympathisches 
Gefühl.  Was  von  Leonardo  da  Vinci  berichtet  wird,  daß 
er  den  Lieblingen,  die  ihn  bestahlen,  nie  seine  Liebe  entzog, 
klingt  durchaus  glaubwürdig.  Die  Großmut,  welche  der 
Urning  Feinden  gegenüber  zu  zeigen  imstande  ist,  ist  oft 
geradezu  erstaunlich.  Freier  von  Vorurteilen  als  der 
Durchschnittsmann,  ist  er  meist  unfähig,  ein  hartes  Urteil 
zu  fällen.  Alle  diese  Eigenschaften  befähigen  ihn  ungemein 
zum  Altruisten  und  Vermittler,  zum  Friedensstifter  und 
Uberwinder  sozialer  Gegensätze.  Dabei  beschränkt  sich 
sein  philantropischer  Zug  fast  nie  auf  seine  Klasse  oder 
gar  seine  Familie,  sondern  geht  auf  die  große  Menge. 
Ein  urnischer  Arbeiter  schreibt :  „Dort  wo  es  gilt,  Ideale 
zu  erkämpfen,  wo  es  sich  darum  handelt,  die  schlummern- 
den Geister  aufzurütteln,  die  starre  Masse  eine  Stufe 
weiterzubringen  zur  Veredelung  und  X'ermenschlichung, 


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—   74  — 


dort  bin  ich  der  höchsten  Begeisterung  fähig  und  möchte 
Schulter  an  Schulter  vorwärts  stürmen  mit  den  edlen 
Kämpfern  für  Wahrheit  und  Recht."  Ein  anderer  streng 
katholischer  Urning  aus  Arbeiterkreisen:  „ich  möchte  alle 
Menschen  glücklich  sehen,  alle  sollten  sie  die  Allmacht 
Gottes  preisen,  ich  möchte  ein  Bild  malen,  alles  in  Nebel 
gehüllt,  darüber  eine  leuchtende  Sonne,  die  mit  Gewalt 
die  Nebel  zerteilt."  Urnische  Fabrikbesitzer  geben  wieder- 
holt an,  daß  sie  einen  förmlichen  Drang  haben,  für  die 
ihnen  unterstellten  Arbeiter  zu  sorgen,  Wohlfahrts- 
einrichtungen zu  schaffen. 

Oft  fehlt  es  jedoch  an  Mut  und  Beständigkeit,  das 
gute  Vornehmen  in  die  Tat  umzusetzen.  Der  Wille  ist 
beim  Urning  durchaus  nicht  so  schwach,  aber  es  besteht 
daneben  vielfach  ein  beträchtlicher  Hang  zur  Bequemlich- 
keit und  Scheu  vor  der  Menschen  Gerede.  Jedenfalls 
zieht  ihn  im  allgemeinen  die  geistige  Arbeit  mehr  an  als 
die  körperliche.  Es  kommt  das  instinktive  Bestreben 
hinzu,  etwas  zu  leisten,  was  auf  Personen  desselben  Ge- 
schlechts Eindruck  macht,  sie  fesselt  und  erfreut.  Von 
vielen  wird  auch  die  Arbeit  als  große  Trösterin  empfunden. 
Der  Trieb,  andere  geistig  zu  befruchten,  ist  häufig  sehr 
ausgesprochen.  Es  resultiert  daraus  eine  bei  Urningen 
weit  verbreitete  Befähigung  zum  Pädagogen,  zum  Volks- 
erzieher im  engeren  und  weiteren  Sinne.  Unterstützt 
wird  dieser  Drang  durch  den  mehr  oder  weniger  unbe- 
wußten Ehrgeiz,  sich  geistig  vor  der  Umgebung  auszu- 
zeichnen. Besonders  an  urnischen  Bauern  und  Arbeitern 
fällt  es  auf,  wie  sehr  sie  ihr  Milieu  überragen.  Mit 
diesem  Ehrgeiz  verbindet  sich  oft  starke  Empfänglichkeit 
für  Beifall  und  Bewunderung,  die  aber  fast  immer  in 
eigenartiger  Weise  mit  einer  gewissen  Bescheidenheit  und 
Scheu  verknüpft  ist.  Der  Urning  schafi't  fast  stets  aus 
dem  Gefühl  heraus.  Das  zielbewußte,  verstandesgemäße 
Arbeiten  des  Mannes  ist  ihm  nicht  eigen.    Das  Zahlen- 


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—   75  — 


gedächtnis  ist  vielfach  sehr  schwach,  Mathematik  ist  der 
Mehrzahl  geradezu  „ein  Gräuel."  Vorerst  kommt  bei 
ihm  der  Trieb  zu  empfangen,  aufzunehmen,  und  erst  aus 
der  Empfängnis  heraus  formt  und  gestaltet  er.  Seinem 
starken  Gefühlsleben  entsprechend  ist  das  ästhetische 
Empfinden,  der  Sinn  für  schöne  Formen  in  Natur, 
Kunst  und  im  täglichen  Leben  hochgradig  entwickelt. 
In  erster  Reihe  steht  das  Verständnis  für  Musik,  fast 
ebenso  groß  ist  die  Freude  an  der  Plastik,  der  sich  die 
an  der  Malerei  und  Architektur  anschließt;  auch  das 
Interesse  für  Schauspielkunst,  Litteratur,  Blumenpflege 
ist  ein  lebhaftes.  Für  alle  „schönen  Künste",  von  der 
Kochkunst  und  Kunststickerei  bis  zur  Bildhauerkunst, 
Hiulen  sich  starke  Talente  im  Urningtum.  Dabei  zeigt 
die  von  der  Sexualpsyche  abhängige  Geschmacksrichtung 
meist  eine  eigentümliche  Mischung  männlicher  und  weib- 
licher Tendenzen,  die  im  großen  und  kleinen  deutlich  zu 
Tage  tritt;  beispielsweise  ist  das  in  der  Kleidung  der 
Fall,  viele  halten  das  antike  griechische  Gewand  für  das 
schönste,  ein  urnischer  Künstler  bemerkt :  „Ich  schwärme 
für  lange,  wallende  Gewänder,  trotz  der  Gewöhnung  eines 
halben  Menschenalters  schäme  ich  mich  in  der  gewöhn- 
lichen Männerkleidung,  ohne  langen  Mantel  betrete  ich 
nie  die  Straße,  am  meisten  geniere  ich  mich  im  Frack 
bei  Ausübung  meines  Berufs  auf  dem  Podium,  zu  Hause 
trage  ich  nur  schleppende  Gewandung."  Ein  anderer 
h.-s.  Künstler  äußerte  sich:  „Ich  liebe  Kleidung  die  das 
Geschlecht  nicht  erkennen  läßt,  weil  diese  meinem 
eigentlichen  Wesen  entspricht."  Und  ein  urnischer  Eisen- 
bahnarbeiter schreibt :  „Es  tut  mir  leid,  daß  der  Pelerinen- 
mantel altmodisch  wurde.  Ein  schöner  Jüngling  sollte 
jedoch  stets  einen  glatten  Überzieher  tragen."  Wir  lassen 
noch  einen  eingehenden  Bericht  eines  31jährigen  homo- 
sexuellen Chemikers  folgen,  der  die  urnische  Geschmacks- 
richtung charakterisiert  :  „Die  Vorliebe,  die  ich  als  Kind 


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für  Nähen  und  Sticken  hatte,  ist  glücklicherweise  ge- 
schwunden. Mein  Talent  zum  Kochen,  wozu  ich  als 
Junggeselle  manchmal  gezwungen  bin,  wird  allerdings 
von  meinen  Freunden  sehr  gerühmt.  Doch  wäre  ich 
ganz  froh,  wenn  es  mir  jemand  abnähme.  Wirkliches 
Vergnügen  macht  es  mir  dagegen,  wenn  ich  Gäste  habe, 
alles,  Tisch  u.  s.  w.,  hübsch  anzuordnen  und  zu  schmücken. 
Blumen  habe  ich  von  jeher  sehr  geliebt  und  habe  großes 
Geschick,  Blumensträuße  geschickt  zu  arrangieren.  Von 
Sport  liebe  ich  nur  das  Bergkraxeln,  doch  entspringt  dies 
mehr  der  Freude  an  der  Natur,  ich  wandere  manchmal 
während  meines  Sommerurlaubs  wochenlang  allein  in  den 
Bergen;  das  gehört  zu  meinen  höchsten  Freuden.  Ein- 
samkeit bedeutet  für  mich  nicht  Langeweile,  ich  ziehe  sie 
der  Gesellschaft  nüchterner  Alltagsmenschen  und  Stamm- 
tischphilister vor.  Ich  interessiere  mich  sehr  für  Politik, 
namentlich  innere  Politik,  für  Theater  und  vor  allem  für 
Musik.  In  Theatern  fesseln  mich  sowohl  die  Klassiker 
als  auch  die  Modernen,  dagegen  langweile  ich  mich  in 
Lustspielen  ä  la  Blumenthal-Kadelburg.  Ich  bevorzuge 
in  der  Kunst  überhaupt  im  allgemeinen  die  düstere 
Färbung,  doch  erfüllt  mich  auch  der  Humor  der  Meister- 
singer mit  sonniger  Freude.  Außer  für  Naturwissenschaft, 
speziell  Chemie,  die  ich  erwählt  habe,  fühle  ich  Neigung 
für  Philologie." 

Sehr  häufig  tritt  bei  dem  Uranier  eine  Vorliebe  für 
„neue  Richtungen*  hervor.  Wenn  es  ihm  seine  Mittel 
verstatten,  unterstützt  er  gern  junge  aufstrebende  Künstler. 
Während  ihn  der  übliche  gesellschaftliche  Verkehr  mit 
den  Festessen,  Tischdamen,  dem  vielen  Trinken,  Rauchen, 
Kartenspielen  vielfach  abstösst,  liebt  ei"  die  ungebundene 
Geselligkeit,  wie  sie  sich  beispielsweise  in  dem  Treiben 
der  Boheme  sowie  oft  in  Wirtschaften  niederer  Gattung 
kundgiebt.  Kr  geht  gern  auf  Abenteuer  aus,  liebt  es, 
immer  neues  kennen  zu  lernen,  ist  oft  sehr  reiselustig 


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—    77  — 


und  fast  nie  einseitig.  Un verhältnismässig  viel  Urninge 
interessieren  sich  deshalb  für  Entdeckungsreisen,  Völker- 
kunde, Tiefseeforschungen. 

Daneben  findet  sich  ein  Hang  zum  Aufstöbern  und 
Sammeln  von  Büchern,  Kunstwerken  uud  Antiquitäten 
aller  Art.  Viele  Urninge  eignen  sich  dadurch  mit  der 
Zeit  eine  tiefe,  umfassende  Bildung  an,  wobei  ihnen  ihr 
gutes  Gedächtnis  und  ihre  leichte  Auffassungsgabe  zu 
Hilfe  kommt. 

Hält  man  gewöhnlich  schon  eine  einzige  der  vielen 
genannten  Eigenschaften,  beispielsweise  die  musikalische 
Befähigung,  für  angeboren,  um  wie  viel  mehr  diesen 
ganzen  in  sich  durchaus  nicht  disharmonischen  Komplex, 
der  von  der  männlichen  und  weiblichen  Natur  so  deutlich 
abweicht  und  stets  mit  einer  gewissen  Kindlichkeit  ver- 
knüpft ist,  nicht  solcher,  in  der  wir  ein  Zurückgebliebensein 
zu  erblicken  haben,  sondern  jenen  ungekünstelten,  naiv-hei- 
teren, harmlosen,  offenen  Art>  welche  leider  so  oft  und  schwer 
durch  die  Verhältnisse  beeinträchtigt  wird,  indem  diese 
den  Urning  mißtrauisch,  unwahr  und  verschüchtert  machen. 
Der  geschilderte  Komplex  befähigt  die  Urninge  hoher 
Kreise  besonders  auch  für  den  Dienst  in  der  Diplomatie. 
Ein  aristokratischer  Gewährsmann,  über  dessen  Glaub- 
würdigkeit auch  nicht  der  leiseste  Zweifel  bestehen  kann, 
teilt  uns  mit,  daß  er  Homosexuelle  besonders  zahlreich 
in  der  Diplomatie  gefunden  hat,  am  meisten  in  England, 
dann  in  Kußland  und  Deutschland.  Derselbe  gibt  noch 
folgende  interessante  Einzelheiten :  „Persönlich  kenne  ich 
neun  deutsche  Prinzen  aus  regierenden  Häusern,  sechs 
aus  andern  souveränen  Staaten.  Aus  reichsunmittelbaren 
Familien  sind  mir  14  bekannt.  Vier  Botschafter  und 
höchste  Hofbeamte  kenne  ich,  deren  Anlage  mir  bis  ins 
Detail  bekannt  ist.  Mir  ist  ein  preußisches  Kavallerie- 
regiment bekannt,  in  dem  neun  Offiziere  homosexuell 
sind.    Stets  fand  ich,  daß  es  fast  durchweg  reizende, 


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intelligente  Menschen  waren,  die  viel  Interessen  hatten 
und  der  Menschheit  zur  Zierde  gereichten." 

Mau  kann  leicht  konstatieren,  daß  der  Homosexuelle 
in  den  Kreisen,  in  denen  er  verkehrt,  und  über  diese 
hinaus  meist  sehr  beliebt  ist.  Als  vorzüglicher  Gesell- 
schafter ist  er  überall  gern  gesehen.  Schon  als  Kinder 
sind  sie  ihres  ruhigen  und  geschickten  Wesens  wegen 
die  Lieblinge  der  Eltern  und  Geschwister.  Erst,  wenn 
den  Angehörigen  eine  mehr  oder  weniger  klare  Er- 
kenntnis ihrer  Abweichung  aufgeht,  macht  sich  eine  gegen- 
seitige Entfremdung  und  Verstimmung  geltend.  Fängt 
die  weitere  Umgebung  an,  allerlei  zu  vermuten  und  zu 
flüstern,  wird  der  an  sich  schon  ängstliche  Uranier  ver- 
bitterter und  scheuer.  Viele  Edeluranier  ziehen  sich 
schließlich  ganz  in  die  Einsamkeit  zurück  und  leben 
gänzlich  isoliert  mit  ihren  Büchern  und  geistigen  Inter- 
essen, vielleicht  auch  „mit  einer  trauten  Seele,  die  sie 
versteht."  Kommt  es  zum  Skandal,  ist  das  Erstaunen 
der  Verwandten  und  heterosexuellen  Freunde  sehr  groß. 
Man  kann  das  Unfaßbare  nicht  glauben,  man  hielt  den 
so  zartbesaiteten,  hochgeschätzten  Freund,  der  fast  nie 
das  sexuelle  Thema  berührte,  für  „asexuell".  Schließlich 
finden  sich  doch  allerlei  Anhaltspunkte,  die  für  die  Rich- 
tigkeit des  Unglaublichen  sprechen  und  man  entsetzt  sich 
über  diesen  Menschen,  dem  man  etwas  so  Gräßliches  am 
allerwenigsten  zugetraut  hätte.  Noch  ist  die  Geschichte 
der  Urningsverfolgungen  nicht  geschrieben,  wie  zwei 
Geschlechter  ein  drittes  in  seinem  Heiligsten  zu  unter- 
drücken suchten,  aber  sie  wird  geschrieben  werden  und 
sich  als  einer  der  dunkelsten  Abschnitte  der  Menschheits- 
geschichte erweisen. 


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-  79 


Genau  so  wie  in  geistiger  Hinsicht  stellt  der  er- 
wachsene Homosexuelle  auch  in  körperlicher  Hinsicht 
eine  innige  Mischung  männlicher  und  weiblicher  Eigen- 
schaften dar,  von  der  es  an  und  für  sich  schon  ausge- 
schlossen ist,  daß  sie  künstlich  erworben  sein  kann.  Diese 
somatischen  Stigmata  sind  wie  die  psychischen  bald  mehr, 
bald  weniger  deutlich  ausgesprochen,  fehlen  aber  bei 
sorgsamer  Beobachtung  niemals.  Allerdings  ist  der 
Nachweis  nicht  immer  leicht.  Vieles  Charakteristische 
wird  man  nur  bei  großer  Übung  herausfinden  können. 
Wer  hunderte  von  Urningen  und  Urninden  gesehen  hat, 
wird  nicht  zweifeln,  daß  sie  ganz  bestimmte  Gesichtstypen 
aufweisen.  So  schwer  es  sich  aber  definiren  läßt,  was 
im  Gruude  den  männlichen  oder  weiblichen  Gesichts- 
ausdruck ausmacht,  so  wenig  kann  man  dem  Laien  das 
Eigentümliche  klar  machen,  das  dem  Kenner  oft  schon 
beim  Anblick  der  Photographieen  in  die  Augen  fällt. 
Würden  die  Geschlechter  dieselbe  Kleidung  tragen,  hätte 
man  sich  vermutlich  gewöhnt,  die  Übergangsstufen  leichter 
herauszukennen,  so  beeinflußt  die  Verschiedenheit  im 
Anzug  und  in  der  Haartracht  das  Urteil  ganz  außer- 
ordentlich. Doch  kommt  es  auch  so  noch  oft  genug  vor, 
daß  urnische  Männer  für  verkleidete  Mädchen  und  u mische 
Damen  für  verkleidete  Herren  gehalten  werden.  Lassen 
sich  Urninge,  selbst  solche,  die  recht  männlich  erscheinen, 
den  Bart  abnehmen  und  legen  weibliche  Kleidungsstücke 
an,  so  ist  es  meist  geradezu  verblüffend,  wie  sehr  der 
weibliche  Typus,  namentlich  in  der  Augenpartie,  zum 
Vorschein  kommt.  Ich  befand  mich  einmal  mit  einem 
urnischen  Gelehrten  in  dem  seiner  Volkstrachten  und 
Volkssitten  wegen  hochinteressanten  Fischerdorf  Volendam 
am  Zuidersee.  Wir  betraten  des  Studiums  halber  eine 
der  eigenartigen  Behausungen.  Im  Laufe  der  Unter- 
haltung setzte  sich  mein  Begleiter  eine  der  ortsüblichem 
Frauen hauben  auf.    Der  Erfolg  war  überraschend.  Die 


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—   80  - 


braven  Fischerfrauen  konnten  sich  über  die  Verwandlung 
garnicht  beruhigen  und  riefen  ein  über  das  andere  Mal: 
„wie  ein  Mädchen,  wie  ein  Mädchen."  Auch  ich  selbst 
konnte  seitdem  nicht  mehr  den  weiblichen  Eindruck  los- 
werden, der  mir  in  dem  Gesichte  des  Forschers,  weil  ich 
darauf  nicht  achtete,  zuvor  nie  aufgefallen  war.  Viele 
Homosexuelle  sehen  „als  Weib  bedeutend  besser  aus,  wie 
als  Mann.*  Ich  erinnere  mich  eines  urnischen  Aristokraten, 
den  ich  Jahre  lang  nur  in  Damentoilette  gesehen  hatte, 
in  der  er  sich  höchst  elegant  ausnahm.  Als  er  mich  das 
erste  Mal  im  Herrenanzug  besuchte,  erkannte  ich  ihn 
kaum  wieder,  so  zu  seinen  Ungunsten  verändert  sah  er 
aus.  Bei  manchen  tritt  das  undefinierbar  Weibliche  erst 
im  Affekt  stärker  hervor.  Ein  Richter  schreibt,  sein 
Gesicht  sei  scharf  geschnitten,  doch  sei  ihm  von  Damen, 
die  seine  homosexuelle  Natur  nicht  kannten,  bemerkt 
worden,  wenn  er  lächle,  habe  er  die  Augen  eines  Weibes. 
Ein  urnischer  Offizier,  der  sich  durch  eine  „martialische" 
Erscheinung  (bei  etwas  breiten  Hüften)  auszeichnet,  teilt 
mir  mit,  daß,  wenn  er  sich  in  Erregung  befände,  seine 
sehr  großen,  blauen  träumerischen  Augen  von  gänzlich 
unbefangener  Seite  als  weiblich  erkannt  worden  seien. 

Die  Körperkonturen  des  Urnings  sind  nicht  ganz  so 
abgerundet  und  weich  wie  beim  echten  Weibe  —  das 
urnische  Weib  ist  meist  hager  —  aber  äußerst  selten  so 
hervortretend,  wie  beim  Mann.  Diese  Rundung  beruht 
auf  stärkerer  Fettablagerung,  die  mit  der  größeren  Passi- 
vität des  Urnings  im  Zusammenhang  steht.  Ganz  beson- 
ders auffallend  ist  diese  Konturierung  bei  den  passiven 
Pvgisten,  die  daher  ein  geübter  Beobachter  unter  den 
übrigen  Homosexuellen  leicht  herauserkennt.  Sehr  wichtig 
ist  es,  auf  das  Verhältnis  der  Schulterdurchschnittslinie 
zur  Beckendurchschnittslinie  zu  achten,  welches  am  geeig- 
netsten mit  dem  bei  gynäkologischen  Untersuchungen 
üblichen  Beckenmesser  festgestellt  wird.    Während  beim 


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D'Eon  de  Beaumont 

Kopie  von  Angelika  Kauffmann, 
nach  einem  Bilde  von  Latour  aus  der  Sammlung  des  üeorge  Keate,  Esq. 

Ritter  D'Eon  de  Beaumont,  geb.  am  5.  Oktober  1728,  als  Knabe  erzogen,  schon 
früh  Neigung  in  Frauenklcidern  zu  gehen;  1755  am  russischen  Hofe  als  Dame 

vorgestellt. 


('ha  i;ij>-(;i.NKViKVF.-Loris-Arui'sri:-ANiMu':-riMOTHi'i; 

Cll.\  It  I.OTT  K-(;KKK\TKVK-Lori8A-Ar*;i\<TA.AXPIu'K-TlMOTHl':i>MAIHl; 

D'EON  DE  BEAUMONT. 

Doctor  ol  Civil  nud  of  Canon  Law,  and  Advoeate  of  the  Parliainent 

of  Paris. 

(Vnfor  Royal  for  Hiftory  and  Belles-Lettres. 
Sent  to  Rul'fia,  Urft  feeretlv,  then  offieially,  with  the  Chevalier  Douglas 
tor  tiir  Piwpofe  ol  i-«--«*ri:vl»lil*l»iii'_r  frieudlv  Relation*  lutween  tliat  Country 

and  Francr. 

Seeretary  of  the  Emhaffy  Extraordinary  at  the  Court  of  Her  Imperial 

Majefty,  the  Emprel'f  Elizabeth. 
Captain  of  Drajroons  and  Aide-de-Cainp  to  Marflial  the  Duke  and 

to  the  Connt  de  Hro^lio. 
Seeretary  of  the  Einbafly  Extraordinäre  froiu  France  to  (ireat  Hritain 
for  concliulin«;  tlu*  Feaee  ot  17C»:t. 
Kui«;ht  of  the  Royal  and  Militarv  Order  of  Saint  Loui>. 
Refident,  and  afterwards  Minifter  Fl  rni  potent  tarv 
froin  Franee  to  l  ireat  Hritain, 
and,  finally, 
a  Lady  at  the  Court  of  Marie  Antoinette, 
and  an  oeeafioual  and  lionoured  Ininate 

at 

1,'AKbaye  Royale  des  Damen  de  Haute*  Briiyeres. 
Maifon  des  DemoiMIcs  de  St.  Cyr, 
und  at  the 
Monaltt'ie  lies  Filles  de  Ste.  Marie. 


1 
I 

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-  81 


normalen  Mann  die  Schulterlinie  um  einige  Zentimeter 
länger  ist  als  die  Beckenlinie,  und  beim  Weibe  letztere 
viel  breiter  als  die  Schulterlinie,  ist  beim  Urning 
der  Unterschied  meist  sehr  gering,  oft  überhaupt 
nicht  vorhanden,  und  nicht  selten  umgekehrt,  sodaß  es 
schon  dem  Laien,  namentlich  den  Schneidern  beim  Maß- 
nehmen, auffällt.  Urnische  Arbeiter  haben  mir  wieder- 
holt erzählt,  daß  sie  die  Beinkleider  über  den  Hüften 
bequem  ohne  Hosenträger  tragen  können.  Ein  Urning 
berichtet,  bei  der  militärischen  Einkleidung  habe  der 
Vorgesetzte  gesagt  „er  habe  wohl  bei  der  Verteilung  des 
Gesäßes  zweimal  ,hier*  gerufen." 

Die  Hände  und  besonders  die  Füße  des  Urnings  sind 
im  Verhältnis  zu  der  Figur  oft  klein,  die  Hände  fühlen 
sich  zumeist  eigentümlich  weich  an.  Die  Haut  ist  fast 
stets  bedeutend  zarter,  glatter  und  weißer  wie  beim  Manne, 
wenn  auch  selten  in  so  hohem  Grade  wie  bei  der  Frau. 
Die  Blutgefäß-  und  Tastpapillen  der  Haut  sind  gewöhnlich 
sehr  affizierbar,  was  sich  einerseits  in  erhöhter  Schmerz- 
empfindlichkeit zeigt,  anderseits  in  sehr  leichtem  Erröten 
und  Erblassen.  Mündliche  und  schriftliche  Mitteilungen, 
wie  die  eines  Schriftstellers:  „Ich  erröte  mädchenhaft 
leicht  bei  jedem  kleinen  obszönen  Witz*  oder  die  eines 
Geistlichen:  „Ich  erröte,  wenn  ich  öffentlich  auftreten 
muß,  ganz  außerordentlich"  sind  sehr  häufig.  Nicht  recht 
erklärlich  ist  das  entschieden  geringere  Wärmebediirfnis 
vieler  Uranier.  Sehr  zuverlässige  Selbstbeobachter  heben 
das  hervor,  so  gibt  einer  derselben  an,  daß  er  Sommer 
und  Winter  stets  bei  offenem  Fenster  schlafe,  ohne  Unter- 
bett, nur  bei  tüchtiger  Kälte  mit  zwei  leichten  Decken 
bedeckt.  Es  gibt  allerdings  auch  Ausnahmen,  doch  faßt 
sich  die  Haut  der  Urninge  meist  wärmer  an,  wie  die 
ihrer  Umgebung.  Ich  glaube,  daß  die  im  Volke  ver- 
breitete Bezeichnung  „warmer  Bruder"  (auch  das  Wort 
schwul  —  schwül  meint  ähnliches)jn  dieser  Erscheinung 

Jahrbuch  V. 


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—    82  - 


seine  physiologische  Begründung  hat,  während  der  römische 
Ausdruck  homo  mollis,  weicher  Mann,  auf  die  Weichheit 
der  Haut  und  Muskulatur  zurückgeführt  werden  dürfte. 
Die  Haare  des  Urnings  sind  meist  feiner  und  weicher, 
wie  die  männlichen,  am  Kopfe  oft  ungewöhnlich  üppig, 
der  Bart  ist  vielfach,  aber  keineswegs  immer,  schwach 
entwickelt.  Viele  empfinden  den  Bart  als  etwas  Unange- 
nehmes, ebenso  wie  die  Urninden  das  lange  Kopfhaar. 
Lucians1)  Erzählung  von  der  Megilla,  die  von  ihren 
Freundinnen  mit  männlichem  Namen  gerufen  zu  werden 
wünschte,  Demonassa  ihre  Gattin  nannte  und  sich  die 
Haare  wie  ein  Athlet  schor,  und  dann  rief:  „Hast 
du  je  einen  so  schönen  Jüngling  gesehen  wie  mich,"  ist 
recht  charakteristisch. 

Die  Muskeln  der  Uranicr  sind  schwächer  wie  die 
männlichen,  wenn  auch  selten  so  schwach  wie  die  weib- 
lichen. Infolgedessen  besteht  meist  ein  natürlicher  Trieb 
zu  ruhigeu  Bewegungen,  wie  Fußtouren,  Wandersport, 
Bergsport,  Radfahreu,  Schwimmen  und  Tanzen.  Wo  die 
Körpermuskulatur  zu  wünschen  übrig  läßt,  zeigt  gewöhn- 
lich die  Zungenmuskulatur  eine  stärkere  Aktivität,  und 
so  finden  wir  denn,  daß  bei  den  Urningen,  ähnlich  wie 
bei  den  Frauen,  die  Redseligkeit  oft  eine  recht  beträcht- 
liche ist.  Einer  bemerkt:  »Plappern  kann  ich  für  zwei, 
aber  nur  mit  Damen  oder  Gleichgesinnten,  Herren  dagegen 
genieren  mich/ 

Von  jeher  haben  Kenner  den  Gang  und  die  übrigen 
Bewegungen  des  Homosexuellen  als  kennzeichnendes 
Merkmal  hervorgehoben.  Es  finden  sich  kleine,  trippelnde, 
tänzelnde,  schlürfende,  oft  geziert  erscheinende  Schritte, 
auch  ein  leicht  schwebender  Gang,  dabei  leichte  drehende 
Bewegungen  in  Schulter-  und  Beckengürtel;  der  Rumpf 

')  Luciaui  Samosatenis  opera  ex  recenaione,  ö.  Dindorfii. 
Parisiia  1890.   Dialogi  meretricii  8.  671. 


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83 

ist  vielfach  ein  wenig  vornübergeneigt,  der  Kopf  erseheint 
unruhiger,  als  dies  beim  ausgesprochen  männlichen  Indi- 
viduum der  Fall  ist.  Die  Gangart  ist  so  charakteristisch, 
daß  ich  sehr  oft  von  meinem  Sprechzimmer  aus  am  Auf- 
treten erkannte,  wenn  ein  Urning  ins  Wartezimmer  kam. 
Ein  urnischer  Pastor  gibt  folgende  Schilderung  von  sich  : 
„Es  besteht  Neigung  zu  wiegenden  Bewegungen,  ich  suche 
jedoch  diese  Neigung  so  gut  als  möglich  zu  tiberwinden, 
da  ich  mich  äußerst  beschämt  fühle,  wenn  jemand  etwas 
Damenhaftes  an  mir  entdeckt.  Trotzdem  ist  letzteres 
dann  und  wann  schou  vorgekommen.  Besonders  mein 
Gang  wurde  schon  öfters  „damenhaft*  gefunden.  Die 
Schritte  sind  mehr  klein,  mitunter  schlürfend,  die  Schultern 
wiegen  sich  beim  Gehen  etwas  hin  und  her,  wenigstens, 
wenn  ich  mir  keine  Gewalt  antue,  auch  die  Art  und 
Weise,  wie  ich  mich  niedersetze,  ist  schon  aufgefallen.* 
Ein  homosexueller  Polizeibeamter  erzählt,  daß  eine  Dame 
stets  von  ihm  sagte:  „Der  Kommissar  mit  dem  leichten 
Mädchenschritt/  Der  Gang  eines  Menschen  ist  von 
anatomischen  und  psychischen  Faktoren  abhängig.  Ich 
meine,  daß  die  somatischen  Verhältnisse  des  Urnings,  die 
Breite  der  Hüften,  die  infolgedessen  stärker  konvergierenden 
Oberschenkel,  die  schwache  Entwickeluug  der  Beuge-  und 
Streckmuskeln  auf  den  Gang  nicht  ohne  Einfluß  sein 
können,  daß  aber  auch  seelische  Einwirkungen  in  Frage 
kommen.  Dafür  spricht,  daß  Urninge,  die  sich,  um  sich 
nicht  zu  verraten,  ruhigere,  gravitätischere  Schritte  ange- 
wöhnen, leicht  bei  Erregungen,  oft  schon  beim  Laufen 
iu  ihre  natürliche  Gangart  verfallen.  Der  eben  zitierte 
Polizeikommissar  bemerkt:  „Meine  Schritte  waren  sehr 
klein  und  hüpfend,  ich  habe  es  mir  aberzogen,  es  tritt 
aber  immer  wieder  hervor,  sobald  ich  neben  jungen 
schönen  Herren  gehe."  Auch  die  urnischen  Armbe- 
wegungen sind  meist  typisch  —  man  vergleiche  das 
Jugend-Bildnis  König  Ludwigs  II.  —  insbesondere  sind 


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84 


es  auch  diejenigen  Bewegungen,  aus  denen  die  Handschrift 
resultiert,  welche  von  ähnlichen  körperlichen  und  psychischen 
Momenten  abhängig  ist    wie  der  Gang.    Dieselbe  zeigt. 

bei  Urningen  oft  einen 
durchaus  weiblichen,  bei 
Urninden  einen  männ- 
lichen Charakter,  bei  bei- 
den nicht  selten  auch 
einen  solchen,  den  die 
Graphologen  als  ge- 
schlechtslos zu  bezeich- 
nen pflegen.  Daß  die 
Brust-  und  Stimmbe- 
schaffenheit häufig  Ab- 
weichungen aufweist,  habe 
ich  bereits  bei  Besprech- 
ung der  uruischen  Puber- 
tätszeit erwähnt,  hier  will 
ich  noch  bemerken,  daß 
König  Ludwig  II.  von  Bayern    bei  den  erwachse  nen  Ho- 

in  stark  femininer  Haltung.  ,,        «.  n 

*        mosexuellen  selten  volle 

Umkehrungen  dieser  sekundären  Geschlechtszeichen  son- 
dern gewöhnlich  nur  Mittelstufen  konstatierbar  sind. 

Wie  in  seelischer,  so  zeigt  auch  in  körperlicher  Hin- 
sicht der  Urning  und  die  Urninde  eine  bemerkenswerte 
Jugendlichkeit.  Viele  haben  kleine,  zarte,  ihrem  Alter 
nicht  entsprechende  Figuren.  Ein  hervorragender,  mir 
persönlich  bekannter  Schriftsteller,  der  jetzt  Mitte  der  40 
ist,  sagt  von  sich,  daß  er  den  Kürperbau  eines  etwa 
15jährigen  Jungen  habe.  Das  ist  natürlich  ein  sehr 
extremer  Fall,  aber  Tatsache  ist,  daß  die  Urninge  meist 
für  viel  jünger  gehalten  werden,  wie  sie  sind.  Ist  die 
Uranierin  unverheiratet,  so  bildet  sich  bei  ihr  viel  weniger 
der  bekannte  Typus  der  alten  Jungfer  heraus,  in  der  wir 
ein   verkümmertes  Geschlechtswesen  zu  erblicken  haben. 


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-    85  — 


Die  Urninde  bewahrt  sich  im  Gegensatz  zum  nor- 
malen Weibe  bis  ins  hohe  Alter  eine  erstaunliche  Frische 
und  Elastizität.  Ebenso  treten  auch  beim  urnischen 
Junggesellen  weniger  wie  beim  normalsexuellcn  Hugestolz 
die  Griesgrämigkeit  und  die  anderen  Eigentümlichkeiten 
des  ledigen  Standes  hervor.  Im  allgemeinen  erfreut  sich 
der  Urning  eines  guten  Gesundheitszustandes,  die  Wider- 
standsfähigkeit seines  Nervensystems  ist  in  Anbetracht 
dessen,  was  er  durchzumachen  hat,  eher  als  günstig  zu 
bezeichnen.  Neben  der  früher  bereits  genannten  Chlorose 
und  Migräne  finden  sich  nicht  selten  hysterische  Störungen 
verschiedener  Art,  besonders  hervorzuheben  sind  die 
Affektionen,  welche  an  die  weiblichen  Menstruationen 
erinnern.  Ein  mir  seit  einer  Reihe  vou  Jahren  bekannter 
femininer  Urauier  leidet  seit  seinem  14.  Lebensjahr  alle 
28  Tage  an  Migräne,  zugleich  an  heftigen  Kücken-  und 
Kreuzschmerzen.  Dieselben  waren  Veranlassung,  daß 
seine  Stiefmutter,  bereits  als  er  20  Jahr  war,  bemerkte 
»das  ist  ja  bei  dir,  wie  bei  uns."  Eine  Untersuchung 
des  Urins  auf  Blutkörperchen  hat  leider  nicht  statt- 
gefunden. Neuerdings  —  Patient  ist  jetzt  30  Jahr  — 
haben  die  Erscheinungen  wesentlich  nachgelassen,  doch 
tritt  immer  noch  vierwöchentlich  eine  hochgradige  Mattig- 
keit auf. 

Der  Urning  ist  im  allgemeinen  wohlgestaltet, 
sein  meist  sympathisches  Außere  trägt  viel  zu  seiner 
Beliebtheit  bei,  keinesfalls  ist  er  häßlicher  —  Möbius1) 
sieht  in  der  Häßlichkeit  ein  Hauptzeichen  der  Entartung 
—  wie  der  Durchschnitt  der  Normalen.  Ich  hebe  dies 
besonders  Wachenfeld  und  Bloch  gegenüber  hervor,  welche 
auf  diesen  Puukt  in  ihrer  Ätiologie  der  Homosexualität 
Wert  legten.  Wachenfeld2)  sagt:  „ Mißgestaltete  Personen, 

')  Stach  vologie  S.  186. 
*)  A.  a.  0.  S.  49. 


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—  86 


die  einen  naturgemäßen  ehelichen  Genuü  nicht  erhoffen 
können,  neigen  eher  zur  Homosexualität,  als  solche,  die 
dem  Weibe  begehrenswert  erscheinen,"  und  Bloch  *)  ver- 
tritt sogar  die  kühne  Hypothese,  daß  Michelangelo  wegen 
seiner  Häßlichkeit  homosexuell  geworden  sei.  Er  sagt 
wörtlich:  „Michelangelos  Häßlichkeit  war  so  groß,  daß 
er  in  jungen  Jahren  nie  die  Liebe  kennen  lernte  und  zu 
homosexuellen  Neigungen,  die  sich  in  seinen  Sonetten  an 
Tommaso  Cavalieri,  Luigi  de  Riccio,  Cecchino  ßracci 
kundgaben,  gedrängt  wurde."  Diese  Angaben  beruhen 
auf  völliger  Unkenntnis  des  einschlägigen  Materials. 

Man  hat  eingewandt,  daß  es  Männer  gibt,  die  sehr 
feminin  erscheinen  und  gleichwohl  völlig  normal  em- 
pfinden. Das  mag  vorkommen,  ebenso  wie  es  vorkommt, 
daß  manche  homosexuelle  Männer  einen  durchaus  männ- 
lichen Eindruck  machen.  Es  ist  jedoch  zu  bemerken,  daß 
derartige  Urteile  meist  nach  dem  Äußeren  ohne  die  un- 
bedingt erforderliche  Körperuntersuchuug  abgegeben 
werden  und  daß  in  solchen  Fällen  der  sorgsame  Expert 
stets  psychische  Zeichen  finden  wird,  welche  die  Ubergangs- 
stufe charakterisieren.  Einen  Homosexuellen,  der  sich  körper- 
lich und  geistig  nicht  vom  Vollmann  unterscheidet,  habe 
ich  unter  1500  nicht  gesehen  und  glaube  daher  an  sein 
Vorkommen  nicht  eher,  bis  ich  ihn  persönlich  kennen 
gelernt  habe. 


Was  neben  den  bisher  genannten  Symptomen  den 
Urning  und  die  Urninde  nun  aber  in  ganz  hervorragen- 
dem Maße  vom  Vollmann  und  Vollweib  unterscheidet, 
ist,  daß  ihnen  der  Trieb  der  Arterhaltung  gänzlich 
mangelt.  Diese  negative  Seite  der  Erscheinung,  die  zum 
mindesten  so  wichtig  ist,  wie  die  positive,  die  gleich- 

')  a.  a.  0.  S.  2Ä.    Bd.  I. 


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—   87  — 


geschlechtliche  Anziehung,  haben  die  Autoren,  welche  im 
Variationsbedürfnis,  in  Verführung  oder  ähnlichem  die 
Ursache  der  Homosexualität  erblicken,  fast  nie  beachtet. 
Wenn  nicht  äußere  Einflüsse  und  Rücksichten  den  Aus- 
schlag gäben,  würde  kein  Urning  überhaupt  je  auf  den 
Gedanken  kommen,  eine  Familie  zu  gründen.  Sehen  wir 
von  denjenigen  ab,  die  aus  Zweckmäßigkeitsgründen  Ehen 
eingingen,  so  haben  nur  3%  den  Wunsch,  Kinder  zu  be- 
sitzen, und  zwar  sind  dies  ganz  besonders  feminin  oder 
sehr  pädagogisch  Veranlagte.  Die  ersteren  wünschen  aber 
dann  selbst  zu  gebären,  so  schreibt  ein  urnischer  Freiherr: 
„Ich  möchte  ein  Kind  bekommen,  aber  selbst  nach  Art 
einer  Frau"  und  ein  anderer  bemerkt:  „Ein  Kind  möchte 
ich  haben,  doch  muß  ich  es  selbst  zur  Welt  bringen  und 
der  Vater  müßte  schön  und  gut  sein."  Umgekehrt  ruft 
eine  sehr  virile  Urninde  aus:  „Ich  möchte  ein  Kind  be- 
sitzen, doch  natürlich  nur,  wenn  ich  der  Vater  wäre.* 
Die  pädagogische  Gruppe  der  Uranier  wünscht  sich  stets 
einen  Knaben,  den  sie  heranbilden  und  erziehen  kann. 
Die  urnischen  Ehefrauen  fühlen  sich  oft  überaus  unglück- 
lich, wenn  sie  gravid  werden,  es  mangelt  ihnen  der 
mütterliche  Instinkt  meist  gänzlich  und  sie  sucheu  nach 
Möglichkeit  einer  Empfängnis  vorzubeugen  oder  gar  die 
geschehene  zu  an  ullierei).  Mir  sind  drei  verheiratete 
homosexuelle  Damen  bekannt,  von  denen  zwei  bekannte 
Namen  tragen,  die  wegen  ihrer  Schwangerschaft  vorüber- 
gehend maniakalische  Erregungszustände  mit  Suicidiul- 
ideen  bekamen.  Bei  vielen  kommt  es  überhaupt  niemals 
zum  Koitus.  Nicht  selten  schreitet  man  dann  zur  Ehe- 
scheidung, die  früher,  als  man  noch  „gegenseitige  Ab- 
neigung" als  Scheidungsgrund  gelten  ließ,  wesentlich 
leichter  war.  Die  urnischen  Frauen,  welche  eine  Ehe 
eingehen,  für  die  sie  nicht  geschaffen  sind,  versündigen 
sich  schwer,  wenn  auch  unwissentlich,  an  den  normal- 
sexuellen Frauen,  denen  sie  die  für  sie  bestimmten  Männer 


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88 


rauben.  Jährlich  bleiben  so  und  soviel  heiratsfähige 
Töchter  sitzen,  weil  zur  Fortpflanzung  ungeeignete  Urninden 
heiraten.  Mir  ist  eine  urnische  Dame  bekannt,  die  mit 
17  Jahren  „eine  sehr  gute  Partie  machte,"  weil  man  ihr 
allgemein  zuredete  und  sie  sich  wohl  selbst  durch  den 
Antrag  des  angesehenen  Mannes  geschmeichelt  fühlte. 
Als  sie  sich  nach  der  Hochzeit  den  sexuellen  Annäherungen 
desselbe  aufs  energischste  widersetzte,  ließ  der  Gatte 
schließlich  die  Schwiegermutter  kommen,  damit  diese  ihr 
Kind  über  die  „eheliche  Pflicht"  aufklärte.  Die  junge 
Frau  erwiderte  darauf  der  Mutter:  „Wenn  das  meine 
eheliche  Pflicht  ist,  so  wäre  es  Eure  elterliche  Pflicht 
gewesen,  mir  das  vorher  zu  sagen,  denn  wenn  ich  das 
gewußt  hätte,  hätte  ich  nie  und  nimmer  geheiratet." 
Die  Dame  blieb  fest  und  acht  Jahre  lang  setzte  der 
Mann  mit  immer  längeren  Unterbrechungen  die  Versuche 
fort  —  er  liebte  seine  Frau  sehr  —  bis  er  schließlich  in 
die  Trennung  willigte.  Die  Frau  lebt  jetzt  seit  mehreren 
Jahren  mit  einer  Freundin  beisammen,  der  Mann  ist  un- 
verheiratet geblieben.  Der  aus  Frankfurt  a.  O.  berichtete 
Fall  ")  in  dem  sich  eine  Frau  in  der  Nacht  nach  der 
Hochzeit  aus  einem  Hotelfenster  stürzte,  weil  sie  sich 
der  ehelichen  Vereinigung  schämte,  dürfte  wohl  eine  ähn- 
liche Grundursache  haben.  Wir  lassen  noch  den  hierher 
gehörigen  Bericht  eines  urnischen  Ehemanns  folgen,  den 
wir  einer  großen  Menge  ähnlicher  entnehmen.  Der  aus 
besten  Kreisen  stammende  Herr  schreibt: 

Als  die  Meinen  in  mich  drangen,  mich  zu  verheiraten,  ent- 
schloß ich  mich  zn  diesem  Schritt,  frug  um  die  Hand  einer  jungen, 
sympathischen  Dame  aus  bester  Famlie,  die  mich  schon  vielfach 
ausgezeichnet  und  erhielt  ihr  Jawort.  Wir  verlobten  uns,  heirateten 
nach  einigen  Monaten,  anscheinend  einer  glücklichen  Zukunft 
entgegengehend,  die  jedoch  mehr  oder  weniger  durch  meine 


*)  Prof.  G.  Hennan:  „Genesis",  Das  Gesetz  der  Zeugung. 
V.  Band.  S.  118.    Leipzig,  bei  Arwed  Strauch. 


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Schuld  zur  Hölle  für  uns  werden  sollte.  —  Ich  hatte  mich  grenzen- 
los getäuscht  über  die  Macht  der  mir  offenbar  angeborenen  Triebe. 
Trotz  Aufbietung  meiner  gesamten  Willenskraft  konnte  ich  den 
Horror,  den  ich  stets  gegen  geschlechtlichen  Verkehr  mit  dem 
Weibe  empfimden,  auch  der  mir  angetrauten,  lieblichen  Gattin 
gegenüber  nicht  Uber  winden;  die  Hochzeitsreise  nach  dem  sonnigen 
Italien  wurde  zu  einer  seelischen  Marter  für  uns  Beide  und  tief 
verstimmt  und  einander  entfremdet  kehrten  wir  zurück  in  unser 
Heim,  das,  von  treuer  Eltern-  und  Geschwisterliebe  reizend  aus- 
geschmückt, unser  wartete. 

Seither  sind  lange  15  Jahre  vergangen ;  meine  Frau  und  ich 
leben  neben-,  aber  nicht  für  einander  und  führen  in  den  Augen 
der  Welt  eine  musterhafte  Ehe!  Über  den  schweren,  delikaten 
Punkt  haben  wir  nie  mehr  gesprochen,  seitdem  ich  ihr  Trennung 
anbot,  damit  sie  an  der  Seite  eines  ihr  würdigeren  Mannes  ein 
glücklicheres  Dasein  finden  könne.  Sie,  die  von  meinem  Zustand 
keine  Ahnung  hat  und  meint,  es  liege  demselben  ein  organischer 
Fehler  bei  mir  zu  Grunde,  erklärte  mir,  mich  nicht  verlassen  zu 
wollen,  da  sie  mich  trotz  Allem  liebe.  —  Wie  sehr  ich  unter  dem 
Schuldbewußtsein  leide,  ein  so  edles  weibliches  Wesen  an  mein 
elendes  Schicksal  gekettet  zu  haben,  kann  ich  nicht  beschreiben! 
Mein  Dasein  ist  eine  endlose  Kette  geheimer  Seelenqualen  und 
Ängstigungen :  ich  lebe  immer  in  Furcht,  meine  Leidenschaft 
könne  offenkundig  werden,  namentlich  erst  recht  seit  dem  Skandal- 
proseß,  der  sich  erst  vor  wenig  Monaten  in  den  hiesigen  Mauern 
abgespielt  und  in  welchem  durch  eine  Bande  schrecklicher  Er- 
presser mehrere  Herren  aus  der  besten  Gesellschaft  öffentlich 
bloßgestellt  und  unmöglich  gemacht  worden  sind,  dank  der  uns 
immer  noch  verfolgenden  öffentlichen  Meinung. 

Die  sexuelle  Gleichgültigkeit  des  Homosexuellen 
gegen  das  andere  Geschlecht  ist  fast  stets  eine  vollkommene, 
bei  sehr  vielen  ist  die  Abneigung  vor  dem  Akt,  nament- 
lich, wenn  sie  ihn  erst  kennen  gelernt  haben,  ganz  unge- 
mein groß;  manchen  steht  der  vorgenommene  Versuch 
als  ein  schreckliches  Ereignis  in  der  Erinnerung,  andere 
geben  an,  sie  hätten  auf  Rat  eines  Arztes  den  Verkehr 
vollziehen  wollen,  es  aber  höchst  lächerlich  gefunden, 
wieder  andere  sprechen  von  dem  Gefühl  tiefster  Eruiede- 
rung,  das  sie  dabei  verspürten,  während  bei  einer  nicht 


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—   90  — 


unbeträchtlichen  Zahl  schwere  Nervenstörungen  post 
coitum  aufgetreten  sind.  Wir  geben  einige  Mitteilungen 
wieder,  die  zeigen,  wie  sehr  die  Urninge  die  Fortpflanzung 
und  den  Geschlechtsverkehr  mit  dem  Weibe,  wohl  ge- 
merkt nur  diesen,  perhorrescieren.  Ein  31  jähriger  Land- 
wirt schreibt:  .Familiensinn  ist  bei  mir  nur  insoweit  vor- 
handen, als  ich  meine  Eltern  zärtlich  liebe,  auch  zu 
meinen  Geschwistern  fühle  ich  mich  hingezogen.  Der 
Gedanke,  selbst  eine  Familie  zu  gründen,  existiert  für 
mich  nicht,  weil  er  mir  schaudererregend  ist.  Geschlechts- 
verkehr mit  dem  Weibe  ist  mir  ganz  unmöglich,  ich  fühle 
mich  von  Ekel  erfüllt,  wenn  ich  nur  an  die  Möglichkeit 
denke.  Versuche,  den  normalen  Akt  auszuüben,  habe 
ich  nie  angestellt  und  werde  es  voraussichtlich,  weil  der 
Widerwillen  zu  groß  ist,  niemals  können  Weil  mir  junge 
Damen  unheimlich  waren,  nahm  ich  schon  keine  Tanz- 
stunde, ich  besuche  keine  Bälle  und  meide  möglichst  Ge- 
sellschaften, zu  denen  junge  Damen  herangezogen  werden. 
Meine  Unbehülflichkeit  jüngeren  Mädchen  gegenüber 
scheint  man,  ohne  Argwohn  zu  schöpfen,  bemerkt  zu 
haben,  denn  es  ist  mir  neuerdings  angenehm  aufgefallen, 
daß  man  mich  zwischen  bejahrte  setzt,  mit  denen  ich 
mich  zwanglos,  gern  und  rege  unterhalte."  Ein  anderer 
berichtet:  „Meinem  Freunde  zu  Liebe  besuchte  ich  das 
erste  Mal  das  Bordell.  Ich  war  entsetzt,  daß  es  mir 
nicht  gelang,  den  Coitus  zu  vollführen,  jeglicher  Sinnes- 
regung baar  lag  ich  in  den  Armen  des  Weibes.  Außer 
mir  vor  Scham  sprang  ich  endlich  auf  und  markierte  den 
Betrunkenen.  Ich  habe  mich  wohl  ein  Dutzend  Mal  für 
junge  Mädchen  interessiert,  es  fielen  aber  dabei  nur  ihre 
geistigen  Eigenschaften  ins  Gewicht,  ein  Geschlechts- 
verkehr ist  mir  dabei  nie  wünschenswert  erschienen.  Diese 
meine  sogenannten  Geliebten  waren  meist  Mädchen  von 
auffallender  Häßlichkeit,  während  ich  mit  einem  häßlichen 
Kameraden  nie  gern  verkehrte.    Ein  besonderes  Ver- 


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Ol  - 


gnügen  bereitete  es  mir  von  meiner  Gymnasiastenzeit  an, 
Brüderschaften  zu  trinken,  da  das  dabei  vorkommende 
dreimalige  Küssen  mir  höchst  angenehme  Gefühle  ver- 
ursachte. Dagegen  beteiligte  ich  mich  höchst  ungern  an 
Pfänderspielen,  bei  denen  die  Gefahr  bestand,  Mädchen 
küssen  zu  müssen."  Ein  urnischer  Hotelier,  den  seine 
Bekannten  „die  wissenschaftliche  Köchin"  nennen,  bemerkt: 
„Ich  begreife  den  normalen  Akt  ebensowenig,  wie  ein 
normaler  Mensch  den  meinen  begreift,  ich  war  verlobt, 
merkte  aber  noch  rechtzeitig,  daß  es  sinnlos  wäre,  ihr 
und  mein  Unglück,  da  machte  ich  uns  wieder  frei." 
Ein  Franzose  von  38  Jahren  gibt  an:  „Ich  habe  nie  mit 
einem  Weibe  zu  tun  gehabt  und  könnte  es  nicht  um  alles 
in  der  Welt.  Hübsche  Gesichtszüge  bewundere  ich  so 
vorübergehend  bei  einem  Weibe,  wie  man  ein  hübsches 
Bild  betrachtet,  sollte  ich  dasselbe  Weib  aber  nackt  vor 
mir  sehen,  oh,  mon  dieu!  ich  würde  die  Flucht  ergreifen." 
Ähnlich  erzählt  ein  Schweizer:  „Vor  dem  intimeren  Ver- 
kehr mit  weiblichen  Personen  empfinde  ich  einen  unüber- 
windlichen Abscheu  und  habe  daher  nie  ein  Weib  be- 
rührt. Der  Umgang  mit  Damen  ist  herzlich,  so  lange 
sie  keine  wärmeren  Gefühle  für  mich  zeigen,  geschieht 
dies,  so  erwacht  ein  Unlustgefühl  und  ich  ziehe  mich  so 
bald  wie  möglich  zurück."  Ein  26 jähriger  Arbeiter  be- 
richtet: „Als  ich,  17  Jahre  alt,  einmal  von  einem  älteren 
Freunde  verleitet  wurde,  mit  einem  Weibe  geschlecht- 
lichen Umgang  zu  pflegen  —  ich  wußte  damals  noch 
nichts  von  meiner  urnischen  Natur  —  empfand  ich  einen 
derartigen  Ekel,  daß  ich  Erbrechen  bekam.  Seitdem  hatte 
ich  eine  heilige  Scheu  vor  der  Berührung  mit  dem  Weibe, 
bis  ich  vor  wenigen  Wochen,  zur  Verzweiflung  getrieben, 
mit  meiner  Natur  zu  brechen  suchte,  vergebens,  es  trat 
weder  eine  richtige  Erektion  noch  Ejakulation  ein,  dagegen 
habe  ich  mir  infolge  der  vergeblichen  Anstrengungen  eiue 
Gliedentzündung   zugezogen."     Endlich   ein  Kaufmann 


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-    92  - 

aus  Bayern:  „Die  Folgen  des  wiederholten  Verkehrs  mit 
dem  Weibe  waren  schwere  Nervenstörungen,  starkes  Un- 
wohlsein mit  Erbrechen  und  tagelange  Migräne.  Der 
Geruch,  welchen  das  Weib  ausströmt,  verursacht  mir  das 
größte  Unbehagen,  ich  bin  unfähig,  ein  Weib  zu  befriedi- 
gen, wogegen  die  Umarmung  eines  Soldaten  mir  ein  un- 
aussprechliches Wonnegefühl  verschafft  und  mich  kräftigt 
und  stärkt."  Es  ist  durchaus  nicht  selten,  daß  Urninge 
die  erste  Kenntnis  ihrer  Homosexualität  von  Prostituierten 
erhalten.  Einen  bezeichnenden  Fall  berichtet  mir  ein 
herrschaftlicher  Diener,  welchem  von  einem  Arzt,  den  er 
wegen  Impotenz  konsultierte,  nach  längerer  Anwendung 
des  elektrischen  Stroms  geraten  ward,  einen  Kohabitations- 
versuch  vorzunehmen.  Als  die  Prostituierte  in  ihrer 
Wohnung  sich  vergeblich  bemüht  hatte,  ihn  sexuell  zu 
erregen,  betrachtete  sie  sich  ihn  etwas  genauer  und  sagte 
dauu  in  unverfälschtem  Berliner  Dialekt:  „Weeste  denn 
nich,  daß  Du  en  Warmer  bist,  ick  werde  Dir  meenen 
Luden  (Zuhälter)  rufen,  paß  uf,  mit  dem  kannste.*  Der 
Vorschlag  wurde  von  den  drei  Beteiligten  erfolgreich 
in  die  Tat  umgesetzt  und  der  Diener  wußte  seitdem  über 
sich  Bescheid. 

Schrenck-Notzing  hat  in  seinem  Werke  ')  den  Homo- 
sexuellen die  Eheschließung  und  einen  geregelten  Ge- 
schlechtsverkehr mit  dem  Weibe  geraten,  wobei  er  sogar 
empfiehlt,  unter  Umständen  bei  den  ersten  Debüts  die 
Alkoholwirkung  zu  Hilfe  zu  nehmen.  Der  Vergleich  mag 
etwas  kraß  erscheinen,  aber  mir  kommt  dieser  Vorschlag 
nicht  viel  anders  vor,  als  wenn  ein  Arzt  einem  Normal- 
sexuellen, der  ein  Mädchen  unglücklich  liebt,  raten  würde, 
er  solle,  um  seinen  Trieb  loszuwerden,  sich  berauschen 
und  mit  einem  Manne  sexuell  verkehren. 

M  a.  a.  0.  S.  205  ff. 


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-    03  - 


Die  Abneigung  vor  dem  zur  Erhaltung  der  Art  ge- 
eigneten Verkehr  ist  bei  fast  allen  Urningen  eine  so 
tiefgehende,  ich  möchte  fast  sagen  selbstverständliche,  daß 
sich  daraufhin  unter  der  Mehrzahl  von  ihnen  die  Mei- 
nung gebildet  hat,  die  Natur  wolle  durch  sie  einer  Über- 
völkerung vorbeugen.  Nun  bin  ich  zwar  auch  der  An- 
sicht Nückes,  daß  man  die  ganze  Homosexualität  weder 
mit  theologischen  noch  mit  teleologischen  Augen  ansehen 
dürfe,  sondern  nur  mit  nüchtern  naturwissenschaftlichen, 
ich  möchte  aber  doch  dieser  weitverbreiteten  Anschauung 
gegenüber  geltend  machen,  daß,  wenn  das  Aussterben 
eines  Stammes  der  Hauptzweck  der  Homosexualität  wäre, 
es  völlig  unnötig  erscheinen  würde,  der  negativen  eine 
positive  Gefühlsrichtung  entgegenzusetzen.  Ich  meine,  daß 
letzterer  wohl  auch  ein  positiver  Zweck  entsprechen  dürfte, 
nämlich  der,  daß  der  homosexuelle  Trieb,  welcher  wie  der 
heterosexuelle,  mit  dem  ganzen  Fühlen  und  Wollen  so 
fest  verknüpft  ist,  auch  wie  dieser  Anstoß  und  Kraft  zu 
nutzbringender  Betätigung  der  Persönlichkeit  geben  soll. 
Wenn  es  für  den  Menschen  einen  Daseinszweck  gibt,  so 
ist  es  jedenfalls  die  Liebe  an  und  für  sich,  die  stets  frucht- 
bar ist,  auch  wenn  sie  nicht  der  Erzeugung  wieder  er- 
zeugender Wesen  dient.  Die  Liebe  ist  eine  Triebkraft, 
die  sich  immer  in  produktive  Arbeit  umsetzt  zur  Gestal- 
tung und  Weiterbildung  von  Menschen  und  zwar  nicht 
nur  in  körperlichem  Sinn.  Tolstoi  sagt  einmal:  „ Lieben 
ist  Streben  nach  dem  Wohle  anderer,"  ein  Wort,  das  wie 
der  Bibelspruch,  daß  Gleichgültigkeit  alles  tot,  Liebe  alles 
lebendig  macht,  eine  unantastbare  Wahrheit  enthält. 
Würden  die  von  der  Fortpflanzung  ausgeschlossenen 
Menschen  überhaupt  keine  Liebe  fühlen,  ihre  egozentrische 
Interessenlosigkeit  würde  eine  Gefahr  für  die  andern  be- 
deuten. In  den  Uranfängen  der  Sprache  erhellen  sich 
oft  durch  Gewohnheit  verdunkelte  Begriffe.  Das  Wort 
Sexus  ^  Geschlecht  kommt  von  sequi  —  folgen,  der  Ge- 


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—    94  — 


schlechtstrieb  ist  ursprünglich  nur  der  Trieb  zu  folgen, 
sich  andern  anzuschließen,  und  damit  ist  er  der  freilich 
oft  nur  leise  durchschimmernde  psychologische  Hintergrund 
jeder  sozialen  Regung.  Der  Monosexuelle  folgt  nur  sich 
allein;  die  wenigen  Monosexuellen,  die  ich  persönlich  ge- 
sehen habe,  es  waren  drei  zur  Einsamkeit  und  Eigen- 
bewunderung neigende  Onanisten  mit  ausgesprochener 
Antipathie  gegen  beide  Geschlechter,  zeichneten  sich  durch 
den  denkbar  größten  Indifferentismus  nicht  nur  allen 
Menschen,  sondern  auch  allen  Dingen  gegenüber  aus. 

Daß  es  sich  aber  bei  der  homosexuellen  Empfindung 
um  wirkliche  Liebe  handelt,  die  in  allen  ihren  Details  ein 
vollkommenes  Äquivalent  der  heterosexuellen  Liebe  dar- 
stellt, darüber  kann  für  den  Kenner  auch  nicht  der  ge- 
ringste Zweifel  obwalten.  Auch  Krafft-Ebing  hat  auf 
die  absolute  Analogie  hingewiesen  welche  sich  in  der 
Entfaltung  der  normalen  und  conträren  Vita  sexualis 
findet;  diese  Übereinstimmung  ist,  wie  allerdings  nur  eine 
sehr  lange  und  genaue  Beobachtung  erweisen  kann,  in  der 
Tat  in  allen  physiologischen  und  pathologischen  Einzel- 
heiten eine  so  eminente,  daß  es  eigentlich  nur  zwei  Mög- 
lichkeiten gibt,  entweder  sind  beide  Triebe  als  integrierender 
Bestandteil  der  Persönlichkeit  eingeboren  oder  es  ist  auch 
die  Liebe  zwischen  Mann  und  Weib  kein  eingeborener 
Naturtrieb,  sondern  eine  durch  äußere  Ursachen  im  Ver- 
laufe des  Lebens  erworbene  Eigenschaft. 

Wie  bei  den  Heterosexuellen,  so  gibt  es  auch  bei  den 
Homosexuellen  solche,  bei  denen  der  Geschlechtstrieb  im 
engeren  Sinn  nur  eine  mehr  oder  weniger  untergeordnete 
Rolle  spiel^  und  andere,  die  von  ihrer  Leidensehaft  völlig 
beherrscht  werden.  Man  hat  den  Urningen  dann  und 
wann  vorgeworfen,  daß  ihre  sinnliche  Neigung  sie  in  viel 
höherem  Maße  erfülle  und  beschäftige  wie  die  Normalen. 

»)  Über  sexuell«  IVrveraionen  S.  129. 


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—  95 


Doch  ist  hier  zu  bedenken,  daß  letztere  in  der  glücklichen 
Lage  sind,  ihre  Frauen  und  Mädchen  so  oft  um  sich  zu 
sehen,  wie  sie  wollen.  Sinnesregungen,  denen  bequem, 
jeder  Zeit  und  ohne  Gefahr  Genüge  geleistet  werden  kann, 
sind  nicht  dazu  angetan,  die  Seele  sonderlich  in  Anspruch 
zu  nehmen.  Anders  bei  dem  Uranier,  der  denselben  Trieb 
meist  nur  mit  den  größten,  oft  seine  ganze  Existenz  be- 
drohenden Schwierigkeiten,  nach  langer  Zurückhaltung 
seiner  Gelüste  befriedigen  kann.  Immerhin  gibt  es  ge- 
nug Urninge,  die  die  Kraft  völliger  Entsagung  besitzen, 
es  wäre  aber  verfehlt,  wollte  man  daraus  den  Schluß 
ziehen,  daß  sich  alle  anderen  ebenso  gut  beherrschen 
könnten,  so  wenig  man  außereheliche  Abstinenz  verlangen 
wird,  weil  ein  gewisser  Prozentsatz  sie  innehält.  Mir 
fallen  dabei  die  Worte  ein,  welche  mir  einmal  ein  wegen 
seiner  Neigung  gemaßregelter  Offizier  in  begreiflicher 
Aufwallung  schrieb:  „Die  Herren  der  Schöpfung  sollten 
wissen,  was  es  heißt,  wegen  irgend  einer  erotischen  Lappalie 
ewig  boykottiert  zu  sein.  Drehe  man  einmal  den  Spieß 
um  und  stelle  einen  Gesetzesparagraphen  hin ,  nach  dem 
jeder  außereheliche  Beischlaf  mit  Zuchthaus  oder  mit 
Gefängnis  und  mit  Aberkennung  der  bürgerlichen  Ehren- 
rechte zu  bestrafen  sei.  Selbst  wenn  solcher  Paragraph 
nur  ein  Jahr  in  Kraft  wäre,  was  würde  die  Welt  für  ein 
herzzereißendes  Schauspiel  erleben;  wieviel  Existenzen 
würden  vernichtet  werden,  wieviel  junge  Leute  sich  dem 
freiwilligen  Tode  weihen;  aber  wir  Uraniden  würden  ge- 
rächt sein  für  die  unendliche  Schmach,  die  man  seit 
Jahrtausenden  über  unser  Haupt  heraufbeschworen  hat." 

Hören  wir  einige  Berichte  keuscher  Homosexueller. 
Ein  urnischer  Student  von  23  Jahren  schreibt: 

„Ich  habe  keinerlei  geschlechtlichen  Verkehr  gepflegt.  Der 
Geschlechtstrieb  ist  sehr  stark,  die  Selbstbeherrschung  jedoch 
ebenfalls  stark.  Daß  ich  mich  auf  Kosten  der  Gesundheit  be- 
herrsche, ist  mir  völlig  klar.    Der  Kampf  hat  mich  schon  so  er- 


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—   90  - 


mattet,  daß  ich  zusammenstürzte.  Der  Gedanke  an  die  Blöße 
eines  Weibes  ist  mir  so  verhaßt,  daß  es  mir  absolut  unmöglich 
ist,  auch  nur  an  den  Versuch  eines  normalgeschlechtlichen  Aktes 
zu  denken.  Mich  fesseln  nur  hochgebildete,  vornehme  Naturen, 
die  ich  am  höchsten  stelle,  wenn  sie  sanftmütig  und  kraftvoll 
zugleich  sind.  Ärzten  und  Offizieren  gebe  ich  den  Vorzug.  Beide 
Typen  sind  gebildet  und  stehen  im  freien,  tatigen,  gesunden 
Leben.  Bei  beiden  ist  das  Moment  der  Bewegung,  da»  mir  auch 
die  Musik  zur  liebsten  Kunst  macht.  Von  meinem  15.  bis  22.  Jahr 
war  mein  Leben  beherrscht  von  einer  nie  zu  beschreibenden 
idealen  Liebe  zu  einem  jungen  Mediziner,  einem  trotz  seiner 
Jugend  —  er  ist  jetzt  26  —  ganz  eminenten  Kopfe.  Ks  ist  eine 
schlanke,  strenge  Gestalt,  mit  einem  Empirekopfe,  durchaus 
normalempfindend  und  ein  harter  Charakter.  Im  ersten  Jahr 
unserer  Bekanntschaft  war  er  mir  freundschaftlich  außerordentlich 
zugetan.  Damals  war  ich  ganz  glücklich,  ganz  wunschlos  und 
bemitleidete  alle  Könige  der  Welt  ob  ihrer  Armut.  Ich  verband 
raeinen  Freund  in  mystischer  Weise  mit  meinem  Gottes! »egriff ; 
mein  Leben  hatte  als  Pole:  „Christus"  —  „Lothar."  Als  mir 
nach  l»/2  Jahren  klar  wurde,  daß  —  um  mit  Platen  zu  sprechen 
—  der  schöne  Spröde  seine  Seele  mir  nie  oflenbaren  würde,  ver- 
lor ich  damals  schon  viel,  ja  das  eigentliche  Wesen  meines 
Himmels.  Ich  kämpfte  hart,  auch  mit  ihm  und  namentlich  wegen 
seiner  irreligiösen  Lebensauffassung.  Vor  einem  Jahre  verlobte 
er  sich,  ich  war  nicht  eifersüchtig,  ich  war  nur  wie  tot;  nur  mein 
Gedanke,  ins  Kloster  zu  gehen,  hielt  mich  aufrecht.  Ich  sagte 
ihm  damals  alles  —  er  nahm  es  kalt,  wissenschaftlich,  nicht  ohne 
etwas  Roheit  auf.  Seit  einem  Jahre  sah  ich  ihn  nicht  mehr, 
korrespondiere  auch  nicht  mehr  mit  ihm.  Wachend  fühle  ich  auch 
keine  Sehnsucht  mehr  nach  dem  einstigen  Geliebten,  die  hat  sich 
in  Jahren  au  seinem  Kgoistnus  und  seiner  materialistischen 
Lebensautfassung  verblutet.  In  längeren  Abschnitten  träume  ich, 
daß  er  zu  mir  kommt  und  mich  küßt  und  dann  weine  ich  im 
Schlaf.   Im  Leben  hat  er  mich  nie  geküßt." 

Ein  sehr  intelligenter  Akademiker  von  39  Jahren, 
der  die  große  Merkwürdigkeit  aufweist,  daß  bei  ihm 
überhaupt  noch  nie  eine  Ejaculatio  seminis  stattgefunden 
hat,  giebt  folgende  Schilderung: 

„Meiue  Leidenschaft  ist  keine  gewaltig  lodernde  Flamme, 
die  über  mein  ganzes  Denken  und  Sinnen  zusammenschlägt  und, 
wenn  sie  keine  Nahrung  findet,  alles  Glück  verzehrt,  Bondern  ein 


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glimmendes  Feuer,  das  nur  von  Zeit  zu  Zeit  stärker  emporwogt. 
Ich  kann  nicht  sagen,  daß  mit  der  Unmüglichkeit,  Liebe  zu  finden, 
„all  mein  Glück  dahin"  ist.   Ich  habe  noch  so  viele  Interessen  und 
Ideale  in  der  Freude  an  der  herrlichen  Natur  und  an  der  Kunst, 
»laß  ich  bis  jetzt  ein  im  ganzen  glückliches  Leben  geführt  habe, 
jedenfalls  intensiver  genießend,  als  mancher  normale  Mann,  der 
außer  im  Geschlechtsleben  die  Kulmination  seiner  Freuden  ain 
Stammtisch  findet.    Nur  bisweilen,  wenn  meine  Leidenschaft, 
stärker  erregt,  vergebens  nach  Befriedigung  ringt,  drückt  mich 
meine  Dornenkrone  stärker.    Einst  liebte  ich  einen  Mann  von 
meinem  Alter,  an  Bildung  weit  unter  mir  stehend,  den  ein  kühler 
Beobachter  kaum  schön  genannt  haben  würde.   Meine  Neigung 
wurde  erst  zur  Leidenschaft,  als  ich  ihn  persönlich  kennen  lernte 
und  fand,  daß  er  einen  sehr  ehrenwerten  Charakter,  gute  Manieren 
und  einen  auffallenden  Bildungsdrang  hatte.    Ich  unterstützte 
seine  Lernbegierde  und  seinen  Eifer,  seine  Fortschritte  versetzten 
mich  manchmal  in  Begeisterung,  dann  schien  er  mir  geradezu 
schön  zu  sein.   Er  sah  in  mir  seinen  Freund  und  Wohltäter,  ich 
liebte  ihn  nicht  nur  geistig,  sondern  mit  allen  meinen  Sinnen  und 
oft  kostete  es  mir  meine  ganze  Willenskraft,  mich  zu  beherrschen. 
Jede  Gelegenheit  suchte  Ich,  um  seine  Hand  zu  berühren  oder 
gar  neben  ihm  sitzend,  den  Arm  vertraulich  um  seine  Schulter 
zu  legen.   Ob  ich  ihm  nicht  mitunter  in  meinem  Benehmen  etwas 
auffällig  vorkam,  ich  weiß  es  nicht.   Jedenfalls  blieb  er  immer 
gleichmäßig  freundlich.    Alle  Qualen  der  Eifersucht  habe  ich 
durchgemacht,  wenn  ich  einmal  zu  bemerken  glaubte,  daß  er 
gegen  jemand  anders  freundlicher  war,  als  gegen  mich.   Es  wider- 
strebt mir,  näher  auf  dies  Verhältnis  einzugeben,  ich  möchte  nur 
bemerken,  daß  es  durchaus  ideal  geblieben  und  nie  Uber  die  er- 
wähnten Vertraulichkeiten  hinausgegangen  ist. 

Noch  „platonischer*  ist  die  homosexuelle  Liebe  in 

eiuem  dritten  Fall: 

„Kurz  bevor  ich  meine  Natur  entdeckte,  indem  mir  ein 
Kollege,  der  mich  über  sich  Selbst  aufklären  wollte,  den  Moll  in 
die  Hand  gab,  hatte  ich  mein  Hera  an  einen  Unteroffizier  der 
Artillerie  verloren,  einen  Mann  von  stolzer,  herrlicher  Schönheit. 
Er  wohnte  ganz  in  meiner  Nähe.  Als  ich  ihn  zum  ersten  Male 
auf  der  Straße  sah,  blieb  ich  wie  festgewurzelt  stehen  und  blickte 
ihm  nach,  bis  er  mir  entschwand.  Von  nun  an  sah  ich  ihn  öfter 
und  wie  sehnte  ich  mich  nach  diesen  Begegnungen,  und  wenn  er 
kam,  wie  stockte  mir  der  Atem,  die  Kehle  war  mir  wie  zuge- 

Jahrbuch  V.  7 


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—   98  — 

schnürt!  Gingen  wir  entgegengesetzt,  dann  kehrte  ich  um  und 
folgte  ihm,  mit  den  Blicken  die  wunderbare  Gestalt  verschlingend. 
Ich  fand  bald  heraus,  um  welche  Zeit  er  ungefähr  abends  aus  der 
Kaserne  nach  Hause  kam.  Ich  sali  dann  am  Fenster  und  wartete 
geduldig,  ein  moderner  Toggenburg,  um  ihn  blos  flir  einige 
Sekunden  zu  sehen.  Wenn  sich  seine  Heimkehr  verzögerte,  saß 
ich  so  wohl  eine  Stunde  und  länger,  ein  Buch  oder  eine  Zeitung 
in  der  Hand,  bei  jedem  Säbelklirren  zusammenfahrend.  Oft 
fürchtete  ich,  er  könne  mein  Benehmen  bemerken,  aber  nein, 
gleichgültig  streifte  mich  sein  Blick  wie  jeden  beliebigen  anderen 
Menschen,  wenn  ich  an  ihm  vorüberging.  So  ging  es  viele  Jahre, 
ohne   daß  ich  je  gewagt  hätte,  seine  Bekanntschaft  zu  machen." 

Wie  die  Sehnsucht,  so  trägt  auch  die  mit  ihr  so 
oft  verschwisterte  Eifersucht  bei  beiden,  der  anders-  und 
gleichgeschlechtlichen  Triebrichtung  einen  vollkommen 
entsprechenden  Charakter.  Ein  urnischer  Militär— Inten- 
dantur-Beamter erzählt,  dass  er  aus  Eifersucht  einem 
norraalsexuellen  Freunde,  den  er  „wahnsinnig"  liebte,  alle 
Mädchen  „ausspannte,"  in  die  dieser  sich  „vergafft*  hatte. 

Unter  den  Homosexuellen  findet  man  geuau  wie  unter 
den  Heterosexuellen  polygame  Don  Juan-Naturen,  deren 
Liebe  sich  bald  diesem,  bald  jenem  zuwendet,  und  mono- 
game, deren  beharrliche  Treue  jedem  Ehebündnisse  zur 
Ehre  gereichen  würde.  Auch  hier  zwei  Beispiele.  Ein 
homosexueller  Buchhändler  von  33  Jahren  erzählt: 

„Als  ich  20  Jahre  alt  war,  lernte  ich  einen  17jährigen  Jüng- 
ling kennen.  Ohne  von  meiner  Veranlagung  zu  wissen,  fühlte 
ich  mich  zu  ihm  unaussprechlich  hingezogen.  Da  er  vollständig 
weibliebend  war,  konnte  er  meine  Liebe  nur  mit  Freundschaft 
erwidern.  Ich  nahm  den  Jüngling  zu  mir  und  arbeitete  und  darbte 
flir  ihn.  Auch  er  hing  an  mir  mit  einer  Freundesliebe,  die  ihres 
gleichen  suchte.  Ich  verlebte  selige,  glückliche  Zeiten.  Nach  drei 
bis  vier  Jahren  aber  kam  das  Unglück,  in  ihm  erwachte  jetzt  die 
Liebe  zum  Weibe.  Er  konnte  es  nicht  verstehen,  daß  es  mich 
schmerzte,  wenn  er  sich  in  den  Armen  eines  Mädchen  befriedigte. 
Ich  rang  und  kämpfte  mit  mir  selbst,  ich  wollte  fühlen  lernen  wie 
andere  Menschen.  Mein  Herz  sträubte  sieh,  daß  mein  Liebling 
nicht  mehr  ganz  meiu  eigen  sein  sollte,  wenn  er  mir  auch  sagte, 
daß  er  mich  noch  eben  so  lieb  hätte  wie  früher.    Damals  war  ich 


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noch  sehr  religiös,  ich  flehte  zu  Gott,  aber  mir  wurde  keine  Hilfe, 
keine  Rettung.  Mein  Freund  wußte  mir  keinen  andern  Rat  zu 
geben,  als  es  auch  mit  Weibern  zu  versuchen.  Ich  glaubte  ihm 
und  ging  eines  abends  mit  zu  einer  Maitresse.  Aber  sobald  ich 
bei  ihr  im  Zimmer  war,  bebte  ioh  an  allen  Gliedern,  an  geschlecht- 
liche Erregung  war  kein  Gedanke,  kurz  entschlossen  lief  ich  nach 
Hause  und  ließ  dort  meinen  Tränen  freien  Laut.  Jetzt  war  ich 
mir  klar,  daß  ich  nicht  wie  andere  Menschen  war.  Bald  nahte 
die  Stunde  der  Erlösung.  Ich  kaufte  „die  Enterbten  des  Liebes- 
glücks"  und  wie  Schuppen  fiel  es  mir  von  den  Augen.  Ich 
wuüte  nun,  daß  ich  mit  meinen  Gefühlen  nicht  allein  auf  der 
Welt  war;  der  Schmerz  war  stark,  wie  ich  mich  jetzt  ganz  er- 
kannte, aber  ich  segne  die  Zeit,  wo  ich  Aufklärung  fand.  Durch 
sie  lernte  ich  auch  Nachsicht  mit  den  Gefühlen  meines  Freundes 
haben.  So  sind  die  Jahre  dahingegangen  und  noch  heute  nach  drei- 
zehn Jahren  wandle  ich  mit  meinem  Liebling,  den  ich  als  siebzehn- 
jährigen Jüngling  kenneu  lernte,  Hand  in  Hand  durch  dieses 
Leben.  Mit  meinem  Schicksalf)  zufrieden,  die  heilige  Urnings- 
liebe  im  Herzen,  denke  ich  mir  oft,  der  glücklichste  Mensch  auf 
Erden  zu  sein.  Selbst  nicht  die  harten  Urteile  der  Menschen  über 
unsere  Liebe  sind  mehr  im  Stande,  die  Zufriedenheit  und  Ruhe 
meines  Herzens  zu  erschüttern.  Ich  denke:  „Sic  sind  wie  Kinder 
und  wissen  nicht  was  sie  tun."  Meine  grenzenlose  Liebe  hat  in 
den  violen  Jahren  nicht  vermocht,  in  meinem  Liebling  auch  nur 
eine  Idee  von  dem  Triebe  zum  Weibe  auszulöschen,  obwohl  ich 
stets  von  Zeit  zu  Zeit  mit  ihm  geschlechtlich  verkehrte." 

Im  Gegensatz  zu  diesem  Fall  will  ich  die  Auf- 
zeichnungen eines  polygamen  Homosexuellen  wiedergeben. 
Es  ist  derselbe,  den  wir  schon  früher  als  urnischen  Knaben 
kennen  lernten  und  den  im  weiteren  Verlaufe  des  Lebens 
der  Fluch  seiner  orthodoxen  Familie  durch  alle  Welt 
jagte.    Er  schreibt: 

„Ich  habe  mich,  um  meinen  geschlechtlichen  Reiz  zu  befriedigen, 
in  der  Folge  wohl  hunderten  von  Leuten  der  verschiedensten 
Nationen  hingegeben.  Dabei  habe  ich  aber  absolut  meinen  eigenen 
Geschmack  gewahrt,  denn  mit  einem  mir  physisch  unsympatischen 
Menschen  ist  es  mir  Uberhaupt  nicht  möglich,  geschlechtlich  zu 
verkehren.  Männer,  die  ich  geliebt  habe,  hatten  immer  etwas 
von  der  Idealgestalt  meiner  Jugend.  Dahin  gehören  männlich 
aussehende,  kräftige  Gestalten  und  Gesichter,  frische,  gesunde 
Farben,  fröhliche,  wenn  möglich,  blaue  oder  graue,  treuherzige, 

7* 


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—    100  — 


offene  Augen,  ein  frischer  Mund,  schöne  Zähne  und  möglichst 
großer  Schnurrbart.  Schöne  Männer,  die  sich  weibisch  benehmen, 
sind  mir  ekelhaft.  Junge  Leute,  oder  auch  ältere  ohne  Schnurr- 
bart kann  ich  nicht  leiden,  ebenso  ist  mir  jeder  Bart  außer  dem 
Schnurrbart  höchst  unsympathisch.  Schöne  Gestalton  sind  mir 
lieb,  aber  das  Gesicht  ist  ausschlaggebend.  Jn  Deutschland  sind 
es  Soldaten,  Unteroffiziere,  Offiziere,  Schaffner,  Schutzleute,  Post- 
beamte, Droschkenkutscher,  Portiers,  Maurer,  Arbeiter,  besonders 
in  hohen  Stiefeln  und  Lederhosen,  unter  denen  ich  die  mir  sym- 
pathischen Erscheinungen  meistenteils  gefunden.  Selbstverständ- 
lich kann  ein  solches  Verhältnis  nie  von  Dauer  sein,  da  nur  das 
rein  sinnliche  Element  dabei  in  Betracht  kommt,  doch  momentan, 
noch  kürzlich,  konnte  ich  mich  für  einen  schönen  Ulanenunter- 
offizier dermaßen  interessieren,  daß  ich  ihm  stundenlang  nachge- 
laufen bin,  bis  es  mir  gelang,  eine  Gelegenheit  auszunützen,  bei 
der  ich  in  unauffälliger  Weise  mich  eng  an  ihn  schmiegen  konnte. 
Ich  entdeckte  in  ihm  einen  Gleichgesinnten  und  längere  Zeit  war 
dieses  Verhältnis  im  Stande,  mich  völlig  auszufüllen.  Unter  den 
höheren  Ständen  finde  ich  viel  seltener  mir  körperlich  sympathische 
Leute,  dagegen  unterhalte  ich  mich  oft  und  gerne  mit  ihnen  und  ver- 
kehre in  ihren  Kreisen.  —  Ich  finde  überhaupt,  daß  im  Vergleich 
mit  dem  wirklich  gebildeten  Amerikaner,  Irländer  oder  Engländer 
der  Deutsohe,  was  männüche  Erscheinung  und  männliches  Wesen 
anbelangt,  oft  einen  gezierten,  fast  weibischen  Eindruck  macht. 
Im  homosexuellen  Verkehr  ist  mir  der  Franzose  am  unange- 
nehmsten. Er  hat  eine  mir  abscheuliche  Art  und  Weise  hundert 
Küsse  zu  geben,  die  nicht  einen  wert  Bind.  Er  ist  in  seinen 
Liebesbezeugungen  von  einer  hastigen,  affektierten  Leidenschaft. 
Den  Italiener  ziehe  ich  bedeutend  vor,  er  ist  wirklich  leiden- 
schaftlich empfindend  und  in  seiner  Art  sich  zu  geben  liegt  etwas 
tieferes,  ernsteres.  Mit  Spaniern  ging  es  mir  ebenso.  Am  liebsten 
hatte  ich  den  Irländer,  es  ist  entschieden  die  männlichsto  Nation, 
die  ich  kenne.  Wenn  er  jemand  wirklich  zugetan  ist,  so  ist  er 
treu  und  aufopferungsfähig  wie  kein  anderer.  Amerikaner  und  Eng- 
länder waren  mir  meist  angenehm  —  oft  aber  etwas  zu  kühl  und 
geschäftsmäßig.  Dänen,  Norweger  und  Schweden  fand  ich  oft 
geziert.  Rein  sinnlich  beim  Akt,  den  Reiz  oft  bis  zum  Wahnsinn 
steigernd,  sind  die  slavischen  Völker.  Mit  Negern,  außer  Misch- 
lingen mit  rein  kaukasischer  Gesichtsbildung  und  ohne  Wollhaar, 
habe  ich  nie  zu  tun  gehabt,  obwohl  sie  vielfach  ihrer  stark  aus- 
gebildeten Genitalien  wegen  beliebt  sind.  Sie  sind  feurig,  fast 
tierisch  wild,  wenn  sinnlich  erregt.    Vor  den  asiatischen  Rassen 


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habe  ich  stets  Abscheu  empfanden,  mit  Ausnahme  von  Türken 
und  Persern,  mit  denen  ich  nie  homosexuell  verkehrt  habe. 

Wenn  ich  die  frischen  Lippen  eines  Mannes  aus  dem  Volke 
kilsse,  und  seine  feste  Gestalt  umfasse,  dann  erwacht  jedesmal 
in  mir  die  Sehnsucht,  auch  Geist  und  Verständnis,  mit  dem  was 
mich  körperlich  reizt,  vereinigt  zu  finden.  Im  Grunde  ist  es  doch 
immer  unwillkürlich  die  mit  den  Augen  des  phantastischen 
Knaben  geschaute  und  wohl  in  der  Erinnerung  idealisierte  Ge- 
stalt jenes  Offiziers,  nach  der  ich  rastlos  jage  und  suche  unter 
allen  Nationen,  in  den  verschiedensten  Klassen  der  Bevölkerung, 
die  zu  finden  ich  jetzt  fast  aufgegeben  habe,  ohne  das  Sehnen 
danach  lassen  zu  können. 

Bei  der  Diagnostik  der  echten  Homosexualität  legt 
Näcke l)  mit  vollem  Recht  besonders  Wert  auf  den  Nach- 
weis, daß  auch,  ebenso  wie  der  Heterosexuelle  hetero- 
sexuell träumt,  das  Traumleben  der  Homosexuellen  von 
seiner  Triebrichtung  beherrscht  wird.  Wie  eine  sehr 
große  Anzahl  von  Einzelmitteilungen  zeigt,  ist  dies  tat- 
sächlich durchgängig  der  Fall.  Dabei  erscheint  es  mir 
beachtenswert,  daß  die  angenehmen  Träume  der  Urninge 
auch  schon  vor  Eintritt  der  Reife  von  gleichgeschlecht- 
lichen Vorstellungen  erfüllt  sind,2)  sowie  daß  nicht  ero- 
tische Träume  qualvoller  Art  durchaus  nicht  selten  durch 
normale  Cohabitationsversuche  hervorgerufene  Beängsti- 
gungen zum  Gegenstande  haben.  Ein  Urning  gibt  an: 
„Ich  träume  oft,  ich  bin  verlobt  oder  verheiratet.  Dabei 
habe  ich  das  Gefühl  furchtbarer  Beklommenheit  und 
einer  undefinierbaren  Angst."    Hie  und  da  kommt  es 

')  Näcke:  Kritisches  zum  Kapitel  der  normalen  und  patho- 
logischen Sexualität.   Archiv  f.  Psych.  Bd.  82.   Heft  1.  (1899.) 

Näcke:  Die  forensische  Bedeutung  der  Träume.  Archiv  f. 
Kriminalanthr.   1900.   3.  Bd. 

Näcke:  Probleme  auf  dem  Gebiet  der  Homosexualität  in  der 
H.  Laehrschen  Zeitschrift  f.  Psychiatrie  etc.  59  Bd.  S.  812.  818 
und  825. 

*)  Man  vergl.  das  bei  der  Schilderung  des  urnischen  Kindes 
Angeführte. 


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vor,  daß  Urninge  sich  scheuen,  mit  Angehörigen  das 
Zimmer  zu  teilen,  weil  sie  befürchten,  sie  könnten  durch 
„Sprechen  aus  dem  Schlaf"  ihre  homosexuellen  Neigungen 
verraten.  Ähnlich  wie  im  Traum  dokumentiert  sich  auch 
in  der  Trunkenheit  deutlicher  die  geschlechtliche  Tendenz, 
indem  ja  der  Alkohol  durch  Lähmung  des  kritischen 
Oberbewußtseins  das  Gefühlsleben  mehr  hervortreten 
läßt.  Uberhaupt  tritt  das  Elementare  und  Natürliche 
der  urnischen  Liebe  überall  da  besonders  deutlich  her- 
vor, wo  die  Hemmungsvorstellungen  in  stärkerem  Grade 
ausgeschaltet  sind.  Ein  älterer  urnischer  Staatsbeamter 
teilte  mir  mit,  daß  er  einem  lang  gehegten  Wunsche 
entsprechend  vor  einiger  Zeit  in  seinen  engeren  Kreisen 
einen  jungen  Konträrsexuellen  von  etwa  20  Jahren  kennen 
lernte.  Er  berichtet  darüber:  »Der  betreffende  Jüngling 
ist  bereits  in  seinem  Äußern,  vollständig  aber  in  seinem 
Fühlen  und  Denken,  feminin.  Erst  seit  kurzem  unter- 
richtet, daß  es  Konträrscxuelle  gäbe,  war  er  über  sich 
selbst  noch  nicht  klar.  Ich  hatte  ihn  eingeladen,  mich 
auf  einige  Tage  zu  besuchen  und  als  ich  ihn  des  Abends 
in  sein  Schlafzimmer  geleitet  und  ihm  gute  Nacht  ge- 
wünscht, war  er  so  ungeheuer  erregt,  daß  er  mir  wortlos 
in  die  Arme  fiel.  Wenn  man  solche  hervorbrechende 
Leidenschaft  mit  dem  Worte  Unnatur  abtun  will,  so 
haben  die  Leute,  deren  Urteil  leider  heute  noch  maß- 
gebend ist,  niemals  ein  solches  Menschenkind  in  dem 
Augenblicke  gesehen,  in  dem  mit  so  elementarer  Macht 
zum  ersten  Male  die  Liebe  gebieterisch  ihr  Recht  ver- 
langt und  zwar  in  einer  für  das  betreffende  Individuum 
normalen  Form.*  — 

Durch  die  Hebung  der  ganzen  Persönlichkeit  er- 
klärt es  sich,  daß  trotz  der  beispiellosen  Widerwärtig- 
keiten, denen  die  Homosexuellen  ausgesetzt  sind,  90  von 
hundert  keine  Änderung  ihres  Zustandes  wünschen,  d.-i* 
Hest  dieselbe  auch  fast  ohne  Ausnahme  nur  aus  sozialen, 


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nicht  aus  persönlichen  Gründen  erstrebt.  Trotzdem  alle 
sich  zeitweise  höchst  unglücklich  fühlen,  mehr  als  50% 
vorübergehend  an  Selbstmord ideen  litten,  mehr  als  10% 
Selbstmordversuche  vorgenommen  haben,  fühlen  fast  sämt- 
liche den  homosexuellen  Trieb  so  sehr  als  einen  Teil 
ihrer  selbst,  daß  sie  sich  ohne  denselben  kaum  vorstellen 
können  und  meinen,  mit  demselben  eines  wesentlichen 
Lebensguts  beraubt  zu  werden.  Ein  urni scher  Student, 
den  ich  wegen  Schlaflosigkeit  hypnotisierte,  nahm  mir 
einmal  ein  förmliches  Versprechen  ab,  daß  ich  ihm  in  der 
Hypnose  nicht  an  seiner  Homosexualität  9  herumsuggeriere.  * 
Ich  gebe  noch  einige  Bemerkungen  Homosexueller  wieder, 
die  sich  auf  diesen  Punkt  beziehen.  Ein  Psychiater 
schreibt:  „Meine  Natur  hätte  mir  von  vorn  herein  klar 
sein  müssen.  Nur  künstliche  Konstruktionen  auf  Grund 
anerzogener  Begriffe  konnten  über  sie  hinwegtäuschen, 
sie  aber  nicht  im  Geringsten  unterdrücken.  Eine  Um- 
änderung meiner  Veranlagung  wünsche  ich  nicht,  da  ich 
damit  meine  ganze  Persönlichkeit  negieren  würde."  Ein 
Richter  äußert  sich:  „Ich  verspürte  schon  lange  vor  jeder 
körperlichen  Berührung  ein  so  inniges  Glücksgefühl  durch 
meine  Neigung,  sie  war  so  sehr  ein  Teil  meines  innersten 
Wesens,  daß  ich  nur  dann  anders  sein  möchte,  wenn  ich 
wüßte,  wie  ich  mich  alsdann  fühlen  und  befinden  würde.14 
Ein  alter  Pfarrer  bemerkt:  „Sollte  ich  noch  die  Aus- 
merzung des  §  175  erleben,  so  würde  nichts  zu  meinem 
Glücke  fehlen.  Ich  bin  der  festen  Überzeugung,  daß  mir 
der  sogenannte  anormale  Zustand  vom  Schöpfer  gegeben 
ist  und  für  mich  gerade  so  normal  ist,  als  der  gewöhn- 
liche Sexualzustand  für  die  übrigen  Menschen.  Ich  be- 
neide sie  nicht  im  geringsten  um  das  Kleinod,  welches  sie  im 
Weibe  besitzen,  sondern  danke  Gott,  daß  ich  meine  Liebe 
und  Zuneigung  einem  Jüngling  schenken  kann."  So  sehen 
wir,  daß  wie  der  Heterosexuelle  nicht  homosexuell,  auch 
der  Homosexuelle  nicht  heterosexuell  empfinden  möchte. 


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Diese  absolute  Kongruenz,  die  sich  ausnahmslos  auf 
alles  erstreckt,  was  es  in  der  Liebe  und  im  Geschlechts- 
trieb Physiologisches  und  Pathologisches,  Hohes  und 
Niederes,  Gutes  und  Böses,  Schönes  und  Häßliches  gibt, 
ist  nur  begreiflich  und  erklärlich,  wenn  es  sich  um  zwei 
völlig  analoge,  nebengeordnete  und  auch  in  ihren  Ursachen 
gleichgeartete  Gefühlsrichtungen  handelt. 


III.  Die  Unausrottbarkeit  der 
Homosexualität. 

Es  ist  anzunehmen,  daß  ein  Trieb  angeboren  ist,  wenn 
äußere  Einflüsse  nicht  imstande  sind,  denselben  umzu- 
wandeln; wenn  Homosexuelle  durch  Umstände  irgend 
.  welcher  Art  im  Verlaufe  ihres  Lebens  normal  fühlend 
werden,  so  würde  das  sehr  dafür  sprechen,  daß  es  sich 
um  eine  erworbene  Eigenschaft  handelt.  Schrenck-Notzing, 
der  unter  denjenigen,  die  Näcke  neuerdings ')  als  wirkliche 
Sachverständige  in  dieser  Frage  bezeichnete,  der  einzige 
Vertreter  der  Erwerbstheorie  ist,  sagt  mit  einem  gewissen 
Recht8):  Je  mehr  sich  die  Zahl  der  Fälle  häuft,  in  denen 
bleibende  therapeutische  Resultate  erzielt  worden  sind,  um 
so  geringer  erscheint  nach  unserer  Meinung  der  Anteil, 
den  die  erbliche  Disposition  in  der  Entstehung  dieser 
Anomalie  beanspruchen  kann."  Die  Therapie,  von  der 
hier  die  Rede  ist,  ist  die  hypnotische  Suggestionsbehand- 
lung. Aber  gerade  die  Wirksamkeit  dieses  Heilmittels 
kann  nach  allem,  was  verbürgt  über  die  Erfolge  der  Hyp- 
nose auch  bei  angeborenen  Eigenschaften  berichtet  ist? 
hier  als  beweiskräftig  nicht  herangezogen  werden. 

*)  Nücke,  Probleme  auf  dem  Gebiete  der  Homosexualität,  in 
der  AUg.  Zeitschr.  f.  Psychiatrie  etc.  S.  809. 
*)  S.  149  a.  a.  0. 


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Wenn  es  möglich  ist,  durch  Beeinflussung  der  Psyche 
körperliche  Veränderungen  wie  Brandblasen  hervorzu- 
rufen, wenn  man  Blindheit  und  Taubheit,  Anosmie  und 
Ageusie  suggerieren  konnte,  wenn  man  in  der  Hypnose 
tiefgreifende  Wirkungen  auf  die  Menstruationen  und 
Pollutionen  ausüben  kann,  Medien  zu  veranlassen  ver- 
mochte, nach  dem  Erwachen  „  etwas  zu  sehen,  was  nicht 
da  war,  etwas  nicht  zu  sehen,  was  da  war/  wenn  man 
alte  Leute  davon  überzeugte,  sie  seien  wieder  Kinder  ge- 
worden, warum  soll  es  denn  etwas  Ungewöhnliches  sein, 
Homosexuellen  Genuß   am  Weibe  zu  suggerieren?  Es 

Anme  rkung.  Man  vergleiche  über  die  hypnotische  Behand- 
lung der  Homosexualität  neben  von  Schrenck-Notzing:  DieSug- 
gestionatherapie  bei  krankhaften  Erscheinungen  des  Geschlechtssinns 
und  Krafft- Ebing:  Psychopathia  sexualis  S.  303  ff.  besonders 
Fuchs:  Therapie  der  anormalen  Vita  sexualis  1899,  S.  45;  Wetter- 
strand:  Der  Hypnotismus  und  seine  Anwendung  in  der  prak- 
tischen Medizin,  1891,  p.  52  ff.:  Bern  heim:  „Hypnotisnie",  Paris, 
1891.   S.  38. 

Über  Beeinflussung  und  Umwandlung  angeborener  Eigenschaften 
durch  Hypnose  findet  man  Berichte  ausführlich  angeführt  in: 

1.  Jame-Braid:  Neurypnology  or  the  rationale  of  nervous 
sleep  considered  in  relation  with  animal  magnetisme.  London. 
ChurchhiU.  1843. 

2.  A.  Li£bault:  Du  sorameil  et  des  etat«  analogue»,  considerOs 
surtout  au  point  de  vue  de  l'action  du  moral  sur  le  physiqne.  Paris. 
Masson,  1866. 

3.  A.  Liebault:  Le  sommeil  provoque  et  les  etat«  analogues. 
Paris.   Doris,  1889. 

4.  H  Bern  heim:  De  la  Suggestion  dans  IVtat  hypnotique  et 
dans  l'etat  de  veüle.   Paris,  1884. 

5.  H.  Bernheim:  Do  la  Suggestion  et  de  ses  applications  ä 
la  therapeutique.   Paris,  1886. 

6.  H.  Bernheim:  Hypnotisme,  Suggestion,  Psychotherapie. 
Etudes  nouvelles.   Paris,  1891. 

7.  R.  Haidenhain:  Der  sogenannte  tierische  Magnetismus. 
Physiologische  Beobachtungen.   Leipzig.  Breitkopf  &  Härtel.  1880. 

8.  Albert  Moll:  „Der  Hypnotismus".  Berlin.  Kornfeld.  lKxi». 


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würde  sicher  in  ähnlicher  Weise  auch  gelingen  —  ob 
derartiges  bereits  versucht  wurde,  ist  uns  nicht  bekannt 
—  Heterosexuellen  homosexuelle  Libido  einzuflößen. 
Würde  man  nun  aber  aus  der  Umwandlung  heterosexueller 
Empfindungen  den  Schluß  ziehen,  daß  der  Trieb  der 
Männer  zum  Weibe  nicht  angeboren,  sondern  erworben 
sei?  Mit  nichten,  ebensowenig  kann  man  es  dann  aber 
auch  aus  den  hypnotischen  „Heilungen*  Homosexueller. 
Ich  teile  nicht  die  pessimistische  Ansicht  Binswangers  J) 

9.  A.  Forel:  Der  Hypnotismus,  seine  psychologische,  medi- 
zinische, strafrechtliche  Bedeutung  etc.  Stuttgart.  Enke.  1895. 
(III.  Aufl.) 

10.  Ewald  Hecker:  Hypnose  u.  Suggestion  im  Dienste  der 
Heilkunde.   Wiesbaden.   Bergmann.  1898. 

11.  Otto  Stoll:  Suggestion  und  Hypnotismus  in  der  Völker- 
psychologie.  Leipzig.  Koehler.  1894. 

12.  Wetterstrand:  „Der  Hypnotismus".  Wien  und  Leipzig. 
1891.    S.  31. 

18.  J.  M.  Charcot:  „La  foi  c|ui  gucrit".  Revue  hebdomadaire. 
Tome  VII.   Dec.  1892. 

14.  K  ein  hold  Gerling:  Der  praktische  Hypnotiseur.  Berlin. 
Müller.   III.  Aufl.  1902. 

15.  Zeitschrift  für  Hypnotismus.  Seit  dem  Jahre  1893 
herausgegeben  von  A.  Forel  u.  O.  Vogt   Leipzig.  Barth. 

Wie  weit  sich  unter  bestimmten  Verhältnissen  die  ganze  Per- 
sönlichkeit unter  hypnotischem  Einfluß  umgestalten  kann,  zeigt 
die  noch  so  geheimnisvolle  Erscheinung  des  doppelten  Bewußtseins. 
Man  findet  darüber  näheres  in: 

1.  Max  De8soir:  Das  Doppel-Ich.   Leipzig,  Günther.  lti'MK 

2.  Azam:  Hypnotisrae  et  double  conscience.  Paris.  Alcan.  1H93. 

3.  Uson  Osgood:  „Duplex  personality"  Joura.  nerv,  and 
raent.  diseases.   Spt.  1893. 

4.  Freiherr  v.  Schrenck- Notzing:  Über  Spaltung  der 
Persönüchkeit  etc.    Wien,  Hölder,  1896. 

Endlich  auch  in: 

Robert  Macnish:  „The  philosophy  of  sleep",  Glasgow  und 
London. 

')  Biuswanger:  Verwertung  der  Hypnose  in  Irrenanstalten. 
Therap.  Monatshefte  1892.   Heft  3  u.  4,  S.  167. 


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„daß  den  Aussagen  der  an  perverser  Sexualempfindung 
Leidenden  über  Erfolge  in  der  Hypnose  kein  Glauben 
beizumessen  sei,"  umsomebr  stimme  ich  aber  Kratft-Ebing, 
der  —  gleich  groß  als  Kenner  der  Hypnose  und  der 
Homosexualität  —  erklärt, 1 )  daß  selbst  die  dauerndsten 
Erfolge  der  Hypnose  „ nicht  auf  wirklicher  Heilung, 
sondern  auf  suggestiver  Dressur  beruhen1*;  „es  seien 
bewunderungswürdige  Artefakte  hypnotischer 
Kunst,  keineswegs  Umzüchtungen  der  psychosexualen 
Existenz."  Krafft-Ebing  führt,  als  bezeichnend  dafür, 
den  glänzendsten  freile  rfolg  Schrenck-Notzings  an,  dessen 
Repräsentant  nach  vollendeter  .Heilung*  von  sich  selbst 
sagte:  „Ich  fühle  immer  eine  gewisse,  nicht  zu  über- 
windende Schranke,  die  nicht  auf  moralischen  Gründen 
basiert,  sondern,  wie  ich  glaube,  direkt  auf  die  Behandlung 
zurückzuführen  ist.*  Der  Verfasser  der  Psychopathia 
sexualis  schließt  diese  Bemerkungen  mit  dem  Satze: 
.Jedenfalls  beweisen  solche  „Heilungen-  (die  hier  und 
vorher  bei  diesem  Wort  angebrachten  Anführungsstriche 
finden  sich  im  Original)  nichts  gegen  die  Annahme  des 
originären  Bedingteeins  der  konträren  Sexualempfindung.  • 
Ich  selbst  habe  sehr  viele  Urninge  gesehen,  die  sich  ver- 
geblich hypnotischen  Kuren  unterzogen  haben.  Mir  ist 
ein  Jüngling  im  Gedächtnis  von  so  femininer  Beschaffen- 
heit, daß  außer  dem  eigentlichen  Genitalapparat  auch 
nicht  das  geringste  männliche  an  ihm  zu  entdecken  war. 
Derselbe  hatte  sich  über  ein  Jahr  erfolglos  bei  einem 
süddeutschen  Kollegen  hypnotisieren  lassen.  Ich  kenne 
persönlich  nur  einen  Homosexuellen,  der  mir  mitteilte, 
daß  er  sich  durch  die  suggestive  Behandlung  des  Kollegen 
Fuchs  in  Wien  von  seinem  gleichgeschlechtlichen  Triebe 
befreit  fühle.  Doch,  wie  gesagt,  wenn  auch  hundert 
solcher  Heilberichte  vorliegen  würden,  sie  würden  nicht 

')  Psychop.  »ex.   S.  311  ft'. 


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—    108  — 


das  Erworbenseiii  der  konträren  Sexualempfindung  er- 
weisen, abgesehen  davon,  daß  die  Realsuggestionen,  die 
das  Leben  dem  homosexuell  Veranlagten  erteilt,  die  Auto- 
und  Fremdsuggestionen,  die  fortgesetzt  auf  ihn  wirken, 
viel  stärker  sind,  als  die  Verbalsuggestionen  eines  noch 
so  befähigten  Arztes.  Wären  äußere  Einflüsse  imstande, 
die  Triebrichtung  zu  ändern,  so  müßte  der  gleich- 
geschlechtliche Trieb  längst  erloschen  sein. 

Wie  sehr  ist  die  ganze  Erziehung  darauf  gerichtet, 
aus  dem  u mischen  Knaben  einen  Vollmann  zu  entwickeln; 
zu  Hause  und  in  der  Schule  wird  er  genau  so  wie  die 
anderen  normalen  Kinder  erzogen,  schon  früh  wird  ihm 
alles  förmlich  als  Schande,  zum  mindesten  als  Unschick- 
lichkeit, ausgelegt,  was  man  als  dem  anderen  Geschlechte 
zukömmlieh  ansieht.  Fangen  dann  die  Kameraden  oft 
schon  mit  dreizehn,  vierzehn  Jahren  an,  für  das  Weib 
zu  schwärmen,  so  gibt  sich  der  homosexuelle  Jüngling 
die  größte  Mühe,  es  den  andern  nachzutun,  er  schämt 
sich  förmlich,  daß  er  noch  „ keine  Flamme"  hat  und  ihm 
kein  Name  einfallen  will,  wenn  es  im  Rundgesange  heißt: 
„Bruder,  Deine  Liebste  heißt?"  Sehr  häufig  tritt  auch 
die  erste  sexuelle  Verführung  von  weiblicher  Seite, 
namentlich  durch  Dienstmädchen,  ein.  Aber  so  wenig 
ein  Heterosexueller  durch  die  ebenfalls  nicht  seltene  erste 
geschlechtliche  Erregung  einer  männlichen  Person  homo- 
sexuell wird,  ebenso  wenig  wird  ein  Homosexueller  dadurch 
weibliebend.  Eine  ganze  Reihe  von  Urningen  erklären 
auf  das  allerbestimmteste,  daß  sie  sich  genau  erinnern^ 
daß  die  erstmaligen  Erregungsversuche  vom.  anderen  Ge- 
schlecht ausgingen.  So  schreibt  einer  unserer  bedeutenderen 
Schriftsteller:  „Ich  lege  das  Hauptgewicht  darauf,  daß, 
trotzdem  der  erste  sexuelle  Anstoß  weiblicher  Art  war 
—  eine  Kindsmagd  verführte  mich  — ,  trotzdem  mir  das 
weibliche  Geschlecht  durch '  Erziehung  von  Jugend  an 
sozusagen  auf  dem  Präsentierteller  gereicht  wurde  und 


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—    109  — 


meine  Lektüre  nur  die  Weiberliebe  verherrlichte  —  die 
Neigung  zum  männlichen  Geschlecht  doch  eintrat,  sobald 
ich  des  Zwanges  ledig  war."  In  der  Tat  ist  auch  die 
Suggestionskraft  der  gesamten  Literatur,  die  in  ihren 
Romanen  und  Epen,  ihren  Dramen  und  lyrischen  Gedichten 
nahezu  ausschließlich  die  normale  Liebe  zum  Mittelpunkte 
hat,  nicht  imstande,  den  Trieb  auf  das  Weib  zu  richten, 
seine  Richtung  ist  unerbittlich  und  unveränderlich.  Wenn 
es  dem  jungen  Mann  allmählich  klar  wird  —  was  meist 
um  das  zwanzigste  Jahr  herum  der  Fall  ist  —  daß  sich 
sein  Begehren  von  dem  seiner  Umgebung  wesentlich  unter- 
scheidet, beginnt  gewöhnlich  ein  Kampf  gegen  sich  selbst, 
der  an  Stärke  wohl  kaum  seines  gleichen  hat.  Ein  homo- 
sexueller Künstler  berichtet:  „Ich  habe  ganz  furchtbar 
gekämpft  mit  Aufgebot  meiner  ganzen  Willenskraft;  ver- 
gebens; ich  habe  so  gelitten,  daß  ich  eine  langjährige 
Nervenkrankheit  bekam.  Kaum  genesen,  begann  der 
aufreibende  Kampf  von  neuem.  Als  ich  merkte,  daß  sich 
die  ureigenste  Natur  nicht  umwandeln  läßt,  verfiel  ich 
in  eine  tiefe,  lange  Melancholie,  die  sich  —  obwohl  ich 
nie  äußere  Konflikte  hatte  —  bis  zum  ärgsten  Lebens- 
überdruß steigerte  etc."  Ein  Schweizer  Uranier  schreibt: 
„Von  Jugend  an  bin  ich  hartnäckig  gegen  mich  ange- 
gangen und  habe  mir  die  größte  Mühe  gegeben,  meine 
Neigungen  zu  beherrschen.  Es  gelang  mir  hie  und  da, 
aber  leider  machte  ich  stets  dieselbe  Erfahrung;  je  länger 
ich  anscheinend  siegreich  den  Trieb  unterdrückte,  um  so 
heftiger  kehrte  er  auf  einmal  zurück.  Hauptsächlich  ge- 
schieht dies  nachts  beim  plötzlichen  Erwachen,  wenn  die 
Willenskraft  durch  den  Schlaf  vermindert  ist.  Was  habe 
ich  nicht  alles  angewandt :  feste  Entschlüsse  und  Gelübde, 
Ärzte  zu  Rate  gezogen,  Wasserkuren,  Hypnose  und 
Elektrizität,  systematische  Ablenkung  der  gefährlichen 
Gedanken  durch  körperliche  Übungen,  Ackerbau,  Reisen, 
Militärdienst,  Studien,  Lesen  etc.    Ich  opferte  geliebte 


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—    110  — 


Gegenstände ;  weder  Religion  noch  Philosophie  waren  mir 
behülflich.  Ich  litt  stark  an  Lebensüberdruß.  Vier  Jahre 
war  ich  leidenschaftlich  in  einen  jungen  Mann  gleichen 
Alters  verliebt,  bis  derselbe  im  24.  Jahre  starb,  ohne  daß 
ich  ihm  jemals  eine  Äußerung  machen  durfte.  Es  war 
ein  Höllenleben."  Noch  einen  urnisch en  Arbeiter  wollen 
wir  hören:  „Ich  hatte  von  meinem  19. — 21.  Jahr  ein  sehr 
inniges  und  ideales  Freundschaftsverhältnis,  mein  Freund 
war  ein  Jahr  jünger  als  ich,  von  großer  Lebhaftigkeit^ 
Natürlichkeit  und  Fröhlichkeit.  Nichts  wäre  imstande 
gewesen,  uns  zu  trennen.  —  Da  entdeckten  seine  Eltern 
in  ihm  den  Urning  und  jagten  ihn  mit  Schimpf  und 
Schande  aus  dem  Hause.  Er  ging  nach  Paris  und  ist 
seit  4  Jahren  verschollen.  O,  diese  elterliche  Unvernunft! 
Damals  lernte  ich  erkennen,  daß  auch  ich  voll  und  ganz 
zu  jenen  von  der  ehrbaren  Welt  Ausgeschlossenen  gehöre, 
öfter  als  einmal  war  ich  nahe  daran,  diesem  jammervollen 
Leben  ein  Ende  zu  machen.  Was  ich  infolge  meiner 
urnischen  Natur  gekämpft  und  gelitten,  vermag  ich  auch 
nicht  annähernd  zu  schildern.  Wenn  ich  nicht  los- 
knallte, so  ist  es  wahrhaftig  keine  Feigheit  gewesen, 
sondern  allein  die  Erkenntnis  hielt  mich  ab,  daß  ein 
größerer  Mut  dazu  gehört,  auszuharren,  und  daß  nicht 
die  Natur,  sondern  die  kurzsichtige  Menschheit  in  Ver- 
blendung den  Fluch  über  uns  geschleudert  hat,  welcher 
—  ich  sage  leider  —  hundertfach  auf  sie  zurückfiel,  indem 
sie  tausende  von  Menschen,  deren  geistige  Tätigkeit  für 
sie  von  größtem  Nutzen  gewesen  wäre,  zur  Verzweiflung 
und  in  den  Tod  getrieben  hat." 

Unter  den  Mitteln,  die  angewandt  wurden,  den  homo- 
sexuellen Trieb  auszurotten,  steht  die  Religion  obenan. 
Sehr  viele  Urninge  haben  jahrelang  auf  den  Knieen  ge- 
legen und  Gott  um  „Errettung"  angefleht.  Eine  nicht  un- 
beträchtliche Anzahl  hat  mitgeteilt,  daß  sie  in  diesem 
langen   vergeblichen  Ringen  schließlich   ihren  Glauben 


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—  111  — 


verloren  haben.  Ich  zitiere  zwei.  Der  eine  —  ein  Arbeiter 
—  schreibt:  „Durch  meine  sehr  fromme  Mutter  stark  zur 
Religion  erzogen,  habe  ich  nach  Erkenntnis  meines  see- 
lischen Zustandes  Gott  in  heißen  Gebeten  angefleht,  er 
solle  mir  in  meiner  Not  einen  Ausweg  zeigen.  Als  ich 
sah,  daß  sich  trotz  eiserner  Beherrschung  und  ungeheurer 
Kämpfe  mein  Zustand  nicht  änderte,  habe  ich  mein  Gott- 
vertrauen verloren."  Ein  zweiter  berichtet:  .Ich  rang 
zu  dem  Gott,  der  mir  in  der  Schule  gelehrt  war,  mich 
von  dem  gleichgeschlechtlichen  Triebe,  den  ich  für  sünd- 
haft hielt,  zu  befreien.  Der  Himmel  aber  blieb  taub.  Ich 
kam  mir  oft  vor  wie  ein  Schiff,  das  mitten  auf  dem 
Ozean  den  Wellen  preisgegeben  ist.  Obwohl  ich  in 
solchen  Stunden  dann  niederkniete  und  im  Gebete  um 
Erlösung  schrie,  blieb  ich  verlassen.  Schließlich  gerieten 
darüber  alle  meine  religiösen  Anschauungen  ins  Wan- 
ken. Jetzt  glaubte  ich  an  nichts  mehr.  Ich  kann 
nicht  mehr  glauben. Äl)    Einige  stark  religiöse  Naturen 


')  Anmerkung:  Vor  kurzem  schrieb  mir  zu  diesem  Punkt  ein 
Ordensgeistlicher  folgendes:  Ich  zweifle  nicht  daran,  dass  zahlreiche 
Urninge  um  ihrer  Geschlechtsnatur  willen  den  Glauben  verlieren.  Sie 
kommen  allmählich  dazu, sich  selbst  als  lebendige  Argumente  wider  die 
Bibel  und  wider  die  Lehron  der  Kirche  zu  betrachten.  Man  geht 
sicher  nicht  fehl,  wenn  man  annimmt,  dass  der  Anteil  des  Uranismus 
an  dem  Kampf  gegen  das  kirchliche  Prinzip  von  jeher  ein  sehr  be- 
trächtlicher gewesen  ist.  Andere  werden  Zweitier  und  Grübler. 
Auch  homosexuelle  Geistliche,  und  vielleicht  diese  gerade  am 
meisten,  gehen  oft  ihrer  Glaubensfreudigkeit  verlustig  und  kämpfen 
ihr  Leben  lang  mit  schweren  Zweifeln.  Je  mehr  die  Reflexion  Uber 
sich  selbst  ihr  Innenleben  beherrscht,  um  so  schwerer  wird  es 
ihnen,  die  religiöse  Disziplin  ihrer  Gedanken  aufrecht  zu  erhalten. 
Wieder  andere,  und  dahin  dürften  wohl  ganz  vorzugsweise  Theologen 
gehören,  regt  das  (Jeheimnis,  das  auf  dem  Grund  ihrer  Seele  liegt, 
zu  positiver  Geistesarbeit  an.  Die  Argumente  aus  dem  Consensus 
communis  und  aus  der  Auctoritas  doctrinalis,  denen  der  Urning 
überhaupt  mit  einem  für  ihn  naturgemäßen  Skeptizismus  gegen- 
übersteht, werden  ihnen  zum  Gegenstand  der  Kritik  und  sie  fangen 


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—    112  — 


kommen  nach  langen  vergeblichen  Kämpfen  zu  der 
Überzeugung,  daß  ihr  Zustand  von  Gott  gewollt  sein 
muß.  Ein  katholischer  Graf  sagt:  „Die  Annahme,  meine 
Gleichgeschlechtlichkeit  sei  Sünde,  Laster,  Unnatur,  er- 
scheint mir  als  Beleidigung  des  allweisen  Weltenschöpfers." 
Und  ein  protestantischer  Pfarrer  meint:  „Wenn  ich  um 
meines  mir  eingepflanzten  Triebes  willen  ein  Verbrecher 
bin,  dann  ist  es  der  Schöpfer,  der  mich  als  Verbrecher 
erschaffen  hat.  Das  aber  heißt  doch,  den  Schöpfer  einer 
Untat  bezichtigen.  Gott  erschafft  niemand  als  Verbrecher. 
Wer  das  sagt,  lästert  Gott."  Einige  wenige  endlich  be- 
sitzen die  Kraft,  sich  durch  die  Religion  zur  Abkehr 
durchzuringen.  Im  unklaren  über  die  Natur  ihrer 
Neigungen,  die  sie  als  niedrige  Fleischeslust  empfinden, 
gelangen  sie  schließlich  —  meist  nach  Ablegung  von 
Keuschheitsgelübden  —  zum  Enthaltsamkeit^  und  Sittlich- 
keitsfanatismus. Ich  behandele  ein  25  Jahre  altes  Mit- 
glied des  weißen  Kreuzes  an  hochgradiger  Neurasthenie, 
an  dessen  Uranismus  nicht  der  mindeste  Zweifel  besteht. 
Er  zeigt  die  vier  charakteristischen  Stigmata,  somatische, 
psychische  Zeichen,  große  Abneigung  gegen  das  Weib, 
das  er  noch  nie  berührte,  und  einen  Freundschafts- 
enthusiasmus, über  dessen  geschlechtlichen  Grundcharakter 
er  nicht  unterrichtet  ist.  Nachdem  er  viele  Jahre  mastur- 
bierte,  hat  er  das  Gelübde  der  Keuschheit  abgelegt,  das 
er  seit  drei  Jahren  durchführt. 

an,  energisch  zwischen  Dogma  und  Sehulmeinung,  zwischen  kulturell 
bedingter  äusserer  Form  und  wesentlichem  Inhalt,  zwischen  objek- 
tivem und  subjektivem  Christentum  zu  unterscheiden.  Sie  betonen 
das  Recht  der  Naturwissenschaft  und  der  weltlichen  Wissenschaft 
überhaupt  sowie  die  Notwendigkeit  des  Anschlusses  an  sie,  sie  ver- 
urteilen die  übertriebene  Berücksichtigung  d«r  Tradition  und  ihrer 
Auffassungen,  sie  bekennen  sich  zum  Grundsatz  „des  durch  das 
Naturgesetz  verbürgten  Hechtes  auf  die  ganze  Wahrheit",  sie 
werden  notwendig  dahin  gedrängt,  wo  das  Losungswort  „Reform" 
und  „Fortschritt"  ausgegeben  ist. 


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—   113  — 


Noch  weniger  wie  die  Religion  ist  das  Gesetz  im 
Staude,  die  Homosexualität  nennenswert  einzuschränken. 
Selbst  die  drohende  Todesstrafe,  die  in  einigen  Ländern 
früher  auf  dieser  Art  der  Liebe  ruhte,  vermochte  die 
Urninge  trotz  ihrer  Ängstlichkeit  nicht  abzuschrecken. 
Die  Ubereinstimmende  Erfahrung  von  Leuten,  die  wirklich 
im  Stande  sind,  darüber  ein  Urteil  abzugeben,  stellen  es 
ganz  außer  Zweifel,  daß  homosexuelle  Handlungen  in 
gleicher  Häufigkeit  vorkommen,  ob  Gesetze  bestehen 
oder  nicht;  so  sind  diese  Akte  in  Deutschland  und 
England  keinesfalls  seltener,  nach  Ansicht  vieler  Ur- 
ninge sogar  eher  häufiger  als  in  Holland  und  Frank- 
reich, wo  die  entsprechenden  Paragraphen  gestrichen 
sind.  Mir  teilten  Homosexuelle  mit,  daß  ihr  Haupt- 
gedanke im  Gefängnis  die  Sehnsucht  nach  dem  Freunde 
war,  durch  dessen  Umgang  sie  ihre  Freiheit  ver- 
loren hatten.  Wiederholt  habe  ich  von  urnischen 
Richtern  gehört,  wie  sehr  sie  gerade  unter  dem  Konflikt 
zwischen  ihren  Berufspflichten  und  den  eigenen  Trieben 
zu  leiden  hatten.  Ein  noch  junger  Jurist  schrieb  mir: 
„Einmal  hatte  ich,  selbst  homosexuell,  als  Staatsanwalt 
gegen  Homosexuelle  zu  plaidiren,  einmal  als  Richter 
über  einen  Homosexuellen  zu  urteilen,  einmal  über  mir 
bekannte  Homosexuelle,  darunter  war  ein  guter  Freund 
und  einer,  mit  dem  ich  oft  geschlechtlich  verkehrt,  als 
Richter  mitzuurteilen  wegen  Vergehen  gegen  §  175. 
„Letztere  Zwangslage  wurde  mir  erspart,  indem  ich  mich 
durch  einen  anderen  Richter  vertreten  ließ." 

Auch  der  Verlust  der  Lebensstellung  nützt  nichts, 
ebenso  wenig  schützen  die  Erpressungen,  von  deren 
Furchtbarkeit  und  Ausdehnung  sich  niemand  eine  Vor- 
stellung machen  kann,  da  ja  nur  ein  ganz  verschwindender 
Bruchteil  an  die  Öffentlichkeit  gelangt.  Es  ist  das  Gleiche 
wie  mit  venerischen  Ansteckungen,  unehelichen  Schwänge- 
rungen etc.  der  Heterosexuellen,  von  denen  wir  ja  auch 

Jahrbuch  V.  8 


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—    114  — 


wissen,  daß  sie  trotz  der  entstehenden  Unannehmlichkeiten, 
vor  Wiederholung  normalsexueller  Akte  mit  zweifelhaften 
Personen  selten  abhalten. 

Der  Konflikt  mit  der  Familie,  unter  dem  der  ge- 
fühlvolle Urning  ganz  besonders  heftig  leidet,  vermag 
ebenfalls  nichts.  Am  ehesten  scheinen  noch  die  Mütter 
für  das  abweichende  Empfindungsleben  der  Söhne  Ver- 
ständnis zu  haben.  Ein  Urning  erzählte  mir  einmal,  daß, 
als  seine  Mutter  auf  dem  Sterbebette  lag  und  ihre  fünf 
Kinder  mit  dem  Gatten  um  sich  versammelt  hatte,  sie 
als  letzten  ihn  zu  sich  herabzog,  ihn  länger  umarmte  als 
alle  andern  und  mit  sterbender  Stimme  sagte:  „Grüße 
mir  Deinen  Freund."  .An  dem  Blick,  mit  dem  sie  mich 
dabei  ansah/1  schloß  der  Mann,  „merkte  ich,  daß  meine 
Mutter,  mit  der  ich  nie  darüber  gesprochen,  alles  wußte." 

Als  eines  der  wirksamsten  Mittel  zur  Bekämpfung 
homosexueller  Triebe  wird  von  manchem  der  Geschlechts- 
verkehr mit  dem  Weibe  und  die  Eheschließung  angesehen. 
Schrenck-Notzing  rät  *)  sogar :  „Man  bestimme  solche  In- 
dividuen (gemeint  sind  Urninge)  temperamentvolle  Frauen 
mit  lebhaftem  Geschlechtstrieb  zu  heiraten."  Ich  kenne 
unter  vielen  Hunderten  auch  nicht  einen  einzigen,  der 
durch  den  heterosexuellen  Verkehr  seines  Triebes  Herr 
geworden  wäre,  im  Gegenteil,  der  inadäquate,  oft  er- 
zwungene Verkehr  scheint  oft  einen  Anreiz  zu  geben,  die 
subjektiv  natürliche  Befriedigung  zu  suchen.  Es  stimmt 
diese  Erfahrung  damit  überein,  daß  von  Normalsexuellen 
den  Urningen  gegenüber  oft  angegeben  wird,  ein  homo- 
sexueller Akt  reize  sie  zu  heterosexuellem  Verkehr. 

Die  Regelung  der  Lebensweise  sowie  physikalische, 
diätetische  und  pharmakologische  Medikationen  sind  wohl 
imstande,  hie  und  da  das  Beherrschungsvermögen,  die 
Willenskraft,  die  Triebstärke  günstig  zu  beeinflußen,  nie 

»)  a.  a.  0.   S.  205. 


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—  115 


aber  den  Trieb  selbst  in  seiner  Richtung  abzuändern. 
Auch  in  Spezialheilanstalten,  die  Bloch  und  andere  für 
Homosexuelle  vorschlagen,  dürfte  schwerlich  jemand  „ge- 
heilt" werden.  Mir  ist  ein  junger  Kollege  bekannt,  der 
auf  Veranlassung  seines  Vaters,  der  ebenfalls  Arzt  ist, 
zur  Behandlung  in  eine  geschlossene  Anstalt  ging,  nach 
einigen  Wochen  aber  bereits  vom  Chefarzt  gefragt  wurde, 
ob  er  nicht  lieber  als  Assistenzarzt  der  Heilanstalt  ange- 
hören wolle,  ein  Vorschlag,  der  acceptiert  wurde.  Ich 
kenne  Homosexuelle,  die  aus  therapeutischen  Gründen 
eine  sehr  energische  Sportstätigkeit  entfalteten,  andere, 
die  Vegetarier,  wieder  andere,  die  alkoholabstinent  wurden, 
ohne  daß  sie  die  Richtung  ihres  Triebes  im  geringsten 
beeinflußen  konnten. 

Als  ein  etwas  besseres  Mittel  wirkt  intensiv  geistige 
Arbeit,  durch  die  viele  sich  zu  betäuben  suchen.  Daß 
zwischen  geistiger  und  geschlechtlicher  Betätigung  eine 
Art  Gegensatz  besteht,  ist  ja  seit  langem  bekannt. 
Besonders  scheint  die  rein  verstandesgemäße  Tätigkeit, 
wie  sie  sich  beispielsweise  bei  den  großen  Philosophen 
vorfindet  —  man  denke  an  das  große  Dreigestirn 
des  XIX.  Jahrhunderts,  Kant,  Schopenhauer,  Nietzsche 
—  die  Asexualität  zu  begünstigen;  eine  dauernde 
Unterdrückung  oder  Ablenkung  des  Geschlechtstriebes 
gelingt  aber  nur  verschwindend  wenigen,  ja  es  scheint, 
als  ob  gewisse  Arten  geistiger  Produktion,  die  mehr  im 
Gefühlsleben  wurzeln,  also  künstlerische,  sogar  einer 
Steigerung  der  Libido  eher  förderlich  sind. 

Alles  in  allem  kann  man  sagen,  daß  der  homo- 
sexuelle Trieb  durch  gewisse  Urnstände  wohl  in  seiner 
Gewalt  beeinflußbar,  aber  an  und  für  sich  völlig  un- 
ausrottbar ist,  geschweige  denn,  daß  es  möglich  ist, 
ihn  in  einen  heterosexuellen  umzuwandeln. 

So  wenig  äußere  Faktoren  den  homosexuellen  in 
einen  heterosexuellen  Trieb  abändern  können,  genau  so 

8* 


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-    116  — 


wenig  können  sie  aber  auch  den  Heterosexuellen  —  wie 
es  die  Anhänger  der  Erwerbstheorie  glauben  —  homo- 
sexuell machen.  Die  von  uns  angeführten  Tatsachen 
stehen  im  denkbar  größten  Widerspruch  zu  der  Meinung 
Blochs,  daß  der  Geschlechtstrieb  durch  Gelegenheitsur- 
sachen ganz  außerordentlich  bestimmbar  sei  und  daß  wir 
im  Variationsbedürfnis  das  ,Ur-  und  Grundphänomen  des 
Geschlechtslebens"  zu  suchen  haben.1)  Geben  äußere 
Einwirkungen  für  psychologische  Zustände  fast  niemals 
einen  zureichenden  Erklärungsgrund,  beruhen,  wie  —  wenn 
ich  nicht  irre  —  Möbius  einmal  sagt,  a Erklärungen  aus 
dem  Milieu  fast  stets  auf  Oberflächlichkeit",  so  trifft  dies 
in  hervorragendem  Maße  bei  einem  Triebe  zu,  der,  wie 
wir  sahen,  aufs  innigste  mit  der  ganzen  Persönlichkeit 
verwachsen  ist,  der  vielleicht  sogar  die  Basis  aller  übrigen 
psychischen  Erscheinungen  bildet  Die  zuerst  von  ßinet 
in  der  Revue  philosophique  (Paris  1887.  Nr.  8)  aufge- 
stellte, später  in  ähnlicher  Weise  oft  wiederholte  Ver- 
mutung, daß  die  konträre  Sexualempfindung  durch  „patho- 
logische Associationen*  in  frühester  Kindheit,  durch  „einen 
„choc  fortuit",  ein  psychisches  Trauma  bedingt  sei,  ist 
eine  bisher  durch  kein  Tatsachenmaterial  erhärtete  Hypo- 
these. Wenn  es  wirklich  lediglich  darauf  ankäme,  ob 
jemand  die  erste  Erektion  durch  ein  Weib  oder  durch 
einen  Mann  gehabt  hat,  dann  müßte  die  Zahl  der  Homo- 
sexuellen weit  größer  sein,  da  nachweislich  in  den  Schulen 
sehr  viele  zuerst  gleichgeschlechtlich  erregt  werden.  WTie 
soll  aber  ein  derartiger  choc  die  doch  meist  im  Vorder- 
grunde stehende  negative  Seite  der  Erscheinung,  die  Ab- 
neigung gegen  das  Weib,  erklären  und  wie  vor  allem  soll 
er  imstande  sein,  eine  solche  Umgestaltung  der  ganzen 
körperlichen  und  geistigen  Beschaffenheit  hervorzurufen, 
wie  sie  doch  beim  Homosexuellen  die  Regel  bildet?  Ich 

")  a.  a.  0.  Band  II.  S.  364. 


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—  117 


erinnere  mich  der  Bemerkung  eines  Kollegen,  dem  ich 
einmal  einen  Homosexuellen  vorstellte,  der  in  jeder  Linie 
seines  Gesichts,  in  der  kleinsten  Bewegung,  in  der  Stimme 
und  im  ganzen  Gebaren  den  geborenen  Urning  verriet. 
Der  Kollege  rief  mit  feiner  Ironie  aus:  »Wie  stark  muß 
bei  dem  Manne  der  choc  fortuit  gewesen  sein!" 

Würden  wir  übrigens  annehmen,  was  ich  für  ganz  aus- 
geschlossen halte,  daß  eineoccasionelle  Ideenassociation  post 
partum  den  Geschlechtstrieb  so  fest  zu  determinieren  und 
die  ganze  Individualität  dementsprechend  umzugestalten 
imstande  wäre,  so  würde  das  nach  allem  früheren  die  Auf- 
fassung nicht  beeinträchtigen  können,  daß  es  sich  hier  um 
eine  unveränderlich  normierte  und  unverschuldete  Eigen- 
schaft handelt.  Im  Widerspruch  mit  der  soeben  erwähnten 
Theorie  steht  die  Ansicht  derer,  welche  glauben,  daß  nicht 
sowohl  der  erste  Eindruck,  sondern  mehr  die  Sucht  nach 
Abwechslung,  das  Bedürfnis  nach  dem  Neuen  unter 
dem  Einfluß  »äußerer  Reize"  das  Entscheidende  sei 
(Bloch,  II.  B.,  S.  260  u.  364).  Beide  Ätiologieen  haben 
das  gemeinsam,  daß  sie  Gelegenheitsursachen  für  Grund- 
ursachen, Anlässe  für  Bedingungen  halten.  Die  geschil- 
derten Reize  sind  gänzlich  wirkungslos,  wenn  nicht  die 
angeborene  Anlage  als  das  wahre  ätiologische  Moment 
vorhanden  ist.  Bloch  hat  das  Verdienst,  in  seiner  fleißigen 
Arbeit  eine  Reihe  von  Umständen  zusammengestellt  zu 
haben,  die  zur  Manifestation  des  Triebes  den  Anstoß  geben, 
von  dessen  Stärke  es  abhängig  sein  wird,  ob  er  selbständig 
hervorbricht  oder  Gelegenheiten  bedarf,  die  ihn  aus  dem 
Latenzstadium  erwecken.  Daß  die  zahlreichen  angeführten 
Gründe  —  über  60  unmöglich  als  ausreichend  ange- 
sehen werden  können,  geht  mit  Sicherheit  daraus  hervor, 
daß  es  wohl  Uberhaupt  keinen  Menschen  gibt,  der  nicht 
im  Leben  einem  oder  mehreren  der  genannten  Faktoren 
nachdrücklichst  und  wiederholt  ausgesetzt  war.  Tatsäch- 
lich wird  von  diesen  aber  nur  ein  ganz  kleiner  Teil  homo- 


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—    118  — 


sexuell.  Derselbe  Reiz  läßt  den  einen  vollständig  kalt 
oder  beeinflußt  ihn  nur  ganz  vorübergehend,  für  eiuen 
andern  bildet  er  das  höchste  Lustgefühl,  und  er  beginnt 
sich  dauernd  homosexuell  zu  betätigen.  Der  Grund  hier- 
für kann  nur  in  der  verschieden  gearteten  Psyche 
der  Beteiligten  gefunden  werden,  nur  die  unterschiedliche 
Konstitution  kann  bewirken,  daß  sich  Menschen  denselben 
Umständen  gegenüber  so  unterschiedlich  verhalten.  Deß- 
halb  ist  das  wesentliche  die  angeborene  Be- 
schaffenheit. Gerade  daß  diese  äußeren  Eindrücke, 
wie  Bloch  meint,  mit  solcher  Leichtigkeit  Homosexualität 
erzeugen,  beweißt  ja,  eines  wie  geringen  Anstoßes  es  be- 
darf, den  vorhandenen  Trieb  zu  erregen. 

Es  gibt  nach  Blochs  Ätiologie  der  Psychopathia 
sexualis  fast  nichts,  was  nicht  als  Entstehungsursache 
der  Homosexualität  in  Betracht  gezogen  werden  müßte; 
es  hat  förmlich  etwas  Rührendes,  zu  beobachten,  wie  sich 
dieser  eifrige  Autor  abmüht,  alle  nur  möglichen  äußeren 
Anlässe  zusammenzutragen,  und  dabei  an  dem  ausschlag- 
gebenden inneren  Faktor  gänzlich  vorübersieht.  Unter 
den  Dingeu,  die  allein  durch  ihre  Einwirkung  Homo- 
sexualität erzeugen  sollen,  befinden  sich  vielfach  die  voll- 
kommensten Gegensätze.  So  führt  Bloch  als  Ursachen 
der  Homosexualität  an  zu  heißes  (Bd.  I.  S.  21  u.  174)  und 
zu  rauhes  (S.  33)  Klima,  Askese  (S.  97)  und  Über- 
sättigung (S.  67,  S.  221),  Ehelosigkeit  (S.  61)  und  Viel- 
weiberei (S.  170),  Jugend  (S.  52)  und  Greisenalter  (S.  53), 
mangelnden  (S.  38)  und  übermäßigen  (S.  68)  Geschlechts- 
trieb, Verehrung  (S.  74)  und  Verachtung  (S.  96)  der 
Körperschönheit,  Anblick  des  bekleideten  (S.  141)  und 
des  nackten  Körpers  (S.  185,  221).  Leben  in  Arbeiter- 
wohnungen (S.  179)  und  bei  Hofe  (S.  179),  in  Fabriken 
(S.  184)  und  auf  dem  Lande  (S.  51). 

Als  weitere  ätiologische  Momente,  welche  bei  normal- 
sexuellen gesunden  Menschen  zur  Homosexualität  führen 


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—    119  — 


sollen,  nennt  Bloch  Berufe,  die  mehr  dem  weiblichen 
Charakter  entsprechen  wie  die  der  Köche,  Friseure, 
Damenschneider,  Damenkomiker  (S.  65),  sehr  lebhafte 
oder  irregeleitete  Phantasie  (8.  70)  besonders  beim  Künstler 
(S.  74),  religiösen  Affektzustand1)  (S.  78  ff).  Abnormitäten 
der  Genitalien  *)  (S.  126),  übermäßige  Kleinheit  des 
membrum  virile,  abnorme  Weite  oder  Kürze  der 
Vagina  (S.  127),  Gonorrhoe  (S.  127),  Kastraten-  und 
Eunuchen  tum  (S.  128),  körperlichen  Hermaphrodit  ismus 
(S.   130),  Onanie  (S.  132),  chronischen  Alkoholismus8) 


^Anmerkung:  Bloch  erwähnt  die  mohamedanische  Sekte  der 
Sutis  und  zitiert  F.  v.  Hellwald*),  welcher  berichtet,  daß  Tagy- 
äldyn-Kaschy  zu  beweisen  versuchte,  daß  nur  ein  Päderast  ein 
großer  Sufi  sein  könne.  Bloch  fügt  diesem  Zitat  wörtlich  hinzu: 
„Hier  haben  wir  also  bereits  ein  typisches  Beispiel  einer  rein  reli- 
giösen Entstehung  und  Ausübung  der  homosexuellen  Befriedigung 
des  Geschlechtslebens.44  Diese  kühne  Hypothese  erinnert  stark  an 
die  später  (S.  117)  ebenfalls  von  Bloch  erwähnte  Vermutung  von 
Baas**),  daß  die  Beschneidung  weniger  eine  hygienische  Maßregel 
sei  als  vielmehr  in  der  fetischistischen  Verehrung  der  Präputien 
(„Fetischoperation")  ihren  Grund  habe.  Von  S.  120  ab  verbreitet 
sich  der  Autor  noch  ausführlich  über  die  „religiöse  Homosexualität" 
und  gibt  der  Meinung  Ausdruck  —  ohne  sie  allerdings  durch  Tat- 
sachen zu  begründen  —  daß  man  anfangs  wohl  weibische,  homo- 
sexuell empfindende  Menschen  gern  zu  Priestern  bestimmt  habe, 
deren  Neigungen  dem  primitiven  Menschen  als  etwas  besonders 
Dämonisches  erschienen  seien,  später  habe  man  wohl  auch  solche 
künstlich  gezüchtet,  besonders  in  gewissen  Sekten  religiöser 
Fanatiker. 

*)  Hellwald:  Kulturgeschichte.    Augsburg  1875.   S.  611. 

**)  H.  Baas:  Die  geschichtliche  Kntwickelung  des  ärztlichen 
Standes.   Berün  18%.   S.  7. 

*)  S.  126  heißt  es  wörtlich:  „Auch  die  Phimose  kann  direkt 
homosexuelle  Zustände  erzeugen." 

*)  S.  137  heißt  es:  „Es  ist  sehr  bezeichnend,  daß  in  Zansibar 
das  Suaheli-Wort  „Walevi44  =  Säufer  direkt  für  Päderast  gebraucht 
wird.'* 


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—    120  — 


(S.  137),  Opiumgenuß  (S.  138)  *),  Haschischgebrauch  (S.  138), 
Effemination  in  Tracht  und  Sitte  (S.  161),  Bedürfnis  nach 
Variation  in  den  sexuellen  Beziehungen,  welches  sich 
zum  geschlechtlichen  Reizhunger  steigern  kann  (8.  1G6), 
Wüstlingtum,  Don-Juanismus,  Mtissiggang  und  Blasiert- 
heit (S.  171),  direkte  Verführung,  besonders  durch  Auf- 
sichtspersonen (S.  174)  und  in  Bordellen  (S.  177),  sowie 
durch  andere  Urninge  (S.  238),  Zusammenwohnen  gleich- 
geschlechtlicher Personen  in  Kasernen  (S.  179),  Schulen, 
Pensionaten  (S.  180),  Kadettenhäusern,  Harems  (S.  182), 
Mönchs-  und  Nonnenklöstern,  Gefängnissen  (S.  183), 
großen  Hdtels  (S.  184)  und  Theatern  (S.  185),  die  öffent- 
lichen Bedürfnisanstalten  (S.  185),  den  Anblick  tierischer 
Geschlechtsakte  sowie  das  intime  Zusammenleben  mit 
Tieren  (S.  186),  die  erotische  und  obscöne  Litteratur1) 
(S.  188),  auch  nicht  obscöne  Werke  wie  die  Bibel  und 
die  Schriften  der  Kirchenväter  (S.  189),  den  Anblick  ge- 
schlechtlich erregender  Kunstwerke  (S.  200),  die  Betrach- 
tung des  eigenen  Spiegelbildes  tt)  (S.  201),  obscöne  Photo- 
graphien (S.  202 ff.  und  Bilder4)  (8.302),  obscöne  Täto- 

')  S.  138  sagt  Bloch:  „H.  Libermann  (les  Fumeurs  d'Opinm  en 
Chine.  Etnde  medicale  Paria  1862.  S.  63  ff.)  flihrt  daher  wohl 
nicht  mit  Unrecht  die  Verbreitung  der  Homosexualität  in  China  auf 
den  Opiumgenuß  zurück." 

«)  S.  196  heißt  es:  „Die  ätiologische  Bedeutung  derartiger 
Lektüre  für  die  Genesis  geschlechtlicher  Verirrungen  wird  vor  allem 
dadurch  erwiesen,  daß  die  meisten  geschlechtlich  abnormen  Indi- 
viduen eifrige  Leser  solcher  Werke  sind." 

•)  S.  201 :  „Unter  Umständen  kann  die  Darstellung  des  eigenen 
nackten  Ich  im  Spiegelbilde  die  Phantasie  in  abnormer  Hichtiuiir 
beeinflußen,  besonders  bei  noch  undifferenziertem  geschlechtlichem 
Empfinden  und  bei  Unkenntnis  des  anderen  Geschlechts." 

4)  S.  208  erklärt  Bloch  wörtlich,  „daß  die  große  Verbreitung 
der  obseönen  Bilder  mit  ihren  Darstellungen  aller  geschlechtlichen 
Verirrungen,  perversen  Akte  und  scheußlichster  Unzucht  einen  un- 
verhältnismäßig größeren  Anteil  an  der  Genesis  und  zunehmenden 
Häufigkeit  der  sexuellen  Perversionen  hat,  als  irgend  eine  ange- 
borene oder  auch  nur  durch  Krankheit  erworbene  Anlage." 


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—    121  — 


wirungen  (S.  210),  ferner  den  Besuch  von  Museen  mit  an- 
tiken und  modernen  Statuen,  noch  mehr  aber  der  soge- 
nannten anatomischen  Museen  mit  plastischenNachbilduugen 
männlicher  und  weiblicher  Geschlechtsteile  (S.  210),  so- 
wie der  öffentlichen  Kunstausstellungen  (S.  212),  auch 
Ballette,  Tänze,  gewisse  Darbietungen  im  Zirkus,  Spe- 
zialitätentheater, lebende  Bilder,  Poses  plastiques  heroischer 
oder  idyllischer  Natur,  sowie  den  Anblick  von  Männern 
in  Damen-  und  Mädchen  in  Männerkleidern  (S.  214), 
weiterhin  die  zufällige  Beobachtung  männlicher  Genitalien 
z.  B.  des  väterlichen  Membrums  (S.  221),  eigene  ab- 
stoßende Häßlichkeit  (S.  222),  Furcht  vor  venerischen 
Leiden  (S.  223),  abnorme  Beschaffenheit  der  Analgegend 
(S.  224),  Analmasturbation  (S.  224). J)  Flagellation  der 
Analgegend  (S.  227),  Annahme  männlicher  Lebensführung 
namentlich  bei  Prostituierten  (S.  232),  umgekehrt  weib- 
liche Angewohnheiten  bei  Männern  *)  (S.  233),  die 
Mysogynie  des  Lebemannes  (S.  235),  die  männliche 
Prostitution  (S.  241).  Als  besondere  Ursachen  der 
weiblichen  Homosexualität  führt  Bloch  an  einmal  die 
„mutuelle  Masturbation  der  Clitoris  cum  digito  et  lingua" 
(S.  244),  »den  Überdruß  am  Manne,  den  Widerwillen  gegen 
den  Verkehr  mit  dem  Manne"  (S.  244  und  245),  den 
Wunsch  mancher  Männer,  besonders  der  voyeurs  (S.  247) 

')  S.  226  beruft  sich  Bloch  auf  Leo  Taxil,  der  in  seinom 
Buche  „La  corruption  fin-de-siecle  Paris  1894  S.  245  berichte,  „es 
gäbe  Subjekte,  die  sich  in  coitu  cum  femina  von  deren  Zuhältern 
gleichzeitig  pädicieren  ließen"  und  fugt  dann  seinerseits  wörtlich 
hinzu:  Hieraus  entwickelt  sich  dann  naturgemäß  häufig  genug  ein 
gleichgeschlechtlicher  Verkehr,  der  den  ehemals  heterosexuellen 
Wüstling  zu  einem  typischen  Urning  stempeln  kann." 

»)  S.  233  behauptet  Bloch:  „Der  wirkliche  „Weibling"  wird 
meist  künstlich  gezüchtet"  und  8.  235:  „Es  ist  kein  Zufall,  daß 
Komiker,  die  Frauenrollen  darstellen,  fast  stets  homosexuell  sind. 
Diese  scheinbar  rein  äußerliche  Effemination  vermag  eben  den 
ganzen  inneren  Menschen  umzuwandeln." 


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—    122  — 


und  last  not  least  die  moderne  Frauenbewegung  (S.  248), 
von  der  er  sagt:  „ Einen  meines  Erachtens  nicht  unbe- 
denklichen ätiologischen  Faktor  in  der  Genesis  der 
Tribadie  bildet  die  moderne  Frauenbewegung,  die  das 
Weib  auf  sich  allein  stellt,  männlich  empfindende  Charaktere 
züchtet  etc.*  —  Bloch  beschließt  seine  sorgsame  Auf- 
zählung, in  der  wohl  nichts  Ubergangen  ist,  was  für  die 
Erwerbstheorie  in  Frage  kommen  konnte,  mit  dem  Satz 
(S.  249):  „Wir  haben  erfahren,  daß  in  der  großen  Mehrzahl 
der  Fälle  die  gleichgeschlechtliche  Liebe  aus  äußeren 
occasionellen  Momenten  entspringt,  daß  eine  originäre 
Anlage  zu  derselben  sehr  unwahrscheinlich,  jedenfalls  sehr 
selten  ist". 

Der  Beweis,  daß  diese  „äußeren  occasionellen  Mo- 
mente" unmöglich  für  die  Entstehung  der  Homosexualität 
genügen  können,  ist  sehr  leicht  zu  erbringen.  Man  kann 
die  von  Bloch  aufgeführten  Erwerbsmöglichkeiten  unschwer 
in  drei  Gruppen  teilen. 

In  der  ersten  Abteilung  sind  die  zahlreichen 
Dinge  unterzubringen,  die  viel  zu  allgemein  verbreitet 
sind,  um  überhaupt  als  einigermaßen  vollgiltiger  Grund 
in  Frage  kommen  zu  können.  Da  Millionen  und  aber 
Millionen  Menschen  tierische  Geschlechtsakte  erblicken 
oder  eine  Bedürfnisanstalt  benutzen,  unter  hundert 
Menschen  aber  nur  einer  homosexuell  ist  —  nach  Bloch 
sind  es  noch  viel  weniger  —  so  kann  nach  allen  Gesetzen 
der  Logik  hier  unmöglich  ein  Causalnexus  statuiert  werden. 
Wenn  von  den  vielen,  die  im  heißen  oder  rauhen  Klima, 
in  Arbeiterwohnungen  oder  bei  Hofe  leben,  die  eine  sehr 
lebhafte  Phantasie  oder  ein  sehr  religiöses  Gemüt  besitzen, 
die  öffentliche  Kunstausstellungen  oder  Museen  aufsuchen, 
in  Schulen  und  Pensionaten  zusammenwohneu  oder  sich 
nackt  im  Spiegel  erblickt  haben,  dur  ein  ganz  ver- 
schwindend kleiner  Prozentsatz  Urninge  sind,  so  müssen 
die  genannten  Umstände  einer  anderen  Causalität  gegen- 


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über  völlig  irrelevant  sein.  Dasselbe  gilt  auch  von  der 
Onanie.  Berücksichtigen  wir,  daß  sich  unter  100  Per- 
sonen 99  Onanisten  befinden,  unter  diesen  99  aber  nur 
ein  Homosexueller,  so  werden  wir  niemals  die  Onanie  als 
hinreichenden  Grund  für  den  homosexuellen  Trieb  ansehen 
dürfen.  Es  sei  hier  übrigens  angesichts  der  immer  wieder- 
kehrenden Betonung  dieser  angeblichen  Entstehungs- 
ursache betont,  daß  der  wohl  größte  Sachverständige  auf 
diesem  Gebiet,  Rohleder,  in  seiner  trefflichen  Monographie : 
„Die  Masturbation"  die  Onanie  wohl  als  eine  Folgeerschei- 
nung der  konträren  Sexualempfindung  hervorhebt,  von  einer 
Entwickelung  der  letzteren  aus  der  Onanie  aber  nichts 
zu  berichten  weiß  ,). 

Wir  sind  damit  bei  der  zweiten  Gruppe  augelangt, 
bei  den  nicht  weniger  zahlreichen  Momenten  Blochs,  bei 
denen  die  Verwechslung  von  Ursache  und  Wirkung  un- 
verkennbar ist.  Nicht  aus  der  Ehelosigkeit  oder  Impotenz 
eines  Menschen  entsteht  seine  gleichgeschlechtliche  Neigung, 
sondern  diese  hat  seine  Ehelosigkeit  zur  Folge,  ebenso 
ist  der  Widerwillen  der  Frau  vor  dem  Manne  nicht  die 
Ursache,  sondern  eine  Wirkung  ihrer  homosexuellen 
Natur.  Auch  bedingt  nicht  die  weibliche  Kleidung  eine 
Umgestaltung  des  inneren  Menschen,  sondern  der  innere 
Mensch  verschafft  sich  die  Kleidung,  die  ihm  zusagt. 
Die  Ursache  des  Charakters  liegt  also  nicht  in  der  Tracht, 
sondern  die  Ursache  der  Tracht  im  Charakter  des  Menschen. 
Ebenso  ist  es  mit  dem  Beruf  des  Urnings.  Er  wird  nicht 
feminin,  weil  er  Frauenrollen  spielt,  sondern,  weil  er 
feminin  ist,  bevorzugt  er  Frauenrollen.  An  homosexuellen 
Kunst-  und  Literaturwerken  wird  nur  derjenige  Interesse 
nehmen,  der  dafür  empfänglich  ist.    Dem  Normalsexuellen 


*)  Dr.  med.  Hermann  Kohleder.  Die  Masturbation,  eine  Mono- 
graphie für  Ärzte  und  Pädagogen.  Berlin.  Fischer»  mediz.  Buch- 
handlung 1899.   Seite  65  und  287. 


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wird  ein  urnischer  Kornau  gleichgültig  oder  abstoßeud 
sein.  Wer  keine  JUnglingsphotographieen  liebt,  wird  sich 
auch  keine  kaufen. 

Die  dritte  Rubrik  endlich  umfaßt  alle  jene  Behaup- 
tungen, die  gänzlich  eine  Kenntnis  des  Homosexuellen 
vermissen  lassen.  Wenn  Bloch  nur  200  Homosexuelle 
untersucht  haben  würde,  hätte  er  ganz  sicherlich  nicht 
geschrieben,  daß  Abnormitäten  der  Genitalien,  abnorme 
Beschaffenheit  der  Analgegend,  abstoßende  Häßlichkeit 
oder  gar  chronischer  Alkoholismus  zur  Homosexualität 
führen  können.  Es  entspricht  einfach  nicht  den  Tat- 
sachen, daß  der  Durchschnitt  der  Homosexuellen  häßlicher, 
trunksüchtiger  oder  im  höheren  Maße  mit  Genitalanomalien 
behaftet  ist,  wie  der  Durchschnitt  der  Normalsexuellen. 
Manche  der  angegebenen  Gründe  lassen  sich  unter  zwei 
Gruppen  rubrizieren.  So  sind  die  Anhängerinnen  der 
Frauenbewegung  viel  zu  zahlreich  im  Verhältnis  zu  der 
Menge  urnischer  Frauen,  als  daß  dieser  Emanzipations- 
kampf —  so  sehr  er  immerhin  in  der  Häufigkeit  sexueller 
Zwischenstufen  seine  Stütze  findet  einen  ausreichenden 
Erklärungsgrund  abgeben  könnte,  andererseits  besitzen 
allerdings  gerade  die  homosexuellen  Frauen  Eigenschaften, 
die  sie  zu  besonders  aktiven  Vorkämpferinnen  für  die 
Rechte  der  Frau  befähigen.  Diese  Qualifikation  ist  aber 
nicht  die  Ursache,  sondern  lediglich  die  Folgeerscheinung 
ihres  Uranismus.  Daß  aus  der  Verführung,  dem  Variations- 
bedürfnis und  dem  Wüstlingtum  nie  ein  homosexueller 
Geschlechtstrieb  entstehen  kann,  haben  wir  bereits  oben 
sehr  eingehend  auseinandergesetzt.  Wenn  übrigens  Bloch, 
Hoche  u.  a.  so  oft  betonen,  daß  ein  Normalsexueller  aus 
jReizhunger"  homosexuell  werden  könne,  so  bleiben  sie 
stets  den  Beweis  schuldig,  worin  denn  die  Reizsteigerung 
hier  bestehen  soll.  Welche  Vorteile  oder  Vorzüge  bietet 
denn  dem  Homosexuellen  der  Verkehr  mit  demselben 
Geschlecht,  welcher  doch  im  Gegenteil  an  seine  psychische 


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—    125  — 


Potenz  mindestens  so  hohe  Anforderungen  stellt,  als  der 
Umgang  mit  dem  Weibe? 

So  gelangen  wir  denn  auch,  indem  wir  sämtliche 
Ursachen,  die  für  das  Erworbensein  der  c.  S.  in  Betracht 
kommen,  leicht  als  nicht  stichhaltig  oder  nicht  ausreichend 
widerlegen  können,  per  exclusionem  zu  dem  Schlüsse,  daß 
die  Homosexualität  nicht  erworben,  sondern  nur  in  der 
angeborenen  Konstitution  des  Menschen  begründet  sein  kann. 


IV.  Die  Naturnotwendigkeit  der 
Homosexualität. 

Es  ist  ein  Beweis  für  das  Natürliche  und  Ursprüng- 
liche einer  Erscheinung,  wenn  sich  dieselbe  in  eine  fort- 
laufende Reihe  verwandter  Naturerscheinungen  so  ein- 
fügt, daß  ihr  Mangel  geradezu  einen  Ausfall  in  der 
lückenlosen  Linie  bedeuten  würde.  Für  die  Erscheinung 
der  Homosexualität  trifft  dies  im  vollsten  Umfange  zu. 
Es  wäre  sehr  merkwürdig,  wenn  von  den  fließenden 
Übergängen,  die  sich  an  jedem  Organ,  an  jeder  Funktion 
von  einem  zum  anderen  Geschlechte  führend  nachweisen 
lassen,  der  Geschlechtstrieb  ausgenommen  wäre.  Wenn 
sämtliche  männliche  Eigenschaften  gelegentlich  vereinzelt 
oder  in  größerer  Anzahl  bei  einem  Weibe  und  umgekehrt 
sämtliche  weiblichen  beim  Manne  auftreten  können, 
woran  auch  nicht  mehr  der  mindeste  Zweifel  bestehen 
kann,  so  würde  es  etwas  ganz  Außerordentliches  sein, 
wenn  der  Geschlechtstrieb  hier  die  einzige  Ausnahme 
bilden  sollte.  Das  Nichtvorhandensein  der  Homosexualität 
würde  ein  viel  größeres  Wunder  gewesen  sein,  wie  ihre 
Existenz,  die  vielen  befremdlicher  und  naturwidriger  er- 
scheint, wie  das  gelegentliche  Vorkommen  eines  wohl 
entwickelten  Bartes    beim   Weibe    oder  milchgebender 


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—    126  — 


Brüste ')  beim  Manne.  Wie  man  nach  den  Atomge- 
wichten die  im  periodischen  System  der  Elemente  noch 
fehlenden  Stoffe  vorausberechnen  konnte,  ehe  man  sie  fand, 
wie  man  aus  den  Abständen  der  Planeten  die  Stelle  und 
die  Umlaufsbahn  des  Neptun  beschrieb,  ehe  man  ihn 
entdeckte,  wie  man  die  Zwischenstufen  zwischen  den 
Vögeln  und  Reptilien  eingehend  schilderte,  ehe  man  im 
Solenhof  er  Kalkschiefer  auf  den  Archaeopteryx  stieß,  so 
hätte  ein  gescheiter  Kopf  die  Homosexuellen  nachweisen 
können,  ehe  er  sie  von  Angesicht  zu  Angesicht  sah. 
Keine  Erscheinung  steht  in  der  Natur  isoliert  da,  jede 
zeigt,  die  vielseitigsten  Verbindungen  mit  den  übrigen 
Naturkörpern,  überall  gibt  es  Übergänge;  wie  zwischen 
dem  Kinde  und  dem  Erwachsenen  der  Jüngling  und 
die  Jungfrau,  so  bildet  zwischen  Mann  und  Weib  der 
Urning  und  die  Urauierin  eine  Naturnotwendigkeit.  Man 
hätte  vermutlich  diese  Übergangsreihen  viel  eher  er- 
kannt und  gewürdigt,  wenn  sie  sich  nicht  auf  jeden  Ge- 
schlechtscharakter  für  sich  beziehen  könnten,  ohne  daß 
entsprechend  die  anderen  miteinbezogen  sind,  dadurch 
entsteht  ja  eben  die  ungeheure  Variation  und  kaum  zu 
übersehende  Mannigfaltigkeit.  Im  Grunde  genommen  ist 
jeder  Mensch  erst  durch  das  ihm  innewohnende  Mischungs- 
verhältnis männlicher  und  weiblicher  Teile  verständlich. 
Selbst  im  gröberen  ist  die  Verschiedenartigkeit  und  Menge 
der  Abweichungen  so  groß,  daß  alle  Versuche,  die 
körperlichen  und  geistigen  Zwischenstufen  iu  eine  be- 
stimmte Ordnung  zu  bringen, 2)  gescheitert  sind.  Zwischen 

')  Milchgebende  Männer  werden  bereits  von  Alexander  von 
Humboldt  und  Bonpiandt  erwähnt  in  der  „Reise  in  die  Aquinoctial- 
gegenden  des  neuen  Kontinents  in  den  Jahren  1799 — 1804.  2.  Teil. 
Stuttgart  und  Tübingen  1818.   S.  40  ff. 

")  Derartige  Klassifizierungs- Versuche  wurden  unternommen  von : 
1.  Leonidas,  Chirurg  in  Alexandrien,  im  3.  Jahrhundert,  dessen 
Werke  verloren  sind;  seine  Einteilung  wird  angeführt  von  Aetius, 


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127  — 


den  echten,  Pseudo-  und  psychischen  Hermaphroditen, 
den  scheinbar  rein  somatischen  und  anscheinend  rein 
geistigen  Formen  sind  keine  sicheren  Grenzen  zu  ziehen. 
Mit  der  Menge  wissenschaftlicher  Beobachtungen  hat 
sich  das  System  mehr  und  mehr  kompliziert,  um  sich 
schließlich  dahin  zu  vereinfachen,  daß  im  Grunde  ge- 
nommen jeder  Fall  in  der  Unsumme  der  Zwischenstufen 
einen  Fall  für  sich,  eine  Klasse  für  sich,  ein  Geschlecht 
für  sich  bildet 

Der  Vollmann  und  das  Vollweib  sind  in  Wirklichkeit 
nur  imaginäre  Gebilde,  die  wir  nur  zu  Hilfe  nehmen 
müssen,  um  für  die  Zwischenstufen  Ausgangspunkte  zu 

der  in  der  Mitte  des  6.  Jahrhunderts  in  Mesopotamien  lebte.  Seine 
Angaben  finden  sieh  zitiert  bei  Haller  •  Bibliotheea  Chirurg.  Basil. 
1774.   T.  L.  p.  79. 

2.  Ulisse  Aldrovandi,  Monstrornm  historia,  Bononiae  1642,  von 
Ambrosini  veröffentlicht.  Früher  hatte  Aldrovandi,  der  1605  starb, 
erklärt,  eine  Klassifizierung  der  Hermaphroditen  sei  wegen  der  von 
den  Antoren  beschriebenen  großen  Zahl  und  Verschiedenheit  der 
Formen  unmöglich.  Einer  seiner  Vorgänger.  Argelata  Pietro,  Venezia 
1499,  erklärte  in  seiner  Chirurgia  den  Hennaphroditismus  ftlr  eine 
„unerklärliche  und  abscheuliche  Affektion  bei  den  Menschen". 

3.  Pierre  Dionis,  Conrs  d'operations  de  Chirurgie.  Bruxelles 
1708,  p.  197.  Er  befürwortete  das  auch  noch  im  19.  Jahr- 
hundert wieder  vorgebrachte  Gesetz,  daß  die  Hermaphroditen  sich 
filr  eins  der  beiden  Geschlechter  entscheiden,  und  es  ihnen  verboten 
sein  sollte,  das  nicht  gewählte  zu  gebrauchen. 

4.  Albrecht  v.  Haller,  Comm.  Göttingen.  1752.  T.  I.  1751 
hatte  Haller  eine  Schrift  verfaßt:  An  dentur  hermaphroditi  ? 

5.  H.  A.  Wrisberg,  Commentatio  de  singulari  genitalium  de- 
formitate  in  puero  hermaphroditum  mentiente  cum  quibusdam  obser- 
vationibus  de  hermaphroditis.  Göttingen  1796.  Par.  19.  S.  541— 542. 

6.  J.  Fr.  Meckel,  Handbuch  der  pathologischen  Anatomie. 
Zwitterbildung,  Leipzig,  1816.   Bd.  2,  Abt.  1,  S.  196—221. 

7.  R.  Lippi,  Bizarre  formi  degli  organi  della  riproduzione  di 
due  individui  della  specie  umana.    Firenze  1826. 

8.  Johannes  Müller,  Bildnngsgeschichte  der  Genitalien.  Düssel- 
dorf 1830. 


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—    128  — 


besitzen.  Einen  hundertprozentigen  Mann  gibt  es  nicht, 
solange  noch  jeder  die  Brustwarzenrudimente  und  den 
Uterus  masculinus  aufweist,  wohl  aber  einen,  der  zu  95, 
94,  93  etc.  %  männlich,  zu  5,  (>,  7  etc.  %  weiblich  ist, 
die  männlichen  Qualitäten  nehmen  ab,  und  wir  erreichen 
die  Stelle,  wo  50%  männliches  und  50%  weibliches  in 
einem  Körper  verbunden  sind,  von  nun  ab  überragen  die 
weiblichen  Charaktere  die  männlichen  bis  wir  ganz  all- 
mählich dicht  an  den  Typus  des  Vollweibes  gelangen,  an 
dem  vielleicht  nur  noch  die  Paradidymis  an  den  Mann 
erinnert.  Es  ist  durchaus  nicht  gesagt,  daß  ein  Indivi- 
duum, das  zu  75%  weiblich,  zu  25%  männlich  ist  „ein 
Weib"  sein  muß,  es  kann  ebenso  gut  „ein  Mann"  6ein, 
an  dem  alles,  abgesehen  von  dem  Membrum  und  seinen 
Adnexen,  weiblich  ist 

Was  von  dem  Ganzen  gilt,  [gilt  auch  von  seinen 
Teilen.    Wenn  die  Zellen  des  weiblichen  und  männlichen 


9.  E.  F.  Gurlt  (Berlin),  Lehre  von  der  pathologischen  Anatomie. 
1832.   S.  183  (34  Tafeln). 

10.  Isidore  Geoffroy  de  St.  Hilaire,  Histoire  des  anomalies  de 
l'organisation.    Paris,  1846.   T.  II,  p.  36. 

11.  Carlo  Cotta,  Alcune  ideo  suirermafroditisrao.  Hilano  1844. 
(Gazz.  medico  d.  Milano.)   T.  III,  S.  205. 

12.  A.  Forster,  Die  Mißbildungen  des  Menschen.  Jena  1861. 
18.  Edwin  Klebs,  Handbuch  der  pathologischen  Anatomie. 

Berlin  1876.   Bd.  1,  Abt.  2,  S.  786. 

14.  E.  F.  Gurlt,  Über  tierische  Mißgeburten.   Berlin  1877. 

15.  F.  Ahlfeld,  Die  Mißbildungen  des  Menschen.  2.  Abschn. 
Leipzig  1880.   S.  243. 

16.  G.  Pozzi,  De  l'ennaphroditisme.  Gaz.  hebdom.  1890. 
Nr.  30,  p.  351. 

17.  Cesare  Tarufti,  Herinaphrodismus  und  Zeugungsfähigkeit, 
deutsch  von  Dr.  R.  Teuscher.   Berün  1903  (Barsdorf). 

18.  Die  psychischen  Hermaphroditen  klassiözicrte  Krafft-Ebing. 
Psychopathia  sexualis.  Auch  seine  Klassen  gehen  unabgegrenzt  in- 
einander über,  ebenso  wie  die  von  Ulrichs  aufgestellten  Gruppen 
der  Mannlinge  und  Weiblinge. 


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männlicher  Typus 

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—   129  — 


Organismus  in  ihrer  Größe  und  Konsistenz  Unterschiede 
aufweisen,  was  durchaus  wahrscheinlich  ist,  so  können 
wir  sicher  sein,  daß  es  zwischen  der  einen  und  anderen 
Durchschnittsform  zahllose  Abstufungen  gibt.    Man  mag 
jedes  beliebige  Stück  am  Menschen  herausgreifen,  stets 
wird  man  diesen  ganz  allmählichen  Übergang  leicht  wahr- 
nehmen können.    Nehmen  wir  die  kräftige,  derbe  Hand 
des  Vollmann-Typus  und  die  relativ  und  absolut  kleinere, 
zartere,  weichere  Hand  des  weiblichsten  Weibes,  zwischen 
beiden  gibt  es  eine  Legion  unmerklich  in  einander  über- 
gehender Formen.   Das  Durchschnittsbecken  des  Weibes 
und  des  Mannes  weisen  wesentliche  Differenzen  auf  und 
doch  sind  auch  hier  die  Zwischenforraen  so  zahlreich,  daß 
es  bei  ausgegrabenen  Becken  häufig  sehr  schwer  hält,  zu 
sagen,  ob  es  ein  männliches  oder  weibliches  war,  viele 
Becken,  die  der  Gynäkologe  als  „allgemein  verengte* 
bezeichnet,  sind  tatsächlich  nur  virile  Becken.  Dasselbe 
gilt  vom  Schädel,  von  den  weiblichen  und  männlichen 
Brüsten,  von  der  Schrift  und  Gangart  der  Geschlechter, 
von  ihrem  Fühlen,  Denken  und  Wollen,  stets  wird  man 
zwischen  der  spezifisch  männlichen  und  typisch  weiblichen 
Form  die  Zwischenstufen,  die  Überbrückung  der  Gegen- 
sätze ohne  Schwierigkeiten  entwickeln  können. 

Auch  der  Geschlechtstrieb  besitzt  eine  männliche, 
also  auf  das  Weib  gerichtete  und  eine  weibliche,  also  dem 
Manne  zugeneigte  Form.  Die  Reize  der  Außenwelt,  die 
Objekte,  die  den  Geschlechtstrieb  passieren,  sind  an  sich 
gleich,  der  Eindruck,  den  sie  auf  die  Nervenendorgane, 
von  wo  sie  hirnwärts  projiziert  werden,  machen,  ist  der- 
selbe; das  von  der  hübschen  Frau  auf  der  Netzhaut 
entstehende  Bild,  die  Klangwirkung  ihrer  Stimme  auf 
das  Gehör,  die  Fortleitung  ihrer  Ausdünstung  auf  das 
Geruchsorgan  sind  nicht  verschieden.  Auch  die  sen- 
siblen Nerven,  die  von  diesen,  wie  von  allen  Punkten 
der   Körperoberfläche   durch  das    centrum  libidinosum 

Jahrbuch  V.  9 


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—  130 


Urnischer  Arbeiter 


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—    132  — 

ziehen,  sind  anatomisch  und  physiologisch  identisch,  aber 
dieses  Zentrum  selbst  muß  verschieden  bei  Mann  und 
Weib  konstruiert  sein.  Auch  der  Urning  sieht  das 
Weib   nicht    „mit   anderen   Augen"    an,    sondern  mit 

einem  anders  gearteten 
Zentralorgan.  Die  motori- 
schen Nervenbahnen,  die 
von  diesem  Zentrum  peri- 
pheriewärts  ziehn,  dürften 
ebenfalls  bei  beiden  Ge- 
schlechtern nicht  wesent- 
lich von  einander  ab- 
weichen. Daß  bestimmte 
Sinneseindrücke,  die  von 
dem  erregenden  Objekt 
ausgehen,  bei  manchen  mit 
besonders  starken  Lustge- 
fühlen verknüpft  sind  — 
die  besonders  vom  Ge- 
sichts-, Gehörs-  und  Ge- 
ruchssinn ausgehende  feti- 
schistische, sowie  die  vom 
Hautsinn  wahrgenommene 
masocilistische  Reizung  ge- 
hören hierher  —  sind  ange- 
sichts der  spezifischen  Er- 
regung des  bestimmten 
Zentrums  durch  ein  be- 
Allgemein  verengtes  weibliches  stimmtes  Geschlecht  von 
Becken.  ebenso  untergeordneter  Be- 

deutung wie  die  zentri- 
fugale im  Sadismus  zum  Ausdruck  gelangende  gelegentliche 
Steigerung  und  Störung  sexueller  Motilität.  Worin  die 
verschiedene  Beschaffenheit  des  zentralen  Organs  ana- 
tomisch liegt,  können  wir  um  so  weniger  sagen,  als  ja 


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-    133  - 


der  Sitz  desselben  noch  nicht  lokalisiert  ist.  Vielleicht 
sind  es  auch  nur  Größenunterschiede,  wie  bei  allen  andern 
Geschlechtscharakteren,  sodaß  also  etwa  das  Organ  von 
einer  bestimmten  Größe  nur  durch  weibliche  Reize  in 
Mitschwingungen  versetzt  wird,  während  in  anderer  Aus- 
dehnung männliche  Reize  wirksam  sind.  Doch  das  sind 
natürlich  nur  Hypothesen,  immerhin  ist  eine  wenig  be- 
achtete Mitteilung  Galls,  *)  des  neuerdings  wieder  von 
Möbius  und  Bunge9)  zu  Ehren  gebrachten  genialen  Forschers 
bemerkenswert,  daß  er  „bei  Männern,  die  eine  Abneigung 
gegen  das  andere  Geschlecht  an  den  Tag  legten,  ein  be- 
sonders schwach  entwickeltes  Kleinhirn  gefunden  habe." 
Bekanntlich  nahm  Gall  an,  daß  das  Kleinhirn  der  Sitz 
des  Geschlechtstriebes  sei  und  zwar  stützte  er  sich  dabei 
im  wesentlichen  auf  folgende  Argumente: 

I.  Das  Kleinhirn  ist  bei  Neugeborenen  im  Ver- 
hältnis zum  Gesamthirn  schwach  entwickelt,  wie  1 :  9 — 20. 
Es  wächst  am  stärksten  nach  der  Pubertät,  besonders  im 
18.  Lebensjahr,  und  ist  beim  Erwachsenen  dann  das  Ver- 
hältnis wie  1  :  5 — 7. 

II.  Die  individuellen  Verschiedenheiten  in  der  Ent- 
wickelung  des  Kleinhirns  sind  sehr  groß.  Der  Grad  der 
Entwickelung  ist  beim  lebenden  Menschen  äußerlich 
kenntlich  an  dem  Abstand  der  Processus  mastoidei.  Je 
weiter  diese  von  einander  abstehen,  je  breiter  und  stärker 
ist  die  Nackenmuskulatur.  Gall  will  nun  an  einem  sehr 
umfassenden  Material  beobachtet  haben,  daß  Personen 

•)  Franz  Joseph  Gall.  Anatomie  et  Physiologie  du  Systeme 
nerveux.  4  Bände.  Paris  1810—18.  Die  uns  interessierenden  Stellen 
fioden  sich  Vol.  III.   P.  85—138. 

*)  P.  J.  Möbius:  Über  Franz  Joseph  Gall.  Schmidts  Jahr- 
bücher. Bd.  262.  S.  260.  1899.  G.  v.  Bunge -Basel.  Lehrbuch 
der  Physiologie  des  Menschen.  Leipzig  bei  Vogel  1901.  I.  Band 
16.  u.  17.  Vortrag  S.  222  u.  ff.  besonders  auch  S.  2.%. 


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mit  breitem  muskulösen  Nacken  einen  besonders  starken 
Geschlechtstrieb  haben. 

III.  Das  Kleinhirn  ist  beim  Manne  durchschnittlich 
stärker  entwickelt  als  beim  Weibe.  Diesen  Unterschied 
fand  Gall  in  der  ganzen  Säugetierreihe  von  der  Spitz- 
maus bis  zum  Elephanten  bestätigt. 

IV.  Werden  Menschen  und  Tiere  vor  der  Pubertät 
kastriert,  so  bleibt  das  Kleinhirn  in  seiner  Entwickelung 
zurück. 

V.  Wird  nur  ein  Hoden  exstirpiert,  so  atrophiert 
nur  die  eine  Hälfte  des  Kleinhirns  und  zwar  an  der  ge- 
kreuzten Seite.  Gall  will  dies  nicht  nur  bei  Tieren, 
sondern  in  mehreren  Fällen  bei  zufälligen  Verletzungen 
am  Menschen  beobachtet  haben. 

VI.  Der  Mensch,  in  welchem  der  Geschlechtstrieb 
das  ganze  Jahr  über  rege  ist,  hat  ein  stärker  entwickeltes 
Kleinhirn  als  die  Tiere,  bei  denen  sich  der  Geschlechts- 
trieb nur  zur  Zeit  der  Brunst  regt. 

Galls  bestechende  Behauptungen  entbehren  vielfach 
einer  exakten  zahlengemäßen  Grundlage,  sie  sind  daher 
auch  vielfach  bestritten  und  heftig  angegriffen  —  der 
edle  Gelehrte  hatte  unter  dem  Haß  der  Kirche  und  dem 
Neid  der  Fachgenossen  namenlos  leiden  müssen  —  sie 
sind  aber  noch  keineswegs  widerlegt.  Für  seine  Annahme 
spricht  die  neuerdings  festgestellte  Tatsache,  daß  sich  die 
sensiblen  Nervenbahnen  von  der  ganzen  Körperoberfläche 
her  bis  zum  Wurm  des  Kleinhirns  verfolgen  lassen,  und 
zwar  reichen  die  ersten  Neurone  bis  zu  den  Clarkeschen 
Säulen,  von  wo  aus  sie  auf  den  Kleinhirnseitenstrangbahnen 
weiter  ziehen. 

Mag  das  Geschlechtstriebzentrum  nun  im  Klein- 
hirn oder  anderswo  seinen  Sitz  haben,  jedenfalls  ist 
nach  dem  Gesagten  mit  Sicherheit  anzunehmen,  daß  es 


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—    135  — 


einen  männlichen  oder  weiblichen  Typus  trägt  und  weiter- 
hin, daß  auch  hier  wie  bei  allen  anderen  männlichen  und 
weiblichen  Teilen  fortlaufende  Übergänge  vorhanden  sind 
und  zwar  selbständig,  ohne  daß  eine  Ubereinstimmung 
mit  den  übrigen  Sexualcharakteren  unbedingt  erforderlich 
ist.  Theoretisch  ist  zuzugeben,  und  ich  selbst  habe  diese 
Meinung  früher  vertreten,1)  daß  das  Centrum  libidinosum 
aus  zwei  Teilen  zusammengesetzt  ist,  indem  den  stets 
vorhandenen  körperlichen  und  geistigen  Rudimenten 
des  anderen  Geschlechts  auch  ein  Triebrudiment  von 
verschiedener  Stärke  entsprechen  muß,  so  daß  dann 
eine  doppelseitige  Erregbarkeit  in  verschieden  hohem 
Grade  möglich  wäre.  Wäre  dies  der  Fall  —  wie  oben 
bereits  auseinandergesetzt,  bin  ich  mit  der  Fülle  des 
Materials  schwankend  geworden  —  so  würde  das  für  das 
häufigere  Vorkommen  der  ßisexualität  sprechen,  aller- 
dings nur  bei  einer  gewissen  Größe  des  Rudiments.  Die 
sexuelle  Erregbarkeit  durch  beide  Geschlechter  läßt  sich 
ohne  weiteres  noch  nicht  in  diesem  Sinne  verwenden,  denn 
abgesehen  von  Suggestivwirkungen  handelt  es  sich  hier 
oft  nur  um  mechanische  Reizungen,  rein  spinale  Reflexe, 
im  Gegensatz  zu  den  viel  komplizierteren  und  zweckent- 
sprechenderen zentralen  Reflexen,  die  von  der  Psyche 
ihren  Ausgang  nehmen  und  für  deren  Beschaffenheit  das 
allein  Entscheidende  sind.  Darum  sind  auch  gerade  die 
Träume  für  die  Richtung  oder  besser  gesagt  die  männ- 
liche oder  weibliche  Qualität  des  Triebzentrums  von  so 
hohem  Wert,  weil  im  Schlaf  zahlreiche  Assoziationen  in 
Wegfall  kommen,  die  im  wachen  Zustand  modifizierend 
und  störend  eingreifen. 

Zwei  Umstände  machen  die  große  Häufigkeit  der 
sexuellen  Übergänge  und  Zwischenformen  erklärlich  und 


l)  Dr.  med.  Hirschfeld,  Sappbo  und  Sokrates  etc.  II.  Aufl. 
1902,  S.  8  ff. 


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-    136  — 


wahrscheinlich.  Einmal  die  Tatsache,  daß  jedes  Individuum 
mit  beiden  Geschlechtern  in  unmittelbarem  Erbschafts- 
verhältnis steht.  Der  männliche  Sproß  erbt  nicht  nur  von 
seinem  Vater,  sondern  auch  von  der  Mutter  und  diese  ge- 
mischte Vererbung  wird  noch  wesentlich  erweitert  durch  die 
latente  Vererbung,  nach  deren  Gesetzen  auch  die  Mütter 
und  Großmütter  väterlicher-  und  mütterlicherseits  an  jedem 
Knaben  partizipieren.  Gewiß  wird  dieser  Einfluß  durch 
die  sexuelle  Vererbung,  nach  der  Knaben  gewisse  väter- 
liche, Mädchen  bestimmte  mütterliche  Eigenschaften  er- 
halten, durchkreuzt,  aber  doch  nicht  in  dem  Grade,  daß 
die  vorher  genannten  wichtigen  Gesetze  der  Heredität 
ausgeschaltet  werden.  Es  hat  vieles  für  sieb,  daß  bei 
der  Vereinigung  der  weiblichen  und  männlichen  Keim- 
zelle von  vornherein  ein  bestimmtesMischungsverhältnis  au- 
gelegt ist,  sodaß  bereits  die  befruchteten  Eier  in  männ- 
liche, weibliche  und  gemischte  zerfallen  würden.  Diese 
sehr  variable  Mischung  legt  als  Sexualbasis,  vielleicht 
sogar  als  Sexualzentrum  in  der  Hauptsache  den  Körper 
und  Geist  des  Individuums  für  die  Dauer  seines  Be- 
stehens fest 

Der  zweite  Umstand,  welcher  die  Häufigkeit  der 
Zwischenstufen  so  naheliegend  erscheinen  läßt,  ist  der, 
daß  alle  qualitativen  Unterschiede  der  Geschlechter  in 
Wirklichkeit  nur  quantitative  sind.  Alle  sexuellen 
Charaktere  verharren  eine  gewisse  Zeit  im  neutralen  Zu- 
stand, dann  findet  bei  allen  in  einem  bestimmten  Alter 
vor  oder  nach  der  Geburt  ein  gemeinsamer  Anlauf  statt, 
der  bei  manchen  Teilen  früher,  bei  anderen  später  sein 
Ende  erreicht,  indem  die  unbekannte  Zentrale  auf  das 
Wachstum  der  einzelnen  Organe  bald  hemmend,  bald 
fördernd  einwirkt.  Von  dieser  Wachstumsenergie  ist  es 
abhängig,  ob  ein  Stück  männlich  oder  weiblich  geartet 
erscheint;  gänzlich  schwindet  keins  dieser  Stücke,  selbst 
beim  Vollweibe  ist  alles  männliche  in  mehr  oder  weniger 


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137  — 


großen  Resten  vorhanden,  so  wenig  die  Spuren  alles 
weiblichen  bei  keinem  Manne  fehlen.  Bei  dieser  nur  gra- 
duellen Verschiedenheit  der  Individuen  und  Geschlechter 
kann  es  nicht  "Wunder  nehmen,  daß  eine  Verwischung 
der  Grenzen  so  häufig  ist. 

Man  hat  wohl  behauptet,  daß  die  Trennung  der  Ge- 
schlechter umso  schärfer  sei,  je  höher  ein  Lebewesen 
stehe,  daß  die  Natur  auf  eine  immer  größere  Differenzierung 
der  Geschlechter  hinarbeite.  Das  entspricht  durchaus 
nicht  den  Tatsachen.  Die  Geschlechtsunterschiede  sind 
bei  den  niederen  Tieren  viel  größer,  als  bei  den  höheren, 
so  sind  bei  manchen  Insekten  die  Männchen  und  Weibchen 
so  verschieden  gestaltet,  daß  man  sie  lange  als  Glieder 
derselben  Art  garnicht  erkannt  hat.  Selbst  bei  den 
meisten  Säugetieren  unterscheidet  sich  das  Männchen 
mehr  vom  Weibchen,  als  beim  Menschen.  Dabei  ver- 
halten sich  die  sexuellen  Geschlechtscharaktere  sehr 
stabil,  der  weibliche  Typus,  der  männliche  und  der  der 
Zwischenstufen  hat  sich  soweit  unsere  Kenntnisse  reichen 
weder  bei  den  Tieren  noch  beim  Menschen  nach  Ort 
und  Zeit  erheblich  verändert.  Namentlich  sind  die  Über- 
gangstypen unter  den  Menschen  zu  allen  Zeiten  und  in 
allen  Zonen  nachweisbar.  Schon  aus  diesem  Grunde  er- 
scheint es  nicht  gerechtfertigt,  im  Uranismus  einen  Atavismus 
zu  erblicken,  wie  es  wiederholt  geschehen  ist  Gewiß  ist 
die  Geschlechtseinheit  im  Naturreich  das  Ursprünglichere, 
die  zwei  Geschlechter  stellen  eine  höhere  Stufe  der  Ent- 
wickelung  dar.  In  den  Zwischenstufen  tritt  uns  aber 
kein  Rückschritt  zum  eingeschlechtlichen,  sondern  viel 
eher  ein  Fortschritt  zum  mehrgeschlechtlichen  entgegen. 
Das  dritte  Geschlecht  stellt  nichts  einfacheres,  sondern 
eher  etwas  komplizierteres  dar.  Mit  ihm  gestaltet  sich 
die  Menschheit  nicht  einförmiger,  sondern  reichhaltiger 
und  vielseitiger.  Läge  wirklich  eine  immer  schärfere 
Differenzierung  der  Geschlechter  im  Plane  der  Natur,  so 


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—    138  — 


müßten  die  Männer  immer  männlicher,  die  Frauen  immer 
weiblicher,  die  Kluft  zwischen  beiden  Geschlechtern  mithin 
immer  größer  und  klaffender  werden.  Wir  vermögen  darin 
weder  etwas  Zweckmäßiges,  noch  etwas  Segensreiches 
zu  erblicken. 


V.  Heredität  und  Homosexualität. 

Angeboren  ist  nicht  immer  ererbt.  Wäre  beispiels- 
weise unsere  Vermutung  richtig,  daß  das  Männliche  und 
Weibliche  im  Menschen  von  dem  Mischungsverhältnis 
der  männlichen  und  weiblichen  Zeugungsstoffe  abhängig 
ist,  so  wäre  der  homosexuelle  Trieb  wohl  eingeboren, 
aber  nicht  ererbt  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes.  Genau 
genommen  kann  man  nur  etwas  erben,  was  die  Eltern 
besitzen.  Demnach  müßte  von  den  Eltern  eines  urnischen 
Kindes  zum  mindesten  eines  urnisch  sein.  Das  ist  aber 
verhältnismäßig  sehr  selten  der  Fall.  Der  wissenschaft- 
liche Sprachgebrauch  hat  allerdings  den  Begriff  der  Ver- 
erbung wesentlich  erweitert,  und  nennt  ererbt  auch 
solche  Eigenschaften,  deren  Auftreten  erfahrungsgemäß 
von  gewissen  oft  ganz  anders  gearteten  Zuständen  der 
Eltern  hereditär  beeinflußt  wird,  so  nennen  wir  die 
Skrophulose  ererbt,  wenn  das  Kind  einer  tuberkulösen 
Familie  entstamm^  die  Epilepsie  ererbt,  wenn  der  Vater 
ein  Trinker  war,  die  Taubstummheit  ererbt,  wenn  die 
Eltern  blutsverwandt  waren.  Auch  die  Definition  von 
Möbius1):  „Entartete  sind  die,  welche  vermöge  krank- 
hafter Zustände  ihrer  Erzeuger  mit  einem  krankhaften 
Geisteszustände  zur  Welt  kommen*,  gehört  hierher.  Rich- 
tiger wäre  es  in  allen  diesen  Fällen  nur  im  allgemeinen 
von  ererbter  Belastung  oder  von  Belastung  allein  zu  reden. 

»)  V.  Magnan:  Psychiatrische  Vorlesungen;  in  der  Einleitung 
von  Möbius  S.  VI. 


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—   139  — 


Die  Forscher,  welche  die  Überzeugung  vertreten,  daß 
die  Homosexualität  angeboren  sei,  haben  unseres  Er- 
achtens dieser  erblichen  Belastung  einen  zu  hohen  Wert 
beigelegt  und  zwar  dürfte  die  Überschätzung  des  hereditären 
Einflusses  mit  der  Besonderheit  des  verarbeiteten  Materials 
zusammenhängen.  Sie  berücksichtigten  zu  wenig,  daß  fast 
alle  Konträrsexuellen,  die  zu  ihnen  als  hervorragenden 
Nervenärzten  kamen,  sich  subjektiv  leidend  fühlten  und 
objektiv  oft  in  indirekter  Verbindung  mit  ihrer  Homo- 
sexualität meist  an  Neurasthenie  litten,  einer  ebenfalls  viel- 
fach auf  neuropathischer  Heredität  basierenden  Störung. 
Meist  handelt  es  sich  auch  um  Patienten  aus  besseren 
Ständen,  in  denen  es  wohl  kaum  noch  eine  Familie  gibt, 
bei  der  nicht  unter  den  Augehörigen  Abweichungen  zu  kon- 
statieren sind,  etwa  Migräne  der  Mutter,  Selbstmord  eines 
Vetters,  die  sich  im  Sinne  psychopathischer  Disposition 
verwenden  lassen.  Wer  sehr  viele  gesunde  Homosexuelle 
exploriert  hat,  wird  erstaunt  sein,  wie  häufig  hereditär 
belastende  Umstände  —  auch  bei  weitester  Fassung 
des  Begriffs  der  Erblichkeit  —  fehlen.  Von  denen,  die  ich 
beobachtete,  stammen  mindestens  75%  von  gesunden 
Eltern  aus  glücklichen,  oft  sehr  kinderreichen  Ehen. 
Nervöse  oder  geistige  Anomalien,  Alkoholismus,  Bluts- 
verwandtschaft, Lues  sind  in  der  Aszendenz  keineswegs 
häufiger,  wie  unter  den  Vorfahren  normalsexueller  Per- 
sonen. In  der  Mehrzahl  der  Fälle  heirateten  Vater  und 
Mutter  aus  Neigung,  sehr  viele  Urninge  heben  das  be- 
sonders glückliche  Zusammenleben  ihrer  Eltern  hervor. 
Der  Altersunterschied  der  beiden  Eltern  weist  große 
Schwankungen  auf,  im  Durchschnitt  ist  der  Vater  5  bis 
10  Jahre  älter  wie  die  Mutter,  in  einem  Falle  betrug  der 
Altersunterschied  45  Jahre,  der  Vater  war  64,  die 
Mutter  19  Jahre,  als  das  urnische  Kind,  welches  das 
einzige  blieb,  geboren  wurde.  Unehelich  geborene  Homo- 
sexuelle kenne  ich  8.    Wiederholt  schien  es  mir,  daß  die 


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-    140  — 


Mutter  eine  mehr  aktive,  der  Vater  mehr  eine  passive 
Natur  war,  ohne  daß  eins  von  beiden  direkt  urnisch 
gewesen  wäre.  Das  von  manchen  als  ätiologisch  be- 
deutsam angegebene  Moment,  daß  die  Mutter  sich  ein 
Kind  entgegengesetzten  Geschlechtes  gewünscht  habe, 
entbehrt  einer  statistischen  Unterlage.  Die  Mutter  eines 
urnischen  Leutnants  teilte  diesem  auf  seine  Anfrage  mit, 
daß  sie  sich  allerdings  vor  seiner  Geburt  —  er  ist  der 
dritte  Sohn  —  eine  Tochter  gewüuscht  habe,  noch  mehr 
aber  habe  sie  dies  vor  der  Geburt  des  vierten  Knaben 
getan,  aus  dem  ein  scharf  heterosexueller  Frauenfreund 
und  Familienvater  geworden  ist.  Bei  den  20 — 25%  der 
Homosexuellen,  wo  erbliche  Belastung  vorlag,  fanden  sich 
fast  durchgängig  Zeichen  der  Degeneration, 
die  von  der  Homosexualität  als  solcher  unabhängig  waren. 

Sind  also  in  8/4  der  Fälle  »krankhafte  Zustände  der 
Erzeuger*  bei  gewissenhafter  Nachforschung  nicht  zu 
eruieren,  so  gibt  es  doch  eine  Tatsache,  aus  der  sich  mit 
Sicherheit  schließen  läßt,  daß  eine  Familienanlage  zur 
Homosexualität  bestehen  muß,  wenn  auch  keine  krank- 
hafte. Dieses  Faktum  ist  das  verhältnismäßig  sehr  häufige 
Vorkommen  homosexueller  Geschwister.  Unter  100 
Urningen  finden  sich  durchschnittlich  8,  deren  Bruder 
oder  Schwester  ebenfalls  homosexuell  sind.  Diese  Zahl, 
die  mit  der  Gesamtmenge  der  Urninge  in  gar  keinem 
Verhältnis  steht,  kann  kein  Zufall  sein,  auch  ist  der  Ein- 
fluß der  gleichen  Erziehung  oder  psychischer  Ansteckung 
auszuschließen,  denn  meist  haben  diese  Personen  noch 
eine  ganze  Reihe  normalsexueller  Geschwister,  die  in  dem- 
selben Milieu  aufgewachsen  sind  und  in  nahezu  der  Hälfte 
der  Fälle  handelt  es  sich  um  Bruder  und  Schwester,  auf 
die,  wenn  sich  Homosexualität  züchten  ließe,  ganz  ent- 
gegengesetzte Faktoren  eingewirkt  haben  müßten,  denn  die 
Umstände,  die  den  Sohn  eifeminierend  beeinflussen  könnten, 
müßten  die  Tochter  erst  recht  weiblieh  machen  und  um- 


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—    141  — 


gekehrt,  es  sei  denn,  daß  Eltern  absichtlich  ihre  Söhne 
nach  weiblicher,  ihre  Töchter  nach  männlicher  Art  er- 
ziehen, was  schwerlich  vorkommen  dürfte.  Oft  sind  auch 
die  urnischen  Geschwister  getrennt  von  einander  aufge- 
wachsen. So  berichtet  ein  höchst  femininer  Urning  von 
russischer  Abkunft,  der  in  Deutschland  erzogen  wurde: 
„Meine  einzige  Schwester,  von  der  ich  seit  Kindheit  ge- 
trennt bin,  hat  fast  alle  Vorzüge  eines  Mannes,  sie  studiert 
in  Petersburg  Medizin,  raucht  und  treibt  sehr  viel  Sport; 
sie  schwärmte  in  der  Schule  sehr  für  ihre  Lehrerin  und 
lebt  mit  einer  Studiengenossin  in  enger  Freundschaft  zu- 
sammen.*' Unter  58  urnischen  Geschwistern,  die  mir  per- 
sönlich oder  dem  Namen  nach  bekannt  sind,  finden  sich 
26  mal  Bruder  und  Schwester,  21  mal  homosexuelle  Brüder, 
darunter  2  mal  Zwillingsbrüder,  3  mal  homosexuelle  Schwe- 
stern, 6  mal  3,  1  mal  4,  lmal  5  urnische  Geschwister. 
29  mal  sind  sämtliche  (2,  3  und  5)  Kinder  homosexuell, 
in  7  Fällen  hat  sich  ein  Bruder  wegen  Homosexualität 
das  Leben  genommen.  Verhältnismäßig  häufig  finden  sich 
auch.  Homosexuelle  in  der  Vetterschaft.  In  einer  euro- 
päischen Fürstenfamilie,  welche  im  Jahre  1880  14  männ- 
liche Mitglieder  zählte,  fanden  sich  nachweislich  vier, 
wahrscheinlich  sogar  sechs  Urninge.  In  den  Fällen,  wo 
mehr  als  zwei  Kinder  homosexuell  sind,  scheint  mir  eine 
psychopathische  Belastung  häufiger  vorzuliegen,  soweit 
sich  dies  bei  dem  relativ  spärlichen  Material  sagen  läßt. 
Im  Falle  der  4  urnischen  Geschwister  waren  der  Vater 
und  der  Großvater  mütterlicherseits  Brüder,  in  dem  der 
5  Geschwister  berichtet  der  älteste  Bruder,  ein  mir  auch 
persönlich  bekannter  tüchtiger  Schriftsteller :  „Meine  vier 
jüngeren  Geschwister,  eine  Schwester  und  3  Brüder,  sind 
wie  ich  veranlagt.  Mein  2.  Bruder  nahm  sich  im  28.  Jahr 
das  Leben.  Er  verlobte  sich,  glaubte  aber  nach  kurzer 
Zeit  das  Mädchen  nicht  wirklich  lieben  und  befriedigen 
zu  können,    wurde  krankhaft   mißtrauisch  gegen  seine 


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—    142  — 


Umgebung,  von  der  er  sich  in  seiner  Anomalie  durch- 
schaut glaubte  und  erhängte  sich  in  einem  Sanatorium. 
Wir  Geschwister  sind  sämtlich  von  der  Mutter  her  sehr 
musikalisch  und  schöngeistig  veranlagt,  die  Mutter  war 
eine  kluge  energische  Frau  von  vorzüglichen  Gemüts- 
eigenschaften.  In  ihrem  Gesicht  lag  ein  männlicher  Zug. 
Sie  starb  im  50.  Jahr  an  Unterlcibskrebs.  Der  Vater 
war  skrophulös,  schwerhörig,  willensschwach,  er  starb  im 
58.  Jahr  nach  langjährigem  Rückenmarksleiden.  Die 
Mutter  meines  Vaters  hatte  in  ihrem  Tun  etwas  ent- 
schieden Männliches  und  hatte  im  Alter  einen  Hart." 
Ich  bemerke,  daß  der  Berichterstatter  körperliche  und 
geistige  Degenerationszeichen  aufweist  (u.  a.  unregelmäßige 
Zahustellung,  verbildete  Zehen,  allerlei  Absonderlichkeiten 
und  Exzentrizitäten  neben  hoher  geistiger  Befähigung, 
Zwangsvorstellungen,  so  ist  es  ihm  unmöglich  rechts  von 
jemandem  zu  gehen,  exhibitionistische  Anwandlungen  etc.). 
Es  handelt  sich  hier  also  um  einen  erblich  belasteten 
Homosexuellen,  der  zugleich  ein  Degenerierter  ist. 

Die  Frage  zu  entscheiden,  wie  gesunde  Eltern  zu 
homosexuellen  Kindern  kommen,  werden  wir  schwerlieh 
im  Stande  sein,  bevor  wir  nicht  wissen,  wovon  es  ab- 
hängt, daß  das  eine  Mal  Knaben,  ein  anderes  Mal  Mädchen 
geboren  werden.  Vorläufig  können  wir  nur  die  uns  in 
ihren  Gründen  völlig  unklare,  aber  höchst  weise  Tatsache 
konstatieren,  daß  in  Deutschland  wie  fast  in  ganz  Europa 
auf  100  Mädchen  durchschnittlich  10Ö  Knaben  zur  Welt 
kommen.  Wir  werden  kaum  fehlgehen,  wenn  wir  hieraus 
und  aus  der  Erfahrungstatsache,  daß  —  soweit  unsere 
Kenntnis  reicht  —  überall  Homosexuelle  in  gleicher 
Menge  vorhanden  sind,  folgern,  daß  auf  ein  bestimmtes 
Quantum  Knaben  und  Mädchen  ein  konstanter  Prozent- 
satz urnischer  Personen  geboren  wird.  Die  Größe  desselben 
auch  nur  annähernd  anzugeben,  besitzen  wir  keine  exakten, 
einwandfreien   Grundlagen;    sie    zu    beschaffen,  dürfte 


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—    143  — 


eine  der  wichtigsten  Aufgaben  des  wissenschaftlich-humani- 
tären Komitees  sein.  Als  statistisch  erwiesen  dürfen  wir 
dagegen  ansehen,  daß  die  Homosexuellen  in  der  Mehrzahl 
der  Fälle  nicht  erblich  belastet  sind,  wie  es  bisher  meist 
geglaubt  wurde.  Diese  Feststellung  spricht  wesentlich 
dagegen,  daß  es  sich  in  allen  Fällen  von  Homosexualität 
um  eine  Degenerationserscheinung  handelt.  Bekanntlich 
waren  die  Psychiater,  die  sich  zuerst  mit  der  konträren 
Sexualempfindung  beschäftigten,  namentlich  Magnan  und 
Krafft-Ebing  auf  Grund  ihres  Materials  zu  dieser  Über- 
zeugung gelangt.  Magnan ')  hatte  gesagt:  „Die  Ver- 
kehrung des  geschlechtlichen  Empfindens  ist  nicht  eine 
Krankheit  für  sich,  sondern  das  Zeichen  eines  allge- 
meinen krankhaften  Zustandes,  ein  Syndrom  im  Bilde 
der  ererbten  Entartung."  Krafft-Ebing4)  gelangt  haupt- 
sächlich unter  Berücksichtigung  der  „in  fast  allen  Fällen 
vorhandenen  neuropathischen  Belastung*  zu  dem  Schlüsse, 
„daß  diese  Anomalie  der  psychosexualen  Empfindungs- 
weise als  funktionelles  Degenerationszeichen  klinisch  an- 
gesprochen werden  muß.*  Mit  der  Menge  der  zu  seiner 
Beobachtung  gelangenden  Homosexuellen  hat  er  aller- 
dings diesen  Standpunkt  wesentlich  eingeschränkt  und  in 
seiner  Arbeit  im  III.  Bande  dieser  Jahrbücher  (S.  6)  er- 
klärt er  ausdrücklich :  „Daß  die  konträre  Sexualempfindung 
an  und  für  sich  nicht  als  psychische  Entartung  oder 
gar  Krankheit  betrachtet  werden  darf."  Neuerdings  hat 
Möbius  in  der  geistvollen  Schrift:  „Geschlecht  und  Ent- 
artung"3) die  Anschauung  vertreten,  daß  die  Homo- 
sexualität stets  eine  Form  angeborener  Entartung  sei, 
er  beruft  sich  dabei  besonders  darauf,  daß  stets  erbliche 
Belastung  nachzuweisen  sei  und  daß  stets  auch  außer- 
halb  der  Geschlechtlichkeit   liegende   körperliche  und 

')  Magnan.   Psychiatrische  Vorlesungen,  IV.  V.  Heft.   S.  38. 
?i  Psychop.  sex.  S.  209. 
*)  S.  28  ff. 


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—    144  — 


geistige  Zeichen  der  Entartung  vorhanden  wären.  Wir 
sahen  bereits,  daß  die  erste  Voraussetzung  nicht  zutrifft, 
und  werden  erfahren,  daß  auch  die  zweite  Prämisse  einer 
Massenbeobachtung  gegenüber  nicht  Stich  hält.  Übrigens 
rechnet  Möbius  ')  (S.  36)  die  Homosexuellen  „nur  zu  den 
Leichtentarteten  oder  wie  man  gewöhnlich  sagt,  zu  den 
Nervösen."  Ein  anderer  sehr  erfahrener  Psychiater  — 
selbst  Urning  —  schreibt:  „Meine  Studien  haben  mir  kein 
positives  Resultat  ergeben.  Wohl  fand  ich  in  einzelnen 
Fällen  von  Homosexualismus  hereditäre  Einflüsse,  die 
aber  bei  anderen  fehlten.  Allerdings  fand  ich  unter 
Homosexuellen  Typen  mit  ausgeprägten  psychischen  und 
körperlichen  Degenerationszeichen,  andererseits  fand  ich 
aber  wieder  so  kerngesunde,  harmonische  Naturen,  daß 
sich  für  mich  trotz  eifrigsten  Bestrebens  nichts  Eindeutiges 
zur  Entscheidung  dieser  Frage  ergab.  Allerdings  ist  ein 
so  verhältnismäßig  kleines  Material,  wie  es  bisher  jedem 
auch  dem  bedeutendsten  Forscher  vorgelegen  hat,  nicht 
geeignet,  absolut  einwandfreie  Schlüsse  zu  ziehen.  Ein 
entscheidender  Beitrag  zur  Lösung  dieser  Frage  ist  wohl 
nur  von  der  Bearbeitung  des  großen  einschlägigen  Ma- 
terials, das  dem  wissenschaftlich-humanitären  Komite"  zur 
Verfügung  steht,  zu  erwarten.* 

Vor  kurzem  hat  sich  auch  Näcke*)  zu  der  Frage  ge- 
äußert und  zwar  in  dem  Sinne,  daß  die  Homosexualität 
allein  für  sich  bestehend  noch  keine  Entartung  ausmacht, 

')  Möbius  sagt  in  dieser  Broschüre  S.  40:  „Auch  ich  bin  der 
Meinung,  daß  die  Abschaffung  des  §  175,  dessen  Wirkung  haupt- 
sächlich in  Erpressungen  und  weiterbin  in  Selbstmorden  besteht, 
dringend  zu  wünschen  sei."  Wir  betonen  dies  Bloch  gegenüber, 
der  sich  gegen  die  Aufhebung  dieses  §  ausspricht  und  sich  dabei 
auch  (B.  I.  S.  252)  auf  frühere  Ausführungen  von  Möbius  stützt.  Auch 
die  zwei  anderen  Hauptgewährsmänner  von  Bloch:  Eulenburg  und 
v.  Sohren ck-Notzing  haben  die  Petition  unterzeichnet,  welche  für 
die  Beseitigung  dieser  verhängnisvollen  Strafbestimmung  eintritt. 

*)  In  Laehrs  Allg.  Zeitschrift  f.  Psychiatrie  1902.   S.  827. 


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-   H5  ~ 


daß  es  geistig  und  körperlich  völlig  normale  Homo- 
sexuelle gibt,  daß  man  dagegen  die  Homosexualität  als 
ein  Stigma  neben  anderen  gelten  lassen  kann,  wenn  auch 
nicht  als  ein  so  schweres,  wie  es  vielfach  hingestellt  . 
wurde.  Ich  habe  in  Gemeinschaft  mit  dem  Kollegen 
Dr.  Ernst  Burchard,  mehrjährigen  psychiatrischen  Assi- 
stenten, die  Beziehungen  zwischen  Degeneration  und 
Homosexualität  einem  eingehenden  Spezialstudium  unter- 
zogen und  können  wir  den  Thesen  Näckes  voll  und  ganz 
beipflichten. 

Wir  legten  uns  zuvörderst  die  Frage  vor,  inwieweit 
die  Homosexualität  als  Teilerscheinung  bei  Persönlich- 
keiten auftritt,  die  ihrer  gesamten  körperlichen  und 
geistigen  Veranlagung  nach  als  Entartete  zu  bezeichnen 
sind.  Wir  gingen  dabei  von  dem  jetzt  allgemein  gültigen 
Grundsatze  aus,  daß  ein  vereinzeltes  Degenerationszeichen 
noch  kein  Beweis  von  Entartung  ist,  daß  es  in  jedem 
Fall  des  Zusammentreffens  mehrerer  solcher  Eigenschaften 
bedarf,  von  denen  Möbius  sagt:  „Wo  sie  sind,  da  ist 
Entartung,  wo  ihrer  viel  sind,  viel,  wo  ihrer  wenig,  wenig.* 
Auszuschließen  waren  bei  dieser  Untersuchung  von  vorn- 
herein psychische  und  somatische  Erscheinungen,  welche 
mit  der  Homosexualität  in  unmittelbarem  Zusammenhange 
standen.  Wenn  beispielsweise  Möbius ')  sagt:  „ Kinder- 
liebe ist  ein  wesentlicher  Zug  des  weiblichen  Geistes; 
wenn  ein  Mann  seine  Kinder  abscheulich  findet,  so  erregt 
das  kein  Bedenken,  tut  es  ein  Weib,  so  ist  sie  mit  Be- 
stimmtheit als  entartet  zu  bezeichnen",  so  trifft  dies  für 
ein  normalsexuelles  Weib  gewiß  zu,  nicht  aber  für  eine  urni- 
sche  Individualität,  zu  deren  Gesamtbild  diese  Abneigung 
gegen  Fortpflanzung  und  Kinder  als  Teilerscheinung  ge- 
hört. Ebensowenig  werden  wir  bei  einem  homosexuellen 
Manne  sehr  weiche  Hände  oder  starke  Brustentwickelung 

»)  Staohyologie  S.  176. 

Jahrbuch  V.  10 


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—    146  — 


oder  Bartlosigkeit  als  Stigma  der  Degeneration,  sondern 
vielmehr  als  urnisches  Stigma  ansehen  dürfen.  Von 
körperlichen  Degenerationszeichen  hatte  Kollege  Burchard 
folgende  für  unseren  Zweck  zusammengestellt:1) 

Abnormer  Kopfumfang 

Asymmetrie  des  HirnschädeK 

Asymmetrie  des  Geaichtsschädels. 

Abnorme  Häßlichkeit. 

Mikro-  und  Anophthalmus. 

Fehlen,  Colobom  der  Iris. 

Farbenungleichheit  der  Iris. 

Ektopie  und  Ungleichheit  der  Pupillen. 

RetinitiB  pigmentosa. 

Angeborene  Kataract 

Cysten  der  Augenhöhle. 

Schielen,  Nystagmus. 

Die  zahlreichen  Anomalien  im  Bau  des  äußeren  Gehörorgans 
(wie  Spitzohr,  Darwinsches  Knötchen,  Ubermäßig  große, 
sehr  stark  abstehende  Ohren). 

Fisteln  der  Ohrmuschel. 

Anhänge  der  regio  auricnlaris  und  regio  colli. 

Kiemengangcysten. 

Gesichtsspalten. 


')  Es  wurden  besonders  folgende  Werke  berücksichtigt: 
Morel:  Degenerescences  de  Tespeoe  humain,  Paris  1856. 
Magnan:  Psychiatrische  Vorlesungen,  Deutsch  von  Möbius, 
Leipzig  1891. 

Fcre:  Nervenkrankheiten  und  ihre  Vererbung.  Deutsch  von 
Schnitzer,  Berlin  1896. 

Möbius:  Über  Entartung,  Wiesbaden  1900. 
Nordau:  Über  Entartung,  Berlin  1893. 

Arndt:  Biologische  Studien  (II.  Artung  und  Entartung, 
Greifswald  1895). 

Rhode:  Über  den  gegenwärtigen  Stand  der  Frage  nach  der 
Entstehung  und  Vererbung  individueller  Eigenschaften  und  Krank- 
heiten, Jena  1895.  (Mit  eingehender  Litt  erat ur angäbe  über  Ver- 
erbung bis  1895.) 

Cohn:  Ein  Beitrag  zur  Lehre  von  der  Vererbung.  —  Deut- 
sche medicinische  Presse. 

Fuhrmann:  Das  psychotische  Moment,  Leipzig  1903. 


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—    147  — 


Hasenscharten. 

Cysten  des  Zwischenkieferspalts. 

Anomalien  der  Zahnstellung  und  des  Zahnbaus. 

Hoher  und  spitzer  Gaumen. 

Spaltungen  des  Gaumens. 

Auffallend  massiver  Unterkiefer. 

Mikro-  und  Makroglossie. 

Anomalien  des  Zungenbändchens. 

Stottern,  Stammeln. 

Angeborene  Abweichungen  der  Wirbelsäule. 
Fehlen  von  Extremitäten  undfceinzelnen  Gliedern. 
Entwicklungshemmungen  in  der  Länge  der  Finger  und  Zehen. 
Polydaktylie,  Syndaktyüe. 
Schwimmhäute. 

Zu  harte  knochige,  zu  breite  tatzenartige,  zu  weiche,  wie 

knochenlose,  Übermäßig  feuchte  kalte  Hand. 
Klumpfuß,  Pferdefuß  etc. 
Hammerartige  Mißbildungen  der  großen  Zehe. 
Angeborene  Luxationen,  Neiguog  zu  Luxationen. 
GrOßenmißverhältnissc  der  Extremitäten  zum  Rumpf. 
Riesen-,  Zwergwuchs. 
Angeborene  Exostosen. 
Akromegalie. 
Spina  bifida. 

Mangelhafte  Mnskelentwickelnng. 

Fehlen  einzelner  Muskeln. 

Starke  Fettleibigkeit. 

Multiple  Lipome. 

Hämophilie. 

Situs  inversus. 

Neigung  zu  Krampfadern. 

Aplasie  der  Arterien. 

Pigraententartung  der  Haut  (Flecken  etc.). 

Albinismus. 

Hornartige  Gewächse  der  Haut 
Mangelhafte  und  abnorme  Behaarung. 
Vorzeitiges  Ergrauen. 
Doppelter  Haarwirbel. 
Ungenügendes  Wachstum  der  Haare. 
Zartheit  der  Nägel. 
Brüche,  Bruchanlage. 
Atresie,  Prolapse  des  Mastdarms. 

10* 


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Abnorme  Länge  de«  proz.  vermiformis. 
Neigung  zu  Appendicitis. 
Überzählige  BrUste. 
Pfleudo-Hermapuroditismus. 
Kryptorchismus.    Ektopie  der  Testikol. 
Hypospadie.  Epispadie. 
Phimose. 

Natürlich  sind  die  einzelnen  Stigmata  in  ihrer  Be- 
deutung sehr  verschieden  zu  bewerten,  so  werden  vor- 
zeitiges Ergrauen,  Neigung  zu  Appendicitis,  zu  Krampf- 
adern und  -Bruchanlage  zusammengenommen  weniger  zu 
besagen  haben  als  eine  Verbindung  von  Hasenscharte 
und  Polydaktylie.  An  die  körperlichen  Entartungszeichen 
schließt  sich  die  Neigung  zu  bestimmten  konstitutionellen 
Erkrankungen  an,  die  man  ebenfalls  als  Entartungszeichen 
ansieht.  Im  Wesentlichen  sind  es  Rachitis,  Tuberkulose, 
Skrophulose,  Diabetes  und  die  Krankheiten  der  arthriti- 
schen Gruppe.  Die  Anlage  zu  gewissen  nervösen  Er- 
krankungen, der  man  eine  gleiche  Bedeutung  beilegt,  zur 
Chorea,  Basedowschen,  Parkinsonschen,  Thomsenschen 
Krankheit,  Muskelatrophie,  Migräne,  Neuralgieen,  Epilepsie, 
Hysterie  und  Neurasthenie  leitet  uns  auf  das  Gebiet  der 
psychischen  Degenerationszeichen  Uber.  Hier  kommt  es 
für  uns  weniger  auf  die  ausgesprochen  pathologischen 
Zustände  des  sogenannten  Entartungsirreseins  an,  die 
ohnehin  von  den  übrigen  endogenen  Psychosen  schwer 
zu  trennen  sind,  als  vielmehr  auf  jene  psychischen  Stigmata, 
die  außerhalb  eigentlicher  Geistesstörungen  den  Entarteten 
charakterisieren.  Es  sind  dies  nach  Fi're":  Extreme  Reiz- 
barkeit des  Charakters,  Veränderlichkeit  der  Gefühle  und 
Neigungen,  Absonderlichkeit  des  Geschmacks  (z.  B.  im 
Alkuholismus  und  Morphinismus  hervortretend),  damit 
im  Zusammenhang  steht  die  für  den  Entarteten  charakte- 
ristische Tatsache,  daß  bei  ihm  der  Impuls  zum  Handeln 
stärker  ist,  als  es  nach  den  bestimmenden  Motiven  der 
Fall  sein  sollte.    Magnan  stellt  in  den  Vordergrund  die 


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—    149  — 


verringerte  Fähigkeit  sich  geistig  konzentrieren  zu  können 
nebst  der  Unfähigkeit,  lästige  Gedanken  zu  bannen,  was 
zu  Zwangshandlungen  führt  (Platzfurcht,  Onomatomanie, 
Arithmomanie,  Selbstmordmanie  etc.).  Möbius  endlich 
sieht  das  wesentliche  in  der  psychischen  Unbeständigkeit 
und  Disharmonie,  die  in  Gleichgewichtsstörungen  zum 
Ausdruck  gelangt.  Wichtig  für  die  Bewertung  psychischer 
Entartungszeichen  ist  der  Satz,  daß  diejenigen,  welche 
unter  gleichen  Lebensbedingungen  stehen,  wissen  werden, 
was  an  dem  Betreffenden  atypisch  ist.  Hier  ist  jedoch 
wieder  zu  berücksichtigen,  daß  dem  Normalsexuellen 
vieles  atypisch  erscheinen  wird,  was  dem  spezifisch  homo- 
sexuellen Empfinden  entspringt  und  mit  der  urnischen 
Natur  vollkommen  harmoniert,  sodaß  von  diesem  Gesichts- 
punkt aus  von  einer  Disharmonie  der  psychischen  Persön- 
lichkeit nicht  die  Rede  sein  kann.  Weiterhin  sind  auch 
die  nervösen  Stigmata  in  Abzug  zu  bringen,  welche  als 
unmittelbare  Folgeerscheinungen  der  homosexuellen 
Triebrichtung  aufzuladen  sind.  Wenn  wir  uns  vergegen- 
wärtigen,  welchen  gewaltigen  Faktor  die  homosexuelle 
Leidenschaft  im  individuellen  Leben  ausmacht,  so  werden 
wir  begreifen,  daß  stärkere  Alterationen  dieser  Sphäre 
auf  das  ganze  mit  dem  Sexualtrieb  so  eng  verknüpfte 
Nervensystem  besonders  nachteilig  wirken  werden.  Un- 
glückliches Lieben  steht  unter  den  Ursachen  der  Neu- 
rasthenie obenan  und  man  sollte  nie  versäumen,  wenn  man 
bei  Patienten  die  mit  erhöhter  Erregbarkeit  verbundenen 
nervösen  Depressionen  findet,  das  Sexualleben  im  weitesten 
Sinn  als  ätiologisches  Moment  in  Betracht  zu  ziehen. 
Gilt  das  schon  für  Normalsexuelle,  um  wie  viel  mehr  für 
Homosexuelle,  deren  innere  Angst  und  Erregungszu- 
stände, deren  so  oft  zu  Selbstmordversuchen  führende 
Liebeskonflikte,  deren  qualvolle  Unterdrückungskämpfe 
oft  eine  fortlaufende  Reihe  psychischer  Traumen  darstellen. 
Wir  müssen  also  bei  unseren  Untersuchungen  die  auf  dem 


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Boden  der  Entartung  und  die  auf  dem  der  Homosexualität 
entstandene  Neurasthenie  wohl  unterscheiden. 

Wenn  wir  uns  nun  nach  Auschluß  der  mit  dem  homo- 
sexuellen Triebe  im  unmittelbaren  Zusammenhang  stehen- 
den Stigmen  die  Frage  vorlegen:  Bestehen  bei  Homo- 
sexuellen die  körperlichen  und  geistigen  Entartungszeichen 
in  höherem  Prozentsatz  als  bei  Normalsexuellen?,  so 
lautet  die  Antwort:  Nein.  Burchard  und  ich  fanden 
unter  200  beliebig  ausgewählten  Homosexuellen  32  mit 
ausgesprochenen  Degenerationszeichen  also  ca.  16%  und 
zwar  waren  diese  fast  sämtlich  erblich  belastet. 

Stände  die  Homosexualität  im  unmittelbarem  Zu- 
sammenhang mit  der  Degeneration,  so  müßten  die  Zeichen 
der  Entartung  nicht  nur  bei  Homosexuellen,  sondern  auch 
die  Homosexualität  in  größerem  Umfange  bei  schwerer 
Degenerierten  nachzuweisen  sein.  Auch  das  trifft  nicht 
zu.  Man  vergleiche  die  im  II.  Aufsatz  dieses  Bandes 
von  Näcke  mitgeteilten  Beobachtungen  aus  der  Irren- 
anstalt Hubertusburg,  auch  Dr.  Burchard  sah  während 
seines  mehrjährigen  Aufenthalts  in  der  Heilanstalt  Ucht- 
springe  unter  dem  dortigen  überaus  zahlreichen  Material 
von  Degenerierten  schwerster  Art  nur  einen  Fall  aus- 
gesprochen homosexueller  Veranlagung  (bei  einem  Epi- 
leptiker.) 

Tritt  also  die  Homosexualität  in  gut  4/5  der  Fälle 
bei  völlig  Gesunden  und  nur  in  knapp  Vs  De*  Degene- 
rierten auf,  steht  sie  demnach  keineswegs  so  oft  in  Ver- 
bindung mit  sonstigen  Zeichen  der  Degeneration,  daß  sie 
notwendig  mit  ihr  verknüpft  erscheint,  so  bleibt  noch  der 
Einwand  übrig,  und  dieser  ist  erhoben  worden,  daß  die 
Homosexualität  allein  für  sich  ihren  Träger  zum  Degene- 
rierten, zu  einem  minderwertigen  Repräsentanten  der 
Gattung  Mensch  stempelt.  Auch  Möbius  scheint  dieser 
Meinung  zuzuneigen.  Er  sagt  (Stachyologie  S.  132)  einmal : 
„Mit  der  Zivilisation  wächst  die  Entartung,  d.  h.  die  Ab- 


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weichung  von  der  ursprünglichen  Art  —  Eine  der 
wichtigsten  Arten  geistiger  Abweichung  besteht  darin, 
daß  der  Geschlechtscharakter  an  seiner  Bestimmtheit  ver- 
liert, daß  beim  Manne  weibliche  Züge,  beim  Weibe 
männliche  auftreten.*  Man  mißt  dabei  diesen  Zügen,  deren 
Symptomenkomplex  doch  zweifellos  eine  Einheit  bildet, 
eine  Bedeutung  bei,  die  man  keinem  anderen  Stigma  zu- 
erkennt, und  setzt  sich  in  Widerspruch  mit  dem  von  den 
Psychiatern  allgemein  angenommenen  Satz,  daß  es  zur  Fest- 
stellung der  Entartung  stets  mehrerer  Degenerations- 
zeichen  bedarf.  Um  zu  entscheiden,  ob  die  Homosexualität 
für  sich  eine  Entartung  bedeutet,  muß  man  sich  vor 
allem  über  diesen  Begriff  Klarheit  verschaffen,  eine 
durchaus  nicht  leichte  Aufgabe,  denn  die  Erklärung: 
„Entartung  ist  ein  krankhafter  Geisteszustand  auf  Grund 
krankhafter  Zustände  der  Erzeuger",  sowie  die  andere 
Definition:  „Entartung  ist  eine  ererbte  Abweichung  vom 
Typus,  die  die  durch  die  Variabilität  gezogenen  Grenzen 
übersteigt",  rufen  sofort  die  Gegenfragen  wach:  was  ist 
krankhaft?  was  ist  der  Typus?  was  ist  die  Norm?  welches 
sind  die  Grenzen  physiologischer  Varietät?  Wir  können 
doch  unmöglich  Lombroso  beipflichten,  der  auf  die  tele- 
graphische Anfrage  des  New  York  Herald:  Was  ist  ein 
normaler  Mensch?  antwortete:  „Ein  Mensch,  der  über 
einen  gesegneten  Appetit  verfügt,  ein  tüchtiger  Arbeiter, 
egoistisch,  geschäftsklug  (routin£)  geduldig,  jede  Macht- 
sphäre achtend  .  .  ein  Haustier." 

Gewiß  stellt  der  Homosexualismus  die  Minorität  des 
geschlechtlichen  Empfindens  dar,  sodaß  man  ihn  ver- 
gleichsweise als  von  der  Norm  abweichend  und  in 
diesem  Sinne  als  abnormal  bezeichnen  kann.  Sieht 
man  aber  von  Vergleichen  ab  und  betrachtet  ihn  ganz 
objektiv,  rein  für  sich,  als  etwas  einmal  Bestehendes, 
so  bildet  er  in  sich  etwas  so  Ubereinstimmendes,  die  ihm 
eigenartige   Geschlechtsempfindung  entspricht    so  sehr 


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seinem  ganzen  Wesen  und  zeigt  so  bis  ins  einzelne 
gehende  Analogieen  mit  der  heterosexuellen  Geschlechts- 
empfindung, daß  man  bei  ihm  wohl  von  einer  besonderen 
Art>  einem  besonderen  Geschlecht  absolut  gesprochen, 
aber  nicht  von  einer  Anomalie  im  pathologischen  Sinne 
reden  kann.  Das  Disharmonische,  die  Störung  der  nor- 
malen geistigen  Proportionen  (desequilibration),  auf  welche 
die  Psychiater  mit  Recht  hohen  Wert  legen,  ist  beim 
Homosexuellen  nur  scheinbar  vorhanden.  Die  Ansicht 
Molls,  welche  er  in  einer  seiner  letzten  Arbeiten  *)  mit 
den  Worten  vertritt:  „Zu  den  krankhaften  Erscheinungen 
rechne  ich  unter  allen  Umständen  die  ausgeprägte  Homo- 
sexualität. Wo  ein  solches  Mißverhältnis  zwischen  Körper- 
bildung und  seelischer  Verfassung  besteht,  haben  wir 
einen  pathologischen  Zustand  vor  uns,*  diese  Ansicht 
wäre  richtig,  wenn  der  Homosexuelle  körperlich  und 
geistig  so  konstituiert  wäre,  wie  der  Normalsexuelle.  Wir 
haben  ausführlich  dargetan,  daß  ein  derartiges  Mißver- 
hältnis in  Wirklichkeit  nicht  besteht.  Nicht  ohne 
Berechtigung  schreibt  ein  homosexueller  Gelehrter: 
„Wenn  jemand,  der  sonst  gesund  ist,  durch  die  Be- 
friedigung eines  Triebes  Glück  empfindet,  dürfte  doch 
das  Prädikat  „krankhaft"  widerlegt  sein.  Ich  verspüre 
nach  jeder  Auslösung  meines  Triebes  ein  so  erhöhtes 
Kraftgefühl,  soviel  innere  Harmonie,  eine  so  arbeitsfrohe 
Stimmung,  daß  seine  völlige  Unterdrückung  für  mich 
eine  kontradiktio  in  —  subjekto  bedeuten  würde."  Die 
Pathologen  verstehen  unter  Krankheit  eine  den  Körper 
schädigende,  meist  auch  unangenehm  empfundene  Er- 
scheinung. Die  Homosexualität  an  und  für  sich  verschafft 
ihren  Trägern  aber  weder  Schaden  noch  Unannehmlich- 
keiten, diese  erwachsen  ihnen  nur  aus  den  Verhältnissen. 
Auch  der  häufige  Mangel  hereditärer  Belastung  spricht 

»)  Zukunft:  Sexuelle  Zwischenstufen.   S.  438.  1902. 


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sehr  dagegen,  daß  die  homosexuelle  Empfindung  als  solche 
ein  Degenerationsphänomen  ist,  ebenso  der  Umstand,  daß 
sich  die  Homosexuellen  sehr  oft  einer  erstaunlichen 
körperlichen  und  geistigen  Gesundheit,  Kraft  und  Zähig- 
keit erfreuen;  erst  kürzlich  besuchte  mich  ein  siebzig- 
jähriger Uranier,  der  mir  mitteilte,  daß  er  nie  krank  ge- 
wesen sei  und  es  im  alpinen  Sporte,  dem  er  mit  Eifer 
huldigte,  noch  jetzt  mit  jedermann  aufnehmen  könne. 
Eulenburg ')  und  Bloch  meinen,  daß  die  Ubiquität  der 
Homosexualität,  ihre  Unabhängigkeit  »von  Zeit  und  Ort, 
von  Rassenverhältnissen  und  Kulturformen"  gegen  die 
Annahme  einer  Degenerationserscheinung  spräche,  doch 
ist  dem  mit  Hecht  entgegenzuhalten,  daß  es  tiberall  Ent- 
artete geben  kann.  Richtig  ist,  daß  Kultur  und  Civilisation 
sowie  „das  Zeitalter  der  Nervosität"  nicht  verantwortlich 
zu  machen  sind  und  es  freut  mich,  nach  so  vielen 
Meinungsverschiedenheiten  hierin  mit  Bloch  überein- 
stimmen zu  können,  wennschon  ich  gewünscht  hätte,  da  Li 
der  Autor  aus  dem  Ergebnis  seiner  historischen  For- 
schungen: Die  Homosexualität  kann  kein  „  Kulturprodukt  * 
sein,  den  Schluß  gezogen  hätte:  Dann  wird  sie  wohl  ein 
„Naturprodukt*  sein. 

Manche  erblicken  in  der  relativen  Fortpflanzungs- 
unfähigkeit der  Homosexuellen  einen  Beweis  ihrer  Krank- 
haftigkeit. So  sagt  Wachenfeld4):  „Die  Homosexualität 
kann  nichts  rein  Natürliches,  Physiologisches  sein;  denn 
sonst  würde  die  Natur  die  homosexuelle  Befriedigung, 
ebenso  wie  die  heterosexuelle,  in  den  Dienst  der  Fort- 
pflanzung und  Arterhaltung  gestellt  haben."  Auch  Kraft't- 
Ebing  schwebte  wohl  diese  negative  Seite  des  homosexu- 
ellen Triebes  vor  Augen,  als  er  sagte8):  „Die  Verletzung 

')  Eulenburg  in  der  Vorrede  zu  Blochs  Beiträgen  z.  Ätiol.  d. 
Psych,  sex.  S.  IX  u.  Bloch  ibidem  S.  3  u.  ff. 
•)  A.  a.  0.  S.  38. 
3)  Pa.  sex.  8.  248. 


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—    154  — 


von  Naturgesetzen  ist  anthropologisch  und  klinisch  als 
eine  degenerative  Erscheinung  anzusprechen.*  Wie  aber, 
wenn  hier  gar  kein  Naturgesetz  verletzt  würde,  wenn  es 
im  Plane  der  Natur  gelegen  hätte,  Wesen  hervorzubringen, 
für  die  es  nicht  normal  ist,  sich  fortzupflanzen?  Unter- 
scheiden wir  recht  genau  die  Gesetze,  welche  wir  schufen 
und  die  Gesetze,  welche  uns  schufen. 

Gewiß  ist  der  geschlechtliche  Verkehr  die  Ursache 
der  Fortpflanzung,  diese  ist  seine  Folge,  eine  —  wie  die 
Erfahrung  zeigt  —  oft  nicht  einmal  erwünschte  Begleit- 
erscheinung. Auch  ohne  daß  wir  bisher  über  den  Prozent- 
satz der  Homosexuellen  zur  Gesamtbevölkerung  genaue 
Angaben  machen  können,  dürfen  wir  behaupten,  daß  der 
im  homosexuellen  Verkehr  der  Fortpflanzung  entgehende 
Zeugungsstoff  prozentual  verschwindend  ist  gegenüber  dem 
im  normalen  Geschlechtsverkehr  bewußt  und  unbewußt 
verschwendeten.  Die  schöpferische  Natur  geht  mit  dem 
Zeugungsstoff  allüberall  in  ungemein  verschwenderischer 
Weise  um.  Es  genügt  ihr,  wenn  von  diesem  Stoff'  nur 
ein  ganz  ungeheuer  geringer  Prozentsatz  der  Befruchtung 
dient  Der  Anatom  Henle1)  berechnete  die  Zahl  der 
Eier  in  dem  Eierstock  eines  18  jährigen  Mädchens  auf 
36000,  in  beiden  Ovarien  zusammen  also  auf  72  000.  In 
den  30  Jahren  von  der  ersten  Periode  bis  zum  Klimacte- 
rium  werden  davon  nur  30  X  12  =  360  Eier  abgestoßen. 
Und  von  diesen  werden  selten  mehr  als  10  befruchtet 
Unvergleichlich  größer  noch  ist  die  Verschwendung  des 
männlichen  Zeugungsstoffs.  500  Millionen  Samenzellen 
füllen  den  Raum  einer  einzigen  Kubiklinie  aus;2)  be- 

l)  J.  Henle:  Handbuch  der  systein.  Anatomie  des  Menschen 
Bd.  2  S.  483.    Braunschweig,  Vieweg  1866. 

')  Man  vergl.  Bunges  Physiologie  Band  I  1901  8.  344  u.  Bd.  11 
S.  100.  Über  die  Speraiauienge  bei  einer  Ejakulation  finden  sioh 
Angaben  bei : 

1.  William  Acton:  The  functions  and  desorders  of  the  repro- 


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rücksichtigen  wir  nun,  daß  die  bei  einer  Entleerung  ab- 
gegebene Spermamenge  c.  10  gr.  beträgt  daß  50 — 100 
Eskalationen  im  Jahr  gewiß  nichts  seltenes  sind,  so  kann 
man  getrost  sagen,  daß  von  vielen  Milliarden  männlicher 
Keimzellen  kaum  eine  den  Keim  zu  einem  neuen  Menschen 
legt.  Sterben  doch  die  direkten  Nachkommen  fast  jedes 
einzigen  Menschen  —  man  vergleiche  die  genealogischen 
Tafeln  —  nach  wenigen  Generationen  aus.  Der  natürliche 
Mensch  denkt  beim  Geschlechtsverkehr  auch  gar  nicht 
an  die  Fortpflanzung.  Für  ihn  ist  der  Geschlechtsverkehr 
nicht  Mittel  zum  Zweck,  sondern  Selbstzweck.  Vollzieht 
er  den  Geschlechtsakt  zum  Zwecke  der  Fortpflanzung, 
so  handelt  er  aus  Reflexion.  Von  den  beiden  Kompo- 
nenten des  Geschlechtstriebes,  dem  Kontrektations-  und  De- 
tumescenztriebe  Mo  Iis,  dem  Ergänzungs-  und  Geschlechts- 
befriedigungstrieb, hat  der  erstere  mit  der  Fortpflanzung 
direkt  überhaupt  nichts  zu  tun.  Dabei  ist  er  für  den 
Charakter  und  die  Richtung  des  sexuellen  Triebes  das 
wesentlichere.  Es  ist  auch  sehr  wahrscheinlich,  daß,  wenn 
die  Fortpflanzung  beim  Menschen,  wie  bei  so  vielen 
Lebewesen,  ungeschlechtlich  wäre,  der  Gefühlskomplex, 
der  in  der  geschlechtlichen  Zuneigung  zum  Ausdruck  ge- 
äugt, nicht  völlig  aus  der  Welt  verschwände.  Das,  was 
wir  im  weiteren  Sinne  Herdentrieb,  im  engeren  Sinne 
Ergänzungstrieb  (Kontrektationstrieb)  nennen,  würde  sicher- 
lich auch  dann  noch  fortbestehen.  Denken  wir  uns  den 
Ergänzungstrieb  vom  Geschlechtsbefriedigungstrieb  los- 
gelöst, so  wird  es  uns  nicht  mehr  so  rätselhaft  erscheinen, 

ductive  Organs  etc.  III.  ed.  London.  Churchhill  1802  p.  151.  (A. 
nimmt  8—10  gr.  an.) 

2.  Dr.  J.  Marion  Sims:  „Klinik  der  Gebärmutterchirurgie" 
deutsch  von  H.  Beigel.  Aufl.  8.  Erlangen.  Enke  1873.  S.  317. 
(c.  10  gr.) 

3.  Paolo  Mantegazza:  Sullo  sperma  umano.  Reale  istituto 
Lombardo  di  scienze  e  letere.   Rendiconti  Vol.  III  1866.  p.  184. 


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daß  das  Objekt  dieses  Ergänzungstriebes,  der  Gegenstand 
der  Liebe,  auch  eine  Person  sein  kann,  mit  der  ein  neues 
Wesen  zu  zeugen  nicht  möglich  ist  Andererseits  wird 
es  uns  auch  verständlicher  werden,  daß  sich  der  Ge- 
schlechtsbefriedigungstrieb (Detumescenztrieb)  demjenigen 
Objekt  zuwendet,  auf  das  der  Kontrectationstrieb  gerichtet 
ist.  Der  Detumescenztrieb  ist,  so  groß  seine  praktische 
Bedeutung  sein  mag,  dabei  doch  nur  untergeordnet,  sekun- 
där, und  man  sollte  ihm  daher  bei  einer  objektiven  Beur- 
teilung der  Homosexualität  nicht  die  erste  Rolle  zuweisen, 
wie  es  vielfach  geschieht. 

Der  Geschlechtsverkehr  beansprucht  für  die  Er- 
haltung der  Arten  keineswegs  die  Bedeutung,  welche 
ihm  mit  dem  Gegenstand  nicht  Vertraute  zuerkennen. 
Bunge  sagt  in  seinem  meisterhaften  Lehrbuch  der  Physi- 
ologie *) :  „Die  Konjugation,  die  geschlechtliche  Zeugung 
ist  flir  die  Fortpflanzung  unwesentlich.  Das  Wesentliche 
ist  die  Zeugung  durch  Teilung  einer  Zelle,  die  vom 
Wachstum  nicht  verschieden  ist.  Welche  Bedeutung 
die  geschlechtliche  Zeugung  hat,  wissen  wir 
nicht." 

Das  Ausschlaggebende  bei  der  Fortpflanzung,  die 
Befruchtung,  die  Vereinigung  der  Keimstoffe,  ist  ja  über- 
dies ein  völlig  gefühlloser  Vorgang,  von  dem  wir  ebenso- 
wenig wie  vom  Wachsen  das  geringste  merken.  Bunge 
hat  vollkommen  recht:  „Wachstum  und  Fortpflanzung  sind 
im  Grunde  genommen  ein  und  dasselbe.  Wachstum  ist 
Fortpflanzung  innerhalb  der  Grenzen  des  Individuums. 
Fortpflanzung  ist  Wachstum  über  die  Schranken  des 
Individuums  hinaus*;  auch  der  Mensch,  der  über 
sich  hinaus  wächst,  der  durch  neue  Gedanken 
und  Windungen  seine  und  des  anderen  Gehirn- 
oberfläche vergrößert,  p fla nzt  sich  f ort.  Vom 

>)  1.  Aufl.  im  erschienen.  * 


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Wachstum  zur  ungeschlechtlichen  Fortpflanzung,  von 
dieser  zur  geschlechtlichen  Zeugung  führen  alle  nur  er- 
denklichen Übergänge.  Gerade  die  imposante  Vielseitige 
keit,  die  unendliche  Mannigfaltigkeit,  mit  der  die  Natur 
an  der  Erhaltung  und  Vervollkommnung  ihrer  Geschöpfe 
arbeitet,  sollte  uns  vor  der  Vermessenheit  schützen,  der 
Natur  ins  Handwerk  zu  pfuschen.  Wie  können  wir  es 
verantworten,  dem  Menschen  ein  Recht  abzuerkennen,  das 
keinem  anderen  Lebewesen  vorenthalten  ist.  Die  ge- 
schlechtlichen Beziehungen  erwachsener  und  zurechnungs- 
fähiger Wesen  gehen  wahrlich  keinen  dritten  etwas  an. 
Wie,  wenn  der  Zweck  des  Geschlechtstriebes  nur  die 
Liebe  wäre,  die  Liebe,  die  stets  fruchtbar  ist,  zeugt  und 
gebiert,  auch  wenn  ihr  keine  neue  Lebewesen  entsprießen? 
Man  kann  auch  produktiv  sein,  ohne  sich  fortzupflanzen. 
Wenn  Möbius  die  Fortpflanzung  als  wichtigsten  Natur- 
zweck1)  bezeichnet,  so  setze  ich  dem  Leipziger  Psychiater 
den  Leipziger  Psychologen  entgegen,  Wundt,  den  man 
den  größten  Philosophen  der  Jetztzeit  genannt  hat.  Dieser 
stellt  als  mittelbaren  und  unmittelbaren  Zweck  des  Lebens 
die  Erzeugung  geistiger  Schöpfung  hin.2)  Haben  denn 
Michelangelo,  Beethoven  und  Friedrich  der  Große  ihren 
Naturzweck  verfehlt,  weil  sie  keine  Kinder  zeugten?  Ich 
meine,  sie  bedeuten  der  Menschheit  mehr,  als  100  ihrer 
Zeitgenossen,  die  1000  Kinder  hinterließen.  Nicht  um- 
sonst hat  man  von  geistiger  Befruchtung  und  Zeugung 
gesprochen.  Genie  kommt  von  ytv«w-zeugen  und  die 
Spenderin  der  Wissenschaften  nennt  man  alma  mater, 
nährende  Mutter.    Die  Erzeugnisse  des  Geistes,  die  Ge- 

')  Jn  dem  Aufsatz  „Uber  diu  Vererbung  künstlerischer  Talente" 
sagt  Möbius  (Stachyologie  S.  123):  „Das  Talent  ist  dem  wich- 
tigsten Xaturzweck,  der  Fortpflanzung,  nicht  förderlich. 
Gerade  unter  den  grollen  Talenten  finden  wir  viele  kinderlose  Leute." 

a)  Kisler.  Wilh.  Wundts  Philosophie  und  Psychologie  in  ihren 
Grundlagen  dargestellt.    Leipzig.    Barth  1902.    S.  188. 


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danken,  sind  Taten,  treibende  Kräfte,  Entwickeier  der 
Menschheit,  Vorkämpfer  besserer  Zeiten.  Wer  neue 
Wahrheiten  entdeckt  und  verbreitet,  neue  Gestalten  bildet 
und  formt,  ist  ein  zeugender  und  säugender  Förderer. 
Tolstoi  ruft  einmal  aus:  „Möchten  doch  die  Menschen 
begreifen,  daß  die  Menschheit  nicht  durch  tierische  Er- 
fordernisse, sondern  durch  geistige  Kräfte  fortbewegt 
wird.*  Das  Leben  absolut  schön  zu  schaffen,  reich,  reif 
und  rein,  das  ist  der  Arbeit  Ziel,  des  Daseins  Zweck. 
Bis  aus  Ideen  dieses  Ideal  entsteht,  wird  noch  manche 
Generation  dahingehen,  manche  Denkerstirn  sich  furchen 
und  manche  Arbeitskraft  erlahmen.  Nur  der  Tatenlose 
ist  nutzlos,  zwecklos  nur,  wer  nicht  am  gemeinsamen 
Werke  der  Erziehung,  Weiterbildung,  Vervollkommnung 
mitarbeitet  Der  Wert  eines  Menschen  hängt  von  den 
Werten  ab,  die  er  erzeugt.  Hand  in  Hand  mit  den 
beiden  anderen  Geschlechtern  hat  der  Uranismus  trotz 
allem  und  allem  Werte  und  Werke  geschaffen  für  den  Ein- 
zelnen und  die  Gesamtheit.  Das  war  des  Uraniers,  wie 
jedes  Menschen  Zweck  und  Pflicht 

Und  nun  schlagen  wir  die  Brücke  vom  Erkennen 
zum  Leben.  Groß  sagt  einmal:1)  „Heute  sperren  wir  die 
Homosexuellen  ein  und  geschieht  es  ohne  Berechtigung, 
so  wurden  eben  so  und  so  viele  Menschen  ungerecht 
ihrer  Freiheit  beraubt  und  etwas  Ärgeres  können  wir 
überhaupt  nicht  tun/  Und  ich  füge  hinzu,  —  indem 
ich  vor  meinem  Geiste  noch  einmal  die  vielen  hunderte 
von  Uraniern  vorüberziehen  lasse,  vom  Prinzen  zum 
Tagelöhner,  die  ich  in  sieben  Jahren  sah,  diese  hülf- 
losen Arzte  und  Priester,  diese  angsterfüllten  Staats- 
anwälte und  Richter,  diese  bedeutenden  Gelehrten  und 
Künstler,  die  braven  Offiziere,  die  pflichttreuen  Be- 
amten, die  tüchtigen  Kaufleute ,  Landwirte,  Studenten, 

')  Archiv  flir  Kriminalanthrop.    10.  Band  1  u.  2  H.  S.  195. 


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Arbeiter  alle,  alle  stigmatisiert,  verstümmelt,  getroffen 
in  ihrem  Heiligsten,  — :  Solange  Staat  und  Gesell- 
schaft in  diesen  von  der  Fortpflanzung,  nicht  aber  von 
der  Liebe  Ausgeschlossenen  Verbrecher  sehen,  hat  das 
Mittelalter  sein  Ende  noch  nicht  erreicht  Ich  für  mein 
Teil  werde  nicht  aufhören,  für  das  Recht  dieser  Unter- 
drückten zu  kämpfen,  nicht  aus  Ruhmbegier,  sondern 
weil  ich  es  nicht  ertragen  könnte,  untätig  Mitwisser  eines 
so  gewaltigen  Unrechts  zu  sein. 


Anhang: 

Lebensgeschichte  des  urnischen  Arbeiters  Franz  S., 

von  ihm  selbst  erzählt 

Als  Kind  armer  Eltern  —  mein  Vater  war  Schreiner  —  kann 
ich  im  Allgemeinen  auf  meine  Jugendzeit  eigentlich  nioht  als  auf 
eine  goldene  Zeit  zurückblicken,  zumal  da  meine  Mutter  frühe  starb 
und  wir  2  Brüder,  die  wir  von  5  Geschwistern  zurückgeblieben 
waren,  bald  eine  Stiefmutter  bekamen.  Unsere  Stiefmutter,  die  noch 
heute  lebt  und  unseren  Vater  in  der  Folge  noch  mit  2  Söhnen  be- 
schenkte, war  eine  äußerst  rechtschaffene  Frau  und  uns  eine  liebe- 
volle Pflegerin,  die  uns  gewiß  in  jeder  Beziehung  die  rechte  Mutter 
zu  ersetzen  bemüht  war.  Allein  die  dürftigen  Verhältnisse  unserer 
Familie  brachten  es  mit  sich,  daß  wir  schon  als  Jungen  zum  Lebens- 
unterhalt mit  beitragen  mußten.  Der  rücksichtslose  Kampf  ums 
Dasein  warf  schon  frühe  seine  grauen  Schatten  in  den  Sonnenschein 
unserer  Jugend.  Die  Stunden,  wo  ich  frei  mich  meinen  Alters- 
genossen zugesellen  durfte,  waren  mir  bedeutend  knapper  zuge- 
messen als  allen  anderen  Kindern.  Um  so  eifriger  und  in  steter 
Angst,  daß  der  Ruf  meiner  gestrengen  Mutter  mich,  ach  nur  zu 
frühe,  wieder  abrufen  würde,  gab  ich  mich  den  Kinderspielen  mit 
meinen  —  Kameradinnen  hin.  Freilich,  Kameradinnen,  denn  Mädchen 
waren  damals  meine  liebsten  und  fast  ausschließlichen  Spielgefährten. 
Ich  fand  bei  ihnen  stets  wilüge  Annahme  und  war  ihnen  offenbar 
ein  angenehmer  Spielgenosse.  Abhold  jenen  lärmenden,  wilden 
Knabenspielen  zog  ich  es  vor,  in  Gemeinschaft  mit  gleichaltrigen 


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Mädchen  der  Nachbarschaft  mich  an  Pappenwagen,  Puppenstuben, 
Kochherd  u.  s.  w.  zu  ergötzen.  Dort  war  ich  in  meinem  Element. 
Keine  meiner  Gespielinnen  konnte  die  kleinen  Möbel  und  Sächelchen 
des  PappenheimB  so  schön  zurechtstellen,  die  kleinen  Betten  und 
Deckohen  so  glatt  falten,  keine  konnte  so  schöne  Chokoladen-  und 
Milchsuppen  zurcchtpantschen,  ho  delikate  Mohrrüben  mit  Zucker 
einmachen,  als  ich.  Deshalb  mußte  ich  auch  meistens  bei  den 
Spielen  die  Mutter  markieren,  obwohl  mitunter  von  einer  neidischen 
Kleinen  Einspruch  dagegen  erhoben  wurde,  wobei  man  lakonisch 
auf  meine  Hosen  als  unzweifelhafte  Qualifikation  zur  „Vaterschaft0 
hinwies.  Zuweilen  mischte  sich  auch  die  Mutter  Derjenigen,  in  deren 
Behausung  wir  spielten,  dazwischen,  um  uns  auf  diese  Umkehrung 
der  Begriffe  aufmerksam  zu  machen.  Die  Majorität  der  kleinen 
Schar  entschied  meistens,  nach  einigen  Wenn  und  Aber,  doch  für 
meine  „Mutterschaft."  Und  zwar  vornehnüich  im  Hinblick  auf  die 
Chokoladensuppe  und  die  eingemachten  Rüben.  Und  um  auch 
etwaigen  Nörgeleien  wegen  der  „Hose"  zu  begegnen,  wurdo  oft  ein 
altes  Umschlagtuch  nebst  dem  Häubchen  der  Mutter  herbeigeschafft. 
Angetan  damit  war  ich  glücklich,  meine  Rolle  bis  zu  Ende  des 
Spiels  durchführen  zu  können.  — 

Welch  rosiger  Hauch  holder  Unschuld  lag  Uber  diesen  naiven 
Jugendspielen  ausgebreitet!  Und  doch  —  wenn  der  Forscher  den 
Schleier  jugendlicher  Naivität  durchdrang,  bot  sich  ihm  nicht  schon 
in  dem  Verhalten  de«  Kindes  manch  deutliches  Merkmal  psycho- 
logischer Abnormität?  —  Weiter  aber:  Je  älter  ich  wurde,  um  so 
deutlicher  entwickelten  sich  meine  Neigungen  zu  allen  möglichen 
weiblichen  Beschäftigungen.  Meine  Stiefmutter  bemerkte  sehr  bald, 
mit  welchem  Geschick  ich  stets  die  kleinen  Hilfeleistungen  ausführte, 
welche  sich  auf  den  Haushalt  bezogen. 

Bald  wurde  ich  von  ihr  mit  Vorliebe  zu  solchen  Arbeiten 
herangezogen.  Und  ich  erinnere  mich  lebhaft  jener  freudigen  Ge- 
nugtuung, dio  ich  empfand,  als  anläßlich  der  Geburt  meines  jüngsten 
Bruders,  ich  hatte  eben  mein  zehntes  Lebensjahr  Ubersehritten  — 
schon  ein  großer  Teil  der  häuslichen  Verrichtungen  mir  Ubertragen 
wurde.  Körperlich  entwickelte  ich  mich  recht  langsam,  dafür  wurde 
mir  aber  öfter  eine  gewisse,  nach  innen  gekehrte  geistige  Reg- 
samkeit nachgesagt.  Mit  dem  elften  Jahr  hörten  die  Spielereien 
mit  den  Mädchen  nach  und  nach  auf.  Die  Personen  der  kleinen 
Mädchen  hatten  ja  bei  den  vorbenannten  Spielen  wenig  oder  keine 
Anziehungskraft  ausgeübt.  Es  war  nur  immer  die  Art  des  Spieles, 
die  mich  festhielt.  Eine  auffallende,  offen  und  naiv  ausgedrückte 
Vorliebe  für  schöne  Formen  und  Linien  wurde  schon  frühe  boi  mir 


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von  meiner  erwachsenen  Umgebung  bemerkt  und  als  ein  besonderes 
Kuriosum  an  mir  belächelt.  Gelegentlich  eines  Wohnungswechsels 
meiner  Eltern  wurde  mein  Geschick  allgemein  bewundert,  mit  dem 
ich  in  der  neuen  Wohnung  Bilder,  Spiegel  und  sonstige  Sächelchen 
an  den  Wänden  geschmackvoll  zu  arrangieren  wußte.  Vom  elften 
Jahre  an  gab  ich  mich  nun  mehr  und  mehr  mit  Knaben  meines 
Alters  ab,  doch  war  die  Art  des  Verkehre  wiederum  sehr  bald 
Gegenstand  vieler  Bemerkungen,  namentlich  der  Mütter,  die  ja 
überhaupt  mehr  Gelegenheit  nehmen,  das  Tun  und  Treiben  als  das 
ganze  Wesen  ihrer  Kinder  zu  beobachten.  Man  fand  meine  Art, 
mit  den  Freunden  sich  abzugeben,  komisch,  so  „eigentümlich,"  „so 
anders,'1  garnicht  jungenhaft.  Wenn  ich  mit  Knaben  spielte,  so 
kamen  die  sonst  übüchen  Katzbalgereien,  Gezänke  und  Feindselig- 
keiten, die  ja  sonst  unter  Jungen  gang  und  gäbe  sind,  garnicht 
vor.  Ich  wußte  immer  alles  gleich  wieder  zu  arrangieren  und  zu 
versöhnen,  so  daß  jeder  zu  seinem  Rechte  kam.  Nahm  auch  wohl  oft 
den  Rest  auf  meine  Kappe,  damit  sie  nur  alle  „wieder  gut"  wurden, 
paukte  mich  mit  den  Einzelnen  nie,  gab  immer,  oft  mit  tränenden 
Augen  nach  und  war  froh,  wenn  sie  mich  nur  leiden  mochten,  wenn 
ich  ihnen  nur  immer  gut  sein  durfte.  Deutlich  erinnere  ich  mich 
noch,  wie  mich  oft  meine  Mutter  schalt  wegen  meines  duckmäuse- 
rischen, mädchenhaften  Benehmens  und  mir  einschärfte,  daß  ich  mich, 
wenn  ich  im  Rechte  sei,  zu  wehren  hätte  und  mir  nicht  „alles  ge- 
fallen lassen  dürfte"!  Gewöhnlich  ohne  Erfolg.  Soldaten-,  Krieg- 
und  Räuberspiele,  die  bei  allen  Jungen  doch  die  begehrtesten  Spiele 
sind,  mir  waren  sie  ein  wahrer  Horror.  Ich  erinnere  mich,  nur  ein 
einziges  Mal  das  Spiel  „Indianer  und  Pflanzer"  mitgemacht  zu 
haben,  aber  bloß  unter  der  Bedingung,  daß  mir  dabei  die  An- 
fertigung der  phantastischen  Lendengürtel  und  Kopfputze  über- 
tragen wurde,  bei  welcher  Beschäftigung  ich  dann  eine  geradezu 
abenteuerliche  Phantasie  entwickelte.  An  den  Spielen  selbst  hatte 
ich  nur  insofern  ein  Interesse,  als  ich  dabei  mit  kritischem  Bück  die 
äußeren  Erscheinungen  der  verschiedenen  Knaben  in  Vergleich  bringen 
konnte.  Gewöhnlich  lief  ich  neben  und  hinter  den  einherstürmenden 
Knaben  und  weidete  meine  Augen  an  dein  schlanken  Oberkörper, 
den  üppigen  Lenden,  den  glühenden  Wangen  und  den  funkelnden 
Augen  desjenigen,  der  meinen  Schönheitsbegriffen  besonders  ent- 
sprach. Schöne,  lebhafte,  sprechende  Augen  liebte  ich  schwärmerisch, 
und  wenn  ihr  Besitzer  gar  womöglich  noch  leichtgelocktes  Haar 
hatte,  dann  wars  immer  um  raeine  Ruhe  geschehen.  So  einer  durfte 
unbeschränkt  über  mich  verfügen.  Ich  suchte  auf  alle  mögliche 
Art  seine  Gunst  zu  erwerben,  war  glücklich,  wenn  ich  in  seiner 

Jahrbuch  V.  1 1 


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Nähe  weilen  oder  gar  seine  Hände  fassen  durfte.    Ein  solcher 

Knabe,  Willy  M  ,  zwei  Monate  jünger  als  ich,  doch  bedeutend 

kräftiger  entwickelt,  war  es  denn  auch,  für  den  mich  bald  eine 
heftige  und  tiefe  Zuneigung  ergriff.  Er  war  es,  für  den  ich  meine 
ersten  „Liebesscbmerzen"  erduldete.  Jenes  oben  genannte  Spiel, 
„Indianer  und  Pflanzer,"  hatte  uns  näher  zusammengeführt.  Ich 
hatte  bei  dem  Spiel  die  mehr  passive  Rolle  unter  den  indianischen 
Kriegern  übernommen.  Ich  mußte  die  gemachten  Gefangenen  be- 
wachen. Willy  geriet  ebenfalls,  nach  heldenmütiger  Gegenwehr 
gegen  die  Übermacht  der  Wilden,  in  ihre  Gefangenschaft  und  wurde 
mir  im  Triumph  zugeführt,  damit  ich  ihn  bewache,  bis  die  even- 
tuellen Sieger  in  den  „Wigwam"  zurückkehrten,  um  ihn  dem  qual- 
vollen Tode  am  Marterpfahl  zu  überantworten.  Schweigend  nahm 
ich  ihn  in  Empfang  und  schweigend  betrachteten  wir  uns  eine  Weile 
gegenseitig.  Er  nahm  seine  Rollo  sehr  ernsthaft  und  betrachtete 
mich  mit  ungeheurer  Verachtung.  Ich  nahm  meine  Rolle  weniger 
gewissenhaft,  sondern  musterte  seine  äußere  Erscheinung  mit  heim- 
licher Bewunderung. 

So  wie  wir  uns  später  oft  einiger  an  sich  unbedeutender  Epi- 
soden unserer  Jugend  lebhaft  bis  ins  hohe  Alter  hinein  erinnern, 
mit  derselben  Lebendigkeit,  als  sei  es  gestern  geschehen,  erinnere 
ich  mich  noch  heute  jener  unsagbar  wonnigen,  süßen  Freude, 
die  ich  damals  empfand,  als  dieser  Knabe,  gefesselt,  in  seiner 
stolzen  Hilflosigkeit  vor  mir  stand.  Im  Stillen  dankte  ich  es 
meinem  gescheiten  Einfall,  daß  ich  mich  hatte  zum  Wächter  der 
Gefangenen  benutzen  lassen.  War  ich  doch  nun  in  die  glückliche 
Situation  gekommen,  meinen  geliebten  Freund  vollständig  in  meiner 
Gewalt  zu  sehen.  Mein  erster  Gedanke,  nachdem  wir  allein  gelassen, 
war,  ihn  in  seiner  Hilflosigkeit  in  meine  Anne  zu  schließen,  um  ihn 
nach  Herzenslust  abzuktbsen  und  an  mich  zu  drücken.  Was 
wollte  er  machen;  er  war  gebunden,  konnte  sich  nicht  wehren  und 
mußte  sich  meine  Liebkosungen  gefallen  lassen.  Allein  die  Furcht 
vor  seiner  wirklichen  Verachtung  hielt  mich  davon  ab.  Wonne- 
trunken saß  ich  eine  Weile  neben  ihm  und  bewunderte  verstohlen 
den  schlanken  Körper,  den  schönen  Kopf  meines  Gefangenen. 
Willy  war  in  der  Tat  eine  außerordentlich  schöne  Jugenderscheinung. 
Tannenschlank  gewachsen,  waren  Kopf  und  Gliedmaßen  geradezu 
klassisch  zu  nennen  im  Ebenmaß  ihrer  Formen.  Den  schönen  Kopf 
schmückte  eine  Fülle  seidenweichen,  blonden  Haars,  das  in  leichten 
natürlichen  Kräuseln  die  blendend  weiße  Stirn  umrahmte  und  ein 
paar  große,  wunderbar  sprechende  Augen,  stahlgrau  und  von  langen 
dunklen  Wimperhaaren  beschattet,  strahlten  aus  diesem  schönen 


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Gesicht  mir  entgegen.  An  ihnen  konnte  ich  mich  nie  satt  sehen. 
Möglich,  daü  sich  die  Erscheinung  Willys  in  meiner  jungen  Seele 
in  übertriebenen  Reflexen  widerspiegelte.  Ich  weitt  mich  aber 
noch  genau  zu  entsinnen,  wie  ich  damals  nicht  begreifen  konnte 
und  wie  ich  eigentlich  jedem  Menschen  böse  war,  der  ihn  sah  und 
nioht  dabei  ausrief:  „Wie  unendlich  schön  ist  dieser  Knabe!44  Ich 
muß  betonen,  datf  ich  niemals  dabei  in  meiner  ganzen  Knabenzeit 
sexuelle  Regungen  empfand,  das  geschah  erst  in  und  nach  der  Ent- 
wicklung meiner  Pubertät. 

Das  Ende  jenes  Spiels  aber  war  ausschlaggebend  geworden 
für  unsere  nachherige  Freundschaft.  Willy  hatte  bei  jener  Gelegen- 
heit mein  Mitgefühl  nicht  umsonst  benutzt,  indem  er  behauptete, 
die  Fesseln  seien  „zu  fest44  und  täten  wehe,  und  ich  war  nur  zu 
bereit,  diese  etwas  zu  viel  zu  lockern,  und  war  auch  nachher  gerade 
nicht  allzusehr  erschrocken,  als  plötzlich  mein  Gefangener  in  grossen 
Sätzen  entwischte.  Das  Spiel,  hiess  es,  „gilt  nicht,*4  ich  wurde  tüchtig 
wegen  meiner  Unzuverläliigkeit  ausgescholten.  Und  als  ich  dabei 
noch  obendrein  meinen  Freund  Ausreisser  in  Schutz  nehmen  wollte, 
geschah,  was  oft  zu  Ende  solcher  Spiele  zu  geschehen  pflegt, 
irgend  jemand  bekam  seine  Hiebe  und  hier  in  diesem  Falle  war  ich 
es,  der  seine  schöne  Tracht  Prügel  von  seinen  Kriegsknmpanen  ein- 
heimsen miwste.  Das  waren  meine  ersten  „Liebesschmerzen.4' 
Und  Willy  machte  nicht  einmal  Miene,  mich  zu  trösten  oder  nur  zu 
bedauern.  Und  doch  ist  eben  dieses  Jugendspiel  der  Grundstein 
zu  unsrer  langjährigen  innigen  Freundschaft  geworden.  Es  mochte 
Willy  doch  wohl  leidgetan  haben,  dass  ich  seinetwegen  so  jämmerlich 
gepufft  worden.  Er  liess  sich  von  da  an  öfter  vor  dem  Hause,  wo 
meine  Eltern  wohnten,  sehen.  Ach  und  ich,  mir  fuhr  jedesmal  ein 
Wonneschauer  durch  die  Brust,  wenn  ich  ihn  nur  erblickte.  Heisse 
Blutwellen  schössen  mir  ins  Gesicht  und  mehr  stürzend  rannte  ich 
auf  ihn  los,  um  seine  Hand  zum  „guten  Tag"  zu  fassen,  die  ich 
dann  oft  überlange  festhielt,  in  seinen  Anblick  versunken  und  ohne 
zu  hören,  wenn  er  mich  nach  diesem  und  jenem  frug.  Von  nun  an 
begann  die  schönste  Zeit  meiner  Jugend.  Ich  war  Uberglücklich, 
dass  Willy  anfing,  sich  mit  mir  zu  beschäftigen.  Nun  bot  ich  alles 
auf,  ihn  an  mich  zu  fesseln.  Wir  besuchten  uns  gegenseitig  und 
wenn  ich  einmal  von  der  Mutter  einen  freien  Nachmittag  erhielt, 
dann  wusste  ich's  trefflich  einzurichten,  ihn  von  den  wilden  Spielen 
mit  den  andern  Jungen  abzuhalten  und  ihn  zu  überreden,  mit  mir 
zusammen  in  der  Umgegend  nmberznstreifen.  Er  tat  mir  auch  öfter 
den  Gefallen  und  ging  mit,  trotzdem  die  Neigung  dazu  bei  ihm  nicht 
sonderlich  gross  zu  sein  schien.  Dann  lagen  wir  oft  an  einem  kleinen 

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Abhang  oder  im  Gebüsch  versteckt  und  lauschten  dem  Gesänge 
der  Lorchen  über  unseren  Häuptern  und  folgten  ihren  Bewegungen, 
wenn  die  kleinen  Sänger  jubelnd  in  den  blauen  Äther  aufstiegen. 
Zuweilen  war  Willy,  den  Kopf  in  meinem  Schoss  ruhend,  sachte 
eingeschlafen,  während  ich  meiner  Lieblingsbeschäftigung  oblag, 
grosse  Mengen  von  Blumen  zu  allerlei  Kränzen,  Sträussen  und 
Guirlanden  zu  verarbeiten.  Dann  hielt  ich  ab  und  zu  inne  und 
lauschte  auf  seine  tiefen  Atemzüge,  betrachtete  zärtlich  sein  schönes 
Haupt  von  allen  Seiten  und  versenkte  heimlioh  und  schüchtern 
meine  Uppen  in  das  tippige  Haar  des  Lieblings.  Fortan  gab  ich 
mich  dieser  berauschenden  Zuneigung  mit  einer  Inbrunst  hin,  die 
bald  mein  ganzes  junges  Dasein  ausfüllte. 

Wo  ich  ging  und  stand,  begleiteten  mich  die  Gedanken  an  ihn. 
Ich  mischte  mich  jetzt  nur  noch  »ehr  selten  unter  die  anderen 
Knaben,  wenn  „er"  nicht  unter  ihnen  war,  sondern  streifte  allein 
umher  oder  ging  zu  ihm,  und  wenn  ich  ihn  nicht  zu  Hause  traf, 
setzte  ich  mich  iu  irgend  eine  Ecke,  um  auf  ihn  zu  warten.  Schalten 
schon  trüber  meine  Eltern  öfter  über  mein  „närrisches"  Wesen,  so 
war  ich  nun  völlig  ein  Träumer  geworden.  Stundenlang  sass  ich  oft 
in  der  Kammer  in  einer  Ecke  und  sann  und  sann  und  suchto  nach 
einem  Mittel,  wie  ich  meinem  schönen  Freund  noch  mohr  wie  bisher 
meine  Liebe  beweisen  könnte.  Allerlei  abenteuerliche  Pläne  wogten 
in  meiner  Seele  auf  und  nieder.  Ich  stellte  mir  vor,  wie  das  Haus, 
in  dem  Willy  wohnte,  plötzlich  in  Brand  geriete  und  Willy  darin 
in  grosser  Lebensgefahr  sich  befinden  würde.  Ich  würde  dann,  das 
gelobte  ich  mir,  sofort  mich  in  die  Flammen  stürzen,  würde  ihn 
natürlich  „ganz  gewiss"  in  meinen  Armen  aus  dem  Feuermeer  er- 
retten u.  s.  w.  So  brachte  ich  oft  die  Zeit  bin  in  solchen  für  mich 
wundersttssen  Träumen. 

Immerwährend  hungrig  nach  irgend  einer  Gunstbezeugung 
von  seiner  Seite,  war  im  Gegensatz  dazu  Willy  eigentlich  recht 
sparsam  damit.  Willy  war  im  Ganzen  ein  herzensguter  Junge. 
Jedoch  geschlechtlich  offenbar  nonnal  veranlagt,  konnte  er  mir 
gewiß  keine  anderen  Gefühle  entgegenbringen,  als  er  für  mich  eben 
hatte.  Nämlich  jenes  Gemisch  von  Anhänglichkeit  und  Dankbarkeit, 
das  er  mir  ja  auch  bereitwilüg  zugestand,  wohl  mit  dem  dunklen 
Bewusstsein,  daas  er  an  mir  einen  Freund  besass,  von  dem  er  alles 
verlangen  konnte.  Was  aber  in  meinem  kaum  13jährigen  Herzen 
schon  damals  brannte  und  wühlte,  war  eben  etwas  anderes  als 
kameradschaftliche  Zuneigung.  Es  waren  die  ersten  steigenden 
Funken  jenes  gewalligen  unterirdischen  Feuers,  jener  leidenschaft- 
lichen Glut,  die  mau  Liebe  nennt.    Blieb  dem  Dreizehnjährigen,  in 


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keuscher  Unschuld,  auch  die  erotische  Natur  dieser  Empfindungen 
noch  uubewusst,  so  stieg  mir  doch  bereits  die  dunkle  Ahnung:  empor, 
dass  diese  Liebe  ebensolche,  gleich  heisse  und  stürmische  Leiden- 
schaftlichkeit von  dem  anderen  fordern  ralisse.  Ich  war  nicht  damit 
zufrieden,  dass  er  mich  viel  aufmerksamer  und  rücksichtsvoller, 
sanfter  behandelte  wie  die  anderen,  mich  auch  wohl  mal  spassend 
sein  „Puppchen"  nannte,  meine  Hände  packte  und  mit  mir  im  Kreise 
herumjagte,  mich  plötzlich  losliess  und  dann  schnell  hinzusprang  und 
mich  auffing,  wenn  ich,  schwindlig  geworden,  zu  stürzen  drohte  ; 
war  auch  nicht  zufrieden,  wenn  ich  seinen  Kopf  dann  und 
wann  an  meinen  Busen  drücken  durfte,  ihm  Ilaar  und  Wangen 
zu  streicheln.  Nein,  freiwillig  sollte  er  selbst  dergleichen  auch  mit 
mir  tnn,  sollte  meinen  schüchternen  Knss  erwidern.  Täglich  in  den 
Stunden,  wo  wir  nicht  beisammen  waren,  waren  doch  meine  Ge- 
danken bei  ihm.  Dann  stellte  ich  mir  in  meiner  Phantasie  vor, 
wie  er  mich  innig  umarmte,  an  sich  drückte  und  küsste.  Bei  solchen 
Träumen  stieg  mir  immer  der  Schlag  meines  Herzens  gleichsam  bis 
zum  Hals  herauf  und  ich  wäre  in  solchen  Augenblicken  nicht  im 
stände  gewesen,  wenn  mich  Jemand  überrascht  hätte,  auch  nur  ein 
Wort  hervorzubringen.  Fest  hing  ich  mich  dann  im  Geiste  an  ihn, 
um  ihn  nie,  nie  mehr  loszulassen,  er  sollte  mich  tragen,  weit,  weit 
fort,  irgendwohin,  wo  wir  immer,  immer  beisammen  sein  dürften. 
Wie  geistesabwesend  sass  ich  dann  oft  in  einein  Winkel  und  rührte 
mich  nicht.  Oft  traf  mich  meine  Mutter  so  und  riss  mich  scheltend, 
unsanft  aus  meinen  süssen  Träumen.  So  viel  ich  nun  auch  von 
solchen  Umarmungen  träumte,  Willy  tat  nie  etwas  dergleichen,  und 
ich  musste  mich  weiter  mit  den  kärglichen  Gunstbezeugungen  dieses 
wild  umherstürmenden  Knaben  begnügen.  Und  doch  —  bald  sollte 
ein  Teil  meiner  heimlichen  Träume  in  Erfüllung  gehen.  Wie  ich 
schon  eingangs  meiner  Zeilen  bemerkte,  waren  meine  Eltern  arme 
Leute,  die  schwor  um  die  rechtschaffene  Erhaltung  unserer  zahl- 
reichen Familie  kämpfen  mussten.  Mit  Eintritt  in  mein  13.  Lebens- 
jahr machte  sich,  hervorgerufen  durch  lange  Krankheit  meines 
Vaters,  auch  für  mich  die  Notwendigkeit  geltend,  nun  dauernd  zum 
Unterhalt  der  Familie  mit  beizutragen.  Ich  war  im  Ganzen  etwas 
zart,  aber  sonst  kerngesund  und  leidlich  wohlgebaut.  So  erhielt  ich 
denn  eine  Stelle  in  einem  grossen  Speditionsgeschäft,  als  sogenannter 
—  Rollmops,  so  wurden  jene  halbwüchsigen  Jungen  geuanut,  welche 
den  Rollkutscher  auf  dem  schwerbeladenen  Speditionswagen  zu  be- 
gleiten hatten,  vom  Güterbahnhof  durch  die  Stadt,  wo  die  Kisten 
und  Ballen  bei  den  verschiedensten  Firmen  abgesetzt  wurden.  Hier 
begann  nun  eine  sehr  trübe  Periode  meiner  Jugend,  und  doch  fiel 


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in  sie  der  erste  Sonnenstrahl  eines  reinen  zarten  Liebesglückes. 
Der  Leser  mag  mir  gestatten,  hier  die  kleinen,  an  sich  ja  recht  un- 
bedeutenden Vorkommnisse  dieses  meines  jungen  Daseins  etwas 
ausfuhrlicher  zu  erzählen.  Denn  es  bieten  sich  in  ihnen,  meiner 
allerdings  laienhaften  Auffassung  nach,  wohl  für  den  Forscher  alle  jene 
charakteristischen  Merkmale  dar,  die  schon  den  Knaben  in  seiner 
ganzen  psychologischen  Entwicklung  als  ausgesprochenen  Homo- 
sexuellen erscheinen  lassen.  —  Meine  ganze  körperliche  und  seelische 
Verfassung  stand  eigentlich  im  Widerspruch  zu  meinem  neuen  Tätig- 
keitsfelde. Die  ganze  Umgebung,  in  die  ich  nun  plötzlich  hinein- 
kam, behagtc  mir  schon  von  Anfang  an  nicht.  Und  doch  war 
ich  uun  verpflichtet,  täglich  von  '/«2  bis  meistens  Abends  nach 
10  Uhr  in  dieser  neuen,  für  mich  so  ungünstigen  Atmosphäre  zu- 
zubringen, unter  der  ich  ungemein  litt.  Meinen  geliebten  Willy 
sah  ich  jetzt  nur  noch  selten,  denn  ich  hatte  ja  nun  in  der  Woche 
Uberhaupt  keine  freie  Zeit  mehr.  Mein  ganzes  Wesen  sträubte  sich 
gegen  die  Art  meiner  nunmehrigen  Beschäftigung.  Der  Umgang 
mit  den  Pferden,  das  An-  und  Ausspannen,  FUttern  und  Tränken 
derselben,  sowie  das  Streumachen,  alles  dieses  gehörte  zu  den  Ob- 
liegenheiten eines  ordentüchen  „Rollmopses"  und  war  mir  ein 
Gräuel.  Dazu  kam,  daß  ich  unter  dem  ungemein  rohen  Tun  und 
Treiben  der  Kutscher  zu  leiden  hatte.  Das  beständige  wüste  Ge- 
fluche, die  brutalen  gemeinen  Späßo  flößten  mir  Abscheu  ein. 
Scheu  und  furchtsam  tat  ich,  was  mir  geheißen  wurde  und  hatte  in 
Folge  dessen  auch  noch  die  frechen  Sticheleien  meiner  neuen 
„Kollegen",  deren  es  eine  Menge  auf  dem  Speditionshofe  gab,  ein- 
zustecken. 

Mit  Wehmut  dachte  ich  an  die  schöne  Zeit,  wo  ich  mit  Willy 
zusammen  so  glücklich  war.  Ach  wie  sehnte  ich  mich  so  furchtbar 
nach  diesem  meinen  liebsten,  meinem  einzigen  Freund.  Und  fast  un- 
bewusst  lenkte  ich  meine  Schritte  nach  jener  Strasse,  in  der  er 
wohnte,  drUckte  mich  in  irgend  eine  Ecke,  von  wo  aus  ich  seine 
Fenster  sehen  konnte,  und  blickte  unverwandt  hinauf.  Meistens 
war  es  schon  immer  nach  10  Uhr  und  meine  geheime  Hoffnung, 
Willy  vielleicht  noch  treffen  und  sprechen  zu  können,  war  immer 
vergeblich.  Fast  verzehrte  mich  die  Sehnsucht  nach  ihm  und  un- 
sagbare Traurigkeit  erfüllte  meine  Seele.  Ich  dachte  mir  dann 
meinen  Liebling  hinter  jenem  Fenster,  vielleicht  schon  friedlich  in 
seinem  Bette  schlummernd,  er  dachte  am  F^nde  gar  nicht  mehr  an 
mich,  seinen  Freund,  ja,  hatte  vielleicht  don  ganzen  Tag,  die  ganze 
Zeit,  wo  wir  uns  nicht  gt-sehen,  nicht  mehr  an  mich  gedacht,  hatte 
mich  wohl  gar  schon  ganz  vergessen.    0  dann  fühlte  ich  mich  so 


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furchtbar  einsam  und  verlassen  auf  der  Weit  und  fing  an  bitterlich 
in  mich  hinein  zu  weinen.  Ich  war  tief  unglücklich  und  langsam 
schlich  ich  nach  Hause.  —  Solche  Abende  wiederholten  sich  oft. 
—  Und  doch  sollte  mir  hier  gerade  die  gliioklichste  Stunde  meines 
jungen  Dasein's  schlagen.  Was  ich  mit  meinen  glühendsten  Phanta- 
sien bis  dahin  mir  heimlich  ausgedacht,  nie  aber  verwirklicht  zu 
glauben  gewagt,  das  wurde  mir  an  einem  Abende  zuteil.  Ich  hatte 
mich,  wie  oft,  nachdem  die  Feierabendstunde  für  uns  geschlagen, 
verstohlen  vom  Speditionshof  davon  gemacht,  um  nicht  mit  den 
anderen  Burschen  auf  der  Strasse  zusammen  zu  geraten.  Träumend 
trabte  ich  durch  die  Strassen  und  stand  auch  bald  wieder  vor  dem 
Hause  meines  Freundes.  Ich  hatte  ihn  fast  3  Wochen  lang  nicht 
gesehen  und  bildete  mir  ein,  Willy  mtisste  nun  doch  unbedingt  auch 
nach  mir  ausschauen.  Meine  unendliche  Zuneigung  konnte  sich  nicht 
damit  abfinden,  dass  er  so  ganz  und  gar  nicht  an  mich  denken  sollte. 
Lange  wartete  ich  vergeblich,  dass  er  vielleicht  zufällig  irgendwo 
noch  sichtbar  würde.  Schliesslich  ging  ich,  da  ich  nun  das  Tor 
zufällig  diesmal  noch  offen  fand,  durch  den  Hausflur  und  lungerte 
wartend  und  missmutig  auf  dem  mir  wohlbekannten  Hof  umher. 
Im  Hause  wohnte  ein  Lohnkutscher,  der  in  den  Seitengebäuden, 
Reinigen  und  Ställen  mit  seinen  Kaleschen,  Droschken,  Pferden  und 
allerlei  Gerätschaften  den  ganzen  Hof  beherrschte.  Ich  kannte 
jeden  Winkel,  denn  ich  hatte  mich  mit  Willy  zusammen  manches 
liebe  Mal  hier  umher  getummelt.  Ich  setzte  mich  auf  einen  umge- 
stülpten Wassereimer,  am  Eingang  einer  offenstehenden  Wagenremise 
und  starrte  nun  eine  Weile  nach  dem  Küchenfenster  der  Wohnung 
meines  Freundes  hinauf.  Eine  Weile  hatte  ich  so  gesessen,  schwer- 
mütig seufzend,  den  Kopf  in  die  Hände  gestützt,  als  ich  plötzlich 
aus  dem  Innern  des  Schuppens,  wo  einige  Bündel  Stroh,  Futtersäcke 
u.  s.  w.  lagen ,  meinen  Namen  flüstern  hörte.  Ich  bekam  einen  ge- 
waltigen 8chrecken ,  sprang  auf  und  lausehte.  Hinter  dem  Bündel 
Stroh  regte  sich  etwas,  kam  vorsichtig  näher  und  mit  freudigem 
Erstaunen  erkannte  ich  nun  —  Willv,  meinen  sehnlichst  erwarteten 
Freund.  Er  liess  mir  aber  keine  Zeit  zum  langen  Fragen,  zog  mich 
am  Arm  in  den  dunklen  Winkel  zurück  und  erzählte  mir  flüsternd 
und  mit  vor  Angst  zitterndem  Athem,  wie  er  in  dieses  Versteck 
gekommen  sei  und  wie  er  sich,  aus  Furcht  vor  dem  strafenden  Ann 
seines  sehr  strengen  Vaters,  nicht  hinauf  getraue.  Es  war  eine 
lanjfe  Geschichte.  Willy  hatte  offenbar  wieder  einmal  bei  einem  tollen 
Knabenstreich  die  Hauptrolle  gespielt.  In  Gesellschaft  mit  anderen 
Knaben  hatte  er  einer  in  der  Nähe  wohnenden  Grünkramhändlerin 
einen  Schabernack  zugedacht.  Das  Geschäftslokal  dieser  Frau  befand 


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—    108  — 


sich  unterhalb  der  Strassenfront ,  die  Treppe  ging  von  der  Strasse 
aus  nach  unten,  und  die  bösen  Buben  hatten  nun  einen  grossen  Blech- 
topf mit  Wasser  herbeigeschleppt  und  hatten  diese  Pandorabüchse 
jene  Treppe  hinunter  „fallen  lassen".  Das  Wasser  war  natürlich  in 
den  Laden  geflossen  und  hatte  die  alte,  etwas  korpulente  Frau  sehr 
in  Bewegung  gesetzt.  Nach  vollbrachter  Tat  fliehend,  waren  jedoch 
einige  der  übeltater  erkannt  worden.  Und  gegen  Abend  nahte  die 
rächende  Nemesis  in  Gestalt  der  sehr  rabiaten  Grünkraiufrau.  Sie 
kam  in  die  Wohnung  der  Kitern,  strengste  Strafe  heischend  für  den 
„ungeratenen  Bengel widrigenfalls  sie  sich  bei  der  Polizei  be- 
schweren wolle,  da  das  schon  „öfter  vorgekommen".  Willy  beteuerte 
mir  allerdings,  daas  er  diesmal  „wirklich  und  wahrhaftig-  gänzlich 
schuldlos  sei,  indem  die  anderen  den  ganzen  Koup  ausgeheckt  und 
vollbracht  hätten,  er  aber  nur  „zugeguckt"  hätte.  Mit  pochendem 
Herzen  hatte  ich  seinem  Bericht  gelauscht.  Mitleid  erfüllte  meine 
Seele  und  ich  überlegte  bereits,  wie  ich  meinem  Freunde  helfen 
könnte.  Ich  riet  ihm  zunächst,  hinauf  zu  seinen  Kitern  zu  frühen, 
denn,  da  er  „nichts  dafür"  könnte,  so  setzte  ich  ihm  auseinander, 
war  doch  keine  Strafe  zu  erwarten.  Allein  mit  der  gänzlichen  Un- 
schuld mochte  es  wohl  seinen  Haken  haben,  und  ich  konnte  ihn 
nicht  dazu  bewegen,  hinauf  zu  gehen.  Schliesslich  erklärte  er 
schluchzend,  er  wolle  „in's  Wasser"  gehen,  denn  sein  Vater  »ei  „zu 
strenge".  Entsetzt  packte  ich  seinen  Arm,  als  müsste  ich  ihn  fest- 
halten. So  Saasen  wir  eine  Weile  stumm  nebeneinander.  Seine 
Angstlaiite  schnitten  mir  in's  Herz  und  ich  zermarterte  mein  arm- 
seliges Hirn  nach  irgend  etwas,  womit  ich  ihn  retten  könnte.  Denn 
helfen  iuusste  ich  ihm,  so  viel  war  sicher.  Mit  einem  Male  kam 
mir  auch  ein  trefflicher  Gedanke,  ja  so  iuusste  es  gehen,  so  konnte 
ich  ihn  vielleicht  von  der  drohenden  Strafe  befreien.  Ich  überlegte 
garnicht  erst,  ob  auch  alles,  was  er  mir  erzählt  hatte,  wahr  sei  und 
ob  er  wirklich  nur  „zugeguckt"  hätte.  Schnell  sprang  ich  auf, 
flüsterte  ihm  hastig  ein  paar  Worte  über  meinen  Rettungsplan  zu 
und  ehe  er  ein  Wort  erwidern  konnte,  rannte  ich  über  den  Hof, 
die  Treppe  zur  Wohnung  seiner  Eltern  hinauf  und  schellte.  Beim 
schrillen  Klang  der  Schelle  aber  erschrak  ich  doch  heftig  über  meine 
Kühnheit  und  mir  war  auf  einmal  sehr  bange.  Aber  hier  blieb  mir 
keine  Zeit  mehr  zum  Überlegen,  denn  im  nächsten  Moment  stand 
ich  schon  vor  dem  gestrengen  Herrn  Vater  meines  Freundes. 
Stockend  begann  ich  nun  zuerst  und  zähneklappernd  vor  Angst 
und  Aufregung  eine  umständliche  Erzählung,  wie  ich  Willy  vorhin 
getrotfen  hätte,  wie  er  auf  der  Brücke  am  Kanal  gestanden,  sich 
nicht  nach  Hause  getraue,  in's  Wasser  wolle  aus  Angst  vor  der 


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Strafe  und  wie  er  so  geweint  habe,  weil  er  diesmal  „garnichts  ge- 
macht", sondern  bei  der  ganzen  Sache  „nur  zugeguckt"  und  dass 
ich  es  „ganz  genau"  gesehen,  wie  ein  andrer  Junge  den  Topf  mit 
dem  Wasser  in  den  Keller  gestürzt,  Willy  aber  nur  in  der  Nähe 
gewesen  sei  und  eben  nur  zugeguckt  habe.  Das  alles  hatte  ich  „ganz 
genau  gesehen"  u.  s.  w.  Ich  log  das  Blaue  vom  Himmel  und  iuuss 
wohl  in  der  Hitze  in  meine  Rede  „dramatisches  Leben"  gebracht 
haben,  denn  Geschwister  und  Mutter  meines  Freundes  standen  um 
mich  hemm  und  lauschten  athemlos.  Warum  sollte  es  auch  nicht 
so  gewesen  sein?  Es  war  schon  ziemlich  spät,  man  war  bereits 
unruhig  geworden,  da  sich  Willy  noch  nicht  hatte  blicken  lassen. 
Also  klang  meine  Erzählung  nicht  unwahrscheinlich  und  die  Mutter 
fing  bereits  zu  jammern  an  um  „den  armen  Jungen";  man  dran«?  in 
mich,  ich  sollte  ihn  holen  oder  wenigstens  sagen,  wo  er  stecke,  es 
solle  ihm  nichts  geschehen  u.  s.  w.  Mir  aber,  angesichts  des  uner- 
warteten schnellen  Erfolges,  schwoll  gewaltig  der  Kamin,  ich  ting 
an,  mit  meinen  höheren  Zwecken  zu  wachsen  und  erklärte  achsel- 
zuckend, das  Versteck  Willy's  nicht  verraten  zu  können,  bevor  man 
nicht  Straflosigkeit  vollkommen  einwandsfrei  zusichere.  Plötzlich 
fiel  mir  der  Vater,  der  mich  während  des  ganzen  Auftritt«  aufmerk- 
sam beobachtet  hatte,  gelassen  mit  der  Frage  in's  Wort,  ob  nicht 
wohl  ich  der  wirkliche  Täter  sei,  denn  da  ich  alles  so  genau  wüsste, 
müsse  ich  doch  zum  mindesten  dabei  gewesen  sein.  Verdutzt 
senkte  ich  die  Augen  zu  Boden,  nun  hatte  mein  schönes  Lügen- 
gewebe ein  ziemliches  Loch  bekommen,  schnell  aber  besann  ich 
mich,  schmolz  flugs  Dichtung  und  Wahrheit  zusammen  und  erklärte 
prompt,  dass  ich,  auf  dem  Rollwagen  sitzend,  zufällig  alles  mit  an- 
gesehen hätte.  Die  Sache  schien  plausibel,  Willy  s  Mutter  nament- 
lich glaubte  alles  und  suchte  ihren  Geraahl  von  der  Möglichkeit  der 
Wahrheit  meiner  Angaben  zu  überzeugen.  Dieser  war  nun  freilich 
nicht  so  schnell  von  der  Unschuld  seines  Sprossen  überzeugt, 
namentlich  wollte  ihm  der  Passus  von  dem  „blossen  Zugucken" 
nicht  recht  einleuchten.  Die  ganze  Geschichte  schien  ihn  aber 
endlich  zu  amüsieren,  da  ich  nicht  aufhörte  fortwährend  die  Engel- 
reinheit seines  Sohnes  zu  beteuern.  Schliesslich  meinte  or,  man 
könnte  es  ihm  ja  diesmal  schenken,  obgleich  es  eigentlich  um  jeden 
Hieb  schade  sei,  der  vorbei  ginge  u.  s.  w.  Mein  Herz  hüpfte  vor 
Freuden  und  als  der  grosse  bärtige  Mann  wohlwollend  lächelnd 
meinte,  ich  sei  ja  ein  verteufelt  eifriger  Fürsprecher  und  wir  hielten 
wohl  „dicke  Freundschaft",  da  ward  ich  Uber  und  Uber  rot  und 
konnte  kein  Wort  mehr  sagen.  Ich  erhielt  nun  beim  Fortgehen  noch- 
mals den  dringenden  Auftrag  von  der  Mutter,  den  Sohn  sofort 


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hinauf  zu  schicken.  Nochmals  nahm  ich  ihr  die  Zusicherung  ab, 
dass  ihm  nichts  passieren  dürfe,  flog  die  Treppe  hinunter,  Uber  den 
Hof  und  teilte  meinem  Freunde  triumphierend  die  Freudenbotschaft 
mit.  Willy  -  traute  jedoch  dem  Frieden  noch  nicht  so  recht  und 
zögerte.  Nun  versprach  ich,  bereits  mit  tränenden  Augen,  mitzu- 
gehen und  nochmals  alles  zu  bekräftigen  in  seiner  Gegenwart,  da 
ich  sah,  dass  er  meinen  Worten  nicht  glauben  wollte.  Ich  musste 
nun  nochmals  mit  hinein  und  das  Damoklesschwert  Uber  dem  teuren 
Haupte  meines  Freundes  wurde  glücklich  beseitigt.  Als  mich 
Willy  nachher  hinausbegleitete,  um  mir  das  Tor  aufzuschliessen, 
—  da  es  mittlerweile  spät  geworden  war  — ,  blieb  er  auf  dem 
Hausflur  plötzlich  vor  mir  stehen,  fasste  meine  Hand,  sah  mich 
eine  Weile  an  und  meinte  dann  in  seiner  treuherzigen  Weise:  „Du 
bist  aber  furchtbar  gut,  weisst  Du,  und  was  Du  für  Courage  hastl 
Wärst  Du  nun  nicht  gekommen,  hätte  ich  immer  noch  die  schreck- 
liche Angst."  Ich  konnte  nichts  erwidern,  sondern  drückte  nur 
leise  seine  Hand.  Er  aber,  wohl  in  unmittelbarer  Aufwallung  seines 
dankbaren  Herzens,  schlang  nun  seine  Anne  fest  um  meinen  Hüls 
und  küsste  mich  dreimal  herzhaft  auf  die  Wange,  indem  er  mich 
seinen  liebsten  Freund  nannte.  —  Ich  war  wie  betäubt.  Die 
schnelle,  unerwartete,  zärtliche  Berührung  Willys  raubte  mir  fast 
die  Sinne.  Mein  Kopf  glühte  plötzlich  wie  Feuer,  und  das  Hera 
drohte  mir  zu  zerspringen,  so  stürmisch  begann  es  zu  pochen. 
Ein  unbeschreibliches  Gefühl  durchrieselte  meine  Adern  und  im 
Übermass  seligen  Entzückens  erbebte  mein  ganzer  Körper.  Nun 
konnte  ich  mich  nicht  mehr  halten.  Zitternd  hing  ich  am  Halse 
meines  Freundes  und  bedeckte  sein  Antlitz  mit  tausend  leiden- 
schaftlichen Liebkosungen.  Der  erste  Strahl  heisser  Sinnlichkeit 
dnrehschoss  meinen  Körper.  War  das  nicht  die  Erfüllung  meiner 
seligsten  Träume,  die  ich  so  oft  im  stillen  Winkel,  immer  und 
immer  von  neuem,  geträumt?  Nun  sagte  er  es  mir  selbst,  dass  ich 
sein  liebster  Freund  sei  —  minutenlang  war  ich  nicht  imstande, 
einen  Laut  von  mir  zu  geben. 

Dann  aber,  unter  neuem  langen  Kuss,  gab  ich  mein  süsses,  so 
lange  bewahrtes  Geheimnis  preis.  Leise  kam  es  von  meinen  Lippen. 
Ich  bin  dir  ja  so  schrecküch  gutl  „Ich  dir  auch",  beteuerte  Willy 
überzeugungsvoll.  Und  nun  lösten  sich  die  Zungen,  innig  um- 
schlungen gaben  wir  uns  gegenseitig  das  Versprechen  unverbrüch- 
licher Treue.  Nichts  sollte  uns  mehr  trennen,  nie,  nie  wollten  wir 
uns  böse  werden,  wie  es  „die  andern"  so  oft  gegenseitig  täten. 
Willy  schwor  hoch  und  teuer,  er  wolle  jedem  die  „Knochen  kaput 
schlagen",  der  mich  beschimpfen  oder  mir  gar  „was  tun"  wollte. 


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Meinen  glühenden  Kopf  an  seine  Brust  gelehnt,  erzählte  ich  dann 
von  meinem  Missgesohick  auf  dem  Speditionshof,  von  den  Burschen, 
die  mir  immer  nachstellten  und  von  all  den  kleinen  Sorgen  und 
Kümmernissen  dort.  Kr  versprach  mir,  mich  zu  schützen,  wo  er 
nur  könnte.  So  schwatzten  wir  noch  lange  von  Diesem  und  Jenem 
und  konnten  nicht  voneinander  kommen.  —  Weshalb  ich  dies 
alles  so  breit  und  ausführlich  schilderte?  —  Weil  ich  diese  für 
mich  so  bedeutsamen  Momente  meines  ersten  Liebeslebens  nie  und 
nimmer  vergessen  kann  und  mag.  Weil  die  unendliche  Gewalt 
der  Liebe  mir  in  jenen  Tagen  zum  ersten  Male  wirklich  bewusst 
wurde.  Und  liegt  nicht  ein  unbeschreiblich  poetischer  Hauch  Uber  . 
diesem  Stückchen  Jugendidyll  ausgebreitet,  der  in  seiner  schuld- 
losen Naivität  das  Herz  jedes  Menschenfreundes  bezaubern  rauss? 
Was  wussten  wir  von  der  Welt,  was  von  der  rauben  Wirklichkeit 
mit  ihren  Regeln  und  Gesetzen?  Was  für  Begriffe  macht  sich 
ein  IS1/,  jähriges  Gemüt  von  dem  starren  Sitten-  und  Moralkodex 
der  Kulturgesellschaft?  Ach,  keine!  Aus  dem  reinen  Lebensimpuls, 
aus  dem  sprudelnden  Quell  lebendiger  Jugendkraft  und  Fülle 
schöpfte  ich  dieses  unendlich  schöne  Empfinden,  diesen  unwider- 
stehlichen Drang  nach  innigster  Vereinigung  des  Körpers  und  der 
Seele.  Immer  und  immer  wieder  presste  ich  den  Körper  Willys 
fest  an  mich,  streichelte  seine  blühenden  Wangen,  liebkoste  die 
strahlenden  Augen  dieses  Knaben,  den  ich  Uber  alles  liebte.  Ich 
ahnte  noch  nicht,  dass  in  diesem  ewigen  stürmischen  Verlangen 
bereits  die  schwellenden  Keime  einer  „naturwidrigen  Perversität" 
emporsprossten.  Dass  diese  meine  Zuneigung  zu  dem  Wesen  meines 
eigenen  Geschlechts  bereits  alle  Merkmale  einer  verbrecherischen 
Leidenschaft  aufwies,  die  der  Paragraph  so  und  so  mit  Gefängnis, 
Zuchthaus  und  Ehrlosigkeit  bedroht,  was  wusste  der  Knabe  von 
alledem?  Mit  kindlicher  Sorglosigkeit  gab  ich  mich  dieser  Liebe 
hin,  ging  ganz  in  ihrem  Gegenstand  auf  und  konnte  Uberhaupt 
garnicht  anders,  weil  es  eben  meinem  natürlichen  Wesen  entsprach. 
Ein  hohes  Glück  fand  ich  in  dem  stolzen  Bewusstsein,  von  Willy, 
dem  schönsten,  dem  unbändigsten  unter  den  ganzen  Kameraden, 
geliebt  zu  werden.  Er  hatte  es  mir  ja  selbst  gestanden,  weil  ich 
„so  gut  und  so  tapfer"  war.  Ach,  mit  meiner  Tapferkeit  war  es 
sonst  nicht  weit  her.  Aber  eben,  für  ,,lhn",  meinen  Geliebten, 
wäre  ich  noch  aller  möglichen  Thorheiten  fähig  gewesen.  Kastlos 
nährte  und  pflegte  ich  meine  Liebe.  Über  die  nun  folgende  trübe 
und  doch  so  glückliche  Zeit  meiner  Jugend  will  ich  schweigend 
hinweggehen.  Sie  flog  schnell  genug  hin  und  aus  den  Knaben 
wurden  Jünglinge.    Willy  und  ich,  wir  waren  und  blieben  die 


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zwei  Unzertrennlichen.  Beide  mussten  wir  ein  Handwerk  lernen 
and  nachdem  wir  die  Lehrzeit  absolviert,  blieben  nnsre  Verhält- 
nisse und  unser  beiderseitiger  Wohnort  vorerst  noch  so,  dass  wir 
immer  zusammen  sein  konnten.  Willy  hatte  sich  schnell  zu  einem 
wohlgewachsenen,  blendendschönen  jungen  Mann  herausgewachsen. 
Ich  waV  mit  meinen  17'/2  Jahren  immer  noch  eine  recht  knaben- 
hafte, unreife  Erscheinung,  wenigstens  musste  es  nach  dem  Urteil 
meiner  Umgebung  wohl  so  sein.  Zart  und  schwächlich  gebaut, 
mit  blassem  Gesicht,  sprach  ich  noch  hell  und  sang  einen  tadellosen 
Sopran.  Wir  waren  uns  noch  immer  in  treuer  Freundschaft  zuge- 
tan. Ich  mit  immer  wachsender  leidenschaftlicher  Glut,  Willy  mit 
immer  gleichmässiger  ruhiger  Treue  imd  Anhänglichkeit. 

Mir  genügte  natürlich  diese  ruhige,  platonische  Liebe  durch- 
aus nicht.  Ich  verlangte  gleiche,  heisse  Leidenschaftlichkeit.  Aber 
bald  sollte  ich  inne  werden,  dass  er  mir  das,  was  ich  von  ihm 
verlangte,  eben  nicht  gewähren  konnte.  Gutmütig  lächelnd,  dul- 
dete er  wohl  meistens  meine  heftigen  Liebkosungen,  wehrte  auch 
mitunter  sanft  ab  mit  der  Bemerkung,  er  sei  ja  doch  wohl  kein 
Mädchen.  Dann  ward  ich  böse,  nannte  ihn  einen  kalten  Frosch, 
eine  Fischnatur  und  schmollte.  Er  nahm  meine  Ausfalle  gelassen 
hin  und  tat  im  übrigen  nichts,  meine  Ansicht  zu  entkräften.  Wenn 
ich  ihn  dann  aber  einmal  Tage  nicht  gesehen,  hielt  ich  es  nicht 
mehr  aus,  ging  wieder  zu  ihm  und  alles  war  gut.  Ich  liebte  ihn 
zu  sehr  und  seine  Abwesenheit  aus  meiner  Lebenssphäre  war  fiir 
mich  ein  un tassbarer  Begriff.* 

In  dieser  Zeit  begann  ich  natürlich  auch,  poetische  Erzeug- 
nisse von  mir  zu  geben.  Unendlich  lange  Verse  entrangen  sich 
meiner  Feder.  Sie  alle  waren  an  „ihn"  gerichtet.  Er  hat  die 
ersten  nie  zu  Gesicht  bekommen.  Später  wurde  ich  hartnäckiger 
und  dichtete  ein  riesiges  Epos,  das  ebenfalls  auf  „ihn"  Bezug  hatte. 
Dieses  liess  ich  Willy  „zufällig  finden".  Er  las  es  im  Schweisse 
seines  Angesichts  und  staunte  mich  an  ob  meines  „Genies",  wollte 
aber,  zu  meinem  heimlichen  Verdruss,  durchaus  nicht  merken,  dass 
dieses  alles  nur  ihn  selbst  zum  Gegenstande  hatte.  Unsere  sonn- 
täglichen Vergnügungen  waren  auch  durchaus  von  denen  der 
meisten  unsrer  Kameraden,  die  ja  alle,  wie  wir,  dem  Handwerker- 
stande augehörten,  verschieden.  Während  diese  sich  in  Rudeln 
Sonntags  in  den  Strassen  herumtrieben  oder  in  Kneipen  „Schafs- 
kopp" oder  Billard  spielten,  verachteten  wir  beide  natürlich  solche 
„barbarischen"  Genüsse.  Wir  gingen  gewöhnlich  ins  Theater  oder 
in  Konzerte  und  nahmen  nachher  das  Dargebotene  häufig  gar 
superklug  unter  die  kritische  Lupe. 


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—    173  — 


Allein  bald  sollte  unser  schönes  Verhältnis  einen  jähen  Riss 
bekommen.  Wir  gingen  nun  bereits  dem  19.  Jahre  entgegen  und  mir 
fing  es  an,  aufzufallen,  dass  Willy  nicht  mehr  seine  freie  Zeit  ganz  und 
gar  mit  mir  teilte.  Es  kam  erst  einige  Male,  dann  sehr  oft  vor,  dass 
er,  wenn  ich  Sonntags  zu  ihm  kam,  um  ihn  abzuholen,  schon  fort  war 
oder  sich  bei  mir  entschuldigte.  Er  liess  mich  ruhig  Öfter  allein  aus- 
gehen und  kam  auch  immer  seltener  zu  mir.  Die  Liebe  ist  wachsam  und 
bald  erkannte  ich,  dass  er  mir  auswich,  die  Gesellschaft  einer  an- 
deren Person  mir  vorzog.  Sachte  schlich  sich  ein  unbehagliches 
Gefühl  bei  mir  ein,  das  immer  stärker  und  stärker  wurde.  Es  tat 
meinem  Herzen  immer  weher  und  weher  und  frass  mit  züngelnden 
Flammen  an  meiner  Seele.  Ich  war  eifersüchtig,  rasend  eifersüchtig 
geworden.  Er  kam  immer  seltener,  und  wenn  er  kam,  war  er 
nicht  mehr  bei  mir,  sondern  schien  immer  etwas  anderes  vorzuhaben. 
Und  wenn  ich  ihn  dann  in  alter  Liebe  zärtlich  begrüssen  wollte, 
wehrte  er  ab  mit  den  Worten:  „Ach  lass  doch,  wir  sind  doch 
keine  Kinder  mehr!"  Eisig  kalt  schoss  es  mir  dann  durchs  Herz, 
ich  fühlte,  ich  war  im  Begriff,  ihn  zu  verlieren.  Still  und  in  mich 
gekehrt  sass  ich  dann  neben  ihm  und  hörte  nur  halb  auf  seine 
Erzählungen.  Bald  kam  er  dann  aber  auch  auf  die  Weiber  zu 
sprechen  und  dann  wurde  er  immer  sehr  aufgeräumt  und  begann 
begeistert  ihr  Lob  zu  singen.  Wütend  biss  ich  mir  die  Lippen 
blutig  und  machte  boshafte  Anspielungen.  Freimütig  gab  er  dann 
zu,  sich  da  und  dort  mit  andern  Freunden  in  „Damengesellschaft 
köstlich  amüsiert"  zu  haben  und  beschrieb  mir  umständüch  die 
„feinen  Mädels".  Und  wenn  ich  höhnisch  bemerkte,  dass  er  mich 
mit  so  was  garnicht  interessieren  könne  und  mich  verschonen 
möge,  dann  lachte  er  mich  aus,  nannte  mich  ein  „Bählümmchen", 
das  in  Damengesellscbaft  nicht  „Zip"  sagen  könne  und  meinte,  ich 
würde  wohl  einmal  bei  Muttern  hinterm  Ofen  versauern.  Dann 
wurde  ich  furchtbar  aufgebracht  und  schalt  ihn  einen  Schürzen- 
jäger und  Pantoffelhelden.  Er  antwortete  prompt,  ich  sei  wohl 
neidittch  und  bot  mir  an,  mit  ihm  zu  gehen,  er  wollte  michs  auch 
lehreu,  wie  man  die  Mädels  „rumkriegen"  könnte.  Giftig  spuckte 
ich  dann  aus  und  vermass  mich  bei  allen  Heiligen,  „so  was"  könne 
mir  nicht  einfallen.  Zankend  schieden  wir  dann  jedesmal  von 
einander,  ohne  den  üblichen  Händedruck.  Einsam  blieb  ich  zurück. 
Das  also  war  es.  Die  Weiber  hatten  ihn  mir  entrissen.  Ihnen 
folgten  meine  schwärzesten  Flüche,  meine  ärgsten  Verwünschungen, 
die  ich  schliesslich  in  Tränen  ohnmächtiger  Wut  erstickte.  Mit  der 
ungemeinen  Lebhaftigkeit  meines  ganzen  Naturells  nahm  ich  diesen 
ersten  wirklich  grossen  Liebesschmerz  auf.  Traurig  ging  ich  umher. 


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—    174  — 


Wie  grauer  Nebel  senkte  siehs  herab  auf  die  Träume  meiner  Liebe, 
auf  alle  jugendfrohen  Pläne  und  Hoffnungen.  Ach,  und  wir  hatten 
so  schöne  Pläne  mit  einander  geschmiedet!  Wollten  bald  in  die 
Fremde  gehen,  wollten  auf  der  Wanderschaft  Welt  und  Menschen 
kennen  lernen!  Natürlich  gemeinschaftlich!  Hatten  wirs  uns  nicht 
damals  gelobt,  dass  wir  uns  nie,  nie  trennen  wollten?  0,  ich  hatte 
es  noch  nicht  vergessen!  Und  da  wir  uns  die  gemeinschaftliche 
Reise  schon  in  allen  Details  ausgemalt,  trug  ich  nun  seit 
längerer  Zeit  eine  geheime  Hoffnung  mit  mir  herum,  eine  Hoffnung 
auf  Erfüllung  des  höchsten  Wunsches  meiner  Liebe,  den  ich  bisher 
nie  gewagt  vor  Willy  auch  nur  anzudeuten,  ja  ich  hatte  in  meinen 
stillen  Gedanken  kaum  den  Mut,  mir  selbst  diesen  Wunsch  einzu- 
gestehen. Und  doch  verfolgte  mich  dieser  Gedanke  seit  Langem, 
wenn  ich  still  und  einsam  meinen  Gedanken  nachhing,  in  langen, 
schlaflosen  Nächten,  im  Beisammensein  mit  Willy,  Uberall  hin  verfolgte 
mich  dieser  Wunsch,  ich  wurde  ihn  nicht  los,  wollte  ihn  auch  gar- 
nicht  los  werden.  Alles  hatte  ich  mir  bereits  ausgemalt:  Per  pedes 
die  Welt  durcheilen,  Städte  und  Dörfer,  ja  vielleicht  fremde  Länder 
sehen  und  immer  beieinander  sein  können !  Mussten  wir  nicht  auf 
unsern  Reisen  in  Herbergen  übernachten  :'  So  würden  wir  dann 
gewiss  auch  Nachts  im  Schlummer  bei  einander  weilen  können 
auf  gemeinschaftlicher  Lagerstätte,  an  seiner  Brust  ruhend,  könnte 
ich  selig  dem  neuen  Tag  entgegenschlummern.  —  Wie  fest  und 
innig  wollte  ich  mich  an  ihn  schmiegen,  wollte  den  Geliebten  an 
mein  brennendes  Herz  pressen!  In  unmittelbarer  zärtlicher  Be- 
rührung mit  dem  biUten  weissen  Körper  meines  Freundes  würde  ich 
der  höchsten  Seligkeit  einer  mächtigen  Liebe  teilhaftig  werden, 
das  süsseste  Glück  meines  Daseins  gemessen  können,  das  ich  bis 
jetzt  vergebens  erhofft  hatte!  —  War  dieses  Begehren  etwa  ans 
den  Abgründen  verbrecherischer  Phantasien  eines  Ubersättigten 
Lüstlings  geboren?  —  Ach  nein,  ich  war  als  18  jähriger  Jüngling 
in  der  Blüte  meiner  Jugendkraft,  weder  geschlechtlich  übersättigt, 
noch  war  meine  Begierde  auf  irgend  eine  bewusste  oder  bestimmte 
geschlechtliche  Handlung  gerichtet.  War  ich  doch  damals  noch 
ein  in  geschlechtlichen  Dingen  vollständig  unerfahrener,  unwissender 
Bursche.  Gewiss  hatte  ich  wohl,  wie  das  bei  allen  jungen  Leuten 
der  Fall,  viel  abenteuerliches  Zeug  von  Geschlechtsakten  zwischen 
Mann  und  Weib  gehört,  und  heute  noch  lächelt  man  über  alle  die 
unmöglichen  und  ungeheuerlichen  Vorstellungen,  die  wir  uns  als 
junge  Burschen  auch  von  den  Geburtsvorgängen  machten. 

Ich  hatte  eine  Art  mystische  Scheu  vor  allen  diesen  Dingen 
und  heillose  Furcht  vor  den  Folgen  geschlechtlicher  „Yerirrungen". 


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175  — 


Inzwischen  war  jedoch  der  Knabe  zu  einem  vollkommenen  Ge- 
schlechtswesen herangereift,  in  dem  sich  bereits  der  mächtige  Drang 
nach  Ergänzung  regte.  Was  Wunder,  wenn  sich  dieser  Drang  mit 
Gewalt  auf  jene  Wesen  richtete,  die  von  Jugend  auf  mein  ganzes 
Sein  beherrscht  hatten.  Die  gewaltige  Liebe  des  Geschlechts 
konzentrierte  sich  ganz  von  selbst  und  ohne  sieh  klar  bewußt  zu 
sein  auf  das  eigene  Geschlecht. 

Damit  war  aber,  weil  der  unerbittliche  Sittenkodex  dieser  Zeit 
darin  die  Momente  einer  verbrecherischen  Handlung  erblickt,  der 
Fluch  der  Gesellschaft  auf  das  Haupt  des  Liebenden  gefallen,  dem 
nur  noch  recht  und  billig  geschah,  wenn  er  au»  der  Gemeinschaft 
aller  anständigen  Menschen  verbannt  wurde.  Jener  Fluch  sollte 
auch  mir  später  im  reichsten  Maße  zu  Teil  werden.  Zu  jener  Zeit 
aber,  da  sich  in  mir  die  ersten  Blüten  des  Geschlechtsbewusstseins 
eben  erschlossen  hatten,  ahnte  ich  von  alldem  noch  nichts.  Niemand 
hatte  mir  noch  bis  dahin  jemals  etwas  davon  gesagt.  Wie  konnte 
ich  selbst  etwa  dies  edle  Feuer  in  meiner  Brust  verdammen,  da  es 
doch  ein  Element  von  meinem  ureigenen  Selbst  war  und  zwar  ein 
gar  gewaltiges  ?  —  0  nein,  ich  konnte  nicht«  Unmoralisches  darin 
finden,  dachte  gar  nicht  daran,  daß  wohl  irgend  Jemand  kommen 
könnte  und  sagen :  „Deine  Gefühle  sind  verbrecherisch" !  Ich  hätte 
ihn  schön  abfahren  lassen.  Denn  heilig  war  mir  meine  Liebe  zu 
Willy,  sie,  die  mich  Bchon  als  Knabe  für  alles  Edle  begeistert  hatte. 
Heilig  war  mir  auch  die  Person  meines  Freundes.  Ich  hatte  ja  zu 
dieser  Zeit  nicht  die  geringste  Ahnung  von  irgend  einem  bestimmten 
Geschlechtsakt,  irgend  einer  Form  sexueller  Befriedigung  zwischen 
Männern.  Konnte  mir  gar  keinen  Begriff  davon  machen  und  dachte 
auch  niemals  an  etwas  dergleichen,  da  ich  bis  dahin  von  solchen 
Dingen  noch  nichts  gehört.  Und  doch  ist  die  Tatsache  nicht  zu 
leugnen,  sie  war  vorhanden,  es  zog  mich  mit  unwiderstehlicher 
Gewalt  nach  der  körperlichen  Bertthrung  mit  meinem  Freund.  Was 
war  es  denn  nun,  das  mich  immer  und  immer  wieder  mit  magischer 
Gewalt  hinzog,  mich  ewig  drängte  und  trieb,  seine  Nähe  zu  suchen? 
Ach,  ich  machte  mir  keine  langen  Gedanken  erst  über  die  etwaige 
Unnatur  meiner  Empfindungen.  Unbewußt  gab  ich  mich  ihrem 
Zauber  hin.  Ja  es  war  ein  Reiz  ohne  Ende,  der  von  der  Person 
diese»  wunderschönen  Jünglings  ausstrahlte.  Alles  liebte  ich  an 
diesem  Körper,  dies  schöne  blonde  Haupt  mit  der  blendend  weißen 
Stirn,  die  herrlichen  Augen,  die  mir  so  oft  treuherzig  entgegen 
gestrahlt,  die  frischen  Wangen,  die  roten  Lippen  so  schön  ge- 
schwungen, auf  die  ich  schon  als  Knabe  so  oft  im  schüchternen 
Kuß  die  meinen  gedrückt,  die  kräftigen  Hände  und  die  hohe  breite 


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—    170  — 


Brust,  an  der  ich  so  oft  geruht,  und  alles  was  diese  teure  Brust 
umschloß,  dieses  stolze  und  doch  so  gute  Herz,  das  sinnige  Gemüt, 
olle»,  alles  Hebte  ich  an  diesem  teuren  Wesen  und  ging  völlig  in 
ihm  auf.  Aber  auch  das  Verlangen  nach  innerer  Gemeinschaft 
brannte  in  meiner  Seele.  Die  Gleichheit  des  geistigen  Daseins,  das 
lneinandertauchen  beider  Herzen  war  es,  was  ich  erstrebte.  —  Ich 
kehre  zum  Faden  meiner  Erzählung  zurück.  Willy  konnte  mir  nicht 
das  gewähren,  was  ich  glaubte  von  ihm  verlangen  zu  dürfen.  Ganze 
Hingabe,  so  wie  meine  Liebe  zu  ihm  mein  ganzes  Wesen  beherrschte, 
so  sollte  es  auch  bei  ihm  sein.  Die  Natur  meiner  Empfindun- 
gen duldete  nicht,  daß  ich  seine  Zuneigung  mit  andern  teilen 
sollte.  Unser  gegenseitiges  Verhältnis  wurde  deshalb  in  der  Folge 
merklich  kühler.  Willy  suchte  immer  mehr  der  Richtung  seiner 
Entwicklung  nachgehend,  Verkehr  mit  dem  weiblichen  Geschlechte. 
Ja  er  wurde  sehr  bald  ein  von  den  Damen  viel  umworbener  Don 
Juan,  der  eben  dank  der  äußeren  Vorzüge,  die  ihm  Mutter  Natur 
verliehen,  diese  Holle  mit  sehr  viel  Geschick  Uberall  durchzuführen 
verstand.  Trauernd  stand  ich  abseits  und  verfolgte  trotzdem  mit 
Beharrlichkeit  sein  Tun  und  Treiben.  Ich  war  nur  noch  das  fünfte 
Rad,  das  „liebe  alte  Haus",  das  er  noch  für  würdig  genug  hielt, 
ihm  alle  seine  neuen  Interessen  und  zarten  Geheininisse  anzuver- 
trauen. All'  die  kleinen  pikanten  Sächelchen,  die  ein  rechter  Don 
Juan  vor  don  Augen  der  Welt  verbirgt,  ich  wußte  sie,  mir  vertraute 
er  sie  an,  ohne  daß  ich  danach  frug.  Und  wenn  er  mir  dann  all* 
diese  kleinen  Intimitäten  unbefangen  mitteilte,  zerriß  unsagbarer 
Schmerz  mein  Innerstes  und  blutenden  Herzens  gestand  ich  es  mir 
in  der  Stille  meiner  Einsamkeit,  daß  ich  ihn  verloren  hatte,  ihn, 
den  ich  vergötterte,  der  mein  Alles  war  auf  dieser  Welt,  dem  ich 
alles,  was  mir  heiüg,  geweiht  hatte!  Ich  kannte  meinen  Willy  bald 
nicht  mehr  wieder.  Aus  dem  sinnigen,  treuherzigen  Jungen  war 
bald  ein  pomadisierter  Weiberfex  geworden,  der  aus  dem  Füllhorn 
seiner  Wohlgestalt  Kapital  schlug.  Aber  ich  konnte  und  konnte 
noch  immer  nicht  von  ihm  lassen,  obgleich  sich  alle  meine  Empfin- 
dungen gegen  sein  nunmehriges  Wesen  aufbäumten.  Ein  weiteres 
Jahr  war  dahin  und  aus  unserer  phantasieumwobenen  Wander- 
schaft war  natürlich  nichts  geworden.  Willy  hatte  dazu  die  Lust 
verloren,  ihm  schien  es  so  am  Besten  zu  gefallen  und  mir  war  durch 
den  Tod  meines  Vaters  eine  neue  Pflicht  erwachsen.  Ich  mußte  in 
Gemeinschaft  mit  meinem  ältesten  Bruder  für  die  Mutter  und  zwei 
noch  unerwachsene  Brüder  sorgen.  Obwohl  das  Verhältnis  zwischen 
Willy  und  mir  immer  mehr  verflachte,  kamen  wir  doch  noch 
sehr  häufig  zusammen.    Ich  konnte  eben  dieses  Wesen,  das  ich 


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—    177  — 


mehr  wie  mich  selbst  geliebt,  nicht  so  ohne  weiteres  aus  meinem 
Herzen  reißen.  Leider  sollte  auch  dieser  Zustand  nicht  lange  dauern, 
und  Willy  selbst  war  es  auch  hier  wieder,  der,  wohl  unbewußt 
meinem  Herzen  den  letzten  brutalen  Stoß  gab.  Eines  Tages  kam 
Willy  zu  mir,  nahm  mich  auf  die  Seite  und  vertraute  mir  ein 
neues  Geheimnis  an.  Diesmal  war  es  ernster  Natur.  Er  hatte  sich 
im  sorg-  und  schrankenlosen  Geschlechtsverkehr  infiziert,  hatte  die 
Sache  vertrödelt  und  frug  mich  nun,  da  die  Geschichte  schlimm  zu 
werden  drohte,  um  meine  Meinung.  Er  behauptete,  daß  er  sich  bei 
einer  Prostituierten  den  Schanker  geholt  und  war  nun  in  großer 
Angst,  wie  er  „das  Ding"  los  werden  möchte.  Zum  Arzt  zu  gehen, 
wozu  ich  ihm  riet,  hatte  er  keine  rechte  Lust.  Es  sei  ihm  „zu 
schenant"  und  koste  auch  gleich  zu  viel,  meinte  er.  Es  war  das 
erste  Mal  in  meinem  Leben,  daß  ich  eine  Geschlechtskrankheit  mit 
all'  ihren  widerlichen  Begleiterscheinungen  kennen  lernte.  Begreif- 
licher Abscheu  erfüllte  mich  und  da  er  die  unbedingte  Notwendig- 
keit einer  ärztlichen  Behandlung  nicht  gleich  einsehen  wollta,  so 
konnte  ich  ihm  natürlich  sonst  weiter  keinen  Rat  geben  und  begriff 
überhaupt  nicht,  wie  er  sich  in  diesem  Fall  an  mich  wenden  konnte, 
da  er  doch  in  solchen  Dingen  zum  mindesten  mehr  Erfahrungen 
hatte  als  ich.  Ich  hielt  es  viel  mehr  für  angebracht,  ihm  allerlei 
Vorhaltungen  zu  machen.  Er  verteidigte  sich  so  gut  er  konnte 
und  da  er  trotzdem  bei  mir  kein  Verständnis  fand,  nannte  er  mich 
einen  närrischen  Kauz  und  gab  mir  schließlich  den  wohlgemeinten 
Rat,  mich  nicht  so  von  allem  zurückzuhalten,  sondern  mitzutun. 
„Das  Leben  ist  so  schön",  rief  er  aus,  „und  man  soll  es  genießen, 
so  lange  man  jung  ist,  dazu  hat  man  ein  Recht".  Dann  bedauerte 
er  mich  mit  meinen  „ewigen  Ansichten",  wurde  sehr  heiter  und  bot 
sich  an,  mich  in  lustige  Gesellschaft  einzuführen ,  da  sollte  ich  das 
Leben  erst  kennen  lernen,  fühlen,  was  überhaupt  leben  heiBst.  Und 
hätte  ich  erst  das  „himmlische  Manna"  der  Liebe  geschmeckt,  dann 
würde  ich  schon  ein  Anderer  werden,  darauf  schwur  er  einen  heiligen 
Eid.  Er  nannte  mich  schliesslich  seinen  lieben  alten  Freund,  mit 
dem  er  gern  „alles  teilen"  wolle,  schwatzte  noch  eine  ganze  Weile 
auf  mich  ein  und  rückte  zuletzt  in  freundschaftlichem  Eifer  mit 
folgendem  Vorschlag  heraus.  Er  wollte  mir  ja  gern,  um  es  mir 
leicht  zu  machen,  sein  neuestes  „Verhältnis",  eine  dralle  Küchen- 
jungfer, die  in  der  Nähe  bedienstet  war,  „überlassen".  Das  Mädel 
sei  „ganz  doli",  immer  zu  haben  und  nehme  es  auch  nicht  so  genau. 
Er  habe  schon  einige  Mal  daran  „genascht"  und  da  es  mit  ihm  doch 
nun  gegenwärtig  nicht  ginge,  so  wollte  er  mich  mit  ihr  bekannt 
machen.    Sprachlos  starrte  ich  meinen  ehemals  Vielgeliebten  an. 

Jahrbuch  V.  12 


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-    178  — 


War  das  mein  Willy  noch,  der  einzige  geliebte  Mensch,  dem  ich  mit 
Freuden  mein  Leben  zu  Füssen  legen  wollte?  So  weit  war  es  also 
mit  ihm  gekommen,  so  jung,  so  schön  und  eine  solche  Auffassung, 
solche  Achtung  vor  den  heiligsten  Empfindungen  der  Menschen, 
das  Gefühl,  in  dem  selbst  das  Tier  geadelt  wird?  Ein  Gefühl  end- 
loser Leere  überkam  mich.  Eine  solche  unsäglich  geraeine  Denk- 
und  Handlungsweise  musste  ich  bei  dem  erleben,  der  bis  dahin 
in  meinem  Ideenkreis  den  vornehmsten  Platz  eingenommen. 

Von  nun  an  war  ich  bemüht,  sein  Bild  gewaltsam  aus  meiner 
Seele  zu  reissen.  Ich  behandelte  ihn  kalt,  ging  nie  mehr  zu  ihm 
und  wenn  er,  was  auch  nur  noch  selten  geschah,  zu  mir  kam,  stahl 
ich  mich  leise  aus  dem  Hause  und  überliess  ihn  meinen  Brüdern, 
an  die  er  sieh  bald  enger  anschloss.  Jn  meinem  zortretenen  Herzen 
hat  es  noch  lange  getobt  und  geschrieen,  ehe  dies  schönste  Bild 
meiner  Jugendträume  daraus  entwich.  Später,  nachdem  wir  auch 
örtlich  von  einander  getrennt,  hörte  ich  nur  noch  durch  meine  Brüder 
von  ihm.  Er  hat  schliesslich  die  Tochter  eines  wohlhabenden 
Kaufmanns  heimgeführt  und  ist  heute  selbst  als  Inhaber  eines 
renommierten  Geschäftshauses  in  Leipzig  ein  wohlhabender  Mann,  der 
sich  kaum  noch  seines  einstigen  Jugendfreundes  erinnert.  Wohl 
weiss  ich,  dass  er  von  meinen  ferneren  Schicksalen  durch  meine 
Familie  unterrichtet  wurde,  ich  habe  jedoch  von  ihm  kein  Lebens- 
zeichen mehr  erhalten.  Er  ist  eben  schnell  in  den  Hafen  der 
gesellschaftlichen  Behaglichkeit  eingelaufen.  Ihn  haben  die  konven- 
tionellen Lügen  dieser  Kulturgesellschaft  weiter  nicht  behelligt  — 

Über  die  nun  folgende  Periode  meines  Lebens  will  ich  mich 
bemühen  weniger  ausführlich  zu  sein.  Ich  begann  alsbald  ein 
höchst  unsolides  Leben  zu  führen.  Im  Taumel  aller  möglichen 
tollen  Vergnügungen  suchte  ich  Zerstreuung,  Vergessen.  Eine 
wilde  Flucht  vor  der  gähnenden  Leere,  die  in  meinem  Inneren  zu- 
rückgeblieben war,  begann  nun.  Und  von  dem  ungeheuren  Wust 
der  widerstreitendsten  Empfindungen,  die  mich  dann  wieder  plötz- 
lich durchtobten,  hin-  und  hergeschlendert,  tappte  ich  suchend,  wie 
ein  Blinder.  Die  tollste  und  ausgelassenste  Gesellschaft  ward  mir 
bald  die  liebste.  Eine  schon  ziemlich  früh  erwachte  Vorliebe  für 
dramatischo  Kunst  und  ein  bescheidenes  Talent  in  derselben,  führte 
mich  bald  in  Gesellschaften  ein.  In  Dilettantenvereinen  übte  ich 
mit  grottcr  Hingabe  meine  kleinen  Fähigkeiten  und  so  bekam  ich 
auch  leicht  Verkehr  mit  vielen  jungen  Leuten  beiderlei  Geschlechts. 
Ich  wurde  ziemlich  schnell  gewandt  in  allen  Eigenschaften,  die  dazu 
gehören,  in  der  Gesellschaft  etwas  zu  scheinen,  was  man  nicht  ist. 
Ich  wollte  ja  durchaus  das  „himmlische  Manna"  der  Liebe  schmecken, 


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—    179  — 


wovon  mir  Willy  so  begeistert  erzählt  hatte.  Ich  gab  mir  denn 
auch  die  grösste  MUhe,  bei  den  Damen  den  Schwerenöter  zu 
spielen.  Denn,  so  dachte  ich,  was  alle  Anderen  mit  so  viel  Ge- 
schick und  Erfog  betrieben,  warum  sollte  ich  es  auch  nicht  können, 
schliesslich  lag  es  am  Ende  bloss  an  meinem  Mangel  an  Talent,  die 
Gnnst  der  Damen  zu  erwerben.  80  warf  ich  mich  denn  gewaltig 
in  die  Brust,  um  mich  endlich  zur  Mannbarkeit  aufzuraffen  und  den 
Hänseleien  der  Anderen  zu  entgehen,  die  mich  nur  „den  zarten 
Franz"  nannten.  Und  um  auch  auf  den  zahlreichen  Kränzchen  und 
Bällen  der  Vereine  in  Gesellschaft  der  Damen  bestehen  zu  können, 
ging  ich  auch  noch  in  die  Tanzstunde  und  verliebte  mich  — 
in  den  jungen  Kellner  des  betreffenden  Restaurants.  Er  war  ein 
bildhübscher  Bursche  mit  pechschwarzem  gekräuselten  Haar  und 
ein  Paar  kohlschwarzen  Augen,  die  wie  Diamanten  funkelten.  Ich 
hatte  nur  noch  Blicke  für  ihn  und  wenn  ich  die  Tanzerei  noch 
mitmachte,  so  geschah  es  nur,  um  in  seiner  Nähe  bleiben  zu  können. 
Ich  suchte  Annäherung  und  mit  überraschend  schnellem  Erfolg. 

Neue  Seligkeit  zog  in  mein  Herz  ein.  In  kurzer  Zeit  waren 
wir  vertraut  mit  einander.  Hier  war  ich  wieder  in  meinem  Element, 
hier  durfte  ich  lieben,  das  fühlte  ich  sofort.  Welch  ein  Unter- 
schied !  Während  ich  in  Gesellschaft  junger  Damen  mich  mit  meiner 
Rolle  des  Schwerenöters  mühsam  abquälte,  trat  hier  wieder  sofort 
das  echte  Feuer  natürlicher  Leidenschaft  hervor.  Hier  gab  echte 
Liebe  das  von  selbst,  wonach  ich  dort  mühsam  den  Plan  absuchte, 
um  einen  gequälten  Abklatsch  des  „himmlischen  Mannas"  zu  er- 
halten, was  ich  garnicht  himmlisch  fand,  um  mich  künstlich  und 
scheinbar  daran  zu  ergötzen,  zu  dem  Zweck,  vor  den  Augen  der 
Welt  als  das  zu  gelten,  was  ich  nicht  war.  Als  ich  die  ersten 
schüchternen  Liebkosungen  wagte,  fühlte  ich,  dass  sie  ihm  nicht 
unempfindlich  waren.  Er  erwiderte  sie  und  jubelnd  ahnte  ich  in 
meinem  Liebling  eine  verwandte  Seele.  Ich  widmete  ihm  all  die 
Hingabe,  deren  nur  die  echte  Liebe  fähig  ist.  All  die  kleinen 
Aufmerksamkeiten,  in  der  die  Liebe  so  selbstlos,  so  erfinderisch 
ist,  tauschten  wir  nun  gegenseitig  aus.  Doch  das  Auge  des  Ge- 
setzes wacht  und  der  beleidigte  Sittenkodex  der  „Normalen"  im 
Land  schrie  nach  Sühne.  Unvorsichtig  und  tollkühn  ist  die  Liebe. 
Eines  Abends  spät  ereilte  uns  das  Verhängnis,  das  für  mein  Leben 
so  folgenschwer  werden  sollte.  Wir  wurden  beide  vom  Wirte  in 
einem  hinteren  Zimmer  bei  frischer  Tat  ertappt.  Die  Situation 
war  über  jeden  Zweifel  erhaben  und  wir  konnten  uns  auch  nicht 
mehr  retten,  da  wir  ganz  unvermutet  überrascht  wurden.  Ein  un- 
beschreiblicher Skandal  folgte.    Man  brüllte  nach  dem  Arm  des 

12* 


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—    180  — 


Gesetzes.  Ich  wurde  festgehalten  und  musste  noch  mit  ansehen, 
wie  der  Wirt  meinen  Liebling  brutal  misshandelte.  Wahnsinniger 
Schmerz  durchtobte  mein  Innerstes  und  zitternd  bat  ich  um  Scho- 
nung fUr  den  Armen.  Willig  folgte  ich  dann  dem  Diener  der 
heiligen  Gerechtigkeit.  Ich  befand  mich  in  einer  Art  Traumzustand, 
sah  und  hörte  kaum,  was  um  mich  herum  geschah.  Wie  in 
nebelhafter  Ferne  erschien  mir  alles.  Und  immer  weiter  und  weiter 
rückten  Welt  und  Menschen  von  mir  ab,  so  daas  ich  sie  nicht  mehr 
erkennen  konnte.  Zwei  Monate  sass  ich  in  Untersuchung,  ich  be- 
griff nicht,  weshalb,  da  ich  alles  eingestanden  hatte.  Was  ich  in 
dieser  Zeit  einsamer  Zellenhaft  ausgestanden,  genügte,  um  mich 
vollständig  niederzuschmettern.  Mit  all  ihrer  Schärfe  hielt  die  be- 
leidigte Moral  ihr  Strafgericht  über  mich.  Nichts  blieb  mir  an  De- 
mütigungen erspart.  Schon  auf  dem  Polizeipräsidium  schallte  mir 
die  Stimme  des  diensttuenden  Beamten  entgegen:  „Ein  Päderast! 
Ein  Päderast!  In  Einzelhaft  mit  dem!"  Ich  hatte  keine  Ahnung 
von  der  Bedeutung  dieses  Wortes.  Aber  die  Art,  wie  mir  dies 
offenbar  inhaltsschwere  Wort  entgegengeschleudert  wurde,  Hess 
mich  ahnen,  welch  ein  verabscheuungswürdiger  Verbrecher  ich  sein 
musste.  In  ohnmächtiger  Verzweiflung  wand  ich  mich  auf  dem 
Boden  meiner  einsamen  Zelle.  War  ich  denn  wirklich  eine  so 
schändliche  Kreatur  ?  Wen  hatte  ich  denn  beleidigt,  wem  etwas  ge- 
nommen, wem  hatte  ich  ein  Leid  zugefügt?  In  meiner  hilflosen 
Verwirrung  vermochte  ich  keinen  klaren  Gedanken  zu  fassen. 
Verbrecher,  Verbrecher,  Päderast !  höhnte  es  mir  nur  immer  in  die 
Ohren.  „Bedenke  doch,  was  du  nun  geworden  bist!"  so  hiess  es 
in  dem  Briefe,  den  mein  ältester  Bruder  unter  dem  Eindruck  der 
Nachricht  meiner  Verhaftung  an  mich  geschrieben  und  in  dem  er 
sich  im  Namen  der  ganzen  Familie  von  mir  lossagte.  In  meiner 
grenzenlosen  Verzweiflung  Uber  alles  dieses  reckte  ich  schliesslich 
die  Arme  gen  Himmel  und  erflehte  von  Gott  irgend  eine  Gewiss- 
heit, wio  weit  die  Grösse  meines  Verbrechens  reichte.  Aber  der 
Himmel  rührte  sich  nicht  und  ich  fand  nicht  einmal  Trost  in  der 
tränenvollen  Busse  und  Reue,  der  ich  mich  in  kraftloser  Zerknirschung 
nun  hingab,  ich  wusste  ja  nicht,  was  ich  eigentlich  büssen  sollte, 
bei  wem  ich  um  Verzeihung  für  zugefügte  Schmach  betteln  sollte. 
Die  Stunde  meiner  Aburteilung  schlug  und  hier  sah  ich  meinen 
Liebling  wieder.  Bei  seinem  Anblick  brach  ich  in  Tränen  aus. 
War  er  es  am  Ende,  dem  ich  Beleidigung  und  Schande  zugefügt? 

Aber,  o  Wunder,  als  wir  beide  vor  der  Ballustrade  neben- 
einander Htauden,  um  unseren  Richtern  Rede  und  Antwort  zu 
stehen,  fühlte  ich  plötzlich  seine  Hand  in  der  meinen,  die  er  einen 


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—    181  — 


Moment  zärtlich  und  verstohlen  drückte.  Da  zog  es  einen  Augen- 
blick wie  stiller  Friede  durch  meine  Seele  und  ruhig  und  gefasst 
antwortete  ich  auf  die  Fragen  des  Präsidenten.  Freilich,  nur  einen 
Augenblick  bewahrte  ich  meine  Fassung,  dann  war  es  wieder  vor- 
bei, als  der  Herr  Staatsanwalt  für  mich,  als  den  Verführer,  nach 
§  175  des  St.-G.-B.  eine  empfindliche  Strafe  verlangte.  Ich  bat 
und  flehte  und  erklärte  unter  Schluchzen,  dass  ich  meinem  Freund 
niemals  etwas  habe  „zu  Leide  tun"  wollen.  Und  die  Herren  Richter 
lächelten  über  meine  naiven,  fortwährenden  Beteuerungen.  Ich 
wurde  schliesslich  unter  Annahme  von  mildernden  Umständen  zu 
6  Monaten  Gefängnis  verurteilt.  Adolf  kam,  weil  er  nur  der  dul- 
dende Teil  und  der  von  mir  „Verführte"  war,  mit  7  Tagen  davon. 
Ausserdem  wurde  auch  wohl  auf  seine  Jugend  Rücksicht  genommen, 
er  war  noch  nicht  ganz  16  Jahre  alt  Ich  hatte  mich  um  das  Alter 
meines  Freundes  nie  bekümmert,  hielt  ihn  aber  für  bedeutend  älter. 
Er  machte  in  jeder  Beziehung  den  Eindruck  eines  mindestens 
18  jährigen,  war  ebenso  gross  wie  ich  und  körperlich  viel  mehr  ent- 
wickelt. Die  Täuschung  Uber  sein  Alter  mochte  um  so  leichter 
sein,  als  er  auch  die  Entwicklung  zur  Pubertät  bereits  hinter  sich 
hatte.  Ich  konnte  deshalb  auch  mit  gutem  Gewissen  dem  Herrn 
Präsidenten  auf  seine  Frage  antworten,  dass  ich  mich  im  Alter 
meines  Freundes  getäuscht  hätte.  Das  hatte  mir  denn  aber  weiter 
nichts  genutzt,  am  Urteil  änderte  das  ja  nichts.  Ich  wurde  wieder 
abgeführt  und  hatte  gerade  noch  so  viel  Zeit,  einen  letzten  Scheide- 
gruss  von  ihm  aufzufangen,  einen  stillen  Blick  liebevoller  Teil- 
nahme für  mich.  Diesen  stummen  Blick  habe  ich  ah  einzigen  Trost 
mit  in  mein  Gefängnis  genommen.  Ihn,  das  wusste  ich  nun,  hatte 
ich  nicht  beleidigt,  er  grollte  mir  nicht.  Ich  habe  ihn  nie  wieder- 
gesehen, diesen  herzigen,  schwarzäugigen  Jungen,  meine  späteren 
Nachforschungen  nach  ihm  blieben  resultatlos.  Ich  bin  überzeugt, 
er  hat  nur  gut  von  mir  gedacht.  —  Der  Mensch  fügt  sich  in  alle», 
auch  in  das  anfänglich  Unl'assbare.  Ich  ertrug  meine  G  monatliche 
Einzelhaft  verhältnismässig  gut  und  wurde  zuletzt  von  dem  Auf- 
seher des  „Flügels  A der  ein  halben  Jahr  mein  Domizil  war,  mit 
einigen  wohlwollenden  Worten  entlassen  und  mit  dem  guten  Rat, 
mich  fUrderhin  „in  Obacht  zu  nehmen,"  damit  ich  nicht  zu  bald  wieder 
käme.  Gerührt  drückte  ich  dem  alten  Manne  die  Hand  und  trat  in 
die  goldne  Freiheit  mit  dem  festen  Vorsatz,  nun  ein  „Anderer," 
„Besserer41  zu  werden.  Hatte  ich  nicht  in  der  langen  Zeit  der  Sühne 
bewiesen,  wie  man  sich  beherrschen  kann?  Hatte  ich  nicht  die 
6  Monate  vollständig  keusch  zugebracht  V  —  Ich  kannnte  die 
Onanie  sehr  wohl,  doch  nicht  ein  einziges  Mal  war  ich  ihr  in  de; 


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—    182  — 


ganzen  Zeit  zum  Opfer  gefallen.  Ja,  ich  wollte  und  musste  wieder 
ein  guter  Mensch  werden.  Hätte  ich  nur  damals  schon  klar  genug 
die  unabweisbare  Bestimmung  meiner  Geschlechtsnatur  begriffen, 
ich  hätte  wohl  in  jenen  oft  durchwachten  Nächten  im  Gefäng- 
nisse die  Kraft  gefunden,  ein  Ende  zu  machen  mit  einem  Dasein 
so  dunkel  und  reuevoll  bis  auf  den  heutigen  Tag. 

In  wie  weit  ich  später  ein  besserer,  anderer  Mensch  geworden, 
mag  der  Leser  aus  dem  weiteren  Fortgang  meines  Lebens  entnehmen. 

Meine  Familie  nahm  mich  in  Gnaden  wieder  auf,  man  verzieh 
mir,  wie  man  sagte,  um  meinetwillen.  Ja,  mein  ältester  Bruder 
hielt  es  von  da  ab  für  eine  Art  väterlicher  Pflicht,  mich  wieder 
auf  den  rechten  Pfad  der  Sitte  und  Tugend  sorgsam  zurückzu- 
führen. Er  fing  an,  mich  auf  Schritt  uud  Tritt  zu  bewachen.  Er 
hatte  das  Glück,  eine  vermögende  Frau  zu  bekommen  und  nun 
ging  seine  brüderliche  Fürsorge  so  weit,  im  Einverständnis  mit  den 
Verwandten  seiner  Frau  mir  einen  kleinen  Geschäftsbetrieb  einzu- 
richten, der  in  mein  Fach  schlug.  Ich  nahm  alles  dankbar  an, 
geschah  doch  alles  zu  meinem  Besten.  Die  Sache  klappte  auch 
im  Anfaug  ganz  gut.  Ich  fühlte  mich  bald  wieder  und  gefiel  mir 
in  meiner  Eigenschaft  als  selbständiger  Geschäftsmann,  war  fieissig 
und  suchte  mein  Geschäft  hochzubringen.  Doch  ich  hatte  meine 
Rechnung  ohne  mich  selbst  gemacht  Abgesehen  davon,  das»  es 
ja  an  und  tür  sich  schon  ein  Missgriff  war,  einem  jungen  Men&ohen 
von  kaum  21  Jahren  Führung  und  Verantwortung  über  ein  Ge- 
schäft anzuvertrauen,  mit  deren  fachgemässer  Leitung  eine  ge- 
reiftere  Manneskraft  vollauf  zu  tun  gehabt  hätte,  so  war  ich  doch, 
meiner  ganzen  natürlichen  Veranlagung  nach,  viel  zu  sehr  Ge- 
fühlsmensch, als  dass  ich  auf  die  Dauer  einen  brauchbaren  Ge- 
schäftsmann abgegeben  hätte.  Wohl  hatte  ich  so  etwas  wie  eine 
dunkle  Ahnung  davon,  dass  auf  mich  noch  kein  Verlass  war. 
Wohl  meinte  ich  im  Stillen  dies  und  das,  aber  sollte  ich  meinem 
Bruder  meine  eigene  Unfähigkeit  und  Schwäche  eingestehen,  sollte 
ich  ihm  offen  sagen,  dass  mir  diese  seine  Wohltat  im  Grunde 
eigentlich  Plage  sei?  Welche  Antwort  hätte  ich  bekommen V  Sie 
konnte  nicht  zweifelhaft  sein.  Und  hatte  ich  überhaupt  eine  Meinung 
zu  haben  V  Als  ein  in  Gnaden  wieder  aufgenommener  Missetäter 
musste  ich  dankbar  und  froh  sein,  dass  mir  mein  liebevoller  Bruder 
Gelegenheit  verschafft  hatte,  mich  wieder  „ins  Geleise4'  hinein  zu 
bringen.  Er  meinte  es  zweifellos  gut  mit  mir,  also  hatte  ich,  das 
fühlte  ich  wohl,  die  Pflicht,  mich  zu  fügen.  Ich  musste  stillhalten 
und  mich  bescheiden,  denn  sie  alle  waren  „besser'  als  ich.  Mein 
Bruder  Hess  es  sich  angelegen  sein,  über  mein  Schicksal  zu  wachen. 


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—    183  - 


Er  achtete  beständig  und  sorgtältig  darauf,  dass  ich  meine  ge- 
schäftlichen Pflichten  nicht  versäumte  und  ich  gab  mir  die  grösste 
Mühe,  ihm  keinen  Anlass  zur  Unzufriedenheit  zu  geben.  Aber 
weiter  hinaus  ging  auch  sein  Einfluss  nicht,  weiter  reichte  die 
Kraft  meiner  Autorität  nicht.  Er  war  wohl  in  der  Lage,  mich  auf- 
merksam zu  bewachen,  aber  einsperren  konnte  er  mich  füglich 
nicht  und  mir,  dem  21jährigen,  das  fühlende  Herz  aus  dem  Busen 
zu  reissen,  das  vermochte  er  freilich  auch  nicht.  Und  so  kam  es 
denn,  wie  es  wohl  kommen  rausste. 

Ich  hatte  natürlich  nicht  die  Kraft,  lange  mit  mir  allein  her- 
umzulaufen, mein  Herz  verlangte  nach  einem  Wesen,  das  ich  lieben 
könnte.  Bald  fand  ich  es  in  der  Person  des  jungen  Angestellten 
eines  benachbarten  Geschäftes.  Es  dauerte  auch  gar  nicht  lange, 
so  hatten  wir  Freundschaft  geschlossen.  Die  fürsorglichen  Schwieger- 
eltern meines  Bruders,  in  Gemeinschaft  mit  meiner  guten  Mutter, 
hatten  zwar  bereits  für  eine  „passende"  Partie  gesorgt  und  ich  hatte 
mir*«  auch  zur  Pflicht  gemacht,  dieser  jungen  Dame  recht  fleissig 
den  Hof  zu  machen.  Das  Mädchen  war  sonst  nicht  Übel,  hatte  etwas 
Vermögen,  mit  diesem  sollte  sie  „ins  Geschäft  hineinheiraten",  so  hatten 
es  meine  Verwandten  beschlossen.  So  schnell,  wie  ich  hior  eine  Braut 
angewiesen  bekam,  wäre  ich  niemals  imstande  gewesen,  mir  selbst  eine 
zu  erobern  das  fühlte  ich,  darum  war  ich  auch  eifrig  dabei,  ich  hatte  es 
mir  ja  selbst  gelobt,  den  „dunklen  Fleck"  aus  meiner  Vergangenheit 
möglichst  zu  tilgen.  Ich  war  sehr  aufmerksam  gegen  meine  Braut, 
sagte  ihr  viel  Artigkeiten  und  machte  ihr  Geschenke.  Das  hinderte 
mich  aber  durchaus  nicht,  mich  mit  meinem  neuen  Freund  viel  mehr 
abzugeben  als  mit  meiner  Braut.  Er  war  ein  ausgezeichneter  junger 
Mann  mit  guten  Manieren  und  einem  natürlichen  Wesen.  Im  trauten 
Beisammensein  mit  ihm  entschädigte  ich  mich  für  alle  Beklemmungen 
und  Unbehaglichkeiten,  die  ich  stets  in  Gesellschaft  meiner  „Ange- 
beteten" empfand.  Ich  will  kurz  sein.  Die  Sache  gedieh  so  weit, 
dass  uns  eines  Tages  ein  argwöhnisch  gewordener  Nachbar,  in 
meinem  eigenen  Geschäftslokal,  durch  den  Türspalt  beobachtet  hatte. 
Der  Manu  schlug  Lärm  und  benachrichtigte  sofort  meine  Familie. 
In  kopfloser  Bestürzung  floh  ich,  so  wie  ich  ging  und  stand,  zum 
nächsten  Bahnhof  und  fuhr  zu  Verwandten  meines  Vaters  nach  M. 
Diese  telegraphierten  an  meinen  Bruder  und  verlangten  Aufklärung, 
da  ich  jede  Auskunft  verweigerte.  Bald  erschien  mein  Bruder,  setzte 
meine  Verwandten  von  allem  in  Kenntnis,  sagte  sich  abermals  und 
diesmal  für  immer  von  mir  los,  indem  er  mich  einen  Ehrlosen  und 
Undankbaren  nannte,  der  nicht  wert  sei  der  Achtung  anständiger 
Mensehen.    Meine  Verwandten  taten  ein  Übriges,  man  überliess  mir 


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—    184  — 


ans  Menschlichkeitsrücksichten  eine  kleine  Summe  Geldes  und  so 
musste  ich  augenblicklich  das  Haus  verlassen. 

Planlos  irrte  ich  eine  Zeit  lang  in  der  fremden  Stadt  umher. 
Die  Angst  vor  Verfolgung  trieb  mich  wieder  zum  Bahnhof  und  so 
floh  ich  mit  dem  nächsten  Zug  über  die  holländische  Grenze,  kam 
bis  Amsterdam  und  irrte,  der  Sprache  des  Landes  nicht  mächtig, 
hilflos  umher.  Von  jeder  Verbindung  mit  der  Welt  losgerissen  stand 
ich  nun  da  und  fing  an  zu  Uberlegen.  Die  Liebe  zum  Leben  trieb 
mich  weiter.  Ich  fing  nun  an,  zu  Fuss  durch  endlose  Schnee  be- 
deckte Felder  und  Wiesen,  Uber  zugefrorene  Kanäle,  von  Ort  zu 
Ort  zu  wandern,  mir  durch  stummes  Betteln  weiter  helfend.  In 

Gr  ,  einer  mittelgrossen,  holländischen  Stadt  geriet  ich,  halb 

verhungert,  von  Allem  entblösst,  todesmüde  in  einen  Gasthof,  wo 
viele  Deutsche  verkehrten,  hier  vernahm  ich  die  süssen  Laute  meiner 
Muttersprache  wieder.  Es  schien  ein  Labsal  von  zweifelhafter 
Qualität  zu  sein,  denn  es  stellte  sich  heraus,  dass  die  Inhaberin  und 
die  weibliche  Bedienung  meist  spät  nachts  allerlei  Gäste  empfingen, 
mit  denen  bis  zum  hellen  Morgen  wüste  Orgien  gefeiert  wurden, 
wobei  die  Wirtin  mit  ihren  Helferinnen  anscheinend  gute  Geschälte 
machte.  Ich  hatte  Gnade  vor  den  Augen  der  fetten  Inhaberin 
dieser  Höhle  gefunden.  Sie  schien  Mitleid  mit  meiner  Lage  zu 
haben  und  da  sie  auch  etwas  deutsch  sprach  und  ich  ihr  einen 
ganzen  Roman  von  der  Ursache  meiner  Anwesenheit  vorgelogen 
hatte,  so  konnte  ich  vor  der  Hand  dableiben  als  Hausbursche,  Gläser- 
spüler  u.  s.  w.  Mir  war  alles  egal,  nur  weiter  leben,  mochte 
kommen  was  wollte.  Das  Leben,  wie  es  sich  nun  hier  in  der  Folge 
vor  meinen  Augen  abspielte,  lieferte  mir  einen  ungefähren  Begriff, 
in  welch'  unsägüch  niedriger  Weise  sich  oft  das  normale  Geschlechts- 
leben der  Menschen  abspielt.  Beispielloser  Ekel  erfaaste  mich  hier 
vor  der  Art,  mit  der  hier  die  Menschen  sich  der  „normalen"  Liebe 
hingaben.  Ich  war  der  einzige  männliche  Bedienstete  im  Hause, 
und  hatte  bald  heraus,  dass  meine  würdige  Herrin  mehr  von  mir 
verlangte  als  blosse  Dienste  für  das  Haus  und  die  Gäste.  Ein 
fürchterlicher  Schrecken  packte  mich  bei  dieser  Erkenntnis.  Mir 
schauderte  vor  dem  Gedanken,  längere  Zeit  hier  unter  diesen  Men- 
schen weilen  zu  müssen.  Aber  ich  hatte  gar  keine  Ursache,  mich 
zu  beklagen,  war  ich  doch  selbst  ein  aus  der  Gesellschaft  aller 
anständigen  Menschen  Ausgeschlossener.  Wohin  sollte  ich  auch  in 
dieser  fremden  Welt,  in  der  ich  vollständig  einsam  stand.  Ohne 
irgend  welche  Mittel  konnte  ich  doch  überhaupt  nicht  weiter  kommen. 
Und  als  Landstreicher  würde  ich  sehr  bald  in  die  Hände  der  Polizei 
geraten.    Dann  aber  wnr  es  doch  sicher  um  mich  geschehen,  denn 


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—    185  — 


wenn  jener  menschenfreundliche  Nachbar  die  Sache  angezeigt,  so 
war  sicher  ein  Steckbrief  hinter  mir;  welche  Aussichten  eröffneten 
sich  da  für  mein  Leben!  —  Und  zum  Sterben  war  ich  zu  feige. 
Sterben,  wenn  man  noch  so  jung  ist.  War  nicht  die  Welt  trotz 
alledem  schön  V  Ich  fügte  mich  deshalb,  so  gut  es  ging  in  meine 
Lage,  wich  den  zudringlichen  Freundlichkeiten  meiner  Herrin  ge- 
schickt aus  und  war  nur  still  und  zähe  darauf  bedacht,  etwas  Mittel 
in  die  Hand  zu  bekommen  um  möglichst  bald  fort  zu  kommen  aus 
dieser  Höhle,  in  deren  Pesthauch  ich  zu  ersticken  fürchtete.  Nach 
14  wöchentlichem  Aufenthalt  war  ich  denn  auch  wieder  unterwegs. 
Ich  hatte  mir  in  dieser  traurigen  Zeit  unter  allerlei  Entbehrungen 
von  meinem  geringen  Lohn,  eine  kleine  Summe  erübrigt  mit  der 
ich  hoffte  irgend  eine  Küstenstadt  zu  erreichen.  Dort  wollte  ich 
mich  als  Kohlenzieher  oder  sonst  als  dienstbarer  Geist  auf  irgend 
einem  Schiff  ohne  weitere  Barmittel  nach  Amerika  hinüberarbeiten. 
Ich  hatte  diesen  Plan  in  meinen  einsamen,  oft  schlaflosen  Nächten 
sorgsam  durchdacht.  Ich  hatte  in  Erfahrung  gebracht,  dass  in 
Küstenstädten  sogenannte  „Heuerbaasse"  ihr  Wesen  treiben,  die  ein 
schwunghaftes  Geschäft  daraus  machten,  Auswanderungslustigen 
mit  Rat  und  Tat  an  die  Hand  zu  gehen  in  der  Erlangung  günstiger 
Überfahrtgelegenheit.  Auch  solche  Leute,  die  in  ähnlicher  Lage, 
wie  ich,  sich  befanden,  „verheuerten"  diese  Leute  auf  irgend  ein 
Schiff,  damit  sie  so  ohne  grosse  Baarmittel  das  „gelobte  Land,u 
nach  der  Versicherung  dieser  Heuerbaasse,  sicher  erreichten.  Dort 
in  dem  freien  Lande,  in  der  neuen  Welt,  wollte  ich  dann  abermals 
ein  neues  Leben,  ein  „besseres"  beginnen.  Von  Neuem  hatte  ich 
mir  selber  hoch  und  teuer  zugeschworen,  nunmehr  meiner  unseligen 
Leidenschaft  zu  entsagen.  Zähneknirschend  verfluchte  ich  meine 
erbärmliche  Schwäche,  die  mich  hatte  zum  Sklaven  einer  Neigung 
werden  lassen,  die  alle  Welt  als  verbrecherisch  bezeichnete.  Ich 
glaubte  ihnen,  wenn  sie  sagten,  es  sei  ein  Verbrechen,  sich  mit 
„so  was"  zeitlebens  unglücklich  zu  machen.  Hatte  ich  nicht  den 
Frühling  meines  Lebens  damit  zerstört V  —  Sprach  doch  Jeder- 
mann mit  Verachtung  und  Hohn  von  diesem  abscheulichen  Laster 
für  das  manche  die  Prügelstrafe  empfahlen.  Wie  ungeheuer  schlecht 
und  erbärmlich  kam  ich  mir  vor.  Nun  aber  sollte,  nun  musste  das 
alles  anders  werden,  wenn  ich  erst  „drüben"  sein  würde.  Dort,  wo 
mich  Niemand  kannte,  wollte  ich  versuchen  auf  andere  Art  vielleicht 
wieder  glücklich  zu  werden  wie  tausend  Andere.  Mit  gutem  Ge- 
wissen darf  ich  sagen,  ja  ich  habe  es  redlich  versucht  ein  „Anderer" 
zu  werden.  Ich  bin  es  nicht  geworden.  Bin  bis  heute  der  Alte 
geblieben.    Gefängnis,  Flüche,  Tränen,  Gebete,  Schwüre,  Hunger 


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—    180  — 


und  Entbehrungen,  ja  selbst  die  letzte,  tiefste  Erniedrigung,  die 
einem  Mensehen  widerfahren  kann,  körperliche  Misshandlungen,  die 
mir  auf  jener  schrecklichen  Ozeanfahrt  nicht  erspart  geblieben  sind, 
sie  alle  hatten  nicht  vermocht,  die  Liebe  zu  meinem  eigenen  Ge- 
schlecht zu  ertöten.  Und  ob  alle  diese  unsäglichen  Leiden,  Geist 
und  Seele  in  beispiellosem  Maasse  quälten  und  folterten,  der  ge- 
waltsam hin-  und  hergehetzte  Körper,  schier  bis  auf  den  Rest  aus- 
gemergelt wurde,  siegreich  ist  die  Natur  über  dies  alles  hinweg- 
geschritten und  verlangt  nach  wie  vor,  gebieterisch  die  Erfüllung 
ihrer  Rechte. 

Ich  will  den  Leser  nun  nicht  mehr  allzulange  mit  den  Einzel- 
heiten meiner  weiteren  Erlebnisse  ermüden.  Die  körperlichen  und 
seelischen  Qualen,  die  ich  auf  all'  den  Irrfahrten  zu  erdulden  ge- 
habt, alle  ausführlich  zu  schildern,  fühle  ich  mich  ausser  Stande. 
Sie  haben  bei  mir  den  Grundstein  gelegt  für  eine  stete  nervöse 
Emplindliohkeit,  unter  der  Körper  und  Seele  fortgesetzt  zu  leiden 
haben.  Namentlich  war  es  der  fürchterliche,  wenn  auch  nur  kurze 
Aufenthalt  auf  jenem  Schiffe,  auf  welchem  mich  ein  schuftiger 
Heuerbaas  als  Kohlenzieher  verdingt  hatte,  der  nach  meiner  Über- 
zeugimg ein  bis  heute  regelmässig  wiederkehrendes  Leiden  (Rheuma- 
tismus) in  meinem  Körper  zurückgelassen  hat.  Mein  Vorhaben,  nach 
Amerika  auf  diesem  Schiffe  zu  kommen,  war  gescheitert.  Ich  war 
zu  dumm  und  unerfahren  für  solche  Finessen  und  musste  die  Reise 
unfreiwillig  als  Kohlenzieher  wieder  zurück  machen.  Kaum  an 
deutschen  Gestaden  angelangt,  entfloh  ich,  halb  wahnsinnig  von 
den  unmenschlichen  Strapazen  und  beispiellos  roher  Behandlung 
bei  Nacht  und  Nebel,  von  dieser  schwimmenden  Hölle.  Von  einer 
zweiten  solchen  Reise  nach  Amerika  war  ich  gründlich  geheilt. 
Ich  hätte  dem  denn  doch  den  Tod  vorgezogen.  Ruhelos  zog  ich 
nun  wieder  durchs  Land,  von  Ort  zu  Ort,  was  nun  mit  mir  ge- 
schehen würde,  war  mir  gleichgültig.  Ich  blieb  jedoch  während 
meiner  ganzen  Wanderzeit  von  der  Polizei  unbehelligt,  ein  Steck- 
brief gegen  mich  existierte  wohl  demnaoh  nicht.  Nachdem  ich  auf 
meinen  Irrfahrten  in  unzähligen  Städten  und  Ortschaften  mich  durch 
allerlei  Beschäftigungen  redlich  arbeitend  durchgeschlagen  und  meinen 
äusseren  Menschen  wieder  in  Ordnung  hatte,  konnte  ich  endlich 
wieder  in  meinem  jetzigen  Aufenthaltsort  festen  Fuss  fassen.  Jahre 
waren  darüber  hingegangen  und  raeine  Familie  hatte  bis  dahin  kein 
Lebenszeichen  von  mir  erhalten.  Wieder  in  meinem  erlernten  Ge- 
schäft tätig,  erlangte  ich  nach  und  nach  eine  gewisse  Sicherheit. 
Ich  lebte  still  und  zurückgezogen  für  mich  hin,  ging  fast  nie  aus 
und  beschäftigte  mich  in  meinen  vielen  einsamen  Stunden  damit, 


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alles  zu  lesen,  was  mir  nur  in  die  Hände  fiel.  Ieh  führte  so  mit 
meinen  Büchern  im  stillen  Stilbchen  ein  beschauliches  Dasein. 

Aber  nicht  lange  dauerte  dieser  Zustand.  Wohl  hatte  ich  mir 
vorgenommen,  fürderhin  die  Gesellschalt  der  Menschen  möglichst 
zu  meiden,  namentlich  war  ich  ängstlich  bemüht,  nicht  mit  jungen 
Leuten  meines  Geschlechts  zusammen  zu  kommen.  Darin  lag  ja 
nun  freilich  die  einfachste  Bestätigung  meines  noch  völlig  unver; 
änderten  Geschlechtszustandes.  Aber  statt  durch  fleißiges,  rück- 
sichtsloses Nachdenken  zur  endlichen  Klarheit  über  meine  ge- 
schlechtliche Verfassung,  zu  kommen  und  in  deren  Konsequenz 
wenigstens  einigermaasen  raein  Leben  einzurichten,  vermied  ioh  es 
vielmehr  nun  ängstlich,  an  alle  diese  Dinge  auch  nur  einen  Augen- 
blick zu  denken.  Ich  glaubte  durch  die  eiserne  Standhaftigkeit, 
mit  der  ich  das  Denken  und  die  Gelegenheit  von  mir  fern  hielt, 
das  beste  Schutzmittel  gewonnen  zu  haben,  durch  das  ich  von 
fernerem  Unglück  bewahrt  blieb.  So  verbiss  ich  mich  in  einem 
fortwährenden  Abwehrkampf  gegen  meine  Leidenschaft.  Ich  hatte 
mich  noch  nicht  soweit  zur  geistigen  Freiheit  durchgerungen,  daas 
ich  mich  hätte  von  der  üblichen  Meinung  der  grossen  Masse 
emanzipieren  können.  Ich  fühlte  mich  abhängig  von  ihr  und  hielt 
in  Wahrheit  meine  Neigung  für  verbrecherisch,  so  dass  ich  glaubte, 
sie  mit  diesen  Mitteln  erfolgreich  bekämpfen  zu  können.  Die 
äusseren  Umstände  schienen  mir  günstig  in  meinem  Vorhaben.  Ich 
kam  durch  einen  Kollegen,  der  mich  einst  zur  Kirmess  in  sein 
Heimatsdorf  lud,  mit  dessen  Familie  in  nähere  Berührung.  Das 
kleine  Dörfchen  lag  in  reizender,  romantischer  Umgebung  an  dor 
Weser  hingestreut,  war  von  der  Stadt,  wo  ich  wohnte,  nicht  allzu- 
weit entfernt  und  mit  der  Bahn  allsonntäglich  bequem  zu  erreichen. 
Als  schwärmerischen  Naturfreund  zog  es  mich  mächtig  hin  zu 
diesem  kleinen  idyllischen  Nestchen.  Ich  fing  an,  regelmässig 
dies  Dörfchen  aufzusuchen  und  lernte  nun  hier  in  der  Familie 
meine*  Kollegen,  dessen  Schwester  kennen.  Sie  führte,  da  die 
Mutter  unlängst  gestorben  war,  dem  Vater  den  Haushalt.  Die 
Familie  war  gross.  3  erwachsene  Geschwister  arbeiteten  in  der 
Umgegend  und  3  unerwachsene  hatte  sie  im  Hause  zu  überwachen. 
So  lernte  ich  dies  echte  Naturkind  kennen,  wie  es  treu  und  um- 
sichtig waltete  in  dem  kleinen  Anwesen;  es  war  ihrem  Vater  und 
den  zahlreichen  Geschwistern  eine  sorgsame  Hausfrau  und  liebe- 
volle Pflegerin.  Eine  ungemein  frische,  sympathische  Erscheinung, 
gefiel  sie  mir  mit  der  Zeit  immer  mehr.  Ich  genoss  bald  das  Ver- 
trauen der  Familie  und  ging  darin  ein  und  aus.  Es  gefiel  mir  so 
unendlich   wohl  in   diesem   kleinen  Ort,  inmitten  der  herrlichen 


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-    188  — 


Natur.  Ich  streifte  in  dem  nahen  Walde  umher,  lag  stundenlang 
an  dem  Ufer  der  Weser,  oder  machte  mir  im  Garten  und  Feld  zu 
schaffen.  Und  wenn  Sonntags  nachmittags  Vater  und  Brüder  das 
Gasthaus  im  Dorfe  aufsuchten,  dann  leistete  ich  der  Schwester 
meines  Kollegen  Gesellschaft,  wenn  sie  einsam  zu  Haus  die  jüngeren 
Geschwister  hütete.  So  lernte  ich  auch  Wesen  und  Charakter  dieses 
trefflichen  Mädchens  kennen,  an  denen  ich  schliesslich  nur  ange- 
nehmes finden  konnte.  Ich  war  nie  im  Leben  eiu  fanatischer 
Weiberfeind  und  wusste  Schönheit,  Tugend  und  natürliche  Anmut 
beim  Weibe  wohl  zu  schätzen.  Hier  aber  fand  ich  alles  in  seltenem 
Masse  vereinigt.  In  der  Person  dieses  Mädchens  schien  mir 
plötzlich  ein  Fingerzeig  gegeben,  meinem  ferneren  Leben  sitt- 
lichen Halt  wiederzugeben.  Ich  hatte  zur  Zeit  keinen  männ- 
lichen Verkehr  und  war,  seit  ich  diesen  Ort  entdeckt,  ganz  stadt- 
fremd geworden,  arbeitete  nur  noch  in  der  Stadt  und  lebte  auf 
dem  Lande.  Hier  in  der  Stille  der  Natur  unter  den  Kindern  der 
Natur  hatte  ich  den  langersehnten  Frieden  wiedergefunden.  Ich 
wurde  der  Freund  und  Berater  Mathildens,  half  ihr  getreulich  bei 
allen  möglichen  häuslichen  Angelegenheiten.  Bald  war  es  im  Dorfe 
ausgemachte  Sache,  dass  ich  Mathildens  Mann  werden  würde,  und 
ich  tat  niohts,  um  diese  Meinung  zu  entkräften,  im  Gegenteil,  sie 
schmeichelte  meiner  Eitelkeit  und  ich  war  fest  Uberzeugt,  Mathilde 
würde  meine  Hand  nicht  abweisen.  Ich  war  stets  artig  und  takt- 
voll in  meinem  Benehmen  ihr  gegenüber  und  hielt  mich  körperlich 
in  respektvoller  Entfernung  von  ihr,  was  mir  leider  nicht  schwer 
fiel.  Ich  genoss  deshalb  ihr  unbegrenztes  Vertrauen,  wir  waren 
wie  Geschwister  und  ich  war  in  die  Angelegenheiten  der  Famiüe 
bald  besser  eingeweiht,  als  selbst  ihre  Geschwister.  Ach,  hätte  sie 
mir  nie  dieses  Vertrauen  geschenkt,  hätte  sie  mich  abgewiesen,  ihr  und 
mir  wäre  wohler  gewesen.  Ich  aber  bildete  mir  ein,  dieses  Mäd- 
chen zu  Ueben,  redete  mir  selbst  beständig  zu  mit  allen  möglichen 
Phrasen  vom  häuslichen  Herd  und  Geldeswert  —  belog  mich  selbst, 
indem  ich  vor  meinen  eigenen  schüchternen  Bedenken  behauptete, 
dass  diese  Heirat  der  einzige  Weg  sei,  um  im  Leben  noch  einmal 
glücklich  zu  werden.  Was  habe  ich  mir  nicht  alles  vorgelogen, 
um  endlich  den  vermeintlichen  Frieden  zu  finden,  nach  dem  ich 
mich  so  sehr  sehnte.  Ich  liess  nun  ein  erstes  I^benszeichen  an 
meine  Famiüe  daheim  gelangen,  indem  ich  einen  langen  de-  und 
wehmütigen  Brief  an  mein  Mütterchen  richtete.  Sie  war  nur  meine 
Stiefmutter,  aber  ieh  hatte  ihr  stets  eine  innige  Liebe  und  Anhäng- 
lichkeit bewahrt.  Ich  gab  in  dem  Brief  einen  ungefähren  Überbück 
meiner  Schicksale  von  jenem  Tage  an,  da  ich  sie  verlassen  musste,  bat 


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—    189  — 


alle  um  Verzeihung,  und  wenn  es  ihnen  möglich  sei,  mich  wieder 
als  Mitglied  der  Familie  anerkennen  zu  wollen:  teilte  auch, 
nicht  ohne  einiges  Selbstbewusstsein  mit,  dass  ich  mir  jetzt  eine 
achtbare  Existenz  begründet,  und  im  Begriff  stände,  —  mich  zu 
verloben,  und  bat  schliesslich  um  ihren  Rat  und  um  ihren  mütter- 
lichen Segen.  Nach  kurzer  Zeit  erhielt  ich  Antwort  von  meinem 
Bruder.  Alles  war  hocherfreut  von  meinem  Lebenszeichen  und 
namentlich  von  meinem  Entschluss.  Man  gratulierte  mir,  wünschte 
mir  Glück,  alles  sollte  vergessen  und  vergeben  sein,  denn  ich  hätte 
ja  nun  bewiesen,  dass  ich  ein  andrer  geworden.  Mein  Bruder  gab 
mir  den  Rat,  ja  nicht  mehr  länger  mit  der  Heirat  zu  warten, 
kündigte  mir  an,  mich  baldmöglichst  aufzusuchen,  um  sich  von 
meinem  Glück  zu  überzeugen.  „Du  glaubst  nicht,  wie  ich  mich 
freue,"  so  hiess  es  am  Schluss  seines  Briefes,  „dass  wir  Dich  als 
einen  Menschen  wiedergefunden,  der  nun  wieder  als  vollberechtigtes 
und  nützliches  Glied  in  die  Gesellschaft  aufgenommen  werden 
kann.  Dadurch,  dass  du  dich  der  Liebe  zu  einem  Weibe  hin- 
gegeben, hast  du  deinen  Beruf  als  Mann  und  Geschlechtswesen 
der  Gesellschaft  gegenüber  erfüllt,  und  hast  ein  Recht,  wieder 
unter  Menschen  zu  erscheinen."  (!!!)  Wenn  ich  ehrlich  sein  will, 
so  kann  ich  nicht  sagen,  dass  dieser  Brief  meines  Bruders  in 
meinem  Herzen  einen  völlig  harmonischen  Wiederhall  gefunden 
hätte.  Es  lag  in  ihm  etwas,  was  ich  nicht  recht  definieren  konnte. 
Nur  soviel  wusste  ich,  damals,  als  ich  Willy  und  nachher  Adolf 
liebte,  war  ich  doch  auch  gewissermassen  ein  Mensch  gewesen.  Aber 
immerhin,  der  Brief  freute  mich  sehr  und  beseitigte  meine  letzten 
Bedenken.  Ich  verlobte  mich.  Und  als  ich  bald  darauf  im  näheren 
Umgang  mit  meiner  Braut  ein  leidenschaftliches,  heissbegehrendes 
Weib  vorfand,  dessen  jungfräuliche  Liebesglut  mir  den  normalen 
Koitus  leicht  machte,  da  freute  ich  mich  ganz  unbändig  und  war 
nicht  wenig  stolz  auf  raeine  Manneskraft.  Um  endlich  zum  Schluss 
dieser  Bekenntnisse  zu  gelangen:  Mathilde  ist  mein  Weib  ge- 
worden, und  so  lange  wir  nun  nebeneinander  durchs  Leben 
wandeln,  bin  ich  ihr  nicht  einen  Augenblick  treu  geblieben.  Das 
bischen  Reiz  war  bald  entschwunden.  Er  war  bewusst  und  plan- 
mässig  herbeigezogen  und  künstlich  genährt,  war  eine  Art  Onanie, 
war  nicht  die  Liebe,  das  grosse,  heilige  Feuer,  das  aus  den  dunklen 
Tiefen  der  Mensehenseele  emporlodert,  mächtig  und  unmittelbar, 
mit  leuchtenden  Flammen  das  geliebte  Wesen  gleichsam  verklärt 
und  mit  heissem  Odern  erwärmt.  Ein  elender  Abklatsch,  ein 
Popanz  war  es,  der  sich  heuchlerisch  Liebe  nennt  und  im  Grund 
nur  Eigenliebe  ist,  die  für  ihren   feigen  Schwindel  eine  legitime 


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—    190  — 


Unterlage  benötigt.  O  ja,  ich  leugne  es  nicht,  ich  war  feige,  un- 
endlich feige,  dass  ich  der  lügnerischen  Ehrenretterei  das  Glück 
meines  Lebens  zum  Opfer  brachte  und  schlecht  dazu,  dass  ich  ein 
rechtschaffenes,  braves  Menschenkind  damit  au  mein  Dasein  kettete 
und  auch  ihm  die  Blüten  seines  Lebenslenzes  stahl. 

Allzu  langsam  ist  mir  der  Schleier  von  den  Augen  gesunken 
und  als  ich  endlich  nun  mein  eigenes  Selbst  im  Lichte  der  Er- 
kenntnis sah,  da  war  es  leider  zu  spät.  Neue  Fesseln  habe  ich  mir 
durch  diesen  unseligen  Schritt  auferlegt,  ein  Zurück  gibt  es 
nun  nicht  mehr  und  vorwärts?  —  wo  wollt  ich  denn  da  hin?  Da 
müsste  ich  ja  erst  ein  .Anderer"  werden.  Wer  ratet  mir?  Soll  ich 
meinem  armen  Weibe,  das  mir  rechtschaffen  und  treu  bis  jetzt  ge- 
dient, „reinen44  Wein  einschenken?  Die  sorgsame  Hausfrau  und 
die  zärtliche  Mutter  meiner  Kinder  hinaus  stosseu  in  die  Welt,  in- 
dem ich  das  Band  gewaltsam  durchschneide,  das  uns  vor  den 
Augen  der  Welt  bindet.  Solche  gigantische  Kraftleistung  ma^  man 
von  mir  nicht  eher  verlangen  bis  man  mir  sagen  kann,  was  damit 
für  uns  Beide,  für  unsere  Kinder  gewonnen.  Unsere  Kinder,  jawohl, 
zwei  herzige  kleine  Wesen  sind  diesem  Scheinbunde  entprossen. 
Jeder  Homosexuelle,  der  los  und  ledig  ist,  mag  sich  wundern,  wie 
ein  Homosexueller  dazu  kommen  kann.  Aber  Jeder,  der  in  ähnlicher 
Lage  sich  befunden,  wird  nichts  Verwunderliches  darin  finden.  Ich 
liebe  ineine  Kinder,  die  beide  aus  den  ersten  2  Jahren  meiner  Ehe 
stammen  und  umgebe  sie  mit  aller  Sorgfalt,  die  in  meinen  Kräften 
steht;  sorge  für  raein  Weib  nach  bestem  Können.  Und  doch  inuss 
ich  sie  ständig  betrügen.  Uberall  gelte  ich  als  der  beste  Gatte  und 
Vater  meiner  Familie.  Und  beständig  breche  ich  die  Ehe.  Habe 
ich  das  Glück,  einen  jungen,  starken,  edlen  Freund  zu  treffen,  dann 
kennt  meine  Freude  keine  Grenzen.  All'  mein  Leid,  all'  die  düstren 
Tage,  die  ich  auf  dem  qualvollen  Weg  meines  Lebens,  an  der  Seite 
eines  hochgeachteten,  aber  ungeliebten  Weibes  durchwandern  muss, 
sie  sind  vergessen.  Vergessen  ist  meine  Gefangenschaft,  in  der  ich 
mein  Dasein  vertrauern  muss  im  Kreise  meiner  „Familie44,  vergessen 
alle  Gesetze  der  moralischen  Gesellschaft.  Ich  schreite  unaufhaltsam 
weiter  auf  der  Bahn  des  —  „Verbrechens44.  Denn  ich  kann  ja  nicht 
anders  das  Glück  wirklicher  Liebe  finden  als  im  „Verbrechen'4.  Wo 
ich  hinblicke  nichts  als  Sünde,  und  wollte  ich  diesem  unsäglichen 
Zustand  ein  ewiges  Ziel  setzen,  dann  erst  wird  mir  der  Fluch,  Ver- 
brecher, noch  übers  Grab  geschleudert  werden.  Was  also  kann 
ich  tun?  Ich  werde  weiter  zu  leben  versuchen,  um  weiter  zu  sündigen. 

Die  Liebe  ist  so  gross,  so  erhaben,  so  edel,  sie  vermag  alles 
und  sie  gibt  auch  mir  immer  wieder  von  neuem  die  Kraft  des 


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in 


Lebens  wieder.  Ja  der  Eindruck,  den  die  lieht-  und  kraftvolle 
Gestalt  eines  edlen  Jüngling  auf  mich  hervorzubringen  vermag, 
lockt  sogar  noch  hier  und  da  ein  paar  einfache  und  schlichte  Töne 
von  meiner  längst  verrosteten  Leier. 

So  erst  vor  Kurzem  als  ich  auf  einem  Abendessen  einen  jungen 
Handwerker  kennen  lernte:  Ein  schöner  Jüngling  mit  seltenen 
Geistesgaben,  wie  er  mir  ähnlich  immer  im  Geiste  vorschwebte. 
Er  zeigte  sogleich  am  Abend  unserer  Bekanntschaft  tieferes  Ver- 
ständnis als  alle  Anderen  flir  meine  bescheidenen  Darbietungen, 
durch  die  ich  zur  Unterhaltung  der  Gesellschaft  beizutragen  suchte. 
Wir  kamen  in  ein  kleines  Gespräch  und  ich  war  überrascht  und 
erstaunt  über  die  Tiefe  seiner  Begriffe  über  Ästhetik  und  Kunst 
sowie  Uber  die  Kraft  seiner  Lebensanschauung.  Ich  war  sofort  von 
diesem  starken  Charakter  gefangen.  Selbst  Arbeiter,  war  ich  freudig 
bewegt,  auch  unter  meines  Gleichen,  einen  so  fein  empfindenden 
und  edel  denkenden  jungen  Mann  entdeckt  zu  haben.  Ich  suchte 
näheren  Verkehr,  besuchte  ihn  in  seiner  Wohnung,  wo  ich  ihn  stets 
lesend  oder  malend,  auch  musizierend  —  er  spielte  gut  die  Klari- 
nette —  antraf.  Ich  war  entzückt  und  verliebte  mich  unsterblich 
in  dieses  herrliche  Wesen.  Eine  neue  Sonne  schien  über  mein 
düsteres  Dasein  aufgegangen.  Ich  hatte  nur  noch  Gedanken,  Sinne, 
Interesse,  Zeit,  für  ihn.  Mein  armes  Weib,  die  von  dieser  neuen 
Liebe,  mit  der  ich  sie  betrog,  natürlich  keine  Ahnung  hatte,  konnte 
garnicht  begreifen,  was  in  mich  gefahren  war.  Ich  vernachlässigte 
alle  meine  sonstigen  Obliegenheiten.  Ich  suchte  ihm  erst  zu  ver- 
heimlichen, dass  ich  verheiratet  sei,  bald  jedoch  tilgten  es  die  Um- 
stände, dass  ich  ihm  die  Wahrheit  sagen  musste.  Lächelnd  meinte 
er,  es  täte  ihm  leid,  dass  er  das  nun  wüsste.  Denn  nun  könne  er 
doch  raeine  Zeit,  mein  Interesse  für  ihn  nur  in  halben  Portionen  in 
Anspruch  nehmeo,  die  grössere  Hälfte  gehöre  meiner  Familie.  Und 
als  ich  ihm  eifrig  erwiderte,  das  käme  garnicht  in  Betracht,  da 
schaute  er  mich  lange  an  und  warf  die  Worte  still  und  leicht  hin 
„Hättest  dich  nicht  verheiraten  sollen"  —  ich  war  fassungslos, 
durchschaute  er  mich,  hatte  er  in  meiner  Seele  zu  lesen  verstanden? 
Hier,  fühlte  ich,  war  ich  der  Schwächere,  aber  gerade  deswegen 
liebte  ich  ihn  umsomehr.  Lange  haben  wir  an  jenem  Abend  noch 
zusammen  gesessen  und  langsam  aber  sicher  bin  ich  in  seine  Seele 
eingedrungen.  Und  als  ich  bald  darauf  das  erste  Zeichen  der  Liebe, 
den  Kuss  von  ihm  begehrte,  lehnte  er  zuerst  ruhig  und  bestimmt 
ab,  und  ich  hatte  zu  viel  Achtung  und  Respeckt  vor  seiner  Person, 
als  dass  ich  hätte  weiter  in  ihn  dringen  wollen.  Später  hat  er  mir 
dies  Zeichen  gern  und  freudig  gewährt.    Fester  und  immer  fester 


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—    192  — 

schlössen  wir  uns  dann  zusammen.  In  ungetrübter  Harmonie  gingen 
unsre  Seelen  in  einander  auf.  Als  Geschlechtswesen  normal,  bat 
er  mir  doch  in  hingebender  Freundschaft  das  höchste  Gluck  der 
Liebe  gewährt.  Er  fühlte  sich  nicht  dadurch  mit  Schmach  und 
Schande  bedeckt.  Er  war  frei  und  unabhängig  genug  im  Geiste, 
meine  Empfindungen,  meinen  Zustand  zu  begreifen.  Und  konnte 
er  auch  meine  leidenschaftliche  Liebe  nicht  mit  derselben  Glut  er- 
widern, so  war  er  doch  sichtlich  bemüht,  durch  verdoppelte  treue 
Anhänglichkeit,  durch  wahrhaft  hochherzige  Freundschaft  und  Teil- 
nahme für  meine  traurige  Lage,  diesen  Mangel  wett  zu  machen. 
Leider  währte  mein  Glück  nicht  lange.  Durch  mein  Verhältnis  mit 
ihm  drohte  mir  ein  ernster  Konflikt  mit  meiner  Familie.  Ich  ver- 
wendete natürlich  meine  freie  Zeit  nur  für  ihn.  Seine  Person  be- 
herrschte nur  noch  allein  meinen  Ideenkreis.  Ich  tiberliess  Frau  und 
Kinder  sich  selbst,  sorgte  nur  materiell  für  sie,  und  war  im  übrigen 
stets  bei  meinem  Ludwig  anzutreffen.  Er  selbst  hat  mich  im  Kreise 
meiner  Familie  nur  ein  einziges  Mal  besucht  Er  hatte,  feinfühlend 
wie  er  war,  die  Situation  bald  begriffen  und  achtete  darin  gewiss 
nur  die  Meinen.  So  war  ich  denn  stets  bei  ihm.  Wir  musizierten, 
lasen,  studierten  und  philosophierten  miteinander.  Die  Sache 
wurde  zu  auffällig  und  Ludwig  bat  mich,  meine  Besuche  einzu- 
schränken. Dazu  war  ich  natürlich  nur  in  ganz  geringem  Masse 
im  Stande.  Meine  Frau  musste  mich  Öfter  aus  seiner  Wohnung 
abholen  lassen.  Kur/um,  es  gab  ernsthafte  Auseinandersetzungen 
zwischen  mir  und  meiner  Frau.  Dies  alles  merkte  Ludwig,  und 
eines  Tages  überraschte  er  mich  mit  der  Mitteilung,  dass  er  die 
Stadt  verlassen  wolle.  Seine  Eltern  hatten  geschrieben,  er  solle 
in  die  fteimat  zurückkehren.  Ich  war  wie  vom  Schlage  gerührt, 
mich  von  diesem  Menschen  trennen,  das  war  ja  rein  unmöglich. 
Mein  erster  (Jedanke  war  —  ich  scheue  mich  nicht,  ihn  hier  nieder- 
zuschreiben —  ich  wollte  ihn  begleiten  und  sprach  diese  Absicht 
sofort  aus.  Ruhig  und  bestimmt  verbot  er  uairs  und  brachte  mich 
durch  sein  liebevolles  Zureden  wieder  zur  Vernunft  zurück.  Nur 
seiner  ruhigen,  festen  Besonnenheit  habe  ich  es  zu  danken,  dass 
es  keine  Katastrophe  gab.  Er  versicherte  mir  zuletzt,  dass  er  mir 
dann  seine  Freundschaft  und  Achtung  versagen  müsse,  wenn  ich 
ihm  folgen  wollte.  Das  half,  und  still  ergab  ieh  mich  in  diese 
Trennung.  14  Tage  noch  war  es  mir  vergönnt,  ihn  zu  sehen.  Ich 
half  ihm  bei  seinen  Vorbereitungen  zu  der  weiten  Reise.  Ludwig 
hatte  in  Jütlaud  seine  Heimat.  Er  war  mit  17  Jahren  in  die  Fremde 
gegangen,  hatte  Dänemark,  Deutschland  und  die  Schweiz  schon  be- 
reist und  hatte  sich  auf  seinen  Reisen,  die  er  meistens  zu  Fuß  ge- 


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—    193  — 


macht,  2  fremde  Sprachen  augeeignet  (Deutach  und  Französisch), 
die  er  beide  geläufig  sprach;  für  einen  mittellosen  Handwerks- 
gesellen eine  zweifellos  ausserordentliche  Leistung.  Dabei  stand 
er  erst  im  22.  Lebensjahre.  Und  von  diesem  herrlichen  Jüngling  sollte 
ich  mich  trennen.  Ich  konnte  mich  mit  dem  Gedanken  garnicht 
vertraut  machen.  Aber  was  half  es.  Nach  5  monatlichem  sonnen- 
vollen Glücke  ist  nun  wieder  die  düstere  Öde  meines  Daseins 
über  mich  zusammengebrochen.  Niemals  im  Leben  ist  es  mir  je 
vergönnt  gewesen,  einen  edleren  Menschen  an  mein  Herz  drücken 
zu  dürfen,  als  diesen  dänischen  JUngling.  Nie  ist  mir  eine  Scheide- 
stunde qualvoller  erschienen,  als  die  des  Abschiedes  von  ihm. 
Immer  und  immer  wieder  musste  ich  dieson  Kopf  an  mich  pressen, 
immer  wieder  in  diese  dunklen,  tiefen  Augen  blicken. 

Wenn  je  einem  Homosexuellen  seine  Gefühle  zum  Fluch 
seines  ganzen  Lebens  geworden  sind,  so  bin  ich  es.  Und 
wenn  je  Anstrengungen  gemacht  wurden,  um  diese  Empfindungen 
loszuwerden,  ihnen  eine  andere  „normale"  Richtung  zu  geben,  so 
habe  ich  es  getan.  Und  doch  musste  ich  bei  meinem  Ver- 
hältnis zu  Ludwig  erkennen,  dass  mein  Geachlechtszustand  heute 
homosexueller  denn  je  ist.  Der  Zustand,  in  dem  ich  mich  ge- 
rade ihm  gegenüber  befand,  mag  die  Art  und  Weise  dartun, 
mit  der  ich  von  ihm  Abschied  nahm.  Wir  hatten  den  ganzen 
Abend  vor  seiner  Abreise  auf  seiner  Stube  zusammen  verbracht, 
und  ich  hatte  schliesslich  weinend  unter  unzähligen  Umarmungen 
mieh  von  ihm  losgerissen.  Buhelos  lief  ich  durch  die  Strassen  und 
konnte  es  nicht  fertig  bringen,  nach  Hause  zu  gehen.  Ich  kehrte 
schliesslich  zurück,  um  meinen  Freund  noch  einmal  zu  sehen.  Er 
war  bereits  zur  Kühe  gegangen.  Dumpf  vor  mich  hinbrütend, 
setzte  ich  mich  auf  den  Flur  vor  seiner  Tür  bin  und  schlief,  den 
Kopf  an  die  Tür  gelehnt,  schliesshch  ein.  So  wurde  ich  mitten  in 
der  Nacht  von  ihm  aufgefunden.  Liebevoll  bereitete  er  mir  eine 
Stätte  neben  sich.  So  habe  ich  dann  die  letzten  Stunden  dieser 
letzten  Nacht  an  seiner  Brust  zugebracht.  Noch  in  der  letzten 
Minute  unseres  Beisummenseins  klagte  ich  mich  an  Uber  mein  un- 
vernünftiges Verhalten.  Er  tröstete  mich  und  versicherte  mich  seiner 
treuen  Freundschaft,  auch  in  der  Ferne.  So  ward  aucli  dieser  mir 
entrissen.  Einsam  und  trauernd  lebo  ich  nun  wieder  für  mich  hin 
und  denke  daran,  welche  Leiden  mir  wohl  noch  im  Schoosse  der 
Zukunft  zugedacht  sind. 

Erlöst  uns,  nehmt  uns  die  Fesseln  ab :  der  Kultur  wird  es  nicht 
zum  Schaden,  der  Menschheit  aber  wird  es  zur  Ehre  gereichen. 


Jahrbuch  V. 


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Einige  psychologisch  dunkle  Fälle 

von  geschlechtlichen  Verirrungen  in  der  Irrenanstalt. 

von 

Medizinal  rat  Dr.  P.  Näcke 

in  Hubertusburg. 

Es  ist  eine  bekannte  Tatsache,  dass  sexuelle  Perversi- 
täten aller  Art  im  Irrenhause  häutiger  als  sonst  sich 
finden.  Statistische  Untersuchungen  hierüber  in  streng 
wissenschaftlicher  Weise  giebt  es  aber  leider  nur  ganz 
wenige.  Ausser  meiner  hieher  gehörigen  grossen  Arbeit1) 
kenne  ich  nur  eine  solche  von  Meilhon2)  aus  der  Irren- 
anstalt zu  Aix  und  eine  Notiz  vou  Pelanda3),  die  zu 
Verona  betreffend.  Während  Meilhon  unter  83  Geistes- 
kranken 18  Sodomiter,  IG  Ouanisten  und  8  Exhibitio- 
nisten faud,  notierte  Pelauda  unter  240  Männern  12  mit 
„veränderter"  Sexualität  (ohne  nähere  Angabe).  Ich 
habe  dagegen  das  bisher  grösste  Material  verarbeitet, 
nämlich  1481  Geisteskranke  (darunter  r>09  M.)  der  Irren- 
anstalt zu  Hubertusburg.  Berücksichtigt  habe  ich  hierbei 
die  isolierte  und  mutuelle  Onanie,  den  Exhibitionismus, 

•)  Nücke:  Die  sexuellen  Perversitäten  in  der  Irrenanstalt. 
Psychiatrische  en  Neurologische  Bladeu  1KW.  Nr.  '2.  und  in  „Wiener 
klinische  Rundschau"  1899,  No.  27 — HO. 

-)  Meilhon:  Nach  Referat  in:  Archives  d'anthropol.  eriin,  etc. 
1898.  p.  360. 

l)  Pelanda:  Ernie  ed  anoraalie  sessuali.  Archivio  delle 
psic<  patie  sessuali,  1890. 


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-    195  — 


die  aktive  Päderastie  und  endlich  die  Fellatures  und  die 
Schmierer.    Tabellarisch  wurden  die  einzelnen  Prozent- 
sätze für  die  Gesamtheit  und  für  die  einzelnen  Krank- 
heitsformen berechnet    Speciell  betone  ich  hierbei,  dass 
je  nach  den  einzelnen  Anstalten  diese  Prozentsätze  ver- 
schieden   ausfallen   werden,    da  ausser  vielen  andern 
Momenten  insbesondere  die  Anzahl  der  aufgenommenen 
Krankheitskategorien  eben  überall  sehr  schwankt  und  es 
ferner  hierbei  sehr  wesentlich  erscheint,  ob  die  Kranken 
mehr  vom   Lande,   oder  aus  der  Stadt,  oder  gar  der 
Grossstadt  sich  rekrutieren.  Unsere  Ermittelungen  können 
daher  nur  einige  allgemeine  Züge   mehr  oder  minder 
wahrscheinlich  machen. 

An  unserem  Material  stellte  ich  fest,  dass  alle 
Perversitäten  bei  Männern  häufiger  waren,  als  bei  den 
Frauen.  Leider  musste  aber  sogleich  hinzugesetzt  werden, 
dass  es  bei  Weibern  viel  schwieriger  ist  Näheres  zu 
erfahren,  als  bei  Männern,  so  dass  sämtliche  Prozentsätze 
bei  ihnen  noch  viel  mehr  Minima  darstellen,  als  bei 
Jenen.  Onanie  fand  sich  am  häufigsten  vor  —  wiederum 
scheinbar  mehr  bei  Männern  — ,  Exhibitionismus  dagegen 
nur  selten  (blos  bei  3  Männern!),  bei  den  Frauen  doppelt 
so  häutig,  während  öfter  homosexuelle  Handlungen  statt 
fanden,  die  bei  den  Paralytikern  ganz  fehlten.  Unter 
den  gleichgeschlechtlichen  Handlungen  war  die  gegen- 
seitige Onanie  am  häufigsten  (sicher  oder  sehr  wahr- 
scheinlich bei  ca.  3ü/0  der  M.  und  bei  ca.  0,5°/n  der  W.) 
Fellatores  gab  es  nur  2  <M).  Wirkliche  Päderastie 
endlich  fand  sich  bei  1%  der  M.  vor,  viel  häufiger  als 
bei  Frauen  und  bei  beiden  Geschlechtern  wieder  in  erster 
Linie  bei  den  Imbezillen.  Letztere  und  die  Idioten 
weisen  überhaupt  die  Höchstziffer  aller  Perversitäten  auf. 
Daher  kommt  es  hauptsächlich,  dass  je  mehr  diese  Art 
von  Kranken  und  auch  Epileptiker  in  einer  Anstalt  sich 
ansammeln,  urn  so  mehr  die  Zahl  aller  sexuellen  Ver- 
la* 


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—    106  — 


irrungen  zunimmt.  Leider  waren  unter  meinen  Kranken 
nur  sehr  wenige  Epileptiker  vorhanden  und  gerade  hier 
wäre  eine  diesbezügliche  Untersuchung  an  grossem 
Materiale  deshalb  sehr  erwünscht. 

Unter  unseren  509  Mäunern  wurden  5  Personen  bei 
eigentlicher  Pädicatio  betroffen  (=  l°/0)  und  zwar  4 
Idioten  und  1  Paranoiker.  Rein  passiv  verhielten  sich 
hierbei  2  Idioten,  aktiv  und  passiv  zugleich  die  2  andern.  Alle 
vier  onanierten  zugleich,  zum  Teil  auch  mutuell.  Der  Eine 
(ein  älterer  Mann)  ist  auch  Fellator.  Die  Passiven  sind  mehr 
apathische  Naturen.  Der  Päderastie  sehr  verdächtig  war 
ein  Verrückter,  —  daher  oben  mitgezählt — ,  der,  wenn  er 
erregt  war,  in  das  Bett  Anderer  kroch.  Unter  den  972 
Frauen  exhibitionierten  16  (der  einfachen  Seelenstörung 
angehörig);  der  gegenseitigen  Onanie  sehr  verdächtig  waren 
4  andere,  2  weitere  endlich  der  aktiven  Päderastie.  Cunni- 
lingae  fehlten  ganz.  Erwähnen  will  ich  schließlisch,  daß  fast 
stets  bei  allen  unsern  männlichen  und  weiblicheu  Kranken 
Onanie  die  Vorstufe  zu  deu  übrigen  sexuellen  Abweich- 
ungen bildete,  ohne  daß  damit  aber  irgend  ein  Zusammen- 
hang zwischen  Beiden  statuiert  sein  soll  (siehe  später!). 

Diese  obigen  Zahlen  habe  ich  nur  mitgeteilt,  um 
zu  zeigen,  daßalle  sexuellen  abnormen  Praktiken 
im  Irrenhause  doch  meist  viel  seltener  sind} 
als  der  Laie,  ja  sogar  viele  Aerzte  sich  dies 
vorstellen.  Wegen  aller  weiteren  Details  muß  ich  schon 
auf  raeine  angeführte  Arbeit  verweisen,  die  außerdem 
auch  versucht  gewisse  Akte  dem  Verständnisse  psychologisch 
näher  zu  bringen. 

Jedenfalls  ersieht  man  aus  Vorstehendem,  daß  homo- 
sexuelle Akte  nicht  häufig  waren,  am  seltensten 
die  eigentlichen  Päderasten  und  Fellatores,  dass  weiter 
die  Seh  wach-  und  Blödsinnigen  auch  hier  den 
höchsten  Prozentsatz  zeigten.  Es  erhebt  sich  nun 
hier  vorab  die   Krage,   ob  wir   in   diesen   Fällen  echte 


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—    197  — 


Inversion  vor  uns  haben  oder  nicht.  In  allen  Fällen,  glaube 
ich,  müssen  wir  eine  wirkliche  Homosexualität  ablehnen, 
trotzdem  nähere  anamnestische  Daten  vollständig  fehlen. 
Es  handelt  sich  hier  nur  um  homosexuelle  Handlungen,  faute 
de  mieux,  um  Surrogatshandlungen,  wie  ich  dies  nannte.') 
Die  Verführung  meist  durch  Schwachsinnige,  spielt  die 
Hauptrolle  dabei.  Das  Gros  der  Irren  allerdings  be- 
friedigt den  Geschlechtstrieb  nur  durch  Onanie,  die  hier 
gleichfalls,  besonders  bei  Verheirateten,  meist  nur  als 
Surrogat  auftritt.  Immerhin  mag  sie  öfter  auch  central 
bedingt  sein,  durch  stärkeren  centralen  Reiz  auf  die 
Genitalsphäre,  wofür  namentlich  die  bisweilen  frenetisch 
ausgeübte  Masturbation  bei  tief  Verblödeten  oder  ganz 
Benommenen  spricht,  was  in  anderen  Fällen  viel  weniger 
wahrscheinlich  ist.  Schon  daß  unsere  Päderasten  neben 
der  paedicatio  noch  alle  isolierte  und  gegenseitige 
Onanie  betreibeu,  z.  T.  auch  gleichzeitig  Fellatores  sind, 
spricht  einigermassen  gegen  echte  Inversion.  Das  Haupt- 
argument liegt  aber  in  der  Tatsache,  dali  die  Betreffenden 
in  der  Zwischenzeit  den  Partnern  gegenüber  sich  völlig 
kühl  verhielten,  sie  nie  umschmeichelten  etc.,  bis  auf 
Aborten,  in  dunkeln  Ecken,  in  Gegenwart  apathischer 
Schwachsinniger  oder  sekundär  Dementer  etc.  der 
raptus  sie  überkam  und  sie  die  Andern  mißbrauchten. 
Wären  ihnen  Frauen  zur  Wahl  belassen  worden,  so 
hätten  sie  sich  wohl  sicher  auf  sie  gestürzt.  Auch  sonst 
sprach  bei  ihnen  alles  gegen  echte  Homosexualität  und 
nie  zeigte  sich  effeminierter  Typus.  Eher  könnte  schon 
bei  den  Frauen  Von  Inversion  die  Rede  sein. 

Mag  dem  nun  aber  sein,  wie  ihm  wolle,  so  glaube  ich 
aus  meinen  Erfahrungen  schließen  zu  dürfen,  daß  in  den 
unteren  Volkschich  ten  —  aus  solchen  rekrutiert  sich 

')  Näcke:  Einige  Probleme  auf  dem  (iehiete  der  Homo- 
sexualität. Lahrs  Allgemeine  Zeitschrift  für  Psychiatrie  u.  s.  k. 
1902.  59.  Bd. 


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198  — 


vorwiegend  unser  Material  —  wahre  Homosexualität 
ganz  abnorm  selten  ist.  Aehnliches  wird  sich  im 
ganzen  wohl  auch  bei  anderen  Irrenanstalten  herausstellen. 
Sehr  beachtlich  ist  aber  weiter  die  Tatsache,  daß  unter 
einer  so  grossen  Masse  von  Entarteten  —  wenn 
mau  nicht  gar,  wie  manche  wollen,  alle  Geisteskranken 
überhaupt  dazu  rechnen  will  —  wahrscheinlich  kein 
einziger  echter  Invertierter  sich  befand,  trotzdem 
die  Inversion  gerade  bei  Entarteten  so  häufig  sein  soll. 
Jedenfalls  ist  sie  bei  den  schwer  Entarteten, 
wie  man  die  meisten  unserer  Kranken  wohl  bezeichnen 
kann,  sehr  selten.  Somit  bleibt  nur  die  andere  Mög- 
lichkeit übrig,  daß  sie  nämlich  bei  leichter  Entarteten 
aller  Art  auftritt,  oder  gar  vielleicht  bei  völlig  Normalen 
(in  der  gewöhnlichen  Gesundheitsbreite  sich  bewegenden). 
Letzteres  halte  ich  sehr  wohl  für  möglich,  ja  sogar  für 
gar  nicht  so  selten,  wie  ich  dies  in  meiner  2.  zitierten 
Arbeit  des  näheren  auseinander  setzte.  Endlich  möchte 
ich  noch  hervorheben,  daß  trotz  der  häufigen  und  jahre- 
lang geübten  Onanie,  welche  besonders  bei  Imbezillen, 
Jugendlichen  oder  sekundär  Verblödeten  nicht  selten 
beobachtet  wird,  diese  doch  nicht  in  einem  einzigen  Falle 
zu  Inversion  oder  nur  zu  homosexuellen  Handlungen 
geführt  hatte,  die  sich  vielmehr  meist  als  Produkt  der 
Verführung  darstellten,  und  als  Surrogathandlungen  auf- 
traten. Schon  daraus  ersieht  man,  daß  Onanie  an  sich 
kaum  je  Homosexualität  erzengt. 

Hier  will  ich  nun  einige  psychologisch  dunkle  und 
interessante  Fälle  sexueller  Abnormitäten  besprechen, 
die  ich  in  der  letzten  Zeit  in  hiesiger  Anstalt  zu  beob- 
achten Gelegenheit  hatte.  Es  handelt  sich  um  3  Fälle 
von  homosexuellen  Handlungen  und  5  Fälleu  von  Exhi- 
bitionismus. 

1)  E.,  07  Jahre,  Händler,  ledig.  Seit  3 — 4  Jahren 
oi  krankt,  halberregt,  verschwenderisch,  Spieler.  Senile  De- 


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—    199  - 


menz  mit  Erregtheit  Kam  hier  noch  hypomanisch  an,  be- 
ruhigte sich  aber  relativ  bald  und  ist  jetzt  ruhig,  fleißig  aber 
schwatzhaft.  In  seinem  hypomanischen  Zustande  steckte 
er  viel  mit  Idioten  und  Jugendlichen  zusammen,  ward 
wiederholt  bei  gegenseitiger  Onanie  betroffen  und  auch, 
wie  er  am  Penis  eines  jungen  Katatonikers  saugte,  was 
er  aber,  sogar  in  flagranti  ertappt,  leugnete.  Durch  den 
Pfleger  auseinander  gebracht,  ging  er  immer  wieder  wie 
besessen  auf  seinen  Kumpanen  los.  Nie  aber  ward  er 
bei  der  Päderastie  betroffen.  Seit  seiner  Beruhigung  hat 
er  sich  nichts  mehr  zu  schulden  kommen  lassen. 

Da  in  der  Anamnese  nichts  auf  Inversion  bezügliches 
sich  vorfindet,  Pat.  auch  jede  homosexuelle  Neigung  stricte 
leugnet,  so  ist  er  wohl  sicher  kaum  eigentlicher  Homo- 
sexueller. Es  ist  anzunehmen,  daß  er  in  seiner  hypo- 
mnnischen  Unruhe  von  Anderen  zu  homosexuellen  Hand- 
lungen verleitet  ward  und  Geschmack  daran  fand.  Er 
gab  der  Versuchung  um  so  eher  nach,  als  einerseits  durch 
sein  Senium  gewisse  Hemmungen  gelockert  waren,  anderer- 
seits durch  die  Erregtheit  vielleicht  die  libido  sexualis  ge- 
steigert wurde,  und  endlich  günstige  Gelegenheit  sich 
anbot.  Nach  Abklingen  der  Hypomanie  hat  er  alles  bei- 
seite gesetzt  und  damit  eben  gezeigt,  daß  er  kein  Homo- 
sexueller ist. 

2)  S.,  ca.  27—28  Jahre  alt,  Musiker.  Dementia 
präcox;  total  verwirrt  und  scheinbar  verblödet,  zeitweis 
gewalttätig  unter  dem  Ansturm  von  Sinnestäuschungen 
und  Wahnideen.  Im  Mai  und  Juni  dieses  Jahres  ward 
wiederholt  gesehen,  wie  er  sich  auf  den  Bauch  eines 
sekundär  verblödeten  jungen  Mannes,  der  sich  in  einer 
dunklen  Ecke  auf  die  Diele  ausgestreckt  hatte,  der 
Länge  lang  legte  und  ihn  längere  Zeit  so  fest  mit 
den  Armen  umklammert  hielt,  daß  er  einmal  nur 
mit  grosser  Gewalt  von  dem  Andern  losgerissen 
werden  konnte.     Dabei  waren  weder  seine  noch  des 


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—    200  — 


Anderen  Genitalien  entblößt  und  jede  koitusartige  Be- 
wegung fehlte.  Die  beiden  glichen  Fröschen  in  der  Co- 
pulation.  S.  erschien  dabei  aber  durchaus  nicht  geschlecht- 
lich erregt.  Zu  anderen  Zeiten  exhibitionierte  er  vor 
Frauen  und  riss  Zoten. 

Bei  seinem  total  verwirrten  Zustande  fehlt  uns  jede 
Angabe  über  dieses  auffällige  Benehmen.  Nur  während 
zweier  Monate  zeigte  er  diese  merkwürdige  Art  der 
Beschlafung.  Sexuelle  Erregung  schien  abgängig  zu  sein. 
Er  empfand  sonst  durchaus  heterosexuell,  wie  seine 
Exhibition  vor  Frauen  bewies.  Er  ist  also  kein  Inver- 
tierter. Nie  hat  er  seinen  Partner  sonst  aufgesucht  und 
sich  ihm  freundschaftlich  genähert.  Wahnideen  und 
Sinnestäuschungen  können  nicht  wohl  mit  im  Spiele  ge- 
wesen sein,  eher  schon  Zwangsimpulse.  Vielleicht  war 
es  aber  nur  ein  rein  automatischer  Akt,  der  jedoch 
möglicherweise  nicht  ganz  eines  sexuellen  Hintergrundes, 
wenn  auch  unbewusst,  entbehrte.  Denkbar  wäre  es  end- 
lich, daß  hierbei  Erinnerungen  an  normalem  Coitus  mit 
unterliefen.  Jedenfalls  ist  gerade  dieser  Fall  psychologisch 
ganz  dunkel,  aber  interessant  und  lehrreich. 

3)  O.,  tiefster  Idiot  und  taubstumm,  Ende  der 
zwanziger  Jahre.  Stösst  nur  unartikulierte  Töne  aus. 
Ich  ertappte  ihn  kürzlich,  als  er  einen  andereu  Idioten 
beim  Kopfe  festhielt,  ihn  wiederholt  auf  den  Mund 
—  doch  ohne  sichtliche  Zeichen  geschlechtlicher  Er- 
regung —  küsste  und  ihn  am  Ohre  streichelte.  Der  Kuss 
ward  erwidert  Nach  Aussage  des  Oberpflegers  soll 
dieser  O.  sehr  verschiedene  Kranke  in  ähnlicher  Weise 
liebkosen,  wobei  aber  nie  Onanie  bemerkt  ward. 

Ist  hier  etwa  Inversion  im  Keime  vorhanden?  Ich 
glaube  es  kaum,  da  eben  Zeichen  des  Orgasmus  fehlten 
und  die  verschiedensten  Personen  so  traktiert  wurden. 
Ich  möchte  vielmehr  glauben,  daß  es  hier  nur  eine  Be- 
tätigung von  Anhänglichkeit  und  Gutmütigkeit  war,  ohne 


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201  — 


sexuellen  Anstrich.  In  meiner  erwähnten  2.  Arheit  machte 
ich  darauf  aufmerksam,  daß  bisweilen  —  immerhin  sehr 
selten  —  bei  Irren  Freundschaftsbündnisse  sich  heraus- 
bilden. Diese  sind  entweder  völlig  harmlos  oder  aber  der 
homosexuellen  Handlungen  sehr  verdächtig.  Letzteres  — 
anscheinend  das  häutigere  —  war  bei  uns  nur  bei  Idioten 
oder  Verrückten  der  Fall,  wobei  der  eine  der  aktive 
Teil  ist.  Aber  auch  bei  ganz  harmlosen  Verhältnissen 
sieht  man,  wie  es  vorwiegend  der  eine  ist,  der  den 
andern  liebkost,  unterstützt  etc.  Obigen  Fall  möchte  ich 
nun  zu  dieser  harmlosen  Kategorie  zählen,  abgesehen 
davon,  daß  hier  kein  eigentliches  Freundschaftsbündnis 
bestand.  Es  giebt  nicht  selten  gerade  Idioten,  die  ihre 
Liebe  zu  Eltern,  Geschwistern,  Pflegern  etc.  durch  Küssen, 
Streicheln  u.  s.  f.  rudimentär  bezeugen,  und  dies  dann 
in  andern  Verhältnisse  auf  andere  Personen  tibertragen, 
und  zwar  unterschiedslos  männlichen  oder  weiblichen 
gegenüber,  und  ohne  Zeichen  von  libido. 

Die  folgenden  Fälle  betreffen  Exhibitionisten. 

4)  PI.,  Paralytiker,  42  Jahre  alt,  ganz  dement  und 
meist  ruhig.  Als  er  noch  leidlich  bei  Kräften  war,  lief 
er  einmal  2  Tage  lang  —  sonst  nie  wieder!  auf  dem 
Korridore  mit  heraushängendem  Gliede  meist  in 
dunkeln  Ecken  stehend  und  ganz  benommen.  Niemand 
sah  ihn  dabei  onanieren,  was  er  später,  als  er  bettlägerig 
wurde,  öfter  tat. 

5)  L.j  berühmter  Pianist,  Ende  der  Vierziger,  ganz 
dementer  Paralytiker,  stand  monatelang  während  des 
Gartengangs  mit  der  ganzen  Vorderseite  des  Körpers 
fest  gegen  die  Hauswand  gedrückt,  mit  entblößtem  Gliede, 
ohne  Masturbation,  und  ging  so  auch  dann  auf  seine 
Station  zurück.    Ließ  sich  nie  davon  abbringen. 

6)  Sehl,  35  Jahr  alt.  Totale  Verwirrtheit  und  Ver- 
blödung nach  dementia  praecox ;  lief  sehr  oft  mit  ent- 


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—    202  — 


blüßtem  Penis  auf  dem  Korridore  herum  und  ließ  sich 
gleichfalls  davon  nicht  abbringen.  Im  Garten  wurde  es 
nur  einmal  beobachtet.  Er  lebte  ganz  in  seinem  Sinnes- 
traum und  in  seiner  Wahnwelt  befangen. 

7)  Sch.,  dem.  praecox,  Mitte  der  20  er,  ganz  verwirrt 
und  schon  verblödet,  entblößte  wiederholt  sein  Glied  und 
spielte  daran  herum. 

8)  Gr.,  29  Jahre  alt,  verblödet  und  verwirrt  nach 
dem.  praecox,  trägt  wegen  steten  Zerreiß ens  seit  Monaten 
den  sog.  (unzerreißbaren)  Göttinger  Anzug.  Läßt  aus 
dem  Schlitz  stets  den  Penis  herabhängen  und  ist  davon 
nicht  abzubringen. 

Diese  Entblößer  haben  zunächst  das  Gemeinsame, 
daß  sie  dem  jüngeren  und  mittleren  Alter  angehören,  aus 
Paralytikern  und  jugendlich  früh  Verblödeten  bestehen  und 
bis  auf  die  sehr  mobilen  Nr.  7  und  8  ganz  in  sich  ver- 
sunken, tief  benommen  waren.  Homosexuelle  Exhibition 
ist  hier  sicher  auszuschließen,  schon  weil  die  Betreffenden 
keine  Invertierten  waren  und  nur  zeitweise  und  oft  bloß 
in  dunkeln  Ecken  exhibitionierten.  Siehe  namentlich 
Nr.  5.  Sexualerregung  schien  dabei  bei  Niemandem  zu 
bestehen  und  nur  bei  Nr.  7  ward  Spielen  an  den  Genita- 
lien beobachtet. 

Was  war  nun  der  Grund  zur  Entblößung?  Man 
könnte  zunächst  daran  denken,  daß  dies  der  Abkühlung 
halber  geschah,  sei  es  nun,  daß  gewisse  lokale  Reiz- 
vorgänge  an  den  Geschlechtsteilen  bestanden,  oder 
central  bedingte  brennende  oder  sonstige  unangenehme 
Gefühle  am  Penis,  die  durch  Aussetzen  des  Gliedes  an 
der  Luft  Linderung  ergaben.  Lokale  Reizzustände  fehlten 
aber,  ebenso  wie  die  dadurch  oft  bedingte  Masturbation 
und  für  die  andere  Erklärung  liegt  auch  kein  Beweis 
vor.  Man  könnte  ferner  auch  an  Druckwirkung  des 
Göttinger  Anzuges  in  Nr.  8  denken,  doch  muß  man  diese 
Erklärung  hier  fallen  lassen,  da  bei  den  meisten  Kranken 


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—    203  — 


im  „Göttinger*  Exhibition  nicht  bemerkt  wird.  In  dem 
Falle  8  kam  mir  dagegen  eine  andere  ErklärungsroÖglich- 
keit  in  den  Sinn.  Ich  sah  den  Pat.  nämlich  einmal  heftige 
seitliche  Hüftbewegungen  machen,  wobei  der  lange  Penis 
hin-  und  herpendelte.  Vielleicht  war  ihm  gerade  dies 
pendelnde  Gefühl  angenehm.  Bei  unserm  Kranken  muti 
man  feruer  als  etwaigen  Grund  Wahnideen,  Zwangs- 
impulse oder  Sinnestäuschungen  wohl  ziemlich  sicher 
ausschließen,  ebenso  einen  central  bedingten  Reizzustand 
der  Geschlechtssphäre,  da  nie  Zeichen  von  libido  sich  dar- 
boten, das  Glied  stets  schlaff  herabhing  und  nie  masturbiert 
wurde.  Es  bleibt  also  fast  nur  übrig  an  einen  rein 
automatischen  Mechanismus  zu  denken,  auf 
Grund  dunkler  organischer  Reizungen  oder  unbewußter 
Vorstellungen.  — 

Auf  alle  Fälle  ist  in  allen  unsern  mitgeteilten  Bei- 
spielen jede  beabsichtigte  Befriedigung  der  libido  ausge- 
schlossen, im  Gegensatze  zu  der  gewöhnlichen  Exhibition. 
Auch  in  der  Irrenanstalt  sieht  man  letztere  nicht  selten 
vor  dem  andern  Geschlecht  eintreten  und  besonders 
Frauen  entblößen  sich  gern  vor  Männern.  Vor  dem 
gleichen  Geschlecht  geschieht  es  aber,  abgesehen  von 
Invertierten,  höchstens  nur  dann,  wenn  tiefe  Verachtung 
dem  Andern  gegenüber  kundgegeben  werden  soll,  manch- 
mal auch  der  Abkühlung  halber,  oder  aus  Wahnideen, 
Sinnestäuschungen,  Zwangsimpulsen  bei  mehr  oder  minder 
erhaltenem  Bewußtsein.  Tief  Benommene  endlich,  ent- 
blößen sich  auch,  wie  unsere  obigen  Fälle  zeigen;  sicher 
ist  dies  aber  keine  homosexuelle  Exhibition.  Ob  diese 
überhaupt,  wie  Braunschweig1)  behauptet,  so  häufig  bei 
Homosexuellen  stattfindet,  möchte  ich  um  so  mehr  be- 
zweifeln, als  hierüber  in  der  Literatur  wohl  nur  wenig 
bekannt  ist. 


•)  Braunschwei«,':  Das«.  Geschlecht.    Halle.  Marhold.  1902. 


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204 


Zum  Schluße  möchte  ich  endlich  auf  eine  Erklärung 
des  gewöhnlichen  Exhibitonismus  aufmerksam  machen, 
die  ich  für  die  meisten  Fälle  für  richtig  halte  und 
es  auch  schon  klar  aussprach1).  Ich  sehe  nämlich  in  der 
Entblößung  nur  eine  Abart  des  Sadismus.  Der 
Exhibitionist  weidet  sich  am  Schreck,  Unwillen  oder  an 
der  Verlegenheit  der  Zuschauerinnen,  was  sexuell  erregend 
auf  ihn  wirkt,  zumal  wenn  jene  junge  Mädchen  sind. 
Die  andere  Erklärung  dagegen,  daß  der  Exhibitionist  sich 
geschlechtlich  aufrege,  weil  er  die  libido  im  andern  geweckt 
hätte,  dürfte  nur  in  den  seltensten  Fällen  und  nur  bei 
depravierten  Mädchen  oder  Frauen  zu  beobachten  sein. 
Eher  könnte  dies  im  Irrenhause  stattfinden,  wo  durch  die 
Psychose  einerseits  gewisse  Hemmungen  ganz  oder  teil- 
weise beseitigt  sind,  wodurch  der  Geschlechtstrieb  freier 
sich  zeigen  kann,  anderseits  durch  die  Krankheit  immer 
oder  zu  gewissen  Zeiten  die  Geschlechtssphäre  direkt 
gereizt  wird,  was  in  concreto  freilich  schwer  zu  beweisen 
sein  dürfte.  So  beobachteten  wir  kürzlich  einen  älteren 
Paranoiker,  der  öfter  dort  exhibitionierte,  wo  die  Bretter- 
wand des  Frauengartens  an  die  Stacketwand  des  Männer- 
gartens stiess  und  hier  die  Gelegenheit  sich  bot  die 
Frauen,  welche  den  dort  in  der  Ecke  belegeneu  Abort 
aufsuchten,  zu  sehen.  Wiederholt  drückte  er  hierbei 
seinen  Penis  durch  das  Stacket  ^hindurch  und  forderte 
eine  ältere,  total  verwirrte  Frau  auf,  denselben  in  die 
Hand  zu  nehmen,  was  diese  dann  auch  unter  Streicheln 
und  Bewunderung  des  wohl  geformten  Organs  tat! 
So  kamen  Beide  in  sexueller  Hinsicht  mehr  oder  weniger 
auf  ihre  Kosten. 

Hubertusburg,  Nov.  1902. 


')  Siehe  meine  2.  angezogene  Arbeit. 


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Chirurgische  Überraschungen 
auf  dem  Gebiete  des  Scheinzwittertums. 

Kasuistik  von  134  Beobachtungen  mit  54  Fällen 
irrtümlicher  Geschlechtsbestimmung 

größtenteils  durch  das  Skalpell  der  Chirurgen  erwiesen. 
(Mit  zahlreichen  Abbildungen  im  Text.) 


Mitgeteilt  von 

Dr.  med.  Franz  Neugebauer. 

Vorstand  der  gynäkologischen  Abteilung  des  Evangelischen 

Hospitals  in  Warschau. 


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Es  sei  mir  gestattet  in  diesem  Jahrgange  des  Jahr- 
buches der  Frage  des  Scheinzwittertumes  von  einer  rein 
praktischen  Seite  näher  zu  treten.  Es  soll  hier  die 
Kasuistik  derjenigen  Fälle  synoptisch  zusammengestellt 
werden,  wo  der  Chirurg  in  Beziehungen  zu  dem  Pseudo- 
hermaphroditismus  trat.  Der  Leser  wird  überrascht  sein 
von  der  großen  Anzahl  von  Fällen,  wo  das  Skalpell  des 
Chirurgen  eine  „Erreur  de  sexe*  feststellen  durfte! 

Doch  abgesehen  davon  gibt  es  eine  große  Reihe  von 
Beobachtungen,  wo  bei  richtiger  Geschlechtsbestimmung 
der  Chirurg  Gelegenheit  hatte  aus  der  oder  jeuer  Ur- 
sache einzugreifen  und  zu  höchst  überraschenden  und 
lehrreichen  Resultaten  gelangte.  Die  im  folgeuden  zu- 
sammengestellten Beobachtungen  entstammen  der  bisher 
von  mir  gesammelten  Gesamtkasuistik  von  910  Fällen 
von  Scheinzwittertum.  Im  Interesse  der  Leser  des  Jahr- 
buches werde  ich,  soweit  dies  wichtig  erscheint,  bei  den 
einzelnen  Beobachtungen  auch  dem  psychosexuellem  Em- 
pfinden der  einzelnen  Individuen  Rechnung  tragen,  so- 
weit darüber  Notizen  vorliegen.  Doch  gehen  wir  gleich 
in  medias  res  vor.  Ich  beginne  mit  einer  Reihe  von 
sogenannten  Bruchoperationen  bei  männlichen  Schein- 
zwittern, welche  irrtümlich  als  Mädchen  getauft  und  als 
solche  erzogen  worden  waren,  ja,  einige  dieser  Individuen 
waren  bereits  als  Frauen  verheiratet. 


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—    208  — 


Erste  Gruppe. 

38  Bruch-Leistenschnitte  bei  als  Mädchen  erzogenen 
Individuen  mit  Feststellung:  von  Hoden  als  Bruchinhalt. 

Ich  muss  hier  bemerken,  daß  die  Bezeichnung  Bruch- 
operation nicht  für  alle  diese  Fälle  zutreffend  ist,  da  in 
manchen  Fällen  operirt  wurde  ohne  auch  nur  einen  Bruch 
zu  vermuten  wie  z.  B.  in  einem  Falle  um  eine  angeblich 
vereiterte  Drüse  aus  der  Leistengegend  zu  entfernen 
—  richtiger  wäre  es  von  Operationen  mit  Jnguinoscrotal-, 
resp.  Inguinolabial-Schnitt  zu  sprechen,  also  einfach  ge- 
sagt mit  Leistenschnitt. 

I)  Alexander  [Deutsche  Medizinische  Wochen- 
schrift 1897  No.:  38  pg.  307 1  beschrieb  folgende  inte- 
ressante Beobachtung  aus  der  chirurgischen  Abteilung  des 
Dr.  Hahn  im  städtischen  Allgemeinen  Krankenhause  am 
Friedrichshain  in  Berlin:  Am  8.  Juni  1897  trat  die 
16jährige  Klara  D.  wegen  eines  Leistenbruches  in  das 
Hospital  ein.  Der  Bruch  war  ein  linksseitiger.  Vor  drei 
Jahren  hatte  Dr.  Erasmus  bei  ihr  eine  rechtsseitige 
Bruchoperation  vollzogen,  beschrieben  von  Jordaeus. 
Vor  8  Tagen  wurde  die  Patientin  während  eines  Spazier- 
ganges plötzlich  von  starken  Schmerzen  in  der  linken 
Leiste  befallen,  kurz  darauf  bemerkte  sie  selbst  eine 
Anschwellung,  einen  Bruch,  der  sich  als  irreponibel  erwies. 
Man  diagnosticierte  einen  linksseitigen  Leistenbruch  mit 
fraglichem  Inhalte  und  verordnete  zunächst  Huhe.  Da 
sich  hierbei  das  Befinden  besserte,  beschloss  man,  sich 
abwartend  zu  verhalten.  Sobald  jedoch  das  Mädchen  das 
Bett  verlassen  hatte,  trateu  die  heftigsten  Schmerzen  auf 
und  es  wurde  deshalb  von  Dr.  Hahn  die  Herniotomie 
vollzogen.  Ein  5  Centiineter  langer  Bruchsack  ver- 
schmälerte sich  nach  oben  zu  gegen  den  Leistenkanal  hin. 
In  dem  jeder  Flüssigkeit  haaren  Bruchsacke  fanden  sich 


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-    209  - 


in  dessen  oberer  Hälfte  ein  eiförmiges  Gebilde  von 
Kirschgröße  und  zwei  kleinere  rundliche  Gebilde  von 
drüsenartigem  Aussehen.  Alle  drei  Körperchen  hatten 
eine  glänzende  Oberfläche,  wiesen  Verwachsungen  mit 
dem  Bruchsacke  auf  und  wurden  entfernt.  Die  mikros- 
kopische Untersuchung  machte  Professor  Hansem ann; 
Hoden  und  Nebenhoden  konstatiert.  Erst  nach  einem 
so  unerwarteten  Operationsbefunde  betrachtete  man  mit 
grösserer  Aufmerksamkeit  die  äußere  Erscheinung  des 
Mädchens.  Die  Brüste  sowie  das  subcutane  Fettpolster 
waren  sehr  schwach  entwickelt,  das  Haupthaar  in  Zöpfen 
angeordnet.  Die  Oberlippe  wies  etwas  Bartanrlug  auf,  die 
äußeren  Schamteile  waren  absolut  weiblich  gebildet. 
Möns  Veneris  schwach  behaart,  große  und  kleine 
Schamlippen  wenig  ent  wickelt  im  Verhältnis  zur  allgemeinen 
Körpergröße.  Clitoris  2  Cent,  laug  und  b"  MilL  dick, 
Präputium  clitoridis  verschieblich.  Der  Penis  hvpo- 
spadiaeus  wies  eine  Lacuna  Morgagnii  von  drei  Milli- 
meter Sondentiefe  in  der  gespaltenen  Harnröhre  auf;  unter- 
halb der  weiblichen  Harnröhrenmündung  lag  der  Introitus 
vaginae  von  halbmondförmigem  Hymen  garniert.  Fossa 
navicularis  und  Frenulum  labiorum  normal  weiblich 
gebildet.  Keine  Spur  von  Uterus  oder  Tuben  per  rectum 
getastet,  ebensowenig  eine  Prostata. 

Die  Scheide  endete  in  der  Höhe  von  drei  Zentimetern 
blind.  Becken  nach  Gestalt  und  Maaßen  männlich.  Nach 
dem  unerwarteten  Ergebnis  der  mikroskopischen  Unter- 
suchung der  exstirpierten  Gebilde  wurden  nunmehr  auch 
die  früher  rechtsseitig  von  Erasmus  entfernten  Gebilde 
untersucht  und  ergaben  sich  gleichfalls  als  Hoden  und 
Nebenhoden  [siehe  Jord actis:  Inhalt  einer  Leisten- 
hernie bei  Mißbildung  der  Genitalien — Festschrift  zur 
Feier  des  "><  »-jährigen  Bestehens  der  Gesellschaft 
der  Arzte  des  Regierungsbezirks  Düsseldorf  18^5. 1 
Damals    existierte    noch   kein  Leistenbruch  linkerseits, 

.Tiihrl.il  h  V.  I  i 


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—   210  — 


sondern  nur  der  rechtsseitige.  Man  fand  als  Inhalt  des 
Bruchsackes  den  processus  vaginalis  peritonaei  ohne  flüssi- 
gen Inhalt.  In  dem  Bruchsacke  lag  ein  birnförmiges 
Gebilde  von  der  Grotte  einer  welschen  Nuß,  weich  von 
Konsistenz  und  nicht  mit  dem  Bruchsacke  verwachsen. 
Der  Tumor  hatte  eine  glänzende  Oberfläche  uud  enthielt 
zwei  Gebilde  von  drüsigem  Aussehen,  die  nach  obeuzu 
in  eine  Art  gegen  den  Leistenkanal  hin  ziehenden  Strang 
übergingen.  Da  die  Reposition  nicht  gelang,  hatte  man 
diese  Gebilde  operativ  entfernt.  Linkerseits  war  neben 
Hoden  und  Nebenhoden  auch  eine  Samenblase  ent- 
fernt worden,  rechterseits  auch  ein  vas  deferens.  In 
keinem  der  Hoden  Spermatogenese  nachgewiesen,  also 
atrophischer  Zustand.  Am  27.  Juni  1895  war  Klara  D. 
aus  dem  Hospitale  entlassen  worden,  am  30.  Januar  1800 
trat  sie  wieder  ein  wegen  Scheidenausflusses  und  schmerz- 
hafter Anschwellung  in  beiden  Leistengegenden.  Die 
Schmerzen  waren  die  Folge  eines  Coitusversuches  mit 
einem  Manne.  Der  Beischlaf  kam  nicht  zu  Stande  wegen 
Schmerzhaftigkeit,  wohl  aber  acquirierte  Klara  D.  einen 
Tripper  mit  nachgewiesenen  Diplokokken.  Am  10. 
Februar  wurde  Patientin  nach  längerer  Kur  entlassen. 
Klara  D.  hatte  weder  jemals  die  Regel  gehabt  noch 
irgendwelche  Molimina,  es  handelte  sich  einfach  um  ver- 
späteten Herabtritt  der  beiden  Hoden.  Die  angeblichen 
Leistenbrüche  veranlagten  die  operative  Entfernung  der 
Gebilde,  die  sich  unter  dem  Mikroskope  als  Hoden  und 
Nebenhoden  etc.  erwiesen,  also  eine  erreur  de  sexe 
aufklärten.  Zur  Zeit  der  ersten  Operation  war  Klara  13 
Jahre  alt,  zur  Zeit  der  zweiten  16. 

2)  Henry  Avery  (Philadelphia  Med.  and.  Surg. 
Reporter  1808  XIX.  8.  pg.  144)  entfernte  bei  einem  24- 
jährigen  aus  Xeuschottland  stammenden  Mädchen,  AnnyC. 
auf  dessen  Verlangen  hin  und  auf  Grund  einer  Konsulta- 
tion mit  noch  zwei  anderen  Aerzten   einen   Tumor  aus 


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—    211  — 


einer  Leistengegend.  Der  Tumor  erwies  sich  als  Hoden. 
Allgemeinaussehen,  Stimme  und  Brüste  männlich.  Die 
Scheide  endete  in  der  Tiefe  blind.  Kein  Uterus  getastet. 
Clitoris  zwei  und  einen  halben  Cent.  lang.  Hypospadiasis 
penoscrotalis  mit  einseitigem  Kryptorchismus. 

3)  Brycholow  [siehe:  Garin:  Wjestnik  Obszczest- 
wennoj  Gigjeny,  Ssudebnoj  i  Prakticzeskoj  Mediciny 
[Russisch]  —  T.  XXIX.  Kniga  II.  Februar  1896  —  und 
Protokoly  Anthropologiczeskawo  Obszczestwa  1894  No.:  1 
pg.  29  No.:  207.J  Die  14jährige  Marie  X.  trat  in  das 
Petersburger  Marienspital  ein  wegen  doppelseitigen  Leisten- 
bruches. Die  operativ  aus  den  beiden  Brüchen  entfernten 
Gebilde  erwiesen  sich  als  Hoden.  Beide  hatten  in  den 
Schamlefzen  gelegen,  waren  also  voll  herabgestiegen. 
Kein  Uterus  vorhanden,  wohl  aber  neben  den  großen 
auch  kleine  Schamlippen.  Die  Vulva  sah  absolut  weib- 
lich aus  bis  auf  die  infolge  ihres  Inhaltes  strotzenden 
Schamlefzen.  Während  der  Operation  konstatirte  man 
Erektionen  des  hypospadischen  Penis;  zur  Zeit  der 
Operation  noch  keinerlei  Geschlechtstrieb  vorhanden  nach 
Aussage  des  Kindes. 

4)  Briuchano  w  [Ein  Fall  von  Pseudohermaphroditis- 
mus  masculinus  externus  Bolnicznaja  Gazeta  Botkin' 
a  [Kußisch |  Petersburg  1899  No.:  44.J  Bei  einem  14jährigen 
Mädchen  mit  absolut  normalem  weiblichen  Ausseheu  der 
Vulva  wurde  ein  doppelseitiger  Leistenbruch  operiert: 
die  hierbei  exstirpierten  Gebilde  erwiesen  sich  als  Hoden : 
„Erreur  de  sexe*.  Ich  weiß  nicht  anzugeben,  ob  diese 
Beobachtung  nicht  etwa  identisch  ist  mit  der  vorher- 
gehenden, die  Jahreszahlen  1894  und  1899  scheinen 
dagegen  zu  sprechen. 

5)  Buchanau  (in  Glasgow)  [Medical  Times,  14 
February  1885  siehe:  Centralblatt  für  Gynäkologie 
1885  pg.  40 1|  beschrieb  ein  9jähriges  Mädchen  von  knaben- 
haftem Aussehen.    In  der  rechten  Schamlefze  tastete  er 

14* 


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ein  härtliches,  durch  einen  Strang  mit  dem  Leistenkanale 
in  Verbindung  stehendes  Gebilde;  links  der  gleiche 
Befund,  nur  der  Leistenkanal  etwas  weiter  klaffend. 
Grotte  und  kleine  Schamlippen,  Clitoris  und  Hymen 
normal,  ßuchanan  glaubte,  es  handle  sich  gleichwohl 
nicht  um  ektopische  Ovarien,  sondern  um  Hoden  und 
zwar  wegen  des  deutlich  ausgesprochenen  Cremasteren- 
reflexes.  Bei  der  Untersuchung  sub  narcosi  fand  der  Finger 
eine  Vagina  von  normaler  Länge,  aber  in  ihrem  Grunde 
statt  einer  Vaginalportion  eines  Uterus  ein  sagittales 
Septura,  welches  den  Scheidengrund  in  zwei  seitliche 
Taschen  teilte  von  je  Fingerhutgröße.  Jederseits  vom 
Scheideneingange  fand  Buchanan  je  eine  feine  Oeffuung. 
Er  sprach  diese  Oeffnungeu  als  Mündungen  der  Ductus 
ejaculatorii  resp.  Vasa  dcferentia  an.  In  der  Voraus- 
setzung, die  in  den  Schamlefzen  liegenden  Gebilde  könnten 
in  Zukunft  Ursache  von  Beschwerden  werden,  s«?ien  sie 
nun  ektopische  Ovarien  oder  Hoden,  entfernte  er  sie 
operativ.  Die  mikroskopische  Untersuchung  [siehe  auch: 
Pull  mann]  ergab,  daß  es  die  Hoden  waren:  man  hatte 
also  das  Kind,  einen  verkannten  Jungen,  kastriert. 

<>)  Chambers  |Transactions  of  the  Obsterical  Society 
of  London  1859  eitirt  von  Munde1]  beschrieb  ein 
24-jähriges  Mädchen  von  weiblichem  Allgemeinaussehen, 
dessen  Genitale  ebenfalls  einen  weiblichen  Aspectus  bot, 
jedoch  war  die  Scheide  in  der  Höhe  von  drei  Ceutinietern 
blind  geschlossen  und  keine  Spur  von  Uterus,  Tuben 
oder  Ovarien  zu  tasten.  Zwei  in  den  Schamlefzen  tast- 
bare härtliche  Gebilde  wurden  operativ  entfernt  und  er- 
gaben sich  als  Hoden.  Ob  Spermatogenese  nachgewiesen 
wurde,  ist  nicht  erwähnt. 

7)  Clark  |„A  case  of  spurious  hermaphroditisnie, 
hypospadias  and  undescended  testes  in  a  subjeet,  who 

')  Munilr  :  Centralbl.  f.  Gyn.  1887.  N.  42.  f.  671:  Va-ina 
blind  endend. 


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—    213  — 


had  been  brought  up  as  a  female  and  had  been  married 
for  sexteen".  —  Lancet  1898.  Vol.  I  pg.  616]  beschrieb 
eine  42-jährige  Frau,  welche  vor  16  Jahren  geheiratet 
hatte  und  zur  Zeit  als  Witwe  in  seine  Behandlung 
gekommen  war.  Die  Vulva  sah  echt  weiblich  aus,  die 
geräumige  Vagina  war  in  der  Tiefe  blind  geschlossen 
und  nichts  von  inneren  Genitalien  zu  tasten.  In  jeder 
Leistengegend  eine  Anschwellung;  die  linksseitige  sehr 
druckempfindlich  bei  der  leisesten  Berührung  Mammae 
weiblich,  Areolae  kaum  ausgesprochen,  Warzen  atrophisch. 
Kehlkopf  vorstehend,  männlich.  Hände  groß,  Scham- 
behaarung sehr  spärlich,  im  Gesicht  keine  Spur  männ- 
licher Behaarung.  Vom  12.  Lebensjahre  an  sollen  Blutungen 
aus  dem  Genitale  stattgehabt  haben,  anfangs  unregelmäßig, 
aber  vom  25.  bis  38.  Jahre  regelmäßig  aller  vier  Wochen 
je  24  Stunden  andauernd.  Die  Frau  hatte  vor  einigen 
Tagen  einen  schweren  Gegenstand  aufgehoben  und  war 
sofort  von  starken  Schmerzen  in  den  beiden  Leisten 
befallen  worden,  es  waren  plötzlich  Leistenbrüche  aus- 
getreten. Clark  glaubte,  es  handle  sich  um  einen 
Descensus  retardatus  testiculorum,  wurde  jedoch  in  dieser 
Voraussetzung  wieder  schwankend  angesichts  der  vonpder 
Frau  betonten  regelmäßigen  Blutausscheidungen  aus  dem 
Genitale.  Er  wollte  also  eine  solche  Genitalblutung  ab- 
warten, die  Menstruation:  das  Warten  erwies  sich  jedoch 
als  vergeblich  — ,  so  schritt  er  denn  zur  beiderseitigen 
Bruchoperation:  es  wurde  jederseits  ein  Hoden  nebst 
Samenstrang  entfernt,  keine  Spermatozoiden  nachgewiesen. 
Da  die  Scheide  blind  endete  und  keine  Spur  eines  Uterus 
zu  tasten  war,  so  kann  man  natürlich  nicht  anders  als 
mit  Unglauben  der  Angabe  der  Frau  bezüglich  jener 
regelmäßigen  Genitalblutungen  gegenübertreten,  wie  denn 
in  der  Kasuistik  des  Scheinzwittertunis  so  mancher  Fall 
sich  findet,  wo  von  dem  Individuum  die  Unwahrheit 
ausgesagt  wurde  aus  dem  oder  anderen  Grunde.  Die 


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Frau  hatte  mit  ihrem  Manne  stets  im  besten  Einvernehmen 
gelebt.  Clark  sah  keine  Veranlassung,  dieser  Person 
Mitteilung  von  der  konstatierten  Erreur  de  sexe  zu 
machen,  umsomehr  als  sie  seiner  Zeit  Witwe  war. 

8)  Green  [„Hypospadias"  Quarterly  MedicalJournal 
1898  Vol.  I.  pg.  169].  Ein  24jähriges  Dienstmädchen 
meldete  sich  mit  der  Frage,  warum  die  Periode  bei  ihm 
noch  ausstehe?  Die  Untersuchung  ergab  Hypospadiasis 
peniscrotalis  eines  männlichen  Scheinzwitters  mit  je  einem 
Hoden  in  jeder  Schamlefze.  Trotz  Konstatierung  der 
Erreur  de  sexe  wollte  das  Mädchen  absolut  nichts  von 
einer  Änderung  seines  bisherigen  sozialen  weiblichen  Standes 
wissen  und  verlangte  durchaus  die  Entfernung  der  beiden 
Hoden.  Green  folgte  dem  Wunsche  des  Mädchens,  voll- 
zog die  Operation  de  complicite*  und  schrieb:  „The 
question  now  arrose,  as  to  what  should  be  done,  as  the 
patient  in  mind  and  habit  is  more  a  woman  than  a  man. 
and  is  illegal  for  him  to  remain  as  he  is  in  female  attire, 
„he  expressed  a  desire  to  have  the  testicles  removed  and 
continue  a  woman  and  it  seems  to  me,  that  is  the  best 
Solution  of  the  difficulty".  —  Die  mikroskopische  Unter- 
suchung ergab,  daß  normal  funktionierende  Hoden  entfernt 
worden  waren.  Nach  Entlassung  aus  dem  Hospital  nahm 
diese  Person  sehr  bald  wieder  einen  Dienst  als  Dienst- 
mädchen an.  Green  hatte  dieses  Individuum  kastriert 
„at  his  own  urgent  request!" 

9)  G  r  i  f  f  i  t  h  [„  Hermaphroditismus  transversus  virilis" 
Journal  of  Anatomy  and  Physiology.  January  1894]  be- 
schrieb ein  23jähriges  Individuum  mit  weiblichen  Brüsten, 
weiblichem  Möns  Veneris  und  blind  endender  Scheide. 
Man  tastete  in  der  Beckenhöhle  ein  Gebilde,  das  man 
für  einen  Uterus  ansah  mit  zwei  seitlichen  Gebilden  und 
tastete  auch  zwei  Gebilde  in  den  Schamlefzen,  die  exstir- 
piert,  sich  als  Hoden  erwiesen.  Cremasterreflex  beider- 
seits ausgesprochen,  aber  keine  Samenstränge  getastet. 


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—   215  — 


10)  Groß  [MonthlyJourn.forMedical Sciences.  Dezem- 
ber 1852-Referat:  Casper's  Vierteljahrschrift  1853  III. 
pg  208:  „Ein  Fall  von  Hermaphroditismus  mitCastration*] 
Osterlen  gibt  im  III.  Bande  des  von  Maschka  heraus- 
gegebenen Handbuches  der  gerichtlichen  Medicin  (pg  83) 
folgende  Einzelheiten  dieses  Falles  an:  Ein  dreijähriges 
Kind,  als  Mädchen  erzogen,  verriet  schon  vom  zweiten 
Lebensjahre  an  knabenhafte  Neigungen  und  Liebhabereien. 
Statt  einer  Clitoris  fand  sich  ein  Penis,  statt  einer  Scheide 
eine  seichte  mit  Schleimhaut  ausgekleidete  Grube  ohne 
irgend  eine  Öffnung  in  der  Tiefe.  Harnröhrenöffnung 
normal  weiblich,  kleine  Schamlippen  kümmerlich  gebildet, 
jede  Schamlefze  enthielt  ein  härtliches  Gebilde,  einen  wohl- 
gestalteten Hoden.  Groll  fragte  sich,  ob  es  nicht  richtig 
sei,  diese  Gebilde  zu  entfernen,  welche  im  geschlechtsreifen 
Alter  Geschlechtstriebe  hervorrufen  könnten  und  eventuell 
eine  Verheiratung  herbeiführen,  aus  der  nur  Kummer 
und  Verdruß  resultieren  werde,  ja  sogar  der  Tod.  Dem- 
gemäß entfernte  er  im  Einverständniß  mit  den  Eltern 
diese  Gebilde,  die  Hoden  und  Samenstränge,  am  20.  Juli 
1849  unter  Assistenz  zweier  Kollegen.  Diese  Organe 
erwiesen  sich  als  normal  gebildet.  Von  dem  Moment  der 
Operation  an  soll  das  Kind  sein  Gebahren  geändert  haben 
und  fortan  nur  weibliche  Neigungen  aufgewiesen  haben, 
die  auch  nach  zwei  Jahren  noch  weibliche  geblieben 
waren.  Das  Kind  macht  mit  Vorliebe  weibliche  Hand- 
arbeiten, reitet  nicht  mehr  auf  dem  Spazierstocke  seines 
Vaters  und  spielt  nicht  mehr  mit  Knaben.  Osterlen 
unterzog  das  Vorgehen  des  amerikanischen  Kollegen  unter 
Paragraph  224  D.  S.  G.  der  österreichischen  Gerichts- 
ordnung —  als  „Beraubung  der  Zeugungsfähigkeit"  des 
deutschen  Strafkodex  und  unter  Paragraph  169,  welcher 
Gefängnisstrafe  verlangt  „für  vorsätzliche  Veränderung 
oder  Unterdrückung  des  Personenstandes  eines  Anderen". 
—  C asper  verurteilt  ebenso  das  Vorgehen  von  Groß, 


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umsomehr,  als  jener  gar  nicht  die  Sicherheit  haben  konnte, 
daß  das  Kind  großjährig  werden  wird,  ob  eine  Ehe 
geschlossen  und  ob  sie  unglücklich  ausfallen  werde. 
Weiterhin  könne  doch  Groß  nicht  dafür  einstehen,  daß 
diese  Person,  als  Mädchen  erzogen,  sich  nicht  dereinst 
mit  einem  Manne  verloben  und  verheiraten  werde.  Diese 
Worte  schrieb  Österlen  im  Jahre  1882,  heute  verfügt 
die  Kasuistik  über  eine  große  Reihe  ähnlicher,  eigentlich 
unberechtigter  Kastrationen,  wie  des  Weiteren  gezeigt 
werden  soll. 

11)  Hallopeau  [»Androgyne*  Gazette  medicale  de 
Paris  1895  N:15  —  siehe  —  Referat:  Centralblatt  für 
Gynäkologie  1895  N:43  pg.  1125]:  „Erreur  de  sexe". 
Männlicher  Scheinzwitter  mit  Hypospadiasis  penoscrotalis> 
irrtümlich  als  Mädchen  erzogen.  Die  Scheide  ließ  einen 
kleinen  Finger  eiu,  zwei  aus  den  Schamlefzen  entfernte 
Gebilde  erwiesen  sich  als  Hoden.  Patientin  verlangte, 
nachdem  ein  Hoden  entfernt  worden  war,  auch  die  Ent- 
fernung des  anderen  und  daß  man  sie  in  einem  weiblichen 
Krankensaale  unterbringe.  Sowie  das  Referat  lautet, 
scheint  man  bereits  vor  der  Operation  die  erreur  de 
sexe  erkannt  zu  habeu  (?)  — 

12)  Heuck  [siehe:  H.  Braun:  „Ein  Fall  von  Pseudo- 
hermaphrodittsmus  masculinus  externus"  —  Aus  dem 
Mannheimer  Krankenbause.  Zeitschrift  für  Geburtshülfe 
und  Gynäkologie  1894  Bd.  28.  pg.  375— 382J:  Ein  28 jäh- 
riges Dienstmädchen  aus  der  Stadt  Nipperg  trat  im  Januar 
1893  in  das  Hospital  ein  wegen  Eiterung  geschwollener 
Halsdrüsen.  In  letzter  Zeit  hatten  die  Inguinaldrüsen 
so  an  Volumen  zugenommen,  daß  daraus  Arbeitsbehinde- 
rung resultierte.  Man  fand  einen  Leistenbruch  und  ver- 
mutete Netz  als  Inhalt,  Am  17.  Februar  vollzog  Heuck 
die  Herniotomie  rechterseits  und  fand  in  dem  Bruche 
Hoden  und  Nebenhoden.  Da  es  nicht  gelang  diese  Organe 
in  die  Bauchhöhle  zurückzudrängen  [wozu  denn?-  -  X.J, 


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—   217  - 


so  wurden  sie  abgetragen.  Bei  der  Operation  hatte  man 
auch  den  Samenstrang  gefunden.  Linkerseits  lag  der 
Hoden  noch  im  Leistenkanale.  Da  die  Extraktion  aus 
demselben  nicht  gelang,  stieß  Heuck  den  Hoden  in  die 
Bauchhöhle  hinein  und  vernähte  die  gesetzte  Wunde. 
Kurz  darauf  kamen  jedoch  die  Beschwerden  linkerseits 
wieder.  Heuck  wiederholte  linkerseits  die  Operation 
und  entfernte  jetzt  auch  den  linken  Hoden.  Nach  Aus- 
sage der  Mutter  der  Patientin  sollen  beide  Brüche  bereits 
im  ersten  Lebensjahre  entstanden  sein  und  zwar  infolge 
von  Hustenanfällen.  Dieses  Mädchen  hatte  bereits  mehrere 
Male  mit  Männern  kohabitiert,  aber  dabei  niemals  ein 
angenehmes  Gefühl  empfunden.  Niemals  Menstruation 
oder  Tormina  menstrualia.  Allgemeinaussehen  und  ebenso 
der  Gesichtsausdruck  weiblich.  Langes  weibliches  Haupt- 
haar, aber  Kehlkopf  und  Stimme  männlich.  Mammae 
mäßig  entwickelt,  Hände  groß.  Fast  gar  keine  Scham- 
behaarung vorhanden.  Möns  Veneris  fettarm,  die  kärglich 
entwickelten  großen  Schamlippen  bedeckten  nicht  die 
kleinen,  Clitoris  von  normaler  Größe,  die  Harnröhre  öffnete 
sich  im  Scheidenvorhofe.  Keine  Prostata  zu  tasten, 
Hvmenalreste  vorhanden,  die  Vagina  läßt  zwei  Finger 
zugleich  7  Centimeter  tief  ein  und  endet  in  der  Tiefe 
blind.  Sehr  deutlich  tastete  man  ein  Ligamentum  vesicoum- 
bilicale  medium.  Per  rectum  tastete  man  etwas  wie  eine 
Duplikatur  des  Bauchfells  jederseits  von  der  Mittellinie. 
Der  rechte  Hoden  war  5  Cent,  lang  und  zwei  und  einen 
halben  Cent,  dick,  der  Nebenhoden  anderthalb  Cent,  breit. 
Der  linke  Hoden  makroskopisch  einem  Ovarium  ähnlich 
war  5  Cent,  lang  und  zwei  Cent,  breit,  der  Nebenhoden 
zwei  Cent  lang.    Vasa  deferentia  wurden  nicht  gefunden. 

13)  Jablonski  [Un caso  di  ermafroditismo BBolletino 
delle  levatrice"  23  Maggio  1893  Anno.  I  Fascicolo  5  pg. 
228]:  Die  28jährige  Anna  Luise  G.  hatte  eine  weibliche 
Erziehung  erhalten.    Im  Alter  von  10  Jahren  erschien 


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bei  ihr  männlicher  Hartwuchs,  die  Periode  aber  wurde 
vergeblich  erwartet  und  kam  überhaupt  nicht.  Die  drei 
Centimeter  lange  Clitoris  wurde  sub  erectione  10  Cent, 
lang  (!)  Die  rechte  Schamlefze  enthielt  ein  hodeuartiges 
Gebilde.  Vor  8  Jahren  hatte  man  linkerseits  eine  Hernio- 
toinie  vollzogen  und  nach  Angabe  der  Patientin  damals 
eine  Ovarialektopie  konstatiert.  Nach  Ansicht  von 
Jablonski  hatte  man  den  Hoden  für  ein  ektopisches 
Ovarium  angesehen,  trotzdem  bei  der  Operation  die  Ge- 
schlechtsdrüse bloßgelegt  worden  war.  Ob  eine  mikrosko- 
pische Untersuchung  der  vor  H  Jahren  in  Brüssel  ent- 
fernten Geschlechtsdrüse  seiner  Zeit  vorgenommen  wurde, 
ist  nicht  bekannt.  Falls  Jablonski  wirklich  einen  Hoden 
tastete,  so  dürfte  wohl  auch  jenes  ektopische  Ovarium 
einfach  ein  Hoden  gewesen  sein. 

14.  Dixon- Jones  |„  Double  inguinal  Hernia  in  a 
hermaphrodite*  —  Medical  Record  XXXVIII  —  27. 
XII.  1890  pg.  724):  Die  27jährige  Emma  M.  meldete 
sich  am  2.  December  1888  wegen  bisheriger  Amenorrhoe 
uud  beiderseitigen  Leistenbruches,  beiderseits  sehr  stark 
empfindlich.  Weder  jemals  Tormina  menstrualia  noch 
vicariirende  Blutungen.  Von  7  Schwestern  der  Patientin 
sollen  zwei  ebenso  wie  sie  mißgestaltet  sein,  bei  einer  der 
Schwestern  hatte  Dr.  Webber  Maugel  des  Uterus  und 
Amenorrhoe  konstatiert.  Allgemeinaussehen,  Stimme  und 
Brüste  weiblich.  Die  Schamteile  weiblich  gebildet,  aber 
wie  in  der  Entwicklung  zurückgeblieben.  Clitoris 
kleiner  als  normal  —  !!!!!!!  —  Scheidenöffnung  sehr 
eng,  Hymen  vorhanden.  Die  Scheide  endet  in  der  Höhe 
von  zwei  Zoll  blind.  Weder  Uterus  noch  Tuben  oder 
Ovarien  getastet  per  vaginam  oder  per  rectum.  Kleine 
härtliche  Gebilde  in  den  beiden  Schamlefzen  wurden  für 
die  ektopischen  Ovarien  angesehen;  sie  waren  äußerst 
druckempfindlich  und  ließen  sich  nicht  in  die  Bauchhöhle 
zurückdrängen.    Sehmerzen  in   beiden  Leistengegenden. 


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—   219  — 


Nach  Einschnitt  in  die  Schamlefzen  fand  man  keine 
Kommunikation  der  Bruchsäcke  mit  der  Bauchhöhle. 
Man  fand  nur  jederseits  je  einen  bindegewebigen  Strang 
von  dem  in  der  Schamlefze  enthaltenen  Gebilde  nach  dem 
Leistenkanale  zu  verlaufend.  Dixon  fügte  den  Bauch- 
schnitt hinzu,  indem  er  in  der  Linea  alba  einschnitt,  um 
sich  zu  überzeugen,  ob  er  bei  Entfernung  der  in  den 
Schamlefzen  enthaltenen  Gebilde  nicht  Organe,  welche 
in  der  Bauchhöhle  liegen,  beschädigen  würde,  fand  aber 
in  der  Bauchhöhle  auch  nicht  diejSpur  von  inneren  weib- 
lichen Genitalorganen,  sondern  nur  jederseits  einen  Binde- 
gewebsstrang  vom  Leistenkanal  in  die  Beckentiefe 
verlaufend.  Er  schloß  also  die  Bauchwunde  und  exstirpierte 
die  in  den  Schamlefzen  enthaltenen  Gebilde,  welche  sich 
als  Hoden  erwiesen.  Das  Becken  war  weiblich.  D  i  x  o  u  - 
Jones  vermutet  gleich  mir,  daß  in  vielen  Fällen  von 
Ovariocele  wahrscheinlich  Erreurde  sexe  bestehe,  also 
ein  Hoden  des  männlichen  Scheinzwitters,  der  irrtümlich 
als  Mädchen  erzogen  wurde,  irrtümlich  für  ein  ektopisches 
Ovarium  angesehen  wurde.  Ich  habe  die  bisherige 
Kasuistik  angeblicher  Ovarialektopie  bereits  gesammelt, 
jedoch  noch  nicht  die  Zeit  gefunden,  dieselbe  einer  Kritik 
zu  unterwerfen,  jedoch,  was  noch  nicht  geschehen  ist, 
wird  geschehen,  sobald  es  meine  Zeit  erlaubt.  — 

DixonJones  vollzog  in  seinem  Falle  die  Kastration, 
nachdem  er  zuvor  einen  diagnostischen  Leibschnitt  dem 
beiderseitigen  Leistenschnitte  hinzugefügt  hatte,  ähnlich 
wie  auch  Snegirjow  und  Pe*an  in  je  einem  Falle. 

15.  Kociatk iewicz- Neugebauer:  Dr.  Kociat- 
kiewicz  bat  mich  für  den  13.  VII.  1897  zu  einem 
Konsilium  betreffend  ein  junges  Mädchen  von  21  Jahren, 
Josephine  K.  Das  Mädchen  hatte  sich  in  Begleitung 
seines  Vaters  und  Bräutigams  im  Hospital  gemeldet  und 
verlangte  eine  operative  Entfernung  der  Gebilde,  welche 
in   den  Leisten   vorhanden   seien   und   ihm  Schmerzen 


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—   220  — 


bereiten.  Allgemeinaussehen  weiblich,  große,  weibliche 
Brüste,  dabei  hängend,  weibliche  Stimme,  weibliche 
allgemeine  und  Schambehaarung,  weiblicherj  Charakter 
und  weibliches  geschlechtliches  Empfinden. 

Diese  Beobachtung  kommt  auf  Konstatierung  einer 
erreur  desexe  heraus,  bei  einem  als  Mädchen  erzogenen 
und  mit  einem  Manne  verlobten  männlichen  Scheinzwitter 
von  21  Jahren  —  die  Kastration  durch  Dr.  Kociatkiewicz 
vollzogen  ergab  normale  Hoden  mit  normalem  Sperma.  — 
Die  Einzelheiten  habe  ich  in  meinem  Aufsatze  im  vorigen 
Jahrgang  dieses  Jahrbuches  bereits  veröffentlicht. 

16.  Lannelongue:  [Siehe  Fieux:  „Anomalie  du 
(teveloppement  des  Organes  genitaux"  —  Journal  de 
Me*decine  de  Bordeaux  —  1871  —  pg.502].  La  nnelongue 
vollzog  eine  Operation  bei  einem  jungen  Mädchen  wegen 
Schamlefzentumors,  welchen  er  zunächst  wegen  vorhandener 
Fluktuation  für  eine  Cyste  angesehen  hatte:  es  lag  auf 
derselben  Seite  ein  Leistenbruch  vor.  Zwischen  der  Cyste 
und  dem  Bruchsacke  fand  sich  sub  operatione  eine  Gebilde, 
das  sich  unter  dem  Mikroskop  als  Hoden  erwies,  also 
„erreur  de  sexe*!  Keine  Spur  eines  Uterus  getastet. 
In  dem  Bruche  fand  sich  auch  ein  Teil  des  Omentum 
majus.  —  Die  Operierte  genas.  Vulva  normal,  weiblich, 
ebenso  Brüste  und  Gesichtsausdruck.  Niemals  Regel, 
Scheide  in  der  Tiefe  blindsackartig  geschlossen.  Bei  Druck 
auf  die  Gegenden,  wo  normal  die  Ovarien  liegen,  große 
Empfindlichkeit. 

17.  Levy  [.Ueber  ein  Mädchen  mit  Hoden  und 
über  Pseudohermaphroditisinus*  Hegaus  Beiträge  zur 
Geburtshülfe  und  Gynäkologie.  Leipzig  1901  Bd.  IV. 
Heft  III  pg.  317 — 360]  beschreibt  zwei  Beobachtungen 
von  Scheinzwittertum  aus  der  Tübinger  Klinik,  eine  davon 
betrifft  eine  von  Döderlein  an  einem  Mädchen  aus- 
geführte Castration  —  es  wurden  die  Hoden  entfernt 
durch  Leistenschnitt.    Die   19jährige   Näherin   Ch.  L. 


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221  - 


trat  in  die  Klinik  ein  wegen  Beschwerden,  welche  her- 
vorgerufen wurden  durch  von  ihr  bemerkte  Tumoren. 
Bis  jetzt  hatte  Patientin  weder  jemals  die  Regel  noch 
auch  Tonnina  menstrualia  gehabt.  Als  sie  15  und  ein 
halbes  Jahr  alt  war,  bemerkte  sie  zum  ersten  Male  in  der 
rechten  Leistenbeuge  ein  Knötchen  von  Kirschengrösse, 
welches  damals  noch  keine  Schmerzen  veranlasste.  In  den 
letzten  zwei  Jahren  jedoch  wurde  dieser  Knoten  immer 
mehr  schmerzhaft,  gleichzeitig  bemerkte  Patientin  ein 
ebensolches  Gebilde  in  der  anderen  Leiste.  Endlich  wurde 
Patientin  infolge  dieser  steten  Schmerzen  arbeitsunfähig, 
sie  hatte  früher  in  einer  Druckerei  gearbeitet,  später  als 
Näherin.  Ein  von  ihr  konsultierter  Arzt  hatte  ihr  eine 
Salbe  zum  Einreiben  verschrieben,  zugleich  aber  ihr  die 
Weisung  gegeben,  sie  solle  niemanden  etwas  davon  sagen, 
„dali  sie  solche  Dinger  im  Leibe  habe!"  Der  All- 
gemeinzustand der  Patientin  wurde  in  der  Folge  immer 
schlimmer,  Erbrechen  trat  hinzu,  sehr  hartnäckige  Ver- 
stopfung etc.,  endlich  gestand  die  Tochter  der  Mutter 
ihr  Leiden  ein  und  die  letztere  veranlasste  die  Auf- 
nahme in  die  Tübinger  Klinik  behufs  Entfernung  jener 
schmerzhaften  Gebilde  in  den  Leisten.  Das  Mädchen  ist 
von  großem  Wuchs,  168  Centimeter,  aber  so  abgemagert, 
dal)  es  nur  84  Pfund  wiegt.  Knochen  und  Muskelsystem 
schwach  entwickelt,  zart,  Haupthaar  lang,  keine  Spur  von 
männlicher  Gesichtsbehaarung,  Kehlkopf  vorspringend, 
männlich,  Brüste  gut  entwickelt,  Becken  weiblich  wie 
das  Höntgenskiagramm  erwies.  Jederseits  in  der  Leisten- 
gegend ein  walzenförmiges  elastisches  Gebilde,  verschieblich 
vom  Leistenkanal  zur  grossen  Sehamlefze  herabreichend. 
Diese  Gebilde  machen  den  Eindruck  von  Hoden  und 
Nebenhoden;  die  linksseitigen  Gebilde  sind  grösser  als 
die  rechtsseitigen.  Schambehaarung  weiblich,  grosse  und 
kleine  Schamlippen  existieren.  Die  linke  grosse  Scham- 
lippe ist  11  Centimeter  lang,  die  rechte  nur  b\  Das  linke 


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—    222  — 


labiura  pudendi  majus,  pigmentirt,  macht  wegen  seiner 
runzeligen  Oberfläche  mehr  den  Eindruck  einer  Scrotal- 
hälfte.  Die  Gebilde  in  den  Leistengegenden  lassen  sich 
aber  nicht  in  die  Bauchhöhle  hineindrängen.  Frenulum 
labiorum  vorhanden.  Die  kirschengrosse  Clitoris  erinnert 
an  einen  penis  fissus  rudimentarius.  Harnröhrenöffnung 
weiblich,  unterhalb  die  Öffnung  der  Vagina  von  einem 
Hymenalsaume  umgeben.  Die  rudimentäre  Vagina 
läßt  eine  Sonde  vier  Zentimeter  tief  eindringen.  Per  rectum 
tastete  man  selbst  unter  Narkose  weder  einen  Uterus 
noch  dessen  Anhänge.  Döderlein  vermutete  männliches 
Scheinzwittertum  und  entfernte  wegen  deren  Schmerzhaf- 
tigkeit  die  in  den  Leistengegenden  liegenden  Gebilde  am 
13.  Januar  1901  mit  dem  Ligamentum  Poupartii  parallel 
verlaufenden  Hautschnitten  von  je  5  Centimeter  Länge. 
Nach  Durchschneidung  der  Hautdecken  und  der  Fascie, 
der  Mm.  obliqui  externi  abdominis,  eröffnete  das  Messer 
jederseits  eine  Höhle,  die  nicht  mit  der  Bauchhöhle 
kommunicierte,  die  Höhle  der  Tunica  vaginalis.  Man 
fand  jederseits  Hoden  uud  Nebenhoden  und  Vas  deferens. 
Der  Samenstrang  wurde  unterhalb  der  Oeffnung  des 
Leistenkanals  jederseits  durchtrennt  und  der  Stumpf  in 
den  Leistenkanal  in  der  Wunde  versenkt  unter  Vernähung 
mit  dem  Muskelrande,  die  Hautdecken  wurden  darüber 
geschlossen.  Prima  reunio  vulnerum.  Die  Kranke,  ein 
kastrierter  männlicher  Scheinzwitter,  irrtümlich  als  Mädchen 
erzogen,  verließ  nach  einem  Monate,  von  ihren  Beschwer- 
den befreit,  die  Klinik,  um  nunmehr  als  Mädchen  weiter  zu 
gelten.  Der  linke  Hoden  war  6  Centimeter  lang  und  2 
breit,  anderthalb  dick,  der  rechtsseitige  Hoden  etwas 
kleiner.  Auf  dem  Durchschnitte  typischer  Hodenbau 
sichtbar;  man  fand  aber  in  der  ausgepressten  Flüssig- 
keit keine  Spermazoiden  aber  Wucherung  des  interstitiellen 
Gewebes  an  einen  rudimentären  Hoden  erinnernd.  Man 
fand  ferner  Spermatogonien,  Spermatocyten,  cylindrisches 


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—    223  — 


Epithel  des  Sanienausführungsganges  etc.  Nirgends  eine 
Spur  von  Ovarialgewebe  in  den  exstirpierten  Gebilden, 
deren  Schnitte  von  Professor  Heiden  haiu  geprüft  wurden. 
Die  Maße  der  einzelnen  Knochen  mit  der  Tabelle  von 
Rauber  verglichen,  ergaben  männliche  Knochenmaße.  Die 
Geschlechtsdrüsen  und  die  Maße  der  Knochen  waren  in 
diesem  Falle  männlich,  alle  sekundären  Geschlechts- 
charaktere aber  weiblich  mit  Ausnahme  des  Kehlkopfes 
und  der  Stimme.  Der  Charakter  war  weiblich,  sympatisch. 
Die  Beschwerden  waren  oftenbar  die  Folgen  eines  ver- 
späteten Descensus  testiculorum.  Soweit  eine  Ejakulation 
möglich  war,  hätte  dieses  Individuum  eventuell  ein  weib- 
liches Individuum  befruchten  können. 

18)  August  Martin  [siehe:  Kochenburger: 
„Ein  Fall  von  H ermaph roditismus  transversus 
vir i Iis*  Zeitschrift  für  Geburtshülfe  und  Gynäkologie. 
Vol.  XXVI.  pg.  73  und  Zentralblatt  für  Gynäkologie 
1892  pg  9S3J  operierte  eine  33jährige,  seit  10  Jahren 
verheiratete  Frau,  welche  ihn  wegen  Schmerzen  in  den 
Leistengegenden  konsultiert  hatte.  Die  Schmerzen  waren 
zunächst  linkerseits  aufgetreten  und  zwar  im  Anschluß 
an  einen  Fall  im  12.  Lebensjahre.  Niemals  Regel,  nur 
ein  einziges  Mal  im  25.  Lebensjahre  eine  kleine  Blutung. 
Coitus  stets  schmerzhaft  und  ohne  die  geringste  Annehm- 
lichkeit für  die  Patientin.  Allgemeinaussehen  ganz  weib- 
lich. Clitoris  normal,  Vagina  5  Cent,  lang,  blindsack- 
förmig endend.  Per  rectum  tastete  man  ein  elastisches 
Gebilde  von  Haselnußgröße,  welches  aber  in  keiner  Ver- 
bindung mit  der  Vagina  zu  stehen  schien.  In  jeder 
Schamlefze  lag  ein  sehr  druckempfindliches  Gebilde. 
Martin  sah  diese  Gebilde  für  ektopische  Ovarien  an 
und  entfernte  sie  operativ  mit  jederseitigem  Leistenschnitte 
am  24.  September  1892.  Das  Mikroskop  erst  erwies, 
daß  er  unbewußt  Hoden  entfernt  hatte,  daß  also  diese 
verheiratete  Frau  ein  männlicher  Scheinzwitter  war.  Keine 


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—    224  - 


Spermatogenese  konstatiert  in  den  herausgeschnittenen 
Hoden. 

Martin  glaubte  auch  nach  der  Operation  zunächst 
ektopische  Ovarien  exstirpiert  zu  haben  und  zwar 
follikelhaltige,  ja,  er  glaubte  sogar  an  einer  Stelle  ein 
corpus  luteum  gesehen  zu  haben;  erst  das  Mikroskop 
wies  nach,  daß  sowohl  die  klinische  Präsurnptivdiagnose 
falsch  war  als  auch  die  makroskopische  Beurteilung  des 
anatomischen  Charakters  der  exstirpierten  Geschlechts- 
drüsen. 

19)  A.  Martin  |siehe:  Anton  Hengge:  „Pseudo- 
hermaphroditismus  und  secundäre  Geschlechtscharaktere, 
ferner  drei  neue  Beobachtungen  von  Pseudohermaphro- 
ditismus  beim  Menschen"]  operirte  die  19jährige  Martha 
W.,  Hausmädchen  dem  Berufe  nach.  Die  Eltern  hatten 
(3  Kinder,  von  denen  die  vier  mittleren  normal  gebildet 
waren,  zwei  Töchter  aber,  die  älteste  jetzt  32  Jahre  alt, 
und  die  jüngste  jetzt  19  Jahre  alt,  mißgestaltet.  Der  Vater 
starb  an  Starrkrampf.  In  der  Familie  bisher  keinerlei 
Mißbildungen  verzeichnet.  Von  den  drei  Schwestern 
sind  drei  verheiratet  und  haben  Kinder,  ein  Bruder, 
verheiratet  hat  ebenfalls  Nachkommenschaft.  Martha  VV. 
ist  von  sehr  hohem  Wüchse  (178  Centimeter)  und  wurde 
von  der  Krankenkasse  am  28.  I.  1902  in  die  Greifs  walder 
Klinik  gesandt.  Seit  dem  14.  Lebensjahre  hatte  sie  alle 
4  Wochen  1  Tag  Kopfschmerzen,  Schwindel,  Brechreiz 
und  bis  Oktober  1901  bei  diesen  Anfällen  regelmäßig 
etwas  Nasenbluten.  Seit  vier  Monaten  treten  diese  Anfälle 
alle  8  Tage  auf  und  sind  so  sehr  quälend,  daß  Martha 
nicht  mehr  arbeitsfähig  war.  Das  Nasenbluten  hat  sich 
seit  vier  Monaten  verloren.  Niemals  menstruelle  Blutung. 
Patientin  hat  keine  andere  Krankheit  bisher  durchgemacht 
als  Bleichsucht  im  15.  Jahre. 

Das  Gesicht  rötet  sich  auffallend  leicht.  Mammae 
gut  entwickelt,  aber  hängend.    Wenig  Fettgewebe,  aber 


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—    225  — 


viel  Drüseugewebe  darin.  Auffallend  ist,  daß  die  Be- 
haarung des  Möns  Veneris  und  in  den  Achselhöhlen  nur 
aus  wenigen  blonden  Haaren  besteht.  Die  Besichtigung 
der  äußeren  Genitalien  erinnert 
an  das  Bild  einer  doppelseitigen 
Leistenhernie,  wobei  die  rechts- 
seitige etwas  größer  ist  als  die 
linksseitige,  sonst  ist  die  Bildung 
der  Schani  eine  echt  weibliche. 
Möns  Veneris  fettarm,  Clitoris 
absolut  nicht  vergrößert,  ihre 
Glans  kaum  etwas  entblößt.  Die 
Vulv  aerscheint  geschlossen,  die 
kleinen  Schamlippen  enden  nach 
unten  zu  an  dem  auffallend 
kurzen  Damm.  Das  rechte 
Labium  majus  erscheint  als 
hühnereigroßer  Wulst,  in  dem 
man  einen  pflaumengroßen 
elastischen  ovalen  Körper  tastet, 
dem  von  untenher  ein  zweites 
festeres  Gebilde  von  Kastanien- 
größe anhaftet:  von  diesen  Ge- 
bilden, die  gleich  gut  nach  oben 
und  nach  unten  zu  verschieblich 
sind,  zieht  ein  etwa  zwei  Milli- 
meter dicker  ,  Strang  in  den 
Leistenkanal  hinauf.    Das  linke 

Labium  majus  kleiner,  nicht  so  „. 

..        ...        .       „         Fi£.  1.   19  lahnges  Mädchen, 

vorgewölbt,  linkerseits  findet  8ub  iierni0tomia  als  männ- 
sich  dicht  unterhalb  der  Mün-  licher  Scheinzwitter  erkannt, 
dung    des    Leistenkanales  ein 

wenig  unter  der  Haut  verschiebliches,  unebenes  Gebilde 
von  der  Größe  einer  welschen  Xuß.  Auch  hier  läßt  sich 
ein  gegen  den  Leistenkanal  hin  verlaufender  Strang  tasten, 

Jahrbuch  V.  lä 


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—    22«)  — 


wenn  mau  diese  Gebilde  etwas  nach  unten  horabdräugt. 
Die  beiden  Gebilde  rechts  und  links  sind  mäßig  druck- 
empfindlich. Vestibulum  vaginae  normal,  sowie  auch  die 
Urethralmündung,  Hymen  und  die  Vaginalöffnung; 
Hymen  nicht  eingerissen,  aber  deflorirt;  die  Scheide  lätft 
zwei  Finger  zugleich  ein  und  ist  in  der  Höhe  von  einigen 


Fig.  2.   ÄuUore  Genitalien  oines  1<J  jiibr.  als  Mädchen  erzogenen 
männlichen  Schein/, witters.    Beobachtung  von  A.  Martin. 

Centimetern  blind  geschlossen ;  man  fühlt  im  Scheidengrundu 
etwas  wie  eine  Art  querverlaufender  Raphe.  Mündungen 
von  Vasa  deferentia  nicht  aufzufinden.  Per  rectum  tastet 
man  sub  narcosi  nur  einen  Strang  von  der  Dicke  eines 
dünnen  Bleistiftes,  etwa  zwei  Zentimeter  über  dem 
Scheidengrunde.     |  Siehe  Fig.  1  u.  2.] 


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—    227  — 

Nach  diesem  merkwürdigen  Befunde  wurde  auch 
die  allere  Schwester  untersucht:  32  Jahre  alt  und  seit 
9  Jahren  kinderlos  verheiratet  und  niemals  menstruirt. 
Allgemeinaussehen  und  Entwickelung  der  Geschlechts- 
organe fast  genau  so  wie  bei  der  jüngeren  Schwester. 
Kräftiger  Knochenbau;  Körperhöhe  169  Zentimeter; 
schlechter  Ernährungszustand.  Im  rechten  Labium  majus 
Gebilde  getastet,  die  sich  genau  wie  Hode  und  Neben- 
hode  präsentieren,  links  liegt  ein  Gebilde  vor  der  Oeff- 
n  ung  des  Leistenkanales,  ist  aber  kleiner  als  das  entsprechende 
bei  der  jüngeren  Schwester  und  läßt  sich  iu  den  Leisten- 
kanal hineinschieben.  Scheide  in  der  Höhe  blind  geschlossen ; 
im  Scheidengrunde  etwas  wie  eine  schräg  verlaufene  Raphe 
zu  tasten;  keine  inneren  Geschlechtsorgane  tastbar.  Die 
ältere  Schwester  klagt  nur  ab  und  zu  über  Kopfschmerzen 
und  Schwindel,  ist  sonst  ganz  gesund.  Sie  übt  den 
Beischlaf  nicht  gerade  oft,  aber  regelmäßig  aus  und 
eigentlich  mehr  dem  Manne  zu  Gefallen  als  um  des  eigenen 
Vergnügens  willen,  doch  empfindet  auch  sie  manchmal 
dabei  Befriedigung  und  sexuelle  Wollust.  Irgend  welche 
Sekretausscheidungen  niemals  bemerkt.  Wegen  andau- 
ernder Allgemeinbeschwerden  und  großer  lokaler  Schmerz- 
empfindlichkeit der  in  den  Labien  enthaltenen  Ge- 
bilde entfernte  A.  Martin  dieselben  operativ  bei 
der  jüngeren  Schwester.  Nach  Längsspaltung  des  rechten 
Labium  entfernte  er  dessen  Inhalt  nach  Unterbin- 
dung und  Durchschneidung  jenes  Stranges  unterhalb 
des  Leistenkanales:  Etagennaht  der  Wunde:  prima  reunio; 
ähnlich  war  die  Operation  linkerseits.  Die  entfernten 
Gebilde  erwiesen  sich  unter  dem  Mikroskop  als  Hoden 
und  Nebenhoden,  es  wurde  aber  keine  Spermatogenese 
konstatiert.  Diese  Organe  waren  atrophisch.  Linkerseits 
fand  sich  eine  Cyste  im  Kopfe  des  Nebenhodens,  sein 
Schwanz  war  fibrös  entartet.  Am  21.  II.  wurde  Martha  W. 
geheilt  entlassen.     Während  des   Aufenthaltes   in  der 

15* 


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—    228  — 


Klinik  traten  die  Wallungeu  nach  dem  Kopfe  noch 
wiederholt  auf,  dagegen  stellten  sich  die  sonstigen 
Allgemeinbeschwerden  nicht  mehr  ein.  Rechterseits  fand 
man  am  Präparate  auch  ein  Stück  eines  Yas  deferens. 
Ks  ergab  sich  also,  daß  Martha  W.  ein  männlicher 
Scheinzwitter  war;  per  analogiam  wurde  auch  die  ältere 
verheiratete  Schwester  jetzt  für  einen  männlichen  Schein- 
zwitter angesehen;  sie  wurde  nicht  operiert,  da  keine 
Beschwerden  entsprechender  Art  vorlagen.  Trotz  Gegen- 
wart von  Hoden  waren  alle  secundären  Geschlecht «- 
charaktere  bei  beiden  Schwestern  rein  weibliche,  auch 
die  Stimme  war  weiblich,  es  fehlte  jede  Spur  männlicher 
Gesichtsbehaarung.  Beide  hielten  sich  für  Frauen  und 
hatten  keinen  ausgesprochenen  Begattungstrieb  und  wohl 
auch  kein  normales  Wollustgefühl,  doch  ließ  sich  bei  der 
älteren  Schwester  durch  Reibung  der  Clitoris  Wollust- 
gefühl wecken;  die  jüngere  Schwester  machte  dabei 
unregelmäßige  Angaben,  zeigte  aber  ein  gut  ausgeprägtes 
Schamgefühl.  Eigentümlich  sind  bei  der  jüngeren  Schwester 
die  allmonatlich  auftretenden  speeifisch  weiblichen  Be- 
schwerden: Kopfschmerz,  Schwindel,  Wallungen.  Heugge 
erklärt  sich  diese  Beschwerden  als  auf  suggestivem  Wege 
entstanden.  Martha  lebte  mit  einer  vier  Jahre  älteren 
noch  unverheirateten  Schwester  längere  Zeit  ständig 
zusammen.  Jene  Schwester  litt  au  Dysmenorrhoe  und 
klagte  dabei  alle  vier  Wochen  über  starke  Molimina, 
Unterleibsschmerzen  etc.  Die  jüngere  Schwester  erwartete, 
sie  werde  auch  die  Regel  bekommen  und  fing  an  ähnliche 
Tormina  zu  empfinden,  indem  ihre  Gedanken  ständig 
darauf  gerichtet  waren,  daß  die  Periode  endlich  kommen 
werde.  Mir  erscheint  diese  suggestive  Deutung  etwas 
gewagt:  weil  die  ältere  Schwester  dysmenorrhoische 
Beschwerden  angab,  die  jüngere  Schwester  stets  Zeugin 
dieser  Leiden  war,  soll  sie  selbst  ähnliche  Beschwerden 
empfunden  haben !  1 1  e n  gge  macht  unter  anderen  folgende 


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—    229  — 


Schlußfolgerung:  »Die  operative  Entfernung  der  Ge- 
schlechtsdrüsen bei  Scheinzwittern  ist  nur  dann  statthaft, 
wenn  durch  dieselben  starke  Beschwerden  verursacht 
werden  und  zugleich  eine  volle  geschlechtliche  Funktion 
dieser  Drüsen  durch  den  Mangel  der  entsprechenden 
Begattungsorgane  unmöglich  gemacht  wird."  —  In  dem 
Aufsatze  von  Hengge  fehlt  eine  Angabe,  die  mich 
interessieren  würde.  Ich  wünschte  zu  wissen,  ob  Professor 
Mart  in  zur  Operation  schritt  mit  der  Überzeugung,  daß 
jene  Körperchen  Hoden  seien  oder  ob  man  an  ektopische 
Ovarien  gedacht  hatte,  ob  die  Diagnose  der  erreur 
de  sexe  schon  vor  der  Operation  gestellt  war,  oder  erst 
nach  der  Operation,  bez.  nach  der  mikroskopischen  Unter- 
suchung der  entfernten  Gebilde? 

20)  Cristopher  Mar  t in  [The British Gynaecological 
Journal.  Part.  37.  May  1894.  pg  35j  trug  am  8.  III.  1894 
in  der  Britischen  Gynäkologischen  Gesellschaft  einen  Fall 
vor,  welcher  beweist,  wie  ungemein  schwierig  unter  Um- 
ständen eine  richtige  Geschleohtsbestimmung  sein  kann. 
Ein  20  jähriges  Kindermädchen,  niemals  menstruiert,  hatte 
sich  vor  12  Monaten  wegen  rechtsseitigen  Leistenbruches 
einer  Radikaloperation  unterzogen.  Die  Operation  war 
mit  bestem  Erfolge  von  einem  anderen  Arzte  gemacht 
worden.  Jener  Arzt  fand  in  dem  Bruche  ein  Gebilde, 
welches  er  für  ein  ektopisches  Ovarium  ansah  und  in 
die  Bauchhöhle  zurückstieß.  Im  Januar  1894  war  nun 
auch  linkerseits  ein  Leistenbruch  entstanden.  Diesmal  kam 
die  Patientin  nicht  zu  dem  früheren  Arzte,  sondern  zu 
C  h  r  i  st  o  p  h  e  r  Martin  und  zwar  sowohl  wegen  Schmerzen 
in  der  Leiste  als  auch  beunruhigt  durch  die  bisherige 
Amenorrhoe.  Gesichtsausdruck,  Stimme  und  Brüste  weib- 
lich, auch  das  Allgemeinaussehen  weiblich,  keine  Spur 
männlicher  Behaarung  im  Gesichte.  Möns  Veneris  aus- 
gesprochen, aber  ohne  Spur  von  Behaarung,  ebenso  die 
ganze  Schamgegend  unbehaart.    In  der  rechten  Leisten- 


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—    230  — 


gegend  sieht  man  eine  postoperative  Narbe  ohne  Spur. 
Reeidiv  eines  Bruches.  Linkerseits  in  der  Leistengegend 
ein  ovaler  nicht  sehr  harter  sehr  druckempfindlicher 
Tumor.  Dieser  Tumor  lag  direkt  vor  der  äußeren  Öffnung 
des  Leistenkanales,  war  irreponibel  und  schien  ein  solider 
Tumor  zu  sein.  Das  äußere  Genitale  dieser  Person  sah 
genau  aus  wie  dasjenige  einer  Nullipara,  Große  und 
kleine  Schamlippen  regelrecht  gebildet,  Clitoris  von  natür- 
licher Größe,  keineswegs  einem  Penis  ähnlich!  Harnröhren- 
Öffnung  weiblich.  Die  Scheide  ließ  nur  eine  Fingerkuppe 
ein,  indem  sie  in  der  Höhe  von  dreiviertel  Zoll  blind 
abschloß.  Keine  Spur  von  Uterus  zu  tasten.  Harnröhre 
anderthalb  Zoll  lang,  ohne  Spur  einer  Prostata.  Zwischen 
Finger  und  Katheter  in  Vesica  tastete  man  keinerlei  Ge- 
bilde, die  als  Uterus  oder  Prostata  gedeutet  werden 
kounten.  Martin  entschloß  sich  zur  Exstirpation  des 
Leistentumors  wegen  der  großen  durch  seine  Gegenwart 
verursachten  Schmerzen.  Der  Leistenschnitt  wurde  ge- 
macht; man  fand  einen  serösen  Sack,  der  ein  solides  Ge- 
bilde enthielt,  einen  ovalen  Körper,  man  fand  den  Hoden 
mit  seiner  Tuuica  vaginalis  testis.  Ein  deutlich  sichtbares 
Gubernaculum  Hunteri  verlor  sich  unterhalb  in  den 
Geweben  der  Schamlefze.  Nach  Isolierung  entfernte 
Martin  den  Hoden.  Der  durch  den  Leistenkanal  in 
die  Bauchhöhle  eingeführte  Finger  tastete  in  derselben 
keine  Spur  eines  Uterus,  konnte  aber  den  Verlauf  eines 
Vas  deferens  bis  an  die  Seiten  wand  der  Harnblase  ver- 
folgen. Dieser  Verlauf  ließ  sich  leicht  kontrollieren,  wenn 
man  den  Samenstrang  etwas  nach  außen  zu  anzog.  Die 
Operation  wurde  radikal  vollzogen,  die  äußere  Wunde 
vernäht.  Genesung.  Professor  Allan  fand  bei  mikro- 
skopischer Untersuchung  in  den  entfernten  Gebilden  den 
Hoden,  Nebenhoden  und  Samenstrang,  die  Tunica  vaginalis 
testis  und  Tunica  albuginea,  Samenkanälchen  von  ver- 
schiedenen Entwickelungsgraden  und  in  einigen  Tubuli 


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—    231  - 


vollständig  ausgebildete  Spermatozoiden.  Interessant  war 
besonders,  daß  eine  ältere  Schwester  dieses  Mädchens 
sich  gleichfalls  als  männlicher  Hypospade  erwies  mit  Hypo- 
spadiasis  penoscrotalis,  descensus  retardatus  testiculorum, 
rudimentärer  Scheide  bei  allgemeinem  weiblichem  Körper- 
aussehen, kindlich  gebildeten  Brüsten  und  absoluter 
Amenorrhoe,  völlig  unbehaarten  Genitalien  und  blind 
endender  Scheide.  Diese  Schwester  war  zwei  Jahre  älter. 
Der  Vater  dieser  beiden  Mädchen  war  zur  Zeit  der 
Schwängerungen  seiner  Frau  geisteskrank  .  .  Die  von 
Christopher  Martin  vollzogene  Operation  wies  also 
eine  „erreur  de  sexe"  nach  und  ist  diese  Beobachtung 
besonders  dadurch  interessant,  daß  der  Arzt,  welcher  die 
erste  Bruchoperation  hier  vollzogen  hatte,  sogar  nach 
Bloßlegung  des  Hodens  ihn  doch  noch  für  ein  ektopisches 
Ovariura  gehalten  hatte,  welches  er  in  die  Bauchhöhle 
zurückstieß.  —  Ein  Fall,  der  wie  aus  meinem  heutigen 
Beitrage  ersichtlich  ist,  durchaus  nicht  einzig  dasteht 
und  zur  größten  Zurückhaltung  in  der  sofortigen  Be- 
urteilung des  anatomischen  Charakters  der  exstirpierten 
Gebilde  sub  operatione  auffordert! 

|Paul  Munde*  hatte  in  einem  eigenen  Falle  der 
Köchin  Marie  O'  Xeill  eine  diagnostische  Incision 
der  Schamlefzen  vorgeschlagen  um  festzustellen,  ob  die 
in  ihnen  getasteten  fremden  Gebilde  Ovarien  oder  Hoden 
seien,  indem  er  Hoden  vermutete.  Patientin  ging  jedoch 
auf  diese  Operation  nicht  ein.  Sie  war  niemals  menstruiert 
gewesen,  und  hatte  einen  beiderseitigen  Leistenbruch. 
Nach  Reduction  eines  jeden  Bruches  tastete  man  jederseits 
Hoden,  Nebenhoden  und  Samenstrang.  Hymen  intakt* 
Scheide  in  der  Höhe  von  8  Zentimeter  blind  geschlossen, 
keine  Spur  von  Uterus  getastet.  —  Vulva  normal,  Clitoris 
nicht  vergrößert.] 

21)  Pech  („Auswahl  einiger  seltener  und  lehrreicher 
Fälle,  beobachtet  in  der  chirurgischen  Klinik  der  chirurg.- 


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—    232  — 


med.  Akademie  zu  Dresden*  —  Dresden  1858)  Maria 
Rosina  Göttlich,  der  spätere  Gottlieb  Göttlich, 
machte  seiner  Zeit  in  ganz  Europa  viel  Aufsehen  und 
wurde  deshalb  vielfach  beschrieben.  Da  ich  im  vorigen 
Jahrgange  dieses  Jahrbuches  die  bezügliche  Krauken- 
geschichte in  extenso  berichtet  habe,  führe  ich  hier  nur 
die  heute  in  Frage  kommenden  Einzelheiten  an.  Maria 
Rosina  wurde  am  6.  März  1798  in  Görlitz  geboren  und 
als  Mädchen  getauft.  Bereits  im  6.  Lebensjahre  fand  man 
einen  Leistenbruch  von  der  Größe  einer  Nuß  rechterseits. 
Das  Kind  vertrug  ein  ihm  verordnetes  Bruchband  absolut 
nicht  und  riß  es  stets  wieder  herab,  sodaß  die  Mutter 
statt  desselben  eine  Leinenbinde  anfertigte.  Im  IG.  Jahre 
war  der  Bruch  hühnereigroß  geworden,  gleichzeitig  hatte 
sich  schon  damals  ein  stark  ausgesprochener  Geschlechts- 
trieb eingestellt  und  zwar  als  Neigung  zum  Geschlechts- 
verkehr mit  Männern.  Vom  16. — 18.  Jahre  nahmen  die 
Brüste  ganz  bedeutend  an  Umfang  zu,  später  trat  wieder 
Schwund  ein.  Rosina  kohabitierte  schon  im  IG.  Jahre 
lebhaft  mit  Männern,  wobei  die  allmälig  bedeutend 
erweiterte  Harnröhre  die  Stelle  der  fehlenden  Scheide 
vertrat.  Gleichzeitig  rühmte  sich  das  Mädchen,  daß  es 
sowohl  mit  Männern  als  auch  mit  Frauen  kohabitieren 
könne,  ziehe  es  jedoch  vor  mit  Männern  zu  tun  zu  haben, 
weil  es  Frauen  gegenüber  für  sie  beschämend  sei,  ein  so 
kleines  „ Organ "  zu  haben.  Im  20.  Lebensjahre  entstand 
ein  Leistenbruch  links.  Für  den  rechtsseitigen  Bruch 
empfahl  abermals  ein  Arzt  ein  Bruchband.  Vom  16. — 24. 
Jahre  hatte  Rosine  alle  Monate  etwa  drei  Tage  lange 
diverse  Beschwerden  nach  Art  der  Tormina  meustrualia, 
allgemeines  Mißbehagen,  empfand  jedoch  während  dieser 
Zeit  keinerlei  Schmerzen  in  den  Leistenbrüchen,  ebenso- 
wenig schwollen  in  jenen  Tage  die  Brüche  an,  woraus 
man  vielleicht  auf  ektopische  Ovarien  hätte  schließen 
können.    Niemals    war    die    Periode  eingetreten,  wohl 


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233  — 


aber  öfters  Nasenbluten.  Rosine  huldigte  viele  Janre 
lang  der  freien  Liebe  und  erkrankte  im  28.  Jahre  an 
einem  Ulcus  molle;  eine  große  Narbe  hinterblieb  nach 
einem  eröffneten  Bubo  inguinalis.  Damals  will  Rosine 
zum  ersten  Male  Blutspuren  auf  ihrer  Wäsche  nach  einem 
Beischlafe  mit  einem  Manne  bemerkt  haben.  Der  links- 
seitige Bruch  begann  vom  28.  Jahre  an  sich  so  zu  ver- 
größern, daß  er  im  32.  Jahre  beinahe  zweifaustgroß  war. 
Rosine  diente  damals  als  Dienstmädchen,  hatte  aber 
jetzt  so  starke  Bruchbeschwerden,  daß  sie  den  Dienst 
aufgeben  und  in  das  Hospital  eintreten  mußte.  Man 
vollzog  in  Dresden  linkerseits  die  Bruchoperation,  fand 
jedoch  weder  Netz  noch  Darm  im  Bruche  vor,  sondern 
nur  eine  Hydrocele  und  konstatierte  dabei  das  Vorhanden- 
sein eines  Hodens  in  dem  vermeintlichen  Bruche,  also 
„erreur  de  sexe*.  Rosine  verlangte  nun  durchaus 
die  Ausführung  der  Operation  recht erseits:  die  Aerzte 
verweigerten  jedoch  diese  Operation,  weil  keine  Indikation 
dazu  vorliege.  Rosine  nahm  nun  ihren  Dienst  wieder 
auf  und  ergab  sich  auch  von  Neuem  wieder  der  Prosti- 
tution. Im  33.  Jahre  trat  sie  wegen  Verstauchung  eines 
Beines  abermals  iu  das  Dresdener  Hospital  ein  und 
machte  jetzt  hier  eine  autisyphilitische  Kur  durch,  später 
ging  sie  in  ein  Hospital  nach  Leipzig,  endlich  nach  Halle 
mit  der  Bitte,  man  solle  den  rechtsseitigen  Bruch  operieren, 
wurde  aber  Uberall  abgewiesen.  Von  1832  bis  1848  reiste 
nun  Rosine  in  Frankreich,  Deutschland  und  England 
umher  und  zeigte  sich  für  Geld  als  Hermaphrodit  bis 
sie  schließlich  im  59.  Jahre  infolge  Einklemmung  des 
nicht  operierten  rechtsseitigen  Bruches  starb.  Das  Allge- 
meinaussehen dieses  männlichen  Hypospaden  war  ein  rein 
männliches,  auch  die  Gesichtsbehaarung,  nur  war  das 
Haupthaar  weiblich  gekämmt  Andromastie  mit  behaarten 
Biustwarzen,  der  hypospadische  Penis  war  anderthalb 
Zoll  lang,  mit  faltiger,  gerunzelter  Vorhaut.  In  der  linken 


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Hälfte  des  gespaltenen  Scrotum  fand  man  bei  der  Sektion 
Hoden,  Nebenhoden  und  Samenstrang,  rechterseits  die 
gleichen  Gebilde,  ferner  einerseits  einen  Leistenbruch 
mit  Darminhalt.  Hodensack  sehr  spärlich  behaart.  Die 
Scheide,  an  der  Mündung  von  einem  harten  Ringe  umgeben, 
endete  in  der  Höhe  von  sechs  und  einem  halben  Centi- 
raeter  blind.  Nur  auf  der  hinteren  Scheiden  wand  fand 
man  Querfaltung  ihrer  Schleimhaut,  auf  der  vorderen 
aber  nicht.  Pubes  weiblich  behaart;  es  scheint,  daß  für 
den  Beischlaf  ausschließlich  die  Harnröhre  gedient  hat, 
vielleicht  war  das  als  Vagina  angesprochene  Gebilde  eine 
durch  langjährigen  Beischlaf  künstlich  geschaffene  kanal- 
artige Depression,  Einstülpung  der  Gewebe,  wie  dies  in 
analogen  Fällen  schon  öfters  beobachtet  wurde.  In  den 
verschiedenen  Beschreibungen  der  Rosine,  des  späteren 
Gottlieb  Göttlich,  finden  sich  so  viele  Widersprüche, 
daß  es  schwer  ist  zu  sagen,  was  der  Wahrheit  am  nächsten 
kam.  Der  rechte  Hoden  war  bei  dem  krvptorchistisch 
geborenen  Individuum  im  6.  Jahre  herabgetreten,  der 
linke  im  20.  erst.  Nach  Eröffnung  der  Bauchhöhle  fand 
man  nichts  von  Uterus,  inneren  weiblichen  Genitalien, 
sondern  nur  eine  leere  Excavatio  rectovesicalis.  Man  fand 
auch  keine  Samenblasen;  die  ektatischen  Vasa  deferentia 
öffneten  sich  in  die  klaffenden  Ductus  ejaculatorii  (?—  N.). 
Marie  Rosine  hatte  wie  gesagt  einen  sehr  früh  schon 
aufgetretenen  und  sehr  stark  ausgesprochenen  Geschlechts- 
drang.  Trotzdem  sie  Erektionen  und  Ejakulationen  hatte, 
verkehrte  sie  viel  lieber  geschlechtlich  mit  Männern  als 
mit  Frauen.  Das  geschlechtliche  Empfinden  war  also 
homosexuell.  {Bezüglich  Einzelheiten  und  Abbildung 
siehe  nieinen  Aufsatz  in  vorigem  Jahrgange  dieses 
Jahrbuches:  Gruppe  VI  Fall  21  und  Figur  40  daselbst.] 
22)  Philip pi  [Note  sur  uu  cas  d'Hermaphrodisme 
apparent,  ectopie  testiculaire,  castration  double  —  Union 
Medicale  du  Canadu.    Montreal  189-t  No.  4G  —  Referat: 


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Zentralblatt  für  Gynäkologie  1894  No.  47  pg.  1212].  Ein 
2^-jähriges  nie  raenstruiertes  Mädchen  wandte  sich  an 
Philippi  wegen  Schmerzen  im  Leibe  und  den  Leisten. 
Schon  vor  10  Jahren  hatte  Patientin  einen  Tumor  in  der 
rechten  Leiste  bemerkt,  welcher  ihr  zeitweilig  Beschwerden 
gemacht  hatte  und  an  Grösse  und  Konsistenz  sehr  wech- 
selte. Gewöhnlich  war  der  Tumor  weich,  stellten  sich 
aber  Schmerzen  ein,  so  fühlte  er  sich  hart  an.  Gleich- 
zeitig wurde  dann  ein  Gefühl  von  schmerzhaftem  Zuge 
in  der  Leiste  empfunden.  Vor  einigen  Monaten  war  nun  ein 
ähnlicher  aber  kleinerer  Tumor  auch  linkerseits  erschienen. 
Diesen  Tumor  konnte  Patientin  eigenhändig  nach  oben  zu 
reponieren,  beim  Gehen  fiel  er  aber  sofort  vor  in  die  linke 
Schamlefze.  Seit  drei  Jahren  hatten  die  Schamlefzen  sich 
stark  vergrössert  und  strahlten  die  Schmerzen  auch  in 
den  Schenkel  und  die  Hüfte  aus.  Selbst  im  Bett  hatte 
die  Kranke  keine  Linderung  und  konnte  nicht  schlafen.  Es 
kamen  allgemeine  nervöse  Reizbarkeit,  Erbrechen  etc.  hinzu. 

Allgemeinaussehen,  Brüste  und  Stimme  weiblich, 
aber  Körperbau  sehr  kräftig.  Die  grossen  Schamlefzen, 
gut  entwickelt,  sind  in  ihrer  unteren  Hälfte  in  der  Aus- 
dehnung von  8  Centimern  miteinander  verwachsen,  sodaß 
der  Damm  ganz  auffallend  lang  erscheint,  dabei  5  Centi- 
meter  breit.  Die  kleinen  Schamlippen  sind  nur  in  ihrer 
unteren  Hälfte  entwickelt,  die  Clitoris  ausnehmend  groß. 
Die  Schamöftnung  ist  so  eng,  daß  sie  knapp  den  kleinen 
Finger  eintreten  läßt  und  zwar  nicht  tiefer  als  3  Centi- 
meter  weit.  Die  Hamröhrenöffnung  erscheint  verborgen 
unterhalb  einer  Schleimhautfalte  in  dem  Vestibulum 
vaginae.  Von  einem  Uterus  war  nichts  zu  tasten,  die 
in  der  Höhe  blindsackartig  abgeschlossene  Scheide  weist 
keine  Faltung  ihrer  Schleimhautwände  auf.  Der  in  der 
linken  Schamlefze  enthaltene  Tumor  läßt  sich  in  den 
Leistenkanal  hinein  und  in  die  Bauchhöhle  reponieren, 
er  bestand  aus  einer  oberen  elastischen  und  einer  unteren 


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weichen  Partie.  Dämpfung  bei  Perkussion.  Der  rechts- 
seitige gänseeigroße  Tumor  läßt  sich  bis  auf  den  Boden 
der  Schamlefze  herunterdrücken,  er  erscheint  elastisch 
und  wie  durch  eine  Einschnürungsfalte  in  zwei  Teile 
zerlegt,  sehr  druckempfindlich  bei  Berührung  und  nicht 
reponibel.  Philipp!  entfernte  zunächst  den  rechtsseitigen 
Tumor:  der  dicke  Bruchsack  wurde  reseciert.  Der  kleine 
Tumor  war  von  einer  hufeisenförmigen  durchsichtigen 
( 1yste  bedeckt  von  oben  her,  sein  Stiel  war  dick.  Schon  nach 
einem  Monate  kehrte  die  Patientin  zu  Philippi  zurück 
und  verlangte  nunmehr  auch  die  Entfernung  der  links- 
seitigen Geschwulst,  welche  ihr  jetzt  auch  lästig  falle. 
P.  fand  bei  der  Operation  einen  Tumor  von  der  gleichen 
Größe  wie  rechterseits  durch  eine  Art  Einschnürung  wie 
zweigeteilt;  die  obere  Hälfte  entsprach  dem  Nebenhoden, 
die  untere  dem  Hoden  mit  dessen  Tunica  albuginea. 
Auf  dem  Querschnitt  des  Präparates  sieht  man  den  Bau 
des  Hodens.  Das  Mikroskop  bestätigte  diese  Erkenntnis, 
wenn  auch  keine  Spermatozoiden  gefunden  wurden.  Es 
handelte  sich  also  hier  um  Hypospadie  des  Penis,  teil- 
weise Spaltung  der  Scrotum,  Vorhandensein  einer  rudi- 
mentär gebildeten  Vagina,  und  |Descensus  retardatus 
testiculorum,  bei  allgemeinem  weiblichen  Aussehen  und 
weiblichen  secundären  Geschlechtscharakteren,  wo  das 
Individuum  an  und  für  sich  auch  nicht  den  leisesten 
Verdacht  einer  „Erreurdesexe*  weckte.  Erst  das  Er- 
gebnis der  Operation  stellte  die  „Erreur  de  sexe"  fest. 

23)  Charles  T.  Poore  [siehe :  F.  S.  M a t h e w s : 
„A  male  Pseudo- Hermaphrodite" -The  Medical  Uecord 
27.  Mai  1809  pg.  704]  operierte  im  Januar  1902  ein 
zwölf  jähriges  Mädchen  und  entfernte  eine  angeblich  ent- 
zündete Leistendrüse.  Dieselbe  lag  linkerseits  dicht  vor 
der  äußeren  Otfnung  des  Leistenkanales.  Im  Jahre  1899, 
also  nach  sieben  Jahren,  wurde  diese  damals  exstirpierte 
Drüse  von  Mathews  mikroskopisch  untersucht  und  jetzt 


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• 


—    237  — 


in  der  Ärztlichen  Gesellschaft  demonstriert.  Die  Unter- 
suchung ergab,  daß  diese  Drüse  ein  Hoden  war.  Nicht 
ohne  große  Schwierigkeiten  gelang  es  Mathews,  dieses 
Mädchen  jetzt  aufzusuchen  und  die  Genehmigung  zu  einer 
Untersuchung  zu  erlangen. 

Die  äußeren  Genitalien  sahen  absolut  wie  die  nor- 
malen Geschlechtsteile  eines  Ii) jährigen  Mädchens  aus, 
es  fand  sich  aber  keine  Spur  von  Behaarung  der  Geschlechts- 
teile, eben  so  wenig  fand  sich  im  Gesicht  männliche  Be- 
haarung. Scheide  einen  und  ein  Viertel  Zoll  lang.  Keine 
Spur  von  Uterus  oder  Prostata  zu  tasten;  der  rechtsseitige 
Hoden  wurde  nicht  gefunden,  dürfte  also  wohl  in  der 
Bauchhöhle  liegen.  Hvpospadiasis  penoscrotalis  mit  ein- 
seitigem Kryptorchismus. 

24)  Porro  |siehe  D  ebi  err  e:  „L'Hermaphrodisme." 
Paris  1891  pg.  94)  vollzog  in  einem  Falle  zweifelhaften 
Geschlechtes  bei  einem  jungen  Mädchen  von  22  Jahren 
eine  diagnostische  Operation.  Allgemeinaussehen  absolut 
weiblich,  ebenso  das  Aussehen  der  Scham  bis  auf  zwei 
in  den  Schamlefzen  enthaltene  Gebilde,  welche  hart  waren 
und  dicht  unterhalb  der  äußeren  Öffnungen  der  Leisten- 
kanäle lagen.  Porro  schnitt  jede  Schamlefze  auf  und 
legte  Hoden  und  Nebenhoden  bloß.  Nach  zwei  Wochen 
verließ  das  bisherige  Fräulein  hochbeglückt  von  dem 
Ergebnis  dieser  Operation  in  männlichen  Kleidern  dieKlinik. 

25)  Pozzi  |„Sur  un  Pseudo-hermaphrodite  androgy- 
uoide:  Pretendue  femme  ayant  de  chaijue  cot«'  un  testi- 
cle,  un  epididyme  (ou  trompe*?)  kystitjue  et  une  corne 
uterine  rudimentaire ,  ä  gauche  formant  hernie  dans  le 
canal  inguinal.     Cure  radicale,  examen  microscopique", 

Acadämie  de  Mddecine,  28.  Juillet  189«»,  —  Annales 
des  maladies  des  organes  gonito-urinaires.  Jan  vier  1897 
Xo.  1.  pg.  <V2 — 74.  |  Das  Eigentümliche  dieser  Beobach- 
tung  liegt  darin,  daß  das  Allgemeinaussehen  der  Person, 


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die  secundären  Geschlechtscharaktere  durchweg  weiblich 
waren,  aber  ebenso  das  Aussehen'  der  Vulva  undfzwar 
ohne  die  sonst  bei  männlichen  Scheinzwittern  mit  peno- 
scrotaler  Hypospadie  so  auffallende  Disproportion  zwischen 
der  übergrossen  Clitoris  bei  sonst  in  Miniatur  angelegter 


Fig.  3.  Vulva  des  von  S.  Fozzi  operierten  SS  jährigen  männlichen 
Scheinzwitters  Marie  C.  ohne  Spur  von  GUtorishypertrophie  | Nymphen 

vorhanden  |. 

Vulva.  In  diesem  Falle  konnte  niemand  männliches 
Geschlecht  auch  nur  vermuten,  erst  das  Mikroskop  brachte 
Klarheit  in  die  Frage.  Die  SB-jährige  Stubenmagd 
Marie  C.  war  als  drittes  Kind  ihrer  Kitern  geboren 
worden.  Als  die  Mutter  sich  im  dritten  Monate  der 
Schwangerschaft  befand,  erschrak  sie  einmal  sehr,  als 


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sie  zufällig  davon  Zeuge  war,  „qu'  un  homme  fut  ecrasc". 
Von  jenem  Schreck  an  war  sie  ständig  krank.  Ein  Bruder 
von  Marie  C.  leidet  an  infantiler  Paralvsis,  sonst  ergab 
die  Anamnese  bezüglich  der  Familie  nichts  von  Belang. 
Marie  C.  war  bisher  niemals  ernstlich  krank  gewesen, 
im  zweiten  Lebensjahre  mußte  sie  ein  linksseitiges  Leisten- 
bruchband tragen.  Vom  12.  Jahre  an  oft  Nasenbluten, 
zuweilen  mehrmals  an  einem  Tage,  einmal  sogar  12-malig 
innerhalb  24  Stun-  y 
den;  diese  Blutun- 
gen wiederholten 
sich  niemals  länger 
als  zwei  Tage  nach 
der  Reihe,  sie  wie- 
derholten sich  aber 
allmonatlich  in  ge- 
wissen Zeitabstän- 
den. Diese  Blutun- 
gen wurden  begleitet 
von  Schmerzen  in 
der  Lendengegend, 
dem  Unterleibe  und 
den  Beinen,  dem  Ge- 
fühl von  Hitze, 
Atemnot  und  Kopf- 
schmerz. In  dem- 
selben Jahre  traten 

die  Erscheinungen  der  erreichten  Geschlechtsreife  auf, 
die  Behaarung  des  Möns  Veneris  und  Stimmbruch. 
Im  14.  Jahre  trat  einmal  während  jener  praemen- 
strualen  Beschwerden  ein  dreimaliger  Anfall  von  Som- 
nambulismus ein  mit  nächtlichem  Herumspazieren  im 
Hause.  Die  Nasenblutungen  samt  dem  gesamten  Komplex 
der  Geleiterscheinungen  dauerten  bis  zum  22.  Jahre. 
In  diesem  Jahre  erkrankte  Marie  C.  an  fieberhaftem 


c 


Fig.  4.  Linkes  Uterushorn  und  Hoden  (sub 
herniotoraia  entfernt)  der  33  jähr.  Marie  C. 
T  =  Testikel,  U  =  Uterushorn,  C  =  Stumpf, 
V,  V  — Tunica  vaginalis. 
Ansicht  von  hinten. 


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—    240  — 


poharticulärem  Gelenkrheumatismus  aber  ohne  Komplika- 
tionen von  Seiten  des  Herzens.  Im  30.  Jahre  stellte  sich 
ein  Rückfall  dieses  Leidens  ein  mit  Schmerzen  in  Bauch 
und  Lenden. 

Vom  Januar  1895  bis  Juni  wiederholten  sich  3 — 4  mal 
Blutungen  aus  dem  Mastdarme  bei  Verstopfung.  Obwohl 
die  Xasenblutungen  seit  dem  22.  Jahre  sich  ganz  verloren 
hatten,  so  litt  Marie  C.  doch  alle  Monate  an  Lenden- 
schmerzen, Gefühl  von  Hitze  im  Unterleibe.  Im  22.  Jahre 
wurde  sie  zum  ersten  Male  untersucht  und  zwar  wegen 
der  Amenorrhoe  und  jenen  periodisch  sich  wiederholenden 


Fig.  ~>.    Linkes  Uterushorn  und  Hoden  (Fall  S.  Pozzi). 
Ansicht  von  vorn. 

Kongestionserscheinungeu.  Damals  erklärte  ein  Arzt, 
Marie  sei  ein  geschlechtsloses  Wesen !  Marie  C.  ging 
infolge  dessen  zu  Dr.  Siredey,  welcher  den  Mangel 
eines  Uterus  konstatierte.  Schon  im  15.  Jahre  hatte 
Marie  bemerkt,  daß  sich  in  ihrer  linken  Leiste  eine 
Geschwulst  von  Hühnereigröße  befinde,  es  war  dies  eiu 
mobiler  Leistenbruch,  reponibel.  Im  23.  Jahre  trat  ein 
ebensolcher  Tumor  rechterseits  in  der  Leiste  auf.  Von 
Zeit  zu  Zeit  wurden  beide  Brüche  schmerzhaft  und  zwar 
nur  für  2 — 3  Tage  und  zwar  nur  wahrend  der  obenge- 
nannten Kongestionserscheinungen.     Die  Brüche  setzten 


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—    241  — 


M  arie  so  zu,  daß  sie  dieselben  durchaus  loswerden 
wollte.  Sie  ging  im  Januar  1895  zu  Dr.  Landrieux 
um  sich  untersuchen  zu  lassen  zwar,  weil  ein  junger 
Mann  um  sie  angehalten  hatte.  Sie  wollte  wissen,  ob  sie 
heiraten  könne,  da  ihr  jemand  gesagt  habe,  sie  müsse 
ihren  Freier  von  ihrem  Zustande  in  Kenntnis  setzen. 
Landrieux  riet  ihr  in  das  Hospital  einzutreten:  Am 
6.  Juni  1895  wurde  sie  hier  untersucht  von  Beaussenat, 
Boncour  und  später  von  Pozzi.  Körperhöhe  mittelgroß, 
Körperbau  kräftig,  langes  weibliches  Haupthaar,  leichter 
Anflug  männlicher  Gesiclitabehaarung,  Kinn  behaart,  Hals 
kurz,  Kehlkopf  nicht  hervortretend,  Brustumfang  über 
die  Mammae  gemessen  94  Centimeter,  ober  und  unter- 
halb 69  Centimeter.  Mammae  groß,  gut  entwickelt  mit 
Drüsensubstanz,  Becken  breit,  weiblich,  Linea  alba  unbe- 
haart, Atmungstypus  männlich,  abdominal.  Stimme  und 
Konturen  der  Extremitäten  weiblich.  Scharabehaarung 
äußerst  dürftig,  kaum  hier  und  da  einige  blonde  Härchen 
auf  dem  Möns  Veneris  und  den  Schamlefzen.  Perineal- 
gegend  gänzlich  unbehaart.  Die  sehr  große  linke  Scham- 
lefze bedeckt  teilweise  die  kleinere  rechte  und  enthält 
ein  frei  verschiebliches  taubeneigroßes  Gebilde,  elastisch 
und  einem  Hoden  ähnlich  anzufühlen,  von  diesem  Gebilde 
zieht  eine  Art  Strang  nach  unten  herab  zu  dem  Boden 
der  Schamlefze.  Ein  Strang  zieht  auch  nach  oben  hin 
gegen  den  Leistenkanal  und  weist  an  einer  Stelle  eine 
druckschmerzhafte  Verbreiterung  auf;  der  erweiterte 
Leistenkanal  läßt  zwei  Finger  zugleich  ein,  das  elastische 
Gebilde  läßt  sich  leicht  in  den  Leistenkanal  hineindrängen, 
der  Strang  jedoch  nicht.  Diese  Hernie  verschwindet 
spontan  niemals,  wohl  aber  tritt  sie  beim  Husten  tiefer 
herab  und  enthält  keinen  Darm.  Kechterseits  tritt  beim 
Husten  ein  Bruch  hervor,  reponibel,  aber  niemals  spontan 
verschwindend.  Der  rechtsseitige  Bruch  ist  ein  beginnen- 
der und  leicht  zu  reponieren. 

Jahrtuch  V.  10 


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—   242  — 


Die  Schamteile  sehen  aus,  wie  bei  einem  Mädchen 
vor  erreichter  Geschlechtsreife.  Von  der  Clitoris  maß 
man2Centimeterbiszur  Urcthralmündung,  von  daanderthalb 
bis  zum  Frenulum  labioruin,  von  da  bis  zum  After  3  Centi- 
meter.  Große  Schamlefzen  wenig  prominent,  die  rechte  bildet 
einen  kaum  erhabeuen  Hautwulst,  die  Bedeckungen  der 
linken  Schamlefze  gerunzelt,  eriunern  an  ein  Scrotum 
eines  Knaben.  Kleine  Schamlippen  atrophisch,  anderthalb 
Centimeter  hoch,  nur  in  der  oberen  Hälfte  der  Schamspalte 
sichtbar,  sehen  aus  wie  am  unteren  Ende  abgeschnitten. 
Hymen  annularis  mit  Spuren  von  Einrissen  nach  einem 
Stuprationsversuch  (im  8.  Lebensjahre),  Harnröhrenöffnung 
normal  weiblich,  oberhalb  die  „bandelette  masculine" 

• 

von  Pozzi,  welche  aber  kaum  im  unteren  Drittel  des 
Vestibulum  ausgesprochen  ist  und  nicht  die  Clitoris 
erreicht.  Die  Clitoris  äußerst  klein,  ragt  nicht  aus  ihrem 
Präputium  hervor.  In  Lumen  des  Hymens  sieht  man 
die  Falten  der  Columnae  rugarum  der  Scheiden  wand. 
Die  Scheidenuntersuchung  sehr  erschwert  durch  Enge 
und  Empfindlichkeit;  ein  Speculum  konnte  nicht  ange- 
wendet werden.  Die  Scheide  dürfte  in  der  Tiefe  blind 
abgeschloßen  sein,  nichts  von  einem  Uterus  getastet. 
Die  Patientin  hat  normale  Verstandesentwickelung  und 
hat  eine  gute  elementare  Erziehung  erhalten.  Bis  jetzt 
hatte  sich  noch  niemals  Geschlechtsgefühl  bei  ihr  gemeldet 
und  mit  Ausnahme  jenes  Stuprationsversuches  im  8. 
Lebensjahre  war  sie  nie  mit  männlichen  Genitalien  in 
Berührung  gekommen.  Peyrot  diagnosticierte  eiue  beider- 
seitige Hernie  der  Uterusadnexa  bei  mangelndem  Uterus 
und  vollzog  am  19.  VI.  die  Radikaloperation.  Linker- 
seits fand  er  am  Niveau  des  Leistenkanales  eine  hühnerei- 
große  Cyste  mit  Flüssigkeit  gefüllt,  welche  durch  eine 
Art  Stiel  mit  einem  drüsigen  Gebilde  zusammenhing,  das 
er  für  ein  Ovarium  ansah.  Dieses  drüsige  Gebilde 
wiederum  lag  einem  Körperchen  von  Haselnußgröße  an, 


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—   243  — 

welches  er  für  einen  rudimentären  Uterus  ansehen 
wollte:  die  Cyste  faßte  er  als  Hydrosalpinx  auf.  Nach 
Resektion  dieser  Cyste  schob  er  die  anderen  Gebilde, 
welche  er  für  Uterus  und  Ovarium  angesehen  hatte,  in 
die  ßauchhöhle  zurück!  Den  Leistenkanal  vernähte  er. 
Rechterseits  fand  er  ebenfalls  eine  cystische  Bildung, 
welche  einer  graugefärbten  Masse  anlag,  die  er  für  den 
anderen  Eierstock  hielt.  Da  keine  Kommunikation  mit 
der  Bauchhöhle  vorlag  und  jene  beiden  Gebilde  in  einem 
extraperitonealen  Sacke  zu  liegen  schienen,  so  trug  er 
sie  mit  dem  Messer  ab  nach  Unterbindung  einer  Art 
Stieles.  Leistenkanal  geschlossen.  Die  Schmerzen  ver- 
schwanden nach  der  Operation  und  Patientin  schien 
geheilt 

Im  Februar  1896  kam  es  jedoch  linkerseits  zu  einem 
Recidiv  und  trat  abermals  ein  linksseitiger  Leistenbruch 
hervor  unter  der  Narbe.  Der  Tumor  senkte  sich  nach  unten 
herab  und  wurde  beim  Gehen  hinderlich.  In  horizontaler 
Rückenlage  läßt  sich  der  Tumor  in  die  Bauchhöhle 
reponieren,  jedoch  auch  weiter  nach  unten  herabdrängen 
bis  in  die  Schamlefze.  Seit  der  Operation  begann 
Patientin  eine  vorher  nie  beraerkteLibido  sexualis 
zu  empfinden  und  hatte  oft  psychische  Emotionen,  welche 
mit  Tränen  und  Traurigkeitsgefühl  endeten,  und  zwar 
traten  solche  Stimmungen  auf  ohne  die  geringste  äußere 
Veranlaßung.  Der  Geschlechtstrieb  war  auf  Männer 
gerichtet,  nicht  auf  Frauen!  Pozzi  glaubte,  es  handle 
sich  um  ein  Recidiv  der  Hernie  von  Uterus  und  Ovarium 
und  machte  am  6.  V.  1896  die  Radikaloperation.  Er 
fand  einen  aus  zwei  Anteilen  bestehenden  Tumor:  Ein 
längliches  weißliches  Gebilde  von  drüsigem  Aussehen 
[Hoden  oder  Eierstock?]  und  dicht  an  der  inneren  und 
hinteren  Fläche  dieses  Gebildes  eine  harte  dreieckige 
Masse.  Eine  Art  Vaginalis  umhüllte  das  Ganze  und  man 
konnte  leicht  mit  dem  Finger  eine  Art  Stiel  unterscheiden. 

10* 


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—   244  — 


Nach  dieser  Operation  nahm  die  Melancholie  der  Patientin 
noch  bedeutend  zu,  sodaß  die  Patientin  jetzt  fast  ständig 
weinte.  Die  mikroskopische  Untersuchung  sowohl  der 
jetzt  durch  Pozzi  als  auch  der  früher  durch  Peyrot  ent- 
fernten Gebilde  wies  eine  erreur  de  sexe  nach:  männ- 
liches Geschlecht  der  Marie  C:  sie  war  ein  Androgynoid 
mit  Uterus  bicornis;  ein  Horn  desselben  lag  neben  dem 
Hoden  in  der  Hernie  (siehe  Abbildungen  Fig.  3,  4,  5.) 

Pozzi  machte  folgende  Schlußfolgerungen:  1.  Die 
Entwickelungsanomalie  sollte  eine  Folge  der  durch  den 
Schreck  veranlaßten  psychischen  Erregung  der  schwangeren 
Mutter  sein.  2.  Das  Eintreten  der  Geschlechtsreife  soll 
sich  bei  Marie  C.  durch  10  Jahre  lang  sich  periodisch 
wiederholendes  Nasenbluten  verraten  haben,  heute  nach 
Aufhören  der  Epistaxis  treten  doch  noch  die  früher  jenes 
Nasenbluten  begleitenden  anderen  Symptomenkomplexe 
auf.  Diese  Symptome  sollen  abhängig  sein  von  der 
anomalen  Entwicklung  der  Mülle  r'schen  Gänge  [rudi- 
mentärer Uterus,  Vagina |.  3.  Marie  C.  empfindet  trotz 
Gegenwart   von    Hoden    weiblichen  Geschlechtsdrang. 

4.  Dieser  Geschlechtsdrang  ist  erst  erwacht  nach  operativer 
Entfernung  des  rechten  Hodens,  eine  schwer  zu  erklärende 
Erscheinung.  Leichter  ist  die  Veränderung  des  Charakters 
zu  verstehen,  die  ,nach  der  vollständigen  Kastration 
eintrat,  welche  dieses  Individuum  noch  mehr  einem  weib- 
lichen ähnlich  machte.  Es  ist  dies  ein  Phänomen,  wie 
man  es  öfters  bei  Männern  und  Tieren  beobachtete  nach 
Entfernung  der  Hoden.  Die  Kastration  dieses  Individuum 
schuf  solche  Verhältnisse,  daß  es  heute  nicht  gerecht- 
fertigt wäre,  eine  Kectitikation  der  Metrik  im  Standesamte 
zu  verlangen:  dieses  Individuum  gleicht  heute  mehr  einer 
Frau,  an  welcher  man  einer  Castratio  uteroovarialis  vor- 
genommen   hat,    als    einem  männlichen  Scheinzwitter. 

5.  Die  männlichen  Scheinzwitter-Hypospadiäen  —  Andro- 
gynoides  —  besitzen  keine  Spermatozoiden,  sind  also  nich 


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—   245  — 


zur  Befruchtung  einer  Frau  fähig.  —  Ein  Trugschluß, 
da  die  Fähigkeit  zur  Schwängerung  in  erster  Linie  von 
dem  Entwicklungsgrade  der  Hoden  abhängt,  zweitens 
von  dem  Vorhandensein  oder  Nichtvorhandensein  der 
zugehörigen  Eraissionswege  für  das  Sperma.  Gibt  es 
doch  zahlreiche  Fälle  von  Schwängerung  gerade  durch 
einen  solchen  männlichen  Scheinzwitter  und  auch  einen 
Fall  wo  diese  Zwitterbildung  sich  vom  Vater  auf  den 
Sohn  vererbte,  welchen  ich  im  vorigen  Jahrgange  dieses 
Jahrbuches  wiedergegeben  habe.  J Kall  von  Traxler.] 

Irrtümlich  ist  ferner  auch  die  Angabe  Pozzi's,  es 
seien  hier  zum  ersten  Male  die  bei  einem  Scheinzwitter 
operativ  entfernten  Geschlechtsdrüsen  zur  mikroskopischen 
Untersuchung  gelangt.  Die  mikroskopischen  Untersu- 
chungen wurden  von  Dr.  L  a  1 1  e  u  x  gemacht.  Marie  C. 
war  also  ein  männlicher  Scheinzwitter  par  er  reu  r  de 
s exe  als  Mädchen  auferzogen  mit  weiblichen  Brüsten 
weiblichem  Allgemein  aussehen,  einer  weiblichem  Scham, 
Molimina  menstrualia,  einem  Uterus  bicornis  und  weib- 
lichem geschlechtlichem  Empfinden.  Die  beigefügten  drei 
Abbildungen  entstammen  der  Originalbeschreibung  Po  z  z  i  's. 
Zwei  von  diesen  Abbildungen  stellen  den  Uterus  rudi- 
mentarius  nebst  Hoden  und  Tunica  vaginalis  vor  und 
zwar  die  Ansicht  des  postoperativen  Präparates  von 
vorn  und  von  hinten.  Es  lag  ein  Uterus  bicornis  vor 
mit  inguinolabialer  Ektopie  der  beiden  Uterushörner  und 
descensus  retardatus  testiculorum.  Der  anatomische 
Charakter  der  seinerzeit  von  Peyrot  entfernten  Cyste 
blieb  zweifelhaft,  ich  möchte  am  ersten  vermuten,  datf  es 
sich  um  eine  Cvste  des  Parovarium  handelte  oder  um 
eine  Cvste  des  Nebenhodens.  Die  Testikel  waren  atro- 
phisch,  ohne  nachweisbare  Spermatogenese.  In  dem  von 
Pozzi  amputierteu  Uterushorne  fand  man  keine  uterine 
Schleimhaut. 

26)  Sa  eng  er  [siehe  Kutz:  „Uber  einen  Fall  von 


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—    246  — 


Psoudohermaphroditismus  masculiuus  mit  Feststellung 
des  Geschlechtes  durch  Exstirpation  eines  Leistenhodens 
Zentralblatt  für  Gynaekologie  1898  No.  165  pg.  389]: 
Ein  23jähriges  Dienstmädchen  wurde  Sa  enger  aus  der 
Poliklinik  überwiesen:  erstens  wegen  absoluter  Amenorrhoe, 
zweitens  weil  alle  vier  Wochen  einige  Tage  lang  an- 
dauernde Schmerzen  im  Unterleibe,  den  Leisten  und  den 
Brüsten  sich  regelmäßig  wiederholten.  Diese  Schmerzen 
sind  in  letzter  Zeit  so  stark  geworden,  daß  Patientin  ihre 
Arbeitsfähigkeit  einbüßte.  Allgemeiner  Typus  weiblich, 
Gesichtsfarbe  gesund,  Wangen  gerötet,  das  Haupthaar 
in  Zopfe  geflochten.  Die  Brüste  wenig  entwickelt,  aber 
weiblich.  Achselhöhlen  reich  behaart.  Schamgegend  und 
Perianalgegend  spärlich  behaart.  Hymen  intakt,  mit  enger 
Öffnung,  Scheide  geräumig,  in  der  Höhe  blind  geschlossen. 
Kein  Uterus  per  rectum  getastet.  In  der  rechten  Leisten- 
gegend ein  ovaler,  glatter,  harter  Körper,  verschieblich, 
hühnereigroß,  sehr  druckempfindlich  und  nicht  nach  der 
Bauchhöhle  zu  reponibel.  Es  wurde  eine  rechtsseitige 
inguinolabiale  Hernie  des  rechten  Ovarium  diagnosticiert. 
In  der  linken  Leiste  fand  Sänger  ebenfalls  eine  Hernie, 
welche  ein  weiches  reponibles  Gebilde  enthielt,  in  der 
Tiefe  eine  härtere  Masse.  Der  rechtsseitige  Leistenbruch 
soll  in  frühem  Kindesalter  aufgetreten  sein,  der  links- 
seitige aber  erst  nach  Beendigung  der  Schule.  Angesichts 
der  Schmerzhaftigkeit  der  rechtsseitigen  Hernie  führte 
Sänger  die  Herniotomie  aus,  indem  er  darauf  rechnete 
es  werde  vielleicht  gelingen  das  ektopische  Ovarium 
zu  reponieren  und  dann  den  Bruchsack  ganz  zu  schließen. 
Bei  der  Operation  zeigte  sich,  daß  der  Bruchsack  nichts 
Anderes  war,  als  der  Processus  vaginalis  peritonaei,  die 
tnnica  vaginalis  testis  communis;  das  für  ein  Ovarium 
angesehene  Gebilde  war  ein  Hoden.  Sänger  entfernte 
den  Hoden  samt  dem  rudimentären  Nebenhoden  und  Vas 
defereus  und  schloß  die  Operationswunde  in  toto.  Dann 


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—    217  — 


schritt  er  zu  der  linksseitigen  Herniotomie  und  fand  dort 
in  dem  Bruche  nur  ein  Harnblasendivertikel,  wie  der 
Katheter  nachwies.  Hernia  extraperitonealis  vesicae  uri- 
nariae.  Man  fand  weder  eine  Öffnung,  welche  nach  der 
Bauchhöhle  zu  kommunizierte,  noch  eine  Geschlechtsdrüse 
in  dieser  Hernie.  Der  entfernte  rechte  Hoden  enthielt  ein 
kleines  Fibroadenom,  hart  und  von  der  Größe  einer  Hasel- 
nuß. Wahrscheinlich  liegt  der  linke  Hoden  noch  in  der 
Bauchhöhle.  Über  das  geschlechtliche  Empfinden  dieses 
Individuums  ist  leider  in  dem  Bericht  ebensowenig  etwas 
gesagt^wie  in  den'meisten  anderen,  es  heißt  nur  von  der 
Hymenalöffnung,  sie  sei  dehnbar  gewesen  aber  ohne  Einrisse. 

27)  Sänger  [siehe  Schu  1 1 ze  -  V  e  1 1  i  ngh  a u  sen : 
„Ein  eigentümlicher  Fall  von  Pseudohermaphroditismus 
masculinus"  Zentralblatt  für  Gynäkologie  1898  No.  51, 
pg.  1377 — 2385].  Eine  32-jährige  Lehrerin,  welche  nie 
menstruiert  war,  aber  alle  3 — 4  Wochen  regelmäßig  an 
Unterleibsschmerzen  litt,  meldete  sich  bei  meinem  leider 
zu  früh  verstorbenen  Freunde  unvergeßlichen  Andenkens, 
Professor  Sänger.'  Im  18.  Lebensjahre  hatte  sie  zum 
ersten  Male  einen  Tumor  in  der  linken  Leistengegend 
bemerkt,  der  in  der  Folge  allmählich  sich  vergrößerte. 
Ein  damals  konsultierter  Arzt  sagte  ihr,  der  Tumor  sei 
angeboren  und  enthalte  die  Gebärmutter.  Die  Kranke 
konstatierte  selbst,  daß  der  Tumor  im  Laufe  der  letzten 
5  Jahre  um  einige  Zentimeter  an  Umfang  zugenommen 
hatte  und  verlangte  jetzt  dessen  Entfernung,  weil  der 
Tumor  ihr  beim  Gehen  hinderlich  sei.  Allgemeinaussehen 
und  Becken  weiblich,  keine  Spur  von  männlicher 
Behaarung,  Brüste  klein  aber  weiblich.  Der  linksseitige 
Leistenbruch  ist  irreponibel  und  reicht  nach  unten  zu  bis 
in  die  linke  Schamlefze  herab,  der  Bruchinhalt  ist  elastisch, 
aber  wenig  verschieblich.  Gesichtsausdruck  weiblich  ohne 
irgend  ein  männliches  Charakteristikum.  Die  äußeren  Scham- 
teile sind  normal  weiblich,  aber  die  Schambehaarung  sehr 


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—    248  — 


spärlicli.  Die  Scheide  nur  7 — 8  Zentimeter  tief,  schließt 
in  der  Höhe  blind.  Ks  wurde  weder  ein  Uterus  noch 
eine  Spur  von  Adnexa  getastet.  Sänger  glaubte  zunächst 
auf  Grund  seiner  Untersuchung,  der  in  hernia  liegende 
Körper  sei  ein  Hoden,  es  liege  also  eine  erreur  de  sexe 


1  2 


7  6  5 


Fig.  ti.  Operativ  sub  horniotomia  von  Sänger  gewonnenes  Präparat. 

Ansicht  von  vorn. 
1  =  Uteri»,  2  =  Hoden,  3  =  Tube,  4  =  Cysto,  ö  =  Lig.  latum, 
6  —  Amputationsstumpftlächo  des  Uterus,  7  =  Bruchsack. 

vor,  er  glaubte,  jenes  Gebilde  in  der  Hernie  sei  ein  Hoden 
von  einer  Hvdrocele  umgeben.  Am  lÖ.  VII.  1898  voll- 
/<»ir  er  die  Herniotomie,  in  dem  Bruchsacke  fand  er  einen 
ovalen  Körper  von  Gänseeigröße,  von  glänzender  gelblicher 


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—    249  — 


Oberfläche,  cystisch  entartet.    Das  untere  Ende  dieses 
Körpers  war  von  einem  Gebilde  umgeben,  welches  als 
eine  Tube  erkannt  wurde  mit  sichtbarem  peripheren  Ende 
3  2  1  7 


5  6 


Fig.  7.    Dasselbe  Präparat  von  hinten  gesehen. 
1  —  Uterus,  2  =  Hoden,  3  =  Peripheres  Tubenende,  4  =  Cyste, 
5  =  Lig.  latuni,  6  =  Amnutationsstuuiptnache  des  Uterus, 

7  =  Bruchsack. 

und  Fimbrien.  Der  ßruchinhalt  bestand  aus  jener  cysti- 
schen Bildung  und  einem  härtlichen  Gebilde  einem  klein- 
fingerlangem  Uterus  in  Verbindung  mit  einer  Tube. 
Zwischen  dem  Fundus  uteri  und  jener  cystischen  Bildung 


-     250  — 


lag  noch  eine  härtliche  Masse  von  unbestimmter  Natur 
[vielleicht  eiue  Geschlechtsdrüse?]  Das  Lumen  des  Leisten- 
kanales  erwies  sich  durch  einen  secundären  Entzündungs- 
prozeß obliteriert,  sodaß  es  nicht  gelang  einen  Finger  in 
die  Bauchhöhle  einzuführen.  Der  Bruchinhalt  wurde  mit 
Resection  des  Bruchsackes  entfernt,  die  Wunde  in  toto 
geschlossen.  Der  Stiel  der  entfernten  Gebilde  retrahierte 
sich  etwas  in  den  Leistenkanal,  wurde  aber  wieder  heraus- 
geholt und  in  der  Leistenkanalmündung  eingenäht.  Nach 
zwei  Wochen  verließ  Patientin  geheilt  von  ihren  Be- 
schwerden das  Hospital.    [Siehe  Fig.  0  u.  7j. 

An  dem  Präparate  fand  man  das  amputierte  obere 
Uterusende  5,5  Centimeter  lang,  2  Centimeter  breit.  Die 
rechte  Tube  hatte  6  und  einen  halben  Centimeter  Länge 
und  wies  kein  Lumen  auf  am  peripheren  Ende.  In 
Mesosalpinge  lag  die  vorerwähnte  Cyste,  linkerseits  vom 
Uterus  faud  man  keine  Tube;  das  ligamentum  latum  si- 
nistrum'war  rudimentär.  Der  amputierte  Uterus  besaß 
kein  Lumen.  In  der  Struktur  des  Uterus  konnten  glatte 
Muskelfasern,  Bindegewebe  und  Blutgefäße  nachgewiesen 
werden.  In  den  äußeren  Schichten  der  Uteruswand 
fanden  sich  Längsfasern  muskulöser  Natur,  in  den  inneren 
Schichten  schräg  verlaufende  Muskeln.  Das  Ligamentum 
latum  enthielt  glatte,  muskulöse  Längsfasern  und  lockeres 
Bindegewebe.  Die  Tube  erschien  wie  ein  flachgedrückter 
Strang,  aber  von  normalem  Bau  ihrer  Wände.  Die  Tube 
besaß  ein  Lumen  und  war  ausgekleidet  mit  dicht  ge- 
drängtem cylindrischem  Epithel.  Die  Cyste  erwies  sich 
als  subserös,  das  Peritoneum  konnte  man  in  Falten  ab- 
heben. Die  innere  Cystenauskleidung  bestand  aus'fibril- 
lärem  Bindegewebe  mit  zahlreichen  Gefäßen^  und  ein- 
schichtigem Epithel  ohne  Spur  von  Flimmerepithel. 
Trotzdem  es  nicht  gelang,  auch  nur  eine  Spur  von  einem 
Epoophoron  oder  Paroophoron  zu  konstatieren,  so  han- 
delte es  sich  doch  sicher  um  eine  Cyste,  entstanden  aus 


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—    251  — 


Resten  der  Urniere,  angesichts  des  analogen  Baues  der 
Parovarialcysten.  Nirgends  fand  man  eine  Spur  von 
Struktur,  welche  an  den  Eierstock  erinnerte.  Der  Körper, 
welcher  zwischen  Uterus  und  jener  Cyste  lag,  wies  auf 
dem  Durchschnitte  überall  den  mikroskopischen  Bau 
eines  Hodens  auf,  trotzdem  man  nirgends  eine  Sperma- 
togenese nachweisen  konnte. 

Man  fand  keine  Spur  von  einem  Vas  deferens,  von 
einer  Samenblase,  einer  Prostata  etc.  Es  handelt  sich 
also  um  einen  mäunlichen  Scheinzwitter  par  erreur^de 
s  e  x  e  als  Mädchen  erzogen,  mit  hoher  Entwickelung  des 
Weber'schen  Organes,  der  Müll er'schen  Gänge,  Uterus, 
Tuben  und  Vagina  und  weiblicher  Bildung  der  äußeren 
Geschlechtsorgane.  Trotz  Gegenwart  des  Hodens  resp. 
der  Hoden  vollzog  sich  die  Entwickelung  der  äußeren 
Geschlechtsteile  nach  weiblichem  Typus.  In  der  recht- 
seitigen  Leistengegend  wurden  keinerlei  Gebilde  getastet, 
es  scheint-also,  daß  rechterseits  bisher  Krytorchismus  vor- 
liegt. Sänger  fugt  der  Beschreibung  die  Bemerkung 
hinzu:  Als  er  dieses  Individuum  zum  ersten  Mal  ansah, 
so  hielt  er  es  für  einen  Mann  trotz  weiblicher  Stimme 
und  langen  Haupthaares  und  Maugels  männlicher  Ge- 
sichtsbehaarung, als  er  während  der  Operation  in  hernia 
einen  Uterus  fand  samt  Tube  und  jener  Cyste,  so  glaubte 
er,  er  habe  sich  geirrt  und  die  Person  sei  doch  weiblichen 
Geschlechtes,  erst  die  mikroskopische  Untersuchung  wies 
nach,  daß  Sängers  erste  Vermutung  richtig  war,  daß 
tatsächlich  eineErreur  de  sexe  vorlag.  Wenn  irgend 
ein  Fall  aus  unserer  Kusuistik,  so  ist  besonders  dieser 
zweite  Fall  von  Sänger  lehrreich  und  muß  zu  'ganz 
besonderer  Vorsicht  in  der  Diagnose  auffordern,  sowohl 
vor  einer  eventuellen  Operation  als  auch  während  einer 
solchen  und  auch  nachher.  Das  Mikroskop  allein  kann 
in  zweifelhaften  Fällen  Aufklärung  geben  und  leider  auch 
dieses  nicht  immer,  denn  bei  rudimentärer  Entwickelung 


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252  — 


der  Geschlechtsdrüsen  wird  uns  hin  und  wieder  auch 
das  Mikroskop  die  Antwort  auf  die  Frage  nach  dem  Ge- 
schlechte schuldig  bleiben,  ebenso  bei  maligner  Entartung 
oder  Teratom  der  Geschlechtsdrüse,  das  mehrmals  kon- 
statiert wurde. 

28)  Shattock:  [Histological  characters  of  testicle 
reraoved  in  the  Radical  eure  of  hernia  „British  Medical 
Journal  1897"  Vol.  I.  pg.  460]:  Einem  42  jährigen 
Scheinzwitter  mit  Hypospadiasis  penoscrotalis  behaftet, 
wurde  wegen  doppelseitigen  Leistenbruches  die  beider- 
seitige Hemiotomie  gemacht.  Man  entfernte  beide  noch 
in  den  Leistenkanälen  liegenden  Hoden  [Pescensus  in- 
completus]. Man  fand  in  den  exstirpiertem  Hoden  weder 
Spermatozoiden  noch  Spermatoblasten,  aber  eine  sehr 
starke  Hypertrophie  des  Bindegewebes  in  dem  Hoden- 
stroma. Nach  der  Kastration  dieses  Individuum  ent- 
wickelte sich  sehr  starke  Obesitaet.  Ich  weiß  nicht,  ob 
in  diesem  Falle  eine  Errcur  de  sexe  vorlag,  ob  dieser  Fall 
bestimmt  hierher  gehört. 

29)  Snegirjow  [siehe  Blagowolin:  Wracz  1893 
[Russisch]  Fall  von  Herraaphroditismus  transversus.  Pro- 
tokolle der  Geb.  Gyn.  Gesellschaft  in  Moskau.  Januar 
1893  Nr.  I.  pg.  2—5].  Eine  25  jährige  Köchin  trat  am 
21.  März  in  die  Klinik  ein.  Niemals  Periode  oder  Mo- 
limina menstrualia.  Im  13.  Jahre  einmal  während  eines 
Kopfschmerzanf alles  etwas  Nasenbluten,  ein  ander  Mal 
im  Jahre  1892  eine  stärkere  Nasenblutung.  Im  17.  Jahre 
heiratete  das  Mädchen,  vollzog  schon  ein  halbes  Jahr 
nach  der  Hochzeit  den  Beischlaf  cum  libidine,  später 
wurde  ihr  der  Beischlaf  gleichgültig,  endlich  zuwider, 
weil  sie  sich  nach  jedem  Beischlaf  matt,  krank  und  arbeits- 
unfähig fühlte,  geplagt  von  den  rheumatischen  ähnlichen 
Sehmerzen  in  Kopf  und  Gliedern.  Schon  seit  Jahren 
perhorresciert  sie  den  Akt  des  Beischlafes,  der  zweimal 
jeden  Monat  stattfindet.    Obgleich  sie  ihren  Mann  liebt, 


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—   253  — 


so  erscheint  er  ihr  verhaßt  zur  Zeit  des  Beischlafes, 
welcher  für  sie  eine  Qua)  ist. 

Sie  beschreibt  diese  Qualen  so:  „Eine  ganze  Menge 
verschiedenartiger  Schmerzempfindungen  entströmt  einer 
Welle  gleich  aus  dem  Unterleibe  und  richtet  sich  nach 
dem  Herzen  zu,  wobei  ihr  vor  den  Augen  dunkel  wird 
und  sie  glaubt  das  Bewußtsein  zu  verlieren.*  —  Seit  einigen 
Monaten  klagt  diese  Frau  über  Kopfschmerz,  Schlaf- 
losigkeit und  klonische  Krämpfe  in  den  Extremitäten; 
diese  Krämpfe  treten  auf  ohne  irgend  eine  erklärliche  Ur- 
sache. Brüste  und  Möns  Veneris  gut  entwickelt,  Pubes 
weiblich  veranlagt.  In  jeder  Schamlefze  tastete  man  ein 
Gebilde,  welches  */8  der  Schamlefze  einnahm,  das  links- 
seitige Körperchen  erschien  tiefer  herabgesenkt  als  das 
rechte.  Diese  Körperchen,  taubeneigroß,  mit  glatter 
Oberfläche,  waren  elastisch  und  ausnehmend  druckem- 
pfindlich. An  der  Rückseite  eines  jeden  tastete  man  ein 
weicheres,  nicht  druckempfindliches  Gebilde.  Das  rechts- 
seitige Körperchen  ließ  sich  leicht  nach  oben  dislocieren, 
das  linksseitige  ließ  sich  nicht  in  den  Leistenkanal  hin- 
einschieben. 

Kleine  Schamlippen  normal,  Clitoris  nicht  vergrößert; 
bei  Zurückschiebung  der  Vorhaut  wird  die  Clitoris 
strotzend,  indem  sie  anschwillt.  Ein  Hymen  fimbriatus 
liegt  vor,  der  sich  dehnbar  erweist.  Vestibulum  vaginae 
normal.  Die  Scheide  erweist  sich  als  ein  glattwandiger 
Kanal,  in  der  Höhe  von  drei  Zoll  blind  endigend.  Weder 
Uterus  noch  Adnexa  per  rectum  getastet.  In  der  Mittel- 
linie des  Beckens  tastete  man  einen  gänsefederkieldicken 
Strang.  Nach  Angabe  der  Marie  X.  sollen  jene 
Körperchen  in  den  Schamlefzen  schon  von  Kind  auf  sich 
dort  befinden.  Allgemeinausscheu  weiblich.  Man  stellte 
hierauf  die  Diagnose :  Defectus  uteri,  hernia  inguinolabialis 
utriusque  ovarii.  Am  23.  März  1893  vollzog  Snegirjow 
die  beiderseitige  Herniotomie  und  fand  in  jeder  Hernie 


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—  254 


einen  Hoden.  Das  Mikroskop  bestätigte  die  Richtigkeit 
dieser  Angabe.  Am  7.  Tage  nach  der  Operation  befand 
sich  die  Person  wohl.   E  rr  e  u  r  d  e"  s  e  x  e. 

30)  Snegirjow  [siehe:  Blagowolin  1.  c]  vollzog 
in  einem  anderen  Falle,  beschrieben  von  Galaktjonow, 
die  beiderseitige  Herniotomie  bei  einem  Mädchen: 
Erreur  de  sexe.  H ypospadiasis  peniscrotalis.  S  n  e  - 
girjow  eröffnete  die  Bauchhöhle,  fand  dort  weder  Uterus 
noch  Ovarien,  exstirpierte  hierauf  die  in  den  Schamlefzen 
enthaltenen  Gebilde,  die  sich  unter  dem  Mikroskop  als 
Hoden  erwiesen. 

31)  Solowij  (»Ein  Beitrag  zum  Hermaphroditismus" 
—  Monatsschrift  für  Geb.  u.  Gynäkologie.  Februar  1899 
pg.  210"]  R.  Ch.  21.  Jahre  alt,  ledig,  niemals  menstruiert, 
erinnert  sich,  daß  bei  ihr  von  Kind  auf  in  der  Gegend 
der  Schamfuge  zwei  Höcker  existierten,  welche  nicht 
schmerzhaft  waren.  Vor  vier  Wochen  traten  plötzlich 
ohne  wahrnehmbare  Ursache  heftige  Schmerzen  in  dem 
rechtsseitigen  Höcker  auf.  Seit  dieser  Zeit  nahm  derselbe 
bedeutend  an  Größe  zu  und  blieb  anhaltend  schmerzhaft. 
Schlecht  genährtes  Individuum;  Kopfhaare  lang,  kein 
männlicher  Haarwuchs  im  Gesicht,  Brustdrüsen  gut 
entwickelt,  Habitus  ganz  weiblich,  Möns  Veneris  schwach 
behaart;  jederseits  der  Schamfuge  liegt  in  jeder  Scham- 
lefze je  ein  Gebilde,  links  taubeneigroß,  länglich,  glatt, 
verschieblich,  von  ovaler  Gestalt,  am  unteren  Ende  etwas 
zugespitzt,  von  innen  eine  seichte  Vertiefung  aufweisend. 
Die  Schamlefzen  verlieren  sich  auffallend  flach  nach 
unten.  Clitoris  zwei  Centimeter  lang,  hat  eine  undurch- 
bohrte  Eichel,  von  der  zwei  Falten  zu  den  großen 
Schamlippen  ziehen.  Kleine  Schamlippen  fehlen,  nur 
linkerseits  eine  Andeutung  vorhanden.  Damm  4  Centi- 
meter hoch,  gegen  den  Scheideneingang  etwas  vertieft. 
Scheide  endet  in  der  Tiefe  von  5  Centimeter  blind.  In 
der  vorderen  Scheiden  wand,  etwas  mehr  rechts,  verläuft 


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—    255  — 


nach  oben  ein  dünner  Strang.  Unterhalb  der  Harn- 
röhrenmündung befinden  sich  zwei  kleine  Schleimhautfalten, 
Durch  den  Mastdarm  fühlt  man  einen  querverlaufenden 
mit  unerheblichen  Verdickungen  versehenen  Strang,  welcher 
links  etwas  breiter  endet.  Solowij  deutete  die  in  den 
Schamlefzen  enthaltenen  Gebilde  als  ektopische  Ovarien, 
wenn  er  auch  die  Möglichkeit  ins  Auge  faßte,  daß  es 
etwa  Hoden  sein  könnten.  Wegen  der  schmerzhaften 
Entzündung  der  rechten  Keimdrüse,  welche  trotz  vier- 
wöchentlicher Ruhe  und  entsprechender  Behandlung  nicht 
weichen  wollte,  vollzog  er  die  Exstirpation.  Nach 
Spaltung  der  Haut  ließen  sich  die  beiden  Keimdrüsen 
mit  Leichtigkeit  exstirpieren,  da  die  Leistenringe  bereits 
verschlossen  waren.  Schon  makroskopisch  konnte  man 
feststellen,  daß  es  sich  jederseits  um  Hoden  und  Neben- 
hoden handelte.  Das  Mikroskop  bestätigte  diese  Er- 
kenntnis: in  den  Hodenschnitten  fand  man  Samenfäden 
in  verschiedenen  Graden  der  Ausbildung.  Ebenso  typisch 
fielen  die  Nebenhodenschnitte  aus.  An  mehreren  Präparaten 
war  auch  ein  Vas  deferens  zu  sehen.  Das  Uebrige  bildeten 
vielfache  Schichten  glatter  Muskelfasern,  eingescheidet 
und  durchzogen  von  reichlichem  und  zum  Teil  kleinzellig 
infiltriertem  Bindegewebe.  Abgesehen  von  dem  wissen- 
schaftlichen Interesse  zögerte  S.  nicht,  diese  Gebilde  zu 
entfernen,  seien  es  nun  Hoden  oder  Ovarien,  weil  sie  für 
die  Fortpflanzung  des  Individuums  keinen  Wert  hatten, 
andererseits  die  schmerzhafte  Entzündung,  namentlich 
des  rechtsseitigen  Gebildes  die  Entfernung  indicierte. 
Erreur  de  sexe  festgestellt  auf  operativem  Wege. 
Solowij  erwähnt  nichts  über  das  geschlechtliche  Empfinden 
der  von  ihm  operierten  Person. 

32)  Stonham  [Complex  or  vertical  Hermaphrodisme. 
Transactions  of  the  Patholog.  Society  of  London.  British 
MedicalJournal  1888.  I.  pg.  416]  beschrieb  die  Genitalien 
eines  nach  Herniotomie  verstorbenen  Kindes.  Die  äußeren 


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Geschlechtsteile  männlich  bis  auf  Kryptorchismus,  eine 
Prostata  war  vorhanden,  teilweise  Hvpospadie.  Man 
fand  zugleich  eine  Vagina,  einen  Uterus  bicornis,  zwei 
Tuben,  zwei  Hoden  und  zwei  Nebenhoden  in  der  Bauch- 
höhle; letztere  Orgaue  lagen  an  den  Stellen,  wo  bei 
Frauen  die  Ovarien  liegen.  Keine  Samenbläschen  kon- 
statiert. Die  Mutter  dieses  Kindes  war  14  mal  schwanger, 
hat  aber  darunter  8  mal  abortiert.  Zwei  Kinder  erschienen 


Fig.  8.  Genitalien  desNambrok  Sadinah,  eines  Sträflings  im  Ge- 
fängnisso  zu  Soerabaja,  der  von  Stratz  für  einen  männlichen 
Scheiuzwitter  gehalten  wurde. 


als  Knaben,  aber  mit  Kryptorchismus  behaftet,  —  falls  es 
Knaben  waren.  Eine  Schwester  der  Mutter  galt  als 
Hermaphrodit,  hat  aber  in  der  Folge  ein  Kind  geboren. 
[Siehe  auch  Referat  in  Fromme  l's  Jahresbericht  für 
1888  pg.  306.J  — 

Stratz  proponierte  einem  im  Gefängnis  zu  Sörabaja 
interniertenSträflingNambrok  Sadinah  eine  diagnostische 


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—   257  — 

Incision  der  Schamlefzen  behufs  Feststellung  des  Ge- 
schlechtes, indem  er  eine  erreur  de  sexe  vermutete. 
Der  Sträfling  ging  jedoch  ebenso  wenig  wie  die  von 
Mund»'  beschriebene  Köchin  auf  den  Vorschlag  ein.  Das 
Allgemeinallssehen  war  eher  männlich  als  weiblich,  die 
Clitoris  2 — 4  Ceutimeter  lang,  die  IlarnröhrenöfTnung 
weiblich,  eine  Vagina  war  nicht  nachzuweisen,  aber  es 


Fig.  9. 


existierten  große  und  kleine  Schamlippen.  Weder  Uterus 
noch  Ovarien  per  rectum  getastet,  in  jeder  Schamlefze 
lag  ein  sehr  druckempfindliches  Gebilde  von  Haselnuß- 
größe,  welches  beim  Gehen  schmerzhaft  war.  (Siehe 
Fig.  8,  9,  10  Stratz.) 

83)  Swiencicki  (Nowiny  Lekarskie  1896  No.  4.  pg. 
176—178).    Die  23jährige  B.  J.  wurde  zu  Swiencicki 

Jahrbuch  V.  I< 


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Außore  Genitalien  des  Sträflinge»  Kambrok  Sadinah. 


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—   259  — 


gebracht  behufs  Ausführung  einer  Operation.    Das  141 
Centimeter  hohe  Mädchen  machte  einen  männlichen  Ein- 
druck ihrer  Allgemeinerscheinung  nach  trotz  ihres  nied- 
rigen Wuchses.    Gesichtsausdruck  männlich,  Haupthaar 
kurz  geschnitten,   Bartanflug  im  Gesichte.    Amastie  mit 
ganz    kurzen    Brustwarzen,    abdominaler,  männlicher 
Athmungstypus,  männliches  Becken,  Möns  Veneris  kaum 
angedeutet.    Linkerseits  vom  Schamhügel  eine  eiförmige 
nach  unten  sich  erstreckende  Anschwellung  von  24  Centi- 
metern  Umfang.    Medianwärts  von  dieser  Anschwellung 
die  Clitoris  von  vier  Centimeter  Länge,   einem  Penis 
gleichend,    aber    hakenförmig    nach    unten  gekrümmt. 
Man  entdeckt  leicht  eine  drei  Centimeter  lange  hypo- 
spadische  männliche  Harnröhre  an  der  Unterfläche  dieser 
scheinbaren  Clitoris.  S.  tastete  in  der  stark  vergrößerten 
rechten  Schamlefze  in  deren  oberem  Teile  Hoden  und 
Nebenhoden  von  normaler  Gestalt     Auch  den  Samen- 
strang konnte  er  leicht  tasten.    Keine  Prostata  entdeckt. 
Erektionen  vorhanden.  Linkerseits  fand  sich  eine  Hydro- 
cele.  S.  entleerte  durch  Paracentese  aus  dieser  Hydrocele 
etwa   zwei  Tassen    voll    einer   durchsichtigen  serösen 
Flüssigkeit   und  gelang  es  ihm  nach  Entleerung  der 
Hydrocele  auch  linkerseits  Hoden  und  Nebenhoden  zu 
tasten,  sowie  auch  den  Samenstrang.    Die  Mutter  brach 
in  Tränen  aus  bei  Mitteilung  des  Sachverhaltes  der  statt- 
gehabten „erreur  de  sexe",  die  Tochter  jedoch  nahm 
jedes  Wort  von  S.  mit  Begeisterung  auf  und  jauchzte 
vor  Freude  darüber,  daß  sie  fortan  ein  Manu  sein  werde, 
denn  sie  habe  schon  seit  jeher  einen  feurigen  Drang 
zu  Frauen  empfunden!   Sie  liebte  Zigaretten  zu  rauchen, 
hatte  einen  Widerwillen  gegen  alles  Weibliche,  Kleider- 
nähen, Stopfen  und  Strürapfestricken,  rasierte  sich  heim- 
lich und  hatte  sogar,  wie  sie  unter  vier  Augen  eingestand, 
schon  im  16.  Jahre  einen  Beischlaf  mit  einem  Mädchen 
versucht,  dessen  Bett  sie  zufällig  teilte.  Die  peniscrotale 

17* 


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—  260  — 


Hypospadie  hatte  die  erreurdesexe  veranlaßt.  Hätte 
nicht  die  einseitige  Hydrocele  existiert,  so  wäre  wohl 
auch  jetzt  noch  nicht  die  erreur  de  sexe  verraten 
worden.  Descensus  testiculorum  retardatus.  Die  Person 
sagte  aus,  sie  habe  sich  oft  so  unglücklich  gefühlt  dadurch, 
daß  sie  als  Frau  gelten  müsse  und  daß  sie  sich  deshalb 
mit  Selbstmordgedanken  getragen  habe. 

34)  T i  1 1  a u  x :  [siehe  V o e  1  k  e  r:  Article :  P^nis.  —  du 
Nouveau  Dictionnaire  de  Mldecine :  Enfant  mäle  pris  pour 
une  fille]"  —  ZuTillaux  wurde  ein  12 jähriges  Mädchen 
gebracht  mit  der  Bitte  der  Mutter,  dem  Kinde  ein  Bruch- 
band zuzupassen.  Till  au x  konstatierte  das  Vorhanden- 
sein eines  einseitigen  Leistenbruches,  gleichzeitig  entdeckte 
er  in  der  Hernie  ein  Gebilde,  welches  zunächt  den  Eindruck 
einer  Cyste  machte.  Instinktiv  untersuchte  er  nun  auch 
die  andere  Schamlefze  und  tastete  in  derselben  ein  ana- 
loges Körperchen.  Die  Sache  erweckte  in  dem  Chi- 
rurgen Bedenken:  er  machte  in  jeder  Schamlefze  einen 
diagnostischen  Einschnitt  und  fand  Hoden  vor,  konstatierte 
jetzt  auch,  daß  ein  rudimentärer  hypospadischer  Penis 
existierte  und  konstatierte  also  die  „erreur  de  sexe." 

35)  G.  R.  Turner  [WA  case  of  hermaphroditisme" 
Lancet3ü,  VI,  1900  pg.  1884-1885]:  Hjähriges  Mädchen 
mit  einem  linksseitigen  Leistenbruche  geboren.  Der  Bruch 
erwies  sich  als  irreponibel  und  das  Kind  trug  auf  Ver- 
langen der  Ärzte  hin  ein  Bruchband  bis  zum  12.  Jahre, 
obgleich  das  Bruchband  gar  keine  Linderung  brachte. 
Niemals  die  Kegel  bisher,  die  Ärzte  diagnostizierten  eine 
Labialektopie  des  Unken  Ovarium ;  endlich  wurde  eine 
Herniotomie  beschlossen.  Das  aus  der  Hernie  entfernte 
Gebilde  erwies  sich  als  Hoden  und  Nebenhoden. 
In  letzterem  fand  man  einige  kleine  Cysten.  Das  Mi- 
kroskop (Dr.  Kol  1  es  ton)  erwies  hier  die  erreur  de  sexe. 
Turner  vollzog  dann  gemeinsam  mit  Dr.  W.  R.  Dakin 
eine  Narkosen  Untersuchung  des  Kindes:  Brustdrüsen  gut 


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—   261  — 


entwickelt  im  Vergleich  zum  Alter  des  Kindes.  Vulva 
normal,  weiblich,  ohne  auch  nur  im  geringsten  einen 
Verdacht  auf  erreur  de  sexe  zu  wecken.  Die  Scham 
schon  behaart,  die  Harnröhrenmündung,  unregelmäßig 
umrandet,  wies  Karunkelbildungen  auf.  Die  Seheide  ließ 
einen  Finger  ein  und  erwies  sich  in  der  Tiefe  blind  ge- 
schlossen; keine  Vaginalportion  eines  Uterus  gefunden, 
wohl  aber  tastete  man  ein  d (inneres  strangförmiges  Gebilde 
(Tube  oder  Vas  deferens?).  Die  Schamlefzen  erwiesen 
sich  leer.  Man  fand  weder  eine  Spur  von  Uterus  noch 
von  einer  Prostata.  Das  anatomische  Präparat  des  ex- 
stirpierten  Hodens  wurde  aufbewahrt  im  Museum  des 
St  Georges  Hospital.  Das  von  Turner  operierte 
Kind  hatte  bisher  keinerlei  Hang  verraten  zu  dem  einen 
oder  zu  dem  anderen  Geschlechte  zu  gehören  und  half 
der  Mutter  bei  der  Beaufsichtigung  seiner  jüngeren 
Geschwister. 

86)  Wegradt  [Demonstration  stereoskopischer  Ab- 
bildungen der  Präparate,  gewonnen  sub  herniotomia  bei 
einem  als  Mädchen  erzogenen  männlichen  Scheinzwitter  — 
in  der  Ärztlichen  Gesellschaft  in  Magdeburg;  —  siehe 
Münchener  Medizinische  Wochenschrift  28.  V.  1901]: 
Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem  Individuum,  dessen 
äußere  Geschlechtsteile  weiblich  veranlagt  waren.  Die 
rechtsseitige  Hernie  enthielt  einen  Hoden,  die  linkseitige 
ein  Fibroadenom.    [Einzelheiten  fehlen  in  dem  Referate]. 

Auf  Grund  der  Ergebnisse  dieser  Operation  wurde 
•  da«  Geschlecht  als  männlich  erkannt. 

^87)  B.  Will  („Ein  Fall  von  Hermaphroditismus 
roasculinus."  —  D.  I.  Greifswald  1896)  beschrieb  die 
erreur  de  sexe  bezüglich  der  54jährigen  unverehe- 
lichten Kristine  W.  aus  der  Umgegend  von  Greifs- 
wald, welche  in  die  Klinik  eingetreten  war  mit  der  Bitte, 
sie  von  einem  beiderseitigen  Leistenbruche  zu  befreien. 
Niemals  hatte  Kristine  die  Regeln  gehabt,  wohl  aber 


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von  dem  17.  bis  zum  40.  Jahre  allmonatlich  ziehende 
Schmerzen  im  Unterleibe.    Körperhöhe  groß,  Knochen 
und  Muskelsystem  stark  entwickelt.    Stimme  männlich, 
Brüste   schlecht  entwickelt,  Warzen  prominent,  unbe- 
deutender Bartanflug  im   Gesicht.    Schamgegend  sehr 
spärlich  behaart,  große  und  kleine  Schamlippen  von  nor- 
maler Gestalt,  Scheidenöflnung  eng,  die  Scheide  in  der 
Höhe  von  anderthalb  Zentimetern  blind  geschlossen,  die 
Harnröhre  ist  aber  so  stark  erweitert,  daß  sie  ohne  Weiteres 
die  Spitze  des  großen  Fingers  einläßt.    Per  rectum  tas- 
tete man  weder  Uterus  noch  Geschlechtsdrüsen,  sondern 
nur  einen  bleistiftdicken  Strang  von  der  Mittellinie  nach 
links  zu  verlaufend.    Jederseits  in  der  Leistengegend  ein 
Tumor,  linkerseits  deutlicher  als  rechterseits ;  ein  jeder 
Tumor  schien  aus  zwei  Anteilen  zu  bestehen;  der  link- 
seitige  Tumor  bestand  aus  einem  hühnereigroßen  fluk- 
tuierenden Anteile  und  einem   kleineren  härteren  von 
Taubeneigröße,  der  bis  in  die  Schamlefze  herabreichte. 
Der  obere  flüssigkeitserfüllte  Tumor  hing  strikt  mit  dem 
unteren  weicheren  zusammen.    Der  rechtsseitige  Tumor 
war  kleiner,  ließ  sich  teilweise  reponieren  und  bestand 
ebenfalls  aus  einem  fluktuierenden  und  einem  weicheren 
Anteil.    Außer  dem  Tumor  existierte  auch  ein  Leisten- 
bruch.   Nach  Reposition  des  Bruches  drang  der  Finger 
in  den  Leistenkanal  ein.    Man  machte  linkerseits  einen 
Einschnitt  parallel  dem  Poupärt'schen  Bande,  unterband 
die  blutenden  Gefäße  und  legte  den  Tumor  bloß,  wobei 
eiuige  Unzen  einer  klaren,  serösen  Flüssigkeit  abflössen« 
Auf  der  äußeren  Kuppe  des  glattwandigen,  harten  Tu- 
mors  von   rosenroter   Farbe    hing   eine  taubeneigröße 
Cyste  mit  durchsichtigen  Wänden.    Man  zog  den  Tumor, 
soweit  es  anging  aus  dem  Leistenkanale  heraus,  unter- 
band den  Stiel,  durchschnitt  ihn  dann,  fixierte  ihn  durch 
einige  Seidennähte  unter  gleichzeitiger  Vernähung  des 
Leistenkanales   und  schloß  dann   die   Hautwunde  mit 


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—   263  — 


8  Nähten.  Rechterseits  konnte  nach  Entfernung  des 
Tumore  der  Finger  bequem  in  die  Bauchhöhle  eindringen, 
linkerseits  gelang  das  nicht  Prima  reunio  vulnerum. 
Kristine  W.  wurde  am  7.  I.  1896  geheilt  entlassen. 
Erst  die  mikroskopische  Untersuchung  der  entfernten  Ge- 
bilde wies  hier  eine  erreur  de  sexe  nach.  Der  links- 
seitige Tumor  hatte  vier  und  einen  halben  Zentimeter 
Länge  und  zwei  und  einen  halben  Breite,  der  rechts- 
seitige fünf  und  einen  halben  und  zwei  und  einen  halben 
Zentimeter  Länge  und  Breite.  Die  Tumoren  waren  jeder 
von  einer  mehrschichtigen  Bindegewebskapsel  umhüllt, 
die  Schnittfläche  sehr  uneben,  für  den  Hoden  charakte- 
ristisch. Die  Farbe  des  Durchschnittes  war  bronzeroi. 
Auf  dem  linken  Hoden  saß  eine  kleine  Cyste  gestielt  auf, 
auf  dem  rechten  eine  ebensolche  ungestielt.  Wo  der 
Nebenhoden  am  linken  Hoden  liegen  sollte,  sieht  man  ein 
härtliches,  bohnengroßes  Gebilde,  auf  dem  Durchschnitt 
den  drüsigen  Bau  verratend.  Sonst  fand  man  keinerlei 
Spuren  von  Nebenhoden  oder  Vasa  deferentia.  W.  gibt 
eine  sehr  detaillierte  Beschreibung  der  mikroskopischen 
Präparate,  die  ich  hier  nicht  wiederholen  will;  es  genüge 
zu  wissen,  daß  die  Untersuchung  eine  erreur  de  sexe 
konstatierte.  Der  rechte  Hoden  war  fibrös  degeneriert. 
Kristine  besaß  also  Hoden,  hatte  aber  keine  Aus- 
führungsgänge für  deren  Produkt  wegen  Obliteration  der 
Wolf  frohen  Gänge.  Das  geschlechtliche  Empfinden  der 
Kristine  W.  war  ein  rein  männliches,  doch  folgte  sie 
dem  Beispiele  anderer  Frauen  und  kohabitierte  mit 
Männern,  aber  ohne  jede  Libido.  Obgleich  sie  eine  rudi- 
mentäre Scheide  besaß,  so  benützte  sie  doch  für  den 
Beischlaf  die  Harnröhre,  welche  mit  der  Zeit  dadurch 
sehr  erweitert  wurde.  Kristine  empfand  nur  einen 
auf  Frauen  gerichteten,  also  männlichen  Geschlechts- 
drang, hat  es  jedoch  nie  gewagt,  einen  Beischlaf  mit 
einem  Weibe  zu  versuchen. 


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—   204  — 


38)  v.  Winckel  soll  ein  Mädchen  von  männlichem 
Aussehen  beschrieben  haben,  weiblicher  Kopfbehaarung, 
gut  entwickelten  Schamlefzen  und  Clitoris  peniformis 
Eine  spätere  Herniotomie  soll  erreur  de  sexe,  also 
männliches  Geschlecht,  erwiesen  haben,  indem  die  aus 
den  Schamlefzen  entfernten  Gebilde  sich  als  Hoden  er- 
wiesen. Persönlich  habe  ich  die  Beschreibung  eines 
solchen  Falles  aus  v.  Winkels  Feder  stammend  nirgends 
finden  können,  erwähne  aber  diesen  Fall,  weil  er  von 
anderen  Autoren  erwähnt  wird. 

[Sollte  der  Fall  von  Shattock  sich  nicht  auf  eine 
erreur  de  sexe  beziehen,  resp.  auf  einen  irrtümlich  als 
Mädchen  erzogenen  männlichen  Scheinzwitter,  so  wäre 
dieser  Fall  aus  vorstehenden  38  Fällen  zu  eliminieren.  N.J 

Zweite  Gruppe. 

Vier  Herniotomien  bei  weiblichen  Scheinzwittern  mit 
2  Fällen  von  irrtümlicher  Geschlechtsbestimmung. 

1)  Brohl  („Hernia  uteri  bei Pseudohermaphroditimus 
femininus"  —  Deutsche  Medicinische  Wochenschrift 
1894  No.:  15.)  Eine  36  jährige  Person,  seit  dem  18. 
Jahre  normal  menstruiert,  die  sich  stets  für  eine  Frau 
gehalten  hatte,  wünschte  sich  zu  verheiraten.  Gesicht 
und  Behaarung,  Stimme  und  Kehlkopf  männlich,  Bart- 
wuchs ausgesprochen,  Brüste  aber  weiblich.    Clitoris  65 

Anmerkung:  Beiläufig  erwähne  ich  folgenden  Fall  von 
Pozzi  u.  Grattery  (Progres  medioal  16.  IV.  1887.  —  Referat: 
Repertoire  Universel  d'Obst,  1887  p.  467):  Eine  69  jährige  Frau 
wurde  wegen  Einklemmung  eines  Leistenbruches  in  das  Hospital 
gebracht  und  starb  trotz  Reduktion  des  Bruches,  welche  Marohand 
vollzog,  infolge  Peritonitis.  Die  Nekropsie  erwies  eine  „Erreur  de 
sexe."  Hypospadiasis  peniscrotalis,  in  den  Hoden  Spermatozoiden 
gefunden.  Kein  Uterus  vorhanden,  Behaarung  spärlich,  Allgemein- 
aussehen männlich. 


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—  265 


Millimeter  lang,  wird  sub  erectione  11  Centimeter  laDg! 
Große  Schamlippen  gut  entwickelt,  die  kleinen  mangel- 
haft. Scheideneingang  von  einem  Hymen  garniert.  Die 
linke  Schamlefze  enthält  einen  Tumor,  welcher  seit  1881, 
also  seit  13  Jahren  schon,  der  Dame  viele  Schmerzen 
verursacht.  Dieser  Tumor  soll  plötzlich  erschienen  6ein 
nach  Aufheben  einer  schweren  Last  Da  der  Tumor 
während  der  Regel  an  Größe  zunahm,  also  offenbar 
anschwoll,  vermutete  man,  es  handle  sich  um  eine  Hernia 
uteri  und  ovarii.  Von  diesem  Tumor  zog  eine  Art 
Strang  nach  dem  Leistenkanale  zu.  Da  eine  Reduction 
der  Hernie  nicht  gelang,  so  machte  Brohl  die  Hernio- 
tomie:  er  fand  in  dem  Bruchsacke  den  Uterus  und  beide 
Ovarien.  Er  amputierte  den  ektopischen  Uterus  au  niveau 
des  Collum  uteri  und  fixierte  den  Stumpf  in  der  Inguinal- 
wunde  mit  einigen  Nähten.  Nach  5  Wochen  verließ  das 
Mädchen  das  Hospital  kastriert  und  von  den  Beschwerden 
befreit.  Der  linke  Eierstock  war  atrophisch,  der  rechte 
lag  in  ligamento  lato.  Beide  Tuben  waren  bedeutend 
erweitert.  Der  Uterus  war  bicornis  und  die  Höhle  durch 
ein  Septum  im  oberen  Teile  zweigeteilt.  Collum  uteri 
stark  verlängert  —  (wohl  infolge  der  Ektopie  des  Fundus 
?  —  N)  —  Weder  Hoden  noch  Nebenhoden  noch  Prostata 
gefunden.  Es  handelte  sich  also  um  eine  im  extrauterinen 
Leben  erworbene  Hernia  inguinolabialis  uteri  bicornis  et 
utriusque  ovarii  bei  ganz  ungewöhnlicher  Hypertrophie 
und  Erektilität  der  Clitoris  und  einigen  männlichen 
secundären  Geschlecbtscharakteren.  —  [Wäre  es  nicht 
rationeller  gewesen,  den  Leistenkanal  soweit  als  nötig  zu 
spalten  und  die  ektopischen  Gebilde  in  die  Bauchhöhle 
zu  reponieren?  —  N.]  — 

2)  Pe*an  (Bulletin  Me*dical,  3.  April  1895  —  und  — 
Gazette  des  Höpitaux  1890  No.:  41)  Ein  15  jähriges 
Mädchen  wurde  schon  seit  drei  Jahren  in  ihrem  Aussehen 
immer  mehr  und  mehr  männlich,  es  trat  Stimmbruch  ein, 


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—   266  — 


die  Stimme  wurde  männlich,  es  trat  männliche  Gesichts- 
behaarung auf,  es  traten  Erektionen  der  Clitoris  ein! 
Ein  Arzt  schickte  das  15jährige  Mädchen  nach  Paris, 
wo  eine  erreur  de  sexe  konstatiert  wurde,  das  Ge- 
schlecht für  männlich  erklärt.  Das  bisherige  Mädchen 
erhielt  männliche  Kleider  und  sollte  nun  einen  männlichen 
Beruf  erlernen.  Der  Junge  fand  aber  an  männlicher  Be- 
schäftigung keinen  Gefallen,  er  wurde  von  einem  Meister 
zum  anderen  gebracht  in  verschiedenen  Handwerken, 
wollte  aber  nicht  lernen.  Endlich  klagte  er  über  allmonatlich 
sich  wiederholende  Schmerzen  im  Unterleibe.  Einer 
seiner  Lehrmeister  schöpfte  Verdacht,  ob  der  Junge  nicht 
doch  ein  Mädel  sei  und  nun  wurde  das  Kind  zum  zweiten 
Male  nach  Paris  gebracht  behufs  erneuter  Untersuchung 
und  zwar  zu  Pöan.  Pe*an  konstatierte  eine  Hypos- 
padiasis  peniscrotalis  und  Krvptorchismus  und  vollzog 
einen  Einschnitt  in  den  Leistengegenden  wie  bei  Herniotomie, 
um  die  Hoden  aufzusuchen,  fand  aber  nicht  einmal  die 
Oeffnungen  der  Leistenkanäle  da,  wo  sie  sein  sollten. 
Er  eröffnete  jetzt  die  Bauchhöhle,  holte  ein  Organ  hervor, 
das.  er  anfänglich  für  einen  Hoden  gehalten  hatte,  es  war 
der  Uterus;  daneben  lag  die  rechtsseitige  Tube,  regelmäßig 
geformt,  er  fand  endlich  auch  die  linksseitigen  Adnexa, 
aber  weder  Prostata  noch  Samenblasen.  Er  beschloß 
nunmehr,  da  eine  erreur  de  sexe  sich  ergeben  hatte, 
auf  plastischem], Wege  eine  Vagina  zu  bilden,  um  einen 
Kanal  zu  schaffen,  durch  den  im  Falle  von  Entstehung 
einer  Hämatometra  das  Blut  nach  außen  abgeleitet  werden 
konnte,  er  mußte  jedoch  auf  diesen  Plan  verzichten,  da 
die  Harnröhrenwand  zu  nah  der  vordem  Mastdarmwand 
anlag.  Er  fürchtete  auch  die  Corpora  cavernosa  penis 
resp.  clitoridi8  dabei  zu  verletzen.  Er  dilatierte  also  nur 
die  einmal  gesetzte  Wunde  zwischen  Urethralmündung 
und  Analmündung,  indem  er  darauf  rechnete,  wenn  das 
Mädchen  einmal  heirate,  so  werde  der  Gatte  allmählich 


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—   267  — 


den  heute  geschaffenen  Recessus  erweitern  per  cohabita- 
tiones.  Endlich  fügte  er  noch  den  Bauchschnitt  hinzu 
und  entfernte  beiderseits  die  Uterusadnexa,  um  der 
Bildung  einer  Hämatoraetra,  Hämatosalpinx,  Häraatocele 
vorzubeugen.  Cornil  und  Briault  konstatierten  mikros- 
kopisch am  Präparat,  daß  die  Geschlechtsdrüsen  wirklich 
die  Ovarien  waren.  Es  handelt  sich  also  um  einen  weib- 
lichen Scheinzwitter  mit  Defectus  vaginae,  hypertrophischer 
erectiler  Clitoris,  allgemeinem  männlichen  Aussehen, 
Behaarung,  Andromastie  etc.  In  diesem  Falle  würde 
wohl  ein  jeder  Gynäkologe  denselben  diagnostischen 
Fehler  gemacht  haben  wie  Pe*an.  Interessant  ist,  daß 
das  Kind  gleich  nach  seiner  Geburt  richtig  als  Mädchen 
erkannt  und  auch  als  Mädchen  getauft  wurde,  die 
Aenderung  der  Metrik  in  späteren  Jahren  in  eine  männliche 
falsch  war.  —  Dieser  Fall  steht,  was  mehrfache  Änderung 
der  Metrik  anbetrifft,  nicht  einzig  da! 

3)  Sujetinow  [Medicinskoje  Obozrenje  [Russisch] 
1897  pg.]  beschrieb  eine  45jährige  Frau,  welche  in 
jüngeren  Jahren  zwei  Jahre  lang  unregelmäßig  ihre 
Menstruation  gehabt  haben  soll,  später  aber  gar  keine. 
Männliche  Gesichtsbehaarung  mit  Schnurrbart  und  Backen- 
bart ;  Andromastie,  männliches  Becken,  männlicher  Typus 
der  Extremitäten.  Rechterseits  ein  reponibler  Leisten- 
bruch. Die  rechte  Schamlefze  enthält  ein  Gebilde  von 
der  Gestalt  eines  Hodens,  von  letzterem  zieht  eine  Art 
Strang  nach  dem  Leistenkanale  hin.  Clitoris  5  Zentimeter 
lang  und  zwei  Zentimeter  dick,  macht  eher  den  Eindruck 
eines  hypospadischen  Penis.  Kleine  Schamlippen  fehlen 
ganz.  Die  Scheide  eng,  in  der  Tiefe  blindsackartig  ge- 
schlossen, läßt  den  Finger  nicht  ein.  Per  rectum  keinerlei 
charakteristischen  Gebilde  getastet,  bezüglich  Ent- 
scheidung fraglichen  Geschlechtes.  Es  wurde  später  bei 
Incarceration  die  Herniotomie  gemacht.  Das  in  der  einen 
Schamlefze  enthaltene  Gebilde  war  der  Eierstock  und 


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—   268  — 


der  Strang  die  Tube.  Es  handelte  sich  also  um  einen 
weiblichen  Scheinzwitter  mit  Hernia  uteri,  salpingis  et 
ovarü  lateris  dextri,  hypertrophischer  erectiler  Clitoris 
und  zahlreichen  männlichen  secundären  Geschlechts- 
charakteren bei  mangelhafter  Ausbildung  der  Müll  einsehen 
Gänge,  sowie  Mangel  der  kleinen  Schamlippen.  (In  dem 
Referate  [Journal  für  Geburtshülfe  und  Frauenkrankheiten. 
Petersburg  1898  pg.  248]  ist  leider  nicht  gesagt,  ob  eine 
mikroskopische  Untersuchung  der  Geschlechtsdrüse  vor- 
genommen wurde  oder  nicht,  welche  für  die  endgültige 
Entscheidung  des.  Geschlechtes  ein  wichtiges  Desiderat 
sein  muß,  da  makroskopisch  man  sich  mehr  als  leicht  in 
solchen  Fragen  irren  kann.  N.). 

4)  Walther  [Bulletins  et  Mdmoires  de  la  Socidte 
de  Chirurgie  der  Paris  1902,  Tome  XXVIII.  No.  31  pg. 
938  undN:  32  pg.  9721 :  „Anomalie  genitale"  —  Höchst 
interessante  Beobachtung  von  erreur  de  sexe.  Ein 
24jähriger  Sattler  trat  in  das  Hospital  de  la  Pitie*  ein 
am  3.  IX.  1902  und  verlangte  operative  Abhilfe  wegen 
Mtßgestaltung  seiner  Geschlechtsorgane.  Gleich  nach  der 
Geburt  war  sein  Geschlecht  als  weiblich  bestimmt  worden 
später  wurde  jedoch  auf  den  Rat  eines  Arztes  hin  die 
Metrik  in  eine  männliche  geändert.  Am  4.  März  1902 
stellte  Petit  dieses  Individuum  in  der  SocieHe*  Medicale 
des  Höpitaux  vor.  Die  äußeren  Geschlechtsteile  sehen 
aus  wie  bei  Hypospadiasis  peniscrotalis  oder  wie  eine 
Vulva  mit  bedeutender  Clitorishypertrophie.  Das  Scrotum 
fissum  resp.  die  Schamlefzen  leer,  aber  dicht  unterhalb 
der  äußeren  Öffnung  des  rechtsseitigen  Leistenkanals 
fühlte  man  ein  kleines  eiförmiges  Körperchen,  eine  weiche 
Inguinalhernie,  in  der  man  ein  härteres  Gebilde  tastete, 
das  den  Eindruck  einer  Geschlechtsdrüse  machte  und 
sehr  druckempfindlich  war.  Eine  ähnliche  Hernie  mit 
einem  analogen  Körperchen  wurde  nun  auch  links  getastet 
Per  rectum  waren  Keine  für  das  eine  oder  andere  Ge- 


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—   269  — 

schlecht  charakteristischen  Gebilde  zu  tasten.  Das  Aus- 
sehen dieses  Individuum  war  weder  männlich  noch  weib- 
lich, sondern  gemischt.  Man  bemerkte  eine  gewisse  Infan- 
tilität der  Entwickeluog,  keine  Spur  von  Gesichtsbehaarung 
trotz  des  Alters  von  24  Jahren.  Becken  imd  Brüste 
weiblich,  Taille  eher  männlich,  Stimme  indifferent,  weder 
männlich  noch  weiblich.  Den  Harn  gibt  der  Sattler  nach 
Frauenart  ab;  seit  dem  16.  Jahre  sollen  alle  Monate 
etwa  160  Gramm  Blut  aus  der  Harnröhre  entleert  werden, 
die  Blutung  dauert  jedesmal  2 — 3  Tage,  die  Blutaus- 
scheidung ist  jedesmal  begleitet  von  Anschwellen  der  in 
den  Leisten  getasteten  Gebilde  (der  Ovarien?)  —  Trotz 
dieser  anscheinenden  Menstruation  ist  der  Geschlechtstrieb 
rein  männlich,  sowie  auch  der  Sattler  von  seinem  männ- 
lichen Geschlechte  überzeugt  ist. 

Der  Penis  fissus  hypospadiaeus  verrät  sofort  Erektio- 
nen, wenn  der  Sattler  sich  in  weiblicher  Gesellschaft 
befindet  und  nur  die  Krümmung  nach  abwärts  zu  ist 
die  Ursache,  weshalb  der  Sattler  bis  jetzt  noch  keinen 
Beischlaf  mit  einer  Frau  versucht  hat.  Während  der 
Erektionen  kommt  es  zur  Ejakulation  einer  klebrigen 
Flüssigkeit,  in  der  jedoch  Laignel-Lavastine  keine 
Spermatozoiden  fand.  Einige  Tage  nach  dieser  Demon- 
stration vollzog  Walther  die  beiderseitige  Herniotomie 
und  fand  rechterseits  einen  atrophischen  Eierstock  und 
die  rechte  Tube,  die  er  in  die  Bauchhöhle  zurückschob, 
den  Inhalt  des  linksseitigen  Bruches  trug  er  ab;  es  war 
das  zusammengeknickte  Mittelstück  der  linken  Tube, 
deren  Abdominalende  sowie  das  uteri ne  in  der  Bauch- 
höhle lagen  —  eine  Sactosalpinx  verbacken  mit  dem 
sklerotischen  Ovarium,  das  cystisch  entartet  war,  und 
mit  dem  Netz.  Der  linke  Eierstock  enthielt  ein  Corpus 
luteum.  Die  operative  Entfernung  dieser  Gebilde  war 
sehr  schwierig.  Walther  fügte  einen  kleinen  diagno- 
stischen Leibschnitt  hinzu  um  den  Zustand  des  Netzes  zu 


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—   270  — 


kontrollieren,  das  er  in  vier  einzelnen  Bündeln  unterbunden, 
teilweise  hatte  abtragen  müssen,  sowie  die  zwei  Stümpfe 
der  linksseitigen  Adnexa,  und  fand  bei  dieser  Gelegenheit 
einen  kleinen  Uterus  vor.  Die  Herniotomie  konstatierte 
hier  also  weibliches  Scheinzwittertum  bei  einem  Indivi- 
duum, das  absolut  den  Eindruck  eines  Mannes  machte. 
In  der  Diskussion  hatten  vor  Ausführung  dieser  Operation 
sowohl  Lucas-Championnidre  als  auch  Fe  Ii  zet  dieses 
Individuum  mit  aller  Bestimmtheit  für  einen  Mann  erklärt. 

Bruno  T.  Carreiro:  „Pseudohermaphrodismo 
audrogynoide  on  un  caso  de  supposto  hernia  inguinal 
d'ovario."  O  Correio  med.  de  Lisboa.  Octob.  1896  p. 
149.  [Da  mir  der  Aufsatz  nicht  zugänglich,  vermag  ich 
keinerlei  Einzelheiten  anzugeben.] 

Dritte  Gruppe. 

13  Leistenschnitte  bei  Männern  resp.  männlichen 
Scheinzwittern  mit  Konstatierung  eines  mehr  oder 
weniger  entwickelten  Uterus  oder  einer  oder  der  bei- 
den Tuben  in  hernia  resp.  in  der  Bauchhöhle. 

1)  Billroth  (siehe  Klotz:  „Extraabdominelle 
Hystero-Ovariotomie  bei  einem  wahren  Zwitter"  Archiv 
für  klinische  Chirurgie  Vol.  XXIV  pg.  454  —  1880  — 
siehe  Referat :  Zentralblatt  für  Gynäkologie,  1880  No.  1. 
pg.  15)  (siehe  Fig.  19  u.  20).  Ein  24 jähriger  jüdischer 
Kaufmann,  Israel  Jaroszewski  aus  Rußland,  kam  zu  Bill - 
roth  wegen  einer  Leistenhernie.  Billroth  konstatierte 
eine  Hypospadiasis  peniscrotalis  mit  einer  Pseudovulva 
mit  großen  und  kleinen  Schamlippen  und  weiblicher 
Urethralmündung.  In  der  linken  Sohamlefze  lag  ein 
Hode,  Nebenhode  und  Samenstrang,  rechterseits  jedoch 
enthielt  die  Schamlefze  einen  Tumor  und  wies  eine  Fistel- 
öffnung in  ihren  Hautdecken  auf,  welche  eine  Sonde 
einige   Millimeter   tief  einließ.    Der  Tumor  soll  nach 


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271  — 


Aussage  des  Patienten  schon  viele,  viele  Jahre  existieren, 
fing  jedoch  erst  im  1(5.  Jahre  an,  sich  zu  vergrößern  und 
von  eben  diesem  16.  Jahre  an  bekam  Israel  J.  alle  vier 
Wochen  periodisch  starke  Schmerzen  im  Kreuz  und  diverse 
Molimina,  welche  jedesmal  4 — 10  Tage  anhielten.  Während 
dieser  Schmerzperiode  entleerte  sich  stets  Blut  sowohl 
aus  der  Harnröhre  als  auch  aus  der  vorgenannten 
Fistel  des  rechten  Labium  pudendi  majus.  Diese  Blutung 
wiederholte  sich  alle  Monate  und  dauerte  gewöhnlich 
vier  Tage.  Israel  verfiel  sowohl  infolge  seiner  Leiden, 
sowie  auch  infolgedessen,  daß  er  sich  angesichts  seiner 
genitalen  Mißbildung  nicht  verheiraten  konnte,  in  einen 
Zustand  von  Melancholie,  welche  sich  mit  der  Zeit  so 
steigerte,  daß  er  sich  sogar  mit  Selbstmordsgedanken 
getragen  hatte.  Er  gestand  ein,  geschlechtlich  sowohl 
mit  Knaben  als  auch  mit  Mädchen  verkehrt  zu  haben, 
wobei  er  Erektionen  und  Ejakulationen  hatte.  Billroth 
konstatierte  zunächst  einen  rechtzeitigen  Leistenbruch, 
der  aber  keinen  Darm  zum  Inhalte  hatte,  wie  ihm  schien, 
und  setzte  ein  Neoplasma  des  rechten  Hodens  voraus. 
Am  25.  Juli  1878  schritt  er  zur  Herniotomie.  Er  fand 
in  dem  Bruchsacke  eine  cystische  Bildung,  deren  Stiel 
in  den  Leistenkanal  hineinreichte.  Er  unterband  diesen 
Stiel,  wobei  er  teilweise  die  Bauchhöhle  öffnen  mußte, 
unter  sehr  starker  Blutung.  Er  durchschnitt  dann  den 
Stiel  und  unterband  die  Gefäße  einzeln  und  vernähte 
dann  die  Hautdeckenwunde.  Nach  zwei  Tagen  erfolgte 
unter  Kollapserscheinungen  der  Tod.  Als  Ursache  ergab 
sich  eine  Blutung  in  die  Bauchhöhle  hinein  infolge  von 
Abgleitens  einer  arteriellen  Ligatur.  Die  Sektion  des 
Leichnames  wurde  von  Chiari  gemacht.  Die  Brüste 
waren  groß,  weiblich,  in  der  linken  Schamlefze  fand  man 
Hoden,  Nebenhoden  und  Samenstrang  von  normaler 
Anlage,  der  exstirpierte  Tumor  bestand  aus  mehreren 
Teilen :  es  hatte  eine  hernia  inguinolabialis  uteri  unicornig 


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—   272  — 

bestanden,  mit.  einer  cystischen  Bildung,  scheinbar  aus 
einem  Ovarium  hervorgegangen.  Der  Uterus  war  durch 
den  Leistenkanal  so  eingeschnürt,  daß  er  die  Gestalt  einer 
Sauduhr  hatte,  er  war  im  Leistenkanale  incarceriert 
gewesen!  Billroth  hatte  den  oberen  Teil  des  Uterus 
amputiert.  Die  Scheide  von  einem  Hymen  am  Aus- 
gange  garniert   öffnete  sich    in   die  männliche  Harn- 


Fig.  11.    Außeres    Genitale  des  24  jähr.  Israel  Jaroszewski, 
eines  männlichen  Scheinzwitters  mit  Hernia  ingninoserotalis  dextra 
uteri.   Beobachtung  von  Billroth. 

röhre.  Das  linke  Vas  deferens  eröffnete  sich  neben 
der  Vaginalmündung  in  die  Urethra  so,  daß  dieses 
Vas  deferens  der  Uterovaginalkanal  und  die  Harn- 
röhre sich  gemeinsam  in  einen  Sinus  urogenitalis  eröffnen. 
Klotz  behauptet  durchaus  nicht,  daß  das  cystisch  ent- 
artete Organ,  welches  dicht  bei  dem  Uterus  lag,  ein 
Ovarium  sei  —  in  welchem  Falle  hier  ein  wahres 
Zwittertum  vorläge,  sondern  spricht  nur  eine  derartige 


—   273  — 


Hypothese  aus!  Nach  unseren  [heutigen  Kenntnissen  ist 
ein  derartiges  Vorkommnis  beim  Menschen  bisher  über- 
haupt nicht  zweifellos  erwiesen  worden.  Es  scheint  viel- 
mehr, daß  es  sich  um  einen  cystisch  degenerierten  rechten 
Hoden  handelte.  Schambehaarung  weiblich,  die  allgemeine 
Behaarung  jedoch   sowie   die   des  Gesichtes  männlich, 


Fig.  12.   Außere  Genitalien  desselben  Individuum  bei  Spreizung  der 

Pseudovulva. 

a,  b  =  Geschlechtssäcke  (Scrotalhältten),  c  =a  Gesohlechtsglied, 
d  —  Frenulum,  f  =  Oriticiuin  sinus  urogenitalis,  g  =  Präputium, 
h  =  Nymphen,  i  =  fistulöser  menstruierender  Ausfiihrungsgang 
der  in  hernia  inguinoscrotali  liegenden  Uterushälfte. 

Hypospadiasis  peniscrotalis;  Penis  8  Centimeter  lang. 
Keine  Prostata  gefunden,  linker  Hoden  normal.  Das 
Ergebnis  der  Sektion  lautete:  Uterus  unicornis  hohen 
Entwickelungsgrades  samt  V'agina  und  Hymen  —  der 
Uterus  teilweise  in  hernia  inguinali  liegend  —  bei  einem 
männlichen  Hypospaden  mit  Mangel  eines  Vas  deferens, 

Jahrbuch  V.  18 


—   274  — 


der  Samen  blasen  und  der  Prostata.  Eine  Erklärung  der 
allmonatlichen  Blutungen  ex  Urethra  und  aus  der  Fistel 
im  rechten  Labium  majus  steht  aus.  Geschlechtsdrang 
männlich.    (Siehe  Fig.  11  u.  12). 

2)  Bockel  [„Exstirpation  d'un  uterus  et  d'unetrompe 
hernile  chez  un  homme".  Acad^mie  de  Me'decine  de 
Paris.  19.  Avril  1892.  —  Semaine  MeMicale  1892  Vol.  XII, 
pg.  146]:  Bockel  fand  in  einer  Inguinolabialhernie  bei 
einem  männlichen  Individuum  einen  Uterus  bicornis, 
welcher  eine  Höhle  enthielt,  eine  Tube  und  einen  Hoden 
samt  Nebenhoden  und  Vas  deferens,  welche  letzteren  Ge- 
bilde im  Ligamentum  latum  gelagert  waren.  [Da  mir  die 
Arbeit  von  Bö  ekel  nicht  vorliegt  so  muß  ich  mich  auf 
das  kurze  Referat  von  Prof.  Stumpf  beschränken]. 

3)  Carle  [siehe  Gruner:  „Utero  e  trorabe  di  Fal- 
loppio  in  un  uomo*  —  Giornale  della  Reale  Academia 
di  Torino.  —  1897  Anno  LX.  pg.  229  und  pg.  257—286]. 
Die  mikroskopische  Untersuchung  wurde  im  Laboratorium 
des  Professors  Giacomini  gemacht.  Am  9.  November 
1894  trat  ein  36-jähriger  Telegraphist  in  die  chirurgische 
Klinik  von  Carle  in  Turin  ein  wegen  eines  links- 
seitigen Leistenbruches,  der  vor  einem  Monate  erst  unter 
heftigen  Schmerzen  entstanden  war.  Der  Kranke  selbst 
glaubte,  der  linke  Hoden  habe  sich  vergrößert  und  sei 
härter  geworden.  Carle  machte  die  Herniotomie  und 
fand  in  hernia  einen  nicht  schmerzhaften,  beweglichen 
Körper  von  Hühnereigröße,  welcher  sich  leicht  reponieren 
ließ  auf  dem  Wege  der  Taxis.  Der  Patient  vertrug  ab- 
solut ein  Bruchband  nicht  und  kam  deshalb  in  das  Hospital. 
Der  Hodensack  enthielt  nur  den  linken  Hoden  und  ober- 
halb dieses  linken  Hodens  jene  reponible  Hernie,  einen 
Tumor.  Nach  zwei  Monaten  kehrte  der  Patient  am 
26.  IV.  1894  wieder  in  die  Klinik  zurück  und  wurde 
jetzt  die  Hernitomie  gemacht  mit  gleichzeitiger  Eröffnung 
der  Bauchhöhle.    Man  überzeugte  sich  hierbei,  daß  dieser 


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-   275  — 

Mann  einen  Uterus  samt  zwei  Tuben  besaß,  deren  linke 
in  jener  Hernie  lag.  Beim  Leistenschnitte  erwies  sich 
der  linke  Hoden  pathologisch  entartet  und  wurde  deshalb 
abgetragen.  Oberhalb  des  Hodens  fand  sich  ein  läng- 
liches Gebilde,  welches  durch  den  Leistenkaual  hindurch 
sich  in  die  Bauchhöhle  fortsetzte.  Es  war  dies  eine  Tube, 
welche  mit  dem  Hoden  durch  einen  fibrösen  Strang  in 
Verbindung  stand.  Bei  Eröffnung  der  Bauchhöhle  vom 
Leistenschnitte  aus  fand  sich  ein  Uterus  auf  der  rechten 
Fossa  iliaca  gelagert  und  die  zweite  Tube.  —  Neben  der 
linken  Tube  fand  sich  das  linke  Vas  deferens.  Der 
Uterushals  stand  nach  unten  zu  im  Cavum  rectovesicale 
mit  der  Prostata  in  Verbindung.  Es  wurde  der  Hoden 
linkerseits  abgetragen  samt  dem  Uterus,  die  Wunde  ge- 
schlossen. Wegen  postoperativen  Fiebers  wurde  die 
Wunde  wieder  geöffnet,  es  fand  sich  aber  kein  Eiter; 
die  Wunde  heilte  per  secundam  inten tionem.  Später 
erfuhr  Giacomini,  daß  dieser  Mann  gestorben  sei 
infolge  eines  intraabdominellen  Tumors  (?)  und  zwar 
nach  Heimkehr  in  sein  Haus.  Von  der  Frau  dieses 
Telegraphisten  erfuhr  er,  daß  ihr  Mann  normalen  Verstand 
hatte  und  gutmütigen  Charakters  war,  daß  er  seinen 
ehelichen  Pflichten  regelmäßig  nachkam,  aber  die  Ehe 
war  eine  kinderlose;  weiter  erfuhr  er,  daß,  soweit  der 
Frau  bekannt,  ihr  Mann  niemals  genitale  Blutungen  ir- 
gend welcher  Art  gehabt  hatte.  Bei  der  Operation  war 
die  linke  Tube,  ein  Uterus  bicornis  und  das  zentrale 
Ende  der  rechten  Tube  entfernt  worden.  Gruner,  welcher 
das  postoperative  Präparat  untersuchte,  gibt  die  Ab- 
bildung von  vorn  und  von  hinten  gesehen,  und  Bilder 
der  mikroskopischen  Schnitte  von  Uterus,  Tube  und  Vas 
deferens  und  eine  sehr  detaillierte  Beschreibung.  Uterus 
und  Tuben  viabel,  linke  Tube  8  Centimeter  lang,  7  Milli- 
meter im  Umfange.  Bezüglich  des  Tumors  der  ent- 
arteten linksseitigen  Geschlechtsdrüse  konnte  das  Mikros- 

18* 


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—   276  — 


kop  einen  sicheren  Entscheid  nicht  geben,  G.  rechnete 
diesen  Tumor  zu  den  Teratomen.  Per  i  preparati  fatti 
dal  tumore  PA.  lo  ascrive  alla  categoria  dei  tumori  da 
resti  fetali  in  proliferazione :  Questi  appartenavo  con  tutta 
probilita  ad  una  ghiaodola  sessuale  gia  ditferenziate  in 
testicolo,'  G.  gibt  au,  er  sei  absolut  nicht  im  Stande, 
auf  Grund  der  sorgfältigsten  mikroskopischen  Unter- 
suchung in  diesem  Falle  zu  entscheiden,  ob  der  Tumor 
aus  einem  Hoden  oder  einem  Ovarium  entstanden  war. 
Aller  Wahrscheinlichkeit  nach  dürfte  es  sich  doch  um 
einen  degenerierten  Hoden  gehandelt  haben. 

4)  D e r  v  eau  , Uterus,  trompe  et  testicule contenus dans 
une  hernie  inguinale  congdnitale  chez  un  homme"  — 
Cercle  Mddical  de  ßruxelles  5.  IV.  1902  —  siehe:  Re- 
ferat: Zentralblatt  für  Chirurgie  Vol.  XXVIII.  pg.  952j. 
Bei  einem  69  jährigen  Manne,  der  Ejakulationen  hatte 
und  aus  dessen  Ehe  6  Kinder  hervorgegangen  waren, 
fand  Derveau  bei  der  Operation  eines  angeborenen 
Leistenbruches  im  Bruchsacke  einen  Uterus,  Tuben  und  ein 
scheidenähnliches  Gebilde,  welches  wahrscheinlich  in  die 
Harnröhre  mündete.  Der  Hodensack  enthielt  außer  der 
Hernie  keinen  Inhalt,  in  jedem  der  ligamenta  lata  fand 
sich  ein  normaler  Hode.  Die  Blase  kam  während  der 
Operation  nicht  zu  Gesicht.  Uber  den  Zustand  der  äußeren 
Genitalien  wird  nichts  berichtet,  schreibt  Mohr  in  dem 
Referate;  ich  schliesse  daraus,  daß  wahrscheinlich  der 
Penis  normal  gebildet  war.  Kryptorchismus  bilateralis 
bei  hochgradiger  Entwickelung  der  Müller'schen  Gänge. 

5j  Fantino  (Giuseppe):  Der  Prof essor  der  Gynäko- 
logie Fantino  in  Bergamo  teilte  mir  am  10.  HI.  1902 
brieflich  mit,  er  habe  am  5.  III.  bei  einem  Manne  in 
hernia  inguinali  im  Bruchsacke  einen  Uterus  gefunden 
mit  beiden  Tuben  und  zwei  Hoden.  Der  linksseitige 
Leistenkanal  war  leer.  (Der  Fall  scheint  bis  jetzt  noch 
nicht  publiziert  zu  sein.) 


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—  277  — 


6)  Filippini  [D  Morgagni.  Dicembre  1900  — 
siehe  Referat:  Mlinchener  Medizinische  Wochenschrift 
1901  No.  10  pg.  403]  beschrieb  einen  Fall  von  angeblich 
wahrem  Zwittertume:  Er  fand  bei  einem  23  jährigen 
Manne  bei  Operation  eines  rechtsseitigen  Leistenbruches 
in  hernia  einen  Uterus  und  eine  Tube  und  angeblich 
ein  Ovarium,  während  linkerseits  im  Scrotum  ein  Hode 
lag.  Die  Allgemeinerscheinung  dieses  Mannes  war  rein 
männlich.  Offenbar  liegt  hier  ein  Jrrtum  in  der  mikros- 
kopischen Deutung  der  rechtsseitigen  Geschlechtsdrüse 
vor.  [Leider  bin  ich  nicht  im  Besitz  der  Originalarbeit, 
das  Referat  ist  aber  so  kurz,  daß  damit  nicht  viel  anzu- 
fangen ist,  obwohl  ein  so  seltener  Fall  gewiß  ein  ein- 
gehenderes Referat  verdiente.] 

7)  Griffith  [siehe  Gruppe  I  Fall  9:  Uterus  bei 
einem  männlichen  Scheinzwitter  sub  Castratione  entdeckt]. 

8)  Guldenarm  [siehe:  Siegenbeck  van  Heu- 
k elom:  Ueber  den  tubulären  und  glandulären  Hermaphro- 
ditismus beim  Menschen.  „Z  i  egl  e  r's  Beiträge  zur  patho- 
logischen Anatomie  und  allgemeinen  Pathologie."  1898  Vol. 
XXIII.  Heft  I.  pg.  144 — 160].  S.  beschreibt  einen  Mann  mit 
rechtsseitigem  Kryptorchismus  und  Leistenbruch.  Penis 
und  Scrotum  normal.  In  dem  offen  gebliebenen  Pro- 
cessus vaginalis  pcritonaei  fand  sich  ein  LTterus,  sehr 
wohl  ausgebildet.  Am  7.  XII.  1896  sandte  Guldenarm 
aus  Rotterdam  das  postoperative  Präparat  an  Siege  nbeck 
van  Heukelom  zur  Untersuchung.  Guldenarm  hattedie 
Herniotomie  gemacht,  weil  der  Mann  absolut  kein  Bruch- 
band vertragen  konnte.  Ein  Arzt  hatte  ein  Bruchband 
wegen  von  ihm  vorausgesetzter  Hernia  omenti  verordnet. 
Guldenarm  entfernte  sub  operatione  die  in  dem  Bruche 
enthaltenen  Gebilde  sowie  den  linken  Hoden  und  Neben- 
hoden. Rechterseits  lag  Kryptorchismus  vor.  Statt  des 
Omentum  fand  sich  in  hernia  ein  vom  Peritoneum  um- 
hülltes  Körperchen  von  13  Mill.  Länge  und  zylindrischer 


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—   278  — 


Gestalt;  das  rechtsseitige  Ende  dieses  Gebildes  endete 
frei,  das  linksseitige  war  in  strikter  Verbindung  mit  dem 
linken  Hoden.  Das  Gebilde  hatte  eine  dreieckige  Ge- 
stalt und  saß  an  einem  Stiele,  der  durch  den  Leisten- 
kanal in  das  kleine  Becken  ging.  In  diesem  Stiel  konnte 
man  eine  Art  Strang  tasten,  welcher  in  der  Richtung 
nach  dem  kleinen  Becken  zu  immer  dünner  wurde,  nach 
außen  zu  aber  immer  dicker.  Dieser  Stiel  inserierte 
in  der  Mitte  jenes  dreieckigen  Gebildes.  Der  Stiel  wurde 
bei  der  Operation  durchschnitten  und  es  zeigte  sich, 
daß  er  einen  Kanal  enthielt,  in  welchen  eine  Sonde  tief 
eindringen  konnte  bis  zur  Pars  prostatica  urethrae. 
Dieses  zylindrische  Gebilde  war  abgetragen  worden  dicht 
bei  der  Epididymis.  Schon  während  der  Operation  ver- 
mutete Guldenarm,  dieses  zylindrische  Körperchen  sei 
ein  Uterus  und  jener  sondendurchgängige  Kanal  ein  ductus 
genitalis  femininus,  der  sich  in  die  Urethra  in  capite  gal- 
linaginis  eröffnet.  Keine  Prostata  getastet.  Das  Präpa- 
rat enthielt  den  amputierten  Uterus  bicornis,  Hoden  und 
Nebenhoden.  Letztere  Gebilde  standen  in  inniger  Ver- 
bindung mit  dem  peripheren  Ende  der  linken  Tube.  Es 
gelang  sub  operatione  auch  den  rechten  Hoden  und 
Nebenhoden  aus  der  Bauchhöhle  herauszuziehen,  wenn  man 
an  jenem  Stiele  zog. 

Die  Hernie  hatte  also  das  rechte  Horn  eines  Uterus 
bicornis  enthalten.  An  dem  Präparate  fand  man  den 
Ductus  genitalis  femininus  10  Mill.  lang,  eine  cervix  uteri 
mit  Plicae  palmatae  ausgestattet,  —  die  rechte  Tube  war 
56  Mill.  lang  und  ohne  Morsus  diaboli,  sie  verlor  sich  im 
rechten  Nebenhoden.  Man  fand  am  Präparate  sowohl 
eine  Hydatis  peduneulata  als  auch  eine  Hydatis  sessilis; 
rechterseits  von  dem  ductus  genitalis  femininus  verlief 
das  rechtsseitige  Vas  deferens,  verbunden  mit  dem  rechts- 
seitigen Nebenhoden.  Man  fand  Spuren  eines  ligamen- 
tum  rotundum,  konnte  aber  eine  Arteria  uterina  nicht 


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279  — 


mit  Sicherheit  am  Präparate  nachweisen.  Siegenbeck 
gibt  eine  genaue  mikroskopische  Beschreibung.  Man 
hatte  sub  operatione  den  Uterus  bicornis  samt  beiden 
Tuben  entfernt  und  auch  den  rechtsseitigen  Hoden  und 
Nebenhoden,  welche  aus  der  Bauchhöhle  durch  den  links- 
seitigen Leistenkanal  herausgezogen  worden  waren.  Die 
Gegenwart  so  hochgradig  entwickelter  Mülle  r'scher  Gänge 
bei  diesem  Manne  erinnert  an  das  normale  Verhalten 
beim  Biber,  wo  normal  die  Müller'schen  Gänge  auch 
beim  Männchen  zur  Entwickelung  gelangen.  Siegen- 
beck  van  Heukelom  fügt  hier  eine  sehr  interessante 
Bemerkung  hinzu:  Die  strikte  Vereinigung  der  beiden 
Hoden  miteinander  durch  den  Uterus  bicornis,  ein  mus- 
kulöses, nicht  dehnbares  Organ,  war  die  Ursache,  wes- 
halb der  rechte  Hoden  nicht  seinen  descensus  vollziehen 
konnte  angesichts  derKürze  des  Uterus  und  seiner  Tuben. 
Der  tubuläre  Herraaphroditismus  war  in  diesem  Falle 
die^  Ursache,  weshalb  rechtsseitig  Kryptorchismus  vor- 
liegen mußte.  Die  rechte  Tube  durchbohrte  in  schräger 
Richtung  den  rechten  Nebenhoden  und  reichte  bis  an 
jene,  zwischen  Hoden  und  Nebenhoden  belegene  Hydatis 
pedunculata,  wo  sie  mit  epithelbedeckten  Fimbrien  en- 
dete. Das  soll  die  Richtigkeit  der  1871  von  Fl  ei  sc  hl 
ausgesprochenen  und  von  Waldeyer  acceptierten  Ver- 
mutung beweisen,  daß  die  Hydatis  Morgagnii  nichts 
Anderes  sei  als  das  persistierende  periphere  Ende  des 
Müll  ergehen  Ganges. 

Siegenbecks  Ansicht,  daß  bei  einem  so  stark  aus- 
gebildeten tubulären  männlichen  Hermaphroditismus,  wie 
er  hier  vorliegt,  entweder  ein  Kryptorchismus  bilateralis 
oder  Kryptorchismus  unilatcralis  mit  einer  hernia  conge- 
nita da  sein  muß,  erscheint  mir  durchaus  gerechtfertigt. 
Er  motiviert  dieselbe  folgendermaßen:  Die  M  üll  er'schen 
Gänge  haben  sich,  statt  zu  schwinden,  zu  einem  überall 
dickwandigen  Gange  umgestaltet.    Während  die  oberen 


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—   280  — 


Teile  sich  jeder  für  sich  entwickelt  haben,  sind  die 
unteren  von  einer  Cervix  uteri  zusammengeschmolzen  und 
so  sind  die  Hoden  und  Nebenhoden  mittelst  eines  un- 
unterbrochenen, dicken  und  verhältnismäßig  kurzen  Stranges 
fest  mit  einander  verbunden.  Dadurch  wird  bei  inten- 
diertem Descensus  testiculorum  das  Eintreten  der  Hoden 
in  je  eine  Scrotalhälfte  unmöglich.  Es  können  sich  da- 
raus nach  Siegenbeck  2,  nach  meiner  Ansicht  3  ab- 
norme Lagerungen  der  Hoden  entwickeln.  Entweder 
bleiben  beide  Hoden  in  der  Bauchhöle  zurück,  oder  einer 
kann  in  die  Scrotalhöhle  eintreten,  der  andere  muß  in 
der  Bauchhöhle  bleiben  nach  Siegenbeck,  in  welchem 
Falle  der  Uterus  und  die  Tuben  fest  verbunden  mit  dem 
descendierten  Hoden  notwendig  den  Descensus  des  anderen 
Hodens  verhindern;  ich  betone  als  dritte  Möglichkeit  den 
Austritt  von  Uterus  und  beiden  Hoden  in  eine  und  dieselbe 
Scrotalhälfte  wie  im  Falle  Fantino's  (s.  i.  Vorhergehenden). 

9)  Pozzi  (siehe  im  Vorgehenden  Fall  No.  25].  Bei 
einem  als  Mädchen  erzogenen  männlichen  Scheinzwitter  in 
einer  Inguinalhernie  neben  dem  Hoden  ein  Horn  eines 
Uterus  bicornis. 

10)  Sänger  [siehe im  Vorgehenden  Fall 27).  In  einer 
Inguinalhernie  ein  Uterus  samt  Tube  und  Parovarialcyste 
neben  dem  Hoden  liegend. 

11)  Stonham  [siehe  im  Vorgehenden  Fall  32].  Die 
Sektion  eines  nach  Herniotomie  verstorbenen  Mädchens 
ergab  männliches  Geschlecht,  Hvpospadiasis  peniscrotalis 
mit  Kryptorchismus.  Neben  inneren  männlichen  Genita- 
lien fand  sich  ein  Uterus  bicornis  nebst  Tuben  und  Vagina. 
Hoden  lagen  da,  wo  die  Ovarien  bei  Frauen  liegen,  keine 
Samenblasengefunden.  Hier  ist  Siege nb eck's  theoreti- 
sches Postulat  des  Kryptorchismus  bilateralis  erfüllt 

12)  Thiers ch  [siehe  Schmorl:  „Ein  'Fall  von 
Hermaphroditismus"  Virchow's  Archiv.  Bd.  CXI.  1888. 
pg.  229 — 244].    Schmorl  beschrieb  eine  interessante  Be- 


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281  — 


obachtung  von  Thiers ch.  Ein  22-jäbriger  Schüler  der 
Leipziger  Kunstakademie  trat  in  die  chirurgische  Klinik 
1887  ein  mit  der  Bitte,  auf  operativem  Wege  ihm  die 
Möglichkeit  zu  schaffen  nach  Art  der  Männer  harnen  zu 
können  und  daß  er  auch  als  Mann  den  Beischlaf  ausüben 
könne.  Thiersch  sagte  ihm  nach  der  Untersuchung,  er 
halte  nicht  viel  von  derartiger  Plastik,  was  das  Endresultat 
anbetreffe.  1882  war  ein  rechtsseitiger  Leistenbruch 
ausgetreten,  welcher  bis  in  die  Tiefe  des  gespaltenen 
Scrotum  herabreichte,  in  derselben  Hälfte  des  Scrotum 
tastete  man  Hoden  und  Nebenhoden,  die  linke  Hälfte  des 
Scrotum  erwies  sich  geschrumpft  und  leer.  Thiersch 
vollzog  eine  ganze  Reihe  plastischer  Eingriffe,  um  den 
hypospadischen  nach  unten  gekrümmten  Penis  gerade  zu 
machen !  Nachdem  er  Wasser  in  die  Harnblase  eingespritzt 
hatte,  bemerkte  er  ein  Anschwellen  der  linken  Leisten- 
gegend, in  der  Folge  aber  erwies  sich  sowohl  die  normale 
Entleerung  der  Harnblase  erschwert  als  auch  diejenige 
durch  einen  Katheter.  Um  die  Ursache  dieser  eigentüm- 
lichen Erscheinung  festzustellen,  machte  Thiersch  jetzt 
eine  andere  Operation,  er  machte  einen  Einschnitt  wie 
bei  Herniotomie  und  fand  im  Leistenkanale  ein  Gebilde 
von  5  Centimeter  Länge  und  2  Centiraeter  Dicke,  welches 
er  zunächst  für  den  linken  Hoden  ansah.  Nach  Unter- 
bindung des  Stieles  trug  er  diesen  scheinbaren  Hoden  ab, 
den  Samenstrang  kauterisierte  er  mit  Paq  uelin's  Brenner. 
Gleich  nach  dieser  Operation  stellte  sich  eine  Peritonitis 
ein  mit  Singultus,  Coraa  und  Tod  am  nächsten  Tage.  Bei 
der  Sektion  fand  man  einen  Uterus  bicornis  und  eine 
Scheide,  welche  in  eapite  gallinaginis  der  Urethra  mündete. 
Der  Uterovaginalkanal  hatte  15  Centimeter  Länge.  Das 
von  Thiersch  als  Hoden  abgetragene  Gebilde  erwies  sich 
als  das  periphere  Ende  der  linken  Tube  mit  zwei  kleinen 
Cysten.  Das  Abdominalende  der  rechten  Tube  lag  im 
rechten  Leistenkanale,  die  rechtsseitige  Inguinalhernie  ent- 


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—  282  — 


hielt  das  große  Netz.  Neben  der  rechten  Tube  fand  ich 
ein  Parovarium,  die  rechte  Hälfte  des  gespaltenen 
Scrotum  enthielt  einen  atrophischen  Hoden  ohne  Neben- 
hoden und  ohne  Vas  deferens."  Schmorl  betrachtete  ein 
atrophisches  kleines  Gebilde,  halbkirschengroß  rechterseits 
im  Bindegewebe  unterhalb  des  abdominalen  Endes  der 
Tube  belegen,  als  einen  rudimentären  Eierstock,  freilich 
ohne  den  geringsten  Beweis  für  die  Richtigkeit  dieser 
Annahme  bringen  zu  können.  In  diesem  Falle  wies  nicht 
die  Hemiotomie,  sondern  die  postmortale  Leichenschau 
das  Existieren  eines  Uterus  bicornis  und  einer  Scheide 
nach.  Kryptorchismus  unilateralis  bei  hochgradiger  Ent- 
wickelung  der  Müller'schen  Gänge. 

13)  Winkler  [„Uber  einen  Fall  von  Pseudoherma- 
phroditismus  masculinus  externus*.  I.  D.  Zürich  1898]. 
52-jähriger  Mann  behaftet  mit  einem  angeborenen  Leisten- 
bruche. Während  einer  Hemiotomie  im  Jahre  1878  hatte 
man  Kryptorchismus  konstatiert  1892  kam  es  zu  einem 
Recidiv  des  Bruches.  Man  machte  den  Bauchschnitt  und 
durchschnitt  einen  Adhaesionsstrang,  welcher  die  Darm- 
unwegsamkeit  veranlaßt  hatte.  Der  Kranke  starb  trotz- 
dem am  nächsten  Morgen  infolge  von  Peritonitis  acutissima. 
Die  Nekropsie  wies  einen  Hoden,  den  rechtsseitigen,  in 
der  Bauchhöhle  nach,  linkerseits  fand  man  in  der  Mün- 
dung des  Leistenkanales  das  periphere  Ende  der  linken 
Tube.  Man  fand  in  der  Bauchhöhle  einen  Uterus  bicornis 
mit  Scheide,  —  der  Uterovaginalkanal  hatte  eine  Länge  von 
17  Centimetern.  Der  Uteruskanal  war  9  Centimeter  lang, 
die  Vagina  8.  Das  untere  Scheidenende  war  von  der 
Prostata  umschlossen.  Penis  klein  aber  normal,  Scrotum 
leer.  Oberhalb  der  Prostata  fand  man  die  Mündung  des 
linken  Vas  deferens  in  die  Vagina,  die  linke  Samenblase 
lag  seitlich  von  der  Vagina.  Fundus  uteri  2  Centimeter 
breit.  Man  fand  natürlich  eine  Excavatio  rectouterina 
und  vesicouterina.    Die  linke  Tube  verlief  in  Ligamento 


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—  283  — 


Riö"bert<fel 

Vig.  13. 

Anatomisches  iv.ipar.it  der  inneren' Genitalien  eines  52j.1hr.*  Kryptorchisten  'mit 
hochgradiger  Entwicklung  der  M  ü  I  ler  'sohen'Gilnge.  Beobachtung  von  Wi  nck  1er, 
Nekropsie  ron  Ribbert  vollzogen.  Der  weibliche  (ieuitalschlauch  ist"  vonjhinten 
der  Lftpgc  nach  eröffnet.  Ei  =  Einmundungastelle'dtsjrteru«  in  die.  Urethra,  ent- 
sprechend dem  Sitz  einer  normalen  Vesdcula  prostatica ;  Pnmt.  Prostata;  du.  ej.  = 
Ductus  ejoculatoriu»  ;  1.  Sa.  -  linker  Samenleiter;  r.  Sa.  —  rechter  Samenleiter; 
Vag.  =  Vagina;  Ut.  —  Uterus;  1.  vas'def.  -  linkes  Vas  lieferen»;  r.  Tu.  rechte 
Tube  ;  Cy.  Cysten  ;  r.  Ho.  rechte  Hode;  Lig.  la.  =  Ligamentum  latum  ;*).  Tu.  : — 
linke  Tube  ;  Ne.  Ho.       N'ebwnbodenkaniilcheu;  ;l.**Ho.      linker  Hode  ;   Firn. - 

Fimbrien  der.  ÜukenVrube. 
a8'-ktionsprJl>ar»t  votn^Utorus  masculinus  eines'Kryptorchistcn. 


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—   284  — 

lato.  Das  periphere  Ende  der  rechten  Tube  lag  der 
Bauchwand  an,  hatte  aber  kein  Ostium,  statt  des  Morsus 
diaboli  fanden  sich  nur  einige  Cvstchen.  Nur  das  linke 
Ligamentum  rotundum  war  vorhanden,  das  rechte  fehlte. 
Man  fand  beide  Hoden,  Nebenhoden,  Vasa  deferentia  und 
Samenblasen.  Der  linke  Hode  lag  an  Stelle  des  Ovarium, 
der  rechte  ganz  nahe  der  Bauchwand.  Ductus  ejaculatorii 
ohne  Lumen.  Wi  n  c  k  1  e  r  gibt  detaillierte  anatomische  Be- 
schreibung. Dieser  Kryptorchist  hatte  also  neben  seinen 
männlichen  inneren  Genitalien  auch  hochgradig  entwickelte 
weibliche  Geschlechtsgänge.  [Siehe  Fig.  13.  Kryptor- 
chismusbilateralisSiegenbeck'sbei  tubulärem  männlichen 
Hermaphroditismus.l  —  Die  Operation  von  Prof.  Kroen- 
lein  ausgeführt.    Die  Sektion  von  Prof.  Kibbert. 

Bei  der  Bruchoperation  wegen  Einklemmung  1878 
fand  man,  daß  der  rechte  Hoden  und  Samenstrang  mit  dem 
Brnchinhalt  vor  dem  äußeren  Leistenringe  lagen  und  bei 
der  Reposition  der  Darmschlingen  der  Hoden  große  Tendenz 
zeigte,  mit  in  die  Bauchhöhle  zurückzugleiten.  Scrotum 
geschrumpft,  Penis  pueril,  Pubes  männlich,  Stimme  männ- 
lich. Als  Patient  1892  in  die  Klinik  kam,  erwies  sich 
der  recidivierte  Bruch  reponibel,  man  machte  also  eine 
Herniokoeliotomie. 

Im  Anschluß  an  die  dritte  Gruppe  teile  ich  hier  eine  in 
ihrer  Art  einzig  dastehende  Beobachtung  von  Prof.  Garre* 
(Königsberg)  mit:  „Ein  Fall  von  echtem  Herraaphroditis- 
mn.s."  Deutsche  med.  Wochenschrift  1003.  N.  5  fm.  Abbild g.l 

Anmerkung:  Im  II.  Jahrgänge  dieses  Jahrbuches  pg.  845 
ist  ein  Telegramm  ans  Brescia  vom  14.  November  wiedergegeben. 
Es  wurde  daselbst  ein  verheirateter  Mann,  dessen  Ehe  Kinder  ent- 
sprossen sind,  wegen  doppelseitigen  Leistenbruches  operiert:  in  der 
Tiefe  der  rechten  Leiste  fand  sich  ein  Uterus  mit  2  Tuben  und  einem 
Ovarium.  Zunächst  dürfte  wohl  hier  irrtümlich  ein  Hoden  9  für 
ein  Ovarium  angesehen  sein.  Ich  habe  diesen  Fall  nicht  regi- 
striert, weil  ich  vermute,  daß  sich  dieses  Telegramm  auf  den  Fall  von 
Filippini  betieht.  N. 


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285  — 


Ein  20jähriges  aus  Rußland  stammendes  Individuum 
wurde  im  Sommer  1902  in  die  chirurgische  Klinik  auf- 
genommen. Es  war  das  als  Knabe  erzogene  Individuum 
angesichts  einer  Reihe  in  letzter  Zeit  auftretender  Er- 
scheinungen an  seinem  männlichen  Geschlechte  zweifelhaft 
geworden.  Die  Brüste,  besonders  die  linke,  entwickelten 
sich  stark  und  schwollen  periodisch  au,  aus  dem  Genitale 
traten  in  regelmäßigen  vierwöchentlichen  Intervallen 
Blutungen  auf,  überdies  ging  bisweilen  unter  sexueller 
sich  stets  an  die  Vorstellung  eines  weiblichen  Wesens 
knüpfender  Erregung  ein  weißlicher  Schleim  ab.  All- 
gemeiner Körperbau  mehr  weiblich :  runder  Kopf,  langer 
Hals,  langer  Thorax  mit  sehr  gut  entwickelten  Brüsten, 
gerundetem  Abdomen,  breite  Becken  mit  breit  ausgeladenem 
Schamwinkel.  Genitale:  stark  entwickelt,  penis  hypo- 
spadiaeus,  schlaüe  gutbehaarte  Geschlechtsfalten,  die  eine 
mit  niedrigem  Hautsaum  umgebene  Öffnung  umschließen, 
von  der  aus  man  mit  einem  Katheter  in  die  Blase  gelangt. 
Per  rectum  fühlte  man  scharf  die  D  o  u  g  1  a  s  falte  (?),  sodann 
links  einen  Strang,  der  sich  seitlich  an  die  Urethra  an- 
zusetzen schien,  zur  Linea  innominata  hinaufzog  und  hier 
neben  sich  zwei  etwa  taubeneigroße,  gegen  einander  gut 
verschiebliche  Körper  fühlen  ließ,  von  denen  der  eine 
etwas  höckrig  erschien. 

Rechts  nichts  Sicheres  fühlbar,  hingegen  hier  ein 
ovoider,  etwa  taubeneigroßer  vor  den  Leistenkanal  ge- 
legter Körper,  der  wohl  als  Geschlechtsdrüse  anzusprechen 
war,  ohne  aber  eine  Entscheidung  ob  Hoden  oder  Eier- 
stock zu  gestatten.  Unter  Kreuzschmerzen  in  der  dritten 
Woche  des  Hospitalaufenthaltes  eine  geringe  Blutung 
aus  dem  Genitale.  Da  das  Geschlecht  klinisch  sich  nicht 
entscheiden  ließ,  so  schlug  Garre*  einen  Probeeinschnitt 
vor  auf  das  rechterseits  vor  dem  Leistenkanal  liegende 
Gebilde  zu.  Patient*  der  unter  allen  Umständen  sich 
Anerkennung  als  Mann  verschaffen  wollte,  ging  auf  den 


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—  286 


Vorschlag  ein.  Die  Operation  ergab  folgenden  merk- 
würdigen Befund:  Nach  Durchtrennung  des  als  Bruch- 
sack vorgewölbten  Peritoneal blattes  ließ  sich  an  einer 
Peritonaealfalte  ein  sicher  als  Tube  anzusprechendes 
Gebilde  hervorziehen,  das  sich  in  seinem  uterinen  Ende 
in  der  Peritonäalplatte  verlor;  unter  ihr  subperitonaeal 
lag  ein  höckriger,  anscheinend  aus  einem  Schlauchgeflecht 
zusammengesetzter  Körper,  der  als  Parovarium  bezw. 
Ovarium  aufgefaßt  wurde;  aus  dessen  in  die  Bauchhöhle 
ziehenden  Peritoneal  blatt  trat  sodann  ein  etwa  taubenei- 
großer  gelblicher  Körper  hervor,  dem  kappenartig  ein 
halbbohnengroßer,  mehr  weißlicher  Knoten,  ursprünglich 
als  Epididymis  angesprochen,  aufsaß;  es  zeigte  sich  jedoch, 
daß  in  dem  von  diesem  als  Keimdrüse  imponierenden 
Gebilde  abgehenden  Peritonäalblatt  ein  festerer  Strang 
verlief,  der  nur  als  Vas  deferens  aufgefaßt  werden  konnte, 
und  neben  diesem  subperitonäal  ein  erbsengroßer,  höck- 
riger Körper,  mutmaßlich  der  Nebenhoden. 

Da  somit  der  männliche  Geschlechtsapparat  vorhanden 
zu  sein  schien,  wurden  als  unbrauchbar  die  Tube  und  der 
unter  ihr  gelegene  Körper  abgetragen,  aus  den  übrigen  Teilen 
der  Keimdrüse  kleine  Keile  excidiert,  desgleichen  ein  Teil 
des  neben  dem  Vas  deferens  gelegenen  Körpers  exstirpiert. 

Die  Präparate  wurden  von  Dr.  Simon,  Volontärarzt 
der  Klinik,  mikroskopisch  untersucht.  Der  größere  untere 
Teil  der  Keimdrüse  soll  darnach  einen  Hoden  mit  den 
Charakteren  des  Leistenhodens  ohne  Zeichen  von  Sper- 
matogenese darstellen,  der  kleinere  dem  unteren  kappen- 
artig*^ufsitzende  weißliche  Knoten  ein  Ovarium,  der  unter 
der  Tube  gelegene  Körper  ein  Parovarium  und  das  neben 
dem  Vas  deferens  gelegene  Gebilde  eine  Epididymis. 
Ovarium  und  Hoden  sollen  beide  histologisch  gut  ausge- 
bildet sein.  Garre*  vermutet,  daß  die  beiden  bei  Unter- 
suchung per  rectum  linkerseits  getasteten  Körperchen, 
von  denen  der  eine  flacher,  der  andere  rundlicher  er- 


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—   287  — 

schien,  Ovarium  und  Hoden  seien,  es  würde  dann  bila- 
teraler glandulärer  Hermaphroditismus  vorliegen.  Es  sollen 
in  diesem  Falle  zum  ersten  Male  am  lebenden  Individuum 
sowohl  grob  anatomisch  als  auch  histologisch  an  frischen 
Präparaten  Testis  und  Ovarium  nebeneinander  konstatiert 
worden  sein. 

Wie  bekannt  hat  von  sämtlichen  Fällen,  wo  bisher 
glandulärer,  also  echter  Hermaphroditismus  beim  Menschen 
beschrieben  wurde,  keiner  der  älteren  einer  mikros- 
kopischen Kontrol Untersuchung  Stand  gehalten,  nicht  ein- 
mal die  von  Black  er  und  Lawrence  beschriebene 
Ovotestis  —  eine  Geschlechtsdrüse  mit  gemischtem  Bau. 
Bisher  ist  nur  der  einzige  Fall  von  v.  Sal£n  noch  nicht 
angefochten  worden.  Gleichwohl  wäre  es  dringend  zu 
wünschen,  daß  sowohl  die  Präparate  dieses  Falles  als 
auch  diejenigen  des  von  Keller  (Bloom fontein)  ver- 
öffentlichten, eines  neuerdings  im  Anatomischen  Anzeiger 
angezeigten  Falles  und  diejenigen  von  Garre*  und  Simon 
einer  strengen  mikroskopischen  Kontrole  unterworfen 
würden.  Theoretisch  muß  die  Möglichkeit  des  Vorkommens 
von  glandulärem  Uermaphroditismus  beim  Menschen  laut 
Analogie  mit  der  Tierwelt  zugegeben  werden,  es  wäre 
unendlich  wichtig,  wenn  die  Behauptungen  Simonis 
bezüglich  der  Königsberger  Präparate  sich  als  tat- 
sächlich begründet  erweisen  würden. 

Vierte  Gruppe. 

45  Fälle  von  Coincidenz  von  gut-  oder  bösartigen 
Neubildungen   mit  Scheinzwittertum  einschliesslich 
der  an    Scheinzwittern  vollzogenen  Bauchhöhlen- 
operationen. 

- 

1)  Abel  [„Ein  Fall  von  Hermaphroditismus  mas- 
culinus  mit  sarkomatöser  Cryptorchis  sinistra*  —  Vir- 
chow's  Archiv  Bd.  CXXVL  Berlin  1891} 


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—   288  — 


Am  21.  Oktober  1890  kam  die  33jährige  Albertine 
R.  aus  Schlawe  in  die  Greifswalder  Frauenklinik.  Das 
Mädchen  war  verlobt,  wurde  von  ihren  Freundinnen 
vielfach  gehänselt  wegen  ihres  immer  stärker  werdenden 
Leibes  und  suchte  nun  die  Klinik  auf,  um  von  der  im 
Bauche  sich  entwickelnden  Geschwulst  befreit  zu  werden. 

Patientin  soll  früher  stets  gesund  gewesen  sein,  vom 
20.  Jahre  an  soll  sie  die  Regel  allmonatlich  drei  Tage 
lang  ohne  Beschwerden  gehabt  haben.  Im  Frühling  1890 
fühlte  Patientin  einmal  unabhängig  von  der  Regel  heftige 
Schmerzen  im  Leibe,  bald  darauf  begann  der  Leib  stärker 
zu  werden  und  nahm  bis  jetzt  unausgesetzt  an  Grüße  zu. 
Auch  während  dieser  ganzen  Zeit  blieb  die  Regel  schmerz- 
los. Die  letzte  Regel  vor  14  Tagen  etwas  schwächer 
als  sonst    Miktion  und  Defäkation  normal. 

Patientin  war  klein,  zart  gebaut,  von  gesunder  Gesichts- 
farbe ohne  Ödeme.  Der  Körper  scheint  normal  gebaut. 
An  den  Genitalien  und  in  den  Achselhöhlen  fehlt  jede 
Spur  von  Behaarung.  Patientin  fühlt  sich  wohl,  verlangt 
aber  trotzdem  eine  Operation.  Leib  aufgetrieben,  besonders 
unterhalb  des  Nabels,  namentlich  links.  Ein  elastischer 
cystischer  Tumor  liegt  größtenteils  links  im  Leibe.  Der 
Tumor  reicht  nach  unten  zu  bis  an  den  Beckeneingang, 
wo  er  etwas  spitz  zuläuft.  Der  Tumor  hat  die  Gestalt 
einer  Birne,  deren  spitzes  Ende  nach  unten  rechts  zu, 
das  obere  breite  nach  oben  links  zu  gerichtet  ist,  sodaß 
auch  die  Kuppe  des  Tumors  links  von  der  Mittellinie 
liegt,  6  Centimeter  oberhalb  des  Kabels,  während  der 
Tumor  in  der  Mittellinie  den  Nabel  nur  um  4  Centimeter 
überschreitet  Oberfläche  glatt>  Konsistenz  gleichmäßig 
prall,  elastisch.  Scheideneingang  eng,  Hymen  vorhanden, 
der  Finger  findet  die  Scheide  als  einen  kurzen  Blindsack ; 
drängt  man  den  Tumor  herab,  so  kann  man  ihn  durch 
das  Scheideugewölbe  fühlen. 


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—    289  — 


Eine  Portio  vaginalis  uteri  tastet  der  Finger  nicht; 
im  Speculum  sieht  man  im  linken  Scheidengewölbe  eine 
Andeutung  der  Portio  vaginalis  uteri,  welche  aber  eiue  Sonde 
nirgends  einläßt.  In  der  rechten  Leistengegend  fühlt  man 
einen  Körper  von  der  Größe  und  Gestalt  eines  Eierstockes, 
welcher  sich  leicht  nach  der  Bauchhöhle  zu  verschieben, 
aber  nicht  in  dieselbe  hinein  schieben  läßt.  Vom  unteren 
Rande  der  Urethralmündung  hing  ein  etwa  bohnengroßer 
Polyp  herab.  Die  Diagnose  wurde  auf  congenitalen 
Verschluß  der  Vagina  und  Haematometra  gestellt  Man 
versuchte  sub  narcosi  mit  einer  Sonde  durch  die  Portio 
vaginalis  uteri  sich  einen  Weg  zu  bahnen,  nachdem  die 
Kuppe  der  Vagina  im  Speculum  eingestellt  war.  Da 
es  nicht  gelang,  das  Gewebe  bis  zu  dem  Tumor  stumpf 
zu  trennen,  so  spitze  Lanze.  Man  schafft  einen  Kanal, 
der  Finger  dringt  ein  und  fühlt  jetzt  den  Tumor  deut- 
licher. Man  führt  einen  Katheter  in  die  Stichkanalwunde 
ein  und  daneben  eine  Kornzange,  welche  jetzt  geöffnet 
wird,  um  den  Kanal  zu  erweitern.  Endlich  wird  ein 
Troicart  eingeführt  und  in  den  Tumor  eingestoßen:  dann 
seine  Canüle  weiter  eingedrängt.  Es  entleeren  sich  bei 
Druck  auf  den  Tumor  nur  einige  Klümpchen  geronnenen 
Blutes  und  einige  Bröckel  einer  glasigen,  grauen, 
weichen  Masse.  Man  spricht  jetzt  den  Tumor  als  bös- 
artig an.  Taraponade  der  Scheide.  In  derselben  Sitzung 
entfernte  man  mit  einem  Scherenschlage  den  Urethral- 
polypen.  Abends  Fieber  +  39°  C,  am  nächsten  Tage  bis 
+  41"  und  nach  36  Stunden  Tod  an  Peritonitis. 

Sektion:  Aussehen  der  Leiche  weiblich,  Brüste  klein 
mit  kaum  erkennbaren  Warzen,  in  der  Beckenhöhle  ein 
Tumor,  welcher  einem  8  Monate  schwangeren  Uterus 
ungemein  ähnlich  sieht.  Im  rechten  Leistenkanale  ein 
nach  der  Bauchhöhle  zu  verschiebliches  Gebilde,  welches 
aus  zwei  Anteilen  besteht,  die  wie  Hoden  und  Neben- 
hoden aussehen,  durch  einen  breiten  Strang  au  den  Boden 

Jahrtmch  V.  1H 


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290  — 


der  rechten  Schamlefze  fixiert.  Der  Leistenkanal  ist  für 
einen  Finger  durchgängig,  aber  sein  Abdominalende  ver- 
schlossen. Die  Scham  sieht  aus  wie  die  eines  12jährigen 
Mädchens.  Möns  Veneris  fettarm  und  nicht  behaart. 
Die  Lefzen  liegen  einander  an  und  vereinigen  sich  unten 
unter  einem  spitzen  Winkel.  Damm  drei  Centimeter  lang. 
Kleine  Schamlippen  ganz  normal  gebaut,  vom  Charak- 
ter einer  Schleimhaut  (?),  umfassen  nach  oben  zu  die 
kleine  etwa  drei  Mill.  weit  vortretende  Clitoris.  Urethra 
4  Cent.  lang.  Vagina  mündet  in  vestibulo,  ihr  Eingang 
von  Hymenairesten  umgeben  (Einrisse  sub  operatione 
entstanden  oder  nach  Beischlafsversuch  ?-N.)  —  Columnae 
rugarum  an  den  Scheidenwänden  deutlich.  4,8  Centimeter 
oberhalb  des  Scheideneinganges  sieht  man  keine  Schleim- 
haut mehr,  sondern  den  neugeschaffenen  Wundkanal. 
Nach  links  von  dessen  Öffnung  sieht  man  einen  kleinen 
Wulst  als  Rest  der  Portio  vaginalis  uteri.  Von  der 
Öffnung  aus  verläuft  der  Stichkanal  4,7  Centimeter  weit 
durch  straffes  oberhalb  der  Vagina  liegendes  Gewebe, 
durchbohrt  zweimal  die  Harnblasenwand  und  dringt  ein 
wenig  in  den  Tumor  ein.  Der  mannskopfgroße  Tumor 
erwies  sich  als  ein  Sarkom  des  linken,  in  der  Bauchhöhle 
retinierten  Hodens.  Cryptorchis  sinistra  sarcomatosa 
rechts  mit  dem  Omentum  inajus  verwachsen.  Das  Bauch- 
fell überzog  den  Tumor  und  bildete  an  seiner  Arorder- 
seite  eine  Duplikatur,  einer  Wagentasche  ähnlich,  deren 
freier  Band  12  Centimeter  in  der  Länge  maß,  deren  Tiefe 
bis  zu  drei  und  einen  halben  Centimeter  reichte.  1  Centi- 
meter nach  unten  und  rechts  vom  Grunde  dieser  Tasche 
entsprang  retroperitoneal  ein  fester  Strang  von  Bleistift- 
dicke, völlig  solid  und  an  der  einen  Seite  in  der  Ge- 
schwulst endend,  an  der  anderen  Seite  verlor  er  sich  im 
Bindegewebe  der  linken  Leistengegend.  Die  Gebilde 
im  rechten  Leistenkauale  erwiesen  sich  als  der  rechte 
Hoden  und  ein  ihm  aufsitzendes  Leiomyom,  wohl  aus  dem 


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—   291  — 


Nebenhoden  entstanden.  Samenleiter  und  Sanienbläschen 
fehlten.  Der  Strang,  welcher  von  dem  Tumor  nach  der 
linken  Leistengegend  verlief,  wird  von  Abel  als  Guber- 
naculum  Hunteri  aufgefaßt.  Was  nun  die  angebliche 
regelmäßige  Periode  anbetrifft,  schon  vom  20.  Jahre  an, 
so  glaubt  Abel,  es  seien  Blutungen,  veranlaßt  durch  den 
Harnröhrenpolypen,  irrtümlich  als  menstruelle  Blutung 
von  der  Patientin  aufgefaßt  worden.  Was  das  geschlecht- 
liche Empfinden  anbetrifft,  so  fühlte  sich  Albert  ine 
als  Madchen  und  liebte  innig  ihren  Bräutigam.  [Per- 
sönlich möchte  ich  vermuten,  die  Entstehung  des  Harn- 
röhrenpolypen stehe  in  Zusammenhang  mit  Beischlafs- 
versuchen  als  Produkt  eines  künstlich  geschaffenen 
Ektropium  urethrae  deficiente  vagina  oder  vagina  pro 
immissione  membri  virilis  nimis  arcta.  N.j 

Dieser  von  Abel  beschriebene  Fall  zeigt  zur  Evidenz, 
welchen  groben  diagnostischen  Irrtümern  der  Chirurg 
hier  unterworfen  sein  kann  und  wie  unendlich  vorsichtig 
man  in  der  klinischen  und  anatomischen  Beurteilung 
solcher  Fälle  vorgehen  muß!  —  Welcher  Gynaekologe 
würde  wohl  hier  die  richtige  Diagnose  gestellt  haben? 
Es  erscheint  ja  rationell,  in  einem  solchen  Falle  zunächst 
einen  diagnostischen  Leisteneinschnitt,  in  diesem  Falle 
rechterseits  zu  machen,  um  den  Charakter  der  dort 
getasteten  Geschlechtsdrüse  festzustellen,  selbst  mit  Exstir- 
pation  derselben.  Hätte  man  dies  ausgeführt  und  kon- 
statiert, daß  dieselbe  ein  Hoden  ist,  so  wäre  selbstver- 
ständlich die  Operation  per  vaginam,  welche  den  Tod 
herbeiführte,  nicht  ausgeführt  worden,  sondern  man  hätte 
sofort  den  Bauchschnitt  gemacht  um  den  jetzt  von  vorn- 
herein diagnosticierten  Hodentumor  zu  entfernen.  [Die 
Kasuistik  solcher  Fälle  ist  reicher  als  der  Chirurg  ahnt, 
aber  sie  ist  noch  zu  wenig  berücksichtigt  —  wer  dieselbe 
kennt,  der  wird  natürlich  leichter  solche  grobe  diagnostische 
Mißgriffe  vermeiden.  —  Gerade  auf  diese  Kasuistik  in 

19* 


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—    292  — 


weiteren  Kreisen  aufmerksam  zu  machen,  ist  der  Zweck 
meiner  heutigen  Zusammenstellung.  N.] 

2)  Audain  [„Hermaphrodisme  double,  k)rste  der- 
raoide  des  ovaires"  Annales  de  Gvndcologie  et  d'  Obst£- 
trique  Vol.  XI.  1893  pg.  362],  Ks  handelt  sich  um  eine 
beiderseitige  Ovariotomie  bei  Dermoidcystomen  bei  einem 
Individuum  mit  männlicher  Behaarung  und  bedeutender 
Clitorishypertrophie.  Die  Clitoris  der  29  jährigen  Krauken 
war  fingerlang  und  3  Centimeter  dick.  Schnurrbart  Neben 
dem  größeren  der  beiden  Dermoide  fand  sich  auch  eine 
Parovarialcyste.  Die  Person  genas.  [Da  ich  die  Original- 
arbeit nicht  gelesen  habe,  sondern  nur  ein  Referat  von 
Stumpff,  so  kann  ich  nicht  sagen,  ob  der  ovarielle 
Charakter  der  Tumoren  mikroskopisch  festgestellt  worden 
ist  ;  wo  nicht,  so  bleibt  immer  noch  ein  Zweifel  erlaubt, 
ob  es  sich  nicht  um  Tumoren  der  in  der  Bauchhöhle 
retinierten  Hoden  eines  verkannten  männlichen  Schein- 
zwitters gehandelt  hat.  Die  vorstehende  Kasuistik  würde 
uns  zu  so  einem  Zweifel  vollauf  berechtigen,  da  makros- 
kopisch eine  Bestimmung,  ob  ovarieller  oder  testiculärer 
Tumor,  lange  nicht  in  allen  Fällen  möglich,  geschweige 
denn  leicht  ist.  N.J 

3)  Bacaloglu  und  F ossär d  [„Deux  cas  de  Pseudo- 
hermaphrodisme  (Gynandroides)  La  Presse  Medicale  6. 
XII.  —  1899  pg.  331  —  333]:  Die  31jährige 
A.  Lefrancois  trat  am  15.  August  1899  wegen  starker 
Leibschmerzen,  welche  schon  vier  Tage  dauerten,  in  das 
Hospital  ein  und  wurde  auf  dem  Krankensaale  des  Dr. 
Troisier  untergebracht.  Die  bisher  absolut  gesunde  Person 
giebt  an,  sie  habe  ganz  plötzlich  nach  dem  Abendessen 
am  12.  August  sehr  starke  Schmerzen  rechterseits  im 
Unterleibe  bekommen.  Sie  wandte  zunächst  keinerlei 
Mittel  an,  in  der  Hoffnung,  die  Schmerzen  werden  über 
Nacht  vergehen  —  es  kam  jedoch  anders!  Am  nächsten 
Tage  wurden  die  Schmerzen  [noch  stärker  trotz  Kata- 


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—    293  — 


plasmen  mit  Opiumzusatz.  Wegen  habitueller  Verstopfung 
verordnete  man  Clysmata  mit  Zusatz  von  Glycerin.  Am 
14.  August  Status  ideni.  Am  15.  Meteorismus  des  Leibes, 
stark  galliges  Erbrechen,  ständige  Uebelkeiten.  Darum 
entschloß  sich  die  Kranke  in  das  Hospital  zu  gehen.  Es 
fiel  den  Aerzten  sofort  auf,  daß  diese  Person  trotz  an- 
scheinend normalen  weiblichen  Körperbaues  einen  männ- 
lichen Gesichtsausdruck  hatte.  Behaarung  weiblich, 
außer  Anflug  von  Bart  an  Oberlippen  und  Kinn.  Extre- 
mitäten klein,  weiblich.  Becken  weiblich,  Brüste  minimal. 
Leib  sehr  aufgetrieben,  besonders  schmerzhaft  in  der 
Gegend  der  fossa  iliaca  dextra.  Erbrechen  von  kopiösen 
grünlichen  Massen.  Facies  peritonitica,  trockne  Zunge, 
Puls  130  pro  Minute.  Man  vermutete  zunächst  eine 
Appendicitis  oder  eine  Erkrankung  der  rechtzeitigen 
Uterusadnexa  und  untersuchte  per  vaginam.  —  Zu  ihrem 
größten  Erstaunen  bemerkten  nun  die  Aerzte,  daß  gar 
keine  Vaginalöffnung  vorlag,  sondern  daß  der  Finger  in  der 
ganz  bedeutend  erweiterten  Analöffnung  sich  befand.  Der 
Finger  tastete  per  rectum  ausgezeichnet  sowohl  den  Uterus 
als  auch  die  beiderseitigen  nicht  druckschmerzhaften 
Adnexa.  Man  schloß  jetzt  eine  Genitalerkrankung  aus, 
vermutete  eine  Appendicitis  und  holte  einen  Chirurgen 
Dr.  Bougle.  Derselbe  vollzog  nachts  um  1  Uhr  den 
Bauchschnitt  in  der  Mittellinie.  Aus  der  Wunde  ergoß 
sich  sehr  viel  Eiter;  man  fand  den  Wurmfortsatz  stark 
geschwellt  und  hyperämisch.  Man  fügte  einen  Einschnitt 
der  Bauchdecken  in  der  rechten  regio  iliaca  hinzu, 
öffnete  den  Wurmfortsatz,  der  fäkale  Massen  enthielt, 
und  resecierte  ihn;  hierauf  wurde  die  Bauchhöhle  aus- 
gespült und  die  Wunden  vernäht.  Trotz  Kochsalz- 
infusion etc.  erfolgte  der  Tod  nach  zwei  und  einer  halben 
Stunde.  Am  17.  August  Sektion:  Penis  8  Centimeter 
lang  und  5  Centimeter  im  Umfange  statt  einer  Clitoris 
gefunden,  Scham  üppig  behaart.    Unterhalb  der  weib- 


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—   294  — 


liehen  Harnröhrenöffnung  keine  Spur  von  Vaginalostium 
gefunden,  zwischen  den  Schamlefzen  zog  sich  eine  glatte 
Haut  von  der  Urethral  Öffnung  bis  zur  Analöffnung  hin; 
ein  Damm  von  10  Centimetern  fand  sich.  Bei  der  Er- 
öffnung der  Bauchhöhle  fand  man  einen  rudimentär  ent- 
wickelten Uterus  mit  Tuben,  Ovarien  und  Ligamenta 
rotunda.  Uterushöhle  5  Centimeter  lang,  Cervix  andert- 
halb Centimeter  lang.  Arbor  vitae  deutlich.  Die  Scheide 
8  und  einen  halben  Centimeter  laug,  schließt  unten  blind, 
infolge  von  Verwachsung  der  großen  Schamlippen  mit 
einander.  Die  cystisch  entarteten  Ovarien  haben,  das 
rechte  6  Centimeter  Breite  und  5  Höhe,  das  linke  6 
und  4.  Man  fand  mikroskopisch  in  den  Ovarien  keine 
Graafschen  Follikel,  sondern  nur  ein  sklerotisches 
Gewebe,  wenig  Blutgefäße,  sehr  viel  Bindegewebe  mit 
kleinen  proliferierenden  Embryonalzellen.  De  facto 
sahen  mikroskopisch  die  Ovariengewebe  aus  wie  Narben- 
gewebe. „On  y  peut  distinguer  des  vaisseaux  ä  parois 
hypertrophides  et  scleros£es  et  des  bandes  de  tissu  fibreux 
adulte."  Auch  in  dem  Uterusgewebe  fanden  sich  die 
Auzeichen  einer  ausgesprochenen  Sclerose.  Co  rnil  kon- 
statierte, daß  es  sich  um  Ovarien  und  nicht  um  Hoden 
handelte.  Die  Periode  hatte  diese  Person  niemals  gehabt, 
sonst  wäre  es  zur  Bildung  einer  Hämatokolpometra  ge- 
kommen. Dieser  Fall  würde  also  in  das  Gebiet  der 
weiblichen  Genitalatresien  gehören  mit  Hypertrophie  der 
Clitoris  und  einigen  männlich  entwickelten  secundären 
Geschlechtscharakteren. 

4)  Bazv  [Bulletins  et  Mömoires  de  la  Socie*t<?  de 
Chirurgie  de  Paris,  Tome  XXVIIIl  —  1902.  N:  31 
pg.  943];  Eine  Weibsperson  trat  in  das  Hospital  ein 
wegen  Appendicitis  und  wurde  von  Chevallier  operiert. 
Nach  der  Operation  wurde  diese  Person  Herrn  Bazy 
als  Mann  vorgestellt.  Es  war  ein  männliches  Individuum 
mit  Hypospadiasis  peniscrotalis  und  Anwesenheit  beider 


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—   295  — 

Hoden  in  dem  gespaltenen  Scrotum.  Trotz  seiner  26 
Jahre  hatte  dieser  Scheinzwitter  dennoch  keine  Spur  von 
Bartanflug  im  Gesicht.  Mangel  der  Brüste.  Bis  jetzt 
keinerlei  Geschlechtstrieb  ausgesprochen.  In  diesem  Falle 
führte  die  Appendicitis  zu  einem  Kontakt  mit  dem 
Chirurgen  und  führte  so  die  Aufklärung  einer  Erreur 
de  sexe  herbei. 

5)   Carl   Beck    [,,A  case  of  Hermapbrodism"  — 
Medical  Record.  25th  July.  1896  Vol.  I.  N:  1342  pg  135, 
und  pg.  694  und  14.  XI.  1896.  N:  1358  pg.  724  und 
Medical  Record  20.  II.  1897  pg.  260:    „Description  of 
specimen  taken  from  a  hermaphrodite"] :  L.  M.,  21  Jahre 
alt,  als  Mädchen  getauft,  hatte  bis  zum  19.  Jahre  als 
Mädchen  gegolten,  war  aber  zu  dieser  Zeit  als  Mann  er- 
klärt worden  und  wechselte  demnach  seinen  Civilstand. 
Allgemeinaussehen,  Gesichtsausdruck,  Stimme  und  Be- 
haarung weiblich;  gleichwohl  hatte  dieses  Individuum 
schon  im  15.  Jahre  den  Beischlaf  als  Mann  praktiziert, 
Penis  hypospadiaeus  zwei  und  einen  halben  Zoll  lang. 
Scrotum  gespalten.    An  der  Unterfläche  des  Penis  sieht 
man  die  Narbe  nach  einer  plastischen  Operation,  um  die 
Abwärtskrümmung  des  Penis  zu  beseitigen.    Die  Scheide, 
vier  Zoll  lang,  weist  einen  eingerissenen  Hymen  auf,  läßt 
den  Finger  ein.     Im   Scheidengrunde  tastet  man  das 
Collum  uteri.    Niemals  Menstruation.    Während  des  Bei- 
schlafes entleeren  sich  aus  zwei  Öffnungen  jederseits  des 
„Infundibulum",  wie  der  Mann  sich  ausdrückte,  mit 
Ejakulation  einige  Tropfen   einer  klebrigen  Flüssigkeit. 
Der  Penis  wird  sub  coitu  strotzend  und  zweimal  größer 
als  sonst.    Man  fand  einen  schmerzhaften,  fluktuierenden 
Tumor  rcchterseits  im  Unterbauche  und  einen  kleineren 
linkerseits.     Am   25.  Juli   1896    entfernte  Beck  mit 
Bauchschnitt  beide  Tumoren,  die  er  für  sarcomatös  ent- 
artete Hoden  ansah.    Die  Operation  war  sehr  schwierig 
wegen  zahlreicher  Verwachsungen  der  Tumoren  mit  der 


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—    29(3  — 

vorderen  Bauchwand  und  den  Därmen.  Während  der 
Operation  gelang  es  nicht,  eine  genauere  Inspektion  der 
Bauchhöhle  vorzunehmen.  Der  Patient  starb  am  18.  Tage 
nach  der  Operation  infolge  einer  Pneumonie.  Bei  der 
Sektion  fand  man  einen  Uterus  von  zwei  und  einem 
Viertel  Zoll  Länge,  dessen  Höhle  im  oberen  Teile  von 
Flimmerepithel,  im  unteren  von  plattem  Epithel  ausge- 


Fig.  i4.    Vulva  eines  als  Mädchen  erzogenen  mUnnlichen 
Scheinzwitters.    Beobachtung  von  Beck. 

kleidet  war.  Die  Tuben  enthielten  kein  Lumen,  besaßen 
aber  Ampullae.  Unterhalb  der  Tuben  soll  man  angeblich 
Ovarien  gefunden  haben  (?  —  N. — )  —  Brooks  unter- 
suchte mikroskopisch  die  Tumoren  und  erklärte  sie  für 
Teratome  oder  Blastoderme;  einige  Anteile  der  Tumoren 
boten   das   Aussehen   und   den    Bau    eines  alveolaeren 


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Sarcomes.  Man  fand  weder  B  arthol  in  i 'sehe  noch 
Cowper'sche  Drüsen,  welche  ja  Produkte  der  gleichen 
Anlage  sind,  also  einander  entsprechen.  Becken  und 
Schambehaarung  männlich.  Der  Patient  war  untersucht 
worden  von  Garrigues,  Bangs,  Wallach,  Irwin, 
Sprague,  Dowling,  .Tohnston,  Little,  Schoene- 
berg,    Cavanagh.     Da  eine  mikroskopische  Unter- 


Fig.  lf>.    Vulva  eines  als  Mädchen  erzogenen  männlichen 
Scheinzwitters.    Beobachtung  von  Beck. 

suchung  der  angeblichen  Ovarien  nicht  ausgeführt  wurde, 
so  muß  man  Munde  [Med.  Reeord  1896  pg.  214]  und 
Keller  ( ibidem |  Recht  geben,  wenn  sie  das  Individuum 
einfach  für  einen  männlichen  Hvpospaden  ansahen  mit 
Bildung  von  Uterus  und  Vagina.    (»Siehe  Fig.  14  GL.  15.) 

6)  Carle  [siehe  im  Vorhergehenden:  Dritte  Gruppe 
No.  3|  fügte  in  seinem  Falle  von  Herniotomie  den  Bauch- 


—   298  — 


schnitt  hinzu,  um  sich  über  diesen  Fall  Klarheit  zu  ver- 
schaffen. 

7)  Chevreuil  [siehe  Georgus  Steglehner:  „De 
Hermaphroditorum  Natura  tractatus  anatomo — physiologico 
— pathologicus.*  Banibergae  et  Lipsiae  1817  —  pg.  91]: 
Anna  Bergault,  Andegariensis,  habitu  masculino  et 
barba  nigra  instructa  virorum  moribus ,  amictu  femiuarum 
ex  tumore  magno  in  inguine  sinistro  gravibus  sympto- 
matibus  afflictatur;  petit  auxilium  chirurgi  Pelletier, 
qui  examine  de  tumore  instituto,  insuetam  genitalium 
fabricam  advertit,  de  quo  certiorem  reddit  celeb.  Bon- 
denarium  Parisiensem  et  Dr.  Chevreuil  Andegariae 
medicinam  exercentem.  Hic  quae  vidit  et  in  viva  et  in 
cadavere,  sequentibus  refert.  Instructa  erat  pene 
clitorideo,  Septem  ad  octo  linearum  diametri,  pollices 
unum  et  dimidium  longo,  glande  terminato  praeputio 
cincta;  sub  glande  sulcus  aderat,  qui  pro  recipienda 
Urethra  destinatus  videbatur.  Canalis  urethrae  tenuis  sed 
dilatatus  sub  virgae  medium  orificio  desiit,  et  sulco 
glandis  ad  urethram  usque  frenulum  apparuit  cutaneum. 
Ab  orificio  urethrae  in  dextro  latere  descendit  plica 
cutanea  major,  quae  pudendi  labium  simulabat;  in  sinistro 
latere  haec  cutis  plica  a  tumore  qui  cutim  distenderat, 
deleta  erat  Vaginae  ostium  nullum  sed  annus  infra 
patuit.  Ex  annulo  prodiit  tumor,  qui  capitis  infantilis 
magnitudine  ab  ilei  ossis  spina  superiori  versus  pubis 
arcum  oblique  ductu  procedens  in  immi  ventris  cava 
versus  hypochondrium  sinistruni  et  epigastrium  ascendit. 
Post  mortem  aegrotae  Chevreuil  cadaver  apperiebat,  qui 
sub  tumore  vesicani  deorsum  urgente  uterum  cavum 
pollicem  longum  et  uteri  cervicem  detexit,  qui  in  urethram 
ovali  ostio  hiabat,  superius  labio  rubente  obtecto.  In 
latere  uteri  dextro  ligamentuni  rotundum  adhaesit  et 
inter  ligamenti  lati  laminas  ovarium  et  tubae  reperie- 
bantur,  in  sinistro  latere  obscrvatus  fuit  tumor  hydropicus 


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299  -- 


ovarii,  cui  tuba  sinistra  imponebatur;  pars  hujus  tumoris 
in  abdomine  erat,  pars  ejus  autem  per  annulum  transiit» 
et  tumorem  exterius  visendum  constituit,  in  abdomine 
mesenterium  in  massam  scirrhosam  ab  ilei  regione  ad 
processum  sterni  xyphoideum  coaluerunt." 

In  diesem  Falle  scheint  es  sich  also  um  einen  Tumor 
einer  Geschlechtsdrüse  zu  handeln,  der  sanduhrförmig 
teilweise  in  der  Bauchhöhle  lag,  teilweise  durch  den 
Leistenring  nach  außen  getreten  war.  Ste glehner  gibt 
C  h  e  v  re  u  i  1  s  Angabe  wieder,  es  habe  sich  um  einen  Ovarial- 
tumoi  gehandelt.  Möglich  ist  ja  dieses,  aber  es  erscheint 
auch  nicht  ausgeschlossen,  daß  es  ein  Hodentumor  war 
bei  Zurückhaltung  des  anderen  Hodens  in  toto  in  der 
Bauchhöhle  und  Vorhandensein  eines  hochgradig  ent- 
wickelten Uterovaginalkanales,  der  in  die  männliche 
Urethra  mündete.  Heute  ist  natürlich  von  einer  Ent- 
scheidung solcher  zweifelhaften  Fälle  nicht  zu  reden,  da 
nur  das  Mikroskop,  aber  nicht  das  makroskopische  Aus- 
sehen einer  Geschlechtsdrüse  entscheiden  kann.  Zum 
Beweise  führe  ich  den  oben  erwähnten  Fall  an,  wo 
Martin  in  dem  Glauben,  ektopische  inguinolabiale 
Ovarien  exstirpiert  zu  haben,  noch  bei  makroskopischer 
Betrachtung  der  exstirpierten  Gebilde  fest  überzeugt 
war,  es  seien  Eierstöcke  —  ja  er  glaubte  sogar  Follikel 
zu  sehen  — ,  wo  doch  das  Mikroskop  auf  Hoden  mit  aller 
Bestimmtheit  verwies. 

8)  Clark  [„Nephrolithotomie  chez  un  hermaphrodite" 
—  MeMecine  Moderne  1896  No.  43  — Referat:  Frommel's 
Jahresbericht  für  1897  pg.  927  No.  18]:  Eine  Frau  starb 
nach  einer  von  Clark  vollzogenen  Nephrolithotomie.  Die 
Sektion  erwies,  daß  diese  Person,  die  zeitlebens  als  Frau  ge- 
golten hatte,  ein  männlicher  Scheinzwittcr  war.  Penis  hypo- 
spadiaeus  rudimentarius,  rudimentaere  Prostata,  kein  Uterus, 
Brüste  männlich  angelegt,  Scrotum  gespalten,  der  rechte 
Hoden  lag  in  der  Schamlefze,  der  linke  im  Leistenkanale. 


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—    300  — 

9)  Delageuiere  aus  Tours  berichtete  der  Pariser 
Soctfte'  de  Chirurgie  [siehe  Progres  Medical  1899  No.  2| 
folgende  interessante  Beobachtung:  Er  fand  bei  einer 
27jährigen  Frau  eine  absolut  normal  gestaltete  Vulva 
mit  ganz  kleiner  Clitoris,  regelrechten  Schamlippen, 
sodaß  absolut  nichts  und  nichts  vorlag,  das  einen  Zweifel 
an  dem  Geschlechte  hätte  hervorrufen  können.  Die 
Scheide  erwies  sich  aber  in  der  Höhe  von  5  Centimetern 
blind  geschlossen.  Von  Zeit  zu  Zeit  sollen  menstruale 
Phaenomene  aufgetreten  sein.  Er  konstatierte  jederseits 
einen  „petit  point  d'hernie  inguinale".  —  Ein  Bruchband 
vertrug  die  Person  absolut  nicht:  Taxisversuche  waren 
äußerst  schmerzhaft.  Delageniere  machte  also  den 
Bauchschnitt,  fand  dabei  weder  einen  Uterus  noch 
Spuren  von  breiten  Mutterbändem.  Die  von  ihm  ent- 
fernten Geschlechtsdrüsen  erwiesen  sich  unter  dem 
Mikroskop  als  Hoden.  [Siehe  auch:  Semaine  Mcklicale 
1899,  No.  2  pg.  13J:  Delageniere  hatte  dieser  Frau 
den  Bauchschnitt  vorgeschlagen,  um  den  Uterus  aufzu- 
suchen und  mit  dem  oberen  Ende  der  blind  endenden 
Scheide  zu  vereinigen  und  vollzog  die  Operation  am 
5.  VIII.  1897  unter  Assistenz  von  Dr.  Parisot.  Er 
operierte  in  Trend el enbu rg*s  Hängelage  und  fand 
zunächst  nichts  von  inneren  Genitalien  als  zwei  anfäng- 
lich von  ihm  für  Ovarien  angesehene  Gebilde,  deren  je 
eines  an  der  inneren  Otlnung  je  eines  Leistenkanales  lag. 
Später  glaubte  er  den  Eindruck  zu  gewinnen,  als  seien 
es  atrophische  Hoden.  Um  diese  Gebilde  entfernen  zu 
können,  mußte  er  die  innere  Otlnung  eines  jeden  Leisteu- 
kanales  etwas  spalten.  Bauchwunde  geschlossen.  Heilung. 
Das  Mikroskop  erwies  atrophische  Hoden.  [Siehe  auch: 
Annales  de  Gynecologie  et  d'Obstetrique.  189G.  pg. 
57—63,  mit  zwei  Abbildungen.] 

10)  v.  Engelhardt  [„Ueber  einen  Fall  von  Pseudo- 
hermaphroditismus  femininus  mit  (  arcinom  des  Uterus* 


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—   301  — 


—  Monatsschrift  für  Geb.  u.  Gyn.  December  1900  pg. 
729—744  mit  drei  Abbildungen] : 

Als  Todesursache  eines  lange  Jahre  hindurch  ver- 
heirateten Mannes  von  59  Jahren,  Karl  Menniken, 
wurde  ein  Carcinoma  uteri  erhärtet.  Die  Sektion  stellte 
fest,  daß  Karl  Menniken  keine  Hoden  sondern  Ovarien 
hatte  und  ein  Weib  war,  obwohl  er  jahrelang  cum  uxore 
den  Beischlaf  ausgeführt.  Bezüglich  Einzelheiten  — 
siehe  meinen  Aufsatz  im  vorigen  Jahrgange  diese  Jahr- 
buches sub  I  No.  18.  — 

11)  Fehling  (»Ein  Fall  von  Pseudohermaphro- 
ditismus  femininus  externus'  Archiv  für  Gynaekologie. 
Bd.  42.  pg.  361.  1892J:  Im  Januar  1891  trat  die  (s.  Fig. 
16  u.  17)  21  jährige  P.  .  in  die  Klinik  ein.  Die  Periode 
trat  im  15.  Jahre  ein  und  wiederholte  sich  regelmäßig; 
anfangs  im  16.  Jahre  war  sie  postponierend  und  blieb 
im  17.  ganz  aus.  Schon  damals  bemerkte  das  Mädchen 
einen  apfelgroßen  Tumor  im  Bauche.  Die  ständig  zu- 
nehmenden Leibschmerzen  zwangen  sie  endlich  unter 
Aufgabe  ihres  Dienstes  in  das  Hospital  einzutreten.  Man 
konstatierte  Scheinzwittertum.  Becken  weiblich,  Brüste 
rudimentär  entwickelt,  Stimme  eher  männlich,  sehnurr- 
bartartige  Gesichtsbehaarung.  Scharabogen  weit,  Clitoris 
5  Centimeter  lang,  von  Daumendicke,  erectil,  mit  aus- 
gesprochener Eichel  und  Vorhaut.  Die  Erektionen  traten 
sogar  auf  während  einer  libidinösen  Unterhaltung. 
Vagina  von  Hymen  am  Eingange  umgeben.  Die  liuke 
Schamlefze  ist  schwach  entwickelt,  aber  behaart,  das  rechte 
Labium  majus  stellt  im  oberen  Teil  einen  rundlichen 
Sack  dar,  wie  eine  Scrotalhälfte.  Man  fühlt  darin  einen 
kleinen  druckempfindlichen  Körper  nebst  dünnem  Strange. 
Der  Finger  läßt  sich  hier  in  den  Leistenkanal,  in  die 
Bauchhöhle  einstülpen.  Darmschlingen  sind  im  Bruchsacke 
nicht  nachweisbar.  Unter  Narkose  stellte  man  eine  retro- 
versio  uteri  fest  mit  nicht  durchgängigem  Cervikalkanal. 


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—    302  — 


Fig.  IG.    Äußere  Genitalien  eines  weiblichen  Scheinzwitters  mit 
Hypertrophie  der  Clitoris,  Inguinolabialektopie  des  rechten  Ovarium 
u.  der  rechten  Tube.   Ansicht  bei  hängender  Clitoris. 

Beobachtung  von  Fehling. 


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—    303  — 

Im  vorderen  Scheidengewölbe  fühlte  mau  einen  fluk- 
tuierenden  Tumor,    der   nach   einigen   Schwanken  als 


Fig.  17.    Äuüere  Genitalien  eines  weiblichen  Scheinzwitters,  bei 
dem  wegen  Neoplasma  des  linken  üvarium  der  Leibschnitt  gemacht 
wurde.    Beobachtung  von  Fehling. 

Haematometra  angesehen  wurde.  Fieber.  Eine  zweimalige 
Punktion  des  Tumors  durch   die  vordere  ßauchwand 


—    304  - 


ergab  keinen  positiven  Bescheid.  Da  es  endlich  gelaug, 
die  Uteruskontouren  zu  tasten,  so  wurde  ein  uteriner 
Sitz  des  Tumors  ausgeschlossen  und  angenommen,  er 
entstamme  dem  linken  Ovarium,  während  wahrscheinlich 
der  rechte  Eierstock  in  hernia  labiali  liege.  Der  Bauch- 
schnitt  am  21.  Januar  bestätigte  vollkommen  diese 
Voraussetzung:  Es  fand  sich  ein  Myxosarcoma  ovarii 
sinistri:  der  Tumor  wurde  abgetragen,  das  rechte  Ovarium, 
welches  mit  der  Tube  in  die  rechte  Schamlefze  ausgetreten 
war,  wurde  in  die  Bauchhöhle  hineingezogen,  wo  diese 
Organe  auch  in  der  Folge  verblieben.  R.  P.  war  also 
ein  weiblicher  Scheinzwitter  mit  ganz  bedeutender  Hyper- 
trophie der  erectilen  Clitoris  peniformis,  und  nicht  ein 
männlicher  Scheinzwitter  wie  man  wohl  von  vornherein 
hätte  vermuten  können.  Die  ektopische  Tube  konnte 
leicht  einen  Saraenstraug,  der  ektopische  Eierstock  einen 
Hoden  vortäuschen,  die  Vulva  eine  peniscrotale  Hypospadie. 
Der  Uterus  war  infantil  entwickelt.  Fehling  unterließ 
die  beabsichtigte  Vernähung  der  inneren  Oeffnung  des 
Leistenkanales,  weil  er  die  Operation  angesichts  schlechter 
Atmung  schneller  beenden  wollte.  Neben  dem  Myxo- 
sarcoma ovarii  sinistri  globocellulare  fand  sich  ein  kleines 
Fibrom  mit  starker  Verkalkung.  Der  Tumor  wog  5  Pfund. 

12)  G ruber  [M£moires  de  1'AcadtSmie  Imperiale 
des  Sciences  de  St.  Pi'tersbourg  1859  Tome  41.  No.  13] 
beschrieb  mit  einer  Abbildung  ein  22  jähriges  Individuum 
infolge  von  Carcinom  einer  Geschlechtsdrüse  verstorben. 
Es  war  ein  männlicher  Scheinzwitter  mit  Hypospadiasis 
peniscrotalis;  im  sinus  urogenitalis  lagen  die  Offnungen 
der  Urethra  und  der  Vagina.  Es  fand  sich  ein  Uterus 
und  eine  Vagina  von  je  8  Centimeter  Länge.  Linkerseits 
fand  man  neben  der  Tube  eine  carcinomatös  entartete 
Geschlechtsdrüse,  seiner  Zeit  von  G  r  u  b  e  r  für  ein  Ovarium 
angesehen,  in  der  rechtsseitigen  Geschlechtsdrüse  faud  man 
canaliculi  seminiferi  und  konstatierte,  daß  letztere  ein 


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—    305  — 


Hoden  war.  Man  fand  auch  den  dazugehörigen  Neben- 
hoden und  das  Vas  deferens,  konnte  aber  dessen  peri- 
pheres Ende  nicht  entdecken.  Offenbar  liegt  hier  in  der 
Deutung  der  ovariellen  Natur  der  carcinomatösen  links- 
seitigen Geschlechtsdrüse  ein  Irrtum  vor  und  handelt 
es  sich  um  männliches  Scheinzwittertum  und  Kryptorchismus 
mit  bösartiger  Entartung  des  einen  Hodens  (siehe  Fig.  18). 


Fig.  18. 

Innere  Genitalien  eines  männlichen  Scheinzwitters  mit  hochgradiger 
Entwickelung  der  Müller 'sehen  Gänge  und  Carcinom  einer  Ge- 
schlechtsdrüse. Zeichnung  kopiert  nach  Ahlfeld's  Atlas.  Beob- 
achtung von  Grub  er.  ves.  =  Harnblase,  prost.  =  Prostata,  ter.  = 
Ligamentum  teres  uteri  sinistrum,  pro«,  v.  per  =  processus  vaginalis 

peritonaei. 

13)  Gunkel  [„Uber  einen  Fall  von  Pseudoherm- 
aphroditismus."  I.  D.  Marburg  1887.]  erwähnt  einen  inter- 
essanten Fall  folgender  Art:  Ein  Mädchen  verriet  im 
geschlechtsreifen  Alter  geschlechtlichen  Hang  zu  Frauen, 
also  männlichen  Geschlechtsdrang.  Infolge  einer  De- 
nunciation  wegen  Incest  wurde  das  Mädchen  1863  einer 
gerichtlich-medizinischen  Untersuchung  unterworfen  und 
für  einen  männlichen  Scheinzwitter  erklärt,  einen  Hypo- 
spadiaeus  mit  Kryptorchismus  bilateralis  behaftet  [männ- 
licher Bart,  Penis  hypospadiaeus  etc.]  aber  ein  Decret 
der  Regenz  gestattete  dem  Seheinzwitter,  auch  weiterhin 

Jahrbuch  V.  20 


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—    30(5  — 


weibliche  Kleidung  zu  tragen.  Im  50.  Lebensjahre  starb 
diese  Person.  Die  Sektion  konstatierte  zur  Überraschung 
der  Experten,  daß  sie  sich  geirrt  hatten:  Obgleich  das 
Aussehen  der  äußeren  Scham  tatsächlich  mehr  einer 
männlichen  als  einer  weiblichen  ähnlich  sah,  fand  man 
einen  Uterus  und  zwei  Ovarien,  Tuben  und  die  zum 
Uterus  gehörigen  Ligamente.  Die  Vagina,  nach  unten 
zu  sehr  verengt,  öffnete  sich  in  capite  gallinaginis  in  die 
männlich  veranlagte  Harnröhre.  Die  äußere  Öffnung  der 
Harnröhre  lag  aber  nicht  in  der  Glans,  wie  es  beim 
Manne  sein  sollte,  sondern  zwei  und  einen  halben  Centi- 
meter  nach  hinten  unten  von  dieser  Stelle  —  der 
vorderste  Teil  der  männlichen  Harnröhre  war  also 
hvpospadisch.  Auch  eine  Prostata  wurde  gefunden.  Der 
Uterus  war  myomatös  entartet.  Dieser  Fall  gehört  zu 
den  selten  vorkommenden  Fällen  von  clitoris  peniformis. 
[Sind  die  Ovarien  mikroskopisch  als  solche  bestätigt?  N.| 

14)  W.  Hall  [„Carcinoma  of  the  ovary  in  a  herni- 
aphrodite".  Transactions  of  the  St.  Louis  Obstetric.  and 
Gyn.  Society.  17.  VIII  1898,  siehe:  American  Gyn.  and 
Obstetric  Journal.  Vol.  XIII.  1898  pg.  181,  siehe: 
Referat  FrommePs  Jahresbericht  für  1898  pg.  901 1 
Scham  weiblich,  aber  hypoplastisch  und  miniaturell, 
dagegen  Clitoris  anderthalb  Zoll  lang.  Becken  schmal, 
Brüste  sind  nicht  da,  Stimme  männlich,  Extremitäten  und 
Oberlippe  des  17jährigen  Individuum  behaart.  Im  14. 
Lebensjahre  soll  einmal  eine  Blutausscheidung  aus  dem 
Genitale  stattgehabt  haben;  in  der  rechten  Beckenhälfte 
lag  ein  Tumor,  in  dem  nach  Exstirpation  ein  Carcinoma 
ovarii  erkannt  wurde.  Der  andere  Eierstock  erschien 
klein,  atrophisch.  Das  Original  der  Arbeit  war  mir 
nicht  zugänglich. 

15)  Hansemann  [Drei  Fälle  von  Hermaphroditis- 
mue."  —  Berliner  Klinische  Wochenschrift  1898.  No.  25. 
pg.  149  u.  ff.]:  Eine  82jährige  Frau  Kristine  Bock- 


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—    307  — 


fleisch,  durch  lange  Jahre  in  Amerika  verheiratet,  starb 
im  Berliner  Krankenhause  am  Friedrichshain.  Der  Leichnam 
wurde  von  Professor  Fürbringer  seziert.  Ein  Sektions- 
protokoll fand  sich  nicht  vor,  dagegen  vier  Photo- 
gramme und  die  Krankengeschichte.  In  der  pathologisch- 
anatomischen  Sammlung  des  Hospitals  rinden  sich  die 
Beckenorgane  mit  den  äußeren  Genitalien  sowie  der 
Kehlkopf.  [Präparat  I,  268J.  Die  Sektion  fand  am 
27.  V.  1887  statt.  Der  Tod  war  eingetreten  infolge  von 
Sepsis  und  Xierenabscessen  bei  Blasenkrebs.  Es  bestand 
niemals  Zweifel  über  den  männlichen  Charakter  dieser 
Person,  obwohl  sie  als  Frau  verheiratet  gewesen  war. 
—  Auch  die  Photogramme  zeigen  ein  starkknochiges 
männliches  Individuum  und  raachen  trotz  Bartlosigkeit 
und  dem  lang  ausgewachsenen  Haupthaar  den  Eindruck 
eines  verkleideten  Mannes.  Das  Scrotum  ist  gespalten, 
an  jeder  Seite  befindet  sich  ein  normal  gebildeter  Hodeu. 
Penis  hypospadiaeus  an  der  oberen  Fläche  gemessen  8 
Centimeter,  an  [der  unteren  3  Ceutimeter  lang,  haken- 
förmig nach  unten  gekrümmt.  An  der  gespaltenen 
männlichen  Harnröhre  sieht  man  eine  Anzahl  von  Lacunae 
Morgagnii  in  der  Mittellinie  belegen.  Vorhaut  kurz. 
Die  Urethra  ist  weit  und  mag  im  Leben  für  den  kleinen 
Finger  durchgängig  gewesen  sein,  jetzt  in  dem  ge- 
schrumpften Zustande  kann  man  noch  leicht  einen  Blei- 
stift einführen.  In  der  Umgebung  der  Urethra  ist  die 
Epidermis  etwa  in  Centimeterbreite  glatt,  ähnlich  einer 
Vaginalschleimhaut.  Nach  außen  wird  sie  runzlig  und 
geht  in  die  Bedeckung  der  beiden  Scrotalhälften  über. 
Diese  glatte  Stelle  erweckt  den  Eindruck  eines  Introitus 
vaginae,  da  die  beiden  Scrotalhälften  dicht  bei  einander 
liegen.  Nach  hinten  biegt  diese  Partie  zum  Damm  in 
einer  scharfen  Kante  um  und  von  hier  bis  zum  After 
sind  noch  5,5  Centimeter.  Die  Urethra  ist  bis  zum 
Eintritt  in  die  Blase  10,5  Centimeter  lang,  eine  Prostata 

20* 


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—    308  — 


nicht  vorhanden,  dagegen  Corpus  gallinaginis  gut  ent- 
wickelt. Die  Mündungen  beider  Vasa  deferentia  sicht- 
bar. Samenblasen  atrophisch,  aber  an  normaler  Stelle 
gelegen.  Jn  der  Harnblase  sieht  man  den  flachen 
ulcerierten  Krebs.  Ureteren  und  Nierenbecken  erweitert, 
in  beiden  Nieren  zahlreiche  Abscesse.  Kehlkopf  etwas 
klein,  aber  nicht  unverhältnismäßig. 

IG)  Howitz  | siehe:  Blom:  Gynaekolog.  obstetr. 
Middelelser.  T.  X.  Heft  HI  pg.  194— 210].  Eine  49jährige 
Frau  trat  in  die  gynaekologische  Klinik  in  Kopenhagen 
ein  wegen  eines  Rauchtumors.  Howitz  exstirpierte 
einen  myomatüsen  Uterus,  die  Frau  starb  am  5.  Tage 
nach  der  Operation  infolge  von  Embolie.  Obwohl  das 
Aussehen  der  äußeren  Genitalien  für  männliches  Geschlecht 
sprach,  fand  man  doch  bei  der  Nekropsie  weibliches 
Geschlecht,  aber  die  Ovarien  enthielten  keine  G  raaf'schen 
Follikel!  Diese  Person  war  unverheiratet  und  hatte 
kaum  einige  Mal  eine  Blutung  aus  dem  Genitale  gehabt 
zwischen  dem  30.  und  40.  Lebensjahre  und  zwar  in 
Abständen  von  einem  oder  mehreren  Jahren.  Diese 
Blutungen  waren  stets  minimal,  dauerten  kaum  wenige 
Tage  und  waren  stets  ohne  irgend  welche  Molimina 
menstrualia  gewesen.  Vor  6  Monaten  bemerkte  die 
Person  zum  ersten  Male  einen  Bauchtumor,  welcher  aber 
schnell  wuchs  und  immer  größere  Beschwerden  hervorrief. 
Die  Frau  war  klein  von  Wuchs,  spärlich  behaart  bis  auf 
das  lange  Haupthaar,  mager,  mit  scharfen  Gesichtszügen, 
mußte  sich  oft  rasieren  wegen  Bartwuchses;  Stimme  und 
Brustkorb  männlich,  Kehlkopf  vorspringend,  Brüste 
fehlten.  Schambehaarung  und  Becken  männlich;  die 
Schamlefzen  waren  leer,  kleine  Schamlippen  mäßig  ent- 
wickelt, Clitoris  0  Centimeter  lang  und  zwei  Centimeter 
dick;  die  glans  Clitoridis  zwei  Centimeter  lang,  an  ihrer 
unteren  Fläche  sieht  man  sowie  an  der  unteren  Fläche 
des  Corpus  clitoridis  eine  Rinne  wie  bei  eiuem  hypo- 


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spadischen  Penis  und  in  dieser  Rinne  einige  Krypten. 
Sinus  urogenitalis  eine  flache  einen  Centimeter  lange 
Vertiefung,  eine  Fingerspitze  nicht  aufnehmend.  Keine 
Spur  von  einem  Hymen  zu  entdecken.  Durch  eine  feine 
Oeffnung  am  Boden  des  Sinus  urogenitalis  dringt  eine 
dünne  Sonde  auf  7  Centimeter  in  eine  Vagina  ein. 
Damm  8  Centimeter  breit,  weist  eine  deutliche  Raphe 
auf.  Am  29.  VI.  vollzog  Howitz  den  Bauchschnitt 
in  der  Meinung,  es  handle  sich  um  einen  myomatösen 
Uterus,  er  entfernte  einen  Tumor  von  der  Größe  einer 
Kokosnuß,  bildete  eine  Art  Stumpf  und  nähte  den- 
selben in  die  Bauchwunde  ein.  Am  vierten  Juli  starb 
die  Frau  plötzlich  infolge  von  Embolia  arteriae  pulmonalis. 
Der  Tumor  erwies  sich  als  ein  Fibromyom  und  enthielt 
einen  mit  Schleimhaut  ausgekleideten  Kanal;  nach  unten 
zu  erweiterte  sich  dieser  Kanal  bedeutend  und  konnte 
man  in  seinem  unteren  Abschnitte  deutlich  die  Zeichnung 
des  Arbor  vitae  erkennen  an  Vorder-  und  Hinterwand. 
Die  Cervikalhöhle  kommunicierte  durch  eine  nur  steck- 
nadelkopfgroße Öffnung  mit  einer  Vagina.  Portio  vagi- 
nalis uteri  nur  einen  Mill.  lang,  die  Cervix  dagegen 
war  sieben  und  einen  halben  Zentimeter  laug.  Ligamenta 
rotunda  uteri  normal,  ligamenta  lata  sehr  niedrig,  linker- 
seits eine  normale  Tube  aber  ohne  Fimbriae  um  die  sehr 
enge  abdominale  Öffnung.  Rechterseits  fehlte  die  Tube, 
an  Stelle  der  Ovarien  lag  jederseits  eine  Gebilde  von 
Gestalt  und  Größe  einer  Mandel:  linkerseits  außerdem 
ein  gänseeigroßes  Fibromyom.  Keine  Spur  von  einer 
Prostata.  Die  Scheide  war  7  Centimeter  lang  und  einen 
halben  Centimeter  breit.  An  der  hinteren  Wand  der 
Urethra  einen  Centimeter  unterhalb  der  Blasenmündung 
sah  man  jederseits  eine  feine  Öffnung,  kaum  nadelspitzen- 
weit, welche  jederseits  in  einen  feinen  Kanal  führte, 
welcher  in  der  Höhe  von  1,35  Centinietern  blind  schloß. 
Diese  Gartn  er'schen  Kanüle  verliefen  nach  außen  und 


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nach  hinten  zu  unter  der  Schleimhaut  der  Harnröhre. 
Chiewitz  untersuchte  die  Geschlechtsdrüsen  und  kam 
zu  dem  Schlüsse,  es  seien  Ovarien  aber  ohne  Follikel- 
bildung.  Das  Stroraa  war  härter  als  das  Stroma  eines 
normalen  Eierstockes  einer  erwachsenen  Frau,  erinnert 
aber  in  nichts  an  das  Stroma  eines  Hodens.  Keine  Spur 
von  Vasa  deferentia  gefunden. 

|  Meines  Erachtens  muß  das  Geschlecht  in  diesem  Falle 
unentschieden  bleiben,  denn  Chiewitz  lieferte  keinen  Be- 
weis, daß  die  Geschlechtsdrüsen  wirklich  Ovarien  waren, 
er  fand  Geschlechtsdrüsen  in  rudimentärem  Entwickelungs- 
zustande,  die  meiner  Ansicht  nach  ebensowohl  rudimen- 
täre Hoden  sein  konnten  als  rudimentäre  Ovarien.  N.] 

17)  Dixon- Jones  [siehe  im  Vorhergehenden:  Erste 
Gruppe:  Fall  14]  fügte  in  seinem  Falle  von  doppel- 
seitiger Herniotomie  den  Bauchschnitt  hinzu,  um  sich 
von  dem  Aussehen  der  intraabdominalen  Geschlechts- 
organe zu  überzeugen. 

18)  Kapsaramer  [Zentralblatt  für  die  Krankheiten 
der  Harn-  und  Sexualorgane.  1900.  No.  1J  hat  eine  in 
ihrer  Art  einzig  dastehende  Beobachtung  beschrieben: 
Nitze  in  Berlin  entfernte  bei  einem  30  jährigen  Manne 
operativ  einen  Kalkphosphatstein  von  165  Gramm  Ge- 
wicht, welcher  in  der  Höhle  eines  Utriculus  masculinus 
lag,  der  mit  enger  Oeffhung  in  die  Pars  prostatica 
urethrae  sich  öffnete.  „Gänseeigroßer  Kalkphosphatstein 
in  einem  Vaginalsack  beim  Manne"  [siehe  Referat: 
Deutsche  Medicinische  Wochenschrift  1900,  No.  4, 
Litteraturbeilage  No.  3  vom  25.  I.  1900,  pg.  20.] 

19)  Kr  ab  bei  [Vortrag  in  der  Vereinigung  nieder- 
rheinisch-westphälischer  Chirurgen  in  Düsseldorf,  am 
20.  Juli  1901  —  siehe:  Monatsschrift  für  Geb.  und 
Gvnaekologie,  Oktober  1901,  pg.  597]  beschrieb  eine 
Ovariotomie  bei  einem  32  jährigen  Manne.  Dieses  Indi- 
viduum war  als  Knabe   getauft  und  als  Mann  erzogen 


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worden,  indem  man  eine  Hypospadiasis  peniscrotalis 
diagnosticierte  mit  Existenz  von  Schamlefzen  und  einer 
engen  Vagina.  Nachdem  der  junge  Mann  das  Gymnasium 
und  die  Universität  beendigt  hatte,  erhielt  er  eine  staat- 
liche Anstellung  als  Lehrer  in  einer  höheren  Schule. 
Niemals  Periode.  Es  wurde  ein  Bauchhöhlentumor 
diagnosticiert  [wie  alt  war  das  Individuum  zu  dieser 
Zeit?  —  N.]  und  ein  multilokulares  Cystom  des  linken 
Eierstockes  entfernt.  Sub  operatione  fand  man  in  der 
Bauchhöhle  einen  kleinen  Uterus  und  ein  Organ,  welches 
man  für  den  rechten  Eierstock  ansah.  Der  Uterushals 
ließ  eine  Sonde  eindringen,  wie  man  sich  vor  der 
Operation  überzeugt  hatte.  Anderthalb  Jahre  nach 
dieser  Operation  wurde  wegen  Recidivs  abermals  der 
Leib  geöffnet;  der  jetzt  entfernte  Tumor  wurde  von 
Professor  Marchand  als  Teratom  charakterisiert  mit 
sarkomatösem  Bau.  Seit  dieser  Operation  soll  der  Mann 
sich  gesund  fühlen.  Erst  im  Februarheft  1902  der 
Monatsschrift  für  Geb.  und  Gyn.  (pg.  227)  fand  ich  einen 
etwas  eingehenderen  Bericht  über  diese  seltene  Beob- 
achtung: Der  Mann  war  klein  von  Wuchs  und  von 
zartem  Körperbau,  mit  Schnurrbart  versehen  und 
knappem  Backenbart,  weiblicher  Stimme,  nicht  prorai- 
nierendem  Kehlkopf  und  flachen  Brüsten.  Hypospadiasis 
penis;  die  Glans  schien  ohne  Vorhaut.  Statt  eines 
Scrotum  und  der  Hoden  fanden  sich  zwei  Schamlefzen. 
Sub  narcosi  tastete  man  per  vaginam  eine  portio 
vaginalis  uteri.  Nach  Entfernung  eines  Bauchhöhlen- 
tumors von  23  Pfund  Gewicht  fand  man  einen  kleinen 
Uterus  und  rechterseits  ein  Ligamentum  latum.  Der 
Tumor  war  aus  den  linkseitigen  Adnexa  uteri  hervor- 
gegangen, auf  dem  Tumor  lag  das  linke  Ovarium  auf, 
das  gleichzeitig  mit  entfernt  wurde.  Bei  der  mikro- 
skopischen Untersuchung  jedoch  erwies  sich  das  als 
Ovarium  aufgefaßte  Gebilde  als  ein  Parovarium.  Der 


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postoperative  Verlauf  war  gut,  aber  nach  anderthalb  Jahren 
mußte,  wie  gesagt,  wegen  Recidivs  der  Leibschnitt  wieder- 
holt werden.  Der  jetet  entfernte  Tumor  war  so  groß  wie  der 
früher  entfernte  und  erwies  sich  als  Teratom  von  ge- 
mischtem Bau  mit  sarkomatösem  Bau.  Inhalt  teilweise 
rayxomatös ;  hier  und  da  fauden  sich  auch  Epithelnester. 
Krabbel  sah  in  dem  Tumor  ein  Embryom  (Wilms). 
Dieser  Mann  hatte  weder  Menstruation  noch  Ejakula- 
tionen  und   soll  seit  der  letzten  Operation  gesund  sein. 

20)  Krug  [„Ovariotomv  in  a  herraaphrodite*  — 
Referat:  The  British  Gynaecological  Journal,  August  1891 
Vol.  VII.  No.  26.  pg.  254 J  in  Newyork  machte  den 
Bauchschnitt  bei  einer  jungen  Polin  von  19  Jahren. 
„When  ten  years  old,  a  copious  growth  of  hair  appeared 
all  over  the  body,  especially  the  face.  At  sixteen  ab- 
dominal pains  with  epistaxis  occurcd  monthly,  but  there 
was  never  any  show.  A  swelling  appeared  a  few  months 
before  she  entered  hospital.  lt  was  diagnosed  as  haema- 
tometra  and  haematokolpos.  Krug  noted  the  masculine 
appearence  of  the  patient.  Nothing  womanly  exists  save 
here  long  tresses.  The  wiskers  and  moustache  were  well 
developed  and  she  shaved  daily.  The  skeleton,  espe- 
cially  the  pelvis,  was  massive.  The  external  genitals  at 
tirst  sight  were  like  thosc  of  a  male;  the  clitoris  was  two 
inches  long.  Two  folds,  resembling  a  serotum,  when  they 
lay  together,  eoncealed  a  narrow  vaginal  orifice.  The  Ure- 
thra opened,  immediately  under  and  behind  the  penis  like 
clitoris.  The  vagina  contained  no  rugae.  The  Portio 
vaginalis  of  the  cervix  was  minute.  It'  as  a  pinhole 
orifice,  admitted  a  fine  sound  for  about  two  inches.  The 
tumor  desceuded  into  the  pelvis  and  appeared  as  though 
connected  with  the  Uterus.  It  caused  extreme  distension 
of  the  Abdomen.  Bronchitis  and  kidney  disease  compli- 
cated  the  case.  A  large  sarcoma  of  the  right  ovary  was 
removed.     Its  base  had  „to  be  shelled  out  of  the  right 


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broad  ligament.  The  left  ovary  formed  a  smaller  sarco- 
matous  tumour  also  sensible ;  it  was  rerooved.  The  stumps 
on  either  side  of  the  small  Uterus,  where  two  ligatures 
had  been  employed,  were  normal.  —  Knifj  hatte  die 
irrtümliche  Diagnose  einer  Haematometrokolpos  gestellt 
vor  dem  Bauchsehnitte.  Die  Operation  erwies  weibliches 
Scheinzwittertum  mit  gewissen  arrhenoidaleu  Erscheinungen. 
Pseudohermaphroditismus  femininus  —  der  Fall  ähnelt 
demjenigen  von  Fehling  in  mancher  Beziehung. 

21)  Lesse r  (Deutsche  Zeitschrift  für  praktische 
Medizin  17 — 1878  No.  10  —  Keferat:  Schmidt 's  Jahr- 
bücher Jahrgang  1878,  Band  178.  pg,  42]. 

Die  25jährige  L.,  als  Mädchen  erzogen,  hielt  sich 
ganz  abseits  von  jeglichem  Verkehr,  sei  es  mit  Männern, 
sei  es  mit  Frauen.  Ihre  reine  Stimme  sowohl  als  ihr  allge- 
meines männliches  Aussehen,  erweckten  schon  seit  langer 
Zeit  in  ihrer  Umgebung  den  Verdacht,  sie  sei  ein  verkleideter 
Mann.  Um  endlich  einmal  diesen  Gerüchten  die  Spitze 
abzubrechen,  nahm  die  L.  zu  einer  Lüge  Zuflucht,  sie 
erzählte  nämlich,  sie  habe  vor  einigen  Jahren  unehelich 
ein  Kind  geboren,  welches  aber  kurz  nach  der  Geburt 
verstorben  sei.  Die  L.  selbst  starb  eines  plötzlichen  Todes. 
Sektion:  Körperlänge  14*>  Centimeter,  männliche  Gesichts- 
behaarung, Schnurrbart  und  Backenbart,  Gesichtsausdruck 
gleichwohl  weiblich.  Pomum  Adaini  hervortretend,  Brüste 
sehr  schwach  entwickelt;  in  der  Bauchhöhle  ein  Tumor. 
Im  linken  Leistenkanale  ein  weiches  verschiebliches 
ovales  Körperchen  von  Pflaumengröße.  Schani  stark 
behaart.  Man  fand  ein  peuisartiges  Glied  von  5,5  Cent. 
Länge  ohne  Frenulum  pracputii  und  ohne  Praeputium, 
Penis  hypospadiaeus.  Die  Kinne  an  der  unteren  Fläche 
des  Penis  reicht  nach  unten  herab  bis  zwei  Centimeter 
vor  dem  Anus  und  schließt  mit  einer  Art  Delle,  welche 
die  Kuppe  des  kleinen  Fingers  aufnimmt.  Jederseits 
von  dem  Penis  ein  Hautdecken wulst  von  10  Centinietor 


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Länge  und  drei  Centimeter  Breite.  Auf  der  runzligen 
Oberfläche  dieser  Hautwülste  hier  und  da  einige  rötliehe 
stecknadelgroße  Erhabenheiten.  Hände  und  Füße  weib- 
lich aussehend.  In  der  Bauchhöhle  fand  man  ungefähr 
3000  Kubikcentimeter  dunklen  flüssigen  Blutes,  das  kleine 
Becken  war  von  einem  fluktuierenden  Tumor  ausgefüllt, 
der  Tumor  hatte  die  Größe  des  Kopfes  eines  erwachsenen 
Mannes.  Die  Därme,  ja  sogar  das  Coecum  erwiesen  sich 
durch  den  Tumor  stark  nach  oben  dislociert.  Der  Tumor 
war  mit  der  vorderen  Bauchwand  verwachsen  in  der 
Ausdehnung  eines  Fünfmarkstückes  in  der  Gegend  der 
inneren  Öffnung  des  linken  Leistenkanales.  Kings  um 
diese  Stelle  war  das  Bauchfell  besät  mit  kleinen  blut- 
infiltrierten Knötchen  von  verschiedener  Größe  und  ver- 
schiedenem Aussehen.  Die  Lymphdrüsen  und  die  linke 
Niere  entartet.  Von  dem  Tumor  zieht  ein  5  Millimeter 
dicker  Strang  zu  dem  im  linken  Leistenkanale  liegenden 
ovalen  Gebilde.  Der  Tumor  war  ein  Alveolarsarcom. 
Der  in  die  vorgenannte  Delle  am  Damme  eingeführte 
Finger  gelangt  in  einen  zylindrischen  Kanal,  in  dessen 
Tiefe  sich  zwei  Öffnungen  befanden.  Der  Kanal  war 
der  Sinus  urogenitalis,  2  Centimeter  lang  und  anderthalb 
im  Umfange  messend.  Wand  sehr  dick.  Die  obere  der 
beiden  Öffnungen  im  Sinus  urogenitalis  war  die  Harn- 
röhrenöffnung, die  untere  führte  in  eine  1  und  einen 
halben  Centimeter  lange  Vagina,  die  unten  drei  und  einen 
halben  Centimeter  breit,  weiter  oben  oberhalb  einer  Striktur 
5,5  Centimeter  breit  war.  Der  Tumor  entstammte  dem 
Uterus  und  umgab  teilweise  sogar  die  Scheide  in  deren 
oberem  Abschnitte.  Der  Tumor  war  an  einer  Stelle 
geplatzt  und  hatte  so  eine  tötliche  Verblutung  herbei- 
geführt. Man  fand  keine  Spur  von  Ovarien  oder  Pro- 
stata oder  Samenbläschen  —  wofür  wurde  denn  jenes 
im  linken  Leistenkanale  liegende  Gebilde  angesehen?  — 
Der  Penis  besaß  deutlich  drei  Corpora  cavernosa.   |  Wenn 


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der  Penis  hypospadiaeisch  war,  so  ist  mir  die  Möglichkeit 
der  Existenz  von  drei  Corpora  caversa  mindestens  zweifel- 
haft, jedenfalls  ganz  unverständlich.  — N].  —  Lesser  er- 
klärte die  Verstorbene  für  ein  Weib  mit  gewissen  Mängeln, 
da  sie  niemals  menstruiert  hatte.  Einen  Beweis  bringt 
er  jedoch  für  die  Richtigkeit  seiner  Vermutung  nicht  — 
meines  Erachtens  erscheint  es  viel  wahrscheinlicher,  daß 
L.  ein  männlicher  Scheinzwitter  war  und  daß  wahrschein- 
lich der  Tumor  ein  Sarkom  eines  in  der  Bauchhöhle  reti- 
nierteu  Hodens  war,  während  der  andere  Hoden  im  linken 
Leistenkanale  lag.  Selbstverständlich  sind  das  nur  ver- 
mutete Möglichkeiten.  Da  ich  die  Originalarbeit  Lesser's 
nicht  besitze,  so  möchte  ich  einen  Kollegen,  welchem  die 
Deutsche  Zeitschrift  für  praktische  Medizin  für  das  Jahr 
1878  zugänglich  ist,  ersuchen,  die  Arbeit  Lesser's  auf 
diesen  Punkt  hin  kritisch  durchzusehen. 

22)  Levy  [Berliner  klinische  Wochenschrift.  XX. 
Jahrgang  1882  pg.  620]  stellte  in  der  Berliner  geburts- 
hülnich  gynaekologischen  Gesellschaft  am  8.  XII.  1882 
(Zeitschrift  für  Geburtshülfe  und  Gynaekologie  IX.  Bd. 
1883  pg.  235:  „Hermaphroditismus  spurius  femininus  mit 
Tumor  in  Abdomine"]  ein  16 jähriges  Mädchen  Anna 
Schulze  vor.  Da  ich  in  der  Sitzung  zugegen  war,  damals 
noch  Volontair  in  der  Klinik  des  verstorbenen  Professor 
Karl  S  c  h  r  o  e  d  e  r,  so  benützte  ich  die  Gelegenheit,  um  ein 
Modell  der  äußeren  Genitalien  dieses  Mädchens  anzu- 
fertigen. Das  Mädchen  hatte  seit  einem  halben  Jahre 
die  Regel,  wie  es  aussagte ;  die  Regel  soll  stets  schmerz- 
haft sein.  Körperhöhe  145  Centimeter,  Haupthaar  lang, 
Mammae  wenig  entwickelt,  Allgemeinaussehen  weiblich, 
(  litoris  peniformis  ähnelt  einem  hypospadischen  Penis, 
ist  drei  Centimeter  lang,  sub  erectione  5  Centimeter;  die 
Erektion  ist  sehr  energisch,  sub  narcosi.  In  jeder  Scham- 
lefze tastet  man  ein  härtliches  verschiebliches  Gebilde 
von  10-Pfennigstückgröße.    Unterhalb  der  Harnröhren- 


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mündung  liegt  die  von  einem  Hymen  garnierte  Vaginal- 
öffnung. Die  Vagina  ist  5  Centimeter  lang.  Die  Schara- 
lefzen  sind  schwach  behaart  und  runzlig,  über  dem  rechten 
horizontalen  Schambeinaste  sieht  man  eine  Hervorwölbung, 
fühlt  aber  dort  keine  vergrößerte  Resistenz;  niemals 
Menstruation,  wohl  aber  Molimina  vorhanden.  Ob  der 
Tumor  eine  Haematometra  oder  ein  Neoplasma  des  rechten 
Eierstockes  ist,  schreibt  L  e  v  y,  wird  die  weitere  Be- 
obachtung zeigen.  Per  rectum  fühlte  man  einen  Strang, 
nach  oben  etwas  dicker  werdend,  und  darüber  mehr  nach 
rechts  gelagert,  einen  Tumor  von  der  Größe  einer  großen 
Orange,  festweich,  nicht  fluktuierend,  mit  glatter  Ober- 
fläche; diesem  liegt  links  oben  ein  mandelförmiges  Gebilde 
au,  das  aber  auch  von  dem  Tumor  abhebbar  ist.  Unter- 
halb des  Tumors  findet  sich  noch  ein  erbsengroßes  Gebilde, 
aber  außer  Zusammenhang  mit  ihm.  „Das  Aussehen  der 
Clitoris  sowie  die  in  den  Schamlefzen  getasteten  Gebilde 
müssen  den  Verdacht  einer  erreur  de  sexe"  wecken,  für 
mich  muß  das  Geschlecht  in  diesem  Falle  vorläufig 
unentschieden  bleiben,  da  ja  die  Angabe  der  stattgehabten 
Menstruation  eine  fragliche  ist, 

23)  Ernst  Levy  |„Über  ein  Mädchen  mit  Hoden 
und  über  Pseudohermaphroditismus" —  Hegaus  Beiträge 
zur  Geburtshülfe  und  Gynäkologie.  Leipzig  1901.  Bd.  IV. 
Heft  III.  pg.  347— 3t>0.|  beschreibt  einen  von  Do e der- 
lei n  operierten  Fall,  der  nach  Kastration  eines  Mädchens 
feststellte,  daß  die  exstirpierten  Geschlechtsdrüsen  Hoden 
waren  und  giebt  im  Anschlüsse  hieran  die  Kranken- 
geschichte einer  von  v.  Saexinger  mit  letalem  Aus- 
gange operierten  Person.  Die  20jährige  M.  Str.  bot  ein 
weibliches  Allgemeinaussehen,  sowie  auch  manche  sekun- 
dären Geschlechtscharaktere  weiblich  waren.  Als  sie 
geboren  wurde,  sagte  die  Hebeamme,  das  Kind  sei  ein 
männliches  mißbildetes  Kind,  es  wäre  aber  besser,  das- 
selbe als  Mädchen  zu  erziehen,  weil  der  Harn  nicht  vorn 


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am  Gliede  abgegeben  werde.  Niemals  Regel  bisher, 
wohl  aber  schon  seit  zwei  Jahren  alle  drei  Wochen  je 
4 — 5  Tage  andauernde  Leibschmerzen  mit  ärztlicherseits 
dabei  konstatierten  Tempenitursteigungen.  Seit  drei 
Monaten  schon  bemerkte  Patientin,  daß  ihr  in  der  rechten 
Hälfte  des  Unterleibes  ein  Tumor  wachse.  Seit  dieser 
Zeit  ist  sie  sehr  abgemagert  und  arbeitsunfähig  geworden. 
Patientin  ist  168  Centimeter  hoch,  anaemisch,  ohne  Spur 
von  männlicher  Gesichtsbehaarung.  Stimme  und  Kehlkopf 
männlich,  Andromastie.  Im  rechten  Hypogastrium  ein 
schmerzhafter  glattwandiger,  harter  ovaler  Tumor  von 
Kindskopfgröße:  der  Tumor  entspringt  aus  dem  kleinen 
Becken  und  läßt  sich  nicht  in  das  große  Becken  hervor- 
heben. Linkerseits  ein  ähnlicher  kleinerer  Tumor,  da- 
hinter ein  sehr  druckempfindliches  Gebilde,  welches  den 
Eindruck  eines  etwas  vergrößerten  Ovarium  macht.  Der 
bei  Druck  auf  diese  Gebilde  empfundene  Schmerz 
gleicht  absolut  dem  sonst  periodisch  allmonatlich  em- 
pfundenen Schmerze.  Schambehaarung  weiblich.  Statt 
einer  Clitoris  fand  man  einen  hypospadischen  Penis  von 
5,7  Centimeter  Länge,  hakenförmig  nach  unten  gekrümmt, 
an  der  Unterfläche  drei  Centimeter  lang.  Die  Glans 
kastaniengroß.  Der  Penis  erwies  sich  ercctil.  An 
seiner  unteren  Fläche  eine  Rinne,  die  bis  zwei  Centimeter 
oberhalb  der  Aualöffnung  reicht  Nach  hinten  unten  zu 
wird  diese  Rinne  ständig  breiter  und  wird  zuletzt  einen 
Centimeter  breit.  Hier  liegt  eine  Oeffnung,  welche  den 
Katheter  in  die  Blase  einläßt.  Das  Präputium,  nach 
hinten  gestreift,  läßt  sich  soweit  vorziehen,  daß  es  die 
ganze  Glans  Penis  bedeckt. 

Keine  Spur  einer  Vagina  zu  finden,  wohl  aber 
existieren  große  Schamlefzen,  mit  einer  Spur  von  kleinen 
Schamlippen,  welche  die  Harnröhrenöffnung  seitlich  um- 
geben. In  jeder  Leistengegend  tastet  man  ein  festweiches 
kleines  Gebilde  von  Haselnuß-  resp.  Bohnengröße.  Diese 


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—   318  — 


Gebilde  lassen  sich  leicht  in  die  Bauchhöhle  hineinstoßen. 
Beide  waren  sehr  druckschnierzhaft.  Per  rectum  fühlte 
man  zwischen  per  urethram  eingeführtem  Katheter  und 
Finger  kein  Gebilde  in  der  Art  einer  Vagina.  Per 
rectum  tastete  man  den  rechtsseitigen  sehr  schmerzhaften 
Tumor,  welcher  hier  Fluktuation  aufwies.  Während  des 
Aufenthaltes  in  der  Klinik  hatte  das  Mädchen  'seine 
Monatsschmerzen  und  die  Tumoren  erschienen  dabei  ver- 
größert. Am  14.  März  vollzog  Professor  v.  Saexinger 
den  Bauchschnitt,  konnte  aber  die  Tumoren  nicht  ent- 
fernen. Die  Operation  blieb  unvollendet,  zudem  mußte, 
da  es  an  einer  Stelle  kontinuierlich  blutete,  ein  Gaze« 
tampon  eingelegt  werden,  also  die  Bauchwunde  nicht 
ganz  geschloßen.  Die  Kranke  starb  am  nächsten  Morgen. 
Die  beiden  Tumoren  erwiesen  sich  sub  nekropsia  als 
Rundzellensarcome,  und  zwar  entsprangen  sie  an  den 
Stellen  des  Beckens,  wo  normal  die  Ovarien  liegen.  Man 
fand  aber  nirgends  auch  nur  die  geringste  Spur  von 
O  variaige  webe;  man  fand  aber  zwischen  den  Tumoren 
hinten  und  rechterseits  gelagert  ein  Gebilde  von  dreieckiger 
Gestalt,  welches  als  Uterus  angesprochen  wurde.  Uterus- 
wände sehr  dünn,  die  Uterinhöhle  komraunicierte  nach 
unten  zu  mit  einem  Kanäle  von  18 — 19  Centimeter  Länge, 
einer  Vagina,  welche  sich  dicht  hinter  der  Urethral- 
mündung  in  jene  vorgenannte  Rinne  am  Damme  öffnete. 
[Man  hatte  in  vivo  diese  Oeffnung  übersehen?  —  X.]  — 
Das  Lumen  der  Scheide  war  im  oberen  Teile  so  groß, 
daß  der  Zeigefinger  einging,  im  Scheidenausgange  aber 
nur  kleinfingerweit.  Die  Cervix  uteri  war  mit  den  Tumoren 
eng  verwachsen  und  so  verlängert,  daß  man  eine  deutliche 
Grenze  zwischen  Cervix  und  Corpus  uteri  nicht  feststellen 
konnte,  ebensowenig  fand  man  eine  ausgesprochene  Grenze 
zwischen  Uterus  und  Vagina.  Die  Eileiter  waren  da, 
ebenso  die  Ligamenta  rotunda,  welche  außerhalb  der 
Leistenkanäle  abschlössen  mit  einer  Art  cystischen  Bildung 


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—   319  — 


von  zwei  Centiraeter  Länge.  [Hydrocele?  —  N.J  — 
Hinter  der  Vagina  fand  man  zwischen  ihr  und  Rectum 
in  der  Höhe  des  äußeren  Muttermundes  einen  fluk- 
tuierenden Sack  mit  gespannten  Wandungen.  Dieser 
faustgroße  Sack  war  eine  mit  seröser  Flüssigkeit  gefüllte 
Cyste  mit  glatter  blasser  Innenwand.  Harnröhre  vier 
Centimeter  lang,  von  weiblichem  Bau,  ohne  Spur  einer 
Prostata,  eines  Caput  gallinagiuis  oder  Öffnungen  der 
Ductus  ejaculatorii.  Die  Cyste  war  mit  Flimmerepithel 
ausgekleidet.  Die  härtlichen  Gebilde,  in  der  Gegend  der 
Leistenkanäle  unter  den  Hautdecken  getastet,  erwiesen 
sich  als  Metastasen  der  Tumoren.  Man  fand  keine 
Spur  von  Hodengewebe.  Doe  der  lein,  welcher  den 
v.  Saexinger  operierten  Fall  beschreiben  ließ,  vermutete, 
die  Person  sei  ein  weiblicher  Scheinzwitter  gewesen  mit 
maligner  Degeneration  der  Geschlechtsdrüsen,  penisartiger, 
hypertrophischer  und  erektiler  Clitoris,  bei  großer  Enge 
der  äußeren  Scheidenmündung  und  Existenz  einer  Cyste 
aus  einem  Wol ff sehen  Körper  entstammend  —  wohl 
Parovarialcyste.  [Da  keine  Spur  von  Ovarialgewebe  ge- 
funden wurde,  ebensowenig  wie  eine  Spur  von  Hoden- 
gewebe, so  kann  hier  von  einer  Entscheidung  des  Ge- 
schlechtes gar  nicht  die  Hede  sein  —  ich  persönlich 
würde  eher  männliches  Scheinzwittertum  in  diesem  Falle 
vermuten,  gestützt  auf  analoge  Fälle  von  Hodensarkom  bei 
Vorliegen  eines  hochgradig  entwickelten  Uterovaginal- 
kanales.  N.] 

24)  Liebmann  [ßudapesti  Kir.  Orvooseg.  1890. 
10.  V.  siehe:  Referat:  Centraiblatt  für  Gynaekologie. 
1890  pg.  928j:  Bei  einer  45jährigen  Frau  war  vor  einem 
Jahre  ein  elastischer  Tumor  in  der  linken  Leiste  ent- 
standen, schnell  bis  Faustgröße  anwachsend.  Man  fand 
keine  Spur  von  Uterus  oder  Ovarien.  Die  äußeren 
Schamteile  dürftig  angelegt;  Brüste  gut  entwickelt. 
Weder  jemals  Periode  noch  auch  Molimina  menstrualia. 


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—   320  — 


Die  Person  heiratete  im  27.  Jahre  einen  Mann  von  66 
Jahren  und  hatte  auch  nicht  die  geringste  Ahnung  von 
ihrer  Mißbildung.  Der  Tumor  sollte  ein  Lipom  sein. 
[Leider  ist  das  Referat  zu  kurz,  um  alle  die  Fragen  zu 
beantworten,  die  sich  in  diesem  zweifelhaften  Falle  von 
selbst  aufwerfen.  N.J 

25)  Litten  [Ein  Fall  von  Androgynie  mit  malignem 
teratoidem  Kystom  des  rechten  Eierstockes  mit  doppel- 
seitiger Hydrocele  cystica  processus  vaginalis  peritonaei 
—  Virchows  Archiv  1879  —  Bd:  75|.  — 

Am  31.  Mai  trat  in  die  Klinik  von  Professor  Frerichs 
die  16jährige  Klara  Hacker  ein,  angeblich  wegen 
Ascites.  Gleich  bei  der  ersten  Inspektion  fiel  das  eigen- 
tümliche Aussehen  der  Genitalien  auf  und  schwankte 
man,  ob  die  Patientin  in  einem  Frauensaal  oder  in  einem 
Mäunersaal  unterzubringen  sei.  „  Der  allgemeine  Körperbau 
weiblich,  aber  das  Aussehen  des  Geuitale  rein  männlich, 
nur  fiel  ein  klaffender  Spalt  auf,  welcher  sich  in  der 
Raphe  der  als  Scrotura  imponierenden  stark  gerunzelten 
Hautfalten  bis  gegen  das  hintere  Ende  derselben  hin 
erstreckte*  —  Penis  am  Dorsum  5  und  einen  halben 
Centimeter  lang,  zwei  und  einen  halben  an  der  unteren 
Fläche.  Sub  erectione  wird  das  (Ilied  10  Centimeter 
lang,  man  tastet  die  Schwellkörper.  Man  gewinnt  das 
Bild  einer  Hypospadiasis  peniscrotalis  mit  einer  Rinne, 
welche  bis  4,5  Centimeter  vor  der  Analöffnung  reicht.  Zu 
beiden  Seiten  dieser  Rinne  fanden  sich  derbe,  gerunzelte 
und  mit  kurzen  Härchen  besetzte  Hautfalten,  welche  in 
ihrer  Beschaffenheit  auf's  Lebhafteste  an  die  Scrotalhaut 
erinnerten.  Beim  Auseinanderziehen  dieser  fettreichen 
Falten  erkannte  man  in  dem  nunmehr  geöffneten  Kanal 
deutlich  die  oben  liegende  Urethralmündung  und  darunter 
den  außerordentlich  engen,  eben  noch  für  die  Sonde 
passierbaren  Scheideneingang.  Klara  war  als  Mädchen 
erzogen,  hatte  aber  die  Stimme  eines  20jährigen  Mannes. 


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—   321  — 


Sie  war  das  älteste  von  8  Kindern  ihrer  Eltern,  die 
Geschwister  waren  alle  normal  gebaut.  Es  fiel  jedermann 
auf,  wie  ungemein  rasch  sich  der  Verstand  Klara's  ent- 
wickelt hatte  sowie  ein  ausgesprochener  Trieb  zu  Selbst- 
ständigkeit und  Unabhängigkeit.  Sobald  Klara  bemerkt 
hatte,  daß  sie  anders  körperlich  gebaut  war,  als  ihre 
Freundinnen,  zog  sie  sich  von  jedem  Verkehr  mit  ihnen 
zurück.  Die  Regel  trat  im  15.  Jahre  ein,  war  stets 
spärlich  und  schmerzhaft  und  mit  Anschwellen  der  Brüste 
verbunden.  Im  zweiten  Jahre  nach  Eintreten  blieb  die 
Periode  einige  Monate  lang  aus,  in  dieser  Zeit  fing  der 
Leib  an,  an  Umfang  zuzunehmen.  Die  Harnsecretion 
nahm  sehr  zu  und  das  Harnen  wurde  schmerzhaft.  Der 
Tumor,  die  Bauchhöhle  ausfüllend,  reichte  bis  11  Centi- 
raeter  oberhalb  des  Nabels,  erschien  nicht  einheitlich, 
sondern  gelappt,  mit  ungleicher  Konsistenz,  asymmetrischen 
Kontouren  etc.  Im  ersten  Augenblicke  dachte  man  an 
Schwangerschaft  um  so  mehr  als  die  Regel  ausgeblieben 
war,  aber  die  Gestalt  des  Tumors  sprach  gegen  Schwanger- 
schaft, ebenso  das  Aussehen  der  äußeren  Genitalien, 
ganz  besonders  aber  die  Enge  der  Scheidenmündung, 
welche  kaum  eine  dünne  Sonde  einließ.  Da  man  also 
eine  Schwangerschaft  ausschloß,  so  wurde  der  Uterus 
sondiert.  Die  per  vaginam  eingeführte  Sonde  drang  19 
Centimeter  tief  ein  in  der  Richtung  nach  rechts  oben. 
Die  Kuppe  der  Sonde  konnte  man  in  dem  kleineren  rechts- 
seitigen Tumor  tasten,  der  dem  größeren  gleichsam  aufsaß. 
Dieser  kleine  Tumor  wurde  also  für  den  Uterus  an- 
gesprochen, nach  rechts  dislociert  durch  einen  von  links 
ausgehenden  Tumor.  Scheide,  Uterus  und  Blase  wiesen 
sämtlich  eine  bedeutende  Verlängerung  auf,  der  Katheter 
drang  auf  15  Centimeter  Tiefe  in  die  Blase  ein!  In  der 
linken  Scrotalhälfte  tastete  man  ein  Gebilde  von  Mandel- 
größe; rechterseits  lag  ein  ebensolches  Gebilde  vor  der 
äußeren  Öffnung  des  Leistenkanales ;   von  jedem  dieser 

Jahrbuch  V.  21 


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—   322  — 


Gebilde  schien  ein  Strang  nach  dem  Leistenkanale  zu 
zu  verlaufen.  Nach  einer  am  nächsten  Tage  vollzogenen 
Punktion  stellte  man  die  Diagnose  auf  einen  Ovarialtumor, 
ein  vielkämmeriges  Cystom.  Die  mandelförmigen  Ge- 
bilde in  scroto  fisso  sah  man  für  Hoden  an,  jene 
Stränge  für  Samenstränge.  Die  Kranke  starb  unoperiert 
nach  siebenwöchentlichem  Aufenthalte  im  Hospital  an 
Erschöpf uug.  Die  Sektion  wurde  von  Professor  Virchow 
gemacht. 

Er  hatte  die  Klara  Hacker  noch  vor  ihrem  Tode 
gesehen  und  damals  das  Geschlecht  für  weiblich  erklärt, 
obgleich  die  Hypertrophie  der  Clitoris  sowie  jene  in  den 
Schamlefzen  tastbaren  Gebilde  auf  männliches  Geschlecht 
hinweisen.  Virchow  schloß  männliches  Geschlecht  aus, 
weil  er  neben  den  als  Hoden  gedeuteten  Gebilden  keine 
Nebenhoden  tasten  konnte,  und  glaubte,  es  handle  sich 
um  inguinolabiale  Ektopie  der  Ovarien.  Dafür  sprach 
auch  das  Anschwellen  dieser  Gebilde  intra  Menses. 
Trotzdem  hatte  Virchow  sich  geirrt;  die  von  ihm  für 
ektopische  Ovarien  angesprochenen  Gebilde  waren  aller- 
dings nicht  Hoden,  wie  man  in  der  Klinik  von  Frerichs 
vorausgesetzt  hatte,  aber  auch  nicht  Ovarien,  sondern 
abgeschnürte  praeinguinale  Teile  der  Processus  vaginales 
peritonaei.  Linkerseits  war  daraus  eine  kleine  Hydro- 
cele,  rechterseits  eine  Haematocele  entstanden.  Der 
Bauchtumor  erwies  sich  als  ein  Myxosarcom  des  rechten 
Ovarium,  das  linke  erwies  sich  als  normal.  Da  der 
rechte  Eierstock  degeneriert  war,  der  linke  aber  eine 
glatte  Oberfläche  hatte,  ohne  Spuren  geplatzter  Follikel, 
so  bezweifelte  Virchow  den  menstruellen  Charakter  der 
von  Klara  Hacker  angegebenen  Blutungen,  eine  An- 
sicht, die  sich  wohl  heute  nicht  mehr  halten  lässt,  da, 
wie  wir  wissen,  manche  Frauen  auch  nach  operativer 
Entfernung  beider  Ovarien  trotzdem  noch  eine  Zeit  lang 
ihre  katamenialen   Blutungen  behalten  können.  Man 


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—   223  — 


fand  auch  Metastasen  des  Myxosarcoius  in  der  Leber 
und  eine  Nephrolithiasis  ulcerosa. 

26)  Merkel  [Beiträge  zur  pathologischen  Anatomie 
und  allgemeinen  Pathologie.  Bd.  XXXII.  I.  Heft,  pg. 
157—1902].  Bei  der  Sektion  eines  52jährigen  Mannes 
fand  Merkel  in  einer  Leiste  eine  Hernie.    Der  Mann 


Ut  T 


P 

Fg.  19:  Uterus  eines  männlichen  Scheinzwitters  von  52  Jahren. 
Sektionspräparat.   Beobachtung  von  Merkel. 
Ut  =  Uterus,  T^Tube,  N  =  Nebenhoden,  H  =  Hoden,  V  =  Vas 
deferens,  Ur  =  Ureter,  B  =  Blase,  A  =  Ampulle,  S  =  Samenblasen, 
D  =  Duct.  ejaculatorii,  P  =  Prostata. 

war  infolge  von  Carcinoma  recti  gestorben.  In  hernia 
fand  er  einen  gut  gestalteten  Uterus  und  jederseits  von 
demselben  je  eine  Geschlechtsdrüse,  die  wie  ein  Ovarium 
jede  aussahen :  sie  waren  oval  und  taubeneigroß.  Pseudo- 
hermaphoditismus  masculinus  internus  mit  gleichem  Ent- 

21* 


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—   324  — 


wickelungsgrade  der  Müll  ergehen  und  der  Wolffschen 
Gänge,  da  die  Geschlechtsdrüsen  sich  mikroskopisch  als 
Hoden  erwiesen.  Der  Uterovaginalkaual  war  20  Centi- 
me ter  lang.  Die  Vagina  mündete  in  capite  gallinaginis 
in  parte  prostatica  urethrae.  Prostata  normal.  Merkel 
fand  vier  Samenblasen.  Das  linke  Vas  deferens  war  in 
ganzer  Länge  viabel,  das  rechte  nur  im  oberen  Abschnitte. 
Die  Samenblasen  enthielten  normales  Sperma.  Allgemein- 
aussehen, Stimme  und  Behaarung  männlich;  der  Maun 
hatte  normal  mit  seiner  Frau  kohabitiert  und,  wenn  die 
Ehe  kinderlos  blieb,  so  muß  die  Sterilität  von  den  Or- 
ganen der  Frau  und  nicht  von  dem  Manne  abgehangen 
haben.  Der  Uterus  enthielt  weder  Blut  noch  Schleim 
und  ging  ohne  eine  Spur  einer  sichtbaren  Portio  vaginalis 
nach  unten  zu  sehr  dünnwandig  in  die  Vagina  über. 
Das  Lumen  der  Vagina  war  bleistiftweit,  die  Hoden 
lagen  da,  wo  bei  Frauen  die  Ovarien  liegen;  man  fand 
j  euerseits  ein  Ligament,  dem  Ligamentum  ovarii  proprium 
entsprechend.  (Siehe  Fg.  19).  Merkel  gibt  an,  er  habe  in 
der  Literatur  16  Fälle  von  Uterus  masculinus  von  hoher 
Entwickelung  gefunden,  die  Fälle  sind  aber,  wie  ich  ge- 
legentlich nachweisen  werde,  ganz  bedeutend  häufiger. 
Ich  werde  die  gesamte  Kasuistik  der  Entwickelung  der 
Müller 'sehen  Gänge  bei  Männern,  resp.  männlichen 
Scheinzwittern,  Foeten  an  anderer  Stelle  veröffentlichen. 

27)  Mies  [„Pseudohermaphroditismus  masculinus"  — 
Münchener  Medizinische  Wochenschrift  1899.  Bd.  XLVI. 
pg.  998].  Man  vermutete  eine  „Erreur  de  sexe"  bezüglich 
der  6&jährigen  Else  G.,  in  das  Hospital  aufgenommen 
wegen  Krebs  der  Unterlippe  —  angesichts  dessen,  daß  diese 
Lokalisation  des  Krebses  bei  Frauen  eine  äußerst  seltene 
ist,  angesichts  der  männlichen  Stimme  der  Kranken,  ihrer 
männlichen  Behaarung,  des  Mangels  von  Brustdrüsen, 
des  absoluten  Mangels  der  Kegel  zeitlebens.  Bei  der 
näheren  Untersuchung  konstatierte  man  eine  Hypospa- 


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—  325 


diasis  peniscrotalis  mit  Hoden  und  Nebenhoden  in  jeder 
Schamlefze,  man  tastete  auch  eine  Prostata.  Dieser  Fall 
beweist  eklatant,  wie  wichtig  es  ist,  bei  der  Kranken- 
aufnahme auch  den  Zustand  der  Geschlechtsorgane  zu 
untersuchen. 

28)  F.  N  e  u  ge  b a  u  e  r.  Persönlich  behandelte  ich  einen 
weiblichen  Scheinzwitter,  die  50 j.  Anastasie  K.,  behaftet 
mit  sehr  bedeutender  Hypertrophie  der  Olitoris,  die  drei 
und  einen  halben  Centimeter  lang  und  erectil  war.  Die 
Kranke  hatte  ein  weit  vorgeschrittenes  Uteruscarcinom 
und  Carcinoma  ovarii  sinistri. 

29)  F.  Neugebauer:  „Sarkom  einer  Geschlechts- 
drüse durch  Bauchschnitt  entfernt  bei  einem  als  Frau 
verheirateten  Scheinzwitter  auch  jetzt  noch  zweifelhaften 
Geschlechts."  Am  2.  III.  1903  vollzog  ich  den  Bauchschnitt 
an  einer  35jähr.  seit  drei  Jahren  steril  verheirateten  Frau 
von  hohem  männlichen  Körperwuchs,  großem,  vorspringen- 
den Kehlkopf  und  allgemeinem  männlichen  Aussehen,  ab- 
dominalem Athmungstypus.  Niemals  Menstruation,  niemals 
irgend  welche  sog.  Tormina  menstrualia,  niemals  irgend 
welcher  Geschlechtsdrang.  Außere  Scham  weiblich,  aber 
hypoplastisch,  Möns  Veneris  fettarm,  Behaarung  sehr 
spärlich.  Hymenalspuren  vorhanden,  Vagina  in  der 
Höhe  von  einigen  Centimetern  blind  geschlossen.  Ascites, 
kachektisches  Aussehen.  Seit  einem  Jahre  ständig  zu- 
nehmende heftige  Leibschmerzen.  Diagnose:  Tumor 
malignus  der  inneren  Genitalien.  Tumor  größer  als  eine 
Kokosnuß,  das  Cavum  Douglasii  mit  einem  weicheren 
Anteile  ausfüllend,  mit  härteren  Anteilen  im  linken 
Hypogastrium  tastbar.  Beim  Bauchschnitt  gelang  es, 
den  gesamten  Tumor  aus  dem  Becken  stumpf  herauszu- 
holen nach  Resektion  eines  Anteiles  des  mit  ihm  ver- 
wachsenen Netzes.  Der  Tumor  von  Herrn  Dr.  Stein- 
haus mikroskopisch  untersucht,  erwies  sich  als  Sarkom 
einer  Geschlechtsdrüse  ohne  Spur  von  ovariellem  oder 


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—   326  — 


testiculärem  Gewebe;  die  größte  Wahrscheinlichkeit  sprach 
dafür,  daß  es  sich  um  eine  Cryptorcbis  sinistra  sarcotnatosa 
handelt,  umsomehr  als  ein  in  einer  Duplikatur  des  Bauch- 
fells über  den  Tumor  verlaufender  Strang  sich  als  Vas  defe- 
rens  erwies.  Das  centripetale  Ende  dieses  Stranges  senkte 
sich  in  einem  schmalen  Spalt  ein  zwischen  2  scheinbare 
Gyri  an  der  Tumoroberfläche,  das  periphere  Ende  verlor 
sich  spurlos  in  der  lateralen  Oberfläche  des  Tumors.  Ich 
fand  nirgends  eine  Spur  der  rechtsseitigen  Geschlechtsdrüse, 
weder  in  der  Gegend  vor  dem  Leistenkanale  noch  im 
Becken,  fand  dagegen  einen  Strang,  der  an  der  hinteren 
Beckenwand  nach  oben  zu  verlief,  wahrscheinlich  liegt  die 
zweite  Geschlechtsdrüse  höher  oben  lateral  von  der  Lenden- 
wirbelsäule, in  welchem  Falle  der  rechtsseitige  Strang  des 
Vas  deferens  dextrum  sein  dürfte.  Der  Tumor  hatte  eine 
Art  Mesenterium,  eine  Art  Gekröse,  das  behufs  Entfernung 
des  Tumors  durchschnitten  wurde  mit  nachfolgender 
fortlaufender  Naht  und  Unterbindung  eines  arteriellen 
Gefäßes  am  lateralen  Ende  des  Gekröses.  Ich  vermutete, 
es  liege  vielleicht  ein  höchst  rudimentärer  Uterus  unicornis 
sinister  vor  —  wobei  der  linksseitige  Strang  als  Tube 
sich  deuten  ließ,  fand  jedoch  keinen  Anhaltspunkt  für  diese 
Annahme.  Eine  Prostata  fand  ich  nicht  Das  Geschlecht  dieser 
Person  bleibt  zweifelhaft,  trotz  Exstirpation  einer  malign 
entarteten  Geschlechtsdrüse.  Aus  der  Bauchhöhle  er- 
gossen sich  einige  hundert  Gramm  Ascites.  Die  Frau 
verlor  ihre  Schmerzen  sofort  und  verließ  meine  Klinik 
nach  glatter  Wundheilung  am  20.  Tage  nach  dem  Bauch- 
schnitte. Werde  diesen  Fall  gesondert  mit  Abbildungen 
veröffentlichen.  Es  ist  dies  in  der  Kasuistik  von  ca.  400 
von  mir  vollzogenen  Bauchhöhlenoperationen  der  erste 
Fall  zweifelhaften  Geschlechtes. 

30)  Obolonski  [„Beiträge  zur  pathologischen  Ana- 
tomie des  Hermaphrodit ismus."  Zeitschrift  für  Heilkunde. 
Bd.  <>.  pg.  211 1.    In  der  Klinik  von  Chiari  starb  eine 


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—   327  — 


50jährige  Arbeiterin,  welche  zeitlebens  als  Weib  gegolten 
hatte.  Sie  soll  vom  17.  bis  zum  49.  Jahre  stets  ihre 
Kegel  gehabt  haben.  Gleichwohl  erwies  die  Sektion  mann- 
liches Scheinzwittertum  mit  Hypospadiasis  peniscrotalis ; 
der  gespaltene  Penis  war  6  Centimeter  lang;  unterhalb 
der  HarnröhrenmUndung  fand  man  die  Öffnung  der  6 
Centimeter  langen  Vagina,  von  einem  Hymen  garniert: 
die  Scheide  war  unten  1  Centimeter  breit.  Man  fand 
einen  rudimentär  entwickelten  Uterus  bicornis,  linkerseits 
vom  Uterus  einen  Hoden  und  Nebenhoden  und  Samen- 
st rang,  rechterseits  fand  man  keine  Geschlechtsdrüse, 
wahrscheinlich  war  aus  derselben  ein  maligner  Tumor 
hervorgegangen,  das  bei  der  Sektion  gefundene  Sarkom, 
welches  den  Tod  herbeigeführt  hatte.  Zu  Lebzeiten  hatte 
man  an  ein  Carcinoma  uteri  gedacht.  Dieses  Neoplasma 
hatte  auf  dem  Wege  der  Kompression  eine  beiderseitige 
Hydronephrose hervorgerufen.  DaObolonski  rechterseits 
ein  Vas  deferens  fand,  welches  ganz  dem  linksseitigen 
entsprach,  so  vermutete  er  ganz  mit  Recht,  daß  auch  die 
rechtsseitige  Geschlechtsdrüse  ein  Hodenge  wesen  sein  mag, 
daß  also  die  Verstorbene  ein  Mann  war,  wie  schon  Wrany 
vor  ihr  behauptet  hatte.  Eigentümlich  berührt  die  An- 
gabe von  der  angeblichen  periodischen  Genitalblutung, 
Regel,  so  viele  Jahre  hindurch,  der  wir  natürlich  vor- 
läufig skeptisch  gegenübertreten  müssen.  Allgemein- 
aussehen ganz  weiblich,  auch  das  bis  heute  in  Prag 
konservierte  Skelett  weist  absolut  einen  ganz  weiblichen 
Bau  auf. 

[Ich  werde  in  einer  anderen  Arbeit  die  sämtlichen 
Fälle  von  angeblicher  Menstruation  bei  männlichen 
Scheinzwittern  kritisch  zusammenstellen.  N.]. 

31)  Paton,  (der  Assistent  der  Chirurgischen  Ab- 
teilung des  Londoner  Westminster-Hospital)  beschrieb 
eine  bisher  einzig  dastehende  Beobachtung  [„A  case  of 
vertieal  or  complexe  hermaphroditism  with  pyometra  and 


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—    328  — 


pyosalpinx ;  removal  of  the  pyosalpiox".  Lancet  1902. 
10.  VU.  No.  4116.  Vol.  CLXIII.  pg.  148—149]:  Am 
17.  V.  1902  kam  zu  ihm  ein  20  jähriger  Mann  wegen 
Schmerzen  in  der  Harnblase  und  erschwerten  Harnens. 
Er  konstatierte  eine  Hypospadiasis  peniscrotalis  mit 
beiderseitigem  Kryptorchismus.  Der  Penis  hatte  kaum 
2 — 3  Zoll  Länge.  Auf  den  Bauchdecken  des  recht- 
seitigen  Hypogastrium  sah  man  eine  ausgedehnte 
Operationsnarbe  nach  Discision  eines  Abscesses  vor 
einem  Jahre.  Nach  letzterer  Operation  war  eine  eiternde 
Fistel  hinterblieben,  welche  sich  erst  nach  Ablauf  eines 
halben  Jahres  geschlossen  hatte.  Man  fühlt  in  der 
Gegend  der  Narbe  eine  ausgesprochene  Resistenz,  ohne 
jedoch  weiteren  Bescheid  über  deren  Charakter  erlangen 
zu  können.  Der  Harn  enthält  zeitweilig  Eiter,  zeitweilig 
Blut.  Der  Katheter  entleert  dicken  Eiter.  Stimme  und 
Gesichtsausdruck  weiblich,  keine  männliche  Gesichts- 
behaaruog;  Schamgegend  spärlich  behaart.  Der  Mann 
ist  klein  von  Wuchs  und  hager.  Brüste  wie  bei  einem 
Mädchen  von  15  Jahren.  Der  Mann  war  nach  dem 
Tode  seines  Vaters  in  einem  Waisenhause  erzogen 
worden  und  hatte  immer  für  schwächlich  gegolten;  ober 
jemals  die  Periode  hatte,  ist  nicht  bekannt.  Ein  Bruder 
und  eine  Schwester  sollen  normal  gebaut  sein.  Das 
Individuum  wurde  bisher  stets  als  Mann  angesehen  und 
scheint  bis  jetzt  keinerlei  Geschlechtstrieb  em- 
pfunden zu  haben.  Eine  Ausspülung  der  eiternden 
Harnblase  —  wenigstens  glaubte  man,  es  handle  sich 
um  eine  solche  —  brachte  dem  Kranken  Linderung 
seiner  Beschwerden.  Am  7.  April  tastete  man  sub 
narcosi  im  Unterleibe  einen  fluktuirenden  Tumor  von 
bedeutender  Grösse,  den  man  für  die  Harnblase  hielt, 
aber  der  Katheter  entleerte  kaum  einige  Tropfen  Harn 
und  Eiter.  Per  rectum  tastete  man  ein  Gebilde  wie  eine 
sehr  bedeutend  nach  oben   verlängerte  Prostata,  deren 


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—   329  - 


oberes  Ende  der  Finger,  als  zu  kurz,  nicht  zu  erreichen 
vermochte.  Man  tastete  auch  einen  zweiten  Tumor 
unter  der  Bauchdeckennarbe  gelegen  rechterseits !  Drei 
Tage  später  wurde  sub  narcosi  der  Bauchschnitt  ge- 
macht. Dabei  fiel  zunächst  auf,  dass  der  früher  getastete 
grosse  Tumor  verschwunden  war;  man  tastete  jetzt  nur 
den  kleinen  linksseitigen  Tumor.  Man  machte  einen 
medianen  Einschnitt  unterhalb  des  Nabels  und  fand  in- 
mitten zahlreicher  Verwachsungen  einen  Uterus  mit  zwei 
Eileitern,  deren  rechtsseitiger  mit  der  Bauchwand  ver- 
wachsen war  und  im  Zusammenhang  mit  jener  post- 
operativen Bauchdeckennarbe  stand.  Dieser  rechtsseitige 
Eileiter  war  mit  Eiter  gefüllt,  heißt  es  in  der  Beschrei- 
bung. Der  linksseitige  sah  normal  aus.  (?)  Man  fand 
jederseits  vom  Uterus  ein  Ligamentum  rot  und  um  und 
an  der  Rückfläche  des  linken  Ligamentum  latum  ein 
Gebilde,  das  wie  ein  Ovarium  aussah.  Der  frühere 
Tumor  war  offenbar  die  momentan  leere  Harnblase,  die 
sich  als  sehr  erweitert  erwies.  Man  resecierte  den  links- 
seitigen Eileiter  sowie  die  linksseitige  Geschlechtsdrüse, 
rechterseits  fand  man  keine  Geschlechtsdrüse  —  aller- 
dings konnte  man  angesichts  der  schlechten  Narkose  und 
drohender  Asphyxie  nicht  allzusehr  gewissenhaft  darnach 
suchen.  Mau  mußte  wegen  schlechten  Zustandes  des 
narkotisierten  Patienten  die  Operation  möglichst  bald 
beendigen.  Fortwährend  floß  Eiter  mit  Harn  gemischt 
aus  der  Harnröhrenraünduug  ab.  Am  8.  Mai,  als  dieser 
AbHuß  fortbestand,  beschloß  man,  die  Harnröhrenöffhung 
durch  einen  Einschnitt  zu  erweitern,  aber  wegen 
schlechten  Allgemeinbefindens  des  Kranken  wurde  dieser 
Eingriff  auf  später  verschoben.  Eine  durch  die  Harn- 
röhre vier  Zoll  tief  eingeführte  Sonde  drang  nicht  in  die 
Harnblase  ein,  sondern  in  eine  andere  Höhle.  Nach 
einiger  Zeit  verließ  der  Kranke  das  Hospital  in  relativ 
gutem  Zustande:   es    wurde   beschlossen,   falls  sich  dns 


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—    330  — 


notwendig  erweisen  werde,  auch  die  rechtsseitigen  Adnexa 
uteri  zu  entfernen.  Die  mikroskopische  Untersuchung  des 
linken  Eileiters  wies  eine  Pyosalpinx  nach;  die  Ge- 
schlechtsdrüse, welche  dem  Ligamentum  latum  hinten 
auflag,  war  ein  Hoden  von  rudimentärer  Entwicklung. 


die  Urethralmündung  angesehen  hatte,  war  keineswegs 
eine  solche,  sondern  das  Ostium  vaginae,  die  Harnröhre 
öffnete  sich  in  die  Vagina,  in  welche  also  sowohl  die 
Harnröhre  als  auch  die  Cervix  uteri  mündeten. 

Man  hatte  sub  operatione,  sowie  sich  aus  der  Be- 
schreibung zu  ergeben  scheint,  den  Uterus  samt  links- 
seitigen Adnexa,  welche  statt  eines  Ovarium  einen  Hoden 
enthielten,  entfernt;  ob  rechterseits  eine  Geschlechtsdrüse 
existierte  und  welcher  Art,  diese  Frage  blieb  offen.  Ob 
eine  Prostata  existierte  und  Samenleiter  blieb  ebenso 
fraglich.  Das  Allgemeinaussehen  dieses  Mannes  war 
eher  weiblich  als  männlich. 

32)  Pfannenstiel  [siehe Emil  v.  Swi narski: „Beitrag 
zur  Kenntnis  der  Geschwulstbildungen  der  Genitalien  bei 
Pseudohermaphroditen."  D.  I.  Breslau  1900].  —  Die 
55  jährige  unverehelichte  Chr.  Sc  hm.,  niemals  menstruiert 
und  aller  Geschlechtstriebe  bar,  hatte  schon  vor  drei 
Jahren  einen  Tumor  im  Leibe  bemerkt.  Da  der  Leib 
stetig  wuchs,  mußte  sie  ihre  Beschäftigung  aufgeben  und 
trat  in  das  Hospital  ein:  Gesichtsausdruck  mänulich, 
ebenso  die  Gesichtsbehaarung,  Patientin  mußte  sich  jede 
Woche  rasieren  wegen  starken  Bartwuchses.  Stimme 
männlich,  Brustbeingegend  und  Brüste  behaart  um  die 
Warzen  herum.  Brüste  schwach  entwickelt,  Bauch-  und 
Schamgegend  stark  männlich  behaart,  ebenso  die  Perianal- 
gegend  und  die  Extremitäten.  In  der  Bauchhöhle  ein 
harter,  wenig  beweglicher  Tumor,  bis  an  den  Rippenbogen 
reichend.  Clitoris  stark  hypertrophisch,  drei  Centimeter, 
sub  erectione  5  Centimeter  lang.     Langes  mobiles  Prae- 


welche  man  für 


—   331  — 


putium  clitoridis  an  der  großen  Glans.  Unterhalb  der 
Clitoris  liegt  eine  1  Centimeter  lange  Öffnung,  unterhalb 
sind  die  Schamlefzen  durch  eine  Raphe  miteinander  ver- 
einigt. Durch  jene  Öffnung  dringt  der  Finger  zwei 
Centimeter  weit  in  einen  Sinus  urogenitalis  ein  und  ent- 
deckt in  dessen  Tiefe  sowohl  die  Harnröhrenmündung 
als  auch  die  Öffnung  der  Scheide,  welche  einen  kleinen 
Finger  einläßt.  Im  Grunde  der  Scheide  tastet  der  Finger 
eine  bohnengroße  portio  vaginalis  uteri,  die  in  enger 
Verbindung  mit  dem  Tumor  zu  stehen  scheint.  Am  19. 
VI.  1897  diagnostizierte  Pf  an  nen  stiel  ein  Uterusmyom 
und  machte  den  Bauchschnitt  mit  uteroovarieller  Ampu- 
tation. Der  Tumor,  acht  und  ein  halbes  Kilo  wiegend, 
erwies  sich  als  ein  Kugelfibromyom  des  Uterus,  die  ver- 
längerten Eileiter  waren  14  und  17  Centimeter  lang: 
beide  Ovarien  vergrößert,  verlängert  mit  glatter  Ober- 
fläche, ohne  Spur  irgend  welcher  Einschnürungsfurchen, 
und  ohne  Spur  von  Ovarial-Parenchym  auf  dem  Durch- 
schnitte. Der  Bau  der  Ovarien  wies  nur  ein  binde- 
gewebiges Stroma  auf  mit  einigen  Blutgefäßen:  Keine 
Spur  von  Graafschen  Follikeln  oder  corpora  albicantia. 
Es  fehlte  bei  allgemeinem  weiblichen  Baue  der  inneren 
Genitalien  absolut  das  essentionelle  Charakteristicum 
der  Weiblichkeit  der  Geschlechtsdrüsen.  Diese  Person 
von  allgemeinem  männlichen  Aussehen,  mit  Persistenz 
des  Sinus  urogenitalis,  besaß  ein  Uterusfibromyom  und 
Ovarien  ohne  Spur  von  ovariellem  Parenchym.  Es  war 
in  dem  hypoplastischen  Uterus  ein  hyperplastisches  Ge- 
bilde, jene  Neubildung,  entstanden.  Das  Individuuni 
verriet  eine  hochgradige  psychische  Depression,  mied 
jede  menschliche  Gesellschaft  und  saß  stets  einsam 
schweigend  in  der  Klinik.  [Da  kein  typisches  Ovarial- 
gewebe  nachgewiesen  werden  konnte,  so  möchte  ich 
vorsichtigerweise  auch  hier  das  Geschlecht  für  zweifel- 
haft erklären.    Die,  wie  sich  herausstellt,  verhältnismäßig 


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—    332  — 


zahlreichen  Fälle,  wo  man  einen  hochgradig  entwickelten 
Uterus  beim  Manne  fand  zugleich  mit  Hoden  an  der 
Stelle  der  Ovarien  liegend  (Kryptorchismus  bei  fehlendem 
Deseensus  beider  Hoden)  geben  viel  zu  denken.  N.] 

33)  Pdan  [siehe  im  Vorhergehenden  Gruppe  II  No.2] 
fügte  in  seinem  Falle  von  vergeblichem  Suchen  nach 
den  Testikeln  mit  beiderseitigem  Leistenschnitt  den  Bauch- 
schnitt hinzu,  um  sich  von  dem  Zustande  der  inneren 
Genitalien  zu  überzeugen  und  vollzog  schließlich  noch 
die  Abtragung  der  beiderseitigen  Uterusadnexa  um  der 
späteren  Entstehung  einer  Haeraatometra  vorzubeugen. 

34)  Primrose  [,,A  case  of  Uterus  masculinus" 
British  Medical  Journal  1897.  Vol.  II  pg.  881].  Man 
diagnosticierte  bei  einem  25jährigen  mit  beiderseitigem 
Kryptorchismus  behafteten  Manne  einen  Tumor  eines 
Hodens  und  machte  den  Bauchschnitt  mit  Entfernung  eines 
Hodensarkomes.  Der  Mann  starb,  die  Sektion  wies  nach, 
daß  ein  Uterus  saramt  Tuben  und  Vagina  existierte;  die 
Vagina  öffnete  sich  in  parte  prostatica  urethraein  capite 
gallinaginis.  [Referat:  Frommeis  Jahresbericht  für 
1897  pg.  933 j. 

35)  Quisling  [Pseudohermaphroditismus  femininus 
externus*  —  Kristiania.  Sep.  Afdr.  af  Norsk  Magazin 
for  Laegevidenskab.  No.  5.  1902]:  Am  20.  VI.  1893 
kam  zu  Quisling  ein  18jähriges  Fräulein  wegen  Bleich- 
sucht und  bisherigem  Ausbleiben  der  Periode.  Das 
Mädchen  glaubte  bemerkt  zu  haben,  es  sei  körperlich 
anders  veranlagt,  als  andere  Frauen  und  verlangte  des- 
halb eine  Untersuchung.  Körperwuchs  niedrig,  schwäch- 
liche Konstitution,  männliche  Stimme.  Dolichocephalische 
Kopfform  mit  hoher  Stirn.  Gesichtsausdruck  männlich. 
Starke  männliche  Gesichtsbehaarung,  so  daß  das  Mädchen 
sich  diesen  Bartwuchs  durch  Scheere  oder  Ausreißen  der 
Haare  beseitigt.  Der  Haarwuchs  nimmt  trotzdem  ständig 
zu.    Schmaler  flacher  Brustkorb  ohne  Brustdrüsen.  Der 


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—   333  — 


gesamte  Unterleib  ist  stark  behaart,  ganz  besonders 
der  Möns  Veneris  und  die  Innenflächen  der  Oberschenkel, 
sowie  die  Perianalgegend ;  Schambehaarung  männlich. 
Betrachtet  man  das  Mädchen,  nachdem  es  die  Kleidung 
gauz  abgelegt,  so  fällt  die  Gegenwart  eines  Membrura 
virile  auf,  wenn  das  Mädchen  steht.  Das  Becken  er- 
scheint schmal,  ein  Scrotum  ist  bei  geschlossenen  Schenkeln 
nicht  zu  sehen.  Die  Vorhaut  bedeckt  nicht  die  Glans 
penis,  läßt  sich  aber  soweit  vorziehen  um  die  Glans  zu 
bedecken.  Harnröhrenöffnung  weiblich.  Die  Schamlefzen 
erscheinen  als  zwei  stark  behaarte  Hautdecken wülste , 
aber  sie  sind  wenig  entwickelt,  viel  mehr  dagegen  die 
kleinen  Schamlippen,  die  nach  oben  zu  in  die  Crura 
clitoridis  und  die  Vorhaut  des  Präputium  übergehen. 
Man  findet  eine  untere  Kommissur  der  Schamlefzen,  ein 
Frenulum  labiorum!  Die  Hymenalöffnung  ist  sehr  eng, 
unterhalb  der  Harnröhrenöffnung  belegen.  Per  rectum 
tastet  man  einen  viereckigen  in  der  Mittellinie  gelegenen 
Körper  und  linkerseits  daneben  ein  rundliches  Gebilde. 
Eine  Art  Strang  verbindet  diese  beiden  Gebilde,  welche 
wahrscheinlich  Uterus  und  Adnexa  sind.  Kechterseits 
tastete  Quisling  ein  härteres  Gebilde  dicht  an  der 
seitlichen  Beckenwand  liegend;  es  war  von  ovaler  Gestalt. 
Der  Vater  des  Mädchen  ist  vor  drei  Jahren  gestorben, 
die  Mutter,  drei  Schwestern  und  drei  Brüder  leben  und 
sind  normal  gebaut. 

Am  31.  Juli  klagte  das  Mädchen  über  Schmerzen 
in  der  Art  von  Molimina  menstrualia.  Zum  zweiten 
Male  sah  Quisling  dieses  Mädchen  am  18.  I.  1895  und 
konstatierte  damals  eine  leicht  verlaufende  Appendicitis. 
Am  29.  Juli  fand  ein  Nasenbluten  statt,  welches  sich  in 
letzter  Zeit  periodisch  wiederholt  laut  Angabe  des  Mädchens 
und  jedesmal  drei  bis  vier  Tage  dauern  soll  (Menstruatio 
vicaria?)  Das  Mädchen  ist  fest  überzeugt  von  seiner 
Weiblichkeit  und  empfindet  weiblichen  Geschlechtsdrang. 


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—   334  — 


Als  Quisling  dem  Mädchen  riet,  sich  fürderhin  männ- 
lich zu  kleiden  angesichts  des  Bartes,  so  rief  es  aus 
„Aber,  Herr  Doktor!"  —  Am  24.  XI.  1897  sah  Quis- 
ling das  Mädchen  zum  dritten  Male:  er  fand  abermals 
Symptome  der  Appendicitis  und  zugleich  Schmerzen  im 
linken  Hypogastrium  sowie  hartnäckige  Stuhlverstopfung ; 
während  der  Untersuchung  konstatierte  er  Erektionen  des 
Penis.  Der  Scheideneingang  ließ  kaum  die  Kuppe  des 
kleinen  Fingers  ein,  eine  Sonde  drang  aber  10  Centi- 
meter  tief  in  eine  Vagina  ein.  Per  rectum  tastete  man 
dasselbe  wie  vor  4  Jahren.  Am  8.  III.  1899  gestand  das 
Mädchen  Masturbation  zu,  seit  lange  prakticiert.  Zur 
Zeit  war  das  Mädchen  23  Jahre  alt 

Seit  dem  letzten  Besuche  starke  Abmagerung.  Die 
heute  von  Patientin  angegebenen  Schmerzen  hingen  aus- 
schließlich von  der  Appendicitis  ab,  waren  also  ganz 
unabhängig  von  der  genitalen  Mißstaltung.  Quisling 
erstaunte,  als  es  ihm  jetzt  gelang,  ohne  Schwierigkeiten 
seinen  ganzen  Finger  in  die  Vagina  einzuführen  —  das 
Mädchen  erzählte  zu  seiner  Rechtfertigung,  es  habe  sich 
wegen  seines  Bartwuchses  von  einem  Dermatologen  be- 
handeln lassen.  Letzterer  habe  um  die  Erlaubnis  einer 
vaginalen  Untersuchung  gebeten  und  dabei  sei  wahr- 
scheinlich die  Jungfrauenhaut  eingerissen.  An  der  Ge- 
sichtshaut sah  man  zahlreiche  von  dem  Gebrauche  des 
Thermokauters  herrührende  Narben,  aber  die  männliche 
üppige  Gesichtsbehaarüng  war  dieselbe  geblieben.  Der 
Uterus  erschien  jetzt  als  ein  Körperchen  von  drei  Centi- 
meter  Länge  und  zwei  Zentimeter  Breite,  Uterus  foetalis. 
Von  ihm  geht  jederseits  eine  Art  Strang  aus  zur  vorderen 
Beckenwand  hin  verlaufend.  Man  konnte  jetzt  bequem 
in  die  Vagina  ein  Milchglasspeculum  10  Centimeter  tief 
einführen  und  fand  in  speculo  eine  Vaginalportion  eines 
Uterus  einen  Centimeter  weit  in  das  Lumen  der  Vagina 
vorragend.    Linkerseits  vom  Uterus  tastete  man  ein  läng- 


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—    335  — 


liches  Gebilde,  wahrscheinlich  ein  Ovarium;  ein  ähnliches 
Gebilde  reehterseits  lag  nach  der  seitlichen  Beckenwand. 
Aus  dem  Muttermunde  trat  etwas  Schleim  hervor.  Die 
Sonde  drang  in  den  Uterus  drei  Centimeter  tief  ein.  Der 
Penis  resp.  die  hypertrophische  Clitoris  maß  jetzt  4  Centi- 
meter Länge,  2  Centimeter  Dicke.  Man  sah  deutlich  eine 
Raphe  perinaei.    Im  Oktober  1901  erfolgte  wieder  ein 
schmerzhafter    Anfall    von    Appendicitis    in  regione 
ileocoecali:  darnach  will  Patientin  etwas  Blutabgang  aus 
den  Genitalien  bemerkt  haben,  vielleicht  infolge  einer 
zufälligen  Verletzung  sub   masturbatione.    Die  Mutter 
dieses  Mädchens  erzählte  Quisling,  sie  habe  nach  der 
Geburt  dieses  Kindes  selbst  eine  Zeit  lang  Zweifel  ge- 
hegt, ob  denn  das  Kind  auch  ein  Mädchen  sei,  desto 
mehr  sei  sie  später  beunruhigt  worden  durch  den  Bart- 
wuchs bei   der  Tochter.    Als  Quisling  der  Mutter 
mitteilte,  ihre  Tochter  sei  wirklich  eine  solche  und  kein 
verkannter  Junge,  äußerte  die  Mutter  alle  Anzeichen 
großer  Befriedigung.  Augenblicklich  lebt  die  Mutter  nicht 
mehr,  sie  wurde  von  einem  Leberkrebs  dahingerafft.  Im 
gegebenen  Falle  hat  sich  Quisling  für  das  weibliche 
Scheinzwittertum  geäußert;  es  bleibt  abzuwarten,  ob  eine 
eventuelle  Nekropsie  seine  Vermutung  bestätigt  oder  nicht 
36)  E.  v.  Salin  (Stockholm)    [„Ein  Fall  von  Herm- 
aphroditismus verus  unilateralis  beim  Menschen."  —  Ver- 
handlungen der  deutschen   pathologischen  Gesellschaft, 
herausgegeben  von  Professor  Ponf  ick.    Zweiter  Jahr- 
gang.   Berlin  1900.    pg.  241  —  siehe  Referat:  Zentral- 
blatt für  Gynaekologie.   1900.  No.  32.  pg.  862.]:  Au- 
guste Persdotter,  43jährig,  unverehelicht,  menstruiert 
seit  ihrem  17.  Jahre.    Coitus  mit  einem  Manne  schmerz- 
haft, Coitus  mit  Mädchen  oder  Frauen  bisher  nicht  ver- 
sucht.   Allgemeinaussehen  weiblich,  Clitoris  5  Centimeter 
lang  mit  Glans  von  Haselnußgröße.    Schamlippen  normal 
gebildet,  sowohl  die  großen  als  auch  die  kleinen.  Unter- 


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halb  der  Harnröhrenöffhung  liegt  die  enge  Öffnung  der 
Vagina,  welche  kaum  eine  dünne  Sonde  einläßt.  Die 
Sonde  dringt  8  Centimeter  tief  ein.  v.  Saldn  entfernte 
mit  Bauchschnitt  ein  cystisches  Fibroid  von  der  Größe 
des  Kopfes  eines  erwachsenen  Mannes,  an  einem  Stiele 
sitzend,  sowie  die  Geschlechtsdrüsen,  welche  da  lagen, 
wo  bei  Frauen  die  Ovarien  liegen.  Tuben  und  Ligamente 
des  Uterus  normal.  Die  Patientin  verließ  am  8.  1.  1899 
geheilt  das  Hospital.  Die  mikroskopische  Untersuchung 
der  einen  Geschlechtsdrüse  sollte  einen  gemischten  testi- 
culoovariellen  Bau  aufweisen,  die  Drüse  sollte  eine  Art 
Ovotestis  sein;  eine  Hälfte  der  rechten  Geschlechtsdrüse 
soll  Hodenstruktur  aufgewiesen  haben,  die  Andere 
Ovarialstruktur.  In  dem  ovariellen  Stroma  wurden,  wie 
es  in  dem  Referate  heißt,  Graafsche  Folikel  entdeckt  und 
typische  Eier;  inmitten  reichen  Spindelzellengewebes  fand 
man  in  dem  Hodenstroma  nirgends  Spermatogonien  oder 
andere  Samenzellen.  Die  linke  Geschlechtsdrüse  erwies 
sich  als  Ovarium.  Die  wörtliche  Beschreibung  lautet  so: 
„Die  Untersuchung  der  Geschlechtsdrüsen  ergab  linker- 
seits ein  ziemlich  kleines  höckriges  Ovarium  mit 
Graafschen  Follikeln  und  Eiern,  rechterseits  eine  Zwitter- 
drüse, deren  eine  Hälfte  Eierstoekgewebe,  deren  andere 
Hodengewebe  zeigte.  Der  Ovarialteil  ist  grobhöckrig, 
von  gelber  Farbe  und  derber  Konsistenz  und  zeigt  bei 
der  mikroskopischen  Untersuchung  Graafsche  Follikel 
und  ganz  typische  Eizellen  in  einem  spindelzellenreichen 
Stroma  eingebettet.  Der  Hodenteil  ist  oben  von  ziem- 
lich weicher  Konsistenz,  mit  weißglänzender  Tunica 
albuginea.  Das  Parenchym  ist  locker,  von  braungrauer 
Farbe  und  von  weißen  Bindegewebssepta  durchzogen; 
mikroskopisch  zeigt  es  tubuli  seminiferi,  die  in  einem 
lockeren,  von  größeren  und  kleinereu  Anhäufungen  fett- 
und  pigmentreicher  Zwischenzellen  durchsetzten  Binde- 
gewebsstroma  liegen.    Die  Tubuli  sind  stark  geschlängelt 


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—   337  — 


von  beinahe  gleicher  Weite.  Ihre  Membranae  propriae 
sind  größtenteils  verdickt,  sehr  reich  an  concentrisch  an- 
geordneten Fasern.  Das  Epithel  besteht  aus  Follikel- 
zellen  und  Sertolini'schen  Zellen.  Nirgends  Spernia- 
togonien  oder  andere  Samenzellen.  Die  Struktur  zeigt 
im  Ganzen  eine  auffallende  Ähnlichkeit  mit  derjenigen 
des  ektopischen  Hodens  nach  der  Pubertät"  — 

[Ich  weiß  nicht,  ob  die  mikroskopischen  Präparate 
auch  von  anderen  Forschern  die  gleiche  Deutung  er- 
fahren haben.  Blacker  und  Lawrence  waren  die 
Ersten,  die  in  ihrem  Falle  eine  solche  Zwitterdrüse  ent- 
deckt zu  haben  glaubten.  Ihre  Deutung  des  mikro- 
skopischen Präparates  hat  jedoch  einer  Kontrollunter- 
suchung und  Kritik  des  Herrn  Professor  Nagel  nicht 
Stand  gehalten.]  Neuerdings  hat  Prof.  Landau  diese 
mikroskopischen  Präparate  in  Berlin  demonstriert. 

37)  Snegirjow  [siehe  im  Vorhergehenden:  Gruppe I, 
Fall  30]  fügte  in  seinem  Falle  von  Herniotomia  bilateralis 
bei  einem  irrtümlich  als  Mädchen  erzogenen  männlichen 
Scheinzwitter  die  Koeliotomie  hinzu,  um  sich  von  dem 
Zustande  der  inneren  Genitalien  zu  überzeugen,  also  eine 
diagnostische  Koeliotomie. 

38 j  E.  Sorel  und  Che*rot  |„Un  cas  de  pseudo- 
hermaphrodisme"  —  Archives  Provinciales  de  Chirurgie. 
T.  VII.  1.  Juni  1808.  pg.  367.]:  Die  36jährige  Aline 
C,  als  Mädchen  erzogen  und  niemals  menstruiert,  hatte 
ein  allgemeines  männliches  Aussehen.  Der  männliche 
Bartwuchs  zwang  das  Mädchen  vom  21.  Jahre  an  sich 
täglich  zu  rasieren.  Andromastie.  Brust  nicht  behaart, 
aber  die  unteren  Extremitäten  bedeutend  behaart. 
Stimme  männlich.  Statt  der  Clitoris  sah  man  zwischen 
den  Schamlefzen  einen  Penis  hypospadiaeus  von  fünf 
und  einem  halben  Centimeter  Länge,  in  der  Höhe 
der  Corona  glandis  von  6  Centimeter  Umfang.  Die 
volle   Erection   dieses   Gebildes   wurde   sehr  erschwert 

Jahrbuch  V.  22 


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-    3:58  - 


durch  die  „bride",  welche  das  Glied  nach  unten  zu 
hakenförmig  gekrümmt  erhält.  Labia  majora  reich  be- 
haart, aber  gut  gestaltet.  Die  Harnröhre  erweist  sich 
gespalten  an  der  unteren  Wand;  keine  Spur  von  Hoden 
zu  entdecken,  keine  Spur  von  Vulva  oder  Vagina.  Der 
Charakter  von  Aline  erscheint  ernst,  ohne  eine  ausge- 
sprochene Leidenschaft;  sie  hat  Erektionen  ihres  Gliedes 
und  fühlt  einen  männlichen  Geschlechtsdrang,  auf  Frauen 
gerichtet,  und  hat  sogar  den  Beischlaf  mit  Frauen  ver- 
sucht, aber  „sans  pouvoir  y  aboutir".  —  Früher  war 
Aline  stets  gesund,  aber  seit  einiger  Zeit  empfindet  sie 
starke  Schmerzen  rechterseits  im  Unterbauche.  Augen- 
blicklich, am  15.  III.  1898,  fühlt  sie  sich  schon  seit  6 
Wochen  krank:  die  früheren  Schmerzen  haben  sich 
wieder  gemeldet  zugleich  mit  Erbrechen  und  Durchfall. 
Am  12.  III.  1898  trat  sie  wegen  eines  Bauchtumors  in 
das  Hospital  ein.  Fieber  und  Meteorismus.  Der  harte, 
schmerzhafte,  druckempfindliche  Tumor  nahm  die  ganze 
rechte  Hälfte  der  Bauchhöhle  ein,  reichte  bis  zur  Linea 
alba  und  bis  drei  Querfingerbreit  unterhalb  der  Leber. 
Perkussion  oberhalb  des  Tumors  ergab  tympanitischen 
Schall.  Am  15.  März  wurde  der  Bauchschnitt  vollzogen 
—  und  zwar  rechterseits  seitlich ;  es  ergoß  sich  etwa  ein 
halber  Liter  Eiter  aus  der  Wunde,  welcher  dunkel  ge- 
färbt war  und  faekaloid  aussah.  Der  Finger  tastete  in 
der  Wundhöhle  höckrige  Gebilde,  welche  den  Eindruck 
von  epitheliomatösen  Wucherungen  machten,  so  daß 
man  an  Carcinom  des  Blinddarmes  dachte!  Man  legte 
in  die  Wunde  einen  Gazedrain  ein  und  verschloß  den 
Rest  der  Wunde.  -|-  38,0 0  C.  Am  nächsten  Morgen 
war  der  Verband  von  Faeces  durchtränkt,  16.  III; 
am  17.  IU.  Tod. 

Bei  der  Nekropsie  fand  man  eine  allgemeine 
Peritonitis:  die  gesamte  rechte  Hälfte  des  Unterbauches 
war  von  einem  Tumor  eingenommen,  der  carcinomatös 


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—    339  — 


war,  mit  zahlreichen  cystischen  Bildungen.  Auf  der 
Höhe  des  fünften  Lendenwirbels  fand  man  keine  Hoden, 
in  der  Beckenhöhle  fand  man  keine  Spur  von  inneren 
weiblichen  Genitalien.  Harnblase  normal.  Zwischen 
Harnblase  und  Mastdarm  fand  man  einen  Sack,  gefüllt 
von  Flüssigkeit,  8  Centimeter  lang  und  ö  Centimeter 
breit.  Die  Wände  dieses  Sackes,  ebenso  dick  wie  die 
Blasenwände,  waren  innen  von  einer  Schleimhaut  ausge- 
kleidet, nach  unten  zu  kommunizierte  dieser  Sack  durch 
eine  feine  Öffnung  mit  der  Harnblase.  „A  la  partie 
infe*rieure  et  sur  la  face  peritoneale  de  cette  poche 
aboutit  de  chaque  cote*  un  can/il  gros  comme  une  plume 
a  parois  epaisses,  dans  lequel  on  peut  enfoncer  un  stylet 
fin;  chacun  de  ces  canaux  a  une  longueur  de  6 — 8  Mill.J 
—  Cette  ve*sicule  conti ent  un  liquide  jaune  dpais, 
visqueux  et  est  accole*  sur  les  cötes  de  la  poche."  —  Man 
fand  weder  in  den  Schamlefzen  noch  in  den  Leisten- 
kanälen noch  in  der  Bauchhöhle  Hoden.  Verlauf  der 
Harnröhre  wie  bei  Frauen.  Keine  Prostata  gefunden. 
Der  Sack  zwischen  Vesica  und  Rectum  entsprach  einem 
hypertrophischen  Utriculus  masculinus,  die  beiden  seit- 
lich gelegenen  Blasen  sollten  die  Samenblasen  sein. 
Mangel  der  Vulva,  Vagina,  der  Hoden ;  Gegenwart  eines 
Utriculus  masculinus  und  Spuren  von  Müll  cr'schen 
Gängen. 

Kommentare  lassen  sich  zu  diesem  Falle  nicht 
geben,  da  sie  allzu  willkürlich  ausfallen  würden.  Das 
Geschlecht  bleibt  hier  zweifelhaft  resp.  unentschieden 
für  immer. 

39)  L.  Stimson  [BA  case  of  rare  form  of  pseudo- 
hermaphrodism".  Med.  Record.  24.  IV.  1879.  —  Siehe 
Referat:  Zentralblatt  für  Gynaekologie  1897.  Xo.  43 
pg.  1306]:  Nach  dem  Autor  handelt  es  sich  um  interne 
Zwitterbildung  (Klebs),  bisexuelle  Entwickelung  des 
Herrn  an  n'schen  mittleren  Segmentes.    Ein  48jähriger 

22* 


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—   340  — 


Neger  von  männlichem  Aussehen  konsultierte  Stimson 
wegen  eines  Bauchhöhlentumors.  Penis  normal  gestaltet, 
von  mittlerer  Länge;  der  kleine  Ilodensack  enthält  nur 
den  rechten  Hoden.  Rechterseits  eine  leicht  reductible 
Leistenhernie.  Damm  normal.  Dieser  Mann  ist  zum 
zweiten  Male  verheiratet  und  hat  einen  25  jährigen  Sohn. 
Man  tastet  in  der  Bauchhöhle  linkerseits  oberhalb  der 
Schamfuge  einen  faustgroßen  Tumor,  der  auch  bei  der 
Untersuchung  per  rectum  tastbar  ist.  Man  vermutete 
ein  Neoplasma  des  einen  in  der  Bauchhöhle  retinierten 
Hodens.  Beim  Bauchschnitte  fand  man  einen  unregel- 
mäßig gestalteten  Tumor  von  einer  weißen  Hülle  um- 
geben, beweglich  und  durch  eine  Art  Strang  in  Verbin- 
dung stehend  mit  einem  Uterus  bicornis  mittlerer  Größe 
—  beide  Tuben  vorhanden.  Man  fand  keine  runden 
Mutterbänder.  Rechterseits  gelang  es,  den  Finger  durch 
den  Leistenkanal  von  der  Bauchhöhle  aus  in  den  Hoden- 
sack einzuführen.  Es  gelang  nicht,  das  untere  Ende  des 
Uterus  zu  tasten  und  sein  Verhältnis  zur  hinteren 
Blasenwand  sowie  zur  Harnröhre  festzustellen.  Der 
entfernte  Tumor  erwies  sich  als  ein  Sarcom  des  linken 
Hodens.  Stimson  vergleicht  seine  Beobachtung  mit  6 
ähnlichen  von  Hermann  zusammengestellten  Beob- 
achtungen. 

40)  H. Stroebe  [„Ein  Fall  von  Pseudohermaphroditis- 
raus  masculinus  internus,  zugleich  ein  Beitrag  zur  patho- 
logischen Eutwickelungsmechanik".  Beiträge  zur  patho- 
logischen Anatomie  und  zur  Allgemeinen  Pathologie. 
Her.  v.  Professor  Dr.  E.  Ziegler.  Bd.  XXII.  (Siehe 
Fig.  20  u.  21.)]  beschrieb  in  ganz  ausgezeichnet  genauer 
Weise  ein  Sektionspräparat,  abstammend  von  einem  im 
Alter  vou  63  Jahren  in  Hannover  infolge  von  Carcinoma 
oesophagi  verstorbenen  männlichen  Schein z witters  Ernst 
L.  Da  diese  Beobachtung  ungemein  interessant  ist,  sei 
sie  hier  wiedergegeben.    Ernst  L.  verstarb  bereits  am 


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—    341  — 


13.  Tage  nach  seiner  Aufnahme  in  das  Hospital. 
Allgemeinaussehen  männlich,  Gesichtsbehaarung  spärlich. 
Äußere  Genitalien  männlich.  Penis  10,5  Centimeter  lang. 
Harnröhrenöffnung  an  normaler  Stelle.  Scrotum  ein 
leerer  Sack.  Schambehaarung  männlich.  In  der  Bauch- 
höhle fand  sich  ein  hochgradig  entwickelter  Uterus 
mit  Ligamenta  lata  und  Tuben.  Die  Tuben  waren 
dünner  und  länger  als  normal.  Der  Uteruskörper,  in 
fundo  6  Centimeter  breit,  verschmälerte  sich  bedeutend 
nach  unten  zu.  Schon  5  Centimeter  unterhalb  des 
Fundus  stellt  der  Uterus  nur  einen  cylindrischen  Strang 
vor  von  der  Dicke  des  Mittelfingers,  von  vorn  nach 
hinten  zu  etwas  abgeplattet.  Der  Uterus  reicht  nach 
unten  zu  bis  in  das  Cavum  Douglasii.  Die  größte  Länge 
des  Uterus,  an  der  Hinterfläche  gemessen,  beträgt  20 
Centimeter,  auf  der  Vorderfläche  hingegen  nur  10  Centi- 
meter, hier  geht  das  Bauchfell,  ohne  irgend  ein  Falte 
zu  bilden  auf  die  hintere  Blasen  wand  über.  Anus  nor- 
mal. Die  rechte  Tube  reicht  bis  auf  die  rechte  Fossa 
iliaca.  Das  Ligamentum  latum  dextrum  teilt  sich  am 
peripheren  Ende  in  zwei  Blätter,  deren  vorderes  auf  das 
Coecum  und  den  Wurmfortsatz  übergeht.  In  der  Ecke 
zwischen  Wurmfortsatz  und  Tube  lag  ein  ovales,  plattes, 
bohnengroßes  Gebilde,  eine  Geschlechtsdrüse,  darunter 
ein  kleineres,  nicht  ganz  vom  Bauchfell  überzogenes 
Gebilde.  Das  rechte  Ligamentum  latum  ist  26  Centi- 
meter lang.  Das  rechte  Ligamentum  rotundum  verliert 
sich  in  der  rechten  Scrotalhälfte  im  Bindegewebe.  Der 
rechte  Leistenkanal  ist  verschlossen.  Vom  Uterus  ver- 
läuft nach  der  erwähnten  rechtsseitigen  Geschlechts- 
drüse zu  eine  Art  Ligamentum  ovarii.  Die  linke  Tube, 
nur  14  Centimeter  lang,  ist  bleistiftdick,  an  ihrem 
peripheren  Ende  liegt  die  linke  Geschlechtsdrüse,  daneben 
ein  kleineres  Gebilde  wie  rechts.  Der  Uterus  macht  den 
Eindruck  eines  Uterus  bicornis  mit  stärkerer  Entwicke- 


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Fi*.  -V.  lti'ol>;irlituiisf  von  Strorln-  i -><  kt lonsprflparaO. 
< — <  Ii i i  <  1 1 1-< •riii» ti •■  de«  '>.;j;ihr.  mftnolichen  Schein/wittet-  E.  L.  von  von«  «jcsohi'n  (,'.,  der 
natürlichen  UrR*w)  L'  Fundu*  uteri  j  KU  link«—  l'teruaborn,  U  —  l'teras,  T.  Tuben  an 
«lor  K-.<  ■■  <h  r  Li xg.  lata  il»as  rechts  Lig.  latum  i-t  kün-tlich  etwa»  torquiert,  so  da»*  nahe 
Ikmiii  L'teniK  M'ine  vordere  Flüche,  n«"K«-n  dio  »oitlichu  Beckenwand  «lago^en  »«•in«  llinter- 
fWch*  /in  Anaicbl  kommt,  dadurch  tritt  die  rechte  Geacblochtadrüsa  hervor.)  II  Motion. 
K  =  Neheohoden,  My  :  Elydatlden  de«  rlodeni  und  Sebenbndcn*  rocht»),  U  lAng.  rotund.i. 
ondigond  in  «ler  recht-  tc<'»chlo<«»«-ucn,  links  mit  «.vorn  atif<.'«»ehnittene r)  Pcritomu-alau»- 
»t  ülpuni:  verseh«-nen  Semtalhidfle.  S  1,  <;. v n-1  (let*  Li  i-tenrinxc*.  Sp  Struiiir  mit  Vaaa 
s|«ermatica  interna  (links),  N,  N  .  N  .      Vorl>mduin:>t)rlick«n  zum  unteren  Kami«'  dos  grosaeit 

Netze-  rom  Unken  Nebenhoden  iJfjl  und  dem  linken  rtifrdfocmia;  ausgesogenen  Ligamentum 

latum  (N.  N;i,  N  groaaea  Xol/.  C  Coeoinn,  1  Ilenin,  Pr,  PriM-o-sus  \>  iniifonni», 
lt  =  Harnhla-«-  vorn  uiifn«  M-hiiilt>  ri  durch  Nadt  in  auseinandergehalten,  l'r  rretoren,  der 
reefate  nach  Oben,  der  linke  nach  unten  ue/n^en,  Pr  _  Pro-lala  mit  vom  auf^e-t  hnittoner 
Mamr<>hro,  P  P«ni»,  «licht  hinter  der  (Slam  subcutan  aufgt**ehnilten  mit  unn-n  xdtlieh 
uuf^eschtiitli  nor  1 1 :« i  n »•  •  Ii r. ■  I  i.  M      scillieh  aufwM-lmiti.  m  i  Ma-ttlarm.  I»  Anus. 


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Fig.  21.  Beobachtung  von  Stroebe  (Sektionspräparat). 
Halbschematische  Zeichnung  des  Genitalapparates  (von  vorn  gesehen). 
U  =  Uterus  mascnlinus  mit  Uterushorn  links.  Aus  den  beiden  Ecken  des 
Uteruslumens  zweigen  die  Tubenlumina  ab;  nach  unten  tritt  eine  allmähliche 
Verengerung  des  Uteruslumens,  dann  wieder  eine  Erweiterung  ein  (Scheiden- 
teil); Mündung  des  schließlich  wieder  sehr  eng  werdenden  Kanales  auf  dem 
Colliculus  seminalis  (C)  in  die  Pars  porstatica  der  Harnröhre  mit  längsovalem 
Schlitz.  An  beide  Seiten  des  Uterus  schließt  sich  je  ein  Ligamentum  latum 
an.  B  =  Harnblase,  deren  oberer  Teil  abgeschnitten  ist  mit  Ureteren;  Pr— 
Prostata.  P  =  Penis,  hinter  der  Glans  durchschnitten.  Harnblase  und  Pars 
prostatica  der  Harnröhre  sind  vorn  in  der  Mittellinie  aufgeschnitten  und 
auseinandergeklappt,  ferner  sind  in  der  Zeichnung  diese  beiden  Teile  durch- 
sichtig gemacht,  so  daß  man  die  hinter  ihnen  verlaufenden  Geschlechts- 
stränge bis  zu  ihrer  Mündung  auf  dem  Colliculus  seminalis  C  hindurch 
sehen  kann.  H  =  Hoden,  E  =  Nebenhoden,  Hy  =  Hydatiden,  V  =  Vasa 
deferentia  geschlängelt),  A  =  Ampullen  derselben,  D  —  Ductus  ejaculatorii 
auf  dem  Colliculus  seminalis  C  =  mündend,  T  =  Tuben,  G  =  Ligamenta 
testis,  R  äs  Ligamenta  rotunda,  rechts  in  der  geschlossenen,  links  in  der 
mit  einer  (vorn  aufgeschnittenen)  Peritonaealausstülpung  versehenen  Scrotal- 
bälfte  (8)  endigend,  L  =  Gegend  der  Leistenkanäle,  8p  Strang,  enthaltend 
die  Vasa  spermatica  interna  (links),  N1  N2  N*  =  Verbindunjjsbriicken  vom 
linken  Nebenhoden  (E)  und  dem  stielartig  ausgezogenen  linken  Lig.  latum 
zum  unteren  Kand  des  großen  Netzes.  Die  punktierten  Linien  markieren  den 
Verlauf  der  Arterien:  an  beiden  Seiten  des  Uterus  je  einer  Arteria  uterina,  von 
welcher  ein  mit  dem  Lig.  testis  zum  Hoden  verlautender  Ast  abgeht;  bei 
Sp  die  linken  Vasa  spermatica  interna  im  unteren  Strang  der  freien  recht- 
eckigen Platte  des  Lig.  latum,  sie  auastomosieren  durch  eine  schräge  ge- 
schlängelte Getäßverbindung  mit  dem  im  linken  Lig.  testis  verlautenden 
Gefäße.  Von  letzterem  geht  ein  Ast  in  das  linke  Lig.  rotundum  Uber. 
Sp      Arteria  spermatica  interna  dextra. 

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—    344  — 


■ 

lung  des  linken  Hornes.  Von  ihm  zieht  ein  Strang  in 
den  linken  Leistenkanal,  der  offen  ist  und  einen  Finger 
in  die  leere  Scrotalhälfte  einläßt^  deren  Höhlung  von 
dem  Bauchfell  ausgekleidet  ist.  Man  fand  in  diesem 
Strange  das  linke  Ligamentum  rotundum  sowie  parallel 
der  Tube  belegen  ein  Ligamentum  ovarü.  Auf  einem 
Durchschnitte  des  Uterus,  10  Centimeter  unterhalb  des 
Fundus,  sieht  man  drei  Lumina:  das  Lumen  der  Uterus- 
höhle und  die  Lumina  der  beiden  Wo  lff 'sehen  Gänge, 
welche  in  der  Uteruswand  nach  unten  zu  verlaufen.  Das 
Lumen  der  Uterushöhle  ist  mit  einer  gelblichen,  teigigen 
Masse  erfüllt.  Man  kann  die  Kuppe  einer  von  obenher 
in  die  Uterushöhle  eingeführten  Sonde  am  Blasengrunde 
tasten.  Penis  klein,  die  Prostata  hat  sehr  kleine  Lappen. 
Am  Caput  gallinaginis  sieht  man  ausgezeichnet  den 
Sinus  prostaticus  in  Gestalt  einer  Rinne  von  5  Milli- 
meter Länge  und  2  Millimeter  Breite.  Trigonum 
Lieutaudii  und  Urethralmündungen  normal,  Nieren 
normal.  Der  Uteruskanal  mündet  in  capite  gallinaginis. 
Das  Mikroskop  ergab,  daß  die  rechtsseitig  und  linksseitig 
peripher  gelagerten  Gebilde  die  Hoden  und  Nebenhoden 
waren.  Es  handelt  sich  also  um  hochgradige  Entwickelung 
der  Mülller'schen  Gänge  bei  einem  Manne,  der  mit 
Kryptorehismus  behaftet  war.  Der  Kryptorchismus  ist 
für  mich  auch  ein  für  die  Hypothese  von  Siegenbeck 
van  Heukelom  bestätigendes  Moment.  Die  Wo  lff 'sehen 
Gänge  sind  vollständig  normal  entwickelt,  sie  treten  in 
die  Uteruswand  ein  unterhalb  des  Angulus  tubouterinus, 
nachdem  sie  bisher  in  ligamentis  latis  verlaufen  waren. 
Die  Tuben  besaßen  keine  Fimbrien  und  keine  Ampullen, 
die  rechte  dünne  Tube  endete  dicht  beim  Nebenhoden, 
die  linke  schwand  in  Fettgewebe  in  der  Nähe  des  linken 
Hodens.  Was  die  Geschlechtsfunktionen  des  Ernst  L. 
intra  vitam  anbetrifft,  erfuhr  Stroebe  nichts  weiter,  als 
daß  Ernst  L.  kinderlos  verheiratet  gewesen  war,  ob  er  aber 


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Erektionen  hatte,  den  Beischlaf  ausführen  konnte  etc.  ist 
nicht  bekannt,  ebensowenig,  ob  Pollutionen  oder  menstru- 
elle Entleerungen  vorgelegen  haben  mögen.  Stroebe 
vermutet,  die  gelbe,  teigige  Masse  im  Uteruslumen  könnte 
von  Blut  abstammen,  da  sie  durch  Salzsäure  und 
Ferrocyankalium  blaugefärbt  wurde.  Stroebe  liefert  eine 
ganz  ausgezeichnete  detaillierte  mikroskopische  Beschrei- 
bung seiner  Präparate.  Im  Interesse  des  Lesers  will  ich 
hier  2  mikroskopische  Abbildungen  des  Präparates 
wiedergeben,  welche  sehr  instruktiv  sind.  (S.  Fig.  20  u.  21). 

41)  Unterberger  [„Ein  Fall  von  Pseudoherni- 
aphroditimus  femininus  externus  mit  Coincidenz  eines 
( harialsarkoms.  Laparotomie*  — Monatsschrift  für  Geb. 
u.  Gyn.  April  1901  pg.  436J:  Am  17.  XII.  1900  stellte 
Unterberger  in  dem  Verein  für  wissenschaftliche 
Medicin  in  Königsberg  ein  Mädchen  von  vierzehn  und 
einem  halben  Jahre  vor,  welches  man  an. ihn  gewiesen 
hatte  behufs  Exstirpation  eines  Unterleibstumors.  Das 
Geschlecht  des  Kindes  erschien  zweifelhaft;  sein  Allgemein- 
aussehen 6o\vie  sein  Glied,  aussehend  wie  ein  hypospadischer 
Peuis,  sprachen  für  männliches  Geschlecht,  ebenso  die 
Hypospadie  des  Scrotura;  auf  Grund  der  Untersuchung 
der  inneren  Geschlechtsorgane  jedoch  glaubte  Unter- 
berger, das  Kind  sei  ein  Mädchen.  Drei  Brüder  und 
vier  Schwestern  sind  normal  gebaut,  desgleichen  die 
Eltern.  Das  Kind  war  als  Mädchen  erzogen  worden, 
weil  die  Hebamme  sofort  nach  der  Geburt  es  für  ein 
solches  erklärt  hatte.  Das  Kind  spielte  lieber  mit  Mädchen 
als  mit  Knaben,  half  jedoch  angesichts  seines  kräftigen 
Körperbaues  am  liebsten  dem  Vater  bei  dessen  Arbeiten. 
Im  April  1900  trat  einmal  eine  8  Tage  andauernde 
Blutung  aus  der  Scham  auf,  von  der  Mutter  für  die  erste 
Periode  angesehen;  diese  Blutung  wiederholte  sich  jedoch 
in  der  Folge  nicht  mehr.  Seit  jener  Zeit  fing  das  Mädchen 
über  Unterleibsschmerzen  zu  klagen  an,  endlich  bemerkte 


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man  vor  einem  hallten  Jahre  den  Tumor  im  Leibe,  welcher 
rasch  wuchs.  In  den  letzten  Monaten  wurde  dieser  Tumor 
recht  druckschmerzhaft  bei  Berührungen.  Das  Mädchen 
ist  übermäßig  hoch  gewachsen  —  164  Centimeter  hoch, 
die  Extremitäten  sind  lang,  männlicher  Knochenbau 
sehr  kräftig,  männliche  Stimme,  männliche  Gesichts- 
behaarung fehlt  dagegen.  Becken  sehr  schmal  im  Ver- 
gleiche zu  der  Größe  des  Körpers.    Behaarung  von  Scham 


Fig.  2*J.  Vulva  eines  I  i  jähr,  als  Mädchen  erzogenen  Scheinzwitters. 
H«'obachtung  von  V  nterberger.    1  —  Urethralmiindimg. 

und  Damm  spärlich,  weiblich.  Der  Tumor  überragt  den 
Nabel.  Die  Scham  sieht  durchaus  männlich  aus.  Penis 
hvpospadiaeus  von  der  Größe  und  Dicke  des  großen 
Fingers.  Vorhaut  nach  hinten  retrahiert.  Zwischen  den 
getrennten  Scrotalhälften  sieht  man  eine  Art  Schamspalte, 
in  deren  Grunde  die  Öffnung  der  Harnröhre,  seitlich 
von  ihr  je  eine  kleine  Schamlippe.  Wenn  man  das  Kind 
drängen    heißt,   RO   stülpt    sieh   in  jeder  Leiste  eine  An- 


—   347  — 


Schwellung  vor  wie  eine  Hernie;  rechterseits  kann  man 
sich  leicht  vom  Danninhalt  dieser  Hernie  überzeugen, 
außer  Darm  liegt  aber  in  diesem  rechtsseitigen  Leisten- 
bruche noch  ein  kleines,  rundliches  Gebilde,  welches  weder 
ein  Hoden  noch  ein  Ovarium  zu  sein  scheint  Per  rectum 
tastet  man  in  der  Mittellinie  eiu  Gebilde,  welches  in 
Zusammenhang  mit  dem  Tumor  steht;   nach    unten  zu 


Fig.  23  Vulva  eines  14 jähr,  als  Mädchen  erzogenen  Scheinzwitters. 
Beobachtung  von  Unterb erger. 
1  s  Vaginalhernie  im  Scrotalsack.   2  =  Urcthralmündung. 
3  =  Dellenformige  Einziehung,  vielleicht  entsprechend  der  Vagina. 


verjüngt  sich  dieses  Gebilde  und  scheint  am  unteren 
Ende  eine  Art  Delle  zu  besitzen.  (?)  Die  äußere  Scham 
sprach  für  männliches  Geschlecht,  besonders,  wenn  man 
annehmen  wollte,  daß  das  Gebilde  in  der  rechtsseitig  n 
Hernie  eiu  Hoden  sei.  Unterberger  jedoch  glaubte, 
daß  der  per  rectum  getastete  Körper  ein  Uterus  sei.  der 
rasch  wachsende  Tumor  ein  Ovarialsarkom  und  daß  die 


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Vagina  sich  wahrscheinlich  in  die  Urethra  offene,  daß 
jene  Blutung  aus  dem  Genitale  eine  katameniale  gewesen 
sei  Am  19.  XII.  entfernte  er  durch  Bauchschnitt  den 
Tumor,  der  sich  als  mannskopfgroßes  Sarkom  des  linken 
Ovarium  erwies.  Man  fand  einen  kleinen  Uterus,  die 
linke  Tube  auf  dem  Tumor  liegend,  in  dessen  Substanz 
die  Ovarialsubstanz  gänzlich  aufgegangen  war.  Man 
fand  auch  die  rechte  Tube  und  den  rechten  sehr  kleinen 
Eierstock,  kaum  haselnußgroß.  Man  fand  ferner  die 
runden  Mutterbänder  und  glaubte  ein  unterhalb  des 
Uterus  getastetes  Gebilde  wie  einen  aus  zwei  Wänden 
bestehenden  Schlauch  für  eine  Vagina  ansehen  zu  dürfen, 
welche  sich  wahrscheinlich  in  die  Urethra  eröffnete  oder 
mit  ihr  zusammen  in  den  Sinus  urogenitalis  in  der  oben 
angegebenen  Öffnung  in  der  Schamspalte.  Nirgends 
Hoden  gefunden,  die  Offnungen  der  Leistenkanäle  waren 
von  Darmschlingen  bedeckt.  Das  Mikroskop  erwies  ein 
typisches  Endotheliom  oder  Sarkom  der  Geschlechtsdrüse. 
Uuterberger  gibt  jedoch  nichts  darüber  an,  ob  dieses 
Sarkom  wirklich  aus  einem  Ovarium  entstanden  war  und 
nicht  etwa  aus  einem  in  der  Bauchhöhle  retinierten  Hoden. 
Da  die  andere  Geschlechtsdrüse  nicht  herausgeschnitten 
wurde,  also  nicht  zur  mikroskopischen  Untersuchung 
gelangte,  so  dürfte  man  wohl  sagen,  die  Entscheidung 
von  Unterberger  beruhe  auf  seiner  Vermutung,  aber 
nicht  anatomischen  Beweisen.  Das  Kind  konnte  demnach 
ebensowohl  ein  männlicher  Scheinzwitter  sein,  wie  ein 
weiblicher;  freilich  wurde  die  Blutung  aus  dem  Genitale 
eher  zu  Gunsten  der  Annahme  Unt  er  berge  r's  sprechen. 
Jedenfalls  hatte  Unterberger  wohl  angesichts  der 
sarkomatösen  Entartung  der  linken  Geschlechtsdrüse  das 
Recht,  auch  die  rechtsseitige  Geschlechtsdrüse  mit  heraus- 
zuschneiden, deren  mikroskopische  Untersuchung  vielleicht 
das  fragliche  Geschlecht  entschieden  hätte  —  wenngleich 
ihr  Entwickelungszustand  auch  so  rudimentär  seiu  konnte, 


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—    349  — 


daß  auch  das  Mikroskop  nicht  im  Stande  wäre  auf  die 
uns  vorliegende  Frage  zu  antworten.  Meines  Erachtens 
erscheint  auch  in  diesem  Falle  das  Geschlecht  fraglich  trotz 
der  Exstirpation  einer  Geschlechtsdrüse  (s.  Fig.  22  u.  23). 

42)  West  er  mann  [„Over  een  geval  van  Herrn - 
aphroditism*  Nederl.  Tijdschr.  v.  Geneesk.  1901.  No.  11 
—  siehe  Referat:  Monatsschrift  für  Geb.  u.  Gyn.  Juni 
1902.  pg.  955]:  Ein  30  jähriges  Mädchen  starb  infolge 
von  ulceröser  Appendicitis.  Schon  die  Mutter  war  im 
Zweifel  über  das  Geschlecht  dieser  Tochter  gewesen  und 
zwar  wegen  deren  absoluter  Amenorrhoe.  Bei  der 
Sektion  konstatierte  man  Mangel  der  Brustdrüsen,  einen 
Penis  hypospadiaeu8  von  6  Centimeter  Länge  mit  nicht 
von  der  Vorhaut  bedeckter  Glans.  Auch  das  Scrotum 
war  gespalten.  Unterhalb  der  Urethralmündung  lag  die 
von  einem  Hymen  garnierte  Öffnung  der  Vagina 
Männliche  Schambehaarung;  die  auf  der  Innenseite  be- 
haarten Schamlefzen  enthielten  keine  Hoden.  Von  der 
Rückwand  der  Harnblase  geht  linkerseits  eine  7  Centi- 
meter lange  Tube  aus  mit  ausgesprochenen  Fimbriae, 
mcsosalpinx  und  Ligamentum  rotundum.  Wo  das  Ovarium 
6inistrum  liegen  sollte,  fand  man  fest  zusammengeballtes 
sklerotisches  Bindegewebe.  In  den  äußeren  Schichten 
dieses  Gebildes  fand  das  Mikroskop  ein  aus  zahlreichen 
Zellen  bestehendes,  von  einer  Schicht  weniger  zahlreicher 
Zellen  umgebenes  Gewebe,  in  der  inneren  Schicht  Binde- 
gewebe, Fett,  einige  blutgefüllte  Bläschen  und  einige 
Blutgefäße,  aber  keine  Spur  von  Graafschen  Follikeln, 
Pflüg er'schen  Schläuchen.  Erst  nach  Abpräparieren 
des  Bauchfelles  von  der  hinteren  Blasenwand  fand  man 
einen  Uterus  von  5  und  eine  Vagina  von  8  Centimeter 
Länge.  Der  gesamte  Uterovaginalkanal  war  für  eine 
Sonde  viabel.  Mit  Mühe  entdeckte  man  den  rechten 
Mülle  r'sehen  Gang,  22  Centimeter  lang,  mit  seiner 
Tube,   welche  jedoch   nur  im  peripheren  Auteile  eine 


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—    350  — 


kurze  Strecke  weit  viabel  war.  Rechtersetts  fand  ruan 
im  Leistenkanale  den  Processus  vaginalis  peritonaei  offen 
und  in  ihm  ein  Gebilde  von  Bohnengröße:  einen  Hoden 
mit  seiner  Tunica  albuginea  und  zahlreichen  Tubuli 
oontorti.  Man  fand  keine  Spermatozoiden.  In  Mesosal- 
pinge  lag  der  cystisch  entartete  Nebenhoden.  Erst  die 
Nekropsie  wies  in  diesem  äußerst  lehrreichen  Falle  die 
erreur  de  sexe  nach  und  den  hohen  Entwickelungs- 
grad  der  Mtiller'schen  Gänge. 

43)  Winckler  [siehe  im  Vorhergehenden:  Dritte 
Gruppe,  No.  12j.  14  Jahre  nach  einer  erfolgreichen 
Herniotomie  wurde  wegen  Occlusio  intestinorum  der 
Bauchschnitt  gemacht  und  zwar  mit  letalem  Ausgang 
bei  einem  männlichen  Scheinzwitter  von  56  Jahren,  der 
einen  hochgradig  entwickelten  Uterus  besaß. 

44)  Zahorski  [in  Wilnoj  (Gazeta  Lekarska  1900. 
No.  26.  —  Polnisch)  beschrieb  folgende  eigene  Be- 
obachtung von  Pseudohermaphroditismus  femininus 
externus.  Er  wurde  von  Dr.  Waszkiewicz  behufs 
Konsultation  zu  einem  25jährigen  Dienstmädchen  geholt 
wegen  eines  fluktuierenden  Bauchtumors  und  beginnender 
Peritonitis.  Allgemeinaussehen,  Stimme,  Brüste,  Be- 
haarung ganz  weiblich,  aber  Clitoris  drei  und  einen 
halben  Zentimeter  lang,  einem  hypospadischen  Penis  sehr 
ähnlich.  Wegen  großer  Schmerzhaftigkeit  konnte  eine 
genaue  Tastuntersuchung  weder  per  vaginam  noch  per 
rectum  durchgeführt  werden.  Im  Sa wicz -Hospital 
wurde  eine  Parancetese  durch  die  Bauchdecken  vorge- 
nommen und  ungefähr  ein  Liter  einer  sanguinolenten 
Flüssigkeit  entleert;  rechterseits  eine  große  Inguinolabial- 
hernie.  Momentan  folgte  auf  die  Paracentese  eine  subjective 
Erleichterung,  aber  der  Tumor  wuchs  in  der  Folge  so 
rasch,  daß  er  schon  nach  drei  Wochen  die  gesamte 
Bauchhöhle  auszufüllen  schien.  Angesichts  dessen,  daß 
offenbar  ein  maligner  Tumor  vorlag,  verzichtete  man  auf 


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—    351  — 


eine  Operation,  entgegen  dem  Verlangen  der  Patientin, 
die  in  der  vierten  Woche  nach  der  Aufnahme  starb.  Bei 
der  Nekropsie  fand  man  in  der  ßauchhöhle  viel 
sanguinolente  Flüssigkeit,  einen  *bis  an  die  Leber 
reichenden  Tumor,  mit  dem  großen  Netze,  mit  dem 
Bauchfell  und  den  Darmschlingen  verwachsen,  ein 
riesiges,  weiches  Sarkom,  ausgehend  aus  dem  rechten 
Ovarium.  Der  linke  Eierstock  klein,  flachgedrückt,  der 
rudimenätre  Uterus  kaum  2  Centimeter  lang.  Niemals 
Periode  oder  Molimina  menstrualia.  Da  der  Autor  mit 
keiner  Silbe  einer  mikroskopischen  Untersuchung  des 
linken,  für  ein  flachgedrücktes  Ovarium  von  ihm  an- 
gesehenen Geschlechtsdrüse  erwähnt,  so  hat  wahrschein- 
lich eine  solche  mikroskopische  Untersuchung  nicht  statt- 
gefunden. Es  ist  also  auch  in  diesem  Falle  ein  gerechter 
Zweifel  an  der  ovariellen  Natur  dieser  Geschlechtsdrüse 
gestattet,  die  ebensogut  ein  Hoden  sein  konnte.  Für  mich 
bleibt  also  auch  hier  das  Geschlecht  trotz  der  stattgehabten 
Nekropsie  zweifelhaft. 

45)  S.  Pozzi  vollzog  an  einen  von  ihmundMagnan 
in  Paris  behandelten  verheirateten  Manne  den  Bauchschnitt 
wegen  eines  Tumors,  der  sich  hinterher  als  Ovarialtumor 
erwies.  Der  Mann,  ein  weiblicher  Scheiuzwitter,  über- 
stand die  Operation  gut  und  ist  jetzt  Witwer.  [Laut 
mündlicher  Mitteilung  durch  Herrn  Pozzi  im  Februar  1903 1. 

Fünfte  Gruppe. 

23  Fälle  von  teils  ausgeführten,  teils  von  Ärzten  vor- 
geschlagenen oder  von  einem  Scheinzwitter  verlangten 
chirurgischen  Eingriffen  an  den  Genitalien  mit  An- 
schluss  einiger  Hypospadieoperationen  bei  männlichen 

Scheinzwittern. 

1)  Aetius  und  Paulus  Aegineta  erwähnen,  daß 
in  Ägyten  bei  den  Stämmen  der  Ibbos  und  Mandingos 


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—   352  — 


häufig  vor  der  Hochzeit  die  hypertrophische  Clitoris 
amputiert  wurde. 

2)  Arnaud  [„Dissertation  sur  les  Hermaphrodites* 
Paris  1766],  dessen  ^Sammelwerk  dreißig  Jahre  lag,  ehe 
es  im  Druck  erschien  und  eine  Fundgrube  für  die  ältere 
Kasuistik  des  Scheinzwittertumes  ist,  erzählt  folgende 
interessante  eigene  Beobachtung  [siehe  Fig.  24.] 

Im  Jahre  1725  untersuchte  er  eine  unverehelichte 
Näherin  aus  M£nilmontant  bei  Paris,  welche  all- 
monatlich schreckliche  Leiden  ausstand  infolge  von 
heftigen  Molimina  menstrualia:  Leibschmerzen,  Schwindel- 
anfälle, Erbrechen  etc.  plagten  jedesmal  die  Kranke. 
Allgemeinaussehen,  Gesichtsbehaarung,  Brüste,  Stimme 
männlich,  in  jeder  Schamlefze  tastete  man  Hoden,  Neben- 
hoden und  Samenstrang.  Hypospadiasis  totius  penis 
neben  Hypospadiasis  partialis  scroti.  Die  Schamlefzen 
erschienen  in  ihrem  untersten  Teile  mit  einander  ver- 
wachsen, indem  sie  eine  Art  Frenulum  labiorum  bildeten. 
Der  Damm  erschien  infolgedessen  ausnehmend  hoch. 
Keine  Spur  einer  Raphe  zu  sehen.  Man  konnte  die 
Hautdecken  zwischen  der  Analöffnung  und  der  Öffnung 
in  der  Schamspalte  mit  dem  Finger  ziemlich  tief  ein- 
stülpen in  eine  nach  außen  hin  durch  die  Hautdecken 
verschloßenen  Höhle,  wenigstens  ergab  der  tastende 
Finger  so  eine  Vorstellung  für  Arnaud.  Während 
jener  katamenialen  Beschwerden  stülpte  sich  diese  Partie 
der  Hautdecken  am  Damme  etwas  konvex  nach  außen 
vor,  aber  „ohne  gleichzeitige  auflallende  Verfärbung  der 
Hautdecken  an  dieser  Stelle,*  Die  Anschwellung  wurde 
stets  sehr  schmerzhaft  zu  jener  Zeit ;  nach  einigen  Tagen 
ließen  die  Schmerzen  nach  und  es  erfolgte  eine  mehr- 
tägige Blutung  ex  ano,  obgleich  keine  Haemorrhoiden 
vorhanden  waren.  Arnaud  hielt  diese  Näherin  für 
einen  regelmäßig  menstruierenden  Mann.  Die  Bluten- 
leerung  werde  aber  aufgehalten,  weil  die  Seheide  keine 


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—   358  — 

Ausführungsöffnung  nach  außen  zu  besaß  —  er  hielt 
jenen  geschlossenen,  oben  erwähnten  Hohlraum  für  eine 
nach  außen  zu  verschlossene  Scheide,  in  welche  man  von 
außen  her  die} Hautdecken  am  Damme  einstülpen  konnte. 
Dieses  retinierte^Menstrualblut  sollte  sich  alsdann  durch 
eine  Fistel  e  vagina  in  den  Mastdarm  ausscheiden  und 
dann  aus  diesem  abfließen.  Arnaud  hatte  sich  persönlich 


Fig.  24.  Vulva  eines  erwachsenen  als  Mädchen  erzogenen  Schein- 
zwitters von  fraglichem  Geschlecht;   Beobachtung  von  Arnaud. 

mehrmals  überzeugt  von  der  Wahrheit  aller  der  kata- 
menial auftretenden  Beschwerden  und  der  darauf  folgenden 
Blutung  ex  ano,  wie  er  sagt  Er  machte  unter  Assistenz 
zweier  Kollegen  einen  Einschnitt  in  die  Hautdecken  an 
der  schon  erwähnten  Stelle  am  Damme  und  drang  mit 
dem  Finger  in  eine  zwei  Zoll  tiefe  Höhle  ein,  in  deren 

Jahrbuch  V.  23 


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—    354  — 


Grunde  er  eine  Portio  vaginalis  uteri  zu  tasten  glaubte. 
Die  folgenden  Menstrualblutungen  entleerten  sich  be- 
schwerdefrei durch  die  von  Arnaud  geschaffene  Öffnung. 
Leider  aber  wurde  trotz  Drainage  die  künstlich  ge- 
schaffene Fistel  immer  enger,  schloß  sich  nach  ü  Monaten 
ganz  und  die  alten  Beschwerden  waren  wieder  da.  Die 
Patientin  ging  auf  die  Wiederholung  der  Operation  nicht 
ein,  verlangte  aber  statt  dessen  durchaus,  Arnaud  solle 
ihr  das  Geschlechtsglied  abschneiden,  den  hypospadischen 
Penis,  resp.  die  hypertrophische  Clitoris,  welches  Organ 
ihr  sub  erectione  sehr  lästig  falle.  Da  Arnaud  das 
Individuum  für  einen  Mann  hielt,  so  schlug  er  diese 
Operation  rundweg  ab.  Die  Patientin  wurde  auch  von 
Malaval,  Puzos,  Gue>in,  Morand,  Garengeot 
und  anderen  Ärzten  untersucht,  welche  sämtlich  Ar- 
naud's  Diagnose  billigten,  wie  er  schreibt.  Als  die  un- 
glückliche Näherin  im  Jahre  1740  starb,  15  Jahre  nach 
der  von  Arnaud  vollzogenen  Operation,  bestimmte  die 
Pariser  Akademie  zwei  Delegaten  für  die  Ausführung 
der  Nekropsie:  die  Herren  Verdi  er  und  Foubert. 
Verdier  vollzog  die  Sektion  des  Leichnams  und  nahm 
die  herausgeschnittenen  Geschlechtsorgane  mit  sich  nach 
Haus.  So  oft  auch  Arnaud  und  Foubert  auf  eine 
Aufforderung  Verdiers  hin  zu  ihm  gingen,  um  gemein- 
sam das  Präparat  zu  untersuchen,  so  wußte  es  Verdi  er 
so  einzurichten,  daß  sie  ihn  niemals  zu  Hause  antrafen, 
bis  schließlich  das  Präparat  so  verfault  war,  daß  es  nicht 
mehr  zu  untersuchen  war.  Arnaud  sah  in  diesem  Vor- 
gehen Verdi er^s  eine  Intrigue,  um  vorzubeugen,  daß 
ein  Bericht  an  die  Akademie  abgesandt  wurde.  Nach 
Arnaud  sollte  es  sich  hier  um  einen  menstruierenden 
männlichen  Scheinzwitter  mit  mangelnder  Vaginalöffnung 
handeln,  also  mit  Haematokolpometra  per  rectum  pro- 
fluens.  Wenn  man  auch  diesen  älteren  Mitteilungen  mit 
Recht  skeptisch  gegenübertritt,  so  ist  andererseits  ihnen 


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—   355  — 


doch  nicht  von  vornherein  jeder  Wert  abzusprechen. 
Wollen  wir  heute  diesen  Fall  beurteilen,  so  werden  wir 
eher  annehmen,  die  Näherin  war  vielleicht  ein  weiblicher 
Scheinzwitter  mit  Hypertrophie  und  Erektionen  der 
Clitoris  und  teilweiser  Verwachsung  der  Vulva  mit 
Atresie  der  Scheidenöilnung.  Arnaud  glaubte  wohl, 
daß  die  in  den  Lefzen  vorhandenen  Gebilde  Hoden, 
Nebenhoden  und  Samenstränge  waren,  das  schließt  jedoch 
keineswegs  aus,  daß  es  sich  um  ektopische  Ovarien  und 
Tuben  z.  B.  gehandelt  hat.  Die  Geschichte  mit  dem 
Verhalten  Verdier's  hat  sich  auch  wohl  später  schon 
in  Arztekreisen  wiederholt,  so  etwas  kommt  leider  vor, 
da  nicht  immer  das  gegenseitige  Handeln  der  Arzte  von 
wissenschaftlichem  Interesse  und  Kollegialität  geleitet 
wird. 

3)  Mc  Arthur  (Gynaecological  Society  of  Chicago. 
7.  I.  1902  —  Referat:  Monatsschrift  für  Geb.  u.  Gyn. 
1902.  pg.  993]:  „ Hermaphroditismus  und  Atresia  ani." 
Es  wurde  ein  neugeborenes  Kind  wegen  Atresia  ani  12 
Stunden  post  partum  operiert,  aber  es  starb  trotzdem. 
Bei  der  Sektion  konstatierte  man  weibliches  Schein- 
zwittertum  mit  Persistenz  der  Kloake. 

4)  Aveling  erwähnt  ein  Individuum  zweifelhaften 
Geschlechtes,  welches  im  Londoner  Saint  Georges  Ho- 
spital untersucht  wurde.  Es  war  eine  Frau  mit  ganz 
besonderer  Hypertrophie  der  Clitoris,  welche  Aveling 
amputierte,  weil  sie  infolge  der  Reibung  an  den  Kleidern 
der  Frau  lästig  fiel.  Aveling  hatte  bei  dieser  Person 
die  Menstruation  konstatiert. 

5)  Benoit  [Journal  de  la  Socidte*  de  M£decine  pra- 
tique  de  Montpellier.  Novembre  1840]  beschrieb  folgende 
interessante  Beobachtung:  „Consultation  sur  un  cas 
d'hermaphrodisme" :  Ein  27jähriges  verlobtes  Mädchen 
wandte  sich  behufs  Untersuchung  an  einen  Arzt,  welcher 
eine  Atresia  hymenis  konstatierte.  Er  machte  einen  Ein- 

23* 


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—   356  — 


schnitt,  um  die  Scheide  zu  eröffnen,  traf  jedoch  auf  kein 
Lumen  und  die  Operation  blieb  resultatlos.  Trotzdem 
blieb  das  Fräulein  in  dem  Glauben,  dem  weiblichen  Ge- 
schlechte anzugehören.  Es  schob  den  Termin  der  Hochzeit 
unter  stetig  neuem  Vorwande  immer  wieder  hinaus,  bis 
der  Bräutigam  endlich  die  Geduld  verlor  —  da  gestand 
es  ihm  die  Ursache  des  Zögerns  ein,  es  wisse,  daß  es 
mißgestaltet  sei  inbezug  auf  die  Geschlechtsorgane.  Der 
Bräutigam  bestand  dennoch  auf  der  ehelichen  Verbindung 
sobald  wie  möglich.  Marie  erbat  sich  noch  einige 
wenige  Tage  Bedenkzeit  und  ging  jetzt  zu  Benoit. 
Sie  hatte  jetzt  begonnen  an  ihrem  weiblichen  Geschlechte 
zu  zweifeln.  Sie  fragte  Dr.  Benoit  direkt,  zu  welchem 
Geschlechte  sie  gehöre,  ob  sie  einen  Mann  heiraten  könne 
und  ob  bezüglich  der  Eheschließung  eine  Operation  nötig  sei 
oder  nicht?  —  Nach  genauer  Untersuchung  konstatierte 
Benoit  männliches  Scheinzwittertum,  erklärte  dem  jungen 
Mädchen  direkt,  es  sei  ein  Mann,  keine  Operation  könne 
etwas  daran  ändern  und  die  Hochzeit  dürfte  demnach 
nicht  stattfinden. 

6)  Berendes  [siehe  Koesters:  „Ein  neuer  Fall 
von  Hermaphroditismus  spurius  masculinus"  I.  D.  Berlin 
1898,  siehe  auch  Jahrgang  für  1902  dieses  Jahrbuches 
in  meiner  Arbeit:  Gruppe  IV.  Fall  IV.  von  Landau] 
amputierte  einem  Mädchen  von  vier  Jahren  auf  Wunsch 
der  Eltern  die  hypertrophische  Clitoris.  Das  Mädchen 
erwies  sich  in  der  Folge  als  männlicher  Scheinzwitter 
[siehe  auch  die  farbige  Abbildung  in  meiner  vorerwähnten 
Arbeit]. 

7)  W.  Bittner  [ „ Hermaphroditismus  spurius  mas- 
culinus  completus",  Prager  Medizinische  Wochenschrift 
1895  N:  43  pg.  491  mit  zwei  Abbildungen]:  Interessante 
Beobachtung  von  erreur  de  sexe  aus  der  Klinik  von 
Bayer  in  Prag.  Emilie  P.,  13 jährig,  macht  den  Ein- 
druck eines  Weibes,  aber  ihr  Charakter  und  ihre  Gewohn- 


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—    357  — 


heiten  kontrastieren  damit  ganz  auffällig.  Die  Körper- 
kontouren  weisen  nirgends  die  weibliche  Rundung  auf, 
die  Schulterbreite  übertrifft  die  Beckenbreite,  das  Haupt- 
haar ist  in  zwei  lange  Zöpfe  zusammengeflochten.  Man 
«uchte  an  den  oberen  Extremitäten  vergeblich  den  Puls- 
schlag der  arteria  bracchialis,  cubitalis,  radialis,  ulnaris, 
was  auf  einen  abnormen  Verlauf  dieser  Gefäße  hinwies. 
Die  Genitalien  sahen  aus  wie  die  eines  Weibes  mit  be- 


Fig.  25.    Äußeres  Genitale  des  von  Bittner  beschriebenen 

Scheinzwitters. 

deutender  Clitorishvpertrophie:  die  Clitoris  ist  5  und 
einen  halben  Centimeter  lang,  hat  eine  deutlich  sichtbare 
Glans  mit  langer  Vorhaut.  An  der  Spitze  der  Glans 
sieht  man  die  Mündung  eines  Kanales,  welcher  eine 
dünne  Sonde  5  Centimeter  tief  einläßt  (!).  Aus  diesem 
Kanal  kann  man  etwas  Schleim  ausdrückeu,  der  ganz 
ähnlich  dem  Prostataschleim  aussieht.  Bei  Betastung 
entdeckte  man  in  dieser  Clitoris  einen  zentral  verlaufenden 


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Strang,  der  erst  unterhalb  der  Schamfuge  verschwand. 
Dieser  Penis  ist  an  seiner  unteren  Fläche  gespalten  und 
weist  hier  eine  3  bis  4  Millimeter  breite  Rinne  auf,  die 
nach  unten  zu  immer  schmäler  werdend,  im  Abstände 
von  drei  Centimetern  von  der  Spitze  des  Penis  endet. 
Harnröhrenöffnung  weiblich,  der  Katheter  weist  eine  be- 
deutende Dilatation  der  Harnblase  auf,  indem  er  beinahe 
bis    in  Nabelhöhe  eindringt.     Dr.  Busch   in  Teplitz 


Fig.  26. 

Fig.  'J6  u.  27 :  Genitale  eines  männlichen  Scheinzwitters  von  13 
Jahren,  irrtümlich  als  Mädchen  erzogen.  Beobachtung  von  Bittner. 

wegen  Dysurie  gerufen,  hatte  die  Harnröhre  mittels 
Bougies  erweitert.  Diese  Erweiterung  der  Blase  nach 
obc  :i  zu  würde  für  eine  Persistenz  des  Urachus  sprechen. 
Die  untere  Harnröhrenwand  stülpt  sich  etwas  nach  unten 
vor,  so  als  ob  eine  portio  vaginalis  uteri  existierte.  Unter- 
halb der  llarnröhrenötfnung  liegt  die  Mündung  der  Vagina. 
Beide  Öffnungen  liegen  in  dein  8  Millimeter  langen  Sinus" 


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359  — 


urogenitalis,  der  ganz  glattwandig  ist  und  ohne  Spur  von 
kleinen  Schamlippen.  Anus  normal,  Damm  breit.  In 
jeder  Schamlefze  tastete  man  ein  Gebilde,  von  dem  eine 
Art  Strang  bis  in  die  Bauchhöhle  verläuft.  Diese  Ge- 
bilde machen  den  Eindruck  rudimentärer  Hoden.  Per 
rectum  tastend,  gewahrt  man  ein  bohnengroßes  Gebilde  in 
der  Mittellinie  querliegend  und  leicht  verschieblich,  dicht 
hinter  der  Blase  liegend  und  bei  Anfüllung  der  Blase 
dem  Finger  entweichend  Tuben  oder  Ovarien  nicht  getastet. 

Man  betrachtete  die  in  den  Schamlefzen  liegenden 
Gebilde  als  Hoden.  (Siehe  Fig.  25,  26,  27).  Das  per 
rectum  getastete  Gebilde  war  anscheinlich  ein  rudimen- 
tärer Uterus.  Die  Mutter  verlangte  durchaus  die  Ampu- 
tation der  hypertrophischen  Clitoris,  man  willfahrte  diesem 
Verlangen  jedoch  nicht,  weil  man  das  Kind  für  einen 
männlichen  Scheinzwitter  hielt. 

8)  M.  R.  Blond el  [, Observation  de  Pseudoherma- 
phroditisme*  —  Soctete*  Obst^tricale  et  Gyn£cologique 
de  Paris,  Seance  du  12.  Janvier  1899  —  Bulletins  et 
Me*moires  de  la  Socidte"  Obste*tricale  et  Gyn^cologique 
de  Paris.  Paris  1899]  beschrieb  eine  äußerst  interessante 
Beobachtung  folgender  Art:  Frau  X.  aus  Angers,  45 
Jahre  alt,  seit  18  Monaten  verheiratet,  kam  am  14.  X. 
1998  in  seine  Klinik  mit  Klagen  über  Unterleibschmerzen 
Schwindelanfälle,  Mattigkeit  und  Abgeschlagenheit  und 
in  letzter  Zeit  häufiges  Nasenbluten;  außerdem  bemerkte 
sie  seit  zwei  Jahren  krampfhafte  Zuckungen  der  Augen- 
lieder, welche  von  Herrn  Landolt  behandelt  worden 
waren.  Frau  X.  glaubt^  alle  diese  Beschwerden  stehen 
mit  ihrem  Alter,  einer  beginnenden  Climax,  im  Zu- 
sammenhange. So  hatte  sich  auch  der  Okulist  ausge- 
drückt, so  äußerten  sich  auch  ihre  Bekannten.  Sie  hat 
aber  von  all'  diesen  Beschwerden  ihrem  Hausarzte  nichts 
gesagt,  sondern  zog  es  vor,  einen  Spezialisten  in  Paris 
zu  konsultieren,  da  in  ihrer  Organisation  etwas  Absonder- 


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liches  vorliege,  was  weder  sie  noch  ihr  Mann  sich  zu 
deuten  im  Stande  seien.  Sie  verlangte  jetzt  eine  genaue 
Untersuchung.  Sie  hatte  niemals  die  Periode  und  konnte 
mit  ihrem  Gatten  niemals  den  Beischlaf  normal  ausführen, 
weil  sie  dabei  jedesmal  vehemente  Schmerzen  empfinde; 
sie  glaubt  bemerkt  zu  haben,  es  müsse  ein  mechanisches 
Hindernis  für  die  Vollziehung  des  Beischlafes  vorliegen. 
Eltern  normal  gebaut  und  gesund,  drei  Schwestern  haben 
normal  die  Periode,  zwei  haben  Kinder.  Frau  X.  hatte 
im  Alter  von  12 — 13  Jahren  alle  die  Symptome  an  sich 
beobachtet,  welche  dem  Eintritt  der  Regel  vorauszugehen 
pflegen.  Schmerzen  in  der  Lendengegend,  Schweregefühl 
im  Unterleibe,  Schwindelanfälle.  Der  Hausarzt  verord- 
nete verschiedene  Emmenagoga:  Apiol,  Senf,  ließ  Blutegel 
setzen,  natürlich  ohne  jeden  Erfolg.  Ihre  Leiden  ver- 
loren sich  später  nach  etwa  zweijähriger  Dauer!  Als 
sie  19  Jahre  alt  war,  bewarb  sich  ein  junger  Mann  um 
ihre  Hand.  Obgleich  der  junge  Mann  ihr  wohlgefiel, 
so  zerschlug  sich  doch  das  Heiratsprojekt  nach  einem 
Jahre  infolgedessen,  daß  sowohl  die  Eltern  als  auch  das 
junge  Mädchen  voraussahen,  die  Ehe  werde  nicht  glück- 
lich ausfallen  angesichts  zu  erwartender  Kinderlosigkeit, 
denn  wie  sollte  sie  eine  Mutterschaft  erwarten  können, 
da  sie  noch  nie  die  Periode  gehabt  hatte?  Aus  dem 
gleichen  Grunde  wurden  auch  mehrere  andere  Freier 
abgewiesen.  Jetzt,  wo  Fräulein  X.  bereits  44  Jahre  alt 
war,  meldete  sich  abermals  ein  Freier,  ein  GOjähriger 
Wittwer,  welcher  von  vornherein  erklärte,  er  habe 
Kinder  aus  erster  Ehe  und  verzichte  auf  weiteren 
Kindersegen  freiwillig.  Die  Heirat  kam  zu  Stande,  aber 
der  Beischlaf  erwies  sich  als  ganz  unmöglich.  Vor  6 
Monaten  stürzte  Frau  X.  aus  einer  Höhe  von  vier 
Metern  herab  und  wurde  mit  einem  Armbruch  und  der 
Verstauchung  einer  Hand  aufgehoben:  sie  empfand 
gleichzeitig  starke  Schmerzen  im  Leibe,  in  den  Leisten- 


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gegenden  und  Schweregefühl  in  den  Schamlefzen.  Der 
Arzt  legte  auf  den  Arm  einen  Gipsverband,  bezüglich 
der  Leistenschmerzen  erkannte  er  einen  doppelseitigen 
Leistenbruch  als  Ursache  und  verordnete  ein  Bruchband. 
Frau  X.  erklärt  jetzt,  sie  könne  dieses  Bruchband  auch 
nicht  einen  Augenblick  missen,  da  sie  sonst  sofort  von 
heftigen  Schmerzen  befallen  werde  in  den  Leistenringen. 
Sie  hat  auch  bemerkt,  daß  seit  jenem  Falle  in  jeder 
Schamlefze  ein  Tumor  existiere,  den  sie  früher  niemals 
bemerkt  hatte.  Blondel  vollzog  nun  die  Untersuchung 
und  fand  zunächst  absolut  nicht«,  was  eine  erreur  de 
sexe  hätte  voraussetzen  lassen.  Körperhöhe  170  Centi- 
meter.  Das  Gesicht  ist  vielleicht  nicht  ausgesprochen 
weiblich  zu  nennen,  entbehrt  aber  jeder  Spur  männlicher 
Behaarung.    Haupthaar  lang,  fein,  wellig  geringelt. 

Stimme  etwas  scharf,  aber  nicht  gerade  unweiblich, 
eher  eine  Art  Mezzo-Sopran  als  Contraalt.  Hände  und 
Füße  groß,  Taille  breit,  Hüften  stark,  Muskelsystem 
üppig  entwickelt.  Bei  Betrachtung  der  Vulva  wird  man 
zunächst  frappiert  von  der  Größe  der  Clitoris  sowie  auch 
der  Schamlefzen.  Die  Hautdecke  der  Schamlefzen  sieht 
gerunzelt  aus  wie  das  Scrotum;  hier  und  da  auf  den 
Schamlefzen  Haare.  Clitoris  kleinfingerdick,  im  fiacciden 
Zustande  4,  sub  erectione  6  bis  7  Centimeter  lang. 
Das  Praeputium  reich,  umfaltet  die  Corona  glandis  und 
geht  nach  unten  zu  in  die  kleinen  Schamlippen  über. 
Zieht  man  die  kleinen  Schamlefzen  auseinander,  so  ge- 
wahrt man  eine  schmale,  enge,  infantile  Schamspalte. 
Es  fallen  hier  mehrere  Eigentümlichkeiten  auf,  welche 
Blondel  wörtlich  so  beschreibt: 

„A  la  partie  infdrieure  de  Porifice  vulvaire  existent 
une  fourchette  et  un  vestibule  indentiques  a  ce  qu'on 
trouve  ii  Pdtat  normal.  Au  milieu  on  trouve  un  orifice 
dtroit,  borde*  d'un  bourrelet  hange*,  tout-a-fait  serablable 
a  certains  hymens.    Au-dessus  de  celui-ci  se  montre  la 


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vofite  formte  par  la  face  infe>ieure  du  clitoris.  :  le  raphe" 
parti  du  sillon  median  de  celui-ci  et  qui  correspond  bien 
a  la  bride  decrite  dans  un  cas  semblable  par  Buisson 
la  divise  suivant  son  milieu  en  deux  parties  dgales  et 
vient  se  perdre  un  peu  au-dessus  de  la  partie  supeYicure 
de  Thymen;  ä  ce  niveau  existent  deux  orifices  ä  la  direc- 
tum longitudinale;  situe*  de  part  et  d'autre  du  raphe*  ils  sont 
rt'lativement  volumineux  et  admettent  chacun  sur  un 
trajet  d'  un  demi  a  un  centimetre  l'extrdmite*  d'un  fin 
stylet :  un  liquide  Alant,  tres  transparent,  tout  ä  fait  sem- 
blable a  la  sfore'tion  prostatique  de  l'homme,  s'e'cbappe 
devant  nous  de  ce  deux  orifices.*  Man  sah  zunächst 
nirgends  eine  Harnröhrenöfthung:  dieselbe  lag  scheinbar 
in  einer  pseudovaginalen  Höhle,  etwas  nach  hinten  und 
nach  innen  zu  von  der  Hymenalöffnung.  Einen  Katheter 
kann  man  längs  des  Fingers  in  die  Blase  einführen: 
Urethra  etwa  vier  Zentimeter  lang.  Die  Einführung  des 
Fingers  in  die  Hymenalöffnung  bereitet  der  Frau  viele 
Schmerzen,  die  Ränder  des  Hymen  sieht  man  auf  dem 
Fingergliede  gelagert.  Die  Hymenalränder  sind  dünn 
und  sehr  gespannt.  In  der  Tiefe  von  drei  Zentimetern 
erscheint  die  Vagina  blindsackartig  geschlossen.  Per 
rectum  tastet  man  sowie  auch  per  vaginam  an  der  Hinter- 
fläche  der  Harnblase  zwei  längliche  Gebilde  von  vagen 
Kontouren,  welche  vielleicht  einer  Prostata  oder  den 
Samenblasen  entsprechen.  Beim  Harnen  mag  ein  Teil 
des  Harnes  in  die  Vagina  fließen  infolge  der  versteckten 
Lage  der  Urethralöffnung.  In  jeder  der  auffallend  großen 
Schamlefzen  tastet  man  je  einen  Hoden:  der  linke  ist 
atrophisch,  weich,  abgeplattet,  mit  kleinem  Nebenhoden 
und  Samenstrange,  die  rechtsseitigen  Geschlechtsdrüsen- 
gebilde sind  normal.  Man  kann  Kopf  und  Schwanz  des 
Nebenhodens  und  den  Samenstrang  unterscheiden.  Die 
Hodeu  gleiten  unter  Fingerdruck  in  ihrer  Tunica  vaginalis 
hin  und  her,   die  eine  offenbar  mit  Lumen  versehene 


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Tasche  bildet.  Die  Hoden  lassen  sich  erheben  bis  zur 
Leistenkanalmündung;  der  Versuch  einen  Hoden  in  den 
Leistenkanal  einzuschieben  ist  zu  schmerzhaft,  obwohl 
die  Hoden,  wie  oben  gesagt  erst  vor  6  Monaten  infolge 
eines  Trauma  in  das  Scrotum  fissum  herabgestiegen  waren. 
Bei  dieser  Frau  wurde  also  eine  erreur  de  sexe  kon- 
statiert, Hypospadiasis  peniscrotalis  mit  Persistenz  eines 
Utriculus  masculinus  [resp.  Vagina],  welcher  von  Vesti- 
bulum  pseudovulvare  durch  eine  Art  Hymen  geschieden 
ist.  Der  Sinus  urogenitalis,  der  Pseudovaginalkanal,  das 
hinter  dem  Hymen  belegene  Stück  eingerechnet,  ist 
immerhin  5 — 0  Centimeter  lang,  läßt  den  Finger  ein,  aber 
nicht  das  Membrum  conjugis.  Der  Gatte  war  bisher 
nicht  im  Stande  den  Widerstand  jenes  Hymen  zu  brechen. 
Der  Mann  hat  gleichwohl  mehrmals  eine  Immissio  in  jene 
Vulvargrube  versucht  mit  Ejakulation  in  dieselbe  hinein, 
aber  jeder  Angriff  auf  den  Hymen  ist  von  einem 
Schmerzenschrei  der  Frau  gefolgt.  Die  Frau  sagt,  daß 
sie  gleichwohl  bei  diesen  Versuchen  ihres  Gatten  Wollust 
empfinde,  deren  Kulminationspunkt  der  Moment  sei,  wo 
bei  dem  Gatten  die  Ejakulation  erfolgte.  In  diesem 
Moment  empfindet  sie  eine  Art  krampfartiger  Erschütterung 
des  ganzen  Körpers  rhytmischer  Natur,  und  sie  fühlt,  daß 
bei  ihr  selbst  eine  Flüßigkeit  sich  in  die  Vulva  ergießt. 
Nach  diesen  Spasmen  erfolgt  eine  tiefe  Prostration  und 
hochgradige  nervöse  Depression.  Die  Frau  unterscheidet 
sehr  wohl  diese  Gefühle,  welche  sie  erst  seit  der  Hochzeit 
kennen  gelernt  hat,  von  anderen  mehr  oder  weniger  aus- 
gesprochenen aber  vagen  Wollustempfindungen  mit 
Erektion  der  Clitoris  und  von  Ejakulation  gefolgt  — 
aber  nicht  ruckweise  sondern  kontinuirlich  diese  Ejaku- 
lation — ,  welche  sie  schon  früher  vom  20.  Jahre  an  manch- 
mal empfunden,  wenn  sie  einen  Roman  las  oder  träumte. 

Ob  die  Hoden  während  jener  Spasmen  nach  oben 
wandern,  vermag  sie  nicht  anzugeben,  sie  sind  aber  äußerst 


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druckempfindlich  und,  wenn  zufällig  einmal  ein  Hoden 
einer  Quetschung  unterliegt,  so  empfindet  die  Frau  starken 
Schmerz,  den  sie  selbst  als  nauseös  bezeichnet. 

Blonde  1  war  Zeuge  einer  Erektion  und  Ejakulation 
einer  durchsichtigen,  fadenziehenden,  stark  riechenden 
FlUßigkeit,  welche  vollständig  dem  Prostatasecret  ent- 
sprach: er  sammelte  sogar  etwas  davon  auf  ein  Schälchen 
zur  Untersuchung.  Die  beiden  Öffnungen,  aus  welchen 
diese  FlUßigkeit  ausgeschieden  wurde,  lagen  unter- 
halb der  Clitoris  aber  oberhalb  der  Harnröhrenöffnung. 
Es  war  leicht,  diese  beiden  Offnungen  mit  bloßem  Auge 
zu  sehen ;  man  sah  die  FlUßigkeit  aus  ihnen  hervorquellen. 
Die  Flüßigkeit  enthielt  nur  einige  platte  Zellen,  aber 
keine  Spermatozoiden.  Keine  Brustdrüsen  vorhanden, 
nicht  einmal  merkliches  Fettgewebe.  Die  Sternalregion 
war  leicht  behaart.  Die  scheinbar  vaginale  Mündung 
der  Urethra  in  seinem  Falle  bezeichnet  Blondel  als 
einzig  dasteheud.  Blondel  wagt  nicht  zu  sagen,  ob 
jene  beiden  Offnungen  oberhalb  der  Urethra  den  Offnungen 
von  Cowper'schen  Drüsen  entsprachen  oder  Prostata- 
ausführungsgängen ;  jedenfalls  funktionierten  die  drüsigen 
Gebilde,  deren  Secret  sie  ausschieden,  energisch.  Ob  das 
per  rectum  getastete  Gebilde  eine  Prostata  war  oder 
Samenblasen  oder  ein  Uterus  bicornis,  kann  Blondel 
nicht  entscheiden.  Keine  männliche  Gesichtsbehaarung. 
Neigungen  und  Geschmack  dieser  Person  waren  ganz 
weiblich  und  hat  sie  niemals  männlichen,  auf  Frauen 
gerichteten  Geschlechtsdrang  empfunden.  Was  die  kon- 
gestiven Erscheinungen  der  Pubertätsperiode  anbetrifft 
sowie  raensuelle  Nasenblutungen  im  Alter  der  Menopause, 
so  hat  man  solche  Erscheinungen  auch  bei  anderen 
männlichen  Scheinzwittern  ausgesprochen  gefunden,  die 
noch  weit  mehr  männlich  veranlagt  waren  als  diese  Frau. 
Was  die  sociale  Stellung  dieser  Frau  anbetrifft,  so  ist 
es  klar,  daß  die  Ehe   eine  nichtige  sein  muß.  Durfte 


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man,  fragt  sich  Blondel,  in  diesem  Falle  sowie  die 
Frau  es  verlangte,  einen  operativen  Eingriff  unternehmen, 
um  den  Beischlaf  in  der  Rolle  einer  Frau  zu  erleichtern? 
—  Er  beriet  sich  mit  Maigrier  und  die  Herren  kamen 
dahin  überein,  daß  das  Verlangen  der  Frau  ein  berech- 
tigtes sei,  er  beschloß  also  den  Hymen  mit  dem  Messer 
zu  spalten  und  dann  die  Pseudovagina  zu  verlängern 
durch  einen  Schnitt  im  Scheidengewölbe  mit  dedoublement 
des  Septum  rectovaginale  und  eventueller  plastischer 
Bedeckung  der  geschaffenen  AVunde.  Die  Frau  gab  an, 
sie  werde  sich  am  20.  November  behufs  Ausführung  der 
Operation  melden,  kam  aber  nicht  wieder. 

Beiläufig  erwähne  ich,  daß  Herr  Kociatkiewicz 
in  dem  von  mir  früher  beschriebenen  Falle  nach  Exstir- 
pation  der  Hoden  eines  als  Mädchen  erzogenen  männ- 
lichen Schei  dz  witters,  behaftet  mit  Hypospadiasis  peni- 
scrotalis,  um  den  Beischlaf  in  der  Rolle  einer  Frau  zu 
ermöglichen,  eine  Erweiterung  des  Aditus  ad  vaginam 
versuchte  ohne  jedoch  eine  wesentliche  Veränderung  zu 
erzielen. 

Bezüglich  des  Blondel  'sehen  Falles  ist  hervorzuheben, 
daß  diese  Frau,  ein  verkannter  Mann,  absolut  weiblichen 
Geschlechtsdrang  empfand. 

8)  Realdo  Colombo  [siehe  Debierre]  „L'Ethio- 
pienne  de  Realdo  Colombo  de  Cremone*:  Clitoris  zu  groß, 
Scheidenöffnung  zu  klein;  Beischlaf  weder  mit  Männern 
noch  mit  Frauen  möglich.  B  Elle  ne  pouvait  agir  ni  patir 
commodement."  Diese  Person  verlangte  die  Amputation 
des  männlichen  Gliedes:  Colombo  schlug  aber  die  Aus- 
führung dieser  Operation  ab,  indem  er  die  Verantwortung 
für  diese  Operation  vor  den  Behörden  scheute. 

Steglehncr  ]1.  c.  pg.  89]  schreibt  bezüglich  dieses 
Falles:  „Realdus  Columbius  observavit  mulierem, 
eni  erat  genitale  raembrum  ambiguum  crassum  digiti 
minimi  longitudinem  aequans  sed  perforatum,  sub  eodem 


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ostium  canalis  sie  angustum  ut  non  nisi  digiti  minimi 
apicem  admitteret.  Yiros  haec  ita  coneupivit  ut  penis 
clitoridei  resectionem  et  ostii  vaginalis  dilatationem  a 
chirurgo  expeteret.  Qua  strueturae  vicissitudine  maoifesto 
patet,  clitoride  increscente  muliebris  genitalis  canaleiu 
eadem  proportione  contrahi  et  coaretari."  —  Nach  dieser 
Beschreibung  scheint  es  sich  hier  um  einen  männlichen 
Scheinzwitter  zu  handeln  mit  Hypospadie  des  Scrotum 
und  mehr  oder  weniger  hochgradiger  Entwickelung  der 
Müller'schen  Gänge  —  jedenfalls  scheint  eine  Scheide 
existiert  zu  haben.  Der  Fall  ähnelt  am  meisten  dem- 
jenigen von  Mau  de  aus  der  neueren  Kasuistik. 

9)  W.  A.  H.  Coop  |„A  curious  anomaly  of  the 
female  genitalia  with  striking  resemblance  to  sonie  of 
the  external  male  elements  changed  by  plastic  surgery 
into  a  woman  of  normal  appearance."  American  Gyn. 
and  Obstetric.  Journal-New  York.  May  1895.  pg.  594 1: 
24jährige  Frau,  verheiratet  bei  vollständig  männlichem 
Aussehen  der  äußeren  Genitalien  infolge  von  Verwachsung 
der  Schamlefzen  untereinander.  Plastische  Operation  mit 
gutem  Ausgange.  Coop  ermöglichte  durch  eine  Discision 
der  Verwachsung  die  Ausführung  des  Beischlafes  sowie 
auch  Hu  guier  in  einem  später  zu  erwähnenden  Falle 
—  so  wie  auch  eine  solche  einfache  Operation  den  Bei- 
schlaf in  der  Rolle  einer  Frau  Marie  Magdaleue 
Lefort  ermöglicht  hätte,  wenn  die  Person  sich  der  An- 
sicht von  Bdclard  angeschlossen  hätte,  der  ihr  Geschlecht 
als  weiblich  richtig  erkannt  hatte  entgegen  der  Meinung 
der  sämtlichen  anderen  Ärzte,  welche  sie  untersucht 
hatten. 

10)  Coste  [Marseille]  [Journal  des  connaissances 
mtfdico-chirurgicales  par  les  Docteurs  A.  Trousseau, 
J.  Lebaudy,  H.  Gouraud:  3-eme  annee,  1835,  pg.  276 
„Conformation  vicieuse  des  organes  g£uitaux  chez  une 
femme.  Operation."]  ermöglichte  den  Beischlaf  in  der 


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Rolle  einer  Frau  einer  Person  von  zweifelhaftem  Ge- 
schlechte. Im  September  1834  kam  zu  ihm  Frau  X.  mit 
ihrer  21jährigen  Tochter,  weche  eine  genitale  Mißstaltung 
hatte.  An  Stelle  der  zu  erwartenden  Clitoris  fand  Coste 
ein  männliches,  unten  gespaltenes  Glied,  so  groß  wie  bei 
einem  etwa  12jährigen  Knaben.  Die  Glans  dieses  Gliedes 
war  infolge  von  Retraction  des  Praeputium  vollständig 
entblößt.  Aus  der  weiblichen  Harnröhrenöffnung  entleert 
sich  nicht  nur  der  Harn,  sondern  vom  13.  Jahre  au  auch 
regelmäßig  alle  vier  Wochen  das  menstruelle  Blut; 
Unterhalb  der  Harnröhrenöffnung  keinerlei  Vertiefung 
zu  sehen,  man  sah  dort  zwischen  den  kleinen  Schamlippen 
nur  eine  behaarte  Haut  mit  Anzeichen  einer  Raphe.  Die 
großen  Schamlippen  waren  rudimentär  entwickelt,  reprä- 
sentierten einfach  zwei  Hautfalten.  Allgemeinaussehen 
dieses  Mädchens,  sowie  die  Brüste  und  allgemeine  Be- 
haarung ganz  weiblich,  ebenso  die  Schambehaarung,  aber 
das  Becken  und  die  Extremitäten  waren  männlich  ver- 
anlagt. Charakter  und  Neigungen  vollkommen  weiblich, 
das  Mädchen  liebte  zärtlich  seinen  Bräutigam,  kannte 
keine  Masturbation  und  hatte  niemals  eine  Erektion 
seines  Geschlechtsgliedes  bemerkt.  Die  Mutter  kam  zu 
Coste  mit  der  Frage,  ob  ihre  Tochter  heiraten  könne 
oder  nicht?  Coste  antwortete,  daß  ein  Beischlaf  nicht 
möglich  sein  werde,  es  sei  denn  nach  Ausführung  einer 
Operation.  Da  allmonatliche  Blutungen  vorlagen,  so  war 
Coste  überzeugt  von  der  Existenz  eines  Uterus:  die 
Ausscheidung  des  Blutes  durch  die  Harnröhre  wies 
darauf  hin,  daß  eine  Kommunikation  zwischen  Uterus 
und  Harnröhre  existiere.  Es  ging  nun  um  zwei  Sachen : 
erstens  um  Schaffung  einer  Vagina  zwischen  Urethra  und 
Rectum,  zweitens  um  Amputation  der  hypertrophischen 
Clitoris.  Das  Fräulein  ging  im  Prinzip  auf  die  Operation 
ein,  die  auch  von  Coste  am  20.  IX.  1834  vollzogen 
wurde.     Aus  Rücksicht  auf  die   Schamhaftigkeit  der 


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3G8 


Patientin,  sowie  darauf,  daß  es  darauf  ankam,  das  größte 
Geheimnis  zu  wahren,  begnügte  er  sich  mit  einem  einzigen 
Assistenten,  Dr.  Dune"s.  Er  begann  die  Operation  mit 
einem  Längsschnitte  in  der  Raphe  dartos  zwischen 
Urethral-  und  Analmündung,  wobei  die  Kranke  so  ge- 
lagert war  wie  bei  einem  Steinschnitt.  Da  Coste  selbst 
in  der  Tiefe  von  einem  Zoll  keine  Scheide  antraf  und  er 
befürchtete,  die  naheliegende  Urethra  oder  das  Rectum 
zu  verletzen,  so  führte  er  jetzt  einen  Katheter  in  die 
Blase  ein,  indem  er  aber  dem  Katheter  eine  Richtung 
gab  nicht  nach  der  Harnblase  sondern  nach  der  Gebär- 
mutter zu.  Die  Sonde  drang  spontan  in  einen  Kanal  ein, 
welcher  die  Vagina  zu  sein  schien.  Jetzt  entschloß  sich 
Coste  unter  dem  Risiko,  eine  Urethrovaginalfistel  zu 
schaffen,  dazu,  das  Septum  zwischen  dem  in  Urethra 
liegenden  Katheter  und  der  vermuteten  Vagina  von  der 
Urethralmündung  aus  mit  einem  Messerschnitte  zu  spalten 
bis  zu  dem  vermuteten  Scheideneingange.  Der  in  die 
Tiefe  der  Wunde  eingeführte  Finger  gelangte  in  eine 
Höhle,  die  mit  Schleimhaut  ausgekleidet  war;  er  tastete 
aber  auch  in  dieser  Höhle  eine  Portio  vaginalis  uteri. 
Coste  tamponierte  nun  diesen  ganzen  Kanal  mit  Charpie, 
die  er  mit  Wachs  durchtränkt  hatte.  Dann  zog  er  die 
Vorhaut  der  hypertrophischen  Clitoris  soweit  er  konnte 
nach  hinten  zurück  und  amputierte  die  Glans  clitoridis 
mit  einem  Messerzuge  so  nah  als  es  möglich  war  an  der 
Symphysis  ossium  pubis.  Er  legte  einen  Heftpflaster- 
verband an  und  brachte  die  Operierte  zu  Bett.  Das 
postoperative  Fieber  wurde  durch  strikte  Diät  bekämpft. 
Am  dritten  Tage  nach  der  Operation  erfolgte  eine  starke 
Blutung  aus  den  durchschnittenen  Corpora  cavernosa 
clitoridis,  welche  Coste  nicht  fürchtete,  weil  diese  Blutung 
eine  vorteilhafte  Depletion  setzte!!!!  Druckverband. 
Am  7.  Tage  nach  Amputation  der  Clitoris  war  deren 
Wunde  vernarbt.    Nach  zwei  Monaten  war  die  chirur- 


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gische  Pflege  der  neugeschaffenen  resp.  eröffneten  Vagina 
mittels  Tamponade  und  Lapisgebrauch  vollendet.  Die 
Ränder  der  Harnröhren  wunde  sollen  spontan  mit  einander 
verwachsen  sein,  sodaß  schließlich  der  Harnweg  ganz 
separiert  erschien  von  dem  Genitalwege  der  Vagina.  Die 
Periode  erschien  zur  erwarteten  Zeit  und  wurde  per 
vaginam  entleert.  8  Monate  nach  der  Hochzeit  hieß  es: 
Matrimonium  est  consummatum.  Die  junge  Frau  sagte 
ihrem  Operateur,  der  Beischlaf  finde  statt  ohne  Schwierig- 
keiten und  sie  sei  zufrieden  und  habe  auch  Annehmlich- 
keit dabei,  aber  schwanger  sei  sie  noch  nicht  seit  dem 
letzten  Besuche  des  Arztes.  Es  scheint,  daß  es  sich  in 
diesem  Falle  um  einen  weiblichen  Scheinzwitter  handelt 
mit  inguinolabialer  Ektopie  eines  Ovarium,  welches  Coste 
fälschlich  für  einen  Hoden  angesehen  hatte,  um  eine 
Verwachsung  der  Schamlefzen  unter  einander  und  Mün- 
dung der  Vagina  in  die  Urethra  oder  in  den  Sinus 
urogenitalis.  Interessant  ist  für  den  modernen  Chirurgen 
die  Art  und  Weise,  wie  damals  solche  Wunden  behandelt 
wurden,  wie  z.  B.  die  nach  Amputation  der  Clitoris  und 
ihrer  Schwellkörper  entstandenen. 

12)  Duval  [siehe:  Debierre  1.  c.  pg.  46):  De- 
moiselle  d'Anjou  —  „Nach  Angaben  von  Duval  ver- 
langte der  Gatte  die  Scheidung" :  „La  cause  du  di- 
vorce  pretendu  tftait  que  cette  demoiselle  avait  un  membre 
viril,  long  de  deux  travers  de  doigts  en  la  partie  sup<5- 
rieure  de  l'ovale  mulii-bre,  lieu  auquel  devoit  etre  le* 
clitoris,  qui  se  dressait  alors  que  son  mari  voulait  avoir 
sa  compagnie,  et  le  blessait,  de  sorte  qu'il  n'avait  encore 
eu  dtfccnte  habitation  et  copulation  avec  eile."  Das 
Gericht  entschied,  daß  die  Ehe  aufrecht  erhalten  werden 
wird,  insofern  die  Gattin  sich  einverstanden  erklärt  zur 
Abschneidung  „de  la  dicte  partie  superflue  et  inutile  a 
une  femme."  Da  jedoch  die  junge  Frau  auf  eine  Ope- 
ration nicht  eingehen  und  nicht  das  verlieren  wollte,  was 

Jahrbuch  v.  '  24 


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—   370  — 


die  Natur  selbst  ihr  verliehen,  „le  mariage  füt  de  con- 
sentement  des  deux  parties  declare*  solu  et  cassd*  — 
Diesen  Fall  habe  ich  früher  schon  erwähnt  in  meiner 
Kasuistik  der  Mißeheu  Bpar  erreur  de  sexe",  deren  ich 
bis  jetzt  63  gesammelt  habe. 

13)  Hartmann  [Bulletins  et  M^moires  de  la  Societe* 
de  Chirurgie  de  Paris.  Tome  XXVIII.  1902.  Nr.  31.  pg 
931  und  No.  34].  Im  Jahre  1892  schnitt  Hart  man  n  bei 
einem  7 jührigen  Mädchen,  welches  hartnäckig  masturbierte, 
auf  Wunsch  der  Mutter  hin  die  hypertrophische  Clitoris 
ab.  Nach  10  Jahren  sah  Hartmann  das  Mädchen 
wieder.  Angesichts  einer  Diskussion  über  das  von 
Walt  her  in  der  Pariser  Societe*  de  Chirurgie  vorgestellte 
Individuum  erinnerte  er  sich  an  dieses  Kind  und  be- 
richtete einige  Details:  das  7jährige  Kind  verriet  vor- 
zeitige geschlechtliche  Entwickelung:  der  fette  Möns 
Veneris  und  die  Schamlefzen  waren  schon  behaart. 
Während  normal  bei  einem  7  jährigen  Mädchen  die  Clitoris 
nicht  länger  am  Dorsum  ist  als  47  (?)  Millimeter  lang,  so 
hatte  in  seinem  Falle  die  Clitoris  die  Größe  des  kleinen 
Fingers,  sub  erectione  erschien  sie  noch  größer.  Das 
Organ  sah  aus  wie  ein  hypospadischer  Penis,  die  Crura 
clitoridis  gingen  über  in  die  kleinen  Schamlippen.  An 
der  unteren  Fläche  der  scheinbar  gespaltenen  männ- 
lichen Penisharnröhre  sah  man  eine  weißliche  glänzende 
Membran  und  darin  hintereinander  liegend  mehrere 
'Öffnungen:  Lacunae  Morgagnii.  Hymen  falciformis 
läßt  den  Finger  in  Vaginam  eindringen  bis  an  den 
Mutterhals.  Die  Schamlefzen  vereinigen  sich  nicht  mit 
einander  oberhalb  der  Clitoris,  sondern  haben  dort  einen 
Abstand  von  einander  von  anderthalb  Zentimetern.  Per 
rectum  tastete  man  das  Corpus  uteri,  aber  der  Uterus 
lag  nicht  antevertiert,  wie  es  sein  sollte,  sondern  in 
retroversione.  Jederseits  tastete  man  im  Becken  in  der 
Region  der  Articulatio  sacroiliaca  einen  bohnengroßen 


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—   371  — 


druckempfindlichen  Körper  — .  Die  Oberlippe  wies  eine 
männliche  Behaarung  auf.  Die  Clitoris  glich  an  Größe 
dem  Membrum  eines  7jährigen  Knaben,  wurde  bei 
Digitalberührung  steifer  und  näherte  sich  dabei  der 
Schamfuge.  Da  Hartmann  überzeugt  war  von  dem 
weiblichen  Geschlechte  des  Kindes  und  um  der  Onanie 
ein  Ende  zu  machen,  entschloß  er  sich  zu  der  Amputation 
des  inkriminierten  Gliedes.  Jetzt  nach  10  Jahren  bot 
das  Mädchen  ein  absolut  männliches  Aussehen.  Das 
Gesicht  war  üppig  behaart,  Brustkorb  und  Becken 
männlich.  Das  Individuum  erwirbt  sich  den  Unterhalt 
als  Näherin  und  soll  bis  jetzt  keinerlei  Geschlechtstrieb 
empfunden  haben.  Schambehaarung  weiblich.  Der  Stumpf 
der  einstens  amputierten  Clitoris  strotzt  fingerdick  unter- 
halb der  Schamfuge,  ist  von  rosaroter  Färbung.  Die 
10  Centimeter  lange  Scheide  läßt  ein  Speculum  bis  an 
den  Mutterhals  vordringen,  eine  dünne  Sonde  dringt  in 
den  Uterus  vier  und  einen  halben  Centimeter  tief  ein. 
Regel  bis  jetzt  noch  nicht  aufgetreten,  aber  alle  Monate 
2 — 3  Tage  lang  Leibschmerzen,  mehr  linkerseits  als 
rechterseits  ausgesprochen  und  bis  auf  die  Fossae  iliacae 
ausstrahlend.  Hartmann  hält  das  Individuum  für  ein 
Mädchen,  ich  möchte  dieses  Urteil  doch  nicht  ohne 
Weiteres  unterschreiben  und  halte  das  Geschlecht  bisher 
für  zweifelhaft  und  die  ausgeführte  Operation  für  un- 
berechtigt, solange  nicht  das  weibliche  Geschlecht  sicher- 
gestellt war  —  erinnere  dabei  an  einen  bekannten  Fall, 
wo  ein  berühmter  französischer  Chirurg  von  einem  seiner 
männlichen  Patienten  ermordet  wurde  aus  Rache  dafür, 
daß  er  ihm  während  einer  Varicocelenoperation  einen 
Hoden  abgeschnitten  hatte ! 

14)  Hector  le  Nu  wurde  zu  der  0jährigen  Tochter 
des  Wilhelm  Fre*rot  gerufen,  um  deren  hypertrophische 
Clitoris  zu  amputieren,  schlug  aber  die  Operation  ab, 
weil  er  in  jeder  Schamlefze  je  einen  Hoden  und  Neben- 

24* 


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—    372  — 


hoden  getastet,  somit  eine  erreur  de  sexe  konstatiert 
hatte.    Hypospadiasis  peniscrotalis. 

15)  Huguier:  Es  handelte  sich  um  die  1839  in 
Saint-Quentin  geborene  Louise  D.  [siehe  Ldon  Je  Fort: 
„Les  vices  de  conforniation  de  Put<?rus  et  du  vagin* 
Paris  18(52.  pg.  200—207.]  (s.  Fig.  28  u.  29.)  Es  waren 
die  kleinen  Schamlippen  mit  einander  verwachsen,  indem 
sie  so  die  untere  Wand  eines  Kanales  bildeten,  welcher 


Fig.  28  u.  2'J.  Vulva  eines  20jährigen  weiblichen  Scheinzwitters 
Louise  D.  mit  Verwachsung  der  Schamlefzen.    Abbildung  vor 

und  nach  Discision  durch  Huguier. 
A  ==  Clitoris,  B  —  Sonde  in  die  Vulvaüffnung  eingeführt,  C  =  Linkes 
Ovarium  in  hernia  labiali,  D=Urethralmiindung,  I  —  Vaginalostium. 

unterhalb  der  Clitoris  nach  außen  mündete.  Louise  D. 
hatte  sich  sonst  regelrecht  entwickelt  und  hatte  vom 
18.  Jahre  an  ihre  Perioden,  die  allerdings  jedesmal  sehr 
schmerzhaft  waren.  Das  Menstrualblut  entleerte  sich 
stets  mit  Harn  gemischt  durch  jene  unterhalb  der 
Clitoris  belegene  Öffnung.  Im  20.  Jahre  sollte  Louise 
heiraten.  Der  Hausarzt  erklärte  eine  Heirat  für  unmög- 
lich.   Am  14.  IX.  1859  stellte  Debout  in  der  Pariser 


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-    373  — 


Socie*te*  de  Chirurgie  ein  Gipsmodell  der  Geschlechtsteile 
der  Louise  D.  vor,  welche  für  einen  Hermaphroditen 
angesehen  wurde.  Clitoris  1—5  Centimeter  lang  mit 
starken  Erektionen.  In  einer  Schamlefze  lag  ein  Ovarium, 
welches  eventuell  für  einen  Hoden  angesprochen  werden 
konnte.  So  oft  eine  Erektion  der  Clitoris  eintrat,  sah 
man  „un  mouvement  ascensiouel  se  produire  dans  les 
grandes  levres  comme  si  elles  e*taient  double*es  d'un  muscle 
Cr^master".  —  Oberhalb  jenes  ektopischen  Ovarium 
tastete  man  einen  nach  dem  Leistenkanale  zu  verlaufenden 
Strang!  Die  Sonde,  in  die  Öffnung  unterhalb  der  Clitoris 
eingeführt,  drang  nicht  in  die  Harnblase  ein,  sondern  11 
Centimeter  tief  in  die  Vagina  und  konnte  per  rectum 
nicht  getastet  werden.  De b out  war  daraufhin  fest  über- 
zeugt, daß  Louise  ein  Mädchen  sei,  und  brachte  sie  in 
das  Hospital  Beaujon  zu  Huguier,  welcher  die  ver- 
langte Discision  der  mit  einander  verwachsenen  kleinen 
Schamlippen  vollzog  bis  auf  den  Abstand  von  zwei 
Centimetern  von  der  Analöffnung.  Sofort  erblickte  man 
das  Orificium  vaginae  von  einem  Hymen  garniert,  sowie 
die  Harnröhrenmündung.  Uterus  sehr  klein.  In  der 
Folge  fügte  Huguier  noch  einen  zweiten  kleinen  Ein- 
griff hinzu,  da  die  Öffnung  der  Schamspalte  sich  als  sehr 
eng  erwies. 

16)  Als  Seitenstück  zu  diesem  Falle  füge  ich  hier  den 
berühmten  Pariser  Fall  betreffend  Maria  Magdalena 
Lefort  hinzu  samt  einigen  Abbildungen  sehr  instruktiver 
Art.  Dieser  Fall  ist  vielfach  diskutiert  und  mehrfach 
von  französischen  Autoren  beschrieben  worden,  weil  er 
in  der  Tat  lehrreich  ist.  Die  beiden  Abbildungen  stellen 
die  Person  vor  im  Alter  von  IG  und  von  65  Jahren. 
[Siehe  Debierre:  L'Hermaphrodisme.  Paris  1881.  pg. 
70— 83J  (s.  Fg.  30,  31,  32,  33).  Am  10.  Februar  1815 
wurde  die  damals  16  Jahre  alte  Maria  Magdalena 
iu     der    Pariser    Ärztlichen    Gesellschaft  vorgestellt. 


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—    374  — 


C haussier,  Petit-Radel  und  Beclard  sollten  sie 
untersuchen.  Das  Mädchen  war  von  mittlerem  Wuchs, 
hatte  viele  paradoxe  Erscheinungen  an  sich;  einen  auf- 
fallenden Kontrast  bildete  die  üppige  männliche  Gesichts- 


Fig.  80.    Maria  Magdalena  Lp  fort,  weiblicher  Scheinzwitter 

im  Alter  von  16  .Jahren. 

behaarung  mit  gleichfalls  üppig  entwickelten  weiblichen 
Brüsten.  Üppige  Schambehaarung.  Die  Clitoris,  mög- 
licherweise ein  hypospadischer  Penis,  war  im  flacciden 
Zustande  7  Centimeter  laug,  sub  erectione  länger.  Prae- 


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—    375  — 


I »utium  mobil.  In  der  Mittellinie  sieht  man  an  der  unteren 
Fläche  dieses  Gliedes  eine  seichte  Rinne  und  darin  fünf 
hintereinander  liegende  feine  Offnungen,  Lacunae  Mor- 
gagnii.     Zwei  kurze  schmale  Schamlefzen  sind  stark 


Fig.  31.    Maria  Magdalena  Lcfort  im  Alter  von  GT>  Jahren. 
Beobachtung  von  Beclard. 

behaart  an  ihrer  Außenseite  und  reichen  von  der  Clitoris 
bis  etwa  10  Linien  vor  dem  After.  Zwischen  den  Scham- 
lefzen liegt  eine  Haut,  durch  die  hindurch  man  eine  da- 
rüber liegende  Höhle  zu  tasten  meint.    Die  Schamlefzeu 


—   376  — 

sind  leer,  enthalten  also  keinerlei  Geschlechtsdrüsen. 
Unterhalb  der  Clitorisbasis  liegt  eine  Öffnung,  durch 
welche  der  Harn  abfließt  und  in  die  man  eine  dünne 
Sonde  einführen  kann.  In  den  Leistengegenden  tastet 
man  nichts  von  Geschlechtsdrüsen.  Magdalena  gibt  an, 
der  Harn  fließe  ab  aus  der  besagten  Öffnung  unterhalb 


Fig.  32.   Schematischcr  extramedianer  Sagittaldurchschnitt  durch 
das  Becken  von  Maria  Magdalena  Lefort. 
J  =  Sonde  unterhalb  der  Clitoris  in  das  Orificium  vulvae 
eingeführt,  M  =  Vagina,  0  =  Ovarium,   T  =  Tube,   U  =  Uterus, 
1  s  lig.  rotundum,  V  =  Blase,  U  =  Ureter,  d  -  Orificium  urethrae 
R  =  Rectum,  g  =  große  Schamlippen. 

der  Clitoris  sowie  aus  den  vorher  als  Lacunae  Mor- 
gagni i  erwähnten  feinen  Öffnungen,  was  wohl  auf  einem 
Irrtum  beruhen  mag.  Das  Mädchen  gibt  an,  schon  vom 
8.  Jahre  an  menstruiert  zu  sein  —  Menslruatio  praecox. 
Sie  ist    absolut  außer  Stande,  vor  Zeugen  zu  urinieren. 


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—    377  — 


Ein  durch  jene  Öffnung  eingeführter  Katheter  entleert 
keinen  Harn,  gerät  nicht  in  die  Blase,  sondern  nimmt 
eine  Richtung  nach  hinten  zu.  Am  nächsten  Tage  trat 
die  Menstruation  ein,  wovon  die  Ärzte  sich  persönlich 
überzeugten.  Der  Katheter,  jetzt  eingeführt,  wurde  blut- 
gefüllt extrahiert  aus  einer  Höhle,  welche  offenbar  nicht 
die  Harnblase  war  und  vor  dem  Rectum  lag.  Zwischen 
dem  Katheter  und  der  Haut,  welche  die  Schamlefzen 
miteinander  verband,  tastete  man  eine  Scheidewand, 
welche  etwa  zweimal  so  dick  erschien  als  die  Haut  selbst. 
In  der  Tiefe  von  8 — 10  Centimetern  stieß  der  Katheter 


Fig.  33.    Vulva  der  Maria  Magdalena  Lefort.  ; 


in  dieser  Höhle  auf  einen  Widerstand.  Bdclard  gelang 
es  sogar,  per  rectum  ein  Gebilde  wie  eine  Portio  vaginalis 
uteri  zu  tasten.  B^clard  allein  erklärte  das  Kind  för 
ein  Mädchen  und  proponierte  die  Durchschneidung  der 
Labialverwachsung,  welche  von  der  Clitoris  an  bis  zur 
Commissura  labiorum  posterior  reichte.  Auf  diese  Operation 
ging  jedoch  das  Mädchen  unvernünftigerweise  nicht  ein. 
Die  Harnröhre  erschien  länger  als  sonst  bei  Frauen, 
sie  reichte  bis  „au  de  la  Symphyse  pubienne  se  pro- 
longeant  BOUS  le  clitoris  —  disposition   qui  le  rapproche 


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—    378  — 


du  ptfnis  et  est  fort  rare*  —  Maria  Magdalena  hatte 
die  Regel  vom  8.  bis  zum  49.  Jahre,  empfand  stets  rein 
weiblichen  Geschlechtsdrang  auf  Männer  gerichtet  und 
soll  auch  einen  Beischlafsversuch  gemacht  haben,  der 
aber  natürlich  nur  ein  Beischlafsversuch  blieb.  Trotz  der 
so  eingehenden  und  geuauen  Untersuchung  durch  Be"clard 
und  der  richtigen  Deutung  des  Untersuchungsbefundes 
durch  Bdclard  blieb  die  Mehrzahl  der  Parsier  Chirurgen 
der  Ansicht,  daß  hier  Hypospadiasis  mascula  mit  Krypt- 
orchismus  vorliege.  Man  stritt  sich  so  lange  hin  und  her, 
bis  Maria  Magdalena  Lefort  am  20.  XIII.  1864 
infolge  einer  Pleuritis  im  Hospital  in  Paris  starb.  Bdclard 
machte  die  Sektion,  welche  40  Jahre  nach  seiner  ersten 
Untersuchung  glänzend  seine  früher  geäußerte  Meinung 
bestätigte.  Die  Person  hätte,  wenn  die  von  Bt'clard 
geforderte  Operation  vollzogen  worden  wäre,  selbst  conci- 
pieren  können,  wie  die  Sektion  zeigte.  Die  Sektion  erwies, 
daß  die  vorgenannten  5  Offnungen  in  der  Kinne  an  der 
unteren  Fläche  der  Clitoris  nicht  mit  der  Harnröhre 
kommunizierten,  sondern  einfach  den  Lacunae  Mor- 
gagni i  entsprachen.  Die  Öffnung  unterhalb  der  Clitoris 
führte  zunächst  in  ein  durch  Verwachsung  der  Scham- 
lefzen miteinander  in  eine  Höhle  umgewandeltes  Vesti- 
bulum  vaginae  von  6  Zentimeter  Höhe  und  2  Zentimeter 
Umfang.  Man  fand,  wie  B^clard  vermutet  hatte,  einen 
Uterus,  normal  gebaut,  und  eine  normale  Vagina  von 
6  Centimeter  Länge  und  74  Millimeter  Umfang.  Columnae 
rugarum  vorhanden.  In  Utero  fand  man  drei  kleine 
Fibrome.  Uterus  von  normaler  Größe.  Der  rundliche 
Muttermund  ließ  eine  Sonde  nur  51  Millimeter  tief 
ein.  Tuben  je  7  Centimeter  lang,  Ovarien  normal  mit 
rupturierten  und  vernarbten  Graafschen  Follikeln. 
Legros  untersuchte  mikroskopisch  die  Ovarien,  fand  aber 
keine  Ovula  mehr,  was  ja  nicht  zu  verwundern  steht,  da 
M  ari  a  Magdalena  im  Alter  von  65  Jahren  gestorben  war. 


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17)  Beiläufig  füge  ich  hier  ein  Bemerkung  ein  be- 
treffend die  ihrer  Zeit  berühmte  Katharina  Hohman 
aus  [Mellrichstadt,  den  späteren  Karl  Hohmann. 
Kat  harina  Hohmann  war  als  Mädchen  getauft  worden, 
obgleich  das  Aussehen  der  Genitalien  nichts  Mädchen- 


Fig.  34.    Katharina  Hohmann,  männlicher  Scheinzwitter. 

haftes  bot.  Die  Hebamme  schämte  sich  in  der  Folge 
ihrer  Bestimmung  so,  daß  sie  von  Mellrichsstadt  fortzog. 
Katharina  erreichte  im  15.  Jahre  die  Geschlechtsreife  und 
es  stellten  sich  Pollutionen  ein.  Damals  begann  sie  mit 
Frauen  'zu  kohabitieren,  aber  die  Ejakulation  erfolgte  da- 
bei stets  sehr  schnell  und  die  Immissio  penis  wurde  wegen 


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—    380  — 


seiner  Abwärtskrümmung  niemals  eine  vollständige.  Bis 
zum  20  Jahre  verriet  sich  bei  ihr  nur  das  männliche 
Geschlecht,  später  aber  traten  die  angeblich  menstruellen 
Blutungen  ein  und  zwischen  dem  20.  und  30.  Jahre  sah 
sie  Colostrum  in  den  Brüsten.  Damals  begann  Katharina 
weiblichen  Geschlechtsdrang  zu  empfinden  und  kohabitierte 
jetzt  mit  Männern.  Während  des  Beischlafes  mit  Männern 
erfolgte  keine  Erektion,  Katharina  hatte  aber  dabei 
Samenergüsse,  auch  hatte  sie  mehr  Geschlechtsgenuß,  wenn 


Fig.  35.    Äuttere  Genitalien  der  Katharina  Höh  mann. 

sie  mit  Frauen  kohabitierte.  Der  männliche  Geschlechts- 
drang war  bei  ihr  stets  am  stärksten  in  den  ersten  2 — 3 
Tagen  nach  der  angeblichen  Periode.  Diese  Periode  soll 
vom  20. — 30.  Jahre  regelmäßig,  dann  seltener  geworden 
sein,  aber  bis  zum  42.  Jahre  gedauert  haben. 

Diese  Person,  welche  von  Virchow,  Rokitansky, 
Schultze,  Friedre ich  und  vielen  anderen  hervorragen- 
den  Ärzten  untersucht  und  vielfach  beschrieben  wurde, 
hatte  durch  die  Zweifelhaftigkeit  ihres  Geschlechts  lebhafte 


—   381  — 


Kontroversen  hervorgerufen,  indem  sie  bald  für  einen 
Mann,  bald  für  ein  Weib,  bald  für  einen  echten  Zwitter 
erklärt  worden  war.  Tatsache  ist,  daß  Virchow  nor- 
males Sperma  bei  ihr  konstatierte,  es  kann  also  keinem 
Zweifel  unterliegen,  daß  Katharina  Hohman  ein 
männlicher  Scheinzwitter  war,  —  damit  stimmt  auch  die 
Angabe,  daß  Katharina,  welche  mehr  als  40  Jahre  als 
Frau  gelebt  hatte,  später  als  Mann  in  New-York  heiratete 
und  einen  Sohn  erzeugte.  Eigentümlich  und  bisher  nicht 
aufgeklärt  erscheint  nur  der  Umstand,  daß  Katharina 
bis  zum  38.  Jahre  die  Periode  gehabt  haben  soll.  Unter- 
halb des  hypospadischen  Penis  lag  die  Scheidenöffnung. 
Als  Katharina,  40  Jahre  alt,  untersucht  wurde,  konnte 
man  per  vaginam  die  Portio  vaginalis  uteri  tasten.  In 
der  scheinbaren  rechten  Schamlefze  tastete  man  den 
rechten  Hoden,  der  linke  lag  unterhalb  der  äußeren 
Öffnung  des  linken  Leistenkanales.  Die  Schamlefzen 
waren  im  unteren  Teile  in  großer  Ausdehnung  mit  ein- 
ander verwachsen,  also  das  Scrotum  nur  im  oberen  Teile 
gespalten.  Billroth  proponierte  Klara  Hohman  die 
Durchschneiduug  dieser  Verwachsung:  sie  ging  jedoch 
auf  die  Operation  nicht  ein.  —  Dieser  Vorschlag  Bill- 
roth's  ist  es,  weshalb  ich  diese  Beobachtung  hier  er- 
wähne. Katharina  hat  sowohl  mit  Männern  als  auch 
mit  Frauen  kohabitiert,  was  ja  auch  verständlich  ist, 
insofern  die  physische  Möglichkeit  dazu  vorlag.  Katha- 
rina resp.  Karl  Höh  mann  starb  1881  in  New-York 
zur  Zeit  als  Mann  verheiratet.  Sie  war  ein  männlicher 
Scheinzwitter  mit  stark  entwickelten  Brüsten,  Hypospadie 
des  ganzen  Penis  und  teilweiser  Hypospadie  des  Scrotum 
und  angeblicher  Menstruation.  —  Siehe  Abbildungen: 
Fig.  34  u.  35.  — 

K.  Virchow  („Vorstellung  eines  Hermaphroditen" 
Berliner  klinische  Wochenschrift  1872,  No.  49,  pg.  585J 
stellte  die  Katharina  Hohmanu  in  der  Berliner  ärzt- 


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—    382  — 

liehen  Gesellschaft  vor,  nachdem  sie  bereits  1867  in 
Berlin  untersucht  worden  war.  Der  Erste,  welcher 
Katharina  für  einen  Zwitter  erklärt  hatte,  war  Dr. 
Reder  in  Mellrichstadt,  dem  Geburtsorte  Katharina's: 
sie  hatte  ihn  wegen  eines  Leistenbruches  konsultiert. 
Friedreich  beobachtete  Katharina  lange  Zeit  hindurch 
iu  seiner  Heidelberger  Klinik,  dann  Bernhardt 
Schultze  in  Jena,  dann  v.  Koelliker  und  v.  Reck- 
linghausen in  Würzburg,  Krause  in  Budapest,  Hoff- 
mann in  Basel  und  Andere.  Fried  reich  konstatierte 
zuerst  normales  Sperma  der  Katharina,  konnte  aber 
weder  eine  Prostata  noch  Samenblasen  als  reeeptaculum 
seminis  tasten,  v.  Franqut',  v.  Scanzoni,  v.  Reck- 
linghausen garantieren  dafür,  daß  die  von  Katha- 
rina angegebene  regelmäßige  Blutausleerung  aus  den 
Genitalien,  die  angebliche  Menstruation,  auf  voller  Wahr- 
heit beruhe.  Die  Blutungen  dauerten  je  zwei  Tage,  das 
ausgeschiedene  Blut  war  mit  Schleim  gemischt.  Alle 
diese  Autoren  behaupten,  das  'Blut  sei  aus  der  Harn- 
röhrenöffhung  ausgeschieden.  Fried  reich  untersuchte 
das  Blut  mikroskopisch  und  schlug  jede  Vermutung 
nieder,  daß  das  Blut  kein  menschliches  sondern  tierisches 
sei.  Virchow  sagt,  die  Blutungen  seien  zwar  nicht 
absolut  periodische,  regelmäßige  gewesen,  sollen  sich  aber 
von  Zeit  zu  Zeit  wiederholt  haben.  Wenn  eine  menstruelle 
Blutung  einer  Eireifung  entspricht,  wo  soll  man  also  hier 
den  Eierstock  suchen?  fragt  Virchow. 

Rokitansky  gab  an,  er  halte  das  vor  dem  linken 
Leistenkanale  liegende  Gebilde  nicht  für  eine  Geschlechts- 
drüse, sondern  für  einen  obliterierten  Bruchsack.  Vir- 
chow möchte  diese  Behauptung  nicht  ohne  Weiteres 
aeeeptieren,  er  verzichtete  darauf,  eine  bestimmte  Ansicht 
über  die  Natur  dieses  linksseitigen  Gebildes  auszusprechen. 

Virchow  schreibt  bezüglich  der  von  den  Forschern 
bei  Katharina  gesuchten  Ovarien  wörtlich  folgendes: 


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—   383  — 


„Man  ist  daher,  weil  das  Ovarium  bisher  nirgends  in  den 
äußeren  Genitalien  getastet  wurde,  nach  Innen  gewiesen 
und  hier  stehen  sich  die  Angaben  der  verschiedenen 
Untersucher  stark  entgegen.  Zuerst  hat  Bernhard 
Schult ze  die  positive  Angabc  gemacht,  daß  er  innerlich 
auf  der  linken  Seite  und  zwar  ziemlich  weit  nach  außen 
einen  mehrere  Zentimeter  großen  gegen  Druck  stark 
empfindlichen  Körper  gefunden  habe,  der  durch  einen 
Verbindungsstrang  mit  einem  noch  zu  erwähnenden 
Uterus  im  Zusammenhange  stehe.  Er  spricht  diesen 
Körper  als  Ovarium  an,  welches  demnach  relativ  au  der 
richtigen  Stelle  liegen  würde.  Friedreich  erklärte 
jedoch  ebenso  positiv,  daß  es  ihm  unmöglich  sei,  irgend 
etwas  von  diesem  Körper  zu  finden.  Die  Höh  mann 
sagte  mir  nach  langjähriger  Erfahrung,  daß  ein  längerer 
Finger  dazu  gehöre,  als  der  meinige  ist.  In  Breslau  sei 
nur  ein  einziger  Professor  gewesen,  der  soweit  habe 
hinaufreichen  können.  Ich  muß  also  in  diesem  Punkte 
mein  Urteil  salvieren.  Jedenfalls  habe  ich  diesen  Körper 
nicht  gefühlt.  [Nach  dem  Buche,  welches  die  Höh  mann 
mit  sich  führt,  haben  die  Erlanger  Professoren  Ziemssen, 
Zenker,  Roßhirt,  C.  E.  E.  Hoffmann,  Hegar, 
Breiskv  und  Spiegelberg  diesen  Körper  gefühlt,  in- 
dessen differierten  ihre  Angaben  erheblich  in  bezug  auf 
seine  Größe.]  Anders  verhält  es  sich  in  Beziehung  auf 
den  mittleren  Teil  des  Geschlechtsapparates.  In  dieser 
Beziehung  darf  ich  wohl  hervorheben,  daß  alle  Herma- 
phroditen hierin  die  größte  Ubereinstimmung  bieten. 
Alle  Zwitter,  auch  die  unvollständigen,  kommen  darin 
übereiu,  daß  der  mittlere  Teil  des  Geschlechtsapparates 
für  einen  Mann  zu  stark,  für  eine  Frau  zu  schwach 
entwickelt  ist.  Auch  bei  männlichen  Hermaphroditen 
findet  sieh  statt  der  Yesicula  prostatica,  die,  wie  man 
gewöhnlich  sagt,  Repräsentantin  des  Uterus  ist,  während 
man   eigentlich    sagen    sollte,   der  Vagina,  ein  wirk- 


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—   384  — 


lieber  Uterus.  Wenn  mau  in  die  Urethra  eingeht,  so 
kann  man,  wie  es  auch  bei  der  Höh  mann  der  Fall 
ist,  den  Katheter  ohne  Schwierigkeit  bis  in  die  Blase 
bringen:  die  Urethra  ist  länger  als  beim  gewöhnlichen 
Frauenzimmer.  Geht  man  mit  dem  Katheter  aber  an 
der  hinteren  Fläche  fort>  so  stößt  man  in  gewisser  Ent- 
fernung auf  einen  klappenartigen  Widerstand,  und  wenn 
man  hier  sehr  vorsichtig,  etwa  mit  einer  Sonde  eindringt, 
so  gelangt  man  in  einen  Kanal,  die  Vagina.  Dieselbe 
ist  durch  ein  langes  Stück  Urethra  [Canalis  urogenitalis], 
welches  in  diesem  Falle  also  gleichzuachten  ist  einem 
verlängerten  Vestibulum  vaginae,  von  der  äußeren  Ober- 
fläche getrennt.  Die  Vagina  ist  allerdings  klein  und 
kurz,  aber  unverkennbar.  Dagegen  ist  der  Uterus  höchst 
rudimentär.  Das  Verhältnis  ist  so,  daß  an  der  verhältnis- 
mäßig langen  Vagina  ein  ganz  kurzes  Endstück  sitzt  und 
von  diesem  aus  ein  Strang  nach  links  hinabgeht,  an  dessen 
Ende  man,  nach  Schultzeu.  A.  auf  ein  wirkliches  Ovarium 
stößt.  Wenn  man  durch  das  Rectum  eingeht,  so  kann 
man  den  nach  links  gehenden  Strang  deutlich  fühlen. 
Ob  am  Ende  dieses  Stranges  ein  besonderer  Körper  liegt, 
kann  ich  nicht  angeben,  nur  kann  ich  bestätigen,  daß  die 
Person  an  dieser  Stelle  sehr  empfindlich  ist.  Das  ist 
Dasjenige,  was  ich  über  den  Befund  an  den  Genitalien 
mitteilen  kann:  ein  sehr  kurzer,  stark  nach  rückwärts 
gebogener,  unter  den  Hautdecken  größtenteils  verborgener 
hypospadischer  Penis,  über  dessen  Oberfläche  zwei 
nymphenartige  Krausen  sich  hinziehen,  ein  entwickeltes 
rechtes  Scrotum  mit  einem  Hoden,  ein  stark  verkümmertes 
linkes  ohne  einen  solchen,  eine  für  ein  Weib  unverhältnis- 
mäßig lange  Urethra,  welcher  nach  rückwärts  ein  feiner, 
enger  Vaginalkanal  ansitzt,  der  in  ein  kleines,  ver- 
kümmertes Ende  [Uterus]  ausläuft,  von  welchem  noch 
ein  kleiner,  vielleicht  dem  Ligamentum  ovarii  oder  der 
Tuba   entsprechender  Teil   entspringt,   auf  der  linken 


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—    385  — 


Seite  eine  Tuba,  endlich  keine  Samenbläschen  und  keine 
Prostata,  sondern  nur  ein  Vas  deferens,  von  welchem 
man  allerdings  vermuten  kann,  daß  es  in  den  eigentlich 
urethralen  Teil  münden  wird.  Die  Mammae  der  48- 
jährigen  Katharina  sind  sehr  stark  entwickelt,  obwohl 
sie  schon  im  Rückgange  begriffen  sind  seit  Aufhören  der 
Menstruation.  Katharina  behauptet,  daß  zuweilen  auf 
Druck  sich  aus  den  Mammae  weißliche  Flüssigkeit  ent- 
leerte. Haarwuchs  im  Allgemeinen  mehr  dem  weiblichen 
Typus  entsprechend.  Kopfhaare  mäßig  lang,  glatt, 
schwarz.  Katharina  behauptete,  die  Haare  seien 
früher  länger  gewesen,  sie  seien  sehr  ausgegangen  und 
haben  nicht  mehr  die  frühere  Läuge  angenommen,  nach- 
dem ein  Lehrer  der  Anatomie  ihren  Testikel  so  sehr 
gedrückt  hätte,  daß  sie  nicht  blos  vor  Schmerz  umge- 
fallen, sondern  auch  eine  Zeit  lang  darnach  infolge  einer 
Entzündung  krank  gelegen  habe.  Virchow  bestätigt, 
daß  das  Haupthaar  früher  länger  gewesen  ist.  Umge- 
kehrt ist  der  Bartwuchs  nicht  so  sehr  entwickelt,  es 
existiert  kein  Bart  in  der  Art  eines  männlichen,  sondern 
nur  hier  und  da  einige  längere  Haare,  welche  sich  die 
Katharina  herunterschneidet." 

Virchow  hat  Katharina  Hohmann  als  Mann 
und  als  Weib  gekleidet  gesehen  und  behauptet  entgegen 
früheren  Beobachtern,  der  Gesaramteindruck,  den  er 
empfangen,  sei  eher  weiblich  als  männlich,  die  weibliche 
Erscheinung  sei  viel  mehr  harmonisch.  Auch  die  Form 
des  Rumpfes  und  der  Extremitäten  sei  mehr  weiblich, 
nur  das  Becken  sei  männlich.  Katharina  hat  den 
Beischlaf  mit  Mann  und  Frau  versucht  und  gibt  an,  in 
ihrer  Jugend  habe  sie  mehr  die  Neigung  empfunden,  sich 
als  Weib  zu  gerieren,  in  späteren  Jahren  aber  die  um- 
gekehrte, als  Mann.  In  ihrer  Heimat  trat  sie  in  den 
letzten  Jahren  nur  als  Frau  gekleidet  auf ;  die  männliche 
Kleidung,  die  sie  auf  ihren  Schaustellungsreisen  trägt, 

Jahrbuch  V.  25 


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-    386  — 


legt  sie  auf  der  letzten  Station  vor  ihrer  Vaterstadt  ab. 
Sie  war  auf  den  Namen  Katharina  getauft  und  galt 
bei  sich  zu  Hause  rechtlich  und  gesellschaftlich  als  Frau, 
als  Kind  dürfte  sie  also  wohl  einen  weiblichen  Eindruck 
gemacht  haben.  Schwerlich  würde  sie  die  Schulzeit  als 
Mädchen  durchgemacht  haben,  schreibt  Virchow,  wenn 
man  sie  für  einen  verkleideten  Jungen  angeschen  hätte. 
Von  besonderer  Bedeutung  ist,  daß  die  linke  Seite,  auf 
welcher  sich  an  den  Genitalien  die  wesentliche  Anomalie 
concentriert,  auch  am  übrigen  Körper  weniger  entwickelt 
ist.  Es  gilt  dies  nicht  bloß  von  den  Extremitäten,  an 
denen  ein  solches  Zurückbleiben  weniger  auff  ällig  wärt«, 
sondern  auch  vom  Rumpfe  und  Gesicht,  An  letzterein 
ist  die  mangelhafte  Entwicklung  schon  von  weitem  recht 
auffällig.  Daraus  scheint  hervorzugehen,  daß  es  sich 
nicht  bloß  um  eine  lokale  Bildungshemmung  handelt,  daß 
vielmehr  der  Hermaphroditismus  nur  eine  Teilerscheinung 
einer  allgeraeiuen  Störung  ist."  —  Soweit  Virchow. 

Ich  habe  absichtlich  an  dieser  Stelle  dieses  ausführ- 
liche Citat  nach  Virchow  eingefügt,  weil  in  demselben 
Gedanken  angeregt  sind,  denen  sonst  in  der  Betrachtung 
von  Scheinzwittern  und  in  der  Beschreibung  nur  selten 
einmal  Rechnung  getragen  wurde  so  z.  B.  in  der  Be- 
merkung bezüglich  eines  Falles,  die  rechte  Gesichtshälfte 
habe  einen  männlichen  Ausdruck  gehabt,  die  linke  einen 
weiblichen,  die  obere  Körperhälfte  habe  einen  männlichen 
Eindruck  gemacht,  die  untere  einen  weiblichen  etc.  An 
anderer  Stelle  werde  ich  auf  diese  Punkte  näher  ein- 
gehen. 

18)  K  ei  ff  er  [Un  cas  de  virilisme  „Soci&e*  Beige 
de  Gyndcologie  et  d'Obst^trique  1896  No.  10  pg.  214.] 
(Referat;  Centralblatt  für  Gynäkologie  1897  No.  17  pg.  479) 
stellte  ein  Individuum  vor,  eine  Frau,  bei  der  er  infolge 
von  intermittierender  Amenorrhoe  und  Dysmenorrhoe  den 
Uteruskanal  erweitert  und  eine  Auskratzung  vorgenommen 


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—   387  — 


hatte.  Trotz  rudimentärer  Entwickelung  der  Genitalien 
war  die  Periode  schon  im  10.  Lebensjahre  eingetreten, 
wiederholte  sich  aber  nur  in  Abständen  von  je  7 — 8 
Monaten.  Die  äußeren  Genitalien  sehen  kindlich  aus,  die 
inneren  Genitalien  machen  einen  weiblichen  Eindruck, 
die  äußeren  dagegen  einen  männlichen  bei  Hypospadiasis, 
also  die  Scham  sieht  männlich  aus.  Die  25jährige 
.losephine  X.  mit  langem  Haupthaar  trägt  weib- 
liche Kleidung,  rasiert  sich  oft  ihren  Schnurrbart  und 
Backenbart.  Wegen  mangelnden  Unterhautfettpolsters 
kontourieren  sich  die  Muskeln  sichtbar.  Unterleib  und 
untere  Extremitäten  sehr  reich  behaart.  Mammae  rudimen- 
tär entwickelt,  Mamillae  behaart,  Skelett  und  Becken 
ganz  männlich.  Josephine  macht  sowohl  in  sitzender 
Position  sowie  auch  in  stehender  ganz  den  Eindruck 
eines  Mannes.  Die  sehr  gering  angelegten  kleinen 
Schamlippen  liegen  zur  Seite  einer  sehr  engen  Scham- 
Spalte;  oberhalb  der  Schamspalte  eine  erectile  Clitoris- 
Pseudopenis  —  so  groß  wie  bei  einem  10jährigen  Knaben. 
Harnröhrenölfnung  weiblich,  aber  an  der  unteren  Fläche 
der  hypertrophischen  Clitoriseine  deutlich  sichtbare  Rinne. 
Scheide  eng  und  tief,  Uterus  sehr  klein,  G  cm  lang,  mit 
engem  Kanal.  Auch  sub  narcosi  gelang  es  nicht,  Ge- 
schlechtsdrüsen irgendwo  zu  tasten.  Aus  der  Beschrei- 
bung ist  es  nicht  ersichtlich,  ob  K  e  i  f  f  e  r  seine  Opera- 
tion bei  einem  männlichen  oder  bei  einem  weiblichen 
Scheinzwitter  gemacht  hat.  Das  Einzige,  was  für  weib- 
liches Geschlecht  zu  sprechen  scheint,  ist  die  Angabe 
der  stattgehabten  menstrualen  Blutungen,  wenn  es  sich 
tatsächlich  um  solche  gehandelt  hat. 

19)  P£an  [siehe  im  Vorhergehenden,  Gruppe  II. 
No.  2)  versuchte  auf  plastischem  Wege  durch  einen  Ein- 
schnitt zwischen  Orificium  urethrae  und  Orificium  ani 
eine  Scheide  zu  schaffen  bei  einem  ursprünglich  als  Mäd- 
chen erzogenen,  später  irrtümlich  als  Knaben  bestimmten 

25* 


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—    38S  — 


Individuum,  bei  dem  er  schliesslich  auf  dem  Wege  des 
Bauchschuittes  weibliches  Geschlecht  konstatierte. 

20)  Roux  |Aunales  de  Gym'cologie  et  d'Obste*trique 
1891  Vol.  XXXV  pg.  324]  beschreibt  eine  30jährige 
verheiratete  Frau  mit  Atresia  vaginae  und  labialer  Ektopie 
beider  Ovarien.  Niemals  Periode.  Nach  Vollziehung 
eiuer  plastischen  Operation  wurde  diese  Frau  beischlafs- 
fähig. Leider  stand  mir  die  Originalbeschreibung  nicht 
zu  Gebote,  sodaß  ich  nicht  sagen  kann,  ob  man  nur  ver- 
mutete, daß  die  in  den  Schamlefzen  liegenden  Gebilde 
Ovarien  waren  oder  ob  ein  Beweis  dafür  geliefert  wurde. 

21)  Sonnen  bürg  | siehe  Jacoby.  „Zwei  Fälle  von 
Hermaphroditenbildung"  O.  I.  Berlin  188öj  operierte  in 
einem  Falle  von  weiblichem  Scheinzwittertum  im  Berliner 
Israelitischen  Krankenhause.  Er  durchschnitt  eine  Ver- 
wachsung der  großen  Labia  pudendi  bei  einem  Mädchen 
mit  Clitorishypertrophie  behaftet.  Das  Original  von 
.Jacoby  war  mir  nicht  zugänglich,  auch  konnte  Herr 
Professor  Sonnenburg  mir  nicht  mehr  mit  einem 
Exemplare  der  Dissertation  aushelfen. 

22)  Tauber  [Warschau]  amputierte  den  hypospadi- 
schen  Penis  in  einem  schon  im  vorigen  Jahrgange  dieses 
Jahrbuches  von  mir  ausführlich  beschriebenen  Falle  von 
Erreur  de  sexe  [Gruppe IV.,  Fall  7]  Bei  dem  21jähri- 
gen  verlobten  Mädchen  wurde  nach  Abtragung  der 
Hoden  aus  den  Schamlefzen  durch  Dr.  Kociatkiewicz 
zweifellos  männliches  Scheinzwittertum  konstatiert,  gleich- 
wohl amputierte  Professor  Tauber  zwei  Jahre  später 
das  hypospadische  Membrum  virile.  Die  Person  wurde 
nach  dieser  zweiten  Operation  noch  korpulenter  als  nach 
der  Kastration  und  sehr  melancholisch,  soviel  ich  gehört 
habe.  Eine  Berechtigung  zu  dieser  Operation  sehe  ich 
in  diesem  Falle  nicht  ein. 

23)  Vincent  |„Sexe  incertain"  Lyon  Med ical  1897] 
wurde  zu  einem  sechswöchentlichen  unehelich  geborenen 


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—    389  — 


Kinde  geholt.  Defectus  ani  et  urethrae.  In  der  Gegend 
der  Scham  zwei  „bourgeons  cutaneV4:  es  blieb 
fraglich,  ob  dies  rudimentäre  Schamlefzen  waren  oder 
Hälften  eines  Scrotum  fissum?  Zwischen  diesen  „bour- 
geons"  lag  eine  dellenförmige  Vertiefung,  von  einer 
glatten  Membran  ausgekleidet.  Vincent  durchschnitt 
diese  Membran,  eine  Sonde  drang  jetzt  5  Centimeter 
tief  in  einen  Kanal  ein,  aus  dem  der  Harn  floss:  es  sollte 
dies  die  Vagina  sein,  eine  Urethra  fehlte.  Er  machte 
künstlich  eine  zweite  Öffnung,  legte  einen  Anus  coecygeus 
an.  Das  Kind  lebt,  wurde  also  durch  diesen  Eingriff 
gerettet,  das  Geschlecht  blieb  fraglich. 

Anhang: 
Sechste  Gruppe: 

Auf  die  Beseitigung  der  peniscrotalen  Hypospadie 
gerichtete  Operationen. 

Anhangsweise  füge  ich  hier  die  Kasuistik  der  Fälle 
hinzu,  wo  bei  männlichen  Scheinzwittern  resp.  bei  Hvpo- 
spadiasis  peniscrotalis  ausgedehntere  plastische  Operationen 
zur  Anwendung  kamen,  um  dem  Manne  das  Harnen 
nach  Männerart  zu  ermöglichen,  resp.  einen  Beischlaf  und 
Schwängerung  zu  erleichtern. 

1)  C.  Beck  [A  case  of  Hermaphrodism  (?)  — 
Medical  Record  25.  Juli  1899)  beabsichtigte  in  seinem 
im  Vorhergehenden  erwähnten  Falle  auf  dem  plastischen 
Wege  nach  Thiersch  eine  penile  Urethra  herzustellen, 
jedoch  kam  es  dazu  nicht,  da  das  Individuum  nach 
dem  Bauchschnitte  verstarb  [siehe  im  Vorhergehenden, 
Gruppe  IV,  Fall  5.)  Nachdem  Hoden-Sarkome  aus  der 
Bauchhöhle  herausgeschnitten  worden  waren,  erkrankte 
die  Person  am  18.  Tage  nach  dem  Bauchsohnitte  an 
Lungenentzündung  und  starb  drei  Tage  darauf.    |  Medical 


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Record  25.  Juli  1896  pg.  2  und  3  des  Separatabdruckes 
finden  sich  die  Abbildungen  der  äusseren  Genitalien. 
Carl  Beck:  „Die  Operation  der  Hypospadie.*  Münch. 
Med.  Woch.  1901,  Nr.  45,  pg.  777.  * 

2)  Thomas  Brand  vollzog  in  Gegenwart  von 
Hunter  an  einem  bis  zum  7.  Jahre  als  Mädchen  geltenden 
männlichen  Schein zwitter  eine  Operation  wegen  schmerz- 
haften Harnens.  Der  Penis  war  nach  abwärts  gekrümmt 
aber  von  der  Urethra  durchbohrt.  Die  äußeren  Ge- 
schlechtsteile sollen  wie  bei  einem  Mädchen  ausgesehen 
haben.  (Scrotalhypospadie?)  [„The  case  of  a  boy  had 
been  mistaken  for  a  girl.")    London  1787. 

3)  Ca  Stella  na  vollzog  eine  ausgedehnte  Plastik  bei 
einem  als  Mädchen  erzogenen  Scheinzwitter  mit  so  glän- 
zendem Resultate,  dass  die  neugeschaffene  Harnröhren- 
mündung kaum  einige  Ceutimeter  rückwärts  einer  nor- 
malen männlichen  Harnröhrenöffnung  zu  liegen  kam  und 
das  Individuum  den  Harn  abgeben  konnte  nach  Männer- 
art „senza  bagniarsi  i  Calzoni.*  (Uretroplastia  e  chiusura 
dell  orificio  vaginale  in  uno  caso  d'ipospadie  perineale  con 
Cryptorchismo  e  vagina  rudiraentale  bifida,"  Riforma 
Medica.  Aug.  XV.  N.  213—215  pg.  769).  Siehe  meinen 
Aufsatz  im  vorigen  Jahrgange  dieses  Jahrbuchs,  Fig.  5 
daselbst. 

4)  Fdlizet  [Bulletins  et  MtSmoires  de  la  Socitfte* 
de  Chirurgie.  Paris  1902.  Tome  XXVIII.  Nr.  32  pg. 
973].  Im  Jahre  1899  wurde  in  das  Pariser  Hospital 
Tenon  ein  lOjähriges  Mädchen  gebracht,  ein  Zwitter 
mit  sehr  hypertrophischer  Clitoris.  Grosse  Scham- 
lefzen gut  entwickelt,  die  kleinen  rudimentär.  Die 
grossen  Schamlefzen  waren  trotz  des  jugendlichen  Alters 
schon  behaart,  eine  Vagina  fand  man  nicht.  In  jeder 
Schamlefze  tastete  man  Hoden,  Nebenhoden  und  Samen- 
strang.   Keine   Hernie  vorhanden.    Per  rectum  tastete 


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—   391  — 


man  eine  5  Millimeter  dicke  Membran,  welche  das  kleine 
Becken  in  eine  vordere  und  hintere  Hälfte  zu  teilen  schien. 
Kein  Uterus  getastet.  Man  konstatierte  also  eine 
Erreur  de  sexe  und  brachte  zunächst  das  Mädchen 
aus  der  Frauenabteilung  in  einen  Männersaal  herüber. 
F^lizet  frischte  die  Ränder  der  Schamlefzen,  also  der 
beiden  Scrotalhälften,  an  und  vernähte  sie  miteinander. 
Die  Plastik  an  dem  Penis  hypospadiäus  ergab  momentan 
nicht  den  gewünschten  Erfolg,  weil  das  Kind  sich  nicht 
vernünftig  genug  betrug  für  eine  aussichtsvolle  Nach- 
behandlung. Jetzt  nach  drei  Jahren  kam  der  Knabe 
wieder  in  das  Hospital,  um  die  Hypospadie  von  Penis 
und  Glans  zu  beseitigen.  Der  Knabe  masturbierte  be- 
reits und  hatte  Erektionen  und  Ejakulationen.  Fe  Uz  et 
beabsichtigt  jetzt  die  noch  nötigen  Eingriffe  zur  Voll- 
endung der  Plastik  vorzunehmen. 

5)  Garre*  [siehe  Do  er  f  ler:  „Hypospadia  perinaealis" 
Rostocker  Aerzteverein  II.  VI.  1898.  Referat: 
Münchener  Medicinische  Wochenschrift  1898  Bd.  XLV. 
pg.  356 — 361].  Ein  löjähriges  Mädchen  wurde  von  den 
Eltern  in  das  Hospital  gebracht,  weil  dieselben  dessen 
weibliches  Geschlecht  bezweifelten.  Man  konstatierte  eine 
erreur  de  sexe.  Hypospadiasis  peniscrotalis,  Hoden 
und  Zubehör  lagen  in  den  Scrotalhälften;  der  hypo- 
spadische  rudimentäre  Penis  lag  zwischen  den  Scrotal- 
hälften verborgen  nach  unten  gekrümmt.  Eine  Vaginal- 
öffnung fand  man  nicht;  orificium  urethrae  drei  Centimeter 
oberhalb  der  Analöffnung  belegen.  Garre*  vollzog  eine 
Reihe  plastischer  Eingriffe  mit  dreifachem  Ziel :  erstens 
um  das  Glied  gerade  zu  richten  und  zu  verlängern, 
zweitens,  um  nach  der  Methode  von  Duplay  eine  Penis- 
harnröhre  zu  schaffen,  drittens,  um  die  so  neu  geschaffene 
Penisharnröhre  zu  vereinigen  mit  der  scheinbar  weiblichen 
Harnröhrenöffnung.  Das  Resultat  war  so  vorzüglich,  daß 
heute   auch   der   Laie   nicht  mehr  an  dem  männlichen 


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Geschlechte  zweifeln  dürfte.  Das  Kind  verließ  die  Klinik 
in  männlichen  Kleidern. 

6)  Krajewski  begann  eine  Plastik  bei  peniscrotaler 
Hypospadie  in  einem  von  mir  beschriebenen  Falle  von 
erreur  de  sexe,  ein  18 jähriges  Mädchen  betreffend, 
jedoch  wurde  nur  die  quere  Durchschneidung  des  den 
Penis  hypospadiaeus  nach  unten  biegenden  Stranges  ge- 
macht mit  Längsvernähung  der  gesetzten  Wunde,  dann 
entzog  sich  diese  Person  der  weitereu  Behandlung. 

7)  Malt  he  [Magazin  for  Laegevidenskab  4  -  de 
raekke,  10 -de  Bind,  pg.  58:  Forhand linger  Med. 
Selskab  Moede  20  -  de  Marts  1895].  Man  konstatierte 
bei  einem  28jährigen  Mädchen  eine  erreur  de  sexe 
und  fand  Hypospadiasis  peniscrotalis:  die  Hoden  lagen 
in  scroto  fisso.  Anna  Marie  diente  als  Milchmädchen 
in  einer  Milchwirtschaft.  Man  machte  8  Operationen 
nach  der  Reihe  behufs  Plastik  —  und  —  h'/ute  öffnet 
sich  die  neugeschaffene  Harnröhre  in  glande  penis.  Die 
Ejakulationen  finden  so  statt,  daß  der  Mann  jetzt  ohne 
Weiteres  befruchtungsfähig  erscheint. 

8)  Marwedel:  »Erfahrungen  über  die  Beck 'sehe 
Methode  der  Hypospadieoperation."  Beiträge  zur  klinischen 
Chirurgie  XXIX.  —  1  pg.  25  —  1901. 

9)  Thiersch  vollzog  eine  Reihe  plastischer  Opera- 
tionen bei  einem  männlichen  Scheinzwitter,  der  jedoch 
infolge  einer  Peritonitis  zu  Grunde  ging  —  siehe  im 
Vorhergehenden  Gruppe  III  Fall  11. 

10)  Tuffier  Traitement  de  l'hypospadiasis  par  la 
tunellisation  du  pdnis  et  Papplication  des  greffes  Olli  er 
—  Thiersch  (Annales  des  maladies  des  organes  geuito- 
urinaires.    Paris  Avril  1899.) 

11)  Villemin  [Societe*  de  Pädiatrie.  Sdance  du 
14.  Mars  1899.  L'  Independance  mtfdicale  1899  No.  12 
pg.  94]  stellte  einen  15jährigen  Knaben  vor  nach  von 
ihm  vollzogener  Plastik  bei  Hypospadiasis  peniscrotalis. 


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—  :m  — 


Der  verkannte  Junge  war  bisher  als  Mädchen  erzogen 
worden  und  hatte  man  dem  Mädchen  ein  Bruchband 
angelegt,  in  der  Meinung,  es  liege  ein  Bruch  vor,  während 
dieser  durch  den  Hoden  vorgetäuscht  worden  war. 

12)  Waitz:  , Perinaeale Hypospadie  bei  einem  Knaben 
durch  plastische  Operation  behoben."  Münchener  Medicin. 
Wochenschrift  1899  pg.  300. 


Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  eine  Analyse  der  vor- 
liegenden Kasuistik  nach  sämtlichen  Richtungen  hin  eine 
Arbeit  liefern  würde,  welche  den  Rahmen  eines  Beitrages 
für  dieses  Jahrbuch  weit  überschreiten  würde,  würde  doch 
z.  B.  die  Betrachtung  jeder  einzelnen  zu  berücksichtigenden 
Frage  ein  umfangreiches  Kapitel  bilden,  z.  B.  die  Zusammen- 
stellung des  Verhältnisses  der  secundären  Geschlechts- 
charaktere zum  anatomischen  Charakter  der  Geschlechts- 
drüsen, die  kritische  Sichtung  des  überaus  reichen  Materials 
von  katamenial  wiederkehrenden  Molimina  bei  männlichen 
Scheinzwittern,  welche  den  Molimina  menstrualia  gleich- 
kommen, das  Verhältnis  des  Geschlechtstriebes  zu  den 
Geschlechtsdrüsen,  die  mangelnde  oder  excessive  Energie 
des  Geschlechtstriebes  etc.,  die  kritische  Beleuchtung  der 
als  menstruell  bezeichneten  periodischen  Genitalblutungen 
bei  männlichen  Scheinzwittern  und  viele  andere  Fragen. 
Ich  werde,  soweit  meine  Zeit  es  gestattet,  jede  dieser 
Fragen  gesondert  erörtern  und  muß  mich  heute  gemäß 
dem  Plane  dieses  Aufsatzes  auf  die  Erörterungen  der  für 
den  Chirurgen  in  Frage  kommenden  Tatsachen  beschränken. 
Die  Kasuistik  liefert  uns  ein  überreiches  Material. 

Da  in  der  dritten  Gruppe  drei  Fälle  von  Konstatierung 
der  Gegenwart  eines  Uterus  mit  aufgezählt  wurden, 
welche  schon  in  der  ersten  Gruppe  aufgezählt  waren 
|  Fälle  von  Pozzi,  Sänger  und  Stonham],  so  reduziert 


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—    394  — 


sich  die  Zahl  der  in  Frage  kommenden  Individuen  auf  54. 
Auf  54  Individuen  kommen  nicht  weniger  als  42  Fälle 
von  Erreur  de  sexe  vor,  eiu  für  die  Diagnose  des 
Geschlechtes  schwerwiegendes  Moment,  umsomehr  als  in 
den  meisten  Fällen  das  angebliche  Geschlecht  der  einer 
Operation  unterworfenen  Person  gar  nicht  angezweifelt 
worden  war  —  in  den  weitaus  meisten  Fällen  war  das 
Resultat  der  Operation  quoad  sexum  ein  für  den  Operateur 
überraschendes,  unerwartetes!  Nur  Buchanan 
(Gruppe  I,  Fall  5),  Green  (Gruppe  I,  Fall  8),  Doederlein 
(Gruppe  I,  Fall  17),  Porro  (Gruppe  I,  Fall  24),  Sänger 
(Gruppe  I,  Fall  27),  Swiencicki  (Gruppe  I,  Fall  38), 
Tillaux  (Gruppe  I,  Fall  34)  vermuteten  vor  der 
Operation  eine  Erreur  de  sexe,  also  nur  6  mal  auf 
die  38  Operationen  der  ersten  Gruppe  wurde  eine 
Erreur  de  sexe  vermutet.  Bei  35  Mädchen,  2  ver- 
heirateten Frauen  und  1  Witwe  wurden  Hoden  entdeckt 
In  der  zweiten  Gruppe  wurde  zweimal  weibliches  Geschlecht 
eines  Knaben  resp.  eines  erwachsenen  Mannes  konstatiert 
(Fälle  von  P£an  und  Walther).  In  der  dritten  Gruppe 
wurde  13  mal  tubulärer  Hermaphroditismus,  also  mehr 
weniger  hochgradige  Entwickelung  der  Müller* scheu 
Gänge  bei  Männern  resp.  bei  3  als  Mädchen  erzogenen 
männlichen  Scheinzwittern  entdeckt. 

Die  Veranlassung  zu  dem  Leistenschnitt  ergaben 
meist  Bruchbeschwerden,  und  in  den  Fällen  von  Pean, 
Porro,  Tillaux  und  Thierse h  wurde  der  Leisten- 
schnitt resp.  Labial-  resp.  Scrotalschnitt  ausschließlich  zu 
diagnostischen  Zwecken  vorgenommen.  Bei  dea  38  als 
Mädchen  erzogenen  Scheiuzwittern  lag  in  den  wenigsten 
Fällen  ein  Bruch  mit  Darm-,  Netz-  oder  Harnblasen- 
anteil als  Inhalt  vor,  meist  handelte  es  sich  um  einseitigen 
oder  beiderseitigen  Descensus  testiculi  retardatus. 


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—   395  — 


Erste  Gruppe. 

38  Operationen  an  männlichen  Scheinzwittern,  als 
Mädchen  erzogen.    In  welchem  Alter  wurde  die 
Erreur  de  sexe  konstatiert? 

Fall  1:  Nach  rechtsseitiger  Heruiotomie  bei  der  6  jähr. 
Klara  Hacker.  Der  Bruch  war  vor  8  Tagen  plötzlich 
aufgetreten.  Im  13.  Jahre  war  ein  linksseitiger  Bruch 
operiert  worden:  Hoden,  Nebenhoden  und  Samenblase 
entfernt. 

Fall  2:  Einseitige  Herniotomie  im  24.  Jahre  bei  ander- 

seitigem  Kryptorchismus. 
Fall  3 :  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem  Hjähr.  Mädchen. 
Fall  4 :  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem  Hjähr.  Mädchen. 
Fall  5 :  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem  9jähr.  Mädchen. 
Fall  6 :  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem  24jähr.  Mädchen. 
Fall  7:  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einer  42jähr.  Witwe. 

Der  Descensus   testiculorum    war    erst  vor  einigen 

Tagen,  also  im  42.  Lebensjahre,  nach  Aufheben  einer 

Last  plötzlich  entstanden. 
Fall   8:   Beiderseitige   Herniotomie    bei   einem   24 jähr. 

Mädchen.  Erreur  de  sexe  vor  der  Operation  erkannt. 

Castration  auf  ausdrückliches  Verlangen  des  Mädchens 

hin. 

Fall  9:  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem  23jähr. 
Mädchen. 

Fall   10:   Beiderseitige   Herniotomie    bei  einem  3jähr. 

Mädchen.    Castration,  angeblich  um  späteren  sozialen 

Unannehmlichkeiten  vorzubeugen. 
P'all  1 1 :  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem  erwachsenen 

Mädchen:  erst  einerseits  der  Hoden  entfernt,  dann  auf 

ausdrückliches  Verlangen  des  Mädchens  hin  auch  der 

andere. 

Fall  12:  Bei  einem  2Sjähr.  Mädchen  trat  ein  rechtsseitiger 
Leistenbruch  auf,   Hoden   entfernt,  der   linke  durch 


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—    306  — 


Leistenschuitt,  im  Leistenkanal,  liegend  in  die  Bauch- 
höhle hineingestoßen.  Nach  kurzer  Zeit  trat  der  linke 
Hoden  heraus,  jetzt  wiederholter  Leistenschnitt  links, 
Abtragung. 

Fall  13:  Im  20.  Jahre  bei  linksseitiger  Herniotomie 
angeblich  labiale  Ovarialektopie  konstatiert,  nach  3 
Jahren  war  rcchterseits  ein  Hoden  herabgetreten  [keiue 
Operation]. 

Fall  14:  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem  21  jähr. 
Mädchen  bei  Diagnose  einer  Ovarialektopie.  Kastration: 
Hoden. 

Fall  15:  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem  21jährigen 
Mädchen. 

Fall  16:  Einseitige  Herniotomie  bei  einem  jungen  Mädchen 
bei  Diagnose  einer  Labialcystc:  als  Bruchinhalt  Netz, 
eine  Cyste  und  ein  Hoden,  die  entfernt  wurden.  Ander- 
seits Kryptorchismus. 

Fall  17:  Im  16.  Jahre  war  der  rechte  Hoden,  im  18. 
der  linke  herabgetreten.  Im  19.  Jahre  „erreur  de  sexe" 
vermutet,  Kastration. 

Fall  18:  Im  12.  Jahrenach  einem  Fall  linkerseits  Hoden 
herabgetreten,  später  der  rechte.  Im  33.  Jahre  beider- 
seitige Herniotomie  bei  der  verheirateten  Frau.  Diagnose: 
Ovarialektopie,  auch  nach  der  Kastration  die  Gebilde 
für  Ovarien  angesehen:  Mikroskop.:  Hoden. 

Fall  19:  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem  19jährigen 
Mädchen.    Kastration:  Hoden. 

Fall  20:  Im  19.  Jahre  rechtsseitige  Herniotomie,  im  20. 
linksseitige.    Hoden  entfernt. 

Fall  21:  Im  6.  Lebensjahre  Leistenbruch  rechts,  im  20. 
Jahre  links.  Im  32.  Jahre  linkerseits  Herniotomie. 
Nur  Hoden  und  Hydrocele  gefunden.  Die  dringend 
verlangte  rechtsseitige  Herniotomie  in  Dresden,  Halle, 
Leipzig  verweigert.  Im  59.  Jahre  Tod  infolge  Ein- 
klemmung des  rechtsseitigen  Bruches  (Inhalt  *?) 


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—   397  - 


Fall  22 :  Im  18.  Jahre  Leistenbruch  rechts,  im  28.  Jahre 
links  Herniotoraie  erst  einerseits,  später  auch  anderseits. 
Kastration.    Mikroskop:  Hoden. 

Fall  23:  Im  12.  Jahre  eine  angebliche  entzündete  Leisten- 
drüse linkerseits  entfernt,  nach  7  Jahren  mikroskopisch 
als  Hoden  erkannt.    Kechterseits  Krvptorchismus. 

Fall  2i:  Bei  einem  22jährigen  Mädchen  bei  vermuteter 
„Erreur  de  sexe"  beiderseits  diagnostischer  Labialeiu- 
schnitt  konservativ:  Hoden,  keine  Kastration. 

Fall  25:  Im  12.  Jahre  linkerseits  Leistenbruch,  im  23. 
Jahre  beiderseitige  Heruiotomie  bei  Diagnose:  Ektopie 
der  Uterusadnexa  beiderseits.  Nach  einem  Jahre 
Bruchrecidiv  linkerseits:  Jetzt  nur  linkes  Horn  eines 
Uterus  bicornis  und  linker  Hoden  entfernt,  auch  das 
früher  rechterseits  entfernteGebilde  erwies  sich  als  Hoden. 

Fall  26:  Rechterseits  Leistenbruch  im  frühen  Kindes- 
alter, linkerseits  in  der  Pubertät.  Im  23.  Jahre  beider- 
seitige Herniotomie:  Rechterseits  Hoden  und  Neben- 
hoden entfernt,  linkerseits  Bruchinhalt:  Ein  Harn- 
blasendivertikel.    Linkerseits  Krvptorchismus. 

Fall  27:  Im  18.  Jahre  linkerseits  Leistenbruch,  im  32. 
Jahre  Herniotomie  bei  vermuteter  ,Erreur  de  sexe" : 
Uterus  samt  linker  Tube,  Parovarialcyste  und  einer 
jetzt  für  ein  Ovarium  angesehenen  Geschlechtsdrüse 
entfernt:  Mikroskop.:  Hoden. 

Fall  28:  Beiderseitige  Herniotomie  im  42.  Jahre,  Hoden 
entfernt. 

Fall  29:  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einer  25jährigen 
Frau:  Kastration  bei  Diagnose:  Ovarialektopie.  Mikros- 
kop: Hoden. 

Fall  30:  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem  jungen 
Mädchen:  Kastration.    Mikroskop:  Hoden. 

Fall  31 :  Beiderseitige  Herniotomie  im  21.  Jahre  bei  an- 
geborenen Leistenbrüchen.  Diagnose:  Ovarialektopie. 
Kastration.    Mikroskop:  Hoden. 


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—    398  — 


Fall  32:  Tod  eines  Kindes  nach  einseitiger  Herniotomie 
[Bruchinhalt: Darm].  Sub  nekropsia  beiderseitiger  Krypta 
orchismus  gefunden. 

Fall  33:  Im  23.  Jahre  nach  Entleerung  einer  linksseitigen 
Hydrocele  Hoden  und  Nebenhoden  getastet  Der  andere 
Hoden  gleichfalls  in  scroto  fisso.  Konservative 
Operation. 

Fall  34 :  Beiderseitiger  diagnostischer  Labialeinschnitt  bei 
vermuteter  „Errcur  de  sexe*.  Hoden.  Konservative 
Operation. 

Fall  35:  Angeborener  linksseitiger  Leistenbruch,  im  14. 
Jahre  Herniotomie :  Hoden  entfernt. 

Fall  36 :  Beiderseitige  Herniotomie  (in  welchem  Lebens- 
jahre ?)  rechts  Hoden,  links  ein  Fibroadenom  entfernt. 

Fall  37:  Beiderseitige  Herniotomie  im  54  Jahre.  Kastra- 
tion: Hoden. 

Fall  38:  Beiderseitige  Herniotomie:  Kastration:  Hoden. 

Inhalt  des  echten  oder  vermeintlichen  Bruches. 

Auf  die  vorstehenden  38  Leistenschnitte  kam  also 
ein  echter  Bruch  nur  wenige  Male  vor: 

Fall  Pech  (Darminhalt),  Fall  Pozzi  (Uterushorn) 
Fall  Sänger  (Uterus),  Fall  Sänger  (Ein  Blasen- 
divertikel),  Fall  Stonham  (Darminhalt),  Fall  Lanne- 
longue  (Netz),  sonst  handelte  es  sich  bei  den  vermeint- 
lichen Brüchen  stets  um  Descensus  retardatus  oder  in 
einigen  Fällen  congenitus  eines  oder  beider  Hoden. 
Zweimal  führte  eine  Hydrocele  zur  Operation.  Fall 
Pech,  Fall  Swiencicki.  Was  das  Alter,  wann  der  an- 
gebliche Leistenbruch  entstand,  anbetrifft,  ist  leider  nur 
in  wenigen  Fällen  eine  Angabe  gemacht. 

4  mal  wurde  konservativ  operiert  in  den  Fällen  von 
Pozzi,  Swiencicki,  Tillaux,  Stonham. 


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7mal  wurde  nur  ein  Hodeu  entfernt:  Fälle: 
Jablonski,  Lannelongue,  Pech,  Pozzi,  Sänger, 
Sänger,  Turner, 

27mal  wurden  beide  Hoden  entfernt:  Fälle: 
Alexander  Av£ry,  Brycholow,  Brjuchanow, 
ßuchanan,  Chambers,  Clark,  Green,  Griffith, 
Groß,  Halloppeau,  Heuck,  Dixon-Jones,  Kociat- 
kiewicz,  Levy,  A.  Martin,  A.  Martin,  Ch.  Mar- 
tin, Philippi,  Pozzi,  Shattock,  Snegirjow, 
Sn egirjo w,  Solowij ,  Wegradt,  Will,  v.  Winckel- 

2  Operationen  betrafen  verheiratete  Frauen  :  Fälle  : 
A.  Martin,  Snegirjow,  1  eine  Witwe:  Fall  Clark, 
35  Operationen  an  Mädchen  im  Alter  von  3  bis  zu  54 
Jahren. 

Nur  in  sehr  wenigen  Fällen  war  eine  „Erreur  de 
sexe*  vor  der  Operation  erkannt  resp.  vermutet  worden, 
in  einem  Falle  vermutete  man  männliches  Geschlecht 
der  in  den  Schamlefzen  enthaltenen  Geschlechtsdrüsen 
wegen  ausgesprochenen  CremasterreHexs. 

Zweite  Gruppe. 

Vier  Leistenbrüche  bei  Frauen  resp.  2  als  Männer 
erzogenen  weiblichen  Schein  Zwittern. 

Im  Falle  Brohl  ein  linksseitiger  Leistenbruch  bei 
einem  3(3 jähr.  Fräulein,  seit  mehr  als  13  Jahren  be- 
stehend. Diagnose:  Ektopie  des  Uterus  und  linken 
Ovarium,  der  Bruch  enthielt  Uterus  bicornis,  beide  Tu- 
ben und  beide  Ovarien.  Kastration. 

Im  Falle  Sujetinow:  Incarceration  eines  rechts- 
seitigen Leistenbruches,  Operation,  Uterus,  Tuben  und 
Ovarium  in  hernia.  Dreimal  auf  diese  4  Fälle  „Erreur 
de  sexe"  konstatiert. 

Im  Falle  P£an  wurde  ein  12 jähriges  Mädchen 
für  einen  Knaben  erklärt,  mehrfache  operative  Eingriffe 
im  15.  Jahre  erwiesen  weibliches  Geschlecht. 


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—    4C0  — 


Jm  Fall  Waith  er  wurde  ein  Mädchen  noch  im 
Kindesalter  für  einen  Jungen  erklärt.  Beiderseitige  Her- 
niotomie  im  24.  Jahre  bei  dem  Manne.  Rechts  Ovarium 
und  Tube  in  hernia,  die  in  die  Bauchhöhle  geschoben 
wurden,  linkerseits  Mittelstück  einer  Sactosalpinx,  Ovar 
und  ein  Stück  Netz  abgetragen. 

Auf  diese  4  Fälle  kam  also  dreimal  ein  echter 
Bruch  und  zwar  zweimal  ein  einseitiger,  einmal  ein  beider- 
seitiger Bruch. 

Dritte  Gruppe. 

Dreizehn  Leistenbrüche  bei  Männern  resp.  männlichen 
Scheinzwittern  mit  Konstatierung  eines  Uterus. 

In  den  Fällen  Bill  roth,  Bockel,  Carle ,  D  erveau, 
Fantino,  Filippini,  Gulden  arm,  Sänger,  Pozzi, 
Thiersch  fand  man  einen  Uterus,  resp.  ein  Uterushorn 
resp.  eine  Tube  in  hernia  neben  dem  Hoden,  in  den 
Fällen  Winckler  und  Stonham  sub  nekropsia  früher 
oder  später  nach  Bauchoperationen  einen  Uterus  in  der 
Bauchhöhle,  im  Falle  Griff  ith  tastete  man  nach  Ent- 
fernung beider  Hoden  einen  Uterus.  Vier  von  diesen 
Männern  waren  als  Mädchen  erzogen  worden  (Fälle  von 
Griff  ith,  Pozzi,  Saenger  und  Stonham). 

Vierte  Gruppe. 

Betrachten  wir  nun  die  45  Einzel beobachtungen 
dieser  Gruppe  von  einzelnen  Gesichtspunkten  aus: 

Es  kommen  auf  diese  45  Fälle  nicht  weniger  als 
17  Fälle  von  „Erreur  de  sexe". 

11  Mädchen  als  männliche  Scheinzwitter  er- 
kannt: Fall  Abel,  Audain,  Bazy,  Delage- 
nidre,  Grub  er,  (sub  nekropsia),  Hausemann 
(Nekropsie  einer  82jührigen  Witwe),  Dixon-Jons, 
Mies,  Obolonskv,  Sncgirjow,  Westermann 
Nekropsie:  Hoden). 


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—    401  — 


*5  Mädchen  als  weibliche  Scheinzwitter  er- 
kannt: Fall  Bacaloglu  u.  Frossard,  Fehling, 
Hall,  Krug,  Litten,  Neugebauer. 

9  Männer  als  Schei nzwitter  erkannt :  Fall  Beck 
(21  jähriger  Mann  bis  zum  19.  Jahre  als  Mädchen  er- 
zogen) Carle,  Kapsammer,  Merkel,  Paton 
(Pyosalpinxoperation]  bei  einem  Mann),  Primrose, 
Stimson,  Stroebe,  Winckler. 

5  Männer  als  weibliche  Scheinzwitter  er- 
kannt: Fall  v.  Engelhardt  (sub  nekropsia  eines 
verheirateten  Mannes  Ovarien  und  Uteruscarcinom 
gefunden.)  Gunckel  (Geschlecht  eines  Mädchens  irr- 
tümlich für  männlich  erklärt,  sub  nekropsiaim  50.  Jahre: 
Ovarien),  Krabbe  1  (Ovariotonie  bei  einem  Manne), 
Pe*an,  Pozzi  (Ovariotomie  bei  einem  verheirateten 
Manne. 

11  mal  blieb  das  Geschlecht  fraglich: 

a)  Trotz  operati  ver  E r ö  f f n  ung  der  Bauchhöhle: 
ITowitz,  Neugebauer,  v.  Saexinger  und  E. 
Levy,  Pfannenstiel,  Sorel  u.  Ch<5rot,  Unter- 
berger:  6  mal, 

b)  Trotz  Nekropsie:  Chevreuil,  Howitz,  Lesser, 
v.  Saexinger  u.  E.  Levy,  Sorel  und  Che>ot, 
Zahorski:  6mal, 

c)  bei  klinischer  Untersuchung:  Levy,  Lieb- 
mann, Quisling:  3mal. 

lraal  angeblich  wahres  Zwittertum  einer  Geschlechts- 
drüse erkannt:  Fall  von  v.  Sal<5n. 
Da  von  diesen  45  Beobachtungen  2  bereits  in  der 
1.  Gruppe  (No.  14  Di xon -Jones  und  No.  30 
Snegirjow)  und  1  in  der  11.  Gruppe  (No.  2  P£an\ 
mitgezählt  sind,  so  kommen  nur  42  Beobachtungen  hier 
zur  statistischen  Verwertung :  auf  diese  42  Fälle  wurden 
9 mal  männliches  Scheinzwittertum  bei  Mädchen  und 
5  mal  weibliches  Scheinzwittertum  bei  Männern  konsta- 

.Ubrbuch  V.  26 


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—    402  — 


tiert,  also  im  ganzen  14  mal  eine  erreur  de  sexe,  11  mal 
blieb  das  Geschlecht  fraglich. 

8  mal  konstatierte  man  einen  mehr  oder  weniger  ent- 
wickelten Uterus  samt  Tuben  event.  Ligamenten  bei 
männlichen  Scheinzwittern.  1  mal  einen  Harnstein  in 
utriculo  masculino  (Fall  Kapsammer). 

32nial  fand  sich  Coincidenz  des  Scheinzwitter- 
tums  mit  gut-  oder  bösartigen  Neubildungen: 
Fall  1  (A  bei):  Sarkomatoese  Cryptorchis  sinistra  [rechter- 

seits  Hoden  und  Nebenhoden  im  LeistenkanalJ  bei  einem 

33jähr.  Mädchen. 
Fall  2  (Au  da  in):  2  Ovarialdermoide  bei  einem  weib- 
lichen Scheinzwitter. 
Fall  5  (Beck):  2 Teratome  der  Hoden  bei  einem  bis  zum  19. 

Jahre  als  Mädchen  erzogenen  männlichen  Scheinzwitter. 
Fall  7  (Chevreuil):  Multilokularer  Ovarialtumor  (?)  bei 

einem  Scheinzwitter. 
Fall  10  (v.  Engelhardt):  Carcinoma  uteri  eines  59jähr. 

als  Mann  verheirateten  weiblichen  Scheinzwitters. 
Fall  11  (Fehling):    Myxosarcoma  eines  Ovarium  bei 

einem  26jähr.  Scheinzwitter. 
Fall  12  (Grub er):  Carcinom  eines  Hodens  bei  beider- 
seitigem Kryptorchismu8   eines  22jähr.    als  Mädchen 

erzogenen  männlichen  Scheinzwitters. 
Fall  13  (Gunckel):  Myomatosis  uteri  bei  einem  50 jähr. 

weiblichen   Scheinzwitter,  der  irrtümlich   früher  für 

einen  Mann  erklärt  worden  war. 
Fall  14  (Hall):   Carcinoma  ovarii   unius  eines  17jähr. 

weiblichen  Scheinzwitters. 
Fall  15  (Hansemann):  Carcinom  der  Harnblase  eines 

82jähr.  männlichen  Scheinzwitter,  der  als  Frau  verheiratet 

gewesen  war. 

Fall  IG  (Howitz):    Myomatosis   uteri  bei  fraglichem 
Geschlecht. 

Fall  19  (Krabbel):  Cystosarcom  eines  Ovarium,  später 


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—    403  — 


ein   neues  Gewächs:  Teratom  —  bei  einem  als  Mann 

erzogenen  weiblichen  Scheinzwitter. 
Fall  20  (Krug):   2  Ovarialsarkome  bei   einem  ltyähr. 

weiblichen  Scheinzwitter. 
Fall  21  (Lesser):  Alveolarsarkom  (des  Uterus?)  eines 

25jähr.  als  Mädchen  erzogenen  Scheinzwitters.  Geschlecht 

fraglich. 

Fall  22  (Levy):  Unterleibstumor  fraglicher  Natur  bei 

einem   lbjähr.  als   Mädchen  erzogenen  Scheinzwitter 

fraglichen  Geschlechts. 
Fall  23  (E.  Levy  —  v.  S  ä  x  i  n  g  e  r) :  Maligne  Degeneration 

der  in  der  Bauchhöhle   liegenden  Geschlechtsdrüsen 

eines  20jähr.  als  Mädchen  erzogenen  Scheinzwitters  von 

fraglichem  Geschlecht. 
Fall   24   (Liebmann):     Inguinolabialtumor  fraglicher 

Natur  [cystisch?]  bei  einem  45jähr.  als  Frau  verheirateten 

Scheinzwitter  fraglichen  Geschlechts. 
Fall  25  (Litten):   Myxosarkom   des  rechten  Ovarium 

eines  lbjähr.  weiblichen  Scheinzwitters. 
Fall  2ö  (Merkel):  Carcinoma  recti  eines  63jähr.  männ- 
lichen Scheinzwitters. 
Fall   27   (Mies):   Unterlippenkrebs    eines    66jähr.  als 

Mädchen  erzogenen  männlichen  Scheinzwitters. 
Fall  28  (Neugebauer) :  Carcinoma  ovarii  unius  et  uteri 

eines  56jähr.  weiblichen  Scheinzwitters. 
Fall  29  (Neugebauer):  Sarkom  einer  Geschlechtsdrüse 

bei  einer  verheirateten  Frau,  wahrscheinlich  Sarkoma 

cryptorchidis. 

Fall  30  (Obolonsky):  Sarkom  des  rechten  Hodens  eines 
56jähr.  als  Mädchen  erzogenen  männlichen  Scheinzwitters. 
Kryptorchismus  bi lateralis. 

Fall  32  (Pfannenstiel):  Fibromyoma  uteri  eines  55-jäh- 
rigen als  Mädchen  erzogenen  Scheinzwitters  von  frag- 
lichem Geschlecht. 

Fall  34  (Pr  im  rose):  Sarkom  eines  Hodens  eines  25-jäh- 

26* 


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1 


—    404  — 


rigen  männlichen  Scheinzwitters  bei  Kryptorchismus 
bilateralis. 

Fall  3t>  v.  (Sälen):  Fibroruyoma  uteri  eines  43-jähr.  als 
Mädchen  erzogenen  Scheinzwitters,  angeblich  ein  Ova- 
rium  links  gefunden,  rechts  eine  Ovotestis. 

Fall  38  (Sorel  u.  Ch(?rot):  Carcinom  des  Blinddarms 
eines  36-jährigen  als  Mädchen  erzogenen  Scheinzwitters, 
von  fraglichem  Geschlecht 

Fall  39  (Stimsou):  Sarkom  des  linken  Hodens  eines 
4oj  ährigen  männlichenScheinzwitters.  Cryptorchissiuistra. 

Fall  40  (Stroebe):  Carcinoma  oesophagi  eines  63-jähr 
männlichen  Sch  ei  uz  wittere.,  beiderseits  Cryptorchismus. 

Fall  41  (Unterberge r):  Sarkom  eines  Ovarium  eines 
14-jährigen  als  Mädchen  erzogenen  Scheinzwitters  vou 
fraglichem  Geschlecht. 

Fall  44  (Zahorski):  Sarkom  einer  Geschlechtsdrüse  in 
der  Bauchhöhle  belegen  bei  einem  25jähr.  als  Mädchen 
erzogenen  Scheinzwitter  fraglichen  Geschlechts. 

Fall  45  (Pozzi):  Ovarialtumor  bei  einem  als  Mann  ver- 
heirateten weiblichen  Scheinzwitter. 


Auf  diese  32  Fälle  kommen: 
Carcinom       des  Ovarium:  Fall  14,  28 

des  Hodens:  Fall  12, 
des  Uterus:  Fall  10,  Fall  28, 
des  Rectum :  Fall  2t), 
der  Harnblase:  Fall  15, 
des  Blinddarms:  Fall  38, 
des  Oesophagus:  Fall  40, 
der  Unterlippe:  Fall  27, 
Sarkom    eines  Ovarium:  Fall  11,  19,  20,  25, 

einer  Cryptorchis:  Fall  1,  30,  34,  39, 
des  Uterus:  Fall  21. 
Maligne  Degeneration    fraglicher  Geschlechts- 
drüsen: Fall  23,  29,  41,  42. 


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—    405  — 


Dermoide        der  Ovarien:  Fall  2. 
Teratome      der  Hoden:  Fall  5. 

Multilokulare    Cysten    einer    fraglichen  Ge- 
schlechtsdrüse: Fall  7. 
Myomatosis  uteri:    Fall  13,  16,  31,  30. 
Tumoren  fraglicher  Natur:    Fall  22,  Fall  24. 
Welcher    Art    Operationen    wurden    in  diesen 

45  Fällen  vollzogen? 

Nephrolithotomie:  Fall  8. 

Pyosalpinxoperation  mit  Bauchschnitt  bei  einem  Manne: 

Fall  31. 
Harnsteinoperation:  Fall  18. 
Bauchschnitt  wegen  Darmocclusion:  Fall  43. 
Bauchschnitt  wegen  Appendicitis:  Fall  3,  4  —  in  einem 

dritten  und  4.  Falle  von  Appendicitis  (Fall  35  u.  42) 

wurde  nicht  operiert. 
Diagnostischer  Bauchschnitt  hei  zweifelhaftem  Geschlecht: 

im  Falle  9  mit  Entfernung  des  Hoden,  im  Falle  33 

der  Ovarien,  Konservativ:  Fall  37,  Fall  6,  17. 
Amputation  des  myomatösen  Uterus:    Fall  16,  32,  36. 
Bauchschnitt  bei  Carcinom  des  Blinddarmes:  Fall  38. 
Bauchschnitt  mit  Exstirpation  von  Ovarialtumoren:  Fall 

2,  11,  14,  19,  20,  45. 
Bauchschnitt  mit  Exstirpation  von    Hodentumoren  bei 

Kryptorchismus:  Fall  5,  29,  34,  39. 
Bauchschnitt  mit  Exstirpation  von  Tumoren  fraglicher 

Geschlechtsdrüsen:    Fall  23,  29,  41. 
Paracentese  von  Bauchhöhlentumoren  durch  die  Bauch- 
wand:   Fall  11,  44. 
Paracentese    einer   als    Haematometra  angesprochenen 

Cryptorchis  sinistra  per  vaginam:    Fall  1. 
Entleerung  einer  Hydrocele  durch  Paracentese:   Fall  34. 

Auf  diese  45  Beobachtungen  kommen  26  Fälle,  wo 
nicht  operiert  wurde,  sondern  das  Scheinzwittertum  nur 


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-    406  — 


a)  klinisch  oder  b)  sub  nekropsia  koustatiert  wurde, 
a:    Fall  22,  24,  27,  28,  35,  =  5  mal. 
b:    Fall  7,  10,  12,  13, 15,  21,  25,  26,  30,  40,  42,  = 
11  mal. 

Scheinzwitter  wurde  sub  nekropsia  nach  tötlich  ver- 
laufener Operation  konstatiert: 

Fall  1,  3,  5,  8,  10,  23,  34,  38,  43,  44  =  10  mal. 

Fünfte  Gruppe: 

Auf  die  hierher  gehörigen  23  Einzelbeobachtungen 
kommen: 

Verlangte  aber  abgeschlagene  Amputation  der  angeblichen 
hypertrophischen  Clitoris:    Fall  2,  7,  9,  12,  14. 

Ausgeführte  Amputation  der  hypertrophischen  Clitoris: 
Fall  4  und  11. 

Ausgeführte  Amputation  des  irrtümlich  für  eine  hypertro- 
phische Clitoris  angesehenen  hypospadischen  Penis: 
Fall  6,  17  (?)  22. 

Es  kommen  auf  diese  Gruppe  8  Fälle  von  konstatierter 
„erreur  de  sexe"  Fall  5,  6,  7,  8,  9  (?),  12,  14,  17, 

Fraglich  blieb  das  Geschlecht:    Fall  2,  13,  18,  23. 

Männliches  Scheinzwittertum  im  Fall:  5,  6,  7,  8,  9,  12, 
14,  17,  22. 

Weibliches  Scheinzwittertum  im  Fall:  3,  4,  10,  11,  15, 
16,  19,  20,  21. 

Eine  Discision  einer  Schamlefzenverwachsung  bei  weib- 
lichen Scheinzwittern  wurde  vorgeschlagen  Fall  16,  aus- 
geführt in  Fall  10,  11,  15,  20,  21.  Dieselbe  Operation 
wurde  einem  männlichen  Scheinzwitter  vorgeschlagen: 
Fall  17. 

Im  Falle  2  wurde  angeblich  ein  Hämntokolpometradureh 

Einschnitt  vom  Damme  aus  entleert. 
Einmal  wurde  wegen  Atresia  ani   bei   einem  Neonaten 

operiert  mit  tötlichem  Ausgange:   Fall  3,  einmal  mit 

gutem  Ausgange,  Fall  23. 


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—   407  — 


Einmal  wurde  ein  Hysteroekpetasis  gemacht  bei  frag- 
lichem Geschlecht:  Fall  18. 

Einmal  vergeblicher  Versuch  zwischen  Urethral-  und  Anal- 
mündung eine  Vagina  zu  schaffen:  Fall  19. 

Sechste  Gruppe. 

Bezüglich  der  in  der  VI.  Gruppe  erwähnten  plasti- 
schen Hypospadieoperationen  an  männlichen  Schein- 
zwittern ist  zu  bemerken,  daß  eine  „erreurde  sexe"  vorlag 
in  den  Fällen  von  Beck,  Brand,  Castellana,  Felizet, 
Garr£,  Krajewski,  Malthe,  Villemin. 

Zum  Schluß  bleibt  noch|  Folgendes  zu  bemerken: 

1.  Die  gesamte  Kasuistik  dieser  Arbeit  von 
137  Beobachtungen  erstreckt  sich,  da  einzelne 
Beobachtungen  in  mehreren  Gruppen  figurieren, 
auf  118  Scheinzwitter,  wovon 

männlichen  Geschlechts :  79, 
weiblichen  Geschlechts:  23, 
fraglichen  Geschlechts:  16. 

Auf  diese  118  Scheinzwitter  kommen  53  irrtümliche 
Geschlechtsbestimmungen,  darunter  merkwürdigerweise 
2  Fälle,  wo  das  Geschlecht  bei  der  Taufe  des  Kindes 
richtig  als  weiblich  angegeben  war,  später  aber  irrtümlich 
für  männlich  erklärt  worden  war  (Fälle  von  Po"  an 
und  von  Gunc  kel). 

2.  Sind  die  zur  Nekropsie  gelangten  Fälle  zu 
vermerken  : 

a)  Todesfälle  nach  vorausgegangener  Operation :  aus 
Gruppe  III;  Fall  1  (Billroth)  Verblutungstod  nach 
Herniotomie,  Fall  12  (Thiersch)  Tod  nach 
Herniotomie  an  Peritonitis,  Fall  13  (Winckler)  Tod 
nach  ßauchsehnitt  an  Peritonitis.  Aus  Gruppe  IV: 
Fall  1  (Abel)  Tod  an  Peritonitis  nach  vaginaler 
Paracentese  einer  Kryptorchis  sinistra  sarcomatosa« 
Fall  3  { Bacaloglu  und  Fossard)  Tod  an  Peritonitis 


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—    408  — 


nach  Appendicitis-Bauchschnitt,  Fall  5  (Beck)  Tod 
infolge  von  Pneumonie  3  Wochen  nach  Bauchschnitt 
Fall  8  (Clark)  Tod  nach  Nephrolithotomie,  Fall  16 
(Howitz)  Tod  an  Peritonitis  nach  Bauchschnitt 
Fall  23  (Levy  —  v.  Saexinger)  Tod  an  Peritonitis 
nach  Bauchschnitt  ohne  Entfernung  des  Tumors, 
Fall  34  (Primrose)  Tod  an  Peritonitis  nach  Bauch- 
schnitt bei  Hodensarkom,  Fall  36 (E.  v.  Sal£n)  Tod 
an  Peritonitis  nach  Amputation  eines  myomatösen 
Uterus,  Fall  38  (E.  Sorel  und  Ch^rot)  Tod  nach 
explorativem  Bauchschnitt  bei  Blinddarmcarcinom. 
Aus  Gruppe  V:  Fall  3  (Mc.  Arthur)  Tod  nach 
Operation  wegen  Atresia  ani. 

b)  14  Todesfälle  ohne  vorausgegangene  chirurgische 
Eingriffe : 

Gruppe  1  Fall  21.  (Pech)  Tod  infolge  Einklemmung 
des  rechtsseitigen  Leistenbruchs,  dessen  operative 
Beseitigung  verweigert  worden  war. 

Gruppe  IV  Fall  7  (Chevreuil)  Tod  infolge  eines 
Ovarial-  resp.  Hodentumors.  Fall  10  (v.Engelhardt) 
Tod  infolge  von  Uteruscarcinom.  Fall  12  (Gruber) 
Tod  infolge  eines  Hodencarcinoms.  Fall  13  (Gun- 
ckel)  Tod  aus  unbekannter  Ursache.  Fall  15 
(Hanseraann)  Tod  infolge  von  Blasenkrebs.  Fall 
21  (Lesser)  Tod  infolge  von  Blutung  in  der  Bauch- 
höhle nach  spontaner  Ruptur  eines  Tumors.  Fall  25 
(Litten)  Tod  infolge  Myxosarcoma  ovarii  unius.  Fall 
26  (Merkel)  Tod  infolge  Carcinoma  recti.  Fall  30 
(Obolonski)  Tod  infolge  eines  Hodensarkoms. 
Fall  30  (Ströhe)  Tod  infolge  eines  Carcinoma 
oesophagi.  Fall  41  (West ermann)  Tod  infolge 
von  Appendicitis  ulcerosa.  Fall  44  (Zahorski)  Tod 
infolge  von  Kachexie  bei  Sarkom  einer  Geschlechts- 
drüse. 


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—    409  — 


Gruppe  V.  Fall  2  (Arnaud)  Tod  aus  unbekannter 
Ursache. 

Indem  ich  mir  vorbehalte,  in  nächster  Zukunft  das  hier 
zusammengestellte  kasuistische  Material  auch  in  Beziehung 
auf  andere  als  chirurgische  Beziehungen  zu  sichten,  schließe 
ich  diese  heutige  Arbeit,  die  hoffentlich  dazu  beitragen 
wird,  dem  Gebiete  des  Scheinzwittertums  auch  in  weiteren 
Arztekreisen  ein  regeres  Interesse  zu  widmen.  Wenn 
wir  auch  in  den  wenigsten  Fällen  dem  physischen  Ge- 
brechen Abhilfe  schaffen  können,  so  können  wir  doch  viel 
dazu  beitragen,  diese  unglücklichen  Existenzen,  die  Schein- 
zwitter vor  den  psychischen  Leiden  und  Qualen  zu  be- 
wahren, die  aus  einer  irrtümlichen  Geschlechtsbestimmung 
erwachsen ! 

An  sämtliche  Fachgenossen  richte  ich  die  Bitte,  jede 
neuere  zu  ihrer  Kenntnis  gelangende  Beobachtung  von 
Scheinzwittertum  möglichst  eingehend  beschrieben,  mir 
übermitteln  zu  wollen,  womöglich  mit  Photogrammen 
und  Berücksichtigung  aller  in  Frage  kommenden  Einzel- 
heiten. 

Dr.  med.  Franz  Neugebauer. 

Warschau,  Leszno  33,  am  3.  Februar  1903. 


Inhaltsübersicht. 


Erste  Gruppe. 

38  Leistenschnitte  bei  Mädchen,  bez.  Frauen  mit  Konstatierung 

männlichen  Geschlechtes. 

1.  Fall  von  Alexander:  Klara  D.,  16 jährig,  im  13.  Jahre  links- 
seitige Herniotomie  durch  Erasmus ,  im  16.  Jahre  rechtsseitige 
durch  Hahn:  Beiderseits  Hoden  und  Nebenhoden  abgetragen. 
Vagina  vorhanden  ohne  Uterus,  Gonorrhoe,  Beischlaf  mit 
Männern. 


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—    410  — 


2.  Fall  von  Avery:  Einseitige  Herniotoraie  der  24jährigen  Ann y 
C:  Hoden  entfernt.    Vagina  vorhanden  ohne  Uterus. 

8.  Fall  von  Brycholow:  Beiderseitige  Herniotoinie  bei  der  14- 
jährigen  Marie  X. 

4.  Fall  von  Brjuchanow:  Beiderseitige  Herniotoinie  bei  einem 
14jährigen  Mädchen:  beide  Hoden  entfernt. 

5.  Fall  von  Buchanan:  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem 
9jährigen  Mädchen:  beide  Hoden  entfernt.  Vagina  von  nor- 
maler Länge  vorhanden  ohne  Uterus.  B.  vermutete  richtig  eine 
erreur  de  sexe  wegen  vorhandenen  Cremasterrcflexes  an  den 
.Schamlefzen. 

6.  Fall  von  Chambers:  Beiderseitige  Herniotoraie  bei  einer  24- 
jährigen  Frau:  beide  Hoden  entfernt  Vagina  vorhanden,  ohne 
Uterus. 

7.  Fall  von  Clark:  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einer  42jährigen 
Witwe:  beide  Hoden  entfernt.  Beischlaf  mit  dem  Gatten. 
Vagina  vorhanden  ohne  Uterus. 

8.  Fall  von  Green:  Konstatierung  der  errettr  de  sexe  bei 
einem  24jährigen  Dienstmädchen.  Kastration  auf  das  aus- 
drückliche Verlangen  des  .Scheinzwitters  hin. 

9.  Fall  von  Griffith;  Beiderseitige  Horniotomie  bei  einem  23- 
jährigen  Mädchen:  beide  Hoden  entfernt.  Uterus  und  Vagina 
vorhanden. 

10.  Fall  von  Groß:  Doppelseitige  Herniotomie  bei  einem  3jährigen 
Mädchen:  beide  Hoden  entlernt. 

11.  Fall  vou  Hallopeau:  Konstatierung  der  erreur  de  sexebei 
einem  Mädchen  nach  Exstirpation  eines  Hodens.  Auf  das 
ausdrückliche  Verlangen  der  Person  hin  wurde  auch  der  an- 
dere Hoden  entfernt.   Vagina  vorhanden  ohne  Uterus. 

12.  Fall  von  Ho  tick:  Bei  einem  28jährigen  Dienstmädchen  rechts- 
seitiger Leistenbruch:  Netz  als  Inhalt  vermutet  —  Hoden  und 
Nebenhoden  entfernt.  Später  auch  der  linke  Hoden  entfernt. 
Vagina  vorhanden  ohne  Uterus.  Beischlaf  mit  Männern  ohne 
Libido. 

13.  Fall  von  Jablonski:  Bei  der  28 jähr.  Anna  Luise  E.  kon- 
statierte J.  die  Gegenwart  eines  Hodens  und  schließt  daraus, 
daß  auch  die  sub  herniotouiia  8  Jahre  zuvor  in  hemia  vorge- 
fundene Geschlechtsdrüse,  für  ein  ektopisches  Ovarium  damals 
angesehen,  ein  Hoden  gewesen  sei. 

14.  Fall  von  Dixon  Jones:  Beiderseitige  Herniotoinie  bei  der 
21  jähr.  Emma  E.  und  diagnostischer  Bauchsehnitt:  beide  Ho- 
den entfernt.    Vagina  vorhanden  ohne  Uterus. 


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—    411  — 


15.  Fall  von  Kociatkiewicz- Neugebauer:  Beiderseitige  Her- 
niotomie  bei  der  21jährigen  verlobten  Josephine  K.,  beide 
Hoden  durch  Kociatkiewicz  entfernt  Vagina  vorhanden 
ohne  Uterus.  Nach  der  Kastration  starke  Obesität  und  Me- 
lancholie. 

IG.  Fall  von  Lannelongue:  Einseitige  Herniotomie  bei  einem 
jungen  Mädchen:  (Notzinhalt)  Unterhalb  des  Bruches  eine 
Cyste  in  der  Schamlefze  und  darüber  ein  Hoden,  der  entfernt 
wurde.   Vagina  vorhanden  ohne  Uterus. 

17.  Fall  von  Levy:  Bei  der  19jährigen  Näherin  Chr.  L.  vermutete 
Doederlein  Hoden  als  Bruchinhalt.  Beiderseitige  Herniotomie: 
beide  Hoden  entfernt.   Vagina  vorhanden  ohne  Uterus. 

18.  Fall  von  A.  Martin:  Bei  einer  38jährigen,  seit  10  Jahren  ver- 
heirateten Frau  entfernte  Martin  sub  diagnosi  einer  beider- 
seitigen Ovarialektopie  beide  Hoden.  Erst  das  Mikroskop 
klärte  den  Irrtum  auf.   Vagina  vorhanden  ohne  Uterus. 

19.  Fall  von  A.  Martin:  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem  19- 
jährigen  Hausmädchen  Martha  W.:  beide  Hoden  entfernt. 
Vagina  vorhanden  ohne  Uterus. 

20.  Fall  von  Chr.  Martin:  Bei  einem  20 jähr.  Kindermädchen 
hatte  man  vor  einem  Jahre  sub  herniotomia  rechterseits  ein  fUr 
ein  ektopisches  Ovariura  gehaltenes  Gebilde  in  die  Bauchhöhle 
geschoben.  Jetzt  Herniotomie  links,  ein  Hoden  entfernt.  Scheide 
vorhanden  ohne  Uterus. 

—  Fall  von  Munde:  In  der  Vermutung  einer  erreur  de  sexe 
schlug  M.  der  46jähr.  Köchin  Marie  O'Neill  den  beiderseitigen 
Leistenschnitt  vor,  es  kam  jedoch  nicht  zur  Operation.  Vagina 
vorhanden,  ohne  Uterus. 

21.  Fall  von  Pech:  Linksseitige  Herniotomie  bei  der  32jährigen 
Marie  Rosine,  dem  späteren  Gottlieb  Goettlich:  der 
Bruch  enthielt  weder  Darm  noch  Netz  sondern  eine  Hydroeele 
und  einen  Hoden.  Im  69.  Jahre  Tod  infolge  Einklemmung 
eines  rechtsseitigen  Leistenbruches.  Rosine  huldigte  der  freien 
Liebe,  erkrankte  zuerst  an  einem  Ulcus  molle,  später  an 
Syphilis.  Sie  kohabitierte  mit  Frauen  und  mit  Männern,  mit 
letzteren  lieber.  Die  diktierte  Urethra  vertrat  die  angeblich 
mangelnde  Vagina. 

22.  Fall  von  Philippi:  Bei  einem  28  jährigen  Mädchen  erst  rechts- 
seitige, nach  einigen  Monaten  linksseitige  Herniotomie:  beide 
Hoden  entfernt.    Vagina  vorhanden  ohne  Uterus. 

23.  Fall  von  Poore:  P.  entfernte  bei  einem  12jähr.  Mädchen  eine 
angebliche  entzündete  Drllse  durch   Leistenschnitt,    7  Jahre 


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—    412  — 


später  erhärtete  das  Mikroskop,  daU  diese  Drüsen  ein  Hode  war. 
Vagina  vorhanden,  ohne  Uterus. 

21.  Fall  von  Porro:  bei  einem  22 jähr.  Mädchen  vermutete  P.  eine 
erreur  de  sexe,  legte  durch  diagnostischen  Einschnitt  beide 
Drüsen  bloü,  konstatierte  Hoden,  die  er  nicht  exstierpierte. 

2"».  Fall  von  Pozzi:  Bei  einem  32jährigen  Stubenmädchen  Marie 
C.  diagnosticierte  Po y  rot  einen  beiderseitigen  Leistenbruch 
mit  Diagnose  einer  Ektopio  der  beiderseitigen  Uterusadnexa 
bei  fehlendem  Uterus.  Beiderseitige  Herniotomie:  Linkerseits 
eine  Cyste,  ftir  Hydrosalpinx  angesehen,  ein  Gebilde  für  ein 
ektopisches  Ovarium  angesehen  und  ein  Körperchen  für  einen 
rudimentären  Uterus  angesehen.  Cyste  reseciert,  Uterus  und 
Ovarium  in  die  Bauchhöhle  gestoßen.  Rechterseits  2  nicht 
reponible  Gebilde  abgeschnitten,  eine  Cyste  und  eine  Drüse, 
für  das  rechte  Ovarium  angesehen.  Nach  1  Jahr  Bruchrecidiv 
linkerseits.  Jetzt  operierte  Pozzi  und  entfernte  den  Bruch- 
inhalt: 2  Gebilde:  den  linksseitigen  Hoden  und  das  linke  Horn 
eines  Uterus  bicornis.  Das  Mikroskop  wies  nach,  daü  auch  die 
rechtsseitige  von  Peyrot  entfernte  Geschlechtsdrüse  ein  Hoden 
war.  Vagina  und  Uterus  vorhanden.  Nach  der  ersten  Operation 
erwachte  der  Geschlechtstrieb  und  zwar  ein  weiblicher,  gleich- 
zeitig stellte  sich  Melancholie  ein,  die  nach  der  zweiten  Operation 
noch  znnahm.  Hymen  eingerissen  bei  einer  Stupration  im  8. 
Lebensjahre. 

26.  Fall  von  M.  Saenger:  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem 
23  jähr.  Dienstmädchen  sub  diagnosi :  Ovarialhernie.  Rechter- 
seits  Hoden  und  Nebenhoden  entfernt,  im  linksseitigen  Bruchsack 
ein  Blasendivertikel.   Scheide  vorhanden  ohne  Uterus. 

27.  Fall  von  M.  Saenger:  Bei  einer  32  jähr.  Lehrerin  vermutete 
S.  bei  linksseitigem  Leistenbruch  eine  „erreur  de  sexeu,  Hoden 
mit  Hydrocele,  fand  aber  bei  der  Herniotomie  einen  Uterus 
samt  Tube,  eine  Parovarialcyste  und  eine  Geschlechtsdrüse, 
die  er  jetzt  makroskopisch  für  ein  Ovarium  ansprach.  Das 
Mikroskop  erwies  einen  Hoden.  Bruchinhalt  entfernt  mit 
Uterusamputation.   Uterus  und  Vagina  vorhanden. 

28.  Fall  von  Shattock:  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem 
12jährigen  Scheinzwitter:  Beide  atrophischen  Hoden  entfernt. 
Nach  der  Kastration  starke  Obesität. 

29.  Fall  von  Snegirjow:  Bei  einer  2öjähr.  verheirateten  Köchin 
beiderseitige  Herniotomie :  beide  Hoden  entfernt.  Vagina  vor- 
handen ohne  Uterus.  Beischlaf  mit  dem  Gatten  anfangs  cum 
libidine,  später  perhorreseiert. 


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—    413  — 


30.  Fall  von  Snegirjow:  Beiderseitige  Herniotoinie  bei  einem 
Mädohen:  beide  Hoden  entfernt.  Diagnostischer  Bauchschnitt 
hinzugefügt. 

Hl.  Fall  von  Solowij:  Beiderseitige  Herniotoinie  bei  einem  21- 
jährigen  Mädchen  bei  Diagnose:  Ovarialhernien.  Beide  Hoden 
ontfernt.   Vagina  vorhanden  ohne  Uterus. 

32.  Fall  von  S  ton  harn:  Tod  eines  Mädchens  nach  Horniotomie. 
In  der  Bauchhöhle  neben  Hoden  ein  Utorus  bicornis  mit  2 
Tuben  gefuuden,  Vagina  existierte. 

—  Fall  von  Stratz:  S.  vermutete  eine  erreur  de  sexe  bei 
Nainbrok  Sadinah  und  schlug  einen  diagnostischen  Leisten- 
(resp.  Labial-)  einschnitt  vor,  Operation  vorweigert. 

33.  Fall  von  Swioncioki:  Labialtumor  linkerseits  bei  einem  23- 
jährigen  Bauernmädchen:  Hydrocele,  Punktion,  Entleerung, 
Hoden,  Nebenhoden  und  Samenstrang  getastet,  gleiche  Gebilde 
in  der  rechten  Schamlefze.  Gescbleohtsdrang  männlich,  schon 
im  16.  Jahre.   Beischlaf  mit  einem  Mädchen  versucht.  Vagina  V 

31.  Fall  von  Tillaux:  Bei  einem  12jährigen  Mädchen  beider- 
seitiger Leistenbruch:  T.  sollte  ein  Bruchband  anlegen,  ver- 
mutete erreur  de  sexe.   Diagnostischer  Labialschnitt.  Hoden 

3ö.  Fall  von  Turner:  Bei  einem  14jährigen  Mädchen  linksseitige 
Uvarialhernie  diognosticiert,  Bruchband  nicht  vertragen,  Her- 
niotomie  mit  Entfernung  eines  Hodens.  Vagina  vorhanden 
ohne  Uterus,  noch  keinerlei  Geschlechtstrieb. 

3G.  Fall  von  Wegradt:  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem 
Mädchen:  rechterseite  ein  Hoden  entfernt,  linkerseits  ein  Fi- 
bn.  :idenom. 

37.  Fall  von  Will:  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem  51jährigen 
Mädchen  Kristine  W.:  beide  fibrös  entarteten  Hoden  ent- 
fernt. Vagina  vorhanden  ohne  Uterus.  Geschlechtsdrang 
männlich,  aber  K.  S.  hatte  niemals  einen  Beischlaf  mit  einem 
Weibe  versucht,  sondern  stets  nur  mit  Männern  unter  Benutzung 
der  dadurch  stark  dilatierten  Urethra,  obgleich  eine  Vagina  vor- 
handen war. 

3S.  Fall  von  v.  Winckel:  (?)  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem 
Mädchen.    Entfernung  beider  Hoden. 

Zweite  Gruppe: 

Vier  Leistenschnitte  bei  weiblichen  Scheinzwittern,  von 
denen  2  als  Männer  erzogen  waren. 

1.  Fall  von  Brohl:  Bei  einer  SGjährigen  Dame   linksseitige  Her- 
niotomie: Uterus  und  beide  Ovarien  im  Bruchsaeke.  L'terus- 


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—   414  — 


amputation  und  Kastration.  Uterus  bicornis.  Clitoris  6,5  cm, 
sub  erectione  11  cm  lang.  Seit  dem  18.  Jahre  normale  Men- 
struation. 

2.  Fall  von  Pean:  Ein  löjähr.  Mädchen  wurde  für  einen  Knaben 
erklärt  mit  Kryptorchismus.  Beiderseits  Leistenschnitt,  um  die 
Hoden  aufzusuchen.  Bei  späterem  diagnostischen  Bauchschnitt 
Uterus  und  Ovarien  konstatiert.  Kastration.  Mangel  der  Vagina. 
Clitoris  erectil.    Männlicher  Stimmbruch.    Keine  Menstruation. 

.'5.  Fall  von  Sujetinow:  Herniotomie  rechterseits  wegen  einge- 
klemmten Leistenbruches  bei  einer  4öjähr.  Frau.  Vagina  blind- 
sackförmig geschlossen,  in  hernia  Uterus,  eine  Tube  und 
Ovarium.  Clitoris  h  cm  lang.  Nur  2  Jahre  lang  Menstruation 
und  sehr  unregelmäßig.  ( '{  V  V) 

1.  Fall  von  Walther:  Beiderseitige  Herniotomie  bei  einem  21- 
jährigen  Sattler:  rechtsseits  Tube  und  atrophisches  Ovarium  in 
die  Bauchhöhle  reponiert,  linkerseits  Sactosalpinx,  seierotisches 
Ovarium  und  ein  Stück  Netz  abgetragen.  Clitoris  stark  hyper- 
trophisch, erectil,  starker  rein  männlicher  Geschlechtsdrang  mit 
angeblicher  Ejakulation  sub  erectione.  Bis  jetzt  bat  der 
Sattler,  der  sich  flir  einen  Mann  hält,  noch  keinen  Beischlaf 
als  Mann  versucht,  weil  sein  Glied,  das  wie  ein  hypospadischer 
Penis  aussieht,  hakenförmig  nach  abwärts  gekrümmt  ist.  W. 
fUgte  einen  Bauchschnitt  hinzu,  um  die  Netzstiimpfe  zu  kon- 
trollieren und  fand  einen  kleinen  Uterus.  Vagina  mündet 
wahrscheinlich  in  die  Urethra.  Seit  dein  16.  Jahre  alle  Monate 
2 — 9  Tage  lang  Blutungen  aus  der  Harnröhre. 

Dritte  Gruppe: 

13  Leistenschnitte  bei  Männern,  bez.  männlichen  Schein- 
zwittern mit  Konstatierung  eines  mehr  oder  weniger  ent- 
wickelten Uterus  unl-  oder  bicornis,  einer  oder  beider 
Tuben  in  hernia  bez.  in  der  Bauchhöhle. 

1.  Fall  von  Billroth:  Rechtsseitige  Herniotomie  bei  einem  24- 
jährigen  Hypospaden.  Tod  infolge  von  Verblutung  nach  Ab- 
gleiten einer  Ligatur.  Das  sub  herniotomia  resezierte  Ge- 
bilde erwies  sich  als  ein  amputierter  Uterus  mit  Tube. 
Vagina  mündete  in  die  Urethra.  In  der  linken  Schamlefze 
Hoden  und  Nebenhoden.  Vom  16.  Jahre  an  periodische  Blu- 
tungen ex  Urethra  und  aus  einer  Fistel  der  rechten  Schamlefze 
ex  utero  ectopico.  Obwohl  der  Geschlechtsdrang  männlich,  hatte 
dieser  Mann  mit  Knaben  und  Mädchen  kobabitiert. 


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—    415  — 


2.  Fall  von  Boecke!:  In  einer  Leistenhernie  bei  einem  Manne 
sub  operaüone  ein  Uterus  bicornis  mit  einer  Tube,  eiu  Hoden 
und  ein  Nebenhoden  gefunden. 

X.  Fall  von  Carle:  Linksseitige  Herniotomie  bei  einem  30jährigen 
Telegraphisten.  In  hernia  ein  Uterus  bicornis  mit  Tuben  neben 
Hoden  (Toratom  V)  und  Nebenhoden,  die  Organe  wurden  abgetragen. 
Der  Mann  übte  den  Beischlaf  mit  seiner  Gattin  aus,  aber  die 
Ehe  war  kinderlos.  Bei  der  Operation  wurde  vom  Leisteukanal 
aus  die  Bauchhöhle  eröffnet. 

I.  Fall  von  Derveau:  Herniotomie  bei  einem  09jähr.  Manne, 
Vater  von  6  Kindern  trotz  Kryptorchismus.  In  hernia  Uterus 
mit  Tuben  und  oberer  Anteil  der  Vagina,  die  wahrscheinlich 
in  urethraro  mündete. 

Fall  von  Fantino:  Rechtsseitige  Herniotomie  bei  einem  Manne 
mit  Entfernung  eines  Uterus  mit  2  Tuben  und  beider  Hoden. 
Linke  Hodensackhälfte  leer. 
t>.  Fall  Fillippini:  Rechtsseitige  Herniotomie  bei  einem '23 jähr. 
Manne:  Uterus,  Tube  und  angeblieh  ein  Ovarium  ex  hernia 
entfernt,  in  der  linken  Scrotalhälfte  ein  Hoden. 

7.  Fall  von  Griffith:  siehe  Gruppe  I  No.  9:  Uterus  entdeckt 
nach  beiderseitiger  Herniotomie  mit  Entfernung  beider  Hoden 
bei  einem  23 jähr.  Mädchen. 

8.  Fall  von  Guldenarm:  Linksseitige  Herniotomie  bei  einem 
Manne  mit  rechtsseitigem  Kryptorchismus.  Ex  hernia  ein  Uterus 
bicornis,  Hoden  und  Nebenhoden  entfernt.  Vagina  mündete 
im  urethral». 

i).  Fall  von  Pozzi:  siehe  Gruppe  I  Fall  25:  Uterushorn  in  hernia 
neben  Hoden. 

10.  Fall  von  Sa  eng  er:  siehe  Gruppe  I  Fall  27:  Uterus  mit  einer 
Tube  und  Parovarialcyste  in  hernia  neben  dem  Hoden. 

11.  Fall  von  Stonham:  siehe  Gruppe  I  Fall  32:  Uterus  neben 
Hoden. 

12.  Fall  von  Thierseh.  Bei  einem  22jährigen  Hypospaden  links- 
seitiger Leistenschnitt  mit  unbewußter  Amputation  der  linken 
Tube.  Tod  an  Peritonitis:  Uterus  bicornis,  Vagina  mündet  in 
urethram.    Kryptorchismus  unilateralis. 

i 

13.  Fall  von  Winkler:  Herniotomie  rechterseits.  Später  Bruch- 
recidiv,  Bauchschnitt,  im  25.  Jahre  Tod  an  Peritonitis.  Uterus 
bicornis  mit  Tuben  und  Vagina,  linke  Tube  im  Leistenkanal, 
beide  Hoden  in  der  Bauchhöhle,  Vagina  mündet  in  urethram. 


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—    416  — 


Anhang:  Fall  von  Garre:  angeblieh  Hoden  und  Ovarium  in 
einer  Leistenhernie  gefunden  bei  einein  als  Mann  erzogenen 
Individuum. 

Vierte  Gruppe: 

45  Einzelbeobachtungen  betreffend  32  Fälle  von  Coincidenz 
gut  oder  bösartiger  Neubildungen  vorherrschend  der  Ge- 
schlechtsorgane mit  Scheinzwittertum,  29  an  Scheinzwittern 
vollzogene  Bauchschnitte,  1  Nephrolithotomie,  1  Stein- 
operation bei  Sitz  des  Steines  in  utriculo  masculino.  Auf 
diese  45  Beobachtungen  kommen  nicht  weniger  als 20  Fälle 
von  erreur  de  sexe,  9  mal  blieb  das  Geschlecht  fraglich, 
darunter  5  mal  trotz  vollzogenen  Bauchschnittes,  ein  einziges 
mal  sollen  Hoden-  und  Ovarialgewebe  gleichzeitig 
vorgelegen   haben  in   einer  Geschlechtsdrüse   (?)  (Fall 

von  v.  Sälen). 

1.  Fall  von  Abel:  Tod  der  33 jährigen  Albertine  R.  an 
Peritonitis  nach  vaginaler  Paracentese  einer  vermeintlichen 
Haemtometra,  die  sich  sub  necropsia  ala  sarkomatbse  Cryptorchis 
sinistra  erwies.  Vagina  vorhanden,  man  glaubte  eine  rudi- 
mentäre Portio  vaginalis  uteri  im  Scheidengrunde  zu  tasten. 
Krre  ur  de  sexe. 

2.  Fall  von  Audain:  2  ovarielle  Dermoide  bei  einem  weib- 
lichen Scheinzwitter  entfernt.   Bedeutende  Clitorishypertrophie. 

3.  Fall  von  Bacaloglu  und  Fossard:  Bauchschnitt  bei  der 
31  jähr.  A.  Lefran^ois  mit  tütlichem  Ausgange.  Glitoris  8 
Centimeter  lang,  5  Oentimeter  dick,  Vaginalostium  fehlte  infolge 
Verwachsung  der  Schamlefzen  miteinander.  Weibliches  Schein- 
zwittertum. 

4.  Fall  von  Bazy:  Gelegentlich  einer  Operation  wegen  Appen- 
dicitis  bei  einem  2tijähr.  Fräulein  männliches  Geschlecht  mit 
Hypospadiasis  peniscrotalis  konstatiert.  Keinerlei  Geschlechts- 
trieb bisher  ausgesprochen.    Erreur  de  sexe. 

6.  Fall  von  BcjI;:  Bauchsehnitt  bei  einem  21  jähr.  Manne  der 
bis  zum  19.  Jahre  als  Mädchen  gegolten  hatte.  (Syphilis 
acquiriert).  Vagina  vorhanden,  collum  uteri  getastet.  2  Teratome 
der  Geschlechtsdrüsen,  angeblich  Ovarien,  wahrscheinlich  Hoden 
entfernt."  Tod  am  18.  Tage  an  Pneumonie.  Sub  coitn  Ejaku- 
lation ans  2  seitlich  vom  „Infundibulura"  belegenen  Oeffnungen. 
Hvpospadiaais  peniserotalis,  Hymen  eingerissen. 

<5.  Fall  von  Carle:  sub  herniotomia  Bauchhöhle  zu  diagnostischen 
Zwecken  eröffnet  (siehe:  Gruppe  III,  Fall  No.  3). 


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417 


7.  Fall  von  C  he  v  reu  iL  Sanduhrförniiger  angeblicher  Ovarial- 
tumor sub  necropsia  der  Anna  Bergault  entdeckt,  teils  in 
der  Bauchhöhle  belegen,  teils  durch  einen  Leistenring  in  eine 
Schainlefze  hineingetrieben.  Clitorishypertrophie.  (Geschlecht 
fraglich). 

8.  Fall  von  Clark:  Die  Nekropsie  einer  Frau  nach  Nephrolitho- 
tomie wies  eine  Erreur  de  sexe  nach,  ein  Hoden  in  scroto 
fisso,  der  andere  im  Leistenkanal. 

9.  Fall  von  Delageniere:  Bauchschnitt  bei  einem  Mädchen  um 
die  blind  endende  Vagina  mit  dein  Uterus  zu  vernähen.  Kein 
Uterus  gefunden,  aber  2  atrophische  Hoden  in  der  Bauchhöhle. 
Erreur  de  sexe. 

10.  Fall  von  Engelhardt:  Als  Todesursache  des  59 jährigen 
Witwers  Karl  Menniken  wurde  Carcinoma  uteri  subnecropsia 
gefunden,  üvarium  vorbanden.  Vagina  mündete  in  Urethra. 
Clitoris  hypertrophisch,  von  der  Harnröhre  durchbohrt.  Erreur 
de  sexe.  Der  Mann  hatte  in  seiner  Ehe  mit  der  Gattin  zu 
deren  Zufriedenheit  kohabitiert,  obgleich  er  selbst  ein  verkanntes 
Weib  war. 

11.  Fall  von  Fehling.  Bei  einem  21  jähr.  Mädchen  erst  Fehl- 
diagnose einer  Haematometra,  nach  vergeblicher  Paracentese 
Diagnose  richtig  aul  Tumor  eines  Ovarium  gestellt  bei  inguino- 
labialer  Ektopie  des  anderen.  Myxosarcom  des  linken  Üvariums 
durch  Bauehschnitt  entfernt,  rechtes  Ovarium  und  Tube  in  die 
Bauchhöhle  hineingezogen.    Clitoris  hypertrophisch  und  erectil. 

12.  Fall  von  Gruber:  22jähr.  Mädchen  an  Carcinora  einer  Ge- 
schlechtsdrüse verstorben.  Vagina  und  Uterus  vorhanden,  die 
andere  Geschlechtsdrüse  ein  Hoden.  Erreur  de  sexe, 
Kryptorchismus. 

Vi.  Fall  von  Gunkel.  Ein  Mädchen  mit  männlichem  Geschlechts- 
trieb wegen  Incest  angeklagt  wird  nach  Untersuchung  für  einen 
männlichen  Scheinzwitter  erklärt,  erhält  aber  die  Erlaubnis  auch 
lerner  weibliche  Kleider  zu  tragen.  Im  50.  Jahre  Tod.  Sektion 
erweist  Erreur  de  sexe.  Ovarien,  myomatöser  Uterus 
mit  Tuben,  Vagina  mündet  in  capite  gallinaginis  urethrae. 
Prostata  vorhanden,  Clitoris  hypertrophisch,  penisartig  von  der 
Urethra  durchbohrt  bis  an  eine  Stelle  2'/«  Centimeter  nach 
rückwärts  von  der  normalen  männlichen  Harnröhrenöffnung 
belegen. 

11.  Fall  von  Hall:  Carcinoma  ovarii  unius  durch  Bauchschnitt 
entfernt  bei  einem  17 jähr,  weiblichen  Scheinzwitter.  Clitoris 
hypertrophisch. 

Jahrl.uch  V.  27 


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♦ 


•—    418  — 

15.  Fall  von  Hansemann:  Die  Sektion  der  32jähr.,  lange  Jahro 
hindurch  verhreiatet  gewesenen  Kristine  Hoc  kl  leise  Ii , 
verstorben  an  Blasenkrebs,  ergibt  eineErreur  de  sexe.  Hypo- 
spadiasis  peniscrotalis  mit  Hoden  und  Nebenhoden  jederseits  in 
scroto.  Keine  Vagina  vorhanden,  Urethra  10,5  Centinieter  hing. 
Hell  den  kleinen  Finger  in  die  Blase  ein.  Beischlaf  als  Frau. 
Fall  von  Howitz:  Sektion  eines  49jährigen  Mädchens  nach 
letal  verlaufenem  Bauchschnitte  mit  Amputation  eines  tibronia- 
tösen  Utems.  Vagina  vorhanden.  Clitoris  0  Centinieter  lang. 
Die  mandelgroüen  Geschlechtsdrüsen  von  Chicwitz  fllr  rudi- 
mentäre Ovarien  gehalten.  Beweis  fehlt,  Geschlecht  fraglieh 
trotz  Mikroskop. 

17.  Fall  von  Dix  on-J  one  s :  Diagnostischer  Bauchschnitt  einer 
beiderseitigen  Herniotomie  hinzugefügt  bei  Erreur  de  sexe 
(siehe  Gruppe  I,  Fall  14). 

1H.  Fall  von  Kaps  am  in  er:  Unicum!  Nitze  entfernte  operativ 
bei  einem  30jährigen  Manne  einen  Harnstein  von  165  Gramm 
aus  dem  Utrieulus  masculinus.  Pseudoherm.  masculinus  internus. 

19.  Fall  von  Krabbel:  Bauchschnitt  bei  einem  32 jähr.  Manne  er- 
gab einen  Ovarialtumor,  also  Erreur  de  sexe.  Clitoris 
hypertrophisch,  Vagina  vorhanden,  Uterus  klein,  das  rechte 
Ovarium  normal.  Linksseitiger  Ovarialtumor  ein  multilokulaerea 
Cystom.  Nach  l1/»  Jahren  zweiter  Bauchschnitt  mit  Entfernung 
eines  Teratoms  von  sarkomatösem  Bau. 

20.  Fall  von  Krug:  Ovariotomie  bei  einem  19jährigen  Mädchen. 
Clitoris  2  Zoll  lang,  2  Ovarialsarkome.  Uterus  und  Vagina 
rudimentär.    Weibliches  Scheinzwittertum. 

21.  Fall  von  Lesse r:  Tod  eines  25jährigen  Mädchens  durch  Ver- 
blutung infolge  von  Platzen  eines  Alveolarsarkoms,  von  Lesser 
auf  den  Uterus  bezogen.  Sektion:  Keine  Ovarien  gefunden, 
Vagina  vorhanden,  Clitoris  5f5  ein  lang.    Geschlecht  fraglich. 

22.  Fall  von  Levy:  lojähriges  Mädchen,  Anna  Schulze,  mit 
hypertrophischer  erectiler  Clitoris  und  Tumoren  der  Geschlechts- 
drüsen.  Geschlecht  fraglich. 

23.  Fall  von  E.  Levy:  Bauchschnitt  bei  einem  20jährigen  Mädchen 
durch  v.  Saexinger.  Tod  nach  unvollendeter,  wegen  Blutung 
abgebrochener  Operation.  Clitoris  5,8  cm  lang,  erectil.  Uterus 
und  Vagina  vorhanden.  Sektion  ergab  2  Sarkome  der  Ge- 
schlechtsdrüsen. Es  war  weder  Hoden-  noch  Ovarialgewebe 
gefunden  worden.    Geschlecht  fraglich. 

24.  Fall  von  Liebmann:  Elastischer  Tumor  in  der  linken  Leiste 
Huer  45jährigen  Frau,  die  mit  25  Jahren  einen  Mjährigen  Mann 


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heiratete.  Keine  Spur  von  Uterus,  Vagina,  Ovarien  zu  ent- 
decken. Geschlecht  fraglich. 
2o.  Fall  von  Litten:  Die  lGjährige  Klara  Hacker  wegen  Bauch- 
tuuiur  aufgenommen,  man  .schwankte  ob  Mädchen  oder  Knabe. 
Clitoris  5,ö,  sub  erectione  10  cra  lang.  Uterus  und  Vagina 
vorhanden.  Nach  Paracentese  Tumor  für  ovariell  erklart,  die 
Gebilde  in  den  Schamlefzen  für  Hoden  entgegen  Virchow, 
der  sie  für  ektopische  Ovarien  hielt.  Nekropsie:  Myxosarcom 
den  rechten  Ovariums,  linkes  glattwandig  klein.  Die  Gebilde 
in  den  Schamlefzen  ein  Ilaemato-  resp.  Hydrocele  processus 
vaginalis  peritonaei.    Weibliches  Scheinzwittertum. 

26.  Fall  von  Merkel:  Sektion  eines  63jährigen  an  Carcinoma  rect. 
verstorbenen  Mannes  ergab  die  Gegenwart  eines  Uterus  und 
einer  Vagina.  Normales  Sperma,  normaler  Beischlaf  mit  der 
Gattin. 

27.  Fall  von  Mies:  Die  66jährige  Else  G.  wegen  Unterlippen- 
krebs aufgenommen.  Die  Seltenheit  dieser  Krebslokalisation 
bei  Frauen  sowie  diverse  männliche  Erscheinungen  erweckten 
den  Verdacht  einer  Erreur  de  sexe.  Männlicher  Schein- 
zwitter mit  Hypospadiasis  peniscrotalis,  Hoden  und  Nebenhoden 
in  scroto  fisso,  Prostata. 

'28.  Fall  von  F.  Neugebauer:  Carcinoma  uteri  et  ovarii  sinistri 
bei  der  56jährigen  Anastasia  K.  Clitoris  3'/'«  cm  lang. 
Weibliches  Scheinzwittertum. 

21».  Fall  von  Neu ge baue r:  Bauchschnitt  bei  einer  35 jähr,  als 
Frau  verheirateten  Person  von  männlichem  Aussehen.  Niemals 
Periode,  Scheide  rudimentär,  Sarkom  einer  Geschlechtsdrüse, 
die  andere  Geschlechtsdrüse  nicht  zu  finden.  Geschlecht  fraglich. 

30*.  Fall  von  Obolonsky:  Sektion  einer  ~>0  jährigen  Arbeiterin  er- 
wies Erreur  de  sexe.  Vagina,  Uterus  bicornis,  Kryptorehis- 
mus  bilateralis,  Sarcoma  testiculi  dextri.  Hypospadiasis  peni- 
scrotalis. 

31.  Fall  von  Paton:  Bei  einem  Batichschnitte  fand  man  bei  einen» 
20jährigen  jungen  Manne  einen.  Uterus,  pyosalpinx  duplex  pro- 
tluens,  eine  in  scroto  tisso  mündende  Vagina;  die  Urethra  mün- 
dete in  die  Vagina.  Uterus  und  linksseitige  Tube  samt  an 
Stelle  des  Ovarium  liegendem  Hoden  entfernt.  Hypospodiasis 
peniscrotalis  mit  Kryptorchismus.  Noch  kein  Geschlechtstrieb. 
U  n  i  c  u  tn. 

32.  Fall  von  Pfannenstiel:  Bauchschnitt  bei  einem  55jährigen 
Mädchen  Chr.  Schm.:  Clitoris  3,  sub  erectione  5  cm  lang. 
Vagina  und  Uterus  vorhanden.    Uterus  wegen  Fibromen  am- 

27* 


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putiert.  Tuben  stark  verlängert.  Die  exstirpierten  Geschlechts- 
drüsen als  Ovarien  angesprochen  aber  ohne  Nachweis  ovariellen 
Baues.    Geschlecht  fraglich  trotz  Mikroskop.  Melancholie. 

33.  Fall  von  Pean:  Diagnostischer  Bauchschnitt  nach  beiderseiti- 
gem Leistenschnitt  bei  einem  Knaben:  Erreur  de  sexe.  Ab- 
tragung der  Uterusadnexa.   (siehe  Grnppe  II.  Xo.  2). 

31.  Fall  von  Primrose:  Tod  eines  25jährigen  Kryptorchisten 
nach  Entfernung  eines  Hodensarkoraes  durch  Bauchschnitt. 
Nekropsie:  Uterus  entdeckt.  Vagina  mündet  in  capite  gallin:> 
ginis  urethrae. 

35.  Fall  von  Quisling:  Appendicitisanfälle  bei  einem  angeblich 
weiblichen  27jährigen  Scheinzwitter  mit  Uterus  und  Vagina, 
Clitoris  4  ( Zentimeter  lang,  Masturbation,  weiblicher  Geschlechts- 
drang.    (Geschlecht  fraglich  V) 

30.  Fall  von  E.  v.  Sälen:  Bauchschnitt  bei  der  43jähr.  unverehe- 
lichten Auguste  Persdotter  mit  Entfernung  eines  grossen 
Cystolibrom  (des  Uterus?)  und  der  Geschlechtsdrüsen:  linke 
Geschlechtsdrüse  ein  Ovarium,  die  rechte  soll  (Ovotestis)  ova- 
riellc  und  testiculaere  Struktur  aufgewiesen  haben.  Uterus 
und  Vagina  vorhanden,  Clitoris  5  (Zentimeter,  Beischlaf  mit 
Männern  schmerzhaft,  mit  Frauen  nicht  versucht. 

37.  Fall  von  Snegirjow:  Diagnostischer  Bauchschnitt  einer 
beiderseitigen  Herniotomie  mit  Kastration  hinzugefügt.  Erreur 
de  sexe.    (Siehe  Gruppe  1  Fall  30). 

3£.  Fall  von  Sorel  u.  Che  rot.  Bauchschnitt  bei  der  30jährigen 
AI  ine  C.  Careinom  des  Bunddarines.  Clitoris  6  Centimeter 
lang,  erectil,  Geschlechtsdrang  männlich,  aber  Beischlafver- 
suche mißglückten.  Tod.  Nekropsie:  Mangel  der  Vulva, 
Vagina,  der  Hoden  und  Ovarien,  Utriculus  masculinus  gefunden. 
Geschlecht  fraglieh. 

3t».  Fall  von  Stimson:  Bauchschnitt  bei  einem  40jährigen  Neger, 
der  Vater  war.  Sarkom  des  linken  Bauchhodens,  der  rechte  in 
seroto  non  tisso  unterhalb  eines  Leistenbruches.  Uterus  bieornis 
mit  beiden  Tuben. 

40.  Fall  von  Stroebe:  Sektion  eines  03jährigen  an  Carcinoma 
oesophagi  verstorbenen  Mannes.  Kr\ ptorchisinus  beiderseits. 
Ausgebildeter*  Uterus  mit  beiden  Tuben  und  Vagina,  in  die 
capite  gallinaginis  urethrae  mündet.  Penis  normal,  Scrotum 
leer.    Der  Mann  war  kinderlos  verheiratet  gewesen. 

41.  Fall  von  Unterberger:  Bauchschnitt  bei  einem  14jährigen 
Mädchen:  Diagnose  Ovarialsarkom  trotzdem  die  Scham  das 
Aussehen  einer  llypospadiasis  peuiscrotalis  bot.  Mannskopf- 


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groües  Sarkom  der  linken  Geschlechtsdrüse,  Uterus  vorhanden, 
Vagina  öffnet  sich  wahrscheinlich  in  tirethraui,  rechtsseitige 
atrophische  Geschlechtsdrüse  flir  Ovarium  gehalten,  aber  ohne 
mikroskopischen  Beweis.    Geschlecht  zweifelhaft. 

42.  Fall  von  Westermann:  Sektion  eines  30  jährigen  an  Appen- 
dieitis  ulcerosa  verstorbenen  Mädchens:  Errenr  de  sexe. 
Hvpospadiasis  peniscrotalis,  Kryptorchisnius  beiderseits,  Uterus 
mit  Tuben  und  Vagina  vorhanden. 

43.  Fall  von  Win  ekler:  Bauchschnitt  wegen  Darmocclusion  bei 
einem  oßjähr,  männlichen  .Scheinzwitter:  Uterus  sub  nckropsia 
entdeckt.   (Siehe  Gruppe  III  No.  12). 

44.  Fall  von  Zahorski:  Bauchparacentese  wegen  Bauchtumor 
bei  einem  25jährigen  Dienstmädchen.  Tod  an  Erschöpfung. 
Sarkom  der  linken  Geschlechtsdrüse,  rechte  klein,  flachgedrückt, 
Uterus  und  Vagina  vorhanden.  Clitoris  3'/«  Ccntimeter  lang. 
Geschlechtsdrüsen  für  Ovarien  angesehen  ohne  mikroskopische 
Untersuchung.   Geschlecht  zweifelhaft. 

45.  Fall  von  Pozziu.  Magnan:  Bei  einem  verheirateten  Manne 
ein  Bauchtumor  entfernt,  der  sich  als  Ovarialtumor  erwies. 
Erreur  de  sexe. 

Fünfte  Gruppe: 

23  Fälle  von  teils  ausgeführten,  teils  nur  von  dem  Arzte, 
dem  Scheinzwitter  oder  seinen  Eltern  verlangten  chirur- 
gischen Eingriffen  an  den  Genitalien  mit  Anschluss  einiger 
Hypospadieoperationen  bei  männlichen  Scheinzwittern. 

1.  Amputation  der  hypertrophischen  Clitoris  bei  den  Stämmen 
der  Ibbos  und  Mandingos  im  antiken  Aegypten. 

2.  Fall  von  Arn  au  d:  Verlangte  aber  vom  Arzte  abgeschlagene 
Amputation  der  hypertrophischen  erectilen  Cütoris  bei  einer 
35jähr.  Nähterin:  angebliche  Hämatokolpometra  per  rectum 
profluens  bei  unterem  ScheidenverschluU,  Eröffnung,  Wieder- 
verschluß. Angeblich  Hoden,  Nebenhoden  und  Samenstränge 
in  scroto  fisso  getastet.  Nach  15  Jahren  Tod,  Nekropsie. 
Geschlecht  fraglich.   Fall  aus  dem  18.  Jahrhundert. 

3.  Fall  von  Mc  Arthur:  Operation  wegen  Atresia  ani  bei  einem 
neugeborenen  Scheinzwitter  fraglichen  Geschlechts.  Nekropsie: 
weibliches  Scheinzwittertum  mit  Persistenz  der  Kloake. 

4.  Fall  von  Aveling:  Amputation  der  hypertrophischen  Clitoris 
bei  einer  Frau  nach  Konstatierung  der  Menstruation. 


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  422   


f>.  Fall  von  Benoit:  Vergeblicher  operativer  Versuch  bei  einem 
27jährigen  verlobten  Mädchen,  die  angeblieh  verwachsene 
Seheidemündung  zu  eröffnen.  Erreur  de  sexe,  Hypospadiasis 
peniscrotalis.    Verlobung  gelöst. 

<>.  Fall  von  Berendes:  Amputation  der  angeblichen  hypertrophi- 
schen Clitoris  bei  einem  4jährigen  Mädchen  auf  Verlangen  der 
Eltern,  später  von  Landau  Erreur  de  sexe,  männliches 
Seheinzwittertnm  konstatiert.  Verlobung  gelöst  (siehe  Neu- 
gebauer: dieses  Jahrbuch  für  1902:  Gruppe  IV.  Fall  4). 

7.  Fall  von  Bittner:  Die  Mutter  eines  14jährigen  Mädchens  ver- 
langte durchaus,  Bittner  solle  die  f>1/«  Centimeter lange  Clitoris 
amputieren,  wurde  aber  abschlägig  beschieden  wegen  Erreur 
de  sexe.  Hypospadiasis  peniscrotalis.  Vagina  vorhanden, 
vielleicht  auch  Uterus.  Harnröhrenöffnung  weiblich,  früher 
von  Dr.  Busch  künstlich  erweitert.  An  der  Spitze  der  Glans 
penis  öffnet  sich  ein  Kanal,  welcher  eine  Sonde  5  Centimeter 
tief  einlässt,  schleimgefüllt.  Es  scheint  aber  nur  die  basale 
Partie  des  Penis,  resp.  nur  das  Scrotum  gespalten  zu  sein,  eine 
seltene  Form  der  Hypospadie. 

8.  Fall  v<?n  Blond el:  4öjährige  Frau  seit  18 Monaten  verheiratet 
Beischlaf  stets  schmerzhaft  aber  libidinös,  früher  mehrere  Be- 
werber abgewiesen  wegen  befürchteter  Kinderlosigkeit  einer 
Ehe  wegen  genitaler  Miüstaltung.  Ein  Sturz  vor  6  Monaten 
führte  zur  Entstehung  eines  beiderseitigen  Leistenbruches.  Der 
jetzt  erst  im  45.  Jahre  erfolgte  Decensus  testiculorum  retar- 
datus  führte  zur  Erkenntnis  einer  Erreur  de  sexe.  Hypospa- 
diasis peniscrotalis  mit  Vagina,  noch  unzerrissenem  rigiden  Hymen, 
der  incidiert  werden  sollte  mit  nachfolgender  plastischer  Er- 
weiterung der  Vagina.  Penis  fissus  sub  erectione  (>— 7  Centi- 
meterlang.  Hoden  und  Nebenhoden  in  den  Schamlefzen  getastet. 
Vagina  eng,  ohne  Uterus  (V).  Geschlechtsdrang  absolut  weiblich. 

\K  Fall  von  Kealdo  Colombo:  Amputation  der  Clitoris  ab- 
geschlagen bei  einer  Aetliiopierin,  die  weder  mit  Männern  noch 
mit  Frauen  bequem  sexuell  verkehren  konnte.  Wahrscheinlich 
männlicher  Hypospade  mit  rudimentärer  Vagina,  deren  künst- 
liehe Erweiterung  verlangt  wurde.  Geschlechtsdrang  wohl 
weiblich. 

10.  Fall  von  l'oop:  Diseision  einer  Seliamlefzenverwachsung  bei 
einer  24jährigen  verheirateten  Frau,  einem  Scheinzwitter,  er- 
möglichte den  Beischlaf, 

11.  FjiII  von  Coste:  Bei  einem  weiblichen  Scheinzwitter,  einem 
21jährigen  Mädchen,  welches  heiraten  wollte.  Beischlaf  ermöglicht 


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•—   423  — 


durch  Durschneidung  einer  Atresie  mit  teilweiser  Spaltung  der 
Urethra.  In  der  so  eröffneten  Vagina  ein  Collum  uteri  ge- 
tastet. Amputation  der  hypertrophischen  Clitoris.  Die  Vagina 
mündete  in  urethram.  Hochzeit,  Beischlaf  gelingt.  Periode 
tritt  ein. 

12.  Fall  von  Dural:  Behufs  verlangter  Ehescheidung  vom  Forum 
ecclesiasticum  verfugt:  falls  Amputation  der  angeblichen  hyper- 
trophischen Clitoris  gestattet  wird  von  der  Frau,  soll  die  Ehe 
fortbestehen.  Die  Frau  geht  darauf  nicht  ein,  Ehe  geschieden, 
Erreur  de  sexe.  Männlicher  Scheinzwitter,  ein  Hypospade, 
war  als  Frau  verheiratet  gewesen. 

18.  Fall  von  Hartmann:  Auf  Verlangen  der  Mutter  Amputation 
der  angeblichen  hypertrophischen  Clitoris  wegen  Masturbation 
bei  einem  7jährigen  Mädchen.  Clitoris  kleinflngergroß,  sub 
erectione  noch  größer.  Vagina  und  Uterus  vorhanden.  Geschlecht 
fraglich,  möglicherweise  Hypospadiasis  peniscrotalis  mit 
Kryptorchismus,  Vagina  und  Uterus. 

11.  Fall  von  Ilector  le  Nu:  Vom  Vater  Amputation  der  angeb- 
lichen hypertrophischen  Clitoris  bei  der  6  jähr.  Tochter  verlangt, 
aber  abgeschlagen,   weil  männlicher  Scheinzwitter.  Erreur 

de  sexe. 

15.  Fall  von  Huguies:  Die  20jähr.  Louise  D.  sollte  heiraten, 
Menstruation  vorhanden,  Clitoris  5  Centimeter  lang,  erectil, 
Schatnlefzen,  verwachsen  mit  einander,  täuschen  ein  leeres 
Scrotum  vor.  Discision  bei  zutreffender  Diagnose.  Beischlaf 
ermöglicht   Erfolg  genügend. 

16.  Fall  von  Beel  ard  u.  Anderen:  Weiblicher  Scheinzwitter  Maria 
Magdalena  Lefort  mit  ereetiler  hypertrophischer  Clitoris  und 
partieller  Verwachsung  der  Seharalefzen  mit  einander.  Discision 
verweigert. 

17.  Fall  von  Virchow:  Katarina,  der  spätere  Karl  Hohmunu, 
ein  männlicher  Seheinzwitter,  angeblich  menstruierend.  Penis 
hypospadiaeus,  Scrotum  teilweise  gespalten.  Billroth  schlug 
die  Durehschneidung  der  Schamlefzenverwachsung  vor,  um  den 
Aditus  ad  vaginam  bloßzulegen.  Operation  verweigert.  Bei- 
schlaf mit  Männern  und  mit  Frauen.  Vom  10.— 2<>.  Jahre  nur 
männlicher  Geschlechtsdrang,  nach  dem  20.  Jahre  weiblicher, 
nach  dein  10.  Jahre  heiratete  Karl,  früher  Katarina  Hoh- 
mann,  ein  Mädchen. 

IS.  Fall  von  Keift  er.  Hysteroekpctasis  wegen  intermittierender 
Amenorrhoe  und  Dysmenorrhoe  bei  einem  2öjähr.  Mädchen 


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—   424  - 


Josephine  X.  —  Hypertrophische,  erectile  Clitoris,  Geschlecht 
fraglich,  eher  weiblich  als  männlich. 

19.  Fall  von  Pean:  Vergeblicher  Einschnitt  zwischen  Urethral- 
und  AnalmUndung  im  Bestreben  eine  Vagina  zu  schaffen  bei 
einem  irrtümlich  als  Knabe  erzogenen  Mädchen.  (Siehe  Gruppe 
II  No.  2.) 

20.  Fall  Roux:  Verheiratete  Frau  mit  beiderseitiger  labialer 
Ovarialektopie  und  teilweiser  Schamlefzenverwachsung  wurde 
durch  Discision  der  Verwachsung  beischlafsfähig.  Das  weib- 
liche Geschlecht  nur  vermutet. 

21.  •  Fall  von  Sonnenburg:  Durchschneidung  einer  Schamlefzen- 

verwachsnng  bei  einem  Mädchen  mit  hypertrophischer  Clitoris. 

22.  Fall  von  Tauber:  Amputation  des  Penis-  hypospodiaeus  bei 
einem  23jährigen  männlichen  Scheinzwitter,  der  bis  zur  Kastra- 
tion (Hoden)  vor  2  Jahren  als  Mädchen  galt  und  mit  einem 
Manne  verlobt  war,  jetzt  einem  männlichen  Kastraten  (siehe 
Gruppe  IV.  Fall  7). 

23.  Fall  von  Vincent:  Bei  einem  mit  Defectus  ani  et  urethrae  ge- 
borenem Kinde  zweifelhaften  Geschlechtes  ein  Anus  coccygeus 
angelegt   Lebensrettender  Eingriff.   Geschlecht  fraglich. 

An  ha n  g. 
Sechste  Gruppe. 

Auf  die  Beseitigung  der  peniscrotalen  Hypospadie  ge- 
richtete Operationen. 

1.  Beck,  2.  Brand,  3.  Castellana,  4.  FeTizet,  5.  Garri', 
6.  Krajenoski,  7.  Malthe,  8.  Marwedel,  9.  Thier  sc  h, 
10.  Tulfier,  11.  Villemin,  12.  Waitz. 


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—    425  — 


Brief  Wolfgang  von  Goethes 
über  die  mannmännliche  Liebe  in  Rom. 

Dr.  P.  I.  Möbius  Ubersandte  uns  zur  Veröffentlichung 
im  Jahrbuch  folgenden  bisher  wenig  bekannten  Brief 
Goethes,  welcher  für  den  vorurteilsfreien  Blick  des  großen 
Mannes  auch  in  dieser  Hinsicht  Zeugnis  ablegt. 

Am  29.  December  1787  sehreibt  Goethe  aus  Rom 
an  den  Herzog  von  Weimar: 

„Midi  hat  der  süße  kleine  Gott  in  einen  bösen  Weltwinkel 
relegiert.  Die  öffentlichen  Mädchen  der  Lust  sind  unsicher 
wie  überall.  Die  Zibellen  (unverheurathete  Mädchen)  sind 
keuscher  als  irgendwo,  sie  laßen  sich  nicht  anrühren  und 
fragen  gleich,  wenn  man  artig  mit  ihnen  thut:  e  che  con- 
cluderemo?  Denn  entweder  soll  man  sie  heurathen  oder 
verheurathen  und  wenn  sie  einen  Mann  haben,  dann  ist  die 
Messe  gesungen.  Ja  man  kann  fast  sagen,  daß  alle  ver- 
heuratheten  Weiber  dem  zu  Gebote  stehn,  der  die  Familie 
erhalten  will.  Das  sind  denn  alles  böse  Bedingungen  und 
zu  naschen  ist  nur  bey  denen,  die  so  unsicher  sind  als 
öffentliche  Kreaturen.  Was  das  Herz  betrifft,  so  gehört 
es  garnicht  in  die  Terminologie  der  hiesigen  Liebeskanzley. 

Nach  diesem  Beytrag  zur  statistischen  Kenntniß  des  Landes 
werden  Sie  urlheilen,  wie  knapp  unsere  Zustände  sein  müssen 
und  werden  ein  sonderbar  Phänomen  begreifen,  das  ich 
nirgends  so  stark  als  hier  gesehen  habe,  es  ist  die  Liebe 
der  Männer  untereinander.  Vorausgesetzt,  daß  sie  selten 
biß  zum  höchsten  Grade  der  Sinnlichkeit  getrieben  wird, 
sondern  sich  in  den  mittleren  Regionen  der  Neigung  und 
Leidenschaft  verweilt:  so  kann  idi  sagen,  daß  ich  die 
schönsten  Erscheinungen  davon,  welche  wir  nur  aus  grie- 
chischen Überlieferungen  haben  (S.  Herders  Ideen  III.  Band 
pg.  171)  hier  mit  eigenen  Augen  sehen  und  als  ein  aufmerk- 
samer Naturforscher  das  psichische  und  moralische  davon 
beobachten  konnte.  Es  ist  eine  Materie,  von  der  sich  kaum 
reden,  geschweige  schreiben  läßt,  sie  sei  also  zu  künftigen 
Unterhaltungen  aufgespart." 

(Goethes  Briefe.    8.  Band  p.  314.    Weimar  1890.) 


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Felicita  von  Vestvali. 


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Felicita  von  Vestvali. 

Von 

Rosa  von  Braunschweig. 


Das  Quellenmaterial,  welches  uns  zuverlässige  Mit- 
teilungen aus  dem  Leben  urnisch  veranlagter  Frauen 
bietet,  ist  bei  weitem  nicht  so  vielfältig  als  über  ihre 
männlichen  Genossen.  Nicht  etwa,  weil  diese  eigenartige 
Veranlagung  bei  Frauen  weniger  verbreitet  wäre  —  es 
kommt  weit  öfter  vor  als  man  ahnen  kann  —  sondern 
weil  sich  die  Frauen  eine  größere  Zurückhaltung  auf- 
erlegen. Ks  ist  dies  eine  Folge  ihrer  Erziehung,  denn 
sc  hon  als  Kinder  werden  die  Mädchen  zu  größerer  Scham- 
haftigkeit  erzogen  als  die  Knaben,  und  dieses  sensible 
Empfinden  hindert  sie  später,  wenn  der  sexuelle  Trieb  in 
seine  Rechte  tritt,  sich  zu  decouvrieren. 

Zwar  bedroht  in  Deutschland  die  homosexuelle  Liebe 
zwischen  Frauen  kein  Gesetzparagraph,  doch  gesellschaft- 
lich leiden  sie  vielleicht  noch  mehr  unter  dem  Vorurteil 
als  die  Männer,  da  ihre  Neigung  von  der  unwissenden 
Menge  meist  als  niedere  Sinnlichkeit  gebrandmarkt  wird. 
Wie  anders  wäre  es,  wenn  die  Eltern  sich  über  das  Wesen 
der  Homosexualität  aufklären  ließen  und  erkennen  lernten, 
daß  dieselbe  etwas  von  der  Natur  Gegebenes  ist.  Leicht 
würden  sie  dann  schon  im  Kinde  die  eigenartige  Ver- 
anlagung erkennen  ;  wenn  z.  B.  die  Mädchen  mehr  Inter- 
esse für  knabenhafte  Spiele  haben,  als  für  ihre  Puppen, 


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—    428  — 


und  sich  bei  der  späteren  Entwicklung  des  Charakters 
deutliche  Spuren  einer  männlichen  Richtung  zeigen.  Bricht 
dann  schließlich  —  durch  irgend  einen  nebensächlichen 
Umstand  veranlaßt  —  die  homosexuelle  Neigung  deut- 
licher durch,  so  könnten  die  Eltern  manche  Unbesonnen- 
heit der  Tochter  zum  Guten  lenken.  Wie  oft  treibt  man 
Mädchen  gegen  ihren  Willen  in  eine  Ehe,  durch  die  sie 
nicht  allein  sich,  sondern  noch  einen  zweiten  unglücklich 
machen.  Lernten  es  die  Eltern,  aus  den  ihrem  Geschlecht 
widersprechenden  Charaktereigentümlichkeiten  ihrer  Kin- 
der auf  deren  sexuelle  Veranlagung  richtig  zu  schließen 
und  diese  mit  mildem  Sinn  gerecht  beurteilen,  so  würde 
viel  Unheil  in  der  Welt  verhütet  werden. 

Daß  die  urnische  Veranlagung  keineswegs  den 
Charakter  verdirbt  oder  minderwertig  macht,  beweisen 
unzählige  Beispiele.  Vereinigt  der  weibliche  Urning  doch 
meist  mit  spezifisch  weiblichen  Eigenschaften,  wie  Zart- 
heit der  Empfindung  und  Gefühlstiefe,  zugleich  männliche 
Energie,  Tatkraft,  zielbewußtes  Wollen  und  ist  frei  von 
der  Kleinlichkeit,  Eitelkeit  und  Unselbständigkeit  der 
Frauen,  während  anderseits  ihm  allerdings  auch  oft  Sinn- 
lichkeit und  Leichtsinn  des  Mannes  bescheert  sind  —  doch 
vollkommene  Geschöpfe  sind  schließlich  die  hetero- 
sexuellen Menschenkinder  auch  nicht.  Jedenfalls  bildet 
der  Verein  männlicher  und  weiblicher  Eigenschaften  — 
unter  günstigen  Bedingungen  entwickelt  —  sehr  oft 
Wesen,  deren  Begabung  die  der  Mutter weiber  weit  über- 
flügelt, und  sie  leisten  in  Kunst  und  Wissenschaft  der 
Menschheit  oft  ebenso  wertvolle  Dienste,  als  die  der 
Fortpflanzung  des  Menschengeschlechtes  dienenden  Frauen. 

Zu  diesen  außergewöhnlichen  Geschöpfen  gehörte 
Felicita  von  Vestvali.  Sie  hat  die  alte  und  neue  Welt 
mit  ihrem  Ruhm  erfüllt  und  nicht  zum  geringsten  Teil 
dankte  sie  es  ihrer  urnischen  Natur,  daß  sie  mit  männ- 
licher Energie  alle  Hindernisse  zu  überwinden  wußte  und 


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—    429  — 


ihr  unbegrenztes  Streben  siegreich  das  hohe  Ziel  erreichte, 
zu  dem  ihr  Genie  sie  prädestinierte. 

Vielfach  ist  behauptet  worden,  sie  sei  ein  weiblicher 
Zwitter  gewesen.  Die  Anfeindungen,  die  sie  von  den 
Herren  der  Schöpfung  erfuhr,  waren  zahllos,  und  man 
scheute  keine  Verdächtigung,  um  sie  herabzusetzen.  Diesem 
gegenüber  wollen  wir  mit  aller  Bestimmtheit  erklären, 
daß  alles,  was  über  dieseu  Punkt  gefabelt  worden  ist, 
in's  Reich  der  Märchen  gehört.  Sie  ist  sogar  Mutter 
einer  Tochter,  welche  heute  noch  in  Amerika  lebt. 

Ks  gehört  eben  nicht  zu  den  Seltenheiten,  daß  ganz 
homosexuelle  Frauen  ihr  Wesen  erst  erkennen,  nachdem 
sie  durch  einen  Mann  in  die  Mysterien  der  Liebe  einge- 
weiht sind.  So  erging  es  Felicita  von  Vestvali.  Als 
sie  aber  näher  aufgeklärt  war,  hätte  sie  —  wie  viele 
urnische  Frauen  —  einen  ferneren  intimen  Verkehr  mit 
einem  Mann  als  eine  Unmoralität  betrachtet,  da  er  ihrem 
innersten  Empfinden  auf  das  Entschiedenste  widersprach. 
Allerdings  fühlte  sie  oft  mit  tiefem  Schmerz  den  Konflikt, 
in  den  sie  dadurch  mit  den  bestehenden  Gesetzen  der 
Sitte  geriet,  aber  die  Wahrheit  gegen  sich  selbst  stand 
ihr  höher,  als  ein  Sittenkodex,  der  ohne  Rücksicht  auf 
das  dritte  Geschlecht  gemacht  ist,  dessen  Dasein  nun 
einmal  nicht  weggeleugnet  werden  kaun  und  über  welches 
die  Menge  aufzuklären  sich  jetzt  hervorragende  Männer 
der  Wissenschaft  bestreben. 

Felicita  von  Vestvali's  wirklicher  Name  war  Anna 
Marie  Stägemann.  Sie  war  die  jüngste  Tochter  eines 
höheren  Beamten  in  Stettin  und  dort  am  25.  Februar 
1829  geboren.  Die  Eigenartigkeit  ihres  Wesens  trat 
schon  früh  hervor.  So  wünschte  sie  als  Kind — Missions- 
prediger zu  werden.  Wenn  das  Schulzinimer  im  elter- 
lichen Hause  leer  war,  achlich  sie  sich  hinein,  stellte  sich 
auf«*  Katheder  und  predigte  mit  einer  über  ihr  Alter 
hinausgehenden    Begeisterung,    wie    sie   die  Menschen 


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—    430  — 


bessern  wolle.  Ihr  Vater  hörte  ihr  einst  vom  (jarten 
aus  zu  und  umarmte  dann  tränenden  Auges  sein  Kind.  — 
Zu  anderen  Zeiten  tollte  sie  wieder  mit  ihren  Brüdern 
um  die  Wette,  wie  der  wildeste  Junge. 

Furchtlosigkeit  und  Edelmut  war  eiu  Grundzug  ihres 
Wesens  bis  zu  ihrem  Tode,  und  diese  Eigenschaften  zeigten 
sich  schon  in  ihrer  Kindheit.  Sollte  eines  der  Geschwister 
von  dem  sehr  strengen  Vater  bestraft  werden,  dann  trat 
sie  nicht  selten  vor  und  nahm  die  Schuld  auf  sich.  Als 
sie  das  Theater  kennen  lernte,  erwachte  in  ihr  der  glühende 
Wunsch  Schauspielerin  zu  werden,  doch  wie  so  oft 
wollten  auch  ihre  Eltern  absolut  nichts  davon  wissen  und 
kurz  entschlossen  enttoh  sie  in  Knabenkleidern.  Bei 
einer  herumziehenden  Schauspielgesellschaft  Brökelmann 
fand  sie  ein  Engagement.  Der  Direktor,  ein  alter  Theater- 
praktikus, erkannte  sehr  bald  das  hervorragende  Talent 
des  jungen  Mädchens  und  wollte  dasselbe  für  längere 
Zeit  an  seine  Bühne  fesseln.  Felicita  oder  Marie,  wie 
sie  damals  noch  hieß,  zog  es  jedoch  bald  aus  den  klein- 
lichen Verhältnissen  fort,  sie  fand  in  Leipzig  ein  Engage- 
ment und  hier  wurde  sie  Protege*e  der  berühmten 
Wilhelmine  Schröder -Devrient.  Unter  deren  Leitung 
sang  sie  dort  recht  erfolgreich  Partien  wie  Agathe, 
Kegimeutstochter  und  schließlich  sogar  Norma.  Ihr  dem 
Höchsten  zustrebender  Geist  fühlte  aber  den  Mangel 
wirklichen  Könnens;  was  das  Publikum  entzückte,  war  ihre 
jugendfrische  Stimme.  Um  gründliche  Gesangsstudien  zu 
machen,  begab  sie  sich  nach  Paris  an  das  dortige  Konser- 
vatorium. Sie  studierte  mit  unermüdlichem  Eifer,  aber 
daneben  genoß  sie  auch  das  Leben  mit  vollen  Zügen. 
Hier  war  es  auch,  wo  sie  durch  eine  Freundin  über  ihre 
urnische  Veranlagung  aufgeklärt  wurde.  So  sehr  nun 
auch  ihre  nach  Lebensfreude  dürstende  Natur  Liebes- 
glück verlangte,  so  war  ihr  dasselbe  doch  stets  nur  eiue 
Blume,  welche  ihren  Lebeuspfad  schmückte,  der  Kern 


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—  432 


ihres  Strebens  galt  ihrem  Beruf.  So  ergriff*  sie  ein 
Anerbieten  zu  einer  größern  Konzerttournee,  ehe  sie  ihre 
Studien  vollendet  hatte.  Diese  Tournee,  die  sie  auch  auf 
die  Insel  Jersey  führte,  wurde  dort  jäh  unterbrochen,  da 
der  Impresario  mit  der  Kasse  das  Weite  suchte.  Kurz 
entschlossen  ließ  sich  unsere  junge  Künstlerin  dort  als 
Gesangslehrerin  nieder  und  spielte  Sonntags  in  der  Kirche 
Orgel.  Ihr  Unternehmungsgeist,  vereint  mit  ihrer  jugend- 
schöuen  Erscheinung,  verhalfen  ihr  zu  einem  glänzenden 
Erfolge,  und  schon  nach  einem  Winter  war  sie  in  der 
Lage,  ihre  Gesangsstudien  bei  Mercadante  in  Neapel 
wieder  aufzunehmen.  Unter  seiner  Leitung  entwickelte 
sich  ihre  Stimme  zu  einem  Kontra-Alt  von  so  phänomenaler 
Tiefe,  daß  spekulative  Impresarien  ihr  rieten,  Tenor- 
partien zu  studieren,  aber  die  Ärzte  erklärten,  ihre  Stimme 
würde  dies  Experiment  höchstens  10  Jahre  aushalten. 
Das  war  zu  wenig  für  ihren  Ehrgeiz.  Um  nun  ihre 
schwere  Stimme  auch  für  den  leichten  Gesang  gefügig 
zu  machen,  ging  sie  noch  zu  dem  in  Florenz  lebenden 
berühmten  Gesangsmeister  Romaui  und  trat  bald  darauf 
zum  ersten  Mal  öffentlich  auf  in  der  Scala  zu  Mailand, 
gelegentlich  der  ersten  Aufführung  von  Verdi's  „Tro- 
vatore*  als  „Azucena".  Sie  nahm  nun  den  Namen 
Felicita  von  Vestvali  an.  Ihre  nächsten  Rollen  waren 
„Romeo*  in  Bellini's  „Romeo  und  Julia"  und  „Tancrcd*. 
Ihr  Erfolg  war  ein  grandioser.  Daun  sang  sie  in  ver- 
schiedenen Konzerten  in  London  und  wurde  von  der 
dortigen  Aristokratie  so  ausgezeichnet,  wie  wenig  Säuger- 
innen vor  und  nach  ihr.  Im  Hause  von  Lord  und 
Lady  Palmerston  verkehrte  sie  wie  eine  Freundin. 

Das  Land  ihrer  Sehnsucht  war  jedoch  Amerika  und  im 
Jahre  1854  schiffte  sie  sich  dorthin  ein.  Die  Yankees  trieben 
gleich  nach  ihrem  ersten  Auftreten  einen  förmlichen 
Kultus  mit  ihr,  man  verglich  ihre  Erscheinung  mit  der 
amerikanischen  Freiheitsgöttin  und  nannte  sie:  Vestvali, 


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—    433  — 


the  Magnificent!  In  New- York  erhielt  sie  eine  Monats- 
gage von  10,000  Franks.  Nun  folgte  eine  Tournee  durch 
sämtliche  große  Städte  der  Union. 

In  Mexiko  war  die  berühmte  Sängerin  Henriette 
Sonntag,  welche  die  Direktion  des  dortigen  National- 
theaters leitete,  gestorben  und  man  bot  der  Vestvali  das 
Theater  mit  einer  jährlichen  Subvention  von  45000  Dollars 
an.  Sie  reiste  nach  Europa,  um  sich  eine  auserlesene 
Gesellschaft  zusammen  zu  stellen.  Als  sie  mit  derselben 
in  Mexiko  eintraf,  war  die  ganze  Stadt  wie  zu  einem 
Nationalfest  geschmückt,  der  damalige  Präsident  Caminfort 
empfing  sie  mit  den  Spitzen  der  Behörden,  man  machte 
ihr  6  herrliche  Pferde  zum  Geschenk,  gab  ihr  im  Palast 
Iturbid  ein  großes  Fest,  und  brachte  ihr  einen  Fackel- 
zug. Wahrlich  Ehrungen,  wie  sie  wohl  selten  einer  Frau, 
einer  Künstlerin  zuteil  geworden. 

Auf  ihre  große  Beliebtheit  pochend,  machte  sie  in 
Mexiko  das  Experiment,  den  „Figaro"  im  „Barbier  von 
Sevilla"  in  spauischer  Sprache  zu  singen. 

Als  später  die  Revolution  ausbrach,  konnte  man  ihr 
die  ganze  Subvention  nicht  auszahlen  und  gab  ihr  ein 
Stück  Landes,  welches  noch  heute  nach  ihr  den  Namen 
führt 

Des  aufreibenden  Lebens  müde,  kehrte  sie  nach 
Italien  zurück,  um  sich  zu  erholen.  Allein  ihr  blieb  nur 
kurze  Ruhezeit.  Das  neue  Theater  in  Piacenza  wurde 
eingeweiht  und  mau  ersuchte  sie,  in  der  Vorstellung  mit- 
zuwirken. Dann  bot  sich  ihr  ein  Engagement  an  der 
großen  Oper  in  Paris,  wo  sie  mit  mehreren  hervor- 
ragenden Sängerinnen,  so  auch  der  bekannten  Tietjens, 
in  Konkurrenz  trat  und  alle  besiegte.  Kaiser  Napoleon 
schenkte  ihr  sogar  für  ihren  .Romeo"  eine  Rüstung  aus 
gediegenem  Silber.  Zwei  Jahre  blieb  sie  in  Paris,  und 
in  ihrem  Salon  vereinigte  sich  alles,  was  Anspiuch  machte 
in  der  literarischen  Welt  einen  Namen   zu  haben,  sowie 

Jahrbuch  V.  28 


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-    434  - 


die  Geburts-  und  Geldaristokratie.  Viel  schöne  Frauen 
wetteiferten  um  die  Gunst  der  Vestvali  und  mancher 
Ehemann  hatte  Grund,  auf  den  schönen,  ritterlichen 
Romeo  eifersüchtig  zu  sein. 

Wieder  zog  es  sie  jedoch  nach  Amerika.  Sie  wollte 
dort  Glucks  „ Orpheus*  aufführen.  Felicita  hätte  aber 
den  Geschmack  der  Amerikaner  besser  kennen  sollen, 
die  stilvolle,  klassische  Musikweise  des  Altmeisters  Gluck 
war  nichts  für  den  Geschmack  der  Yankees.  Das  Unter- 
nehmen scheiterte.  Zeit,  Mühe,  Geld  waren  verschwendet 
und  erbittert  zog  sich  die  Vestvali  auf  eine  Villa  in  der 
herrlichen  Umgebung  vou  St.  Franzisko  zurück. 

Zu  ihrer  Erholung  studierte  sie  hier  den  „Hamlet", 
für  den  sie  seit  Jahren  schwärmte.  Sie  führte  das  Buch 
auf  allen  Reisen  mit  sich  und  ebenfalls  den  „Romeo" 
des  großen  Briten,  denn  schon  in  der  Oper  hatte  sie 
dem  Bellinischen  „Romeo"  stets  etwas  Shakespeareschen 
Geist  eingehaucht. 

Da  erkrankte  am  Theater  in  St  Franzisko  der  erste 
Liebhaber,  und  man  bestürmte  die  Vestvali,  als  „Romeo" 
aufzutreten.  Der  Mißerfolg  vom  „Orpheus"  hatte  ihr 
den  Geschmack  an  der  Oper  genommen,  und  mit  Be- 
geisterung ergriff  sie  die  Gelegenheit  zum  Schauspiel 
überzugehen  und  diese  ideale  Jünglingsgestalt  im  Drama 
und  in  englischer  Sprache  zu  verkörpern.  Das  Publikum 
bereitete  ihr  eine  enthusiastische  Aufnahme,  wieder  be- 
reiste sie  die  Städte  der  Union  und  abermals  folgte  ein 
Triumphzug  ohne  gleichen,  zu  den  Rollen  des  „ Romeo" 
und  „Hamlet"  hatte  sie  noch  einige  Männer-  und  Frauen- 
rollen genommen. 

Vou  dieser  Zeit  datierte  auch  eine  Freundschaft  mit 
einem  Fräulein  E.  L.,  einer  deutschen  Schauspielerin,  die 
bis  zu  ihrem  Tod  währte,  und  der  sie  den  größten  Teil 
ihres  Vermögens  vermachte,  obwohl  diese  Verbindung 
ihr  kein  ungetrübtes  Glück  gewährte. 


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—    435  — 


Im  Jahre  1868  gastierte  die  Vestvali  am  König]. 
Lyeeum-Theater  zu  London.  Sie  spielte  dort  20mal  den 
, Hamlet"  und  22mal  den  „Romeo",  sowie  den  Petruchio 
(Bezähmte  Widerspenstige).  Auch  hier  wurden  ihr  her- 
vorragende Ehrungen  zu  teil.    Die  Königin  Viktoria  em- 


Felicita  von  Vestvali 

als  Petruchio  in: 
„Die  bezähmte  Widerspenstige." 

pting  die  Vestvali  in  Privataudienz.  Lord  Bulver  ver- 
sicherte, nie  eine  geistvollere  Wiedergabe  des  „Hamlet" 
gesehen  zu  haben  und  die  englischen  Zeitungen  nannten 
sie  den  „weiblichen  Kean".    Die  „Union  of  Art"  in 

28* 


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—    4oG  — 


London  ernannte  die  Vestvali  zum  Ehrenmitglied,  eine 
Auszeichnung,  die  sie  von  der  „ Santa  Cecilie"  in  Rom 
schon  lange  besaß. 

Bisher  hatte  sie,  die  Deutsche,  alle  ihre  Erfolge  nur 
in  fremden  Sprachen  erzielt.  Sie  hatte  in  italienischer, 
französischer  uud  spanischer  Sprache  gesungen  und  in 
englischer  Sprache  im  Drama  gewirkt.  Plötzlich  regte 
sich  aber  der  deutsche  Geist  in  ihr  und  sie,  die  beide 
Hemisphären  mit  ihrem  Ruhm  erfüllt  hatte,  wollte  auch 
in  ihrem  Vaterlande  zeigen,  was  Genie  mit  unbezähm- 
barem Schaffensdrang  und  außergewöhnlicher  Energie 
zu  erreichen  vermochte. 

Vielfach  hatte  man  ihr  abgeraten.  Leider  ist  Deutsch- 
land ja  das  Land,  wo  mau  dem  Außergewöhnlichen  am 
wenigsten  Berechtigung  zugesteht,  selbst  wenn  geistige 
und  körperliche  Vorzüge  dasselbe  rechtfertigen.  Aber 
Vestvali  ließ  sich  nicht  abschrecken.  In  Hamburg  trat 
sie  zuerst  als  , Romeo"  in  deutscher  Sprache  auf.  Das 
große  Publikum  nahm  sie  sofort  enthusiastisch  auf,  aber 
die  Presse  hatte  viel  zu  nörgeln,  so  auch,  daß  ihre 
Aussprache  etwas  englischen  Accent  verriet.  Sie  arbeitete 
mit  Eifer,  sich  die  langentwöhnte  Muttersprache  wieder 
mundgerecht  zu  machen  und  schon  als  Hamlet  war  der 
Fehler  beseitigt.  In  Leipzig  schrieb  der  bekannte  Kritiker 
Gottschall : 

„Der  weibliche  Hamlet.  Gastspiel  von 
Felicita  von  Vestvali.  Bei  ihrem  gestrigen  Debüt 
konnte  man  annehmen,  daß  wohl  der  größte  Teil  des 
Publikums  nur  der  Absonderlichkeit  willen  und  teilweise 
sogar  mit  dem  Vorsatz  gekommen  waren,  eine  Dame, 
die  so  kühn  war,  den  Hamlet  zu  spielen,  mindestens 
—  „abfallen*  zu  lassen.  Als  die  Vestvali  zuerst  als 
Hamlet  erschien,  empfing  man  sie  lautlos.  Die  edle 
Gestalt  —  die  den  König  uud  viele  andere  mitspielen- 
den  „Helden"   an  Größe  der  Gestalt,   alle  aber  an 


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—    437  — 


Noblesse  der  Haltung  überragte,  das  ausdrucksvolle 
Gesicht  zu  Boden  geheftet  —  entwaffnete  schon  das 
Vorurteil.  Der  zweite  Zweifel  fiel  als  sie  zu  sprechen 
begann  —  dieses  sonore  Altorgan,  diese  verständliche 
und  dialektlose  Deklamation  zeigten  die  ihrer  Aufgabe 
auch  in  dieser  Beziehung  gewachsene  Künstlerin  und 
der  erste  Akt  war  noch  lange  nicht  zu  Ende,  als  man 
ihr  schon  reiche  Beifallsspenden  zuteil  werden  ließ, 
die  sich  bald  in  dem  Maße  steigerten,  daß  die  Gastin 
am  Schluß  etliche  18  mal  gerufen  worden  war.  Ver- 
gessen war  vor  der  Macht  des  Genies  alles,  was  man 
vorher  von  den  verschiedenartigsten  Standpunkten  aus 
gegen  das  Männerrollenspielen  einer  Frau  hatte  geltend 
machen  wollen;  der  Eindruck,  den  dieser  Hamlet  her- 
vorbrachte, war  ein  gewaltiger.  Frl.  v.  Vestvali  gab 
ihn  nicht  bloß  als  sentimentalen  Träumer,  sondern  sie 
brachte  auch  das  energische  Wollen,  den  drängenden  und 
bohrenden  Entschluß  zur  Tat  und  seine  Schwankungen 
bis  zum  Augenblicke  der  Ausführung  zu  lebendiger 
Anschauung.  Die  bedeutendste  Szene  war  vielleicht 
der  Kampf  am  Grabe  Ophelia's  und  das  Hervorbrechen 
der  Liebe  zu  ihr  —  und  um  neben  der  geistigen  Auf- 
fassung auch  das  Technische  nicht  zu  vergessen :  fechten 
sahen  wir  auf  der  Bühne  noch  niemals  besser." 

Frl.  von  Vestvali  setzte  ihr  erfolgreiches  Gastspiel 
in  Leipzig  als  „ Romeo*,  „Elisabeth"  in  Laube's  „Essex" 
und  „Isabella"  in  „Braut  von  Messina"  fort.  Laube 
selbst  erklärt  sie  als  seine  beste  Elisabeth-Darstellerin. 

Von  Leipzig  aus  eroberte  sich  die  Vestvali  durch 
ihr  Gastspiel  am  National-Theater  in  Berlin  —  dasselbe, 
schon  vor  Jahren  ein  Raub  der  Flammen  geworden,  wird 
nur  noch  älteren  Theaterbesuchern  erinnerlich  sein  — 
die  Gunst  der  Metropole  und  somit  gewissermaßen  erst 
volle  künstlerische  Anerkennung  ihres  Wertes  für 
Deutschland. 


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—    438  — 


Ein  gefürchteter  Kritiker  des  Berliner  Tageblattes 
schrieb  damals: 

„Nation  al -Theater.  Am  20.  Januar: 
Hamlet,  Prinz  von  Dänemark.  Hamlet,  Fräul. 
von  Vestvali  als  Gast. 


Felicita  von  Vestvali 

als  Hamlet. 


„Ein  blonder  Xordlandssohn,  mit  hellem  Haar  und 
frischer,  gesunder  Farbe",  behäbig,  schon  ein  wenig 
„embonpointieit*  und  darum  von  Haus  aus  hypochon- 
drischer  Neigung   —   so    der   Hamlet   Felicita  von 
Vestvali's.    Er  ist    mit  Recht   eine  der  berühmtesten 


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—   439  — 


und  ohne  Zweifel  eine  der  originellsten  und  genialsten 
Leistungen  der  gesamten  Schauspielkunst  —  ja  er  steht 
einzig  in  seiner  Art  und  Bedeutung  da. 

Zur  äußeren  Verlebendigung  eines  weiblichen 
Hamlet  hat  Mutter  Natur  wohl  Keine,  Keine  so  glänzend 
begabt  und  specifisch  „männlich"  bemittelt,  wie  eben 
Felicita  von  Vestvali.  Schon  der  ganze  Gliederbau 
dieser  Gestalt  gemahnt  an  den  —  sogenannten  — 
Herrn  der  Schöpfung.  Dazu  ein  machtvolles  Organ, 
das  oft  tiefer  gestimmt  scheint  als  ein  Tenor. 

Was  die  geistige  Auffassung  der  Rolle  anlangt, 
so  deuteten  wir  unsere  Meinung  schon  an:  von  den 
zirka  zwei  Dutzend  Hamlete,  welche  wir  im  Laufe 
der  Jahre  sahen,  ist  der  unserer  Gastin  jedenfalls  der 
originellste  gewesen  — auch  hier  nicht  vom  Äußer- 
lichen gesprochen,  sondern  lediglich  vom  Intellektuellen, 
nicht  von  der  Schale,  sondern  vom  Kern  der  Leistung.* 

Auch  aus  Wien  liegt  uns  noch  der  Ausspruch  einer 
der  beliebtesten  Dichter  Österreichs  vor,  derselbe  sagte: 

„Eine  hervorragende  Existenz  wie  die  Vestvali 
hat  die  Berechtigung,  ihrem  vulkanischen  Genie  die 
Zügel  schießen  zu  lassen.  Weder  die  Sitte,  noch  der 
ästhetische  Regelzwang  kann  für  das  geistige  Bedürfnis 
eines  solchen  schrankenlosen  Kunstnaturells  maßgebend 
sein.  Daß  dem  so  ist,  ist  keineswegs  ein  Kunst  Verderbnis, 
es  ist  nicht  darüber  „Wehe"  zu  rufen,  wie  einige 
Kritiker  es  tun.  Die  bewundernswerte  Intelligenz  der 
Vestvali  macht  alle  Angriffe  zu  Schanden.* 

Wir  haben  hier  Stimmen  der  Presse  aus  den  maß- 
gebendsten Städten  angeführt,  die  beweisen,  wie  siegreich 
die  Vestvali  aus  den  vielen  ihr  entgegentretenden  An- 
feindungen hervorging.  Sie  bereiste  denn  auch  Deutsch- 
land mehrere  Jahre  und  gastierte  stets  überall  mit  größ- 
tem Erfolg. 


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—   440  — 


Aber  die  großen  Anstrengungen,  die  sie  Zeit  ihres 
Lebens  durchgemacht,  blieben  nicht  ohne  Einfluß  auf 
ihre  Gesundheit  Immer  öfter  wurde  sie  genötigt,  ihrem 
rastlosen  Streben  Ruhe  zu  gönnen.  Sie  zog  sich  denn 
auf  ihre  Villa  in  Warmbrunn  zurück.  Ein  ganz  tatenloses 
Leben  war  ihr  jedoch  unmöglich  ;  war  sie  also  nicht  durch 
die  Ausübung  ihrer  Kunst  in  Anspruch  genommen,  so 
warf  sie  sich  auf  Bauspekulationen.  Sie  baute  in  Warra- 
brunn  die  ganze  russische  Kolonie.  Ein  Besuch  bei  ihrer 
in  Warschau  lebenden,  verheirateten  Schwester  ließ  sie 
auch  dort  Terrain  ankaufen  und  Bauten  ausführen,  die 
sie  selbst  leitete  und  beaufsichtigte.  All  diesen  Strapazen 
war  ihre  Gesundheit  nicht  mehr  gewachsen.  Eine  un- 
heilvolle Krankheit  warf  sie  nieder  und  machte  diesem 
reichen,  tatenvollen  Leben  ein  zu  frühes  Ende.  Sie  starb 
in  Warmbrunn  am  3.  April  1880,  im  52.  Lebensjahr. 

Wir  lassen  noch  einige  kurze  Auszüge  aus  Briefen 
an  eine  junge  Schauspielerin  folgen,  mit  der  aufrichtige 
Freundschaft  sie  bis  zu  ihrem  Tode  verband.  Treue 
Freundschaft  war  ein  Grundzug  ihres  edlen  und  idealen 
Wresens,  und  diejenigen,  die  sie  derselben  würdigte, 
hängen  noch  heute  mit  rührender  Verehrung  an  dieser 
hervorragenden  Natur,  die  sich  oft  selbst  „Hamlet* 
nannte,  wie  sie  jene  junge  Schauspielerin  —  ich  bin  es 
selbst  —  in  ihren  Briefen  »Horatio*  anredete.  Die  Briefe 
beleuchten  in  kurzen  Blitzen  sowohl  ihre  künstlerische 
Anschauung,  als  auch  ihre  urnische  Natur.  In  einem 
derselben  heißt  es  u.  a.: 

„Ach,  es  ist  schrecklich  langweilig,  so  von  Stadt 
zu  Stadt  zu  gastieren.  Ich  komme  mir  schon  wie  ein 
Dorfküster  vor,  der  mit  dem  Klingelbeutel  herumgeht. 
Amen!  —  Wenn  man  nur  immer  tüchtig  darin  vor- 
findet, meinte  E.1),  dann  geht  es  schon.    Auch  ein 

*)  Ihre  langjährige  Freundin  und  Begleiterin.   Anni.  d.  Verf. 


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—    441  — 


Standpunkt  für  einen  idealen  Schöngeist,  nicht  wahr, 
Horatio?  Nein,  ein  ordentliches  Theater  möchte  ich 
in  Berlin  haben  und  nirgends  anders,  ausgenommen 
Amerika.  Ach,  wenn  die  verdammte  Reise  nicht 
wäre  —  so  wäre  ich  gewiß  schon  längst  drüben,  mir 
sagen  nun  mal  abenteuerliche  Sachen  zu  —  ich  bin 
nun  wie  ich  bin." 

Der  letzte  Brief,  den  sie  von  ihrem  Krankenbett  aus 
in  Warschau  an  mich  schrieb,  lautete  wie  folgt: 

„Wie  ist  alles  anders  gekommen,  wie  ichs  mir 
gedacht,  mein  nervöses  Leiden,  das  furchtbar  ist,  ist 
mir  durch  G.V)  Gegenwart  versüßt.  Sie  ist  himmlisch 
gut.  Sie  können  mir  glauben,  Horatio,  ich  fühle  meine 
Leiden  nicht  die  Hälfte,  wenn  sie  bei  mir  ist.  Ich 
bin  ihr  rasend  gut  und  möchte  ihr  Tag  und  Nacht  was 
Liebes  tun.  Jetzt  ist's  auch  gleich,  ob's  unterm  Pfirsich- 
baum oder  Apfelbaum  war,  ob  sie  mich  oder  ich  sie 
verführt,  wir  haben  uns  rasend  lieb.  Ich  möchte  bloß, 
daß  Sie  bei  uns  wären,  lieber  Horatio.  Sie  hätten  Ihre 
Freude  an  uns.  Gedenken  Sie  noch  unseres  Gesprächs 
nachts  in  der  Charlottenstraße  a  propos  von  G.  ? 
Das  Resultat  ist,  ich  liebe  sie  rasend.  G.  wird  Ihnen 
bald  selbst  schreiben,  sie  muß  jetzt  auf  die  Bahn  und 
F.  abholen  und  hat  die  ganze  Nacht  nicht  geschlafen, 
sie  wohnt  nämlich  jetzt  Bett  an  Bett  neben  mir.  Wir 
beide  grüßen  Sie  herzlich  und  ich  drücke  Sic  an  mein 
Herz  in  alter  Freundschaft 

Ihr  Hamel-fett.» 

Die  Vestvali,  welche  bei  ihrer  Schwester  in  Warschau 
erkrankte,  wurde  dort  von  einem  Frl.  G.  mit  rührender 
Sorgfalt  gepflegt,  erst  in   der  letzten  Zeit  kam  auch 

')  „G."  war  die  letzte  Liebe  der  Vestvali,  doch  konnte  sie  von 
ihrer  langjährigen  Freundin  E.  sich  nicht  trennen,  es  spielten  da 
pekuniäre  Verhältnisse  mit,  die  zu  lösen,  Vestvali  zu  ehrenhaft  dachte. 


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—    442  — 

Frl.  E.  gleichfalls  zu  ihrer  Pflege,  da  die  Beziehungen 
zwischen  der  Vestvali  und  der  E.  längst  nicht  mehr  be- 
glückende waren,  so  vermochte  sie  dieselben  doch  nicht 
zu  lösen,  während  ihr  ganzes  Herz  der  MG."  gehörte. 
Dieser  Zwiespalt  drUckte  die  Vestvali  sehr,  obwohl  sie 
die  ganze  Sache,  wie  vorstehender  Brief  zeigt,  immer  noch 
mit  einem  gewissen  Humor  behandelte.  Mit  welcher 
Liebe  dies  Frl.  G.  an  der  Vestvali  ihrerseits  hing,  zeigt 
folgender  Brief: 

„ Lieber  Horatio,  mit  Feli  geht  es  immer  schlechter; 
gestern  den  ganzen  Abeud  hatte  sie  so  rasende  Schmerzen 
im  Rücken  und  im  rechten  Arm,  daß  sie  laut  stöhnte, 
dann  leise  wimmerte  und  Gott  um  Hülfe  anflehte,  daß 
Einem  das  Herz  hätte   brechen  mögen.    Die  Arzte 
sagen  nun  auch,  daß  es  die  alte  Krankheit  sei  und 
große  Blutarmut.    Und  nicht  helfen  zu  können,  sein 
Liebstes  auf  so  schaudervolle  Weise  zu  Grunde  gehen 
zu  sehen.  Sie  will  die  E.  kommen  lassen  und  ich  kann 
ihr  nicht  widerraten,  denn  es  regt  sie  alles  so  sehr  auf. 
Vielleicht   also  sehen  wir  uns  bald  in  Berlin,  lieber 
Horatio.  Erschrecken  Sie  nicht,  wenn  ich  frühmorgens 
bei  Ihnen  auftauche.    Tausend  Grüße  von  Ihrer  G.* 
So  wollen  wir  denn  das  Bild  der  Vestvali,  welches 
wir  hier  in  diesen  Blättern  entrollt  haben,  schließen.  Sie 
war  ein  an  Geist,  Gemüt  und  Talent  gleich  hervorragender 
Mensch,  und  niemand,  der  je  mit  ihr  in  nähere  Berührung 
gekommen,  wird  den  Zauber  ihrer  Persönlichkeit  ver- 
gessen.   Die  bestrickende  Liebenswürdigkeit  ihres  Wesens 
lag  wohl  in  der  Natürlichkeit,  mit  der  sie  sich  gab,  denn 
trotz  ihrer  großen  Erfolge,  war  sie  frei  von  jedem  Hoch- 
mut, förderte  bereitwillig  jedes  aufstrebende  Taleut,  doch 
trat  sie  unnachsichtig  jedem  Nichtskönnen  entgegen.  Sie 
betonte  nie  ihre  urnische  Natur  und  darum  fühlten  sich 
auch  Männer,  die  dieser  Veranlagung  durchaus  abhold 
waren,  durch  ihre  geistige  Begabung  zu  ihr  hingezogen 


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—    443  — 


und  es  bestand  manch  kameradschaftliches  Band  zwischen 
ihr  und  hervorragenden  Vertretern  des  männlichen  Ge- 
schlechts. Auf  Frauen  wirkte  sie  in  geradezu  fascinieren- 
der  Weise  und  es  würde  weit  über  den  Rahmen  dieser 
kleinen  Skizze  führen,  wollte  man  anführen,  wie  vielfach 
sie  angebetet  worden  war.  Jedenfalls  gehörte  Felicita 
von  Vestvali  zu  den  Ausnahme-Krscheinungen  sowohl  in 
der  'Kunst,  wie  im  Leben,  deren  Eigenartigkeit  nur  von 
einem  Kenner  der  Homosexualität  verstanden  werden  kann. 


Rosa  Braunschweig, 

die  Verfasserin  vorstehender  Arbeit, 
in  einer  Offiziersrolle. 


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Quellenmaterial  zur  Beurteilung 
angeblicher  und  wirklicher 
Uranier. 


Zusammengestellt 


von 


F.  Karsch 

Dr.  phil.,  Privatdozent  in  Berlin. 


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Zweite  Reihe.*) 

„Es  ist  besser,  in  jeden  andern,  als  in  sich 
selbst  verliebt  zn  sein."      Jean  Paul. 

Auf  die  erste,  drei  der  Geschichte  angehörende 
Männer:  Theodor  Beza,  Johann  von  Müller  und 
Alexander  von  Ungern-Sternberg  enthaltende 
Reihe  angeblicher  und  wirklicher  Uranier  folgt  hier  die 
zweite  Reihe,  welche  wiederum  drei  Mäuner,  den  Ver- 
fasser des  »Eros14:  Heinrich  Hößli  von  Glarus,  den 
Mörder  seines  Geliebten:  Franz  Desgouttes  von  Bern 
und  den  Herzog  von  Sachsen-Gotha  und  Altenburg: 
Emil  Leopold  August,  außerdem  aber  noch  eine  der 
interessantesten  tribadischen  Gestalten  der  Neuzeit,  die 
Opernsängerin  Madame  (genannt  Mademoiselle)  Maupin, 
darzustellen  unternimmt. 

Zwischen  den  drei  männlichen  Gestalten  dieser  Reihe 
besteht  ein  gewisser  Zusammenhang.  Als  der  einfache 
Mann  aus  dem  Volke,  der  Putzmacher  Heinrich  Hößli 
von  Glarus  (1784 — 1864),  als  erster  Kämpe  unsrer  Zeit- 
rechnuug  im  Jahre  1836  für  die  absolute  natürliche  und 
sittliche  Berechtigung  des  gleichgeschlechtlichen  Liebes- 
triebes mit  allen  Waffen  des  Geistes  und  mit  mutiger 
Preisgabe  seines  Namens  in  seinem  tiefgründigen  wissen- 
schaftlichen Werke  „Eros",  52  Jahre  alt,  in  die  Schranken 

*)  Erste  Reihe  in  diesem  Jahrbuche  für  sexuelle  Zwischenstufen, 
IV.  Jahrgang  1902,  Seite  289—571 :  1.  Theodor  Beza  (1519—1605) 
S.  291-349,  2.  Johann  von  Müller  (1752—1809)  S.  349— 457  und  3 
A.  von  .Sternberg  (1806—1868)  8.  458—571. 


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448  - 


trat,  hatte  bereits  dreißig  Jahre  vorher  (1805)  der  deutsche 
Herzog  A  u  g  u  s  t  ( 1772—1822),  33  Jahre  alt,  die  Leidenschaft 
desselben  Liebestriebs  an  einem  anschaulichen,  konkreten 
Beispiel  als  erster  Novellist  in  seiner  Novelle  „Kyllenion" 
mit  dichterischer  Naivetät  geschildert  und  darin  die 
gleichgeschlechtliche  Liebe  als  mit  der  gegengeschlecht- 
lichen Liebe  vollkommen  auf  der  gleichen  Stufe  stehend 
dargestellt.  Den  Rechtsanwalt  Dr.  Franz  Desgouttes 
(1785 — 1817)  aber,  der  nicht  das  Geringste  von  Bedeu- 
tung, weder  für  seine  Zeit  noch  für  die  Nachwelt,  leistete 
und  dessen  Persönlichkeit  man  kaum  irgend  etwas 
Rühmenswertes  wird  nachsagen  können,  unter  den  beiden 
obengenannten  Männern  einen  Platz  anzuweisen,  erscheint 
absurd;  insofern  lag  jedoch  dazu  ein  Zwang  vor,  als  seine 
Leidensgeschichte  zum  .Eros*  Heinrich  Hößli's  den 
Anstoß  gab. 

Nur  die  Maupin  (1673—1707)  steht  ohne  Beziehung 
da.  Sie  gibt  sich  bei  äußerlicher  Weiblichkeit  als  einen 
Uebermaun,  als  eine  überaus  seltene  Erscheinung,  wie 
solche  in  mehreren  Jahrhunderten  wohl  nur  einmal  vor- 
kommt; diejenigen  Gelehrten  und  Ungelehrten,  welche 
es  für  ihre  Pflicht  halten,  in  den  Erscheinungen  gleich- 
geschlechtlichen Liebestriebs  nicht  etwas  Urwüchsiges, 
nicht  etwas  von  der  Natur  durch  die  Allmacht  der  Vari- 
ation Gegebenes,  sondern  überall  nur  Degeneriertes,  Ent- 
artetes zu  sehen,  werden  diese  Kraftgestalt  für  ihre 
Schwächenhvpothese  zu  verwerten  schwerlich  im  Stande 
sein. 


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4.  Heinrich  Höfsli  (1784—1864) 

(mit  5  Textbildern  und  1  Kupfertafel) 

„Findst  da  eine  Wahrheit  an  deinem  Wege, 
HUlflos  und  nackt  und  sonder  Pflege, 
Viel  Schriftgelehrte  gehn  vorbei, 
Du  aber  ihr  Samariter  sei." 

Paul  Heyse. 

Die  seit  einigen  Jahren  in  Deutschland  erwachte 
und  von  Jahr  zu  Jahr  gewachsene  Bewegung  zu  Gunsten 
der  Beseitigung  des  §  175  des  geltenden  Strafgesetzbuches 
befindet  sich  in  der  Lage,  auf  ein  vor  mehr  als  60  Jahren 
in  der  Schweiz  erschienenes  deutsches  Buch  sich  zu 
berufen,  welches  die  gleichgeschlechtliche  Liebe  nicht 
als  „widernatürliche  Unzucht",  sondern  als  eine  in  den 
ewigen  Gesetzen  der  Natur  begründete,  zu  Recht  bestehende 
Erscheinung  auffaßt  und  darstellt,  den  Glauben  an  deren 
Unnatürlichkeit  mit  dem  Hexenglauben  und  die  Ver- 
folgung der  dieser  Liebe  Unterworfenen  mit  den  Hexeu- 
prozessen  auf  eine  Stufe  stellt.  Das  Buch  führt  den 
Titel:  „Eros.  Die  Männerliebe  der  Griechen: 
ihre  Beziehungen  zur  Geschichte,  P^rziehung,  Literatur 
und  Gesetzgebung  aller  Zeiten*  und  den  Untertitel: 
„Die  Unzuverlässigkeit  der  äußern  Kennzeichen  im  Ge- 
schlechtsleben des  Leibes  und  der  Seele.  Oder:  Forschungen 
über  platonische  Liebe,  ihre  Würdigung  und  Entwürdigung 
für  Sitten-,  Natur-  und  Völkerkunde*  *);  gewidmet  ist 

')  Erster  Band,  Glarus,  1836,  bei  dem  Verfasser,  XXXIII  und 
304  Seiten.  —  Zweiter  Band,  St.  GaUen,  1838,  in  Kommission  bei 
C.  P.  Scheitlin.  XXXII  und  352  Seiten  in  Oktav. 

.Inhrbuch  V.  29 


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—    450  — 


es  „ dem  Schutzgeist  des  menschlichen  Geschlechts."  Das 
Buch  hatte  seine  eigenen  Schicksale:  von  der  Behörde 
des  Schweizerkantons,  in  dem  es  zum  größten  Teile 
gedruckt  wurde,  verboten,  ward  der  Restbestand  der  Auf- 
lage bei  einer  Feuersbrunst  vollständig  vernichtet. 

Was  vom  Leben  und  Streben,  Wesen  und  Charakter  des 
Verfassers  dieses  zweibändigen  „Eros",  Heinrich  Hüßli, 
bisher  bekannt  geworden  ist,  beschränkt  sich  auf  die  im 
„Eros*  selbst  enthaltenen  gelegentlichen  Angaben;  wir 
erfahren  aber  nur  bitter  wenig:  Im  Jahre  1817  fiel  ihm 
die  Binde  von  den  Augen  und  1819  reiste  er  mit  Büchern 
bepackt  von  Glarus  nach  Aarau  zu  dem  damals  populärsten 
Schweizer  Volks-Schriftsteller  Heinrich  Zschokke1), 
um  diesen  durch  Zurede  und  Unterweisung  zur  Abfassung 
und  Herausgabe  einer  aufklärenden  Schrift  über  seine 
Idee  des  Eros  oder  der  gleichgeschlechtlichen  Liebe  als 
Natur-  und  Sittengesetz  zu  veranlassen,  weil  er 
selbst  „der  Regeln  der  Schulen  seines  Landes"  sich  nicht 
kundig  fühlte  und  daher  sich  nicht  für  geeignet  hielt, 
als  Schriftsteller  aufzutreten  und  erfolgreich  zu  wirken. 
Wirklich  erschien  im  Jahre  1821  aus  Heinrich  Zschokke's 
Feder  eine  Novelle  im  Druck  „Der  Eros  oder  über  die 
Liebe"  2);  hier  läßt  Zschokke  den  edlen  Vater  Holmar, 
Mitglied   des  Obergerichtshofes,  die  Erosidee  Heinrich 

')  Joh.  Heinr.  Dan.  Zschokke,  geb.  22.  März  1771  zu  Magdeburg, 
gest.  27.  Juni  1848  zu  Aarau ;  anfangs  Schauspieldichter,  seit 1792 Privat- 
dozent in  Frankfurt,  dann  1795  Leiter  einer  Erziehungsanstalt  in 
Reichenau  (Graubiindten),  kam  er  1798  als  Deputierter  nach  Aarau, 
dem  damaligen  politischen  Mittelpunkte  der  Schweiz,  wurde  Mitglied 
des  großen  Rats  und  ein  fruchtbarer  Volksschriftsteller.  Als  solcher 
zeigte  er  weniger  kühne  Genialität  und  theoretische  Tiefe  als  Gesund- 
heit und  praktischen  Verstand. 

*)  Nach  Höüli's  Eros  I  S.  277  bildet  der  Eros  von  Zschokke  das 
achte  Heft  von  Zschokke's  Erheiterungen,  Jahrgang  1821,  und  erschien 
in  seinen  Ausgewählten  Schriften  als  X.  Teil,  in  den  1836  erschie- 
nenen Ausgewählten  Novellen  und  Dichtungen  als  14.  Stück.  Mir 


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—    451  — 


Hoßli's  vertreten;  allein  die  Bedeutung  seiner  Anschauung 
und  seiner  Beweisführung  läßt  Zschokke  am  Schlüsse  des  Ge- 
sprächs durch  Holmar's Zugeständnis  wieder  abschwächen, 
daß  er  sich  so  gut  irren  könne,  wie  seine  Gegner:  „Die 
Natur*,  läßt  er  ihn  sagen,  „hat  in  ihrem  Buche  viele 
dunkle  Stellen;  kein  Wunder,  daß  die  Ausleger  von  ein- 
ander abweichen."  Solches  war  nun  durchaus  nicht  in 
Heinrich  Hoßli's  Sinne;  und  im  Innersten  empört  über 
die  Halbheiten  der  Zschokke'schen  Schrift,  fand  sein 
Geist  keine  Ruhe  mehr  und  zwang  ihm  die  Feder  in 
die  Hand.  So  kamen  die  beiden  gedruckten  Bände  seines 
in  drei  Bänden  geplanten  philosophischen  Werkes  „Eros* 
zuStande,  die  er  „unter  Drangsalen  und  Rutenstreichen", 
jedoch  mit  unentwegter  Begeisterung  nach  einem  Zeit- 
räume von  17  Jahren  vollendete;  erst  dann  haben  ihn 
Vertrauen  und  Hoffnung  auf  den  Sieg  seiner  Idee,  die 
als  ewige  Wahrheit  ihn  bis  in  seinen  Tod  begleitete, 
verlassen. 

In  Heinrich  Hoßli's  „Eros"  pulsiert  eine  gewaltige 
Kraft,  die  nie  versagt  und  sich  nirgends  erschöpft;  er 
überzeugt,  er  reißt  fort;  er  ermüdet  nie;  er  scheut  nicht 
Wiederholungen,  wenn  er  wuchtig  und  eindringlich  wir- 
ken will;  und  wirken  will  er;  eigene  Gedanken  belegt 
er  womöglich  mit  zahlreichen  Stellen  aus  den  Werken 
der  hervorragendsten  Schriftsteller  aller  Völker  und  Zeiten. 
Seine  Idee  vom  Eros  als  Natur-  und  Sittengesetz  beleuchtet 
er  von  allen  Seiten  und  immer  wieder  neu  mit  anders- 
farbigem Licht.  Aus  den  Schätzen  aller  Wissenschaften, 
aller  Künste  sucht  er  mit  kundiger  Hand  geschickt 
hervor,  was  immer  geeignet  ist,  erklärend  und  verklärend 

UVgt  nur  eine  spätere  Ausgabe  vor  in:  „Ausgewählte  Novellen  und 
Dichtungen  von  Heinrich  Zschokke.  Erster  Teil.  Mit  der  Abbildung 
von  H.  Zschokke's  Landhaus:  die  Blumenhalde.  Taschen- Ausgabe 
in  zehn  Teilen.  Sechste  vermehrte  Original- Auflage."  Aarau,  Sauer- 
länder. 1813.    Seite  231-292. 

29* 


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—   452  — 


für  seine  verachtete  und  verlassene  Wahrheit  zu  wirken. 
Ein  hohes  Pathos  beherrscht  ihn  und  sein  Satzbau  flutet 
in  oft  gedehnten  Perioden  dahin;  vom  höchsten  sittlichen 
Ernste  getragen  arbeitet  er  seine  Ideen  rastlos  heraus 
und  schreckt  nie  vor  vielfältigem  Ausdruck  eines  und 
desselben  ihm  fruchtbar  erscheinenden  Gedankens  zurück. 
Heinrich  Hößli's  „Eros"  ist  nicht  mit  dem  Kopfe  allein 
geschrieben  und  darf  nicht  allein  mit  diesem  beurteilt 
werden;  er  ist  mit  dem  Herzen  verfaßt  und  solche  Bücher 
sind  selten;  selten  müssen  wohl  auch  Menschen  sein,  die 
solches  zu  Wege  zu  bringen  fähig  sind,  und  man  ist 
beständig  versucht,  man  glaubt  ein  Recht  zu  haben,  Miß- 
trauen in  Hößli's  wiederholte  Versicherung  zu  setzen, 
daß  er  die  Regeln  der  Schulen  seines  Landes  nicht  gekannt, 
ja  nicht  einmal  eigentlich  lesen  und  schreiben  gelernt 
habe.  Seit  des  großen  griechischen  Philosophen  Plato 
„Gastmahl* ')  und  „Phädrus*  ist  Heinrich  Hößli's 
„Eros-  das  bedeutendste  Werk  über  Männerliebe;  was 
jene  unsterblichen  Schriften  für  das  Altertum  gewesen 
sein  mögen,  eben  das  bedeutet  Hößli's  »Eros*  für  die  Neu- 
zeit oder  wird  es  ihr  noch  bedeuten;  mit  vollster,  bewußter 
Klarheit  erkennt  er  die  Liebe  von  Mann  zu  Mann  als 
ein  unzerstörbares  Natur-  und  Sittengesetz  und  stellt 
dieses  lichtvoll  und  allseitig  mit  höchstem  sittlichen 
Ernste  dar. 

So  war  denn  wohl  der  Wunsch  selbstverständlich, 
über  diesen  einzigen,  merkwürdigen  Menschen,  so  lange 
die  Möglichkeit  noch  vorlag,  mehr  in  Erfahrung  zu  bringen, 
als  das  bescheidene  Maß  dessen  betrug,  was  er  selbst  in 
seinem  „Eros"  über  seine  Person  mitzuteilen  für  gut 
befunden  hatte,  und  das  Gefundene  der  drohenden  Ver- 
gessenheit zu  entreißen.    Von  diesem  Verlangen  beseelt, 


')  Deutsch  von  Schleiermaoher  in  Pb.  Keclain's  Universal- 
BiMiothek,  Nummer  927  (20  Pfennig). 


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—    453  — 


unternahm  Verfasser  dieses  im  Herbste  1902  eine  For- 
schungsreise in  die  Schweiz;  das  Glück  war  ihm  hold; 
es  ließ  gar  Manches  sich  noch  feststellen  und  das  Wich- 
tigste des  Ermittelten  tindet  sich  hier  gewissenhaft  zu- 
sammengetragen. 

Angenehmste  Pflicht  wäre  mir  Nennung  aller  meiner 
Quellen,  meiner  Gewährsmänner  und  Gewährsfrauen. 
In  Glarus  und  in  Zürich  gelang  es  mir,  bejahrte  Leute 
aufzufinden,  welche  mit  Heinrich  Hößli  in  persönlichen 
Beziehungen  gestanden  hatten  und  mancherlei  über  ihn 
und  von  ihm  zu  berichten  wußten;  auch  jüngere,  ihm 
näher  oder  entfernter  Verwandte  wußten  Wichtiges,  bald 
vom  Hörensagen,  bald  durch  Augenschein ;  —  ihre  Namen 
alle  hier  mitzuteilen,  wird  mir  leider  durch  die  Verhält- 
nisse verwehrt. 

Die  absolut  genauen  und  zuverlässigen  Angaben  über 
Heinrich  Hößli's  und  seiner  nächsten  Anverwandten 
in  aufsteigender  und  in  absteigender  Linie,  sowie  seiner 
sämtlichen  Geschwister  Geburts-  und  Todestag,  welche 
im  allgemeinen  Interesse  mir  geboten  erschienen,  verdankt 
man  einzig  dem  überaus  freundlichen  Entgegenkommen 
des  Herrn  Polizeiinspektors  J.  J.  Kublv-Cham  in 
Glarus,  welcher  mit  unermüdlicher,  fast  übermenschlicher 
Arbeitskraft  eine  ihrer  Vollendung  entgegenreifende,  viele 
Foliobände  füllende,  kalligraphische,  vollständige  und 
übersichtliche  Genealogie  aller  Glarner  Leute  ausarbeitet 

Allen  genannten  und  ungenannten  liebenswürdigen 
Landsleuten  des  unvergeßlichen  Heinrich  Hößli,  welche 
Anteil  an  diesem  Biogramme  haben,  des  Verfassers  herz- 
lichster Dank! 


I.  Heinrich  Hößli's  äußeres  Leben. 

Heinrich  Hößli  wurde  zu  Glarus  in  der  Schweiz  im 
Hause  525  der  Straße  Innere  Abläsch,  im  fünften  Hause 
der  Abläsch  vom  Landsgemeindeplatze  aus,  am  0.  August 


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—    454  — 

1784  geboren;  in  diesem  Hause  hatte  Heinrichs  Vater, 
der  Hutmachenneistcr  Hans  Jakob  Hößli,  sein  Geschäft. 
Vorher  war  dasselbe  Haus  Eigentum  des  Besitzers  Stein- 
müller gewesen,  bei  welchem  die  am  21.  Juli  1782,  also 
nur  zwei  Jahre  vor  Heinrich  Ilößli's  Geburt*  als  Hexe 
hingerichtete  Anna  Göldin  gewohnt  hatte,  deren  Hößli 
in  seinem  „Eros*  gedenkt.1)  Heinrich  war  seiner  Eltern, 
die  es  auf  nicht  weniger  als  14  Kinder  —  8  Mädchen 
uud  6  Knaben  —  gebracht  haben,  viertes  Kind  und 
erster  Sohn ;  seine  Mutter  Margreth  war  eine  geborene 
Vogel  aus  Glarus. 

Sein  ganzes  Kindesalter  scheint  Heinrich  in  seiner 
Geburtestadt  verlebt  fu  haben;  erst  als  im  Jahre  1799 
die  Russen  unter  dem  General  Suwarow*)  die  Schweiz 
und  speziell  Glarus  heimsuchten  und  daselbst  Hungersnot 
herrschte,  gaben  Heinrichs  Eltern  einige  ihrer  Kinder 
an  andre  Leute  in  der  Schweiz;  und  so  kam  Heinrich 
nach  Bern,  wo  er  seine  Handelschaft  erlernt  haben 
dürfte,  später  aber  wieder  nach  Glarus  zurück. 

Am  5.  Mai  1811  verheiratete  sich  der  noch  nicht 
siebenundzwanzigjährige  Mann  mit  der  Elisabeth  Grebel 
von  Zürich,  des  A  dj  utanten  Rudolf  Grebel  Tochter ;  das  j  unge 
Paar  blieb  aber  nicht  beisammen;  Elisabeth  lebte  in 
Zürich  weiter  und  Heinrich  in  Glarus;  doch  besuchte  er 
öfter  sein  Weib  und  zeugte  mit  ihm  zwei  Söhne:  den 
am  19.  April  1812  geborenen  Jakob  Rudolf  und  den 
am  9.  Januar  1814  geborenen  Johann  Ulrich,  auf 
welche  wir  später  noch  zurückkommen  werden. 

In  seinem  bürgerlichen  Berufe  war  Heinrich  Hößli 
Putzmacher;  er  besaß  einen  ausgebildeten  weiblichen 
Geschmack,  den  sogenannten  Schick;   in  den  zwanziger 

')  Eros  von  Höüli  I.  S.  62*) 

5)  Eine  Gedenktafel  kennzeichnet  jetzt  zu  Riedern  bei  Glarus 
das  Haus,  in  welchem  der  russische  General  Suwarow  am  1.  Ok- 
tober 175>9  Aufenthalt  genommen  hatte. 


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Heinrich  Hößli's  Geburtshaus  in  Glarus  auf  der  Abläsch, 

vom  großen  Brande  in  der  Nacht  des  10.  auf  den  11.  Mai  1861 
verschont;  nach  einer  photographischen  Aufnahme  im  Januar  1903; 
links  erblickt  man  den  Gipfel  des  Glärnisch. 


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—    456  — 


Jahren  des  Jahrhunderts  war  er  „die  erste  Putz- 
macherin* von  Glarus;  er  war  auch  zeitlich  der  erste, 
welcher  dort  Damenhüte  herstellte;  diese  lieferte  er  geleimt, 
nicht  genäht,  und  er  war  so  ganz  bei  seiner  Arbeit,  daß  man 
im  schwarzen  Adler  sein  Mittagessen  um  7  Uhr  Abends 
noch  unberührt  neben  ihm  stehen  fand.  Er  hat  auch 
das  erste  „Trüböri",  einen  dreieckigen  Hut,  Napoleons- 
hut oder  Dreimaster,  verfertigt  und  eingeführt,  die  Kopf- 
bedeckung des  Landammanns,  des  Souverains  des  Kan- 
tons Glarus,  dessen  Landgemeinde,  was  auch  heute  noch 
der  Fall  ist,  am  ersten  Sonntage  im  Mai  jeden  Jahres 
zusammentrat.  Auch  dekorierte  er  mit  einem  Faltenwurfe 
aus  grünem  Stoffe  die  Kanzel  der  Kirche  zu  Glarus- 
Am  württembergischen  Hofe  zu  Stuttgart,  woselbst  sein 
Eheweib,  die  Elisabeth  Grebel,  als  „höhere  Hülfe"  an- 
gestellt war,  hat  Heinrich  Gardinen  aufgesteckt,  war  er 
doch  auch  geschickter  Dekorateur. 

Weil  Heinrich  Hößli  die  Mode  angab  und  Mode- 
waren verkaufte,  so  erhielt  er  den  Spitznamen  „  Modenhößli.  ■ 

Aber  Heinrich  war  nicht  allein  Putzmacher  und 
Dekorateur,  er  war  auch  Handelsmann  und  lebte  als 
solcher  stets  gut  situiert  und  in  durchaus  geordneten 
Verhältnissen,  sodaß  er  in  Hinsicht  seines  Auskommens 
nicht  LTrsache  zu  klagen  fand.  Ein  offenes  Geschäft 
betrieb  er  zuerst  in  der  „Meerenge*  zu  Glarus  im  Gast- 
hofe zum  schwarzen  Adler  (1827 — 1832);  alsdann  hat  er 
eine  Zeit  lang  dieses  Geschäft  aufgegeben  und  „im  Sand* 
gewohnt,  später  aber  wieder  einen  gut  frequentierten 
kleinen  Laden  auf  dem  Kirch  weg  (Glarnerisch  Kilchweg),1) 

l)  „Im  Kilchweg  auf  den  Wurzeln  der  alten  Birn-  und  Apfel- 
bäume an  einer  Reihe  von  20  neuen  Häusern  bewohne  ich  jetzt  ein 
eigenes  recht  artiges  Haus,  das  ich  letzten  Winter  kaufte,  schnurgrad 
Seckelmeister  Dinners  gegenüber  mit  freier  fröhlicher  Aussicht." 
(Brief  vom  9.  July  1842  an  seine  Schwester  Regula  Rehlinger  in 
Kaiifbeuern.) 


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—    457  — 


Ecke  der  äußeren  Zaunstraße  am  jetzigen  Volksgarten,  auf- 
getan. Hier  handelte  er  mit  Damenkleiderstoften  aller 
Art,  besonders  englischen  Ursprungs  (bedruckte  Indienne 
u.  dergl.),  aber  auch  mit  Futter-,  Bettzeug-,  Vorhang- 
stotfen  u.  s.  w.,  alles  solider,  praktischer  Ware.  Drei 
Häuser  von  seinem  Geschäft  wohnte  ein  ihm  Zeit  seines 
Lebens  befreundet  gebliebenes  Fräulein  Margaretha 
Brunner,  die  spätere  Frau  Präsident  Vögeli-Brunner. 
Heinrichs  Eigentum  war  auch  das  nahe  seinem  Ge- 
schäft gelegene  Haus  Ecke  der  Bärengasse,  welches  er 
seinem  langjährigen  Ladendiener  und  Neffen  Jakob  Kubli 
für  2500  Franken  billig  abtrat  Im  Kirch  weg  liquidierte 
Heinrich  1848,  verkaufte  sein  Geschäft,  wohnte  zuerst 
auf  der  Almei  als  Privatier  und  führte  alsdann  bis  April 
1851  ein  neues  Geschäft  auf  dem  Spielhofe  im  Löwen 
(Leuen).  Zur  Hülfeleistung  im  Geschäfte  bediente  sich 
Heinrich  seines  Neffen  Jakob  oder  Jogg  Kubli,  der 
Margaretha  Hößli  Sohn,  welcher  von  seinem  zwölften 
Jahre  an  fast  bis  zum  30.  Lebensjahre  als  Ladendiener 
bei  dem  Onkel  aushielt  und  dessen  bevorzugter  Lieb- 
ling blieb. 

Bald  jedoch  begann  für  Heinrich  Hößli  ein  unruhiges 
Wanderleben;  er  verließ  Glarus  als  dauernden  Aufenthalt 
für  immer  und  ließ  sich  zuerst  in  Stäfa  am  Nordufer  des 
Zürichsees  nieder,  woselbst  er  im  Mai  und  Juni  im  Stern 
und  dann  bis  Oktober  1852  in  der  Mühle  im  Kehlhof 
wohnte.  Von  Stäfa  zog  es  ihn  nach  Schmerikon  am 
obem  Ende  des  Zürichsees  unweit  der  Einmündung  der 
Linth;  hier  stieg  er  in  der  Krone  ab  und  mietete  gleich 
am  1.  Oktober  1852  drei  neben  einander  liegende  Kammern 
beim  Kronenwirt  Franz  Wenk;  im  November  1854  hatte 
er  Wohnung  beim  Landammann  Kriech;  im  Oktober  1855 
machte  er  einen  Abstecher  nach  Zürich  und  besorgte  sich 
1856  einen  auf  12  Monate  lautenden  Paß  nach  Deutsch- 
land.   1857  siedelte  er  nach  Lachen  am  Südufer  des 


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Zürichsees  über,  woselbst  er  im  Gasthaus  zum  Ochsen  ver- 
kehrte; aber  schon  im  November  1858  finden  wir  ihn 
wieder  im  Kanton  Glarus,  in  Mollis,  am  rechten  Ufer 
des  Escher  Kanals;  bis  September  1860  hielt  er  sich  in 
Vogelsang  bei  Winterthur  auf,  zog  Ende  Oktober  1860 
nach  Wülfingen  nahe  Winterthur,  wo  er  seinen  .fort- 
währenden Aufenthalt"  bis  April  1861  im  Pfarrhause  beim 
Pfarrer  Freuler  nahm,  und  zog  von  da  nach  Winterthur 
selbst,  wo  er  zur  Zeit  des  großen  Brandes  im  Mai  1861, 
welcher  halb  Glarus  einäscherte,  weilte;  bis  Ende  Juni 
wohnte  er  hier  im  gelben  Ring  an  der  Metzgasse,  mietete 
am  29.  Juni  1861  in  S.  Grüblers  Haus  den  zweiten  Stock  und 
Platz  für  Holz,  wofür  er  diesem  vierteljährlich  60  Franken 
bei  8  Wochen  vorheriger  Kündigung  zu  zahlen  hatte;  den 
Monat  November  1861  hat  er  in  Haltli  bei  Mollis  zuge- 
bracht; April  1862  hatte  er  Wohnung  im  Seidenhof,  im  Mai 
in  der  Steinhütte  zu  Winterthur  und  hier  ist  er  im  einund- 
achtzigsten Lebensjahre  am  24.  Dezember  1864  Morgens 
97a  Uhr  nach  kurzer  Krankheit  im  Spital  verstorben. 

Seine  beiden  Knaben  hat  Heinrich  Hößli  nicht 
selbst  erzogen,  vielmehr  tat  dieses  deren  Mutter  Elisa- 
beth Hößli-Grebel.  Was  über  diese  einzigen  Nachkommen 
Heinrichs  zu  erfahren  war,  dürfte,  so  weit  es  für  ihre 
Individualität  charakteristisch  ist,  nicht  ohne  Interesse  sein. 

Heinrichs  älterer  Sohn  Jakob  Rudolf,  kurz  Jogg  oder 
Jöggi  genannt,  wurde  Ingenieur  und  wanderte  nach 
Amerika  aus;  er  hat  sich  daselbst  verheiratet,  blieb  dann 
aber  vollständig  verschollen;  sein  Totenschein  lautet 
auf  den  1.  Januar  1871;  er  war  Erbe  der  gesamten 
Hinterlassenschaft  seines  Vaters;  diese  belief  sich  zwanzig 
Jahre  nach  Heinrichs  Tode  mitsamt  den  Zinsen  auf 
etwa  28  000  Franken;  lange  Jahre,  bis  zur  Teilung, 
verblieb  das  Vermögen  im  Waisenarate  in  Glarus.  Vor 
seiner  Auswanderung  nach  Amerika,  wo  er  zuletzt  in 
Otisco  Onondago  County,  State  of  New- York,  gelebt  haben 


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—   461  — 


soll,  war  Jakob  Hößli  am  Hofe  des  russischen  Kaisers 
in  St  Petersburg  beschäftigt  gewesen  und  hatte  für  seine 
dortigen  Verdienste  vom  Zaren  ein  Diplom  erhalten.  Er 
dürfte  demnach  durchaus  nicht  ohne  Talente  gewesen  sein. 

Heinrich  Hößli's  jüngerer  Sohn  Johann  Ulrich  oder 
kurz  John,  Heinrichs  »lieber  Hansi",  „hatte  des  Vaters 
im  „Eros"  niedergelegte  Anschauungen  geerbt" ;  er  war  als 
„Weiberfeind*  bekannt,  was  ihn  jedoch  nicht  hinderte,  an 
seiner  Mutter  mit  der  innigsten  Liebe  zu  hängen,  seine 
Jugendfreundin  Ammann  als  Universalerbin  einzusetzen 
und  mit  vielen  Damen  sowohl  in  Amerika  als  in  Europa 
in  regem  freundschaftlichen  Verkehr  zu  stehen.  Er  wird 
als  ein  großer,  schöner  und  intelligenter  Mann  von  nobel- 
ster Gesinnung  geschildert.  Während  des  amerikanischen 
Krieges  zwischen  Nord  und  Süd  hatte  er  in  seine 
Schweizer  Heimat  aus  New- York  geschrieben,  er  habe 
Besitz  genug  im  Norden,  wenn  dieser  siegen  sollte,  und 
Besitz  genug  im  Süden,  falls  jener  unterliegen  sollte. 
Sein  erstes  Vermögen  erwarb  sich  John  durch  seine  Ge- 
schäfte in  „Dry  Goods*  in  Galveston,dann  spekulierte  er 
in  großartiger  Weise  in  Bauterrains  und  zwar  besonders 
in  New- York.  Sobald  er  jenseits  des  Meeres  festen  Fuß 
gefaßt  hatte,  ließ  er  seine  Mutter  nachkommen;  Ende 
Mai  1842  trat  er,  fast  zehn  Jahre  nach  seiner  Aus- 
wanderung, in  Begleitung  der  geliebten  Mutter  von  Texas 
aus  »mit  aller  möglichen  Bequemlichkeit*  die  erste  Heim- 
reise an ;  später  aber  kam  er,  da  er  die  Mutter  iu  Europa 
zurückgelassen  hatte,  alle  zwei  oder  drei  Jahre  in  sein 
Heimatland  und  besuchte  Mutter  und  Vater,  mit  welchem 
er  in  regelmäßigem  Briefwechsel  stand.  Niemals  unter- 
ließ er  dann,  bei  der  Familie  Jakob  Kubli's  einzukehren, 
dessen  jüngere  Tochter  Rosina  Magdalena  (Rosalina)  sein 
Patenkind  war.  In  Glarus  traf  er  anfangs  der  vierziger 
Jahre  auf  der  Straße  vor  dem  Rathause  einen  weinen- 
den Knaben  und  fragte  ihn  voll  Mitleid,  warum  er  weine. 


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—   462  — 


Die  Antwort  des  Bürschchens  lautete,  seine  Mutter  habe 
sich  als  Salzverkäuferin  gemeldet,  sei  aber  nicht  gewählt 
worden   und   nun   fehle  es  ihr  und  ihren  Kindern  am 
täglichen  Brode.    „Ich  nehme  dich  mit  nach  Amerika, 
wenn  du  mit  mir  kommen  willst",  bot  nun  John  dem 
weinenden  Knaben  an;  hatte  er  doch  schon  vergeblich 
ein  gleiches  Angebot  dem  Jakob  Kubli  früher  gemacht; 
dieser  war  aber  zu  ängstlicher  Natur  und  überdies  bereits 
Vater  eines  Sohnes  geworden ;  bei  dem  fremden  Knaben 
Heinrich  Rosenberger  aber  stieß  Johu  Hößli  nicht  auf 
Widerstand.    Er  schickte  den  Knaben  in  eine  Fabrik  bei 
Glarus  und  bevor  er  ihn  nach  Amerika  mitnahm,  beließ 
er  ihn  noch  einige  Zeit  im  Geschäfte  seines  Vaters  in 
Glarus,  damit  er  hier  einige  Wareukenutnisse  sich  an- 
eigne.   In  Amerika  stand  John  mit  dem  jungen  Rosen- 
berger in  freundschaftlichem  Verhältnisse;  sie  führten 
anfangs  ein  gemeinsames  Geschäft,  blieben  aber  nicht 
dauernd  beisammen;  Rosenberger  wurde  Schweizer  Konsul 
in  Galveston,  blieb  jedoch  an  Johns  Geschäft  beteiligt. 
Als  John  im  Juni  1854  wieder  in  seiner  Heimat  weilte, 
entschloß  sich  die  Mutter  zum  zweiten  Male,  dem  ge- 
liebten Sohn  nach  Amerika  zu  folgen,  wo  sie  1858  starb. 
Der  Sohn  sollte  die  Mutter  nicht  lange  überleben;  am 
11.  Mai  1861  geriet  das  Schiff,  welches  ihn  von  Halifax 
(('anada)  aus  in  die  Heimat  zum  geliebten  Vater  tragen 
sollte,  zwischen  zwei  gewaltige  Eisblöcke,  welche  es  mit 
allem  auf  ihm  Befindlichen  erdrückten.    Die  merkwürdige 
Geschichte  zweier  Testamente  Johns,  in  welcher  Hein- 
rich  Rosenberger  eine  nicht  wenig   zweideutige  Rolle 
spielte,  muß  hier  übergangen  werden.    Als  Haupterbin 
war  im  ersten  Testamente  von  1851  mit  einem  Vermögen 
von  20  000  Franken  das  Fräulein  Ammann,  eine  Gold- 
schmiedstochter in  Zürich,  von  John  Hößli  eingesetzt 
worden,  weil  dieselbe  den  beiden  bedürftigen  Knaben  Hein- 
rich Hößli's   und  der  Elisabeth  Grebel,  denen  es  mit 


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—   463  — 


ihrer  Mutter  oft  recht  traurig  erging,  viel  Unterstützung 
hatte  zu  Teil  werden  lassen.  Auch  der  Knabenanstalt 
Linthkolonie  und  Bilten  im  Kanton  Glarus  hatte  John 
in  diesem  Testamente  20  000  Franken  mit  dem  Bemerken 
vermacht,  daß  ein  Teil  der  Zinsen  zur  Unterstützung 
für  junge  intelligente,  nach  Amerika  auswandernde  Söhne 
verwendet  werden  sollte. 


Genealogie  des  Heinrich  Hößli  von  Glarus. 

1.  Heinrich  HößH's  Eltern: 

Hans  Jakob  HO  Uli,  Hutmachermeister,  auf  der  Abläscb,  Sohn 
des  Tucbhandelsmanns  und  Ltfwenwirts  Heinrich  Hüßli  und  der 
Elisabeth  Elmer,  geb.  25.  November  1758,  gest.  18.  September 
1846. 

Margret h  Vogel  von  Glarus,  Tochter  des  Meisters  Johannes  Vogel 
und  der  Margreth  Ltitschg,  geb.  11.  August  1757,  gest.  2.  März 
1831,  kopuliert  mit  dem  Vorigen  21.  Juli  1780. 

2.  Heinrich  HößH's  Geschwister: 

1781.  6.  Januar:  Anna  Magdalene,  ehelichte  den  Uhrmacher 
Bernhard  Milt. 

1781.    19.  Dezember:  Margaretha;  ehelichte  den  Melchior  Kubh* 

von  Glarus. 
178a   26.  März:  EJisabeth  .  .  . 

1784.  6.  August:  Heinrich,  siehe  unter  3. 

1785.  14.  September:  Barbara,  ehelichte  den  Feldwebel  Heinrich 
Tschudi  von  Glarus. 

1786.  23.  September:  Johannes,  gest.  an  der  Schwindsucht 
12.  Juü  1793. 

1787.  26.  Oktober:  Regula,  gest.  27.  März  1789. 

1789.  4.  Februar:  Johann  Jakob,  wohnhaft  in  Chur. 

1790.  12.  Mai:  Johann  Ulrich,  Hutmacher  in  Glarus. 

1792.  30.  Januar:  Cosinus,  gest.  an  den  Blattern  28.  März  1797. 

1793.  4.  März:  Regula,  ehelichte  den  Jonas  Daniel  Rehlinger 
von  Kaufbeuern. 

1796.   3.  August:  Verena,  ehelichte  den  Hans 'Heinrich  Gamper 

von  Stettfurt,  Kanton  Thurgau. 
1800.  23.  Februar:  EUbeth,  gest.  an  den  Blatternll.  August  1801. 
1802.   6.  September:  Johannes,  gest  2.  Dezember  1802. 


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3.  Heinrich  Höfiii  jünger  nebst  Eheweib: 

Heinrich  Hößli  von  Glarus,  Putzmaoher  und  Tuchhandelsmann. 

Verfasser  des  „ErosM  1836,38,  Sohn  des  Hutmachere  Johann 

Jakob  Hößli  und  der  Margaretha  Vogel,  geb.  6.  August  1784, 

gest.  24.  Dezember  1864  in  Winterthur. 
Elisabeth  Grebel  von  Zürich,  des  Adjutanten  Rudolf  Grebel 

Tochter,  kopuliert  mit  Heinrich  Hößli  jünger  am  5.  Mai  1811. 

4.  Heinrich  Höfili's  Nachkommenschaft: 

1812.  19.  April:  Jakob  Rudolf,  zuletzt  in  Otisco-Onondago 
County,  State  ol  New -York,  dann  verschollen;  sein  Toten- 
schein lautet  auf  den  1.  Januar  1871. 

1814.  9.  Januar:  Johann  Ulrich  (John),  nach  Amerika  aus- 
gewandert, *  ertrank  während  einer  Heimreise  auf  dem  Ozean 
am  11.  Mai  1861. 


II.  Heinrich  Hößli's  Wesen  und  Charakter. 

Heinrich  Hößli  war  von  mittelgroßem  Wüchse  und 
erschien  in  Folge  kurzer  Beine  von  fast  kleiner  Gestalt; 
er  war  nicht  schön,  aber  von  gesunder  Stärke;  er  hatte 
einen  breiten  Mund  und  trug  das  Gesicht  glatt  rasiert, 
das  braune  Kopfhaar  struppig,  ungepflegt,  wild  genial, 
indem  er  sich  selten  eines  Kammes  bediente.  In  seiner 
Erscheinung  durchaus  männlich  ohne  das  geringste  Weibi- 
sche, zeigte  er  ein  Benehmen  wie  eine  höfliche  Frau  und 
besaß  ganz  das  Temperament  seiner  um  ein  Jahr  jüngeren 
Schwester  Barbara,  der  Ehefrau  des  Feldwebels  Heinrich 
Tschudi,  als  Witwe  unter  dem  Namen  „Hebamme  Hößli" 
in  Glarus  bekannt,  von  Heinrich  zärtlich  »Baby*  genannt.1) 

')  Von  Heinrich  Htfüli  als  Mann  in  den  mittleren  Jahren  habe 
ich  ein  Portrait  nicht  aufgetrieben.  Die  hier  als  Titelbild  beigegebene 
Kupferradierung  mit  Autogramm  beruht  auf  einer  nach  der  Erinne- 
rung und  unter  Benutzung  der  Autotypieen  des  Jünglings  und  des 
Greises  vom  Zeichner  Caspar  MUUer  in  Glarus  mit  Bleistift  ausge- 
führten Zeichnung.  Caspar  Müller  bemerkt  dazu:  „Eine  Charakte- 
ristik eines  Bildes  von  HitUli  liegt  in  dessen  schwarzseidenem  Hals- 
tuche, ebenso  auch  in  diesem  Hauskäppchen,  das  er  sich  immer 
selbst  anfertigte." 


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—   465  — 


Auf  der  Straße  vor  dem  Hause,  am  Brunuen,  selbst 
in  der  Wirtsstube  erschien  Heinrich  oft  im  Schlafrock; 
er  zeigte  sich  stets  freundlich  und  zuvorkommend  gegen 
jedermann,  besonders  liebenswürdig  gegen  seine  ausschließ- 
lich  weiblichen  Kunden,  und  pflegte   wohlgefällig  zu 
lächeln.    Nie  ist  er  Soldat  gewesen.    In  Glarus  war  er 
Mitglied  der  Kasinogesellschaft  und,  gern  gesehen  über- 
all, galt  er  als  Mann  von  Lebensart.    Sein  Geist  war 
von  außerordentlicher  Lebhaftigkeit,  unruhig,  rastlos,  sein 
Temperament  nicht  jedoch  eigentlich  sanguinisch.  Daheim 
schlief  er  selten  in  einem  Bett,  sondern  auf  Matrazen 
mit  einem  Dutzend  zusammengehäufter  Leinentücher  am 
Boden  oder  auf  einer  Kiste;   diese  Schlaf  weise  faud  er 
sauber.    Er  fegte  seine  Zimmer  selber  aus,  kochte  seinen 
Kaffee  selbst  und  säuberte  auch  eigenhändig  sein  Tafel- 
geschirr; zu  seiner  Freundin,  Fräulein  Brunner,  die  ein- 
mal bei   ihm  Kaffee  trank   und  ihr  Mißbehagen  nicht 
überwinden  konnte,  äußerte  er,  sie  solle  sich  nicht  ekeln, 
er  sei  sehr  säuberlich.    In  Heinrichs  Geschäftsräumen 
sah  es  wohl  recht  unordentlich   aus;  die  Ellenwaren 
hingen  da  oft  wüst  über  den  Ladentischen;  selbst  die 
Kasse  für  die  Kupfermünzen  stand  offen  da,  so  daß  jeder 
hätte  hineingreifen  können.    In  Glarus  gab  es  ein  Sprich- 
wort: „Das  ist  eine  Ordnung  wie  beim  Hueter-Hößli." 
Auf  diesem  Mangel  an  Ordnung  beruhte  wohl  auch  vor 
allem  ein   gewisser  Grad   von  Mißtrauen,  der  Heinrich 
stets  fürchten  ließ,  bestohlen  zu  werden;  man  sagte  ihm 
nicht  nur  nach,  daß  er  überall  Spiegel  anbringe,  um  zu 
wissen,  ob,   wann   und  von   wem  er  bestohlen  würde, 
.sondern  er  tat  dieses  wirklich.    Wurde  er  nun  bestohlen, 
so  gewahrte  er  es  leicht  und  wußte  sich  dann  ohne  viel 
Aufhebens  wieder  in  Besitz  seines  Eigentums  zu  setzen. 
Brillen   hatte  Heinrich   wohl   ein   halbes  Hundert  und 
kaufte  solche  auch  dutzendweise,  jedoch  fand  er  sie  nicht 
am  rechten  Ort  und  zur  rechten  Zeit    und  während  er 

Jahrbuch  V.  30 


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Heinrich  Hößli 

als  Jüngling  von  neunzehn  Jahren  nach  einer  anscheinend  am 
II.  Februar  1804  vollendeten  Aquarellzeichnung. 


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Heinrich  Hößli 

als  Greis  nach  einer  Daguerrotypie. 
Von  sechs  Personen,  welche  Hößli  gekannt  haben,  ist  mir  bestä- 
tigt worden,  daß  dieses  Bild  den  Verfasser  des  „Eros"  „leibhaftig" 
darstelle,  wenn  auch  gealtert  und  verbittert. 


30* 


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—   468  — 


zwei  bis  drei  Stück  auf  der  Nase  hatte,  suchte  er  solche 
gleichwohl  in  allen  seinen  Taschen.  Auf  Reisen  verbarg 
er  sein  Geld  in  einem  Strumpfe  und  versteckte  es,  wenn 
er  irgendwo  zu  Besuch  weilte,  hinter  einem  Spiegel. 

Auch  in  seiner  Kleidung  war  Heinrich  nachlässig 
und  zerstreut;  an  einem  Leichenbegängnisse  nahm  er 
einmal  mit  einem  Stiefel  und  einem  Pautoftel  bekleidet 
teil  und  bemerkte  das  erst,  als  er  sich  schon  im  Zuge 
befand;  ein  andermal  wollte  er  seinen  Hut  abnehmen, 
trug  aber  keinen  auf  dem  Kopfe.  Er  gab  nicht  viel  auf 
eigenen  Kleiderputz  und  eigene  Eleganz,  wo  es  aber 
Andern  daran  fehlte,  bemerkte  er  es  sofort.  Demunge- 
achtet  zeigte  er  sich  nicht  ganz  ohne  Eitelkeit;  stets  trug 
er  einen  schweren  goldenen  Ring  und  eine  goldene 
Uhrkette. 

Der  Gewohnheit  des  Rauchens  hat  Heinrich  nicht 
gehuldigt,  doch  soll  er  einer  Prise  nicht  abgeneigt  ge- 
wesen sein. 

Heinrich  war  ein  wenig  rechthaberisch,  besaß  eine 
nicht  geringe  satirische  Anlage  und  konnte  von  göttlicher 
Grobheit  sein;  diesbezüglich  weiß  man  in  Glarus  mancher- 
lei zu  erzählen.  Jedoch  auch  rührende  Züge  großer  Gut- 
mütigkeit und  reichen  Gemütslebens  werden  von  ihm 
berichtet.  In  Glarus  pHegte  Heinrich  im  Löwen  auf  dem 
Spielhofe  zu  speisen,  da  er  in  jenem  Gasthofe,  wie  frü- 
her bei  der  gleichen  Familie  im  schwarzen  Adler,  seinen 
Verkaufsladen  und  sein  Logis  im  Erdgeschoß  inne  hatte. 
Zeitlebens  stand  er  mit  dieser  Familie  in  aufrichtiger 
Freundschaft,  welche  sich  auf  deren  Kinder  übertrug; 
dieses  Freundschaftsverhältnis  war  so  bekannt,  daß  der 
jüngste  Sohn  des  Löwenwirts,  mit  dem  uud  mit  dessen 
Frau  Heinrich  stets  freundschaftlich  verkehrte  und  in 
regelmäßigem  Briefwechsel  stand,  anläßlich  seiner  zum 
Tode  führenden  Krankheit  in  Wiuterthur  von  den 
Glarner  Behörden  kurz  vor  Hößli's  Tode  zum  Vormunde 


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—    4(39  - 


und  Liquidator  seines  Vermögens  ernannt  wurde.  Für 
Heinrichs  fast  zarte  Liebe  zum  hülflosen  Tiere  erlebte 
ein  jetzt  achtzigjähriger  Greis  in  Glarus  einen  äußerst 
charakteristischen  Fall.  Einst  kam  dieser  mit  einem 
Freunde  nach  Lachen  und  traf  im  dortigen  Gasthause 
zum  Ochsen  auch  Heinrich  Hößli  an.  Nach  Tische  lud 
dieser  seine  Ortsgenossen  zur  Besichtigung  seines  schön 
gelegenen  originellen  Ileimwesens  ein;  in  der  Wohnstube 
befand  sich  hier  ein  großer  runder  Tisch  mit  Büchern 
aller  Art  überlegt  und  mitten  darin  ein  Vogelkäfig  mit 
einem  Kanarienvögelchen.  Auf  des  Ortsgenossen  Bemer- 
kung: „Sie  halten  also  auch  ein  Vögelchen?"  erwiderte 
Heinrich:  „Ja,  leider!  Ich  kann  Ihnen  damit  den  Beweis 
liefern,  daß  einer  kein  freier  Mann  ist,  wenn  er  nur  ein 
Vögelchen  besitzt.  Ich  begab  mich  auf  eine  Reise,  als 
mir  unterwegs,  da  eben  mein  Schiff1  in  Stäfa  landete, 
plötzlich  in  den  Sinn  kam,  daß  ich  mein  Vögelchen  zu 
füttern  vergessen  hatte.  Was  tun  ?  Um  das  Tierchen 
am  Leben  zu  erhalten,  mußte  ich  mit  dem  nächsten  Schiffe 
wieder  umkehren  und  die  geplante  Heise  aufschieben." 

Heinrich  war  ungeachtet  mancher  Fehler  und 
Schwächen,  wie  solche  wohl  jedermann  eigen  sind,  ein 
edler,  ideal  gesinnter  Mensch.  Ganz  besonders  stark  war 
sein  Gerechtigkeitsgefühl  entwickelt.  Hörte  er,  daß  man  mit 
einem  Steine  oder  dergl.  nach  einer  Katze  geworfen  hatte, 
so  brummte  er:  .Teufel  auch!  Wenn  man  die  Menschen 
so  hetzte  wie  eine  Katze,  so  würden  auch  sie  falsch  und 
diebisch!"  Eine  seltene  Willenskraft,  welche  weder  durch 
die  Ueberzeugung  von  der  eigenen  Unzulänglichkeit 
zurückschreckte,  noch  durch  äußere  Widerwärtigkeiten 
schlimmster  Art  lahm  gelegt  wurde,  hat  Heinrich  durch 
die  Herausgabe  des  zweiten  Bandes  seines  „Eros*  hin- 
länglich dargetan ;  auch  daß  er  seinem  einmal  ergriffenen 
Berufe  treu  geblieben,  ohne  je  höher  hinaus  zu  wollen, 
ungeachtet  des  Vorherrschens  seiner  Hinneigung  zu  an- 


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—    470  — 


gestrengter  geistiger  Tätigkeit,  zeugt  für  seine  intensive 
Willensstärke  nicht  weniger  als  verschiedene  kleine,  mehr 
augenfällige  positive  Züge  seines  Wesens,  so  z.  B.,  daß  er, 
wenn  er  am  1.  eines  Monats  Zahnschmerzen  hatte,  mit 
Kreide  an  die  Wand  schrieb:  Am  4.  habe  ich  sie  nicht 
mehr.  Ueberhaupt  schrieb  er  alle  Wände  voll  mit  allerlei 
Notizen,  selbst  über  der  Türe,  so  daß  manche  einfältige 
Leute  glaubten,  daß  er  ein  halber  Zauberer  oder  Hexen- 
meister sei,  was  ihn  oft  recht  belustigte,  uud  in  seinem 
Nachlasse  fanden  sich  hunderte  beschriebener  Papier- 
schnitzel vor,  zumeist  geschäftlichen  Inhalts.  In  seiner 
Einsamkeit  gewöhnte  er  sich  an,  laut  mit  sich  selbst 
zu  sprechen. 

Heinrich  gehörte  der  evangelischen  Kirche  an,  war 
aber  vollkommen  freidenkerisch  und  spottete  freisinnig 
über  Religionsbekenntnisse  und  „Pfaffen",  ohne  aber  dabei 
im  Geringsten  Atheist  zu  sein;  auf  die  Geistlichkeit  hatte 
er  einen  gewissen  scheinbar  unversöhnlichen  Haß  geworfen, 
welcher  jedoch  sicherlich  nur  der  von  derselben  vertretenen 
Sache,  keineswegs  der  Person  galt,  wie  seine  Freundschaft 
mit  mehreren  geistlichen  Herren,  dem  Pfarrer  Freuler 
in  Wülflingen,  dem  Pfarrer  Speich  in  Glarus,  genugsam 
beweist;  diesem  Hasse  gab  er  auch  durch  Spott  gelegentlich 
deutlichen  Ausdruck;  seine  vertraute  Freundin  Fräulein 
Brunner,  die  er  aus  der  Kirche  kommen  sah,  fragte  er 
höhnisch:  „Nun,  was  hat  der  Herr  Pfarrer  gepregelt  ?*,  wo- 
rauf sie  ihm  erwiderte:  „Wenn  Sie  so  fragen,  werde  ich  es 
Ihnen  niet  sagen".  Heinrich  spottete  aber  nur  über  die 
bigotte  Geistlichkeit  und  „Pfaffenwelt"  und  deren  oft  eng 
begrenzten  Horizont;  und  wenu  er  die  Geistlichkeit  zum 
Teil  haßte,  so  war  dazu  wohl  auch  ein  Grund  der,  daß 
manche  Geistliche  s.  Z.  sich  hervortaten,  damit  der 
weitere  Druck  seines  Buches  „Eros"  verboten  werde. 
Wenn  er  vom  Sterben  und  vom  Tode  sprach,  so  betonte 
er  oft:    Er  werde  dereinst  ruhig  vor  den  Richterstuhl 


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Gottes  treten,  denn  er  habe  stets  nur  das  Gute  gewollt 
und  er  hoffe,  Gott  werde  ihm  seine  Irrtümer  und  Fehler 
wie  allen  sündigen  und  reuigen  Menschen  verzeihen. 

Für  alles  Gute,  Edle  und  Schöne  war  Heinrich  stets 
begeistert;  er  schwärmte  für  Gesang,  besonders  für  die 
Lieder  des  Sängervaters  Hans  Georg  Naegeli  von  Zürich; 
auch  war  er  ein  aufrichtiger  Freund  der  Natur  und  ein 
scharfsinniger  Beobachter  derselben. 

Vermöge  seiner  hochentwickelten  Intelligenz  zeigte 
er  sich  auf  keinem  geistigen  Gebiete  verlegen;  er  konnte 
sich  mit  Künstlern  und  Gelehrten,  unter  denen  er  ver- 
traute Freunde  besaß,  unterhalten,  obwohl  er  Schule  nicht 
genossen  hatte;  und  dieses  war  nicht  nur  die  Meinung 
derer,  die  ihn  dieses  Vorzuges  wegen  zu  beneiden  Ursache 
hatten,  sondern  ebenso  auch  die  Auffassung  der  gebildeten 
Kreise.  Als  Zeugnis  dessen  diene  das  nachfolgende  in  der 
Orthographie  des  Originals  wiedergegebene  Schreiben 
des  Dr.  Müglich  an  die  Gräfin  v.  Bentzel-Sternau: 

„Ihrer  Hochgeboren  der 

Frau  Gräfin  v.  Bentzel-Sternau 
gebornen  Baronin  v.  Seckendorf 

Mariahalden. 

Gnädige  Frau  Gräfin. 

Wenn  ich  auch  sonst  auser  Berührung  mit  Ihrem  edeln 
Hause  bleiben  solte,  so  nehme  ich  mir  doch  die  Freiheit, 
mich  zuweilen  durch  die  Feder  mit  demselben  noch  in 
Verbindung  zu  sezen.  So  jezt.  Herr  Heinrich  Hößli 
von  Glarus  wünschte  auf  einer  Reise  nach  Zürich  Ihre 
Gemälde  zu  sehen.  Ich  sagte  ihm,  Sie  seyen  so  ge- 
fällig, ihm  dieselben  auch  ohne  mein  Billet  sehen  zu 
lassen:  er  drang  aber  in  mich  und  ich  wilfahre  ihm. 
Diser  Mann  ist  mir  äuserst  merkwürdig  erschinen. 
Er  ist  ein  Autodidakt  und  ich  mögte  wohl  sagen,  ein 
Filosof,  ob   er  gleich  bürgerlich  nur  ein  Puzmacher 


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—   472  — 


ist.  Ich  fürcht  also  nicht,  daß  Ihre  Excellenz  ihn  so 
sarkastisch  aufnehmen  werde,  wi  Napoleon  diStael,  indem 
er  si  fragte,  wivil  kostet  eine  Elle  der  Spizen  hir  an 
Ihrer  Halskrause? 

Hochachtungsvol 

Ihrer  Excellenz 
ergebenster  Diner 
Mollis,  1827.  Dr.  J.  K.  A.  Müglich". 

Und  diese  Auffassung  von  Heinrich  Hößli's  Geistes- 
art galt  nicht  nur  zu  der  Zeit,  als  er  noch  am  „Eros" 
arbeitete,  sondern  auch  noch,  als  dieser  längst  er- 
schienen und  verboten  war,  blieb  sein  Verfasser  überall 
äußerst  beliebt  und  jedermann  hielt  ihn  für  einen  ge- 
scheidten  Kopf.  Er  interessierte  sich  lebhaft  für  jeg- 
lichen Fortschritt;  in  den  vierziger  Jahren  pflegte  er  be- 
züglich der  Erfindungen  seines  Jahrhunderts  zu  äußern : 
„Es  kommt  noch  so  weit,  daß  man  in  den  Hafenkübel 
hineinhockt  und  —  zum  Fenster  hinausfliegt."  Eine  be- 
sonders große  Liebe  war  Heinrich  zum  gestirnten  Him- 
mel eigen  und  kundig  war  er  der  Sterne  und  ihrer 
Bahnen,  ihres  Standes  und  ihres  Erscheinens.  Er  war 
ein  leidenschaftlicher  Freund  guter  Bücher  und  hielt 
streng  auf  deren  sorgfältige  Behandlung;  „Eselsohren" 
waren  ihm  ein  Greuel;  seiner  vertrautesten  Freundin, 
Fräulein  Brunner,  lieh  er  Werther's  Leiden,  weil  er  wisse, 
daß  sie  das  Buch  angemessen  behandeln  würde,  er  gäbe 
es  aber  nicht  einem  jeden.  Aus  dem  Hause  des 
Pfarrers  Freuler  zu  Wülflingen  ersuchte  er  noch  am 
22.  November  1860,  bereits  über  70  Jahre  alt,  J.  J. 
Siegfriede  Buchhandlung  und  Antiquariat  in  Zürich  um 
Zusendung  von  37  wissenschaftlichen  und  dichterischen 
Werken  aus  dessen  127.  Verzeichnisse;  s/8  davon  wolle 
er  jedenfalls  behalten,  wahrscheinlich  alle ;  und  er  sendete 
20  Franken  Vorschuß  ein.    Seine  erstaunliche  Kenntnis 


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-   473  - 

der  Literatur  war  seinen  Freunden  wohl  bekannt;  sie 
ließ  nicht  nach,  als  Heinrich  die  Fortsetzung  seines 
„Eros"  definitiv  aufgegeben  hatte;  ein  Brief  des  W.  E. 
von  Gonzenbach  am  Berg  aus  St.  Gallen  vom  24.  No- 
vember 1854  hebt  diese  Kenntnis  Hößli's  und  seine 
Liebe  zur  Literatur  hervor.-1)  Bei  seinem  Tode  hinter- 
ließ er  8  Kisten  mit  Büchern.  Heinrichs  um  sechs  Jahre 
jüngerer  Bruder  Johann  Ulrich,  mit  dessen  weder  lieb- 
reichem noch  aufrichtigem  Charakter  sich  Heinrich  nicht 
zu  befreunden  vermochte,  nannte  ihn  nur  den  „gefehlten 
Gelehrten". 

Ein  langjähriger  Bekannter  Heinrich  Hößli's  zeich- 
nete diesen  mit  den  sechs  Worten:  „Er  war  Idealist  — 
Eros  sein  Steckenpferd." 

Mit  dem  eingetretenen  Greisenalter  scheint  nicht 
zum  mindesten  das  trostlose  Schicksal  seiner  Idee  vom 
Eros  an  Heinrichs  Herzen  genagt  zu  haben;  er  galt 
mehr  und  mehr  als  Sonderling,  wurde  im  Verkehr  mit 
seinen  Mitmenschen  eher  wortkarg  als  mitteilsam  und 
äußerst  vorsichtig  und  zurückhaltend  in  Rede  und 
Urteil.     Auch   verfiel  er  auf  Sonderbarkeiten,   die  bei 


*)  Von  der  Tiefe  seines  Interesses  lür  Philosophie  und  Dicht- 
kunst zeugt  auoh  die  Tatsache,  daß  er  aus  den  Vorlesungen  an 
der  Universität  Zürich  im  Wintersemester  1853/54  nach  der  „Neuen 
Zürcher  Zeitung",  Nummer  238,  Beilage,  in  seinem  Notizbuch 
notierte: 

„Philosophische  Fakultät  —  Prof.  ord.  Dr.  H.  A.  Th.  Kochly 

1.  Geschichte  der  griechischen  Weltliteratur  (der  allge- 
meinen griechischen  Literaturgeschichte  zweite  Hälfte) 
4  Stunden. 

2.  Vergleichende  Erklärung  der  Elektra  des  Sophokles 
und  der  Elektra  des  Euripides;  3  Stunden. 

3.  Ausgewählte  Gedichte  der  römischen  Elegiker;  3.  St. 

4.  Uebungen  der  philologischen  Gesellschaft  (Erklärungen 
von  Piatons  Phädrus),  unentgeltlich;  2  Stunden. 

Anfang  31.  Oktober." 


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—    474  - 


seinem  sonst  so  ausgesprochen  edlen  Wesen  nicht  recht 
verständlich  sind. 

Ein  glücklicher  Mensch  iit  Heinrich  Hößli  nie 
gewesen.  In  einem  Briefe  an  seine  sehr  unglücklich  ver- 
heiratete Schwester  Frau  Regula  Kehlinger  geb.  Hößli 
in  Kaufbeueru,  aus  Glarus  vom  9.  Juli  1842  datiert,  in 
welchem  der  58jährige  Mann  schildert,  der  Vater  sei 
noch  so  gesund  wie  ein  junger  Hirsch  und  die  Brüder 
befänden  sich  in  Wohlstand  und  ziemlichem  häuslichen 
Frieden,  findet  sich  der  nachfolgende  erschütternde  Satz : 

„Bei  diesen1)  Dingen  aber  kenne  ich,  liebe  Schwester, 
das  Leben  und  Schicksal  der  Menschen,  ich  darf  wohl 
sagen,  von  allen  seinen  fürchterlichen  Seiten.  Meine 
Vergangenheit  ist  eine  Reihe  beinahe  unaufhörlichen  Un- 
glücks und  Leidens;  ich  sehe  mit  Schaudern  zurück;  und 
wenn  Du  einmal  hörst,  daß  ich  auch  den  letzten  Streit 
vorüber  habe,  so  falle  vor  Dank  und  Freude  nieder  vor 
Deinem  Gott* 

Allein  trotz  dieser  durch  manches  Bittere,  das  er 
erleben  mußte,  notwendig  hervorgerufenen  düsteren 
Stimmungen,  die  Heinrich  nicht  Herr  über  sich  werden 
ließ,  sah  man  ihn  oft  heiter  und  froh,  besonders  dann, 
wenn  freudige  Ereignisse  in  den  ihm  befreundeten  Fa- 
milien eintraten  oder  wenn  in  den  Zeitungen  von  einem 
weltbewegenden  Fortschritte  zu  lesen  war.  —  

Als  Rekapitulation  und  zugleich  als  Dokument  aus 
der  damaligen  Zeit  folgt  hier  der  Nekrolog  Hößlis  im 
„  Republikaner.44 

„ —  W  i  n  t  e  r t  h  u  r.  (Einges.)  Ende  letzter  Woche 
verschied  hier  im  83. 2)  Lebensjahre  ein  auch  in  weitern 
Kreisen  bekannter  origineller  Glarner,  Namens  Heinrich 
Hößli.   Derselbe  wurde  im  Jahre  17823)  von  unbemittelten 

*)  (d.  h.  Heinrichs  Wohlstand  betreffenden) 
e)  Im  81.  Lebensjahre  nach  Seite  1«>0  und  404. 
*)  1784  nach  Seite  454  und  4G4. 


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—   475  — 


Eltern  geboren,  kam  dann  in  den  auch  fürs  Glarnerland 
so  verhängnißvollen  neunziger  Jahren  mit  einem  Transporte 
armer  Kinder  nach  Zürich  und  später  in  ein  Handlungs- 
geschäft in  Bern. 

„Im  Anfang  dieses  Jahrhunderts  eröffnete  er  in 
Glarus  ein  sogenanntes  Putzgeschäft,  das  er  mit  Erfolg 
bis  Ende  der  vierziger  Jahre  betrieb,  und  gab  es  damals 
wohl  wenige  Familien  landauf  und  ab,  die  nicht  mit  dem 
Putzmacher  Hößli  verkehrten.  Neben  seinem  Geschäfte 
hatte  derselbe  einen  unermüdlichen  Drang  nach  Wissen 
und  Bildung  und  verausgabte  auch  einen  großen  Theil 
seiner  Ersparnisse  für  Bücher  und  Schriften  aller  Art. 
In  Folge  dessen  eignete  er  sich  eine  tiefe  Denkungsart 
an  und  erhielt  sein  Geist  einen  philosophisch  gelehrten 
Zug.  Hößli  stand  s.  Z.  auch  in  Verbindung  mit  Zschokke 
und  Troxler  und  erzählte  stets  mit  Freuden,  daß  auf 
seine  Eingebung  hin  jener  den  „Eros*  in  seine  Novellen 
schrieb. 

„Mit  seinem  selbstgeschriebenen  Werke  „Erosw  hatte 
der  Verfasser  jedoch  wenig  Glück,  indem  der  damalige 
Rath  von  Glarus  dasselbe  weiter  zu  schreiben1)  verbot; 
immerhin  wird  dieses  Buch,  wie  wir  schon  Gelegenheit 
hatten  zu  hören,  vou  sehr  gelehrten  Personen  weit  milder 
beurtheilt  und  sagten  einst  die  Verleger  selbst,  daß  frag- 
liches Buch  von  Laien  meist  nicht  verstanden,  dagegen 
oft  von  Literaten  gekauft  werde,  um  daraus  zu  schöpfen, 
und  es  bewundernswerth  sei,  wie  es  einem  ungeschulten 
Manne  möglich  geworden,  einen  solchen  Schatz  von  Ge- 
lehrsamkeit und  eigenen  neuen  Ideen  darin  niederzulegen.  * 

„Nach  Aufgebung  seines  Geschäfts  in  Glarus  arbei- 
tete der  Alte  mit  regem  Interesse  an  einem  dritten  Bande 
seines  Werkes2),  um  Unterlassenes  nachzuholen  und  über- 

l)  Zu  drucken,  nicht  zu  schreiben,  nach  S.  450  u.  S.  500 
9)  Dieser  war  von  vornherein  geplant  nach  S.  451  u.  S.  477. 


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—   47(5  — 


haupt  seine  Idee  verständlicher  und  klarer  zu  machen, 
konnte  denselben  jedoch  nicht  mehr  beenden,  indem  er 
von  seinem  unruhigen  Geiste  stets  hin  und  her  getrieben 
wurde  und  ein  wahres  Wanderleben  führte. 

* 

„Von  Jugend  auf  ein  Freund  der  Natur,  fesselten 
ihn  besonders  die  Gestade  des  schönen  Zürichsees  und 
so  wohnte  er  oft  in  Glarus,  dann  in  Stäfa,  Richterswyl, 
Lachen,  Mollis,  wieder  Glarus  und  endlich  zog  er  nach 
Winterthur. 

„Bis  zu  der  Zeit,  wo  jenes  in  den  Blättern  veröffent- 
lichte eigenthümlicheTestament  seines  Sohnes  „John  Höß  Ii 
aus  New-York"  ihm  zu  Ohren  drang,  blieb  der  Alte, 
seine  angebornen  Eigenheiten  abgerechnet,  immer  heiter 
und  froh  und  als  guter  Gesellschafter  stets  gerne  gelitten ; 
seither  war  aber  eine  Veränderung  an  ihm  wahrzunehmen, 
die  ihu  nach  und  nach  körperlich  und  geistig  zerstörte. 
Hößli  behauptete  nämlich  immer  und  vielleicht  nicht  mit 
Unrecht,  daß  fragliches  Testament  nicht  das  richtige  sei 
und  noch  ein  anderes  späteres  Dokument  existiren  müsse. 

„In  der  That  klingt  es  etwas  sonderbar,  wie  ein  unver- 
heirateter Sohn,  der  ein  Vermögen  von  beiläufig  einer 
halben  Million  besaß,  seinen  alten,  nicht  sehr  bemittelten 
Vater  in  seinem  letzten  Willen  nur  mit  Fr.  5000  beden- 
ken und  seinen  einzigen  Bruder  ganz  übergehen  konnte, 
währenddem  die  Hauptsumme  seiner  damals  schon  seit 
vielen  Jahren  abgeschiedenen  Mutter  zukommen  soll  oder 
nach  deren  Tod  einer  ehemaligen  Jugendfreundin  des 
Erblassers,  die  außer  der  Familie  steht.  Um  so  mehr, 
da  der  Sohn  seinen  Vater  einige  Monate  vor  seiner  Ver- 
unglückung auf  dem  Meere  noch  von  seiner  Ankunft 
unterrichtete  mit  der  freudigen  Mittheilung,  daß  er  nun 
in  der  Schweiz  zu  bleiben  und  irgendwo  einen  hübsch 
gelegenen  Landsitz  zu  kaufen  gedenke,  auf  welchen  er  ihn 
dann  zu  sich  nehmen  wolle,  um  ihm  den  Rest  seines  un- 
ruhigen Lebens  noch  zu  verschönern. 


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—   477  — 


„Hößli  bemühte  und  härmte  sich  vergebens,  dieses 
Dunkel  zu  lösen,  es  sollte  ihm  nicht  mehr  beschieden 
sein,  diese  Sache  in  klarem  Lichte  zu  sehen. 

„Er  hat  nun  ausgekämpft  mit  der  Welt,  die  ihn  so 
oft  mißverstanden.    Ruhe  seiner  Asche!" 

Aus:  Der  Republikaner.  Zürcher  Intelligenzblatt, 
Elfter  Jahrgang.   Nr.  1.   Sonntag,  1.  Januar  1805.  Seite  2. 


III.  Heinrich  Hößli's  zweibändiger  „Eros". 

Den  Entschluß  zur  Abfassung  seines  Lebenswerkes 
,Eros*  hat  Heinrich  Hößli  erst  einige  Jahre  nach  dem 
Erscheinen  der  durch  ihn  angeregten  Novelle  „Der  Eros 
oder  über  die  Liebe*  von  Heinrich  Zschokke  (1821)  ge- 
faßt; seine  Erosidee  aber,  nachdem  sie  1817  in  Hößli's 
33.  Lebensjahre  geboren  war,  hat  ihn  bis  in  sein  Todes- 
jahr unablässig  begleitet  und  ihn  nicht  früher  Ruhe  finden 
lassen,  als  bis  er  1836  den  ersten  und  1838  auch  den 
zweiten  Rand  gedruckt  vor  sich  sah.  Dann  erst  gab  er 
den  Plan,  einen  dritten  Rand  folgen  zu  lassen,  auf  und 
es  blieben  die  zu  demselben  fertigen  Kapitel  ungedruckt, 
die  auf  ihn  bezüglichen  Notizen  unfertig  liegen. 

Es  dürfte  nunmehr  eine  dreifache  Aufgabe  mir  zu- 
fallen: erstlich  den  wesentlichen  Inhalt  der  beiden  ge- 
druckten, 721  Oktavseiten  füllenden  Rande  und,  soweit 
es  sich  feststellen  läßt,  auch  den  geplanten  Inhalt  des 
dritten,  ungedruckt  gebliebenen  Randes  in  möglichster 
Gedrängtheit  wiederzugeben;  —  alsdann  den  Werde- 
gang und  das  Schicksal  des  „Eros"  zu  verfolgen;  — 
und  drittens  dem  Leser  einige  der  bedeutendsten  Stellen 
des  Eroswerkes  unverkürzt  vorzuführen,  Stellen,  welche 
die  geistige  Redeutung  Hößli's  hervortreten  lassen  und 
entweder  durch  die  Eigenartigkeit  oder  durch  den  Reich- 
tum der  Gedankeu  oder  aber  durch  ihre   Kraft  oder 


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ihren  individuellen  Ausdruck  für  die  Denkweise  und  die 
Schreibart  Hößli's  charakteristisch  sind. 

1.  Der  wesentliche  Inhalt  von  Heinrich  Hößli's  „Eros". 

Versuchen  wir,  den  Erosinhalt  unter  Vermeidung 
aller  subjektiven  Phraseologie  aus  dem  an  allgemeinen 
Gedanken  und  eigenen  Gesichtspunkten,  besonders  in  den 
Vorreden  zu  beiden  Bänden,  überreichen  Buche  rein 
herauszuschälen,  ohne  uns  streng  an  den  Gedankengang 
des  Werkes  zu  halten. 

Eine  außergewöhnlich  fürchterliche  Hinrichtung,  die 
des  Doktors  der  Rechte  und  Bürgers  von  Bern  Frauz 
Desgouttes,1)  der  1817  seinen  Schreiber  und  Liebling 
Daniel  Hemmeier  ermordete  und  dafür  gerädert 
wurde,2)  hatte  bei  ihrem  Bekanntwerden  in  Hößli  die 
noch  schlummernde  Empfindung  der  Notwendigkeit 
einer  aufklärenden  Schrift  über  die  den  alten  Griechen 
als  Natur  bewußt  gewesene,  der  Neuzeit  jedoch  als 
Unnatur  dunkle  und  mit  schweren  Strafen  bedrohte 
Knaben-  oder  Männerliebe  geweckt.  Hößli  schmerzte 
es  als  das  unerträglichste  aller  Leiden,  zahlreiche  seiner 
Mitmenschen  ohne  jede  Schuld  unaufhörlich  von  den 
Gesetzen  bedrängt  zu  sehen.3)  Die  Liebe  zu  den  Lieb- 
lingen hatte  er  aus  seinem  durch  vieljährige  Prüfung4) 
erlangten  Wissen  und  durch  seine  von  der  Literatur  be- 
stätigte und  bestärkte  Ueberzeugung5)  als  eine  von  der 

')  Ueber  ihn  handelt  das  folgende  (5.)  Biogramm  dieser  Quellen- 
materialien.  Hößli's  Eros  handelt  Uber  ihn  I  S.  IX,  S.  XVI,  S.  61 
u.  S.  278 ;  ferner  II  S.  53,  S.  212—213,  S.  225,  S.  239,  S.  263—264, 
S.  279,  S.  327*)  und  S.  351. 

«)  Darüber  in  Hößli's  Eros  1  S.  IX;  S.  XVI;  S.  61;  S.  278; 
—  Eros  II  S.  53;  S.  212-213;  S.  225;  S.  263-264;  S.  279; 
S.  327*);  S.  351. 

*)  Eros  I  S.  XXIII— XXIV.      4)  Eros  I  S.  XXIX. 

A)  Eros  I  S.  XXV-XXVI. 


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479  — 


Natur  geforderte,  reine,  einfache,  ewige,  unwandelbare, 
sittlich  berechtigte  Naturerscheinung  längst  erkannt.1) 

Diese  Natur,  die  gleichgeschlechtliche  Liebe,  kann 
als  Naturerscheinung  zum  Laster,  zum  Verbrechen  führen,1) 
braucht  es  aber  nicht  notwendig.  Solche  Eigenschaft 
hat  sie  mit  der  zweigeschlechtlichen  Liebe  gemeinsam 
und  ebenso  wie  diese  beruht  sie  auf  geschlecht- 
licher Anziehung.8)  Sie  ist  aber,  obschon  sie  ihre  Wur- 
zeln im  Erdreiche  hat,  auch  zugleich  göttlichen  Ursprungs 
und  sie  ist  vom  Schöpfer  für  höhere  Zwecke,  gleich  der 
zweigeschlechtlichen  Liebe,  bestimmt.4)  Dieserhalb  ist  sie 
auch,  wie  diese,  der  Veredlung,  der  Vergöttlichung,  der 
Idealisierung  nicht  nur  fähig,  sondern  bedürftig.*)  Die 
der  Männerliebe  zu  Grunde  liegende  Natur  zeigt  über- 
all sowohl  die  weiblichen  als  die  männlichen 
Hauptzüge  und  Eigenschaften  der  Seele  und 
des  Gemüts  mit  allen  ihren  mannigfachen 
Kräften  und  Stimmungen  in  sich  vereinigt,6) 
derart,  daß  die  bloß  äußerlichen  Kennzeichen 
des  Geschlechtes,  welche  für  die  Bezeich- 
nungen „Mann"  und  „Weib"  maßgebend  sind, 
für  das  Geschlechtsleben  des  Leibes  und  der 
Seele  nicht  den  Ausschlag  geben.7)  Genau  so 
wurde  die  gleichgeschlechtliche  Liebe  von  Plato  und 
den  alten  Griechen  überhaupt  aufgefaßt  und  von  ihnen 
nach  Möglichkeit  veredelt,  vergöttlicht  und  idealisiert.8} 
In  der  griechischen  Kunst  ist  auch  der  Gegenstand  der 
Männerliebe  durch  jungfräuliche  Männlichkeit,  die  nicht 
weibische  Mannheit  ist,  zur  Darstellung  gebracht9) 

Ganz  anders  in  der  Neuzeit.  Alle  jene  Wahrheiten 
hat  man  völlig   vergessen   und  daher  müssen  sie  von 

')  Eros  I  S.  35.  2)  Eros  I  S.  148;  II  S.  XV— XVI;  S.  240. 
*)  Eros  II  S.  XVI;  S.  36—36:  S.  295—296.  *)  Eros  II  S.  29—38. 
»)  Eros  II  8.  24-25.  «)  Eros  II  S.  299-301.  Eros  I  S.  44; 
II  S.  16—53.  *)  Eros  I  S.  120  ;  II  S.  194-195  u.  öfter.  •)  Eros  II  S.  325. 


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neuem  bewiesen  werden.1)  Zwar  haben  in  neuerer  Zeit 
drei  deutsche  Schriftsteller,  von  Ramdohr,  Meiners 
und  Zschokke,  die  der  Neuzeit  dunkle  Sache  aufzu- 
klären versucht,*)  allein  ihre  Auffassungen  sind  nur  halb 
wahr  und  daher  auch  halb  unwahr.8)  Diese  unsere  Neu- 
zeit übersah  ganz  den  göttlichen  Ursprung  der  gleich- 
geschlechtlichen Liebe;  sie  vereitelte  den  Plan  des 
Schöpfers,  verhinderte  ihre  mögliche  Veredlung,  drückte 
sie  in  den  Sumpf  hinab  und  führte  sie  so  naturnotwendig 
zum  Laster  und  zum  Verbrechen  [bei  Desgouttes],  ent- 
göttlichte  sie,  anstatt,  gleich  den  Griechen,  sie  zu  ver- 
göttlichen.4) Individuen,  deren  äußere  Kennzeichen  als 
unzuverlässig  für  das  Geschlechtsleben  ihres  Leibes  und 
ihrer  Seele  sich  erwiesen,  gab  es  stets,  bei  allen  Völkern  und 
zu  allen  Zeiten, B)  solche  gibt  es  auch  in  der  Gegenwart ; 
von  ihrer  Gefährlichkeit  spricht  jedermann 
so  halblaut,  gerade  so  wie  unsere  in  Gott 
ruhenden  Väter  von  den  Hexen  geredet 
haben.0)  Man  kann  sie  nicht  nennen,  ohne  sie  zugleich 
dem  Verderben  durch  unsere  Henkersanstalt  preiszu- 
geben, und  man  ist  genötigt,  auf  Stimmen  und 
Zeugen,  die  derMenschhcitsgeschichte  angehören, 
sich  zu  beschränken.7)  Als  solche  Stimmen  und  Zeugen 
führt  Hößli  in  42  Nummern,  fast  100  Seiten  füllend, 
Dichtungen  und  Aussprüche,  die  gleichgeschlechtliche 
Liebe  betreffend,  aus  allen  Zeiten  und  von  allen  Völkern 
stammend,  auf.8)  Iudem  das  Christentum  die  Tatsache 
der  Unzuverlässigkeit  der  äußeren  Geschlechtskennzeichen 
übersieht,9)  bemüht  man  sich,  andere  Erklärungen  für 
die  Erscheinung,  die  man  weder  leugnen,  noch  aus  der 
Welt  schaffen  kann,  aufzufinden;  sosoll  die  Ursache  der 
gleichgeschlechtlichen   Liebe    bald  Schönheitssinn,  bald 

«)  Eros  I  S.  44.  3)  Eros  I  S.  275—280.  *)  Eros  I  S.  66. 
•)  Eros  I  S.  116—119;  S.  '272.  ft)  Eros  II  8.  43—44.  ö)  Eros  IL  S.  18i>. 
')  Eros  II  S.  44;  S.  172.    <)  Eros  II  S.  53—150.  »)Eros  II  S.  161. 


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Ausartung,  bald  Willkür  oder  Selbstbestimmung,  bald 
bloß  griechische  Liebe  sein,  bei  uns  aber  weniger  oder 
gar  nicht  mehr  vorkommen,  bald  soll  sie  ein  Laster  wie 
andere,  bald  bloß  ein  Heidenlaster,  ja  selbst  Knaben- 
schändung sein :  allein  alle  diese  Erklärungsversuche  siud 
nur  untergeschoben1),  und  gegenüber  der  auf  geschlecht- 
licher Anziehung  beruhenden,  gegenüber  der  reinen, 
naturnotwendigen,  der  Veredlung  fähigen  gleichgeschlecht- 
lichen Liebe  sind  sie  hinfällig. 

An  und  für  sich  wäre  die  Liebe  zu  den  Lieblingen 
nicht  ein  so  bedeutender  Gegenstand,  daß  ein  dreibän- 
diges aufklärendes  Werk  über  sie  brauchte  geschrieben 
zu  werden;  allein  bei  den  irrigen  Vorstellungen,  welche 
das  falsche  Christentum  der  Neuzeit  von  ihr  hat,  wird 
sie  dazu  gestempelt.8)  Der  Naturforscher,  der  Erforscher 
der  Wahrheit,  hat  nicht  danach  zu  fragen,  ob  durch  die 
erkannte  Wahrheit  und  ein  dieser  entsprechendes  Aufgeben 
falscher  Vorstellungen  geltende  Sitten-,  Natur-  und 
Uechts-Lehren  und  -Begriffe  in  Trümmer  fallen,  da  er 
nur  einen  Richter,  die  Natur,  über  sich  anerkennt; 
was  durch  Naturwahrheit  gestürzt  wird,  war  nicht  selbst 
Natur  und  kann  nur  durch  Vernichtung  der  unschuldigen 
Natur  mit  Gewalt  aufrecht  erhalten  werden.3)  Das  über 
die  Ausübung  der  gleichgeschlechtlichen  Liebe  gesetzte  Ge- 
richt unserer  Zeit  ist  die  größte  Unrechteanstalt  auf  der 
ganzen  Erde.4)  Auch  ist  es  eine  unmenschliche  Scham,  zu 
glauben,  daß  ein  diesen  so  dunklen  Gegenstand  aufklärendes 
Buch  dem  Christentum  irgend  welchen  Schaden  stiften 
könne.5)  Wer  sich  Erzieher,  Aver  sich  Lehrer  nennt  und  den 
nicht  kennt,  nicht  kennen  will,  den  er  erziehen,  den  er 
lehren  soll,  führt  einen  Spottnamen  und  ist  in  Wirk- 
lichkeit nur  Barbar  oder  Halbmensch.6) 

')  Eros  II  S.  214—269.    *)  Eros  I  S.  %.    »)  Eros  I  S.  172-173 
*)  Eros  I  S.  XXV.     »)  Eros  I  S.  XXXII.    «)  Eros  II  S.  274-275 
Jahrbuch  V.  31 


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—   482  — 


Hößli  gibt  im  2.  Bande  des  „Eros"  1838  seiner  be- 
sondern Befriedigung  darüber  Ausdruck,  daß  er  in  dem 
1837  erschienenen  Drama  «Die  Freunde"  von  Wiese 
schon  so  bald  nach  Ausgabe  seines  1.  Bandes  (1836)  eine 
Unterstützung  seiner  Bestrebungen  fand.1) 

Tch  lasse  nun  eine  einfache  Inhaltsübersicht 
des  Eroswerkes  folgen,  welche  den  Besitzern  desselben 
gewiß  nicht  unwillkommen  sein  wird,  da  eine  solche  dem 
AVerke  fehlt  und  Gesuchtes  ohne  solche  nicht  leicht  auf- 
findbar ist. 

Inhalt  des  ersten  Bandes: 

Dem  Schutzgeist  des  menschlichen  Geschlechts  S.  V  —  X. 

Einleitende  Worte  als  Vorrede  S.  XI  —  XXXIX. 

Erster  Abschnitt:  Hexenprozeß  und  -glaube,  Pfaffen  und 
Teufel  als  würdiges  Soitenstück  zu  dem  Wesen  unserer  Meinungen 
und  Begriffe  vom  Eros  der  Griechen,  wie  er  in  seinen  Folgen  und 
Einflüssen  mitten  in  unserm  Leben  waltet  S.  1—  (274  statt)  30. 

Zweiter  Abschnitt:  Wahn  und  Wahrheit,  Aberglaube  und 
Unwissenheit,  unsere  Meinungen  und  Begriffe  vom  Eros  der  Grie- 
chen, unser  Irrglaube  an  eine  Zuverlässigkeit  der  äußeren  Kenn- 
zeichen im  Geschlechtsleben  des  Leibes  und  der  Seele   S.  31 — 72. 

Dritter  Abschnitt:  Deutungen  des  Charakters  der  Mensch- 
heit zu  allen  Teilen  und  Bestimmungen  ihrer  geistigen  und  leib- 
lichen Natur  S.  72$ — 92. 

Vierter  Abschnitt:  Nähere  Bezeichnungen  und  Bestimmun- 
gen der  Aufgabe  dieses  Buchs  und  des  Unterschieds  zwischen  uns 
und  den  Griechen  in  Betreff  des  Eros,  oder  der  Natur,  der  An- 
sichten und  der  Behandlung  der  Liebe  zu  den  Lieblingen,  wie 
unseres  Glaubens  an  eine  (nicht  vorhandene)  Zuverlässigkeit  der 
äußern  Kennzeichen  im  Geschlechtsleben  des  Leibes  und  der  Seele, 
in  sittlicher,  moralischer  und  anthropologischer  Hinsicht  und  .  Be- 
ziehung S.  93—112. 

Fünfter  Abschnitt:  Das  Wesen  der  menschlichen  Ge- 
schlechtsliebe (Erfahrungen  und  Glaubensbekenntnis)  S.  113 — 154. 

Sechster  Abschnitt:  Natur  S.  loa — 174. 

Siebenter  Abschnitt:  Plato  S.  175—192. 

»)  Eros  II  S.  327**). 


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—    483  — 


Achter  Abschnitt:  Leben  und  Wissenschaft  der  Griechen 
in  der  Idee  der  Männerliebe  und  die  späteren  Zeiten  außer  derselben 

S.  198—238. 

Neunter  Abschnitt:  Unsere  Schriften  und  Schriftsteller 
über  die  Liebe  des  Plato,  welche  Resultate  geben  sie  uns,  was 
leisten  sie  uns  filr  das  Studium  der  Griechen,  des  Geschlechtslebens 
und  des  Eros  und  was  die  Schriften  der  Alten  für  Wissenschaft  und 
Leben?  S.  239—304. 

Verbesserungen  (Druckfehler)  2  Seiten. 

Inhalt  des  zweiten  Bandes: 

Verbesserungen  (Druckfehler). 

Einleitende  Worte  als  Vorrede  und  Fortsetzung  derjenigen  im 
ersten  Band  S.  I— XXXI L 

Erster  Abschnitt:  ■)  Die  Zuverlässigkeit  der  äußern  Kenn- 
zeichen im  Geschlechtsleben  des  Leibes  und  der  Seele  ist  Wrahn; 
platonische  Liebe  nach  unHern  Begriffen:  ein  Hirngespinst;  die 
M&nnerliebe  der  Griechen:  reine  und  unwandelbare  Natur  S.  1 — 352. 

Stimmen  und  Zeugen:  1.  Bejli  Hassau  S.  53 — 65;  — 
2.  FLavius  Philostratus  S.  55—56;  —  3.  Des  persischen  Dichters 
Sadi  5  Blumen  S.  56—57;  —  4.  Hornz  S.  58:  —  5.  Hiero,  Simonides  u. 
Xenophon  S.  59—61;  —  6.  Griechische  Anthologie  S.  61—64:  — 
7.  Agesilaus  und  Xenophon  S.  64—66;  —  8.  Zeugnis  der  männlichen 
Liebe  «ms  Persien.  Sechs  Dichtungen,  verdeutscht  von  v.  Hammer 
S.  66 — 71 ;  —  9.  Xenophon  undSokrates  S.  71—73;  —  10.  Apollodor 
S.  74;  —  11.  Valerius  Maximus  und  Ephialtes  S.  74 — 75;  —  12. 
Mohamed  Ferdi  (aus  dem  Türkischen  übersetzt  von  Thomas  Schabert) 
S.  75—78;  —  13.  Aristoteles  S.  78;  —  14.  Sokrates  und  Plato 
S.  79;  —  15.  Monla  Abdul  Latin"  mit  Scheich  Elwan  Schirasi 
S.  79—80,  Ssubhi  (Brnssa)  S.  80—81  und  Bassin  (Herat)  S.  81—82: 
16.  Anakreons  Grab  S.  82—88;  —  17.  Schejch  Kuscheni,  Saadi 
Tschelebi  und  Ssaji  S.  88—93;  —  18.  Der  Divan  des  Mahomed 
Schemsed- Din  Hafis  (nach  v.  Hammer)  S.  93—95;  —  19.  Tibull's  4. 
und  9.  Elegie  S.  95— 99;  —  20.  Erasistratus  und  Plutareh  S.  99—104; 
—  21.  Perikles,  Sophokles  und  Valerius  Maximus  S.  105:  —  22. 
v.  Hammer  s  Zueignung  des  persischen  Divans  an  den  Grafen 
v.  Harrach  und  drei  von  ihm  übersetzte  Oden  aus  demselben 
S.  105—109:  —  23.  Plato  und  sein  Zeitalter  S.  109—110;  —  24. 
Arian.  Alexander  und  Aelian  S.  110—112;  —  25.  Xenophon  (Ana- 

')  .Per  /w<  iu?  Barnl  •  rscheint  durch  Zufall  nicht  in  »«•omK-n*  Ali»clinitte 
tieordncl."    Hüßli :  Kr.*  II.  S.  44. 

31* 


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—    484  — 


basis  2.  VI)  S.  112—114;  —  26.  Sadi  (Rosengarten,  nach  v.  Rara- 
dohrs  Venns  Urania  IV.  S.  25)  S.  114—115;  —  27.  Virgil  (zweite 
Ekloge)  S.  110 — 118;  —  28.  Lucian  im  Eingang  seines  Gespräches: 
Das  Schiff  oder  die  Wünsche  8.  118—121:  —  29.  Ishak  Tschelebi 
S.  121—122,  Ussuli  S.  123  nnd  Affitabi  S.  123—124;  —  30.  Ahmed 
Pascha  S.  125—126;  —  31.  Theokrits  siebente  Idylle  S.  126-129: 
—  82.  Antinous  und  Hadrian  S.  129:  —  83.  Morgenländische 
Stimmen  und  Zeugen  der  platonischen  Liebe  S.  129—131 ;  —  34.  Die 
Insel  der  Liebe  (von  Herder  aus  dem  griechischen)  S.  182;  —  85. 
Griechische  und  römische  Geschichte  (Aelianus  und  Athenaus)  S.  132 
bis  133;  —  36.  F.  W.  B.  von  Ramdohr,  Uber  die  Natur  der  Liebe, 
über  ihre  Veredlung  und  Verschönerung.  3.  Bandes  1.  Abteilung, 
12.  Kap.  S.  134 — 135;  —  37.  Persische  Stimmen  und  Zeugen  S.  135 
bis  136:  —  88.  Theokrits  Idyllen  S.  136—141;  —  39.  Ahmed 
Daji,  Dichter  aus  dem  Lande  Kennjan  in  Kleinasien  S.  141;  —  40. 
Xenophon  im  Symposion  S.  141—143;  —  41.  Durch  v.  Hammer 
Ubersetzte  kleine  orientalische  Dichtungen  S.  143—148;  — 
42.  Plutarch  S.  148—150. 

Die  Mannerliebe  der  Griechen  war  weder  A:  Schön- 
heitssinn S.  215—219,  noch  B:  Seelenliebe  S.  219—224,  noch  C: 
Ausartung  S.  224—226,  noch  D:  Willkür,  Selbstbestimmung  S.  226 
bis  234,  noch  E :  bloß  griechische  Liebe  S.  234—287,  auch  ist  sie 
F:  nicht  bei  uns  weniger  oder  gar  nicht  vorhanden  S.  237—239, 
noch  G:  ein  Laster  und  Verbrechen  wie  andere  S.  239—264,  noch 
H:  bloß  «  in  Heidenlaster  S.  264,  noch  I:  Knabenschandung 
S.  264—269. 

Für  den  dritten  Band  des  „Eros"  waren  außer  der 
Leidensgeschichte  Desgouttes'  von  Hößli  die  folgenden 

fünf  Kapitel  geplant: 

1.  Die  Bedeutung  und  Heiligkeit  der  Gesehlechtsnatnr,  physisch, 
psychisch  und  intellektuell,  die  innerhalb  ihrer  Schranken  möglichen 
Gefahren  und  Entwürdigungen  und  was  an  ihr  zu  bilden  oder  zu 
zerstören  ist  (nach  Eros  II.  S.  XII  und  S.  XV). 

2.  Die  besondere  gleichgeschlechtliche  Gesehlechtsnatur,  jetzt 
unterdrückt  und  verwahrlost,  bleibt  trotzdem  vorhanden  und  ab- 
solut wirksam  (nach  Eros  II.  S.  343—314). 

3.  Der  grolle  und  unabwendbare  Einfluß  des  jetzt  verworfe- 
nen Teils  der  Geschlcchtsliebo  (der  gleichgeschlechtlichen)  auf  alle 
Gebiete  des  Lebens  mit  besonderer  Kücksicht  auf  den  körperlichen 
Punkt  (nach  Eros  II  S.  VII  und  S.  316-317). 


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—    485  — 


4.  Versittlichung  der  Männerliebe;  der  Lichtkreis,  in  welchem 
uns  künftig  alles  Rätselhafte,  Rechtliche  und  Unrechtliche,  Sittliche 
und  Unsittliche,  kurz,  der  ganze  Geist,  die  Moral  und  Idee  des  Eros 
und  der  Lehren  des  Plato  aufgehen  wird  (nach  Eros  II  S.  XXIII 
und  8.  342—343). 

5.  Was  hat  die  Religion  aus  dem  Eros  zu  machen  und  die 
diesem  Versuche  zu  widersprechen  scheinenden  Bibelstellen  (nach 
Eros  II  8.  351  *). 

2.  Entstehung,  Werdegang  und  Schicksal  des  „Epos". 

Als  Heinrich  Hößli  1817  bei  Bekanntwerden  der 
Ermordung  des  unglücklichen  Bureauschreibers  Daniel 
Henirneler  durch  die  Hand  des  nicht  minder  unglücklichen 
Rechtsagenten  Dr.  jur.  Franz  Desgouttes  in  Langenthal 
die  „Fesseln  dieser  Zeit  um  seinen  Geist"  sich  lösen  fühlte, 
war  er  33  Jahre  alt,  schon  6  Jahre  Ehemann  und  bereits 
Vater  seiner  beiden  begabten  und  später  so  unternehmungs- 
lustigen Söhne  geworden.  In  seinem  überaus  empfäng- 
lichen, allem  Unrecht  abholden  Gemüte  verschmolz  mit 
dem  lodernden  Zorne,  in  welchen  er  durch  den  ihm 
überall  entgegentretenden  Mangel  an  Erkenntnis  der 
Natürlichkeit  und  Naturnotwendigkeit  der  gleich- 
geschlechtlichen Liebe  geriet,  der  Unmut  über  den 
von  der  Geistlichkeit  seines  Landes  geduldeten,  wenn 
nicht  gar  genährten  Aberglauben  an  Hexen,  dereu  letzte, 
Anna  Göldin,  in  Heinrichs  Geburtshause  zu  Glarus  ge- 
lebt hatte  und  kurz  vor  seiner  Geburt  durch  Menschen- 
hand vom  Leben  zum  Tode  gebracht  worden  war,  zu 
einer  in  seiner  Seele  gewaltig  kochenden  Empörung.  Die 
völlige  Verständnislosigkeit  seiner  Zeitgenossen  für  das 
nach  seiner  Ueberzeugung  auf  der  gleichen  Stufe  mit 
der  zweigeschlechtlichen  Liebe  stehende  Problem  der  Liebe 
zu  den  Lieblingen  war  im  Falle  Desgouttes  wieder  einmal 
grauenvoll  an  das  Tageslicht  getreten.  Hößli  zermarterte 
sein  Gehirn  mit  dem  Versuche,  in  unwiderleglicher  Dar- 
stellung der  Welt  zu  zeigen,  wie  sie  in  Hinsicht  ihrer 
Verfolgung    der    Erscheinungen  gleichgeschlechtlicher 


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—    4H6  - 


Liebe  Doch  völlig  demselben  ßnstern  Aberglauben  ver- 
fallen, in  einer  analogen  Wahnidee  befangen  sei,  wie  die 
Welt  des  früheren  Jahrhunderts  bezüglich  der  Hexen. 
Aber  noch  fühlte  Hößli  sich  nicht  reif  für  ein  wirksames 
eigenes  Unternehmen,  noch  fehlte  ihm  die  Kraft,  ein 
Werk  zu  schaffen,  das  um  ein  Jahrhundert  den  Zeit- 
genossen vorauseilen  sollte,  noch  vermochte  er  nicht, 
seine  Gedanken  so  zu  sammeln  und  zu  sichten.  Es  kam 
ihm  der  Einfall,  einen  seiner  Meinung  nach  würdigeren 
Mann,  als  er  selber  war,  zum  Mundstück  seiner  Ideen 
zu  gewinnen.  Er  schrieb  nun  einen  Aufsatz  „über  Ge- 
schlechtsverhältnisse* nieder  und  suchte  1819  Heinrich 
Zschokke  in  Aarau  auf,  um  ihn  außer  durch  Uebergabe 
seines  Aufsatzes  auch  mündlich  zum  Schreiben  über  seine 
Idee  für  den  Druck  anzuregen.  Der  damals  als  Lehrer 
der  Philosophie  in  Luzern  tätige,  Hößli  befreundete 
Troxler1)  übernahm  es,  Hößli  bei  seinem  Duzfreunde 
Zschokke  einzuführen;  Abends  spät  traf  er  mit  Hößli  in 
Aarau  ein  und  beide  suchten  noch  am  selben  Abend 
Zschokke  in  dessen  Laudhause,  der  Blumenhalde,  auf. 
Schon  im  Gange  rief  Troxler  seinem  Freunde  Zschokke 
seinen  Gruß  entgegen  und  fügte  hinzu:  „Ich  bringe  Dir 
hier  einen  halben  Gelehrten,"  worauf  dann  Zschokke 
schlagfertig  erwiderte:  „Entweder  ist's  ein  ganzer  Ge- 
lehrter oder  ein  Narr!"  Von  dem  Empfange  bei  Zschokke 
teilt  Hößli  in  seinem  „Eros"2)  mit,  daß  jener  ihn  als  Fremd- 
ling mit  großer  Güte  und  Gastfreundschaft  aufgenommen 
und  behandelt,  auf  seine  Ansicht  hingegen,  seiner  eigenen 

l)  Ignaz  Paul  Vital  Troxler,  geb.  11.  Aug.  1780  zu  MUnster 
hu  Kanton  Luzern,  wurde  von  Jesuiten  erzogen,  widmete  sich  kurze 
Zeit  der  praktischen  Medizin,  ergab  sich  dann  ganz  seiner  Lieblings- 
wissenschaft, der  Philosophie,  und  war  nacheinander  Lehrer  der- 
selben in  Luzern  und  Hasel  und  Professor  der  Philosophie  in  Bern. 
Seine  „Metaphysik"  hat  Heinrich  Hößli  in  seinem  „Eros"  benutzt. 

*)  Hößli:    Eros  1  S.  278. 


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—   487  — 


vielen  allbekannten  Arbeiten,  Amtsgeschäfte  und  Lieb- 
lingsforschungen wegen,  äußerst  wenig  Zeit  verwendet 
habe.  Als  Zschokke's  sehnlichst  erwarteter  „Eros"  1821 
erschien,  sah  Hößli  sich  um  so  bitterer  getäuscht,  je  mehr 
er  sich  von  ihm  versprochen  hatte;  er  erkannte  voll- 
kommen die  Vergeblichkeit  seines  Schrittes.  BIhra  be- 
wies ich"  —  heißt  es  in  Hößli's  handschriftlichem  Nach- 
lasse —  »mit  meiner  Reise  und  Mittheilung  die  größte 
Achtung,  das  größte  Zutrauen,  eigentliche  Verehrung  .  .  . 
In  meinem  Aufsatz  hat  es  ganz  offenherzig  Desgouttes 
geheißen,  was  Herr  Zschokke  in  Lucasson  verwandelte  .  .  . 
Ich  erstarrte  gleichsam  über  diese  Schrift  (Eros),  in  der 
Holmar  meistens  raeine  eigenen  Worte  ausspricht  —  da- 
mit die  Anderen  ihn  widerlegen  können,  verlor  meinen 
Glauben  an  Mensch  und  Wahrheit  —  und  nahm  mir  vor, 
zu  schweigen  und  zu  sterben.  —  Jahre  vergingen  und 
nun  rufen  Stimmen  von  außen  und  innen  ...  Die  männ- 
liche Natur  und  Liebe  —  nicht  entmannte  —  in  solcher 
Gestalt  theilte  ich  meine  Idee  Herrn  Zschokke  mit  und 
vorn  in  seinem  Gespräch  scheint's,  als  wolle  er  nichts 
Castriertes  zum  Besten  geben  —  aber  auf  einmal  muß 
das  Geschlechtliche  weg  und  das  Verstümmelte  an  dessen 
Stelle,  aber  da  erkenne  ich  meine  Wahrheit  in  Herrn 
Zschokke's  Gewand  nicht." 

Um  den  ganzen  Ingrimm  Hößli's  gegen  Zschokke's 
Schändung  seiner  Eros-Idee  zu  verstehen,  müssen  wir 
Zschokke  selbst  zu  Worte  kommen  lassen. 

Heinrich  Zschokke's  Novelle  „Der  Eros  oder  über 
die  Liebe**  kennt  von  urnischen  Liebespaaren  Dämon  und 
Pythias,  Achilles  und  Patroklus,  Orestes  und  Pylades, 
Theseus  und  Pirithous,  Harmodiuä  und  Aristogiton, 
Epaminondas  und  Kaphisodor,  Sokrates  und  Alcibiades, 
Jonathan  und  David,  Jakob  I.  von  England  und  Bucking- 
ham,  Lucasson  und  Walter  (erdichtete  Namen  für  Franz 
Desgouttes  und  Daniel  Hemmeier);  von  Urningen  macht 


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—   4S8  — 


die  Schrift  namhaft:  Heinrich  III.  und  Ludwig  XIII. 
von  Frankreich,  Pabst  Julius  II.  und  Lord  Byron. 
Bei  vielen  schiefen  Auffassungen  erscheint  als  wichtigste 
Stelle  der  Passus  „  Menschenkenner"1),  welcher  als  eine 
Art  Selbstbekenntnis  Zschokke's,  zum  mindesten  aber  als 
em  Bekenntnis  Zschokke'scher  Auffassung  des  Uranismus 
anzusehen  ist.  Hier  erklärt  er  die  Liebe  zwischen  Per- 
sonen einerlei  Geschlechts  für  eine  Zauberei,  mit  welcher 
der  vermummte  Amor  ein  Herz  schlagen  macht,  das  sich 
selbst  noch  nicht  versteht;  es  gebe  wohl  wenige  Männer 
von  gefühlvoller  Gemütsart,  welche  nicht  auch  als 
Knaben  von  irgend  einem  andern  hübschen  Knaben 
stärker  denn  von  allen  andern  sich  angezogen  fühlten 
und  diesem  mit  einer  fast  leidenschaftlichen  Zuneigung 
anhingen,  welche  sie  nachher  nie  wieder  in  dieser  Art 
gegen  Personen  ihres  eigenen  Geschlechts  em- 
pfänden. Er  erinnere  sich  eines  solchen  Zuges  aus 
seinem  eigenen  Kindesalter.  Daher  stamme  die  lange 
bleibende  Sehnsucht  nach  einem  Freunde,  wie  man  ihn 
sich  gern  träumt  und  nie  findet,  besonders  im  Ungestüm 
der  Jünglingsjahre,  wo  mancherlei  Verhältnisse  noch  vom 
nähern  Umgang  mit  Frauenzimmern  entfernt  halten  oder 
noch  keine  weibliche  Schönheit  den  Sieg  über  uns  errang. 
Daher  die  überspannten  Begriffe  sowohl  bei  jungen 
Männern  als  bei  Jungfrauen,  welche  sie  von  der  wahren 
Freundschaft  zwischen  Personen  einerlei  Ge- 
schlechts hegten.  Die  mancherlei  Verhältnisse  aber, 
welche  vom  nähern  Umgang  mit  Frauen  entfernt  halten, 
sind  nach  ihm  diese:  Der  wildere  Knabe  spiele  am  liebsten 
mit  seines  Gleichen  und  plage  das  kleine  Mädchen,  weil 
es  immer  etwas  voraus  haben  wolle  oder  weine.  So 
bleibe  er  immer  von  diesem  entfernt;  als  werdender  Jüng- 


J)  Zschokke:  Der  Eros,  Ausgabe  181»,  S.  281—281,  siehe  S. 
151  Fuünote. 


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—   489  — 


ling  nicht  minder,  denn  teilweise  reife  er  viel  später  als 
die  Jungfrau,  teils  zerstreuten  ihn  Anstrengungen  und 
Arbeiten  auf  dem  Felde,  in  den  Werkstätten,  in  den 
Schulstuben.  Und  wann  im  Jüngling  die  dunkle  Sehnsucht 
des  Herzens  heller  werde,  trete  er  scheu  vor  dem  andern 
Geschlecht  zurück,  sei  es,  weil  ihm  der  Zwang  lästig  sei, 
welchen  er  seiner  ungebundenen,  noch  knabenhaft-rohen 
Art  in  Gegenwart  fein  gesitteter  Frauenzimmer  auflegeu 
müsse;  oder  weil  er  im  Gefühl  einer  gewissen  Unbeholfen- 
heit, die  dem  Alter  eigen  sei,  welches  Jean  Paul  das  der 
Flegeljahre  heiße,  blöde  und  scheu  dastehe;  oder  weil  er 
stark  und  besonnen  genug  sei,  zu  begreifen,  daß  er  auf 
seiner  erwählten  Lebensbahn  noch  mit  keinem  Ernste  an 
irgend  eine  Liebe  denken  dürfe ;  oder  weil  ihm  bei  seiner 
eigentümlichen  Sinnesart  der  Umgang  mit  Weibern, 
wie  sie  ihm  bisher  erschienen,  nicht  zusage.  Während 
so  vom  andern  Geschlecht  mehr  oder  minder  willkürlich 
sein  Herz  entfernt  bleibe,  verstumme  die  Stimme  der 
Natur  in  diesem  Herzen  nicht.  Sie  rede  der  Freund- 
schaft das  Wort  für  irgend  einen  Liebling  und  erhöhe 
diese  mit  Leidenschaft  zu  irgend  einer  Schwärmerei,  von 
deren  Ursprung  es  sich  selbst  nicht  Rechenschaft  zu 
geben  wisse.  Je  entschiedener  und  standhafter  die 
Denkart  des  Mannes  sei,  um  so  dauerhafter  werde 
seine  Neigung;  je  weniger  befriedigend  diese  neben  seiner 
ewigen  Sehnsucht  stehe,  um  so  stürmischer,  alles  über- 
wältigend werde  die  Zuneigung,  welche  zuletzt  sein  ganzes 
Wesen  so  verzehre,  wie  die  unglückliche  Liebe  eines 
Werth  er  oder  Sieg  wart  oder  eines  Mädchens  ver- 
zehrend werde,  das  hoffnungslos  um  den  Geliebten  seufzt. 
AVenn  es  bei  uns  in  Europa  möglich  sei,  daß  junge 
Männer  von  der  Sehnsucht  ihrer  von  ihnen  selbst  ver- 
gessenen Natur  sich  irre  führen  lassen:  um  wie  viel 
leichter  sei  es  im  alten  Griechenland  gewesen,  wo  die 
Scheidung  beider  Geschlechter   schärfer  als    bei  uns 


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—    490  - 


gezogen  gewesen  wäre;  dort  hätten  mehr  und  längere 
Zeit  als  bei  uns  Männer  ausschließlich  mit  Männern 
gelebt;  in  Werkstätten,  Schauspielen,  Bädern,  auf  Märkten 
und  Feldzügen  hätten  sie  meistens  nur  sich  gesehen, 
während  die  Weiber  in  den  Gynäceen  verschlossen  mit 
Vätern,  Brüdern,  Verlobten  und  Ehemännern  umgingen. 
Alle  Wissenschaft,  alle  Kunst,  alle  geistige  Bildung  sei 
das  Gut  des  Mannes  gewesen,  während  das  Weib  auf 
das  Treiben  im  engen,  häuslichen,  ruhmlosen  Leben  und 
auf  die  Kunst  des  Putzes  beschränkt  geblieben  sei.  Daher 
hätte  sich  früh  die  Achtung  des  Mannes  dem  Mann  zu- 
gelenkt, während  das  durch  die  bürgerlichen  Ordnungen 
stiefmütterlich  versäumte  Weib  selten  oder  nie  durch 
Hoheit  des  Gemütes  und  durch  Reichtum  geistiger 
Bildung  bleibendes  Wohlgefallen  hätte  erregen  können. 
Die  vergängliche  Schönheit  der  Jungfrau,  ihr  schwäch- 
liches Wesen  seien  des  heldensinnigen  Griechen  und 
seiner  Leidenschaft  für  Ruhm  und  Vaterland  unwert 
gewesen.  Seine  Neigung  hätte  sie  daher  nur  auf  kurze 
Zeit  und  nur,  weil  sie  Weib  war,  fesseln  können.  Dauer- 
hafter und  genußreicher  hätten  die  Freundschaften  der 
Männer  unter  einander  sein  müssen,  oft  durch  gegenseitige 
Hülfe,  oft  durch  gleiche  staatstümliche  Ansichten,  bürger- 
liche Bestrebungen  und  andere  Interessen  gestärkt.  Denke 
man  sich  noch  hinzu:  die  Schwärmerei  der  Jugend,  das 
Fernstehen  vom  weiblichen  Geschlecht,  den  Zauber  des 
Schönen  für  den  allem  Schönen  aufgeschlossenen  Sinn 
des  Griechen.  Es  sei  nicht  zu  leugnen,  daß  im  Antlitze 
eines  schöuen  Jünglings  weit  .seelenreichere  Züge  sprächen 
und  mehr  Heldenmut,  Hochgefühl,  Zärtlichkeit  und 
Schwärmerei  uns  darin  anrede,  als  im  Gesicht  des  schönsten 
Mädchens,  weil  jener  schon  früh  seine  Leidenschaft  offen 
spielen  lasse,  die  dann  seinen  zarten  Mienen  die  ersten 
Spuren  eingrabe,  während  das  Mädchen  mit  sittiger 
Klugheit  ihr  Innerstes  verhehle  und  gerade  das  Gesicht, 


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—   491  — 


statt  zum  Spiegel,  nur  zum  Schleier  ihres  Gemütes 
mache.  Die  erste  Liebe  des  Jünglings  und  der  Jung- 
frau sei  in  ihrem  Streben  heilig,  alles  vergöttlichend 
und  voll  Grauen  vor  roher  Tierheit.  Anschauung 
und  schweigende  Anbetung  und  ein  beseligendes  Er- 
widern des  liebebekennenden  Blickes  seien  ihnen  höch- 
ster Genuß;  der  bloße  Gedanke  an  einen  Kuß  sei 
schon  Entweihung  und  frevelvolles  Vergehen  am  Heilig- 
tum. Diese  gegenseitigen  Vergötterungen  zweier  Lie- 
bender hätten  ihren  Ursprung  im  allgewaltigen  Gebot  der 
Natur,  deren  Zepter  alle  beseelten  Geschöpfe  wissend 
oder  unwissend  gehorchten.  Plato,  Xenophon  und  Plutarch, 
die  Gesetzgeber  und  die  Dichter  Griechenlands  erwiesen 
die  angebliche  Heiligkeit  ihres  Eros  unverkennbar  als 
Selbsttäuschung.  Er  entspringe  bei  Einzelnen  wie  bei 
Völkern  zwar  aus  der  Verirrung  des  Naturtriebes;  doch 
sei  die  gleichgeschlechtliche  Liebe  rein  und  erhaben,  wie 
immer  die  erste  und  wahrhafte  Liebe;  aber  zuletzt  gehe 
bei  Einzelnen  und  Völkern  diese  Liebe  ekelhaft  aus. 
Alle  Weisen  hätten  die  herrschenden,  selbst  üblen  Sitten 
ihrer  Nation  nur  mit  sorgsamer  Umsicht  berührt  und, 
wenn  sie  nicht  hoffen  konnten,  dieselben  auszurotten,  nur 
getrachtet,  dieselben  vom  Unflat  zu  reinigen  und  zu 
adeln,  oder  sie  zu  Stützen  und  Unterlagen  des  Edlern 
zu  machen.  Je  länger  er  über  diesen  Gegenstand  denke, 
je  schauderhafter  sei  ihm  der  Gedanke,  Griechenlands 
Gesetzgebung  in  dieser  Hinsicht  zum  Muster  zu  nehmen. 

Uber  solchen  „Verrath"  konnte  Hößli  sich  nicht  be- 
ruhigen; sein  handschriftlicher  Nachlaß  enthält  darüber 
bündige  Belege:  „Hätte  Herr  Zschokke  damals  nur  seinen 

Holiuar  und  nicht  alles  reden  lassen  es  gilt  hier  nicht 

einen  Menschen;  es  gilt  hier  tausend  und  tausend  Men- 
M-hendasein  und  eine  unumwundene,  schlichte,  einfache? 
nicht  gekräuselte  Wahrheit,  unabänderliche,  feste,  ewige 
Naturerscheinung  und  nicht  eine  in  allen  Fahnen  und 


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—    492  — 


Fähnchen  gezierte  Meinung,  es  gilt  tausend  und  aber- 
mal tausend  Menschendasein  .  .  .  Ich  wage  nicht  zu  sagen, 
daß  die  Liebe  eine  Krankheit  sei,  wage  auch  nicht  zu 
behaupten,  daß  sie  keine  sei  —  doch  ist  sie  eine  gebä- 
rende Gährung  der  menschlichen  Wesen  —  sie  ist  eine 
gewaltsame,  in  unsrer  Natur  wirkende  Kraft  und  es  wird 
wohl  kein  Moment  im  Kreislauf  des  Menschenlebens 
geben,  in  dem  alles  Inuere  der  Menschennatur  sich  le- 
bendiger offenbarte,  als  in  der  Liebe  —  mögen  wir  sie 
für  Krankheit  oder  für  Gesundheit  halten,  und  darumist 
die  Liebe  zu  kennen  auch  von  dieser  Seite  wichtig  .  .  . 
Ich  theilte  früher  meine  Ansicht  dem  Verfasser  mit,  und, 
wie  es  scheint,  hat  er  solche  seinem  Holmar  in  der  Ab- 
sicht, mich  zu  widerlegen,  in  den  Mund  gelegt;  und  doch 
sind  Holmar's  Reden  die  Wahrheit  und  diese  zu  suchen 
uud  retten  zu  wollen  ist  Menschenpflicht  und  Menschen- 
beruf, da  allervörderst,  wo  es  unmittelbar  um  die  Rettung 
oder  die  Schändung  von  tausend  Mitmenschen  zu  thun 

ist.  —  Meine  Idee  sie  ist  mein  Kind,  von 

den  innersten  Falten  des  Lebens  habe  ich  sie  geboren, 
ohne  ihr  damals  Obdach  und  Kleidung,  Heimath  und 
Pflege  zu  wissen ;  das  arme  Kind  trug  ich  mit  Vertrauen 
und  Thränen  zu  ihm  —  aber  er  entließ  es  zur  unglück- 
lichen Schaar  der  Heimatlosen  —  nackend  und  kalt  .  .  . 
wäre  Holmar  je  einer  gewesen,  so  wäre  er's  noch  und 
wäre  er's  jetzt,  so  wäre  er's  immer  gewesen  .  .  .  daß 
er  es  noch  bis  zu  diesem  Verrath  fortsetze,  das  habe  ich 
nicht  gedacht  —  aber  Z.  gewiß  auch  nie,  wie  gleichgül- 
tig er  mir  ist  dieser  Verrath  —  und  wie  zwecklos  von 
ihm  —  denn  gesetzt,  ich  sei  selbst  —  oder  ich  sei  es 
nicht  —  so  gleich  als  zwei  Wassertropfen  —  so  gleich 
wie  blondes  oder  schwarzes  Haar  u.  s.  w." 

Indem  Hößli  sich  diese  Gleichgültigkeit  einredete, 
brachte  er  es  fertig,  an  Zschokke  nachfolgendes  Schreiben 
zu  entwerfen: 


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—   493  — 


„Glarus  im  Juny  1820. 

„Verehrungswürdiger  Herr! 

„Ich  habe  vor  etlichen  Jahren  meine  Freude,  Sie 
kenneu  gelernt  zu  haben,  meinem  Freunde,  dem  Herrn 
Pfarrer  Speich,  nicht  verborgen.  Er  kommt  jetzt,  im 
Begriff,  nach  Aarau  abzureisen,  zu  mir,  daß  ich  ihn 
Ihnen  empfehlen  möchte,  wenn  Sie  ihm  Rath  geben 
könnten,  eine  Pfründe  in  Ihrem  Canton  zu  erhalten, 
seine  hiesige  beträgt  nur  f.  350,  was  zu  wenig  ist.  Wenn 
er  nicht  so  still  und  recht  und  fromm  sein  ganzes  bis- 
heriges Leben  seiner  jetzigen  Gemeinde  gewidmet  hätte 
ohne  Tadel,  so  würde  ich  gewiß  nicht  wünschen,  daß 
Sie  ihm  Rath  ertheilen  möchten.  Er  hat  mich  über- 
rascht, ich  weiß  ihm  jetzt  nicht  zu  entgehen,  kein 
schicklicher  Vorwand  stellt  sich  mir  dar,  so  verwegen 
es  ist,  Ihnen  nach  Ihrem  letzten  Schreiben  wieder  mit 
einem  Briefe  beschwerlich  zu  sein.  Vergeben  Sie  mir! 
Es  soll  Jahre  lang  nicht  wieder  geschehen  ....  und 
hier  noch  das  allerletzte  Wort  des  Eros  halber  .  .  .  . 
Vor  etlichen  Monaten  erst  habe  ich  zu  meinem  Er- 
staunen eingesehen,  daß  ich  geradezu  eine  Sache  ver- 
theidigte,  deren  Dasein  in  der  Natur  ich  nur  be- 
weisen wollte,  ich  bin  mit  sammt  der  Thür  ins  Haus 
gerannt,  dunkel  ahnend,  daß  Gutes  lieber  gehört  werde 
als  Böses,  und  schöner  sei,  dem  Guten  das  Wort  zu 
reden  als  dem  Bösen  u.  s.  w.  —  so  ist,  was  ich  schrieb, 
eine  Art  Apologie  geworden,  mit  der  ich  mir  Ihr 
Schreiben  zugezogen  habe.  Piaton  beschreibt  genau 
die  Natur  der  Männerliebe,  er  schildert  und  glaubt 
sie,  wie  ich  sie  geschildert  habe  und  ewig  glauben 
muß,  aber  der  göttliche  Plato  lehrt,  wie  das  Thierische 
dieser  Natur  überwunden  werden  soll  —  er  will  for- 
schen, er  will  reinigen,  bilden,  gerecht  sein,  erziehen, 
erheben,  nicht  ersticken,  nicht  wegwerfen,   nicht  un- 


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—   494  — 


gehört  verdammen,  nicht  verwahrlosen;  wirkliche  Na- 
turen, die  unter  seinen  Augen  stehen,  nicht  leugnen, 
ihnen  sagen:  „Ihr  seid  nicht,"  aber  wie  durch  des 
Geistes  Macht  sie  sich  vom  Staub  erlösen  sollen, 
lehrt  sie  sein  himmlischer  Geist,  der  es  nicht  könnte 
und  sich  auch  nicht  dazu  gedrungen  fühlen  würde, 
wenn  er  an  ihrem  Dasein  gezweifelt  hätte.  Das,  was  Ihr 
Schreiben  meine  Hauptidee  nennt,  verachtet  Piaton,  wie 
Sie  es  verachten,  und  schreibt  ebendeßhalb  seine  Er- 
lösungslehre von  derselben.  In  Ihrem  Eros  aber  sehe 
ich  jene  Naturen  bezweifelt  —  nicht  angenommen  — 
und  ich,  indem  ich  das  Dasein  einer  Sache  erweisen 
wollte,  schrieb  eine  erbärmliche  Apologie  derselben, 
was  ich,  gegeißelt  durch  Ihr  Schreiben,  mit  Scham  und 
Reue  einsehen  gelernt  habe.  Dagegen  habe  ich  aber 
dennoch  eine  der  jetzigen  Welt,  selbst  Ihnen  und  Herrn 
Doktor  Troxler  unbekannte  Wahrheit  laut  und  rein  und 
ohne  Scheu  und  ohne  Furcht  ausgesprochen  und  ver- 
diene von  dieser  Seite  her  keine  Verachtung.  Zwar  bis 
auf  weiteres  schweige  ich  und  keinem  Freund  und  keinem 
Bruder  wird  darüber  sich  mein  Herz  aufthun;  ich 
habe  das  meinige  gethan  —  das  ist  süß!  und  sehe,  was 
die  Menschheit  ist,  das  ist  bitter!! 

„Ueber  die  im  Xenophon  (der  die  Frauen  liebte) 
angestrichenen  Stellen  darf  ich  der  Weitläufigkeit 
wegen,  die  Sie  mir  nicht  vergeben  würden,  nicht  ein- 
treten, was  mich  Ueberwindung  kostet.  Aber  beweist 
nicht  die  kürzeste  derselben  streng  das,  was  ich  eigent- 
lich will,  nämlich,  Liebe  sei  ihrer  Natur  nach  nicht 
Freundschaft  beim  Homer  und  Freundschaft  nicht 
Liebe  —  sie  lautet  also:  Achilles  rächt  den  Tod 
des  Patroklus  nicht  als  den  Tod  eines  Lieblings, 
sondern  eines  Freundes.  Und  was  sind  die  Lob- 
reden auf  des  Sokrates  Keuschheit  ohne  das  Dasein 
dieser  Liebe,  welcher  auch  der  Liebhaber  des  herr- 


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—   495  — 


liehen  Dichters  Agathon  sogar  in  ihrer  ungereinigten 
Sinnlichkeit  eine  Lohrede  gehalten  hat,  welche  Xeno- 
phon  zwischen  von  mir  angestrichenen  Stellen  aus- 
schwatzt." 

„Ich  schließe  mit  dem  innigsten  Wunsch,  daß 
Sie  und  Ihr  theures  Haus  gesegnet  sei  und  stets  ge- 
segnet bleibe,  und  mit  der  Bitte,  daß  Sie  mir  groß- 
müthigst  alles  vergeben,  und  mit  der  Versicherung 
meiner  unveränderlichsten  Hochachtung 

Herr  Cantons  Rath 

Dero  ergebenster  Diener.* 

Mit  Sicherheit  geht  aus  dem  obigen  an  Zschokke 
gerichteten  Schreiben  Hößli's  hervor,  daß  dieser  im  Juni 
1826  die  begreifliche  Scheu,  mit  seiner  Idee  selbst  schrift- 
stellerisch hervorzutreten,  noch  nicht  überwunden  hatte 
und  der  mutige  Entschluß  zu  seinem  „Eros"  damals  noch 
nicht  von  ihm  gefaßt  war ;  und  doch  war  er  bereits  42  Jahre 
alt.  Den  Zeitpunkt,  in  welchem  diese  Wandlung  in 
seiner  Seele  vorging,  habe  ich  nicht  ermittelt. 

Als  Heinrich  Hütiii  zu  Anfang  der  dreißiger  Jahre 
am  „Eros"  arbeitete,  wohnte  er  auf  dem  Spielhofe  im 
„süßen  Winkel"  beim  Schlossermeister  Andreas  Stüssi. 
Die  Gedanken  an  seinen  Gegenstand  beschäftigten  ihn 
derart,  daß  er  Schiefertafeln  und  Kreide  mit  in's  Bett 
nahm,  um  deren  über  Nacht  entstandenen  Inhalt  am 
nächsten  Morgen  zu  ordnen  und  abzuschreiben;  auch 
schrieb  er  im  dunkeln  Hinterzimmer  des  schwarzen 
Adler  seine  Ideen,  so  wie  sie  ihm  kamen,  um  sie  nicht 
aus  dem  Gedächtnisse  zu  verlieren,  mit  Kreide  an  die 
getäfelte  Wand;  er  spannte  eine  Schnur  an  der  Wand 
aus,  um  beim  Schreiben  in  der  dunkeln  Stube  die  Linie 
innehalten  zu  können;  Licht  anzuzünden  verschmähte  er, 
vielleicht,  weil  im  Dunkeln  die  Gedanken  reichlicher  und 
ungestört  ihm  zuflössen. 


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—   496  — 

Vom  11.  Dezember  1834  bis  über  den  13.  Juli  1835 
hinaus  stand  Heinrich  Hößli,  damals  im  schwarzen  Adler 
zu  Glarus  wohnhaft,  in  Unterhandlung  mit  dem  Buch- 
händler Fr.  Schultheß  in  Zürich  bezüglich  des  Druckes 
seines  „Eros".  Er  hatte  sich  erboten,  200  Franken  zu 
zahlen  oder  die  Hälfte  der  Druckkosten  für  die  beiden 
ersten  fertigen  Bände  tragen  zu  wollen  gegen  Ueber- 
lassung  der  Hälfte  der  zu  druckenden  Exemplare.  Die 
Verhandlungen  liefen  aber  zunächst  ohne  positives  Er- 
gebnis aus,  indem  die  Schultheß'sche  Buchhandlung  an 
Heinrich  Hößli  schon  unter  dem  31.  Dezember  1834 
schrieb:  „Wir  bedauern  wirklich  sehr,  Ihnen  hinsichtlich 
derVerlagsübemahme  eine  ablehnende  Antwort  ertheilen 
zu  müssen,  denn  obgleich  wir  den  Werth  der  Schrift 
vollkommen  anerkennen  und  den  Fleiß  des  Verfassers 
bewundern,  so  können  wir  uns  doch  nicht  überzeugen, 
daß  der  Absatz  der  Schrift  mit  den  Kosten  des  Druckes 
im  Verhältnis  sein  werde."  Auf  der  Rückseite  des 
Schreibens  der  Firma  steht  von  llößli's  Hand  vermerkt: 
„20  Bogen  würden  höchstens  30,  vielleicht  nur  25  Ldors. 
kosten".  Später  jedoch  betraute  dieselbe  Firma  einen 
Freund,  „einen  Geist-,  nicht  Buchstaben-Philologen",  mit 
der  Durchsicht  des  Hößli'schen  Manuskriptes  zu  den  bei- 
den ersten  Bänden ;  und  da  der  vorsichtige  Freund,  be- 
vor er  ein  Urteil  fällte,  auch  noch  das  Manuskript  zum 
dritten  Bande  zu  sehen  wünschte,  so  erbat  sich  die 
Firma  unter  dem  13.  Juli  1835  auch  dieses,  erhielt  es 
aber  nicht,  da  es  noch  nicht  fertig  war.  Endlich  schrieb 
die  Schultheß'sche  Buchhandlung  auch  noch  an  den 
Buchdrucker  Cosmus  Freuler  in  Glarus,  nachdem  dieser 
von  Heinrich  IJößli  mit  dem  Druck  des  „Eros"  beauftragt 
worden  war:  „Hinsichtlich  des  Werkes  des  Herrn  Hößli 
möchte  ich  Ihnen  rathen,  vorsichtig  zu  sein,  indem  ich 
nicht  glaube,  daß  der  Debit  die  Druckkosteu  decken 
könne;   ich   habe  dies  dem  II.  Verfasser  mehrmals  ge- 


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—   497  — 


sagt  und  ihn  von  der  Herausgabe  abzunehmen  gesucht. 

—  Aus  dem  gleichen  und  noch  einem  andern  Grunde 
müßte  ich  es  ablehnen,  daß  meine  Firma  auf  den  Titel 
gedruckt  werde  und  ich  mich  des  Absatzes  im  Auslande 
annehme,  der  ganz  gewiß  auch  mehr  Kosten  als  Ein- 
nahme nach  sich  zöge.* 

Bevor  Hößli  sein  Manuskript  der  Buchdruckerei 
Freuler  übergab,  wünschte  er  dessen  Durchsicht  von 
Seiten  eines  Gebildeten;  er  wählte  zu  diesem  Behufe  den 
Lehrer  an  der  Elementarschule  zu  Glarus  Burghard 
Marti;  dieser  jedoch  wies  Hößli's  Ansinnen  zurück.  Da- 
gegen übernahm  diese  Revision  bereitwillig  der  Lehrer 
an  der  Sekundärschule  zu  Glarus  Gottlieb  Strässer 

Noch  während  des  Druckes  des  ersten  Bandes  seines 
„Eros*  erhielt  Hößli  durch  den  Studenten  der  Philosophie 
Joh.  Christ.  Tschudi  aus  Zürich  Anfangs  Juli  1836  von 
diesem  erbetene  Bücher  zugesendet  mit  dem  brieflichen 
Vermerk:  „Es  wird  überflüssig  sein,  zu  bemerken,  daß 
Sie  in  Platon's  Symposion,  das  ich  gerade  in  der  Ur- 
sprache  durchlese,    bedeutende  Materialien    zu  Ihrer 

')  Gottlieb  Strässer  wurde  1801  zu  Remscheid  geboren, 
war  bis  J852  Lehrer  an  der  Sekundärschule  zu  Glarus,  einer  vier- 
klassigen  Realschule,  welche  von  den  jungen  Leuteo,  nachdem  sie 
diej  Elementarschule  im  12.  Lebensjahre  absolviert,  im  18.  besucht 
wurde,  und  kam  von  da  nach  Aschaffenburg,  woselbst  er  erkrankte, 
von  seinen  ehemaligen  Glarner  Schülern  durch  eine  freiwillige 
Kollekte  unterstützt  wurde  und  am  23.  Juli  1862  arm  verstarb;  er 
war  eine  Zeit  lang  auch  Vorsteher  der  ehemaligen  „Evangel.  Lan- 
desbibliothek"  in  Glarus,  welche  jetzt  im  Gerichtshanse  unter- 
gebracht ist;  hier  wird  ein  Manuskript  aufbewahrt  des  Titels: 
„Quellen  zur  Glarnergeschichte.  Mit  Vorrede  von  G.  St.  1845.  Mit 
Nachträgen  von  Peter  Leuzinger.  Fol."  In  diesom  Manuskripte  fin- 
det sich  die  Notiz:  „IL  Hößli  f  1864.  Verf.  d.  Eros,  die  Männer- 
liebe  der  Griechen.   Der  größte  Theil  wurde  seiner  Zeit  confiscirt." 

—  Dieso  Notiz  brachte  mich  erst  auf  den  richtigen  Weg,  um  wel- 
chen von  den  zahlreichen  Heinrich  Hößli  von  Glarus  es  hier  sich 
handelt. 

Jahrbuch  V.  32 


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—   498  — 


Schria  finden-  —  ein  Beweis,  daß  Hößli  für  ihn  frucht- 
bare Hülfe  zu  finden  verstand,  daß  man  seinen  Wert 
zu  schätzen  wußte  und  daß  es  ihm  an  entgegenkommen- 
dem Verständnis  nicht  fehlte.  Erst  im  Dezember  183G 
hatte  des  „Eros"  erster  Band  die  Presse- verlassen  und 
konnte  versendet  werden;  hierüber  Aufschluß  gibt  ein 
Schreiben  des  H.  Dietrich  Schindler  aus  Mol  Iis  vom 
20.  Dezember  1836,  welcher  das  ihm  zum  Kaufe  ange- 
botene Exemplar  mit  dem  Bemerken  zurücksandte:  «Ich 
las  nur  einige  Abschnitte  und  halte  es  nach  diesem  für 
einen  interessanten  Versuch,  über  einen  in  mannigfacher 
Hinsicht  wichtigen  Punkt  mehreres  Licht  zu  verbreiten 
oder  zur  weiteren  Untersuchung  Veranlassung  zu  geben." 
Hößli's  reine  Freude  über  das  gelungene  Werk  bezeugt 
folgendes  Fragment  seines  Schreibens  an  einen  Unge- 
nannten (wahrscheinlich  Troxler): 

„Aber  ob  wir  dies  Denkmal  unter  eines  Galgens 
schauderhaftem  Schutt  zu  errichten  Pflicht  hatten  oder 
nicht  —  das  entscheide  der  Genius  der  Menschheit  — 
der  Geist  wahrer  Religion. 

„Was  Sie,  Freund  der  leidenden  Menschheit,  hier 
empfangen,  hatte  bei  den  Griechen  nicht  gefunden  werden 
können;  es  sind  Resultate  jener  und  späterer  Zeiten  — 
und  ich  schreibe  über  ein  Verkennen  und  dessen  Folgen 
und  über  eine  Unwissenheit,  die  Griechenland  nicht  um- 
nachtet haben.  Die  Humanität  der  Griechen  und  das 
spätere  Versinken  unsers  Geschlechts  haben  nur  vereint 
mir  diesen  Blick  in's  innere  Menschenthum  geben  können. 

„Ich  zweifle  nicht,  daß,  wenn  ich  hier  die  Erzeugungs- 
und Fortbildungs-Geschichte  meiner  Idee  beschrieben  hätte, 
auch  sich  mein  Endzweck  sicherer  gefunden  haben  würde. 
Aber  das  wäre  der  Arbeit  für  Jahre  genug  und  in  einer 
Lage  wie  die  meine  nie  möglich. 

„Wenn  das,  was  ich  hier  Gott  weiß  wie  hingeschrie- 
ben habe,  zu  überzeugen  hinreicht  —  so  ist  mein  Triumph 


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—   499  — 


der  größte  eines  Sterblichen,  man  hat  nur  alsdann  einen 
Maßstab  für  ihn,  wenn  man  glaubt,  daß  ich  mit  meinem 
Leben  der  Menschheit  diese  Wahrheit  kaufen  wollte.  Sie 
steht  in  ihrer  Himmelshoheit  vor  mir,  aber  ich  vermochte 
keinen  Zug  in  seiner  Majestät  von  ihr  zu  geben  und  Winke 
sind  es  nur  und  Wünsche.  —  Ob  sie  verstanden  und  erfüllt 
werden  können  oder  nicht?  —  Im  letzt ern  fFall  hab*  ich 
die  schwere  Pflicht  erfüllt  —  meinen  Schlaf  und  Schweiß 
und  vieles  noch  zum  Opfer  dargebracht  und  mich  ver- 
senkt in  alle  Dunkel  einer  Menschenseele  —  wegen 
der  ewigen  Wahrheit  und  der  namenlosen  Dulderin,  der 
Mutter  und  ihres  Sohns  am  Rad.  Jetzt  thun  Sie  das 
Beste  —  ich  weiß  es  —  die  Seele  eines  edlen  Mannes 
umarmt  eine  Welt.  Im  erstem  Fall  —  ertrüg  ich  ihn  ? 
vermag  ich  ihn  zu  denken?  empfing  noch  vor  dem  Tode 
der  Dulderin  des  Sohnes  gebrochenes  Bein  ein  Friedhof? 
Und  meine  Lehre  schrieb  ich  besser  hin  —  ein  anderes 
Denkmal  der  erlösenden  Wahrheit  und  der  Völkertugend 
Griechenlands. 

„Zu  unsrera  Gebäude  ist  die  Naturlehre  das  Funda- 
ment, hier  sind  zwar  noch  roh  durch  einander  geworfen, 
die  Materialien  dazu,  weihen  Sie!  den  Eckstein  ein  — 
so  bau*  ich  fort  —  der  Entwurf  zu  einer  Sitten-  und 
Bildungs lehre  ist  da.  Diese  zwei  letzteren  Theile 
werden  erst,  was  jetzt  noch  roh  und  frucht-  und  planlos 
scheint,  erklären. 

„Wäre  es  vielleicht  ein  Scherflein  auf  dem  Altar 
Griechischer  Weisheit,  wenn  Herr  Professor  Daünecker, 
den  ich  zwar  nie  gesehen  habe,  aber  wegen  seines  Eros1) 
um  ein  Urtheil  über  meine  Idee  gebeten  würde? 

„Soviel  ich  noch  zu  sagen  hätte,  muß  ich  schließen. 
Gott  segne  Ihr  Thun,  Wohlthäter  der  Menschheit!  Ich  bin 
mit  tiefster  Hochachtung  Ihr  Verehrer." 

')  Heinrich  Hüüli:  Eros  I  S.  296. 

82* 


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—   500  — 


Allein  sein  Glück  sollte  dem  Verfasser  des  „Eros" 
bald  vergällt  werden.  Denn  kurz  nach  dem  Er- 
scheinen des  ersten  Bandes,  am  13.  Januar  1837,  wurde 
Heinrich  Hößli  auf  Veranlassung  des  Evangelischen  Rates 
von  der  Kanzlei  der  Regierung  von  Glarus  eingeladen 
und  aufgefordert,  von  seiner  Schrift  „Eros",  dessen  1.  Band 
nebst  den  bereits  gedruckten  Bogen  des  2.  Bandes  ein- 
zureichen der  Buchdrucker  Freuler  als  Verleger  schon 
beauftragt  wäre,  den  ganzen  Rest  des  Manuskriptes  zum 
2.  Bande  umgehend  ,zu  geeignetem  Gebrauche*  zu 
übermitteln.1)  Hößli  scheint  der  Aufforderung  auch 
nachgekommen  zu  sein,  aber  zugleich  eine  Rechtfertigung 
seines  Buches  versucht  zu  haben,  indem  er  dem  Evange- 
lischen Rate  seine  Meinung  nicht  vorenthielt.  Zeugnis 
dessen  sind  in  seinem  handschriftlichen  Nachlasse  be- 
findliche Papiere  mit  Bemerkungen,  welche  nicht  wohl 

')  Das  Schreiben  lautete: 

Herrn  Heinrich  Hößli,  Handelsmann,  Dahier. 

Glarus  den  13ten  Jänner  1837. 

Im  letzten  Evangelischen  Rathe  wurde  die  von  Ihnen  dem 
Druck  übergebene  Schrift,  betitelt  „Eros  oder  Männerlieb e" 
besprochen  und  uns  von  demselben  der  Auftrag  ertheilt,  sich  den 
gedruckten  ersten  Band  sowie  die  gedruckten  Bogen  zum  2  ten 
Band  und  zugleich  das  Manuscript  zu  verschaffen. 

Wir  wandten  uns  sofort  an  Herrn  Buchdrucker  Freuler  als 
Verleger  dieser  Schrift,  der  uns  auch  den  ersten  Band  sowie  die 
gedruckten  Bogen  des  2.  Bandes  Ubermittelte,  dabei  aber  bemerkte, 
daß  das  Manuscript  in  Ihren  Händen  sich  befinde. 

In  Folge  dieser  erhaltenen  Rückäußerung  wenden  wir  uns  an 
Sie  mit  der  Einladung  und  Aufforderung,  uns  umgehend  das 
Manuscript  dieses  besagten  Werkes  zu  geeignetem  Gebrauche  zu 
übermitteln. 

In  dieser  bestimmten  Erwartung  besteht  achtungsvoll 

Die  Kanzlei. 
Für  dieselbe 

Schmid 
Landschreiber. 


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—    501  — 


anders  denn  als  Entwürfe  zu  einer  solchen  Antwort  ge- 
deutet werden  können: 

,H.  Pfr.    *    *  * 

„Richter  —  Anatomen  —  Gesetzgeber  —  Natur- 
forscher —  sind  alle  ihre  Angelegenheiten  und  Stoffe 
Gegenstände  geselliger  Unterhaltung?!! 

„Habe  ich  eine  Schrift  für  Ihren  Wirkungskreis  ge- 
schrieben? oder  wird  ein  vernünftiger  Mensch  sie  in 
solchen  hineinreißen  ? ! ! 

„Man  kann  nicht  bezweifeln,  daß  gerade  diejenigen 
Dinge,  über  die  man  sich  in  einer  öffentlichen  Gesell- 
schaft zu  reden  billigermaßen  schämte,  dennoch  zuweilen 
zu  den  wichtigsten  Angelegenheiten  unseres  Lebens  ge- 
hören können;  es  ist  also  eine  tiefe  Bosheit  oder  Dumm- 
heit, die  diese  Schrift  gewaltsam  in  einen  Kreis  hinüber- 
reißt, für  den  sie  nicht  bestimmt  ist,  in  den  sie  nicht 
gehört,  also  bloß,  um  sie  dann  da  zu  verdammen;  in 
der  Bibel  sind  mehr  Stellen,  die  sich  ohne  Erröthen  in 
keiner  Gesellschaft  verhandeln  ließen,  als  in  meinem  Buch. 

»Dem  Buch,  das  durch  den  Stillstand  von  Glarus  jetzt 
zum  Gegenstand  Ihrer  Verhandlung  geworden,  hat  sein 
Verfasser  absichtlich  den  nicht  anziehenden  Titel  gegeben, 
den  es  nun  hat,  damit  es  sowohl  hier  als  anderwärts  nur 
von  wenigen  wissenschaftlichen  Männern  gekauft  und 
verstanden  werden  möchte.  Daher  kann  es  ihm  nur 
höchst  erwünscht  sein,  Hochdemselben  hiermit  die 
schriftliche  Erklärung  ehrerbietigst  zu  überreichen,  nämlich 
daß  er  dieses  Buch  im  hiesigen  Canton  (außer  an  seine 
wenigen  Herren  Subscribenten  als  nunmehrige  Besitzer 
des  1.  Bandes)  an  niemand  weiter  mehr  verkaufen,  noch 
sonst  abgeben,  ankündigen  oder  fortdrucken  lassen  werde. 
Er  bittet  aber  dagegen  Hochdenselben  um  seine  Schrift, 
sein  Eigenthum,  damit  er  gelegentlich  den  ehrenden  Still- 
stand der  Gemeinde   sowohl  als  den   Hohen  Uath  des 


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—   502  — 


Cantons  Glarus  über  die  vollständige  Idee  und  Gefahr- 
losigkeit seines  Buches  beruhigen  könne.  Inzwischen  er 
sich  in  dieser  Angelegenheit  mit  ehrfurchtsvollster  Er- 
gebung dem  Schutze  seiner  hohen  Obrigkeit  empfiehlt. 

„Meine  Schrift  führe  zu  einem  Verbrechen  —  Knaben- 
schänderei  —  also  ich  schrieb  über  dieses  Verbrechen, 
ich  will  es  prüfen  und  damit  jedem  Richter  einen  Dienst 
leisten,  dafür  ich  allen  Dank  erwarte:  man  ist  über  einen 
Kriminalgegenstand  hoffentlich  doch  gern  im  Reinen. 

„Will  man  eine  Schrift,  Idee  oder  Lehre  verurtheilen, 
ohne  sie  zu  kennen  —  und  kennt  man  ein  nicht  halb 
geborenes  Werk?  weiß  man  jetzt  schon  ganz,  was  ich 
will?  Man  muß  mich  ganz  abhören,  das  heißt,  mir  gnädig 
erlauben,  mein  Buch  mit  meinem  Geld  zu  drucken  und 
ihm  alsdann  —  sein  Recht  widerfahren  lassen. 

„Man  will  hier  die  Obrigkeit  vorführen,  man  will 
sie  hier  zum  Werkzeug  der  Unwissenheit  und  Bosheit 
mißbrauchen. 

„Ich  sage  immer  und  zwar  mit  allem  Recht:  dieses 
Buch  ist  ein  rein  wissenschaftliches  —  und  man  will  da 
diese  hohe  Behörde  gegen  mein  Buch  und  mich  zu  einer 
rein  wissenschaftlichen  machen  —  man  spielt  mit  ihr  gegen 
einen  Bürger,  der  nicht  weniger  werth  als  meine  Gegner. 

„Die  zwei  Titelblätter,  genau,  buchstäblich,  wie  sie 
jetzt  vor  beiden  Bänden  stehen,  gab  ich,  gedruckt  bei 
C.  F.,  herum  —  auf  diese  hin  machte  man  sich  für  den 
Ankauf  eines  Exemplars  verbindlich.  Nun  fragen  wir: 
sprachen  diese  zwei  Titelblätter  mit  ihren  Motto's  eine 
bestimmte,  begreifliche,  menschliche,  vernünftige  Aufgabe 
aus  oder  keine  ? 

„Herr  Straßer  hat  gesagt,  das  Buch  ist  wahr,  aber 
—  Ich  Monarch  verbiete  es  —  Griechenland  ist  durch 
die  Ausschweifungen  der  Männerliebe  untergegangen  — 
Stehlen  ist  ein  Verbrechen  und  man  kann  mit  dieser 
Natur  geboren  sein  —  Mau  kann  doch  gleich  heirathen, 


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—   503  — 


* 

* 


es  gibt  ja  nur  unglückliche  Ehen  —  Abnormitäten,  Aus- 
artungen, Auswüchse,  Unkraut!  Poesien  sind  Phantasie, 
gelten  und  bedeuten  nichts. 

„Ich  erinnere  mich  eben,  daß  einst  ein  Mann  anläß- 
lich zu  mir  sagte:  Alle  diese  (oder  solche)  Menschen 
machen  nie  ein  Glück,  sie  kommen  immer  in  Zerfall 

 und  erst  nach  Jahren  ward  es  mir  sonnenklar, 

daß  dieses  eine  höchst  wichtige  Beobachtung  und  Wahr- 
heit sei  —  die  wohl  wenig  eingesehen  wird;  so  sind 
sie  ganz  richtig  durch  uns  zum  Fluch  geboren,  ja 
durch  uns  zum  Fluch  geboren,  und  das  ist  die  ganze 
Wahrheit,  der  ganze  Triumph  unsers  diesfühlig  herrlich- 
sittlichen Standpunkts. 

»Preßfreiheit  ist  nicht  Lasterfreiheit.  Durch  die  Presse 
tritt  der  Urheber  des  Guten  und  Schlechten,  eben  in 
diesen  Eigenschaften,  ans  Licht;  und  es  tritt  der  Mensch, 
die  Wahrheit,  die  Oeffentlichkeit,  die  allgemeine  Vernunft 
in  ihrer  vom  Schöpfer  beabsichtigten  Thätigkeit  auf  — 
darin  liegt  eben  der  Werth  der  Presse.  Ein  schlechtes 
Buch  wird  durch  sein  Erscheinen  nicht  sicher,  es  über- 
liefert sich  selbst  wie  rasend  dem  Gericht  der  Welt,  der 
Verachtung,  dem  Spott,  und  es  muß,  was  in  seiner  Absicht 
nicht  liegt,  gerade  dem  Guten  und  Wahrhaften  Thür  und  . 
Thor  öffnen. 

y,  Wollten  Hochderselbe  mir  mein  nun  einziges  Ehre- 
Rettungsmittel  untersagen?  (das  heißt,  den  Druck  meines 
Buchs)  —  —  —  Wenn  Sie  mich  das  Buch  drucken 
lassen,  alsdann  geschieht  gewiß,  was  in  der  Pflicht  liegt, 
ich  werde  gerichtet  durch  das  Buch  oder  geschützt  und 
gerettet  durch  das  Buch  und  das  liegt  beides  in  der 
Obliegenheit. 

„Geben  Hochderselbe  auch  zu,  daß  sich  verlarvte 
Menschen,  das  heißt  solche,  die  sich  mir  nicht  nennen 
(ich  habe  mich  genannt),  geheim  gegen  die  h.  Wahrheit 


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—   G04  — 


meines  Buchs  und  auch  gegen  mich,  meine  bürgerlichen 
Rechte  stellen?  Ich  heiße  hier  und  vorn  auf  meinem 
Buch 

Heinrich  Hößli." 

Das  Endergebnis  der  Verhandlungen  Heinrich 
Hößli's  mit  der  Behörde  war  dieses,  daß  er  die  Auflage 
seines  Werkes  zwar  behielt,  auch  sein  Manuskript  zurück- 
bekam, daß  er  aber  innerhalb  des  Kantons  Glarus  weder 
ein  weiteres  Exemplar  des  bereits  Gedruckten  verkaufen, 
noch  sein  Manuskript  weiter  drucken  lassen  durfte.  Ge- 
mäß einer  Bekundung  soll  er  eine  schwere  Buße  (angeb- 
lich 2000  Franken  oder  mehr)  haben  zahlen  müssen,  nach 
einer  andern  Quelle  kam  er  dagegen  ohne  Buße  davon. 
Seinem  bisherigen  Buchdrucker  Freuler  war  damit  die 
Möglichkeit  des  Weiterdruckes  abgeschnitten. 

Man  wird  sich  schwer  des  Argwohns  entschlagen 
können,  daß  das  Vorgehen  des  Evangelischen  Rates 
gegen  Hößli  nicht  lediglich  Heinrich  Hößli's  wenn  auch 
entschiedener  so  doch  von  jeglicher  Lüsternheit  freier  Ver- 
teidigung der  gleichgeschlechtlichen  Liebe  gelten  sollte, 
sondern  mehr  und  vielleicht  besonders  seine  religiös-freie 
Denkungsweise,  der  er  durch  Einbeziehung  von  Hexen- 
prozeß und  -glauben,  Pfaffen  und  Teufeln  in  sein  Werk 
von  der  Männerliebe  der  Griechen  unverhohlenen  Aus- 
druck gab,  zu  treffen  bestimmt  gewesen  ist.  Wrar  schon 
die  Darstellung  der  geschlechtlichen  Natur  der  Männer- 
liebe  zu  damaliger  Zeit  eine  sehr  bedenkliche  Kühnheit, 
welche  höchste  Vorsicht  erforderte,  so  muß  gar  ihre 
Verquickung  mit  Angelegenheiten  des  Glaubens  als 
äußerst  unvorsichtig  bezeichnet  werden.  Der  Gedanke 
eines  Parallelismus  zwischen  Verfolgung  gleichgeschlecht- 
licher Liebe  und  den  Prozessen  gegen  Hexen,  welche 
wie  ein  roter  Faden  durch  beide  Bände  des  „Eros'4  sich 
hindurchzieht,  mag  dazu  mitgewirkt  haben,  daß  auch 
Solche  Hößli  nicht  verstehen  wollten,  die  ihn  hätten  ver- 


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—    505  — 


stehen  und  der  Verbreitung  seiner  Erosidee  hätten  förder- 
lich werden  können,  daß  er  zur  Zeit  seines  Auftretens, 
im  zweiten  Viertel  des  19.  Jahrhunderts,  unbeachtet  blieb 
oder  totgeschwiegen  wurde,  daß  er  tauben  Ohren  predigte 
und  nach  dem  Erscheinen  seines  ersten  „ErosM-Bandes  be- 
reits einem  geschlossenen  Widerstand  sich  gegenüber  sah, 
an  dem  selbst  seine  im  höchsten  Maße  opferwillige  und 
trotzige  Energie  und  seine  von  un unterdrückbarer  Ueber- 
zeugung  getragene  Willenskraft  nach  kurzem  Kampfe 
zerschellte;  diese  unglückselige  Verquickung  von  Liebe 
mit  Glauben,  welche  freilich  in  seinem  Gerechtigkeits- 
gefühle wurzelte,  mag  vorzugsweise  die  Schuld  tragen, 
daß  Hößli  am  Siege  seiner  Wahrheit  für  absehbare  Zeit 
endgültig  verzweifeln  mußte  und  ein  Prediger  in  der 
Wüste  nicht  nur  seinen  Zeitgenossen,  sondern  bis  auf  die 
heutige  Stunde  geblieben  ist.  Sein  großes  unsterbliches 
Lebenswerk,  sein  zweibändiger  „Eros*,  hat  denn  auch  tat- 
sächlich das  Schicksal  erlebt,  daß  es  an  der  Wende  des 
19.  Jahrhunderts,  fast  60  Jahre  nach  seinem  Erscheinen 
und  fast  30  Jahre  nach  Hößli's  Hinscheiden,  von  einer 
Seite,  welche  Hößli's  Wesen  und  Bedeutung  mit  Ver- 
ständnis zu  erfassen  vermochte,  in  zwei  völlig  getrennte 
Bücher  zerlegt  worden  ist  —  in  .Hexenprozeß  und 
-glauben,  Pfaffen  und  Teufel"  einerseits  und  in 
„Männerliebe  der  Griechen*  andererseits.1) 

%)  1.  Hexenproceß  —  und  Glauben,  Pfaffen  und  Teufel.  AU 
Beitrag  zur  Cultur-  und  Sittengeschichte  der  Jahrhunderte.  Von 
Heinrich  Hößli,  Leipzig,  H.  Barsdorf.  1892.  80  Seiten  in  Oktav. 
—  Diese  Schrift  enthalt  manches  ausgeführt,  was  in  Hößlis  „Eros" 
nur  angedeutet  ist,  außerdem  vieles  von  Hößli  gar  nicht  berührte, 
sodaß  über  die  Hälfto  ihres  Inhalts  gar  nicht  von  unserem  Heinrich 
Hößli  stammt. 

L\  Eros.  Die  Mannerliebe  der  Griechen,  ihre  Beziehungen 
zur  Geschichte,  Literatur  und  Gesetzgebung  aller  Zeiten.  Oder 
Forschungen  Uber  Platonische  Liebe,  ihre  Würdigung  und  Ent- 
würdigung für  Sitten-,  Natur-  und  Völkerkunde.  Von  H.  Hößü.  Zweite 


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—   506  — 


Dieses  Mißgeschick  jedoch,  das  Verbot  des  Vertriebes 
und  des  Weiterdruckes  seines  Eros  innerhalb  der  Gren- 
zen des  Kantons  Glarus,  brach  Hößli's  Wagemut  noch 
nicht;  —  er  sah  sich  nur  genötigt,  nach  einem  Ersätze 
für  den  Drucker  Freuler  in  einem  anderen  Kanton  sich 
umzusehen,  und  einen  solchen  fand  er  alsbald  in  der 
Person  des  J.  Fr.  Wartmann  in  St  Gallen.  Mit  Hülfe 
dieses  ausgezeichneten  Mannes  gelangte  Heinrich  Hößli 
sicher  und  schnell  zu  seinem  ersehnten  Ziele.  Vom 
zweiten  Erosbande  waren  bereits  8  Bogen  gedruckt,  nur 
die  Seiten  43  und  4-1  mußten  als  unbrauchbar  verworfen 
werden;  der  schriftliche,  den  Druck  des  Eros  betreffende 
Verkehr  zwischen  beiden  Männern  währte  vom  17.  März 
1837  bis  zum  31.  Oktober  1838;  alsdann  war  der  Druck 
auch  des  2.  Erosbandes  vollendet.  Der  Austausch  der 
Gedanken  zwischen  Wartmann  und  Hößli  hatte  in- 
zwischen vertraulich,  fast  herzlich,  ja  freundschaftlich  sich 
gestaltet ;  öfter  war  die  Rede  von  geplanten  persönlichen 
Zusammenkünften,  bei  denen  dann  auch  der  „ liebe  Kubli" 
immer  eine  Rolle  spielte.  Wartmann  führte  Klage  bei 
Hößli  über  unleserliches  Manuskript:  »Bei  diesem  Anlaß* 
—  schreibt  er  am  10.  Juni  1837  —  „nehme  ich  mir  die 
Freiheit,  eine  Bitte  an  Sie  zu  richten,  die  Sie  mir  gewiß 
nicht  übel  deuten  werden.  Es  kommen  nämlich  in  dieser 
Manuskriptsendung  einige  Blätter  vor,  wovon  ein  paar 
nur  mit  der  größten  Mühe  und  eines  (wie  Sie  in  der 
Korrektur  finden  werden)  an  einigen  Stellen  gar  nicht 
entziffert  werden  konnten.  Ich  muß  Sie  deß wegen  im 
Interesse  der  Sache  wirklich  driugend  bitten,  etwas  mehr 

Auflage  Münster  i.  d.  Schweiz.  II.  und  125  Seiten  in  Oktav.'  Von 
H.  Barsdorf,  Leipzig,  übernommen.  —  Diese  Schrift  ist  ein  etwas 
dürftiger,  stark  vernüchterter  Auszug  ans  dem  Originalwerke  mit 
Auslassung  aller  auf  Hexenprozeü  und  -glauben,  Pfaffen  und  Teufel 
bezüglichen  Stellen;  die  Wortstellung  HüÜlTs  ist  z.  T.  modernisiert, 
die  Reihenfolge  der  Sätze  willkürlich  gewechselt. 


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—   507  — 


Sorgfalt  auf  dasselbe  zu  verwenden;  denn  äußerst  unan- 
genehm ist  es  für  den  Verfasser  eines  Werkes  wie  für 
den  ehrliebenden  Buchdrucker,  wenn  auf  diese  Weise 
sinn-  und  geiststörende  Fehler  einschleichen."  Ein  an- 
deres Schreiben  Wartmann's  vom  10.  Oktober  1837 
nimmt  Bezug  auf  den  Evangelischen  Rat:  »Die  Glarner 
Sperren  scheinen  Retraite  schlagen  lassen  zu  wollen  und 
zu  dem  lieben  Juste-milieu  zurückzukehren.  War  es  dann 
wohl  der  Mühe  werth,  einen  so  gewaltigen  Lärm  in  der 
Welt  zu  machen,  wenn  man  am  Ende  doch  den  Muth 
nicht  hat,  einigen  intriganten  Pfaffen  den  Hals  zu  brechen?" 
Wartmann  gelang  es,  auch  die  Verlagsbuchhandlung  C. 
P.  Scheitlin  in  St  Gallen  zur  Uebernahme  der  Kommis- 
sion für  beide  Erosbände  mit  50  %  Provision  zu  ge- 
winnen: »Dem  mit  dem  Buchhändlergeschäft  nicht  Ver- 
trauten" —  schreibt  er  unter  dem  28.  Januar  1838  an 
Hößli  —  „mag  allerdings  diese  Forderung  etwas  hoch 
erscheinen;  allein  es  ist  zu  bemerken,  daß  Hr.  Scheitlin 
allen  andern  Buchhandlungen  25  %  geben  muß,  daß  ferner 
alle  Spesen  für  Fracht,  Ankündigungen  des  Werkes  und 
dergl.  auf  seine  Rechnung  fallen.  Den  Preis  der  zwei 
Bände  dürfte  man  auf  3  fl.  oder  mindestens  auf  2  fl.  42 
stellen." 

Ueber  Heinrich  Hößli's  Gemütsverfassung  während 
des  Druckes  des  2.  Bandes  seines  „Eros*  in  St  Gallen 
giebt  ein  Schreiben  Auskunft,  welches  aller  Wahrschein- 
lichkeit nach  für  den  von  Hößli  im  „Eros*  zitierten  Ver- 
fasser einer  Metaphysik,  den  Professor  Troxler,  bestimmt 
war  und  dessen  Konzept  in  Hößli's  Nachlasse  vorliegt: 

„Glarus,  im  May  1838. 

„Hochzu verehrender  Herr  Professor! 

„Obschon  mich  die  so  vollständige  Unverhältniß- 
raäßigkeit  meines  geistigen  Standpunktes  zu  dem  Ihrigen 
:   abschrecken  will  von  dem  Schritt,  den  ich  hier  wage: 


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—   508  — 


so  ermuthigt  und  treibt  mich  dagegen  wieder  der  Geist, 
den  ich  bald  am  Himmel,  bald  über  der  Erde,  bald  außer 
mir,  bald  in  mir  wandeln  und  wirken  sehe,  der  mich 
genöthigt  hat,  diese  Schrift,  die  ich  Ihnen,  ehrwürdiger 
Herr!  hier  in  Demuth  und  Ehrfurcht  lasse  zuschicken, 
und  die  auch  in  Ihrem  Geist  in  viel  weiterem  Sinn  und 
Raum  als  in  mir  wirksam  ist. 

„In  den  zwei  platonischen  GespTächen  Phädrus  und 
Symposion  sind,  obwohl  von  unsrer  Zeit  noch  nicht 
erkannt,  Religion,  Natur  und  Kunst  —  von  deren  Ein- 
heit oder  ewigen  Unzertrennlichkeit  Ihre  Seele  so  tief 
erleuchtet  ist  —  dennoch  gleich  gewiß  vorhanden,  als 
diese  zwei  Schriften  selbst  vorhanden  sind.  Da  indessen 
aber  das  ihnen  zu  Grunde  liegende  Prinzip  oder  ihr  eigent- 
liches und  ausschließliches  Natur-Element  uns  darum  im 
Dunkeln  liegt,  weil  wir  es  bisher  immer  nur  umgangen, 
statt  erforscht,  aufgesucht  oder  festgehalten  haben —  und 
uns  dadurch  dann  auch  zugleich  ihre  Religion  und  Kunst, 
wie  sie  mit  der  Natur  unzertrennlich  Hand  in  Hand 
gehen  —  eben  gerade  weil  sie  in  ihrem  eigentlichen 
Leben  untrennbar  sind,  in  die  größte  Verwirrung,  Un- 
bestimmtheit und  Nutzlosigkeit  gestellt,  verloren  oder, 
da  wir  ihre  Natur  im  Begriff,  in  der  Idee  nicht  haben, 
so  haben  wir  auch  ihre  Kunst  nicht  und  ihre  Religion 
nicht.  Aber  die  in  menschlicher  Natur  tief  und  unzer- 
störbar begründete,  ewige  Idee  derselben  umfaßt  und 
bedingt.,  ganz  angemessen  Platon's  geweihter  Seele, 
wahrlich  weit  andere,  bestimmtere,  unaufhörlichere, 
wichtigere  und  heiligere  Beziehungen  zur  Menschen- 
gesellschaft, als  wir  bisher  eingesehen,  geahnt  oder 
unsere  schwankenden  Begriffe  enthalten  und  angedeutet 
haben. 

„Der  Wink  ernster  Menschenliebe,  über  die  Folgen 
und  Bedeutungen  unsres  da  so  irrigen,  so  unbestimmten 
Standpunktes  —  und  des  griechischen,  nicht  irrigen  zu 


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—   509  — 


Plato  und  der  Menschheit  in  Betreff  des  so  wichtigen, 
positiven  und  uuverborgenen  Naturgegenstandes  der 
beiden  benannten  Kunstwerke  —  den  ich  Ihnen  hier 
zur  Beurtheilung  durch  gefällige  Vermittlung  des  Herrn 
J.  F.  Wartmann  zu  tiberreichen  wage,  ist  freilich  nur 
das  überaus  mangelhafte  und  rohe  Werk  eines  eben 
so  wohl  Schule  und  Erziehung,  als  Hüfsmittel  und 
Muße  ermangelnden,  iu  aller  Verlassenheit  leidenden 
und  zum  Theil  auch  verfolgten  Menschen.  Ich  will 
Ihnen,  ehrwürdiger  Herr,  hier  keine  von  den  Gedanken 
der  Vorworte  beider  Bände  wiederholen,  sondern  nur 
auch  für  diese  Sie  um  einen  Ihrer  Tiefblicke  in  das  Wesen 
der  Religion,  Natur  und  Kunst  oder  des  Menschen 
eben  so  dringend  bitten,  als  um  ein  kurzes  Resultat 
Ihrer  mir  so  hochwichtigen  Ansicht  und  zugleich  dann 
endlich  auch  um  großmüthige  Vergebung  der  Freiheit, 
die  ich  an  mit  zu  nehmen  mich  gedrungen  fühlte,  und 
diesen  Anlaß  nur  noch  dazu  benutze,  der  besondern, 
individuellen  Verehrung  zu  gedenken,  mit  der  ich  zeit- 
lebens sein  werde,  hochzuverehrender  Herr  Professor, 

Ihr  ergebener 

H.  Hößli  jünger." 

Bis  zur  Fertigstellung  des  2.  Bandes  des  „Eros*  reichte 
Hößli's  Kraft  und  Energie;  dann  hat  er  jede  Absicht 
öffentlichen  Wirkens  jäh  aufgegeben.  Die  zahlreichen  Vor- 
arbeiten zum  3.  Bande  ließ  er  unverändert  liegen,  aber 
ohne  sie  zu  vernichten.  Er  redete  sich  fortan  ein,  daß 
sein  Werk  nichts  tauge,  daß  der  wirksamen  Darstellung 
seiner  Erosidee  er  selber  nicht  gewachsen  sei.  In  einem 
Briefe  wegen  der  jüngsten  Schrift  über  den  Hexen-Prozeß 
und  eine  ältere  von  J.  F.  Rübel  schreibt  er:  „Bios  um 
Wort  zu  halten,  kommt  der  Eros  hier  auch  mit.  Sie 
werden  ihn  nicht  lesen  —  wegwerfen,  denn  schlechter  ist 
kein  Buch  geschrieben;  und  es  ist  auch  zum  Theil  dieses 


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—   510  — 


Gefühl,  diese  Ueberzeugung,  daß  ich  den  3.  Thl.  liegen 
ließ;  je  tiefer  ich  von  der  großen  Bedeutung  der  Idee 
ergriffen  bin,  um  so  sicherer  ist  auch  meine  traurige  Ueber- 
zeugung, daß  sie  nur  durch  einen  großen,  gebildeten, 
gelehrten  Mann  unsrer  Zeit  gemäß  darstellbar  ist;  wie 
einst  den  Griechen  durch  Plato,  der  noch  so  prächtig 
dasteht.  Der  Stoff,  wie  jedes  Element  der  ganzen  Schöpfung 
ist  immerwährend  vorhanden:  zum  Heil  oder  zum  Ver- 
derben ...  da  aber  sitzt  der  Verfasser  des  ersten  oben 
berührten  Schriftleins  Pag.  157  Zeile  4,  5  u.  6  wahrlich 
noch  im  dicken  Nebel." 

Allein  wie  sehr  seine  Erosidee  bis  in  sein  Greisen- 
alter Hößli  beschäftigte  und  ihm  am  Herzen  lag,  davon 
zeugt  die  verlorene  rührende  Klage  im  Konzepte  eines 
Briefes  von  ihm  aus  dem  Jahre  1855:  »Wie  froh  wäre 
ich,  alle  meine  die  Idee  des  Eros  betreffenden  zahlreichen 
Bücher  einem  fähigen  Manne  im  Interesse  einer  ver- 
lassenen Wahrheit  überlassen  zu  können:  und  der  hätte 
bei  mir  den  Rechtstitel  darauf  —  weil  ich  heute  oder 
morgen  sterbe,  denn  ich  bin  schon  71  Jahre  alt."  Und 
hatte  Hößli  auch  mit  dem  Jahre  1838  alle  Hoffnung  auf 
öffentlichen  Erfolg  vollends  aufgegeben,  so  verlor  er  da- 
mit gleichwohl  nicht  die  Lust,  seine  Erosidee  weiter  zu 
begründen,  zu  erforschen  und  zu  vertiefen.  Zeugnis 
dessen  sind  zahlreiche  Auszüge  und  Bemerkungen  seines 
handschriftlichen  Nachlasses,  Notizen,  welche  bis  in  das 
Jahr  des  Todes  des  achtzigjährigen  Greises  reichen,  von 
deuen  eine  beschränkte  Auslese  hier  Aufnahme  finden  möge : 

Nov.  1854:  Es  war  der  Fluch  unserer  Irridee,  die 
auch  am  Leben  dieses  Göttlichen  (J.  v.  Müller)  nagte. 

24.  December  1858:  Glarnerzeitung.  Bern.  Die 
Fleischvergehen  scheinen  sich  auch  in  diesem  Cauton, 
wie  in  Zürich,  zu  vermehren.  So  werden  nächstens  vor 
den  Geschwornen  des  Mittellandes  wieder  3  Anklagen 
auf  widernatürliche  Unzucht  verhandelt. 


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—   511  — 


4.  Juni  1859:  Neue  Glarnerzeitung,  3.  Jahrgang, 
kriroinalstatistische  Notizen  vom  May  1858  bis  59. 
....  jene  Prozeduren  moderner  Raffiniertheit,  die  ander- 
wärts im  Vordergrund  der  schwurgerichtlichen  Dramen 
stehen,  kennen  wir  bei  uns  noch  nicht  und  auch  das 
wüste  Feld  der  unnatürlichen  Fleischverbrechen,  die 
anderwärts  in  der  ganzen  Abscheulichkeit  ihrer  Formen 
immer  wieder  auf  den  Traktanden  stehen,  ist  unter  uns 
Gottlob  unbekannt! 

1859:  Die  Liebe  von  J.  Michelet.  Uebersetzt  von 
F.  Spielhagen.  Leipzig,  J.  J.  Weber.  1859.  —  Dir  habe 
ich  Michelet's  ewig  bewunderungswürdiges  Buch  „von 
der  Liebe*  oder  vielmehr  von  der  göttlichen  Tiefe  des 
Weibes  zu  danken  und  durch  solches  die  Ueberzeugung 
gewonnen,  daß  es  wirklich  Menschen,  Männer,  Geister 
gibt  wie  dieser  Michelet;  das  sind  Seher,  Lehrer,  Ge- 
müther, Seelen,  Engelszungen,  Priester  und  Diener  an 
den  Altären  der  Menschheit,  der  Tugend,  der  Religion, 
der  Natur.  Von  diesem  Buch  möchte  ich  viel  reden  — 
das  ist  ein  Sinn,  ein  Griffel,  eine  Sprache,  ein  Geist. 
Daß  du  den  Sinn  hattest,  mir  dieses  Buch  mitzutheilen, 
freut  mich  sehr.  —  O  daß  wir  auch  über  andre  Sphären 
der  Wunder  dieser  Weltschöpfung  solche  Bücher  hätten. *) 

18.  Nov.  1860:  —  ja!  ja!  aber  um  der  Tugend  und 
der  Vergöttlichung  der  männlichen  Liebe  willen  —  wie 
bei  der  zweigeschlechtlichcn  die  Venus  Urania  —  war 
für  die  Männerliebe  der  Eros  in  Tempeln  und  Gym- 
nasien .... 

9.  April  1861 :  Landbote  No.  84.  Winterthur.  Ver- 
mischtes. —  Unter  den  Miszellen  eines  deutschen  Blattes 


*)  Das  Werk  J.  Michelet's,  Die  Liebe,  übersetzt  von  Friedr. 
Spieibagen,  bildet  3  Bändchen  (2523 — 2525)  der  Philipp  Reclam'schen 
Universal-Bibliotbek  (Preis  60  Pfennige). 


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—   512  — 


lesen  wir  folgendes :  In  Vevey  am  Genfersee  genießt  das 
Hotel  des  Trois  Couronnes,  auch  Hotel  Monnet  genannt, 
eines  altbewährten  Rufes.  Aber  Herr  Monnet,  der  dieses 
Etablissement  gründete  und  so  glücklich  emporbrachte, 
genießt  nunmehr  einer  behaglichen  Ruhe.  Und  die 
Sache  ist  folgender  Maßen  gekommen.  Vor  etwa  zwei 
Jahren  logierte  in  dem  Hotel  ein  reicher  Russe  und  fand 
an  dem  ihn  empfangenden  Oberkellner,  einem  Frankfurter- 
kinde, ein  besonderes  Wohlgefallen;  ja  seine  Zuneigung 
stieg  so  weit,  daß  er  den  jungen  Mann  um  seine  An- 
sichten und  Pläne  für  die  Zukunft  befragte.  Diese 
waren  so  bescheidener  Natur,  daß  er  die  Frage  seines 
Gönners,  „ob  er  nicht  gern  dieses  Hotel  übernehmen 
würde?",  für  einen  Scherz  nahm.  Aber  der  Russe  meinte 
es  anders;  nach  Jahresfrist  kehrte  er  nach  Vevey  zurück, 
hat  das  große  Etablissement  für  1250000  Franken  ge- 
kauft und  unter  bestimmten,  sehr  mäßigen  Bedingungen 
dem  glücklichen  Oberkellner  überlassen,  der  es  hoffentlich 
eben  so  gut  verwalten  wird,  als  der  Gründer  desselben. 

3.  December  1862:  Landblatt  No.  288.  —  Lucern. 
Jener  Heini,  Bedienter  des  Nuntius,  der  wegen  unnatür- 
licher Vergehen  verhaftet  wurde,  ist  vom  Kriminalgericht 
zu  6  Jahren  Zuchthaus  verurtheilt  worden. 

4.  Juni  1863 :  Neue  Glarner  Zeitung  No.  67.  Unter 
Verschiedenes.  Turin.  In  dem  Skandalprozeß  der 
Priesterkongregation  der  unwissenden  Brüder  „lgnoran- 
telli*  kommen  täglich  neue  Fakta  zur  Kenntniß,  welche 
es  unbegreiflich  erscheinen  lassen,  wie  diese  Gesellschaft 
ihr  Gewerbe  so  lange  ungestraft  treiben  konnte.  Von 
den  250  Zöglingen,  welche  das  Institut  von  San  Primi- 
tivo  umfaßt,  soll  mehr  als  ein  Drittheil  der  viehischen 
Gemeinheit  der  Brüder  zum  Opfer  gefallen  sein.  Der 
Prozeß  gegen  die  Ignoranteili  soll  auch  zu  Untersuchun- 
gen bei  einem   ihnen  verbündeten  Frauenorden  geführt 


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—    513  — 


haben,  wobei  sehr  ärgerliche  Dioge  an  das  Tageslicht 
gekommen  seien. 

6.  Juli  1863:  Landblatt  No.  159.  Turin.  Bekannt- 
lich ist  vor  längerer  Zeit  ein  Prozeß  gegen  die  Brüder 
„Ignorauti"  (eine  klerikale  Genossenschaft)  wegen  Ver- 
brechen gegen  die  Sittlichkeit  anhängig  gemacht  worden. 
Das  nun  gefällte  Urtheil  lautet  auf  5  Jahre  Gefängniß- 
straf e  gegen  Bruder  Arcadius  wegen  Unzucht ;  zwei  an- 
dere Brüder  wurden  auch  der  Unzucht  schuldig  erkannt, 
mußten  aber,  da  kein  Privatkläger  aufgetreten,  frei  ge- 
sprochen werden.  

Der  schwerste  Schlag,  der  Heinrich  Hößli  überhaupt 
treffen  konnte,  war  ihm  für  sein  Greisenalter  vorbehalten. 
Als  er  1857  oder  1858  nach  Lachen,  Richterswyl 
(oder  Wadeuschwyl)  zog,  übergab  er  den  ganzen  ihm 
noch  verbliebenen  Rest  seiner  „Eros "-Auflage  dem  Besitzer 
der  Eisenhandlung  im  Löwen  zu  Glarus,  Herrn  Josua 
Dürst,  der  ihn  oben  im  Rittersaale  unterbrachte  —  und 
hier  ist,  was  vom  „Eros*  den  Weg  in  die  Welt  noch  nicht 
gefunden  hatte,  vom  10.  bis  11.  Mai  1861  bei  dem  großen 
Brande  von  Glarus *),  der  die  halbe  Stadt  einäscherte, 
noch  3  Jahre  vor  Heinrich  Hößli's  Ableben,  durch  Feuer 
vollständig  vernichtet  worden. 

')  Die  Literatur  Uber  den  großen  Brand  von  Glarus  1861: 
1.  Der  Brand  von  Glarus  am  10  11.  Mai  1801.  Berichterstattung 
des  Hülfskomito  in  Glarus.  Glarus,  Friedr.  Schmid  jun.,  1862.  80 
Seiten  nebst  Beilagen  von  11  und  60  Seiten  in  Quart.  —  2.  Der 
Brand  in  Glarns  in  der  Nacht  vom  10.  auf  den  11.  Mai  1861.  Ab- 
druck aus  der  Neuen  Zürcher  Zeitung  vom  20.  Mai  1861.  Zürich, 
Orell,  FUÜü  und  Comp.  1861.  16  Seiten  nebst  Karte  von  Glarus, 
aufgenommen  am  12.  Mai  1861.  In  Oktav.  —  3.  Das  alte  Glarus, 
Album  mit  Plan  und  20  Ansichten  aus  Glarus  vor  dem  Brande  von 
1861  nach  Aufnahmen  von  H.  Brunner  Ilaffter  in  Glarus,  in  Licht- 
druck vervielfältigt  von  liömmler  &  Jonas  in  Dresden.  Mit  er- 
läuterndem Text  herausgegeben  von  der  Casinogesellschalt  in  Glarus. 
Glarus  1901.    10  Seiten  und  18  Tafeln. 

Jahrbuch  V.  38 


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—   514  — 


Zum  Schicksal  eines  Buches  gehört  auch  die  Er- 
örterung, wie  es  vom  Publikum  verlangt  und  wie  es  be- 
urteilt wird. 

Durch  den  großen  Brand  von  Glarus  zu  einer  Rari- 
tät geworden,  ist  der  ,Eros*  Hößli's  im  Buchhandel  äußerst 
selten ;  da  aber  Hößli  mit  geschenkten  Exemplaren  nicht 
kargte,  so  kann  man  am  ehesten  noch  darauf  rechnen, 
ein  Exemplar  aufzutreiben,  wenn  man  sich  an  die  noch 
lebenden  Freunde  oder  Verwandten  Hößli's  oder  deren 
Nachkommen  wendet;  allein  auch  dann  wird  man  oft 
eine  Enttäuschung  erleben. 

Gedruckte  literarhistorische  Urteile  über  Heinrich 
Hößli's  „Eros"  sind  mir  keine  bekannt;  in  dem  Riesenwerke 
„Allgemeine  deutsche  Biographie"  (Leipzig,  Duncker  und 
Humblodt)  ist  Hößli  nicht  aufgenommen.  Von  einem 
guten  Freunde  Heinrich  Hößli's  wurde  mir  gesagt,  daß 
der  schweizerische  Schriftsteller  Iwan  vonTschudi  mündlich 
den  .Eros"  als  ein  gutes  Buch  bezeichnet  habe.  Ein- 
zig Karl  Heinrich  Ulrichs,  Heinrich  Hößli's  Nach- 
folger *)  im  Kampfe  für  Anerkennung  der  Natürlichkeit 
und  sittlichen  Berechtigung  der  gleichgeschlechtlichen 
Liebe,  hat  Hößli  wiederholt  zitiert  *)  und  auch  ein  kriti- 
sches Urteil  über  seinen  „Eros"  geäußert.  s)  Er  tadelt  an» 
„Eros",  daß  er  ermüdend  weitschweifig  sei,  2  starke  Bande 

')  U  Iriehs  trat  mit  seiner  ers  t  en  Schrift  Uber  mannmännlicho 
Liebe  „Inclusa"  als  Numa  Xumantius  1864  —  also  im  Todesjahre 
Beinrieb  Hößli's  —  hervor;  erst  am  12.  Februar  1866  erfuhr  er 
vom  „Eros"  seines  Vorgängers,  nachdem  er  bereits  den  letzten 
Federstrich  an  seiner  fünften  Schrift  „Ära  spei"  (1865)  getan 
(nach  Ulrichs'  siebenter  Schrift  „Memnon"  1868,  Abt. II  S.  128). 

«)  Ulrichs,  sechste  Schrift  „Gladius  furens"  1868  S.  1—2; 
S.  4,  Fußn.  3;  S.  11,  Ftißn.  10;  S.  18,  Fußn.  16;  S.  21,  Fußn.  16  u. 
20;  —  siebente  Schrift  „Memnon"  1868  1  S.  XIV;  II  S.  X,  6,  7; 
S.  94,  §  109  u.  110;  S.  128—180,  §  134,8;  —  neunte  Schrift 
„Argonauticus"  1869,  S.  157,  12. 

3)  Ulrichs  siebente  Schrift  „Memnon-  1868  II  S.  112—130. 


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—    515  — 


umfasse,  daß  er  etwas  zu  viel  mit  Phrasen  und  etwas  zu 
wenig  mit  Gründen  die  Verfolger  angreife  und  daß  alle 
und  jede  Gliederung  des  Stoffes  fehle.  Jedoch  sei  auch 
dem  „Eros",  wie  ihm,  das  Angeborensein  der  Männer- 
liebe das  Fundament,  auf  das  er  ihre  Berechtigung 
gründe.  Freilich  werde  dies  Fundament  von  ihm  nur 
behauptet,  nicht  bewiesen.  Wenigstens  sei  das  kein  Be- 
weis, was  er  dafür  anführt:  urnische  Liebesgedichte, 
griechische,  römische,  persische  u.  a.  Diese  bewiesen  ja 
nur  die  gar  nicht  bestrittene  Tatsache,  daß  Männerliebe 
existiert.  Die  ganze  naturwissenschaftliche  Seite  des 
Gegenstandes,  so  namentlich  die  Muliebrität,  werde  nicht 
berührt.  Einmal  nur  (Eros  I  S.  296)  könne  er  nicht 
umhin,  diesen  Punkt  wenigstens  zu  streifen.  Aber  er 
furchte,  von  ihm  in  ein  Labyrinth  geführt  zu  werden 
ohne  Ausweg.  Dennoch  sei  Hößli's.Eros"  reich  an  glän- 
zenden Partieu.  Erschütternd  sei  neben  allem  edlen  Zorn 
«las  unendlich  tiefe  Gedrücktsein,  das  fast  aus  jedem 
Satz  hervorleuchte  und  das  noch  gar  fern  sei  von  jener 
inneren  Sicherheit,  welche  allein  durch  die  Vorahnung 
der  Freiheit  verliehen  werde.  Gegen  Ulrichs'  Kritik  ist 
einzuwenden,  daß  Hößli  die  Muliebrität  des  Urnings  sehr 
wohl  erkannt  hat  und  nicht  nur  im  Band  1  S.  296 
streift,  sondern  im  Band  II  S.  325  eingehender  behan- 
delt; alle  anderen  Vorwürfe  aber  treffen  auch  Ulrichs 
selbst;  sein  angeblicher  Beweis  ist  nicht  ein  solcher, 
sondern  eine  Hypothese,  welche  viel  Wahrscheinlichkeit 
für  sich  hat;  auch  seine  Schriften  lassen  in  Folge  der 
Art  ihres  Erscheinens  in  12  Heften  innerhalb  eines  Zeit- 
raumes von  15  Jahren  die  gewünschte  Gliederung  und 
Uebersicht  des  Stoffes  vermissen.  Und  schließlich  war 
Hößli  noch  nicht  fertig  mit  seinem  zweibändigen  „Eros", 
sondern  hatte  noch  einen  dritten  Band  geplant. 


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—   510  — 


3.  Stellen  aus  Heinrich  Hößli's  „Eros" 
a.  Allgemeine  Sentenzen. 

Wir  stehen  uns  beim  Suchen  immer  selbst  im  Wege! 
(II  263).   

Es  gibt  einen  religiösen,  einen  politischen,  einen 
sittlichen  Fanatismus  (I  52). 

Wir  liegen  erst  in  den  Wehen  für  wahrhaft 
menschliche  Sitten  und  Gesetze  (II,  X). 

Zeit  ist  es,  aus  diesem  Sündenschlaf  zur  Wahrheit, 
zur  Vernunft  und  zum  Recht  zu  erwachen  ....  (I  113). 

Gesetze  ohne  Wissenschaft  sind  Henker  ohne  Obrig- 
keit (I  113).   

Religion  ohne  Liebe,  Staaten  ohne  Gerechtigkeit, 
Kirchen  ohne  Wissenschaft  —  das  sind  vollkommen  teuf- 
lische Dinge  (II  175). 

Wir  sind  vielleicht  zu  unheidnisch,  um  einzusehen, 
daß  wir  kein  einziges  Laster  weniger  als  die  Heiden 
haben  (II  2(34).   

Aller  Forschung  voran  geht  die  Naturforschung  .  . . 
Die  Geschlechtsnatur  des  Menschen  ist  nicht  Wille 
des  Menschen,  nicht  Wahl  des  Menschen;  so  darf  sie 
nicht  stehen  in  unsern  Menschen-Natur-Lehren,  denn  sie 
ist  es  nicht;  die  dießseitige  Auffassung,  Darstellung  und 
Behandlung  des  Menschen  ist  darum  von  der  höchsten 
Wichtigkeit,  weil  eben  hier  alle  Radien  seines  Lebens, 
entweder  verbindend  oder  auflösend,  verwirrend  oder 
erklärend,  verherrlichend  oder  entwürdigend,  glücklich 
oder  unglücklich  machend,  ausgehen  und  zusammen 
treffen  (II  4). 


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—   517  — 


Keine  Naturwahrheit  hat  eine  andere  Behörde  über 
sich  anzuerkennen,  als  wieder  eine  Naturwahrheit,  also  gar 
keine  —  weil  es  in  der  Wahrheit  keinen  Widerspruch 
und  keine  Rangordnung,  nur  eine  ewige  Harmonie  giebt, 
und  Wahrheiten  nicht  über-  und  untereinander,  sondern 
nebeneinander  stehen,  wie  die  Blumen  des  Feldes,  der 
Flur  oder  des  reichen  und  wohlbestellten  Gartens 
(II,  XI).   

Im  Samen,  im  Keim,  im  Embryo  ist  der  ganze 
Mensch;  wir  können  nichts  in  solchen  hineinbringen, 
nur  sich  entwickeln  lassen  das  in  ihm  Verschlossene,  und 
wenn  schon  viel,  das  in  ihm  ist,  zur  Verkrüpplung  nöthigen, 
ersticken  und  nicht  aufleben  lassen,  es  doch  nicht  tilgen 
(IT  201—202).   

Der  Hexenglaube  und  Hexenprozeß,  der  schreck- 
lichste Abgrund,  in  den  unser  Geschlecht  je  versank,  be- 
stand im  Mangel  der  Naturlehre;  durch  deren  erste 
Schritte  war  er  weg:  weil  man  Gespenster  nur  sieht  — 
wenn's  Nacht  ist  (II,  XXVII). 

Es  ist  in  unserer  und  jeder  Zeit  nicht  genug,  das, 
war  wahr,  was  recht,  was  schön  ist,  zu  studieren,  man 
muß  auch,  es  ist  noch  wichtiger,  das,  was  unrecht,  was 
Unwahrheit,  was  befleckt  und  entstellt  ist,  erforschen, 
enthüllen,  retten,  um  —  eine  bessere  Menschheit  zu 
werden  (II,  IX). 

Wir  sollten  freudig  Alles,  was  uns  auf  irgend  eine 
Weise  an  der  Ausübung  eines  Unrechts  auch  gegen  den 
geringsten  unsrer  Mitmenschen  verhindert,  was  das  Be- 
gehen eines  solchen,  erspart  oder  erwehrt,  segnen.  Aber 
das  einzusehen,  mangelt  es  uns  vielleicht  an  der  dazu 
nöthigen  Demiith,  und  wir  zanken  lieber  darüber  (II,  XV). 


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I 


—   518  — 

Weder  übersehen,  noch  verachten,  weder  entstellen, 
noch  verdammen  soll  der  Mensch  etwas  an  seiner 
Schöpfung  —  nur  kennen,  leiten,  erziehen  und  dahin 
stellen,  wo  seine  Endzwecke  sichtbar  werden  können 
(II  243). 


Nur  der  Wahnmensch  sagt  zum  Bruder:  „Das  ist 
nicht  deine  Natur,  weil  sie  die  meine  nicht  ist  —  Sünde 
ist  die  deinige,  weil  sie  wie  meine  nicht  ist  —  verderblich 
ist  deine,  weil  es  außer  der  meinigen  keine  andere  giebt, 
du  bist  nicht  da,  Staat  und  Kirche  wissen  dich  nicht 
und  darum  will  ich  mitwirken,  dich  zu  verderben,  zu 
verdammen;  denn  außer  unsrer  Wissenschaft  und  meinen 
Begriffen  kann  es  nichts  geben8  (I  116—117). 


Wie  durch  die  Liebe,  so  ist  der  Mensch  auch  zur 
Liebe  erschaffen,  und  zwar  zu  der,  die  sich  von  selbst, 
ohne  Hinzuthun  eines  Menschen,  in  ihm  kundgiebt,  reget; 
wie  es  auch  noch  in  keines  Menschen  Gehirn,  nicht  ein- 
mal in  dem  eines  Verrückten,  zur  Frage  gekommen  sein 
kann:  was  will  ich  lieben?  Dazu  brauchts  eine  National- 
verrücktheit, für  Individualitäten  ist  sie  unmöglich  .  .  . 
(II  240—241). 


Bei  uns  kennt  man  rechtlich,  sittlich  und  wissen- 
schaftlich nur  die  allgemeine  Liebe  der  zwei  Geschlechter; 
was  nicht  zu  ihr  gehört,  ist  uns  Willkühr,  Selbstbestim- 
mung und  Verbrechen;  das  ist  unser  Standpunkt;  den 
Griechen  aber  wäre  ein  solcher  in  aller  auf  Geschlechts- 
liebe bezüglichen  Menschenbehandlung  und  Menschendar- 
stellung Frevel  an  der  allgemeinen  wie  an  der  besondern 
Menschennatur  gewesen    (I  100). 


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—   519  — 


Wo  ein  Mensch  mit  gutem  Willen  und  klarer  Ein- 
sicht gegen  irgend  ein  Anliegen  der  Menschheit  eine  Er- 
gänzung, einen  Einklang,  Erklärung  und  Genugthuung 
für  und  gegen  einen  geachteten  oder  verachteten  Gegen- 
stand aufzufinden  bemüht  und  dazu  von  der  Natur 
gleichsam  bestimmt  und  gestimmt  ist,  da  kann  nur  ein 
entartetes  Geschlecht  ungeprüft  verfolgen;  die  Schädlich- 
Erklärung  eines  Unschädlichen  ist  nichts  anderes  als 
Schuldige  machen,  um  sie  bestrafen  zu  können  (II,  IX). 

So  grundfalsche  Ansichten  haben  wir  gräßlicher 
Weise  bei  der  Leitung,  Erziehung  und  aller  Behandlung 
von  Millionen  eben  so  menschlicher  als  schuldloser  Einzel- 
wesen für  ihre  leibliche  und  geistige  Zerstörung  gesetzt 
und  festgehalten  und,  erblindet  für  Wahrheit  und  Natur, 
das  Vorhandene  nicht  gesehen  und  das  Nichtvorhandene 
am  Platz  des  Vorhandenen  behandelt  und  verkündiget. 
Aber  die  Lügen,  die  sind  wahrlich  schlechte  Grundlagen 
der  Menschenerziehung,  der  Sitten  und  Gesetze.  Wahrheit 
mangelt  unserm  Leben  und  Wahrheit  seinen  Richtungen. 
Auf  Lügen  gebaute  Sitten  verwandeln  endlich  das  Leben 
selbst  in  eine  Lüge  (II  197). 

Der  Gesetzgeber  muß  jede  vorhandene,  wirkliche 
Natur,  die  der  Gesellschaft  gefährliche  Handlungen  be- 
gehen könnte,  wissen,  beachten,  durchschauen,  unter  das 
Gesetz  stellen;  aber  das  Gesetz  darf  nicht  den  Menschen 
aufheben,  darf  nicht  lügen,  und  darf  keine  Naturerschei- 
nung als  Nichtnatur  erklären,  um  sie  verfolgen  zu  können. 
Der  Mensch-  soll  im  Gesetz  groß,  nicht  klein  werden. 
Der  Gesetzgeber  muß  überall  Wahrheit  suchen  und  über- 
all Wahrheit  reden,  denn  wichtiger  als  bei  ihm  ist  sie 
nirgends.  Das  Gesetz  ist  in  der  Natur  von  Gott  und  im 
Gesetz  ist  das  Wesen  Gottes.  Im  Gesetz  ist  der  Mensch 
von  Gott  und  sich  selbst  am  höchsten  gestellt.  Laster 


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—   520  — 


und  Verbrechen  verhüten,  oder  sie  im  Geheimen  und 
Oeffentlichen  gleichsam  künstlich  erzeugen,  hervorbringen, 
nothwendig  machen,  das  sind  verschiedene  Dinge.  Am 
gewissesten  wird  die  unterdrückte  Natur  lasterhaft  und 
begeht  Verbrechen,  denn  sie  sind  alle  auf  eine  Natur, 
die  wir  ehren  und  leiten  sollen  und  die  kein  Verbrechen 
ist,  zurückzuführen  und  sind  darum  aber,  wegen  ihrer 
Folgen  und  Einflüsse,  wieder  nichts  desto  weniger  Ver- 
brechen (II  250). 


b.  Bemerkungen  über  Zweck  und  Bedeutung 

des  Eroswerkes. 

Wer  ein  mit  Blut  gefärbtes  Samenkorn  auf  den 
Brachfeldern  des  Guten  auferweckt,  der  arbeitet  im  Garten 
und  Vertrauen  Gottes  an  der  Menschheit  (I  189 — 190). 

Das  Schicksal  dieser  zwar  äußerst  mangelbaren  Schrift 
wird  deuuoch  ein  Meilenzeiger  und  Gericht  dieser  Zeit 
sein  für  den  Geist  der  Geschichte  der  Menschheit 
(II,  XXIII). 

Habe  ich  meine  Wahrheit  und  Erfahrungen  unge- 
lehrt geschrieben,  so  schreibe  sie  gelegentlich  ein  anderer 
gelehrt;  habe  ich  sie  nicht  christlich  geschrieben,  so  schreibe 
sie  ein  anderer  christlicher.  Wahrheit  aber  ist  sie  und 
wenigstens  doch  rein  menschlich  geschrieben  —  eben  so 
gewiß,  als  sie  aller  Christenheit  neu  ist  —  und  wenn  es 
unchristliche  Wahrheiten  geben  könnte,  es  läge  die  Schuld 
nicht  an  der  Wahrheit  —  weil  es  weder  im  Himmel  noch 
auf  Erden  eine  einzige  gibt,  die  eine  andere  zu  widerlegen 
vermöchte  (I,  XXV— XXVI). 

Ja,  es  sind  da  nun  große  Menschennamen  (die 
Stimmen  und  Zeugen)  entweder  wissenschaftlich  zu  reinigen 
oder  —  mit  neuem  Unflat   und  alter  Blindheit  zu  ver- 


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—   521  — 


unstalten;  die  Wissenschaft  dieser  Zeit  aber  wird  nun 
von  diesen  beiden  das  thun,  was  —  sie  kann  (II  52). 


Wer  sich  über  das  bisher  Aufgeführte,  über  diesen 
Theil  der  alten  klassischen  Litteratur,  über  diese  Stimmen 
des  Erdkreises  jener  und  aller  Zeiten  nicht  nach  Licht 
und  Erklärung  umsehen  mag,  der  sitzt  wahrlich  unwürdig 
auf  jedem  Lehrstuhl,  er  sei  der  Alterthumskunde,  dem 
Recht,  der  Philosophie,  kurz,  dem  Genius  des  Menschen- 
geschlechts, in  welcher  Richtung  es  immer  sei,  geheiliget, 
er  befleckt  ihn!  (II  161). 


„Ueber  nichts  Göttlicheres  kann  wohl  ein  Mensch 
einen  Beschluß  zu  fassen  haben,  als  über  seine  eigene 
und  seiner  Angehörigen  Ausbildung" ')  und  „Manches,  was 
im  Allgemeinen  als  unbedeutend  erscheint,  kann  dennoch 
auch  aus  besonderen  Gründen,  für  viele  oder  einige,  von 
Werth  sein,  —  wenn  das  Kennerauge  solches  entdeckt 
und  an's  Licht  zieht"3).  So  wäre  und  ist  der  Gegenstand 
dieser  Schrift,  über  welchen  wir  noch  ganz  im  Finstern 
sitzen,  an  und  für  sich  unbedeutend,  aber  unsere  Mei- 
nungen, unsere  Urtheile,  Vorstellungen  von  ihm,  das,  was 
wir  aus  ihm  gemacht  habeu,  was  wir  auf  ihn  gründen, 
das  ist  jetzt  über  den  halben  Erdkreis  noch  eine  weit 
gefährlichere  Pest,  als  die  blos  vorübergehende  Cholera- 
Epidemie.  Weun  einer  an  und  für  sich  allenfalls  unbedeu- 
tenden Sache  eine  solche  Richtung  gegeben  wird,  daß 
dadurch  Millionen  Menschen  vernichtet  werden,  auf 
tausendfache  Weise,  alsdann  ist  sie  nicht  mehr  klein 
und  unbedeutend,  vielmehr  aller  Untersuchung  reif  und 
werth  (I  95—96). 


')  Plato. 

?)  t.  Rotteck. 


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—    522  — 


.  .  .  wir  haben  in  diesem  Gebiete  nur  Schriften,  die 
uns  nichts  erklären,  und  andere,  die  uns  nicht  erklärt 
sind.  Die  gegenwärtige,  unter  völlig  ertödtenden  Um- 
ständen und  Drangsalen,  unter  unaufhörlichen  Ruthen- 
streichen, aber  auch  unter  unaufhörlicher  Begeisterung 
für  alle  Wahrheit  geschrieben,  ist  nur  bloße  Hindeutung 
auf  die  hier  ja  nicht  kunstgerecht  entwickelte  oder  be- 
leuchtete Idee,  und  noch  viel  weniger  ist  sie  die  Spezial- 
Charte zum  entdeckten  neuen  Land  —  aber  sie  ist  gleich- 
sam das  Gefühl,  die  Ueberzeugung  von  dessen  Dasein, 
von  seiner  noth wendigen  Nähe  und  von  der  Lücke  auf 
unserm  Globus  der  Anthropologie.  Aufmerksame  Reisende 
hören  und  sehen  ohnehin  in  dieser  Gegend  immer  so 
wunderlich  und  bedeutsam  brausen  und  tönen  und  leuchten, 
die  einen  Gespenster  und  die  andern  Geister  durch  dicke 
Nebel  auf-  und  abhuschen,  und  es  sollen  da  die  Alten 
laut  Bericht  und  —  Versteinerungen  sogar  eine  ihrer 
kostbaren  und  wichtigen  Pflanzungen  besessen  haben  — 
und  Metallgruben,  aus  denen  jetzt  immer  noch  Kobolde 
aufhüpfen  und  hie  und  da  eine  Apotheke  noch  Gift  — 
aber  nur  granweise  und  gegen  die  polizeilichen  Be- 
stimmungen, mithin  nicht  ohne  Gefahr  für  ihre  eigene 
Existenz,  verkauft  (II,  II). 

Für  Menschen,  die  noch  nie  eingesehen,  nie  empfun- 
den haben,  welchen  Raum  die  Liebe  in  ihrem  irdischen, 
individuellen  Dasein  einnimmt,  habe  ich  nicht  geschrieben, 
auch  nicht  zum  Zeitvertreib,  denn  Menschen  haben  doch 
keine  zu  vertreiben.  Ich  weiß,  es  ist  dieses  ein  trau- 
riges Buch,  aber  ich  weiß  auch,  daß  es  ein  Samenkorn 
reiner  Menschlichkeit  ist;  ich  werfe  es  trauernd  und 
hoffend  unter  Disteln  und  Dornen  —  dazu  fiel  mir  das 
ernste  Loos;  und  der  Mensch  mag  ja  solchem  Schicksal 
nicht  entgehen.  Mit  ertödtenden  Lebensverhältnissen 
ringend,  bin  ich  wohl  auch  schon  im  Begriff  und  in  Ver- 


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—   523  — 


stichuDg  gestanden,  diese  Schrift  auf  zugeben ;  aber  es  war 
der  Satan ;  und  dann  standen  wieder  vor  mir  das  Gericht 
und  die  ewigen  Griechen  und  von  seinen  Weisen  und 
Helden,  seinen  Sängern  und  Rednern,  seinen  Künstlern 
und  Gesetzgebern  diejenigen,  die  der  Natur  des  Eros, 
von  der  Plato  immer  redet,  selbst  angehörten,  und  die  in 
ihr  und  durch  sie  geworden  sind,  was  sie  in  ihr  und  ihrem 
Griechenland  der  Menschheit  werden  konnten;  und  ich 
fragte  und  sah  wieder  vor  mir,  was  wir  aus  ihnen  gemacht 
hätten  —  unsere  Erwürgten  —  die  todten  Hingerichteten 
und  die  lebendigen  Hingerichteten  und  die  noch  nicht 
gebornen  Hingerichteten  und  die  unseligen  Mütter  an 
den  Wiegen  der  schuldlos  Verdammten,  die  Richter  und 
Erzieher  mit  verbundenen  Augen  —  und  der  Todten- 
gräber  zuletzt  den  Sargdeckel  über  meine  Nase  schiebend . . . 
dann  faßte  mich  wieder  siegend  die  Macht  der  Menschen- 
liebe und  der  Wahrheit  mit  ihrer  ganzen  Gewalt  an 
und  ich  suchte,  dachte  und  schrieb  wieder  fort  und 
wendete  sorglos,  selbstvergessend  meine  Augen  vorsätz- 
lich ab  von  allen  denen,  die  dafür,  wie  ich  wohl  weiß, 
an  meinem  Verderben  arbeiten.  Zu  schon  begangenen 
Verbrechen  schweigen,  das  lasse  ich  hier  liegen;  wenn 
aber  Greuelthaten  begangen,  wenn  Feuer  eingelegt,  ver- 
giftet und  das  Vaterland  verrathen  und  der  Unschuldige 
geschlachtet  werden  will  —  alsdann  habe  ich  menschlicher 
Weise  durchaus  keine  Wahl  mehr  zwischen  reden  und 
schweigen  —  zwischen  Schuldlosigkeit  und  Theilhaftig- 
keit  —  an  dem,  so  geschieht!  —  Das,  Mitmenschen,  ist 
wieder  der  individuelle  Ursprung  dieses  Buchs.  Wer 
aber  mit  über  Tod  und  Leben  entscheidendem  Wahn 
und  der  solchen  aufhellenden  Wahrheit  blos  geistreich 
uud  gewissenlos  um  Geld  spielt,  mit  beiden  seinen  Spott 
treibt,  Wahrheiten  nach  Gewinn  und  Ruhm  wiegt  und 
mißt  und  feil  bietet,  an  geheiligte  Lügen  sich  festklammert, 
in  allerlei  Narrentrachten  verschachert,   um  seiner  ver- 


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—    524  — 


ächtlichen  Ruhe,  um  seiner  verächtlichen  Mitwelt  willen, 
ist  Antheilhaber  an  dem  Verderben  und  dem  Elend  der 
Völker  und  Zeiten  ....  (II,  XXXI— XXXII). 

c.  Gedanken  über  die  Männerliebe  und  den  Eros. 

Die  Griechen  fanden  ihre  Erklärung  in  der  Erschei- 
nung selbst,  wir  aber  wollen  erst  in  der  Erklärung  die 
Erscheinung  finden.  Aber  es  richten  sich  die  Erschei- 
nungen eben  nicht  nach  unsern  Erklärungen,  wie  sich 
diese  nach  jenen  richten  sollten  (I  295 — 296). 

Wir  sind  da  von  einer  ebenso  schädlichen  als  schänd- 
lichen Ehrbarkeit  besessen  (II,  XXV). 

Wenn  verpfuschte,  verderbte  Menschen  aus  einer 
Natur  Wahrheit  Gift  ziehen,  Mißbrauch  von  ihr  machen 
—  soll  man  sie  ihrer  wegen  unterdrücken  oder  ver- 
schweigen? sind  sie  die  Menschheit,  Ziel  und  Endzweck 
der  Schöpfung!  ?  (II,  XIII). 

Theile  des  schuldlosen,  bessern,  innern,  unwillkühr- 
lichen  Menschendaseins  in  die  Sphäre  der  Verbrechen 
und  Laster  versetzen  —  das  ist  Gang  und  Richtung  der 
Völker  zur  Barbarei,  zur  Hölle,  zum  Ketzer-  und  Hexen- 
glauben und  -Prozeß  (II  242). 

In  dem  dem  Satan  ähnlichsten  Menschen  kann  die 
allerentschiedenste  Geschlechtsnatur  für  das  Weib  vor- 
handen sein,  dagegen  in  einem  stillen,  zartsinnigen,  bedäch- 
tigen, frommen  nicht,  und  eben  an  deren  Stelle  die 
Sympathie  für  Wesen  seines  eigenen  Geschlechts  .... 
(II  243—244).   

Und  wer  aus  diesem  Gegenstand  eine  Streitsache, 
statt  eine  Angelegenheit  der  Naturforschung  und  Natur- 
wissenschaft macht  und  im  Vertrauen  auf  altes  Her- 
kommen, bei  dem  er  für  sich  nichts  einzusetzen  hat  und 


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—   525  — 


nichts  verlieren  kann,  zeigt  selbst  am  besten,  auf  welcher 
Stufe  er  steht  Aber  wenn  das  Christen  sind,  dann  sind 
Christen  abscheuliche  Geschöpfe!!  (II  155). 

.  .  .  und  es  entsteht  dann  da  das  Uebel  und  das 
für  uns  wahrhaft  Nachtheilige,  daß  wir  uns  gerade  da 
noch  tugendhaft  fühlen,  wo  wir  nicht  lasterhaft  sein 
können,  und  Andere  als  lasterhaft  taxiren,  wo  sie  ihrer 
Natur  gemäß  uns  gegenüber  oft  noch  wahrhaft  reine  und 
edle  Menschen  sind.  Auf  solche  Weise  haben  wir  eine 
erlogene  Summe  des  Guten  in  unsern  Verdiensts- Ver- 
zeichnissen, eine,  die  gerade  auf  unserm  Soll  statt  auf 
unserm  Haben  stehen  sollte  und  die  uns  aber  auch  nur  Zinsen 
trägt,  wie  einst  der  Hexenglaube  trug.  Der  wahrhaft 
erleuchtete  Mensch  aber  denkt  und  fühlt  für  alles  Ge- 
fühl, für  alles  Recht,  für  alle  Wahrheit,  für  jedes  Ge- 
schöpf, der  blinde  Halbmensch  nur  für  sich  selbst  (II, 
XXVI).   

Die  Erforschung  der  menschlichen  Natur  ist  überall 
ein  ebenso  heiliges  als  verfolgtes  Werk.  Was  wir  über 
den  Plato  hinsichtlich  der  Geschlechtsliebe  lehren,  be- 
sitzen und  praktiziren,  zerfällt  von  selbst  in  zwei  Theile; 
der  eine  ist  das  prächtige  todte  Gefieder,  das  wir  dem 
Adler  des  göttlichen  Plato  ausgerissen  haben,  und  der 
andere  Theil  ist  dieser  mißhandelte,  entfiederte,  der  gan- 
zen nördlichen  Fastnacht  zum  Gespött  preisgegebene 
nackte  Adler  selbst.  Diese  Masken  aber  werden  weg- 
gehen über  die  Bretter  und  es  wird  Auferstehung  sein, 
nicht  des  Heiden-,  aber  eines  durch  Menschenwissen- 
schaft  neu  begründeten  Christenthums  (II  1G8 — 169). 

Spricht  die  Natur  nicht,  wo  sie  auflodert  in  innerer 
Fülle  und  Wonne  und  Seligkeit,  und  nicht,  wo  sie  ab- 
welkt und  verstummt  und  verschmachtet?  Wo  sie  auf- 


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—   526  — 

geht  und  sich  verschließt,  wo  sie  sucht  und  wo  sie  fin- 
det, wo  es  ihr  Tag  ist  und  Nacht  ist  und  Reich thum  ist 
und  Armuth  ist  und  ihr  Himmel  ist  und  ihre  Hölle  ist? 
Muß  die  Wissenschaft  am  Menschen  das  Vorhandene 
aufsuchen  oder  das  Nichtvorhandene?  Muß  die  hier  zu 
erledigende  Frage  von  der  Natur  beantwortet  werden 
oder  nicht?  An  wen  kann  und  wird  da  eine  wahre 
Menschenforschung  ihre  Fragen  stellen  ?  Oder  soll  oder 
darf  oder  muß  sie  da  gar  nicht  fragen,  nur  verurtheilen, 
verfluchen,  verzerren,  verwirren,  tödten,  läugnen,  hin- 
richten? (II  163). 

Wenn  diese  Neigung  in  der  wirklichen  Natur,  wenn 
sie  Natur  und  Wirklichkeit  selbst  ist  und  als  ihr  Gesetz 
in  tausend  unabänderlich  nur  für  sie  bestimmten  Wesen 
besteht;  kann  es  in  diesem  Fall  noch  schwer  zu  ent- 
scheiden sein,  wer  da  als  Unmenschen  und  Barbaren  ge- 
handelt habe  und  wer  menschlich,  wir  oder  die  Griechen ! ! 
Und  welche  Folgen  uns  und  ihnen  da  zuTheil  werden  mußten 
und  konnten.  Und  wenn  sie  ist,  diese  Liebe,  ist  es  gut, 
recht,  rathsam,  daß  sie  als  solche  außer  unsern  Gesichts- 
kreisen sei  und  durch  die,  so  fälschlich  an  ihr  nichts  zu 
verlieren  glauben,  in  den  Verbrechertafeln  klebe?  — 
(II  282). 

Der  Griechen  Behandlung  der  Männerliebe  eröffnete 
den  männerliebenden  Naturen  eben  so  ein  sittliches 
Heiligthum  —  wie  sie  und  wie  wir,  in  der  Ehe,  für  die 
Liebe  der  beiden  Geschlechter  eines  eröffnet  haben.  Die 
Griechen  waren  durch  ihr  Wissen  und  Festhalten  der 
Unzuverläßigkeit  der  äußern  Kennzeichen  im  Geschlechts- 
leben des  Leibes  und  der  Seele  auf  ein  weit  geistigeres, 
sinnigeres  und  mannigfaltigeres  Beachten  alles  mensch- 
lichen Innenlebens  und  eben  dadurch  auch  auf  einen 
vielseitigeren  Kreislauf  von  Kräften  und  Formen  und 


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—    527  — 


Richtungen  des  allgemeinen  Menschthums  geleitet  als  wir 
(I  297—298). 

Naturwurzeln  haben  alle  Verbrechen;  Gut  und 
Habe  besitzen  wollen  ist  Natur,  Zorn  und  Rache  sind 
Natur,  in  der  zweigeschlechtlichen  Liebe  sind  die  Wur- 
zeln zahlloser  Verbrechen  und  zahlloser  Tugenden  und 
großer  Handlungen.  Die  wahrste  Menschenkunst  und 
Wissenschaft  hat  aber  keinen  wesentlicheren  Beruf,  als 
der  ist,  die  Wurzelfasern  der  menschlichen  Verbrechen 
und  Tugenden  aufzusuchen  und  darzulegen  und  ihnen 
in  ihre  untersten  Tiefen  nachzuspüren;  beide  sollten 
gerade  da,  wo  ihre  Blicke  die  natürlichen  Wurzeln  eines 
Verbrechens  nicht  erreichen,  nachdenkend  stille  stehen 
und  eben  so  ernst  als  deraüthig  eine  neue  Aufgabe  der 
Seelen forschung  glauben  lernen.  Griechen  haben  keine 
Tugenden  zu  begründen  und  eben  so  keine  Laster  zu  be- 
strafen gesucht,  deren  innerer  Zusammenhang  mit  der 
Menschennatur  ihnen  nicht  klar  gewesen  wäre;  aber  unsere 
hohe  Menschenkunst  —  die  ist  über  solche  Kleinigkeiten 
weit  erhaben  (II  152—153). 

•  Sitten  und  Gesetze  für  Erschaffung  oder  Zernichtung 
einer  Liebe  sind  lächerlicher,  oft  aber  verbrecherischer 
Unsinn  gegen  die  Schöpfung,  gegen  die  Natur  des  Menschen! 
Die  Griechen  siud  frei  von  ihm  —  wir  aber,  indem  wir  die 
eigentümliche  Daseins-Sphäre  der  Natur  des  Eros  der 
der  andern,  allgemeinen,  zweigeschlechtlichen  auferlegen, 
begehen  ihn  in  beiden  Richtungen  zugleich  und  im 
Sitten-  und  Criminalwesen  wird  das  Lächerliche  zum 
bittern  Ernst.  Wir  glauben  eine  Proklamir-  und  Trans- 
portirbarkeit  der  Geschlechtsliebe;  wir  bilden  uns  ein, 
es  sei  durch  uns,  durch  unsere  sittliche  Erhabenheit  das- 
ienige  nicht  mehr  vorhanden,  was  den  Griechen  durch 
ihre  Sittenlosigkeit,  durch  die  Art  und  Weise  ihres  un- 


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—    528  — 

gebundenen  Lebens  in  das  Leben  gekommen  sei.  —  Diese 
schamlose  Verkündigung  steht  wieder  ganz  neu,  als  ein 
Götze  dieser  verrosteten  Zeit,  breit  und  frech  in  einer 
bei  uns  vielgelesenen  Zeitschrift  (II,  XXIX). 

Eben  weil  wir  jene  Liebe  als  Natur  nicht  kennen 
und  als  Unnatur  weglästern  aus  allem  Leben,  aus  dem 
unsrigen  wie  aus  dem  der  Griechen,  seine  ganze  Entfaltung, 
alle  seine  geistigen  Einflüsse,  alle  im  Wesen  des  Menschen 
wurzelnden  und  vorbereiteten  Natur-  und  Kunstgestal- 
tungen, was  alles,  theils  durch  den  Natursinn  der 
Griechen,  wie  durch  die  Hände  ihrer  Weisen  als 
die  zarteste  und  reinste  Lebensentwickelung  aufblühte, 
noch  nie  mit  Ehrfurcht  und  Bewunderung,  nicht 
einmal  mit  Schonung  oder  frommem  Nachdenken 
angeschaut  haben,  so  halten  wir  nur  ein  Teufli- 
sches, ein  vom  Göttlichen  Abgetrenntes  oder  ihm  in 
und  an  sich  entgegenstehendes  Scheusal  in  allen  unsern 
Forschungen  und  Lehren  und  Auslegungen  und  An- 
wendungen der  Griechen  fest.  Aber  nur  verworfenen 
Menschen,  ohne  allen  Kunst-  und  Natursinn,  kann  dieses 
ohne  Bedeutung  sein.  Es  mangelt  uns  da  an  allem  Licht 
und  vorzüglich  an  dem  heiligen  Element  der  Menschen» 
liebe  Jesu  (II  203). 

Der  Lasterhafteste  kann  die  Frauen  und  der  Tugend- 
hafteste die  Männer  lieben.  Die  Erde,  die  Geschichte  ist 
dieser  Erweise  voll ;  keine  Liebe  ist  an  sich  Tugend  oder 
Laster,  so  wenig  als  Wille  und  Selbstbestimmung.  In 
diesen  wenigen  und  einfachen  Wahrheiten  liegt  wahrlich 
ebensowohl  der  Erweis  unseres  Irrglaubens  als  unsers 
Irrwissens,  ebensowohl  unseres  Unrechts  als  unserer 
Schmach  —  und  die  volle  Gewißheit,  daß  wir  bis  auf 
diese  Stunde,  schon  durch  unsere  finstern  Lästerungen 
allein,  noch  in  jener  entmenschenden  Stockfinsterniß  der 


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—   529  — 


Hexen-  und  Ketzerzeit  sitzen  und  einem  gräßlichen  Wahn- 
götzen einen  bedeutenden  Theil  unsere  gesunkenen  Ge- 
schlechts hinmorden.  Der  Wahn  würgt  mit  verhüllten 
Augen,  er  kennt  seine  Schlachtopfer  nicht;  er  ist  der 
Abgott  wähnender,  unwissender,  blinder  Völker  und  Zeiten. 
Die  Priester  seiner  Tempel  sind  nicht  blos  Pfaffen;  auch 
unsere  Geld-  und  Mode-Schriftsteller,  die  ihre  Produkte 
nach  Thalern  und  Zeitumständen  modeln  und  schwelgen, 
sind  es;  —  ihre  Gegner  darben  jederzeit  gefährdet,  ver- 
folgt und  verdächtigt  (II  233). 

Hat  die  Liebe  der  beiden  Geschlechter  Zwecke  und 
Rechte  und  Pflichten  ?  Giebt  der  Mensch  sie  sich  selbst 
oder  ist  sie  ihm  gegeben?  Kann  er  sie  ablegen,  wenn 
er  sie  hat?  Kann  er  sie  annehmen,  wenn  er  sie  nicht 
hat  ?  Giebt  es  keine  Menschen  ohne  sie  oder  sind  die, 
so  sie  nicht  haben,  keine  Menschen ?  Was  sind  sie  dann? 
Was  können,  was  sollen,  was  müssen  sie  sein?  Was 
waren  sie  den  Griechen  ?  Was  haben  wir  ein  Recht  aus 
ihnen  zu  machen?  Und  was  sie  aus  sich  selbst?  Ge- 
hören sie  keinem  Plan,  keinem  Zweck,  keiner  Idee  der 
Schöpfung  an?  Sind  sie  wirklich  außer  diesem  allem 
und  doch  da?  Soll  man  ihnen  zu  dem,  was  sie  werden 
können,  verhelfen,  wie  die  Griechen?  Und  warum  sich 
ihnen  entgegenstellen  ?  Sind  sie  von  Gott  selbst  außer 
seine  Haushaltung  gestellt,  kann  er  sie  erschaffen  haben, 
wenn  es  ein  Recht  zu  ihrer  Verfolgung  giebt?  Kann 
er  sie  erschaffen  haben,  wenn  es  ein  wahres  Naturrecht 
für  die  Zernichtung  dieses  ihres  Daseins  giebt  ?  Gehören  sie, 
in  diesem  Fall,  nicht  in  den  Plan  eines  weltregierenden 
Satans  und  keinem  Gott  an  ! !  Und  wenn  sie  sind,  diese 
Wesen,  und  in  diesem  Augenblick  ihrer  wieder  eben  so 
viele,  als  in  jeder  Vergangenheit,  sich  der  Stunde  ihrer 
Geburt  für  diese  Erde  nähern,  hat  die  Menschheit  und 
die  Wissenschaft  ihnen  kein   Menschenschicksal  zu  be- 

Jahrbuch  V.  34 


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—    530  — 


reiten  ?  Und  endlich,  wer,  welche  Kunst,  welche  Wissen- 
schaft löset  alle  diese  Fragen?  (II  165—166). 

Unsere  Antipathie  gegen  eine  vorhandene,  an  ihrem 
Dasein  und  dessen  Wirkungen  völlig  schuldlose  Menschen- 
natur hatten  die  Griechen  (was  eben  mit  und  bei  ihrem 
vollendeten  Schönheits-  und  Zartsinn  uns  als  ein  höchst 
wichtiger  Umstand  auffallen  sollte)  nicht,  sondern  vielmehr 
das  unbedingteste  Mitgefühl,  das  absolut  auf  nichts  An- 
derem, als  da  diese  Liebe  Natur  ist,  auf  Menschensinn, 
Gefühl,  Güte  und  Liebe  beruhen  konnte.  Sie  hatten 
eine  geläuterte  Abneigung  gegen  Unnatur,  wir  dagegen 
haben  eine  solche  gegen  die  Natur.  Wenn  wir  von  da 
aus  den  merkwürdigen  Bedingungskräften,  die  unser  Ge- 
fühlsvermögen beherrschen,  nachsinnen,  so  werden  wir 
gar  mannigfaltige  Aufschlüsse  über  die  Macht  des  Wahns, 
der  Vorstellung,  der  Irrideen,  des  Hexenglaubens  und 
Hexenprozesses  aufzufinden  und  festzustellen  Anlaß  und 
Gelegenheit  finden.  Der  Irrthum  unserer  Ansicht,  nach 
welchem  es  sich  hier  um  gar  keine  Natur  handelt,  ist  all- 
zugroß, als  daß  seine  Folgen  und  Wirkungen  nicht  noth- 
wendig  schrecklich  sein  müßten.  Diese  Sphäre  ist  uns 
völlig  leer  an  Licht,  an  Werth,  an  Wahrheit,  an  Gott, 
also  im  engsten  und  eigentlichsten  Sinne  —  gottlos 
(II,  XVII). 

Man  kann  nichts  Armseligeres  sagen,  als  man  dürfe 
irgend  einem  rein  psychischen  Leben,  seiner  leiblichen 
und  sinnlichen  Offenbarungen  wegen,  nicht  in  die  Augen 
sehen,  oder,  da  wo  das  Leibliche  eines  Psychischen  her- 
vortrete, oder,  da  wo  unsere  Augen  nur  das  Physische 
wahrzunehmen  vermögen  —  sei  kein  Seel-  und  Geistleben 
im  Innern  und  Plato  habe,  wie  dieser  Versuch,  da  blos 
zur  Beschönigung  eines  Lasters  geschwärmt!  —  Laster  und 
Plato!    Laster  und  Liebe!!    Griechen  und  Unnatur!!!  — 


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—   53t  — 


Da  sind  die  Stempel  unsers  sittlichen  Verfalls,  unsers 
geistigen  Elends;  ja  wir  würden,  wenn  man  uns  die  Aus- 
fertigung eines  Verzeichnisses  abscheulicher  Gesetze,  die 
die  Menschen  zu  allen  Zeiten  gemacht  haben,  auftrüge, 
solches  mit  denen  der  Griechen,  bezüglich  auf  den  Eros,  nicht 
blos  erweitern,  nein,  anfangen  und  ein  Verzeichniß  unsrer 
sittlichen  und  moralischen  Vorzüge  vor  den  Griechen  auch 
von  dieser  Seite  her  beginnen  und  krönen  —  nicht 
wahr?  Wer  aber  einen  Plato  begreift,  der  begreift  auch 
leicht,  daß  es  mit  unsrer  Ansicht  ja  nicht  so  ganz  richtig 
sein  könnte,  wie  wir  glauben.  Wir  sind  eine  Nation, 
welche  ihr  Geschlechtsleben  noch  nicht  zu  der  ihm  ein- 
wohnenden geistigen  Erhabenheit  und  Bedeutung  in  die 
freie  Idee  empor  zu  heben  gelernt  hat  (II,  XVI). 

Wir  haben  diese  Keim-  und  Wurzelgewalt,  Neigung, 
Sympathie,  Instinkt,  Fleisch,  Gemüth  nur  verdammen, 
nicht  ertödten  und  nicht  erziehen  mögen !  Und  wahrlich, 
wahrlich,  kein  Barbar  und  Unmensch  aller  Zukunft  wird 
sie  ausrotten,  denn  sie  sind  Wahrheit  und  andere  Natur 
bedingende  Natur  von  Gott  —  sie  werden  immerdar 
sein,  wie  sie  immerdar  waren ;  sie  müssen,  als  gegebenes, 
erschaffenes  Fleisch-  und  Sinnengesetz,  erzeugen  ent- 
weder was  sie  den  Griechen  erzeugten  oder  was  sie  uns 
erzeugen!  !  Was  sie  aber  seien  als  Gesetz  der  Natur, 
unabhängig  und  völlig  geschieden  von  dem,  was  wir 
von  ihnen  lehren,  wie  von  dem,  was  die  Griechen  vou 
ihnen  gelehrt  haben,  und  wo  und  warum  —  darüber, 
kalter  Sünder,  willst  du  rechten  mit  dem  Ewigen  und 
anspeien  und  verurtheilen  einen  Plato,  und  dich  aber 
baden  in  den  Lüsten  deiner,  andern  Zwecken  dienenden, 
sonst  gleichen  Natur  .  .  .  und  eine  andere  anders  machen, 
als  sie  ist  —  und  zur  brennenden  Sonne  aufwärts  kehren 
und  dörren  die  frevelhaft  vom  Erdreich  entblößten 
Wurzeln  und  gewaltsam  reißen  abwärts  aus  dem  ener- 

31* 


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—    532  — 


gischen  Licht  und  dem  luftigen  Aether  und  Glanz  und 
Duft  des  Ewigen,  Geistigen,  in  den  Erdenkoth  die  Kronen 
und  Wipfel  der  Seelen,  des  Lebens,  der  Liebe,  und  wenn 
sie  zerstampft  sind  und  erwürgt  sind  und  entheiliget  sind 
und  gebrandmarkt  von  deinem  Wahne,  alsdann  predigen 
deine  Rechte  und  deinen  Triumph  der  Hölle  über  deiue 
Schande,  über  dem  Zerstörten,  und  verkündigen  die  Herr- 
lichkeit und  das  Heil  deiner  Völker  und  Zeiten  den 
Völkern  und  Zeiten  und  das  Ermordete  abnagen,  wie  ein 
Hund,  und  tausend  Lügen,  frech  und  entmenscht,  hinauf- 
heulen zum  verspotteten  Gott  und  hinab  zur  betrogenen, 
verführten,  entstellten  und  nicht  verstandenen  Mensch- 
heit!!! (II  24—25). 

Daß  diese  Liebe,  die  kein  Wesen  des  andern  Ge- 
schlechts anfachet,  wohl  aber  das  eigene,  diese  griechische 
Liebe,  nicht  oder  wenig  mehr  sei,  gegen  diese  größte 
aller  gedruckten  Lügen  auf  Erden  rufe  ich,  so  laut  ich 
vermag,  Jedem  das  Gegentheil  zu ;  sie  ist  noch  und  zwar 
aus  dem  ganz  einfachen  Grunde,  weil  sie  Natur  ist,  weil 
sie  es  einmal  war  und  deßhalb  auch  nie  als  mit  dem 
Menschengeschlecht  selbst  aufhöreu  kann  ....  Und  ihr 
fraget  nun,  wo  und  was  sie  denn  jetzt  sei,  diese  Liebe 
der  Griechen,  und  ich  will  euch  antworten:  O,  es  ist  sehr 
leicht.  Sie  schleicht  als  Laster  unter  den  Lasten  einer 
allgemeinen  Verdammung,  zerstöret  und  zerstörend,  segen- 
und  kraft-  und  thatenlos,  voll  Schuld  und  Qualen,  außer 
aller  Menschenwürde  und  Idee,  meist  in  abstoßenden, 
nicht  Griechengestalten,  einen  ganz  eigenen  Kreis  der 
Verdorbenheit,  der  Laster,  der  Sünden,  der  Verderben, 
deren  Ursprung  wir  nicht  suchen,  bildend,  in  unserer 
Mitte  umher,  sie  durchrinnet  als  eine  eigne  vergiftete, 
reiche  Quelle  der  Entwürdigung  und  des  Elends,  als 
Irridee  ein  ganzes  Reich  des  Guten  und  Menschlichen 
verschlingend,  alle  Kreise  unsers  häuslichen  und  öflent- 


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—   533  — 


liehen  Lebens,  nachtet  als  schreckliches  Räthsel,  verwahr- 
loset, in  sich  selbst  zerrüttet  und  versunken,  über  tausend 
schuldlosen  Familien,  heulet  ausgestoßen  in  tausend  Ge- 
fängnissen unseres  Welttheils,  sich  selbst  und  der  Stunde 
ihrer  Geburt  fluchend,  in  Nacht  und  Finsterniß  gehüllet, 
ein  täglich  sich  erneuendes,  selbst  verzehrendes  und  un- 
aufhörlich widersprechendes  Ungeheuer,  und  liefert,  so 
gestaltet,  Kerkermeistern  und  Henkern  Arbeit  und  Brod 
oder  löset  auch  zuweilen  hie  und  da  die  Schmach  fesseln 
eines  also  verdammten  Erdenlebens,  das  Räthsel  solchen 
Daseins,  durch  uns  unerklärliche  Selbstmorde  ....  Und 
es  spricht  in  ihnen  die  heilige  Nemesis  und  redet  der 
Engel  der  Menschheit  fürchterlich  warnend  und  weinend 
für  meine  Idee!  (II  237—239). 

Unsere  ganze  Behandlung  dieser  Erscheinung,  wie 
wir  alle  gar  wohl  wissen,  beruht  lediglich  auf  dem  Aus- 
spruch: „Sie  ist  nicht  Natur."  Das  menschlichste  und 
in  sich  klarste  Volk,  das  je  gelebt  hat,  vor  dem  wir 
nichts  voraus  haben,  als  etliche  mechanische  und 
physikalische  Erfindungen  und  Maschinen  (von  denen 
die  jetzige  Menschheit  selbst  die  größte  und  merkwürdigste 
ist),  dieses  Volk  aber  sagte:  .Sie  ist  Natur."  Wir  aber 
und  die  Schand-  und  Schmachzeiten  alles  Menschlichen 
sagen  das  Gegentheil ;  aus  diesen  ganz  entgegengesetzten 
Ansichten,  Aussprüchen  und  Behandlungsweisen  sind  dann 
auch  die  sich  so  vollständig  entgegengesetzten  Wirkungen 
und  Einflüsse  entstanden;  —  ob  darin  denn  nun  für  uns 
auch  weiters  keine  Bedeutung  und  keine  fernere  Lösung 
für  Menschenrecht  und  Wissenschaft  mehr  liege,  das  ist 
wieder  eine  andere  und  ebenfalls  noch  nie  beantwortete 
Frage.  Der  Griechen  Menschensinn  und  Menschenbe- 
handlung war  auf  Menschennatur-Wissenschaft  gegründet; 
unsere  aber  wurzeln  in  Zeiten,  wo  das  Wort  und  der 
Begriff  Natur  auf  den  Scheiterhaufen  führte.    Sollte  es 


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—    534  — 


iu  der  That  noch  nicht  möglich  und  noch  nicht  an  der 
Zeit  sein,  sowohl  der  Griechen  Ja  als  unser  Nein  auf 
die  Wage  fichter  Menschen-  und  Naturforschung  zu  legen? 
Schaudert  uns  etwa  vor  den  Verbrechen,  die  durch 
solchen  Entscheid  auf  uns  erweislich  würden?  Wollen  wir 
sie  lieber  noch  anhäufen  und  auf  den  Nacken  unserer 
Kinder  richten,  als  einschen?  Ina  Namen  der  wissenschaft- 
lichen Dreifaltigkeit:  der  Wahrheit,  der  Menschlichkeit 
und  des  Rechts,  lege  ich  diese  Frage,  an  Gottes  schönem 
Sonnenschein,  ich  weiß,  zwar  nicht  eigentlich,  wem,  vor; 
nehme  sie  auf,  wer  ihrer  werth  ist,  gewiß  ist  sie  ein 
Samenkorn  des  Bessern  (II  182—183). 

Hr.  Goldhagen  läßt  in  seiner  Uebeisetzung  des 
Gesprächs  zwischen  Simonides  und  Hiero  das  ganze, 
sich  ausschließlich  auf  die  Liebe  zu  den  Lieblingen  be- 
ziehende Blatt,  ohne  Umstände  zu  machen,  weg! — Ach, 
wenn  man  so  einen  Hrn.  Goldhagen  neben  Xenophon 
sieht —  wie  er  ihn  corrigirt  und  amputirtü  —  Wir  begehen 
aus  lauter  Zucht  und  Ehrbarkeit  solche  literarische  Unzucht! 
Unsre  Schriftsteller  sind,  durch  unsern  Gesichtspunkt, 
mit  dem  wissenschaftlich  vielsagenden  Wörtlein  .unnatür- 
lich" immer  so  unvorsichtig  als  freigebig,  obschon  es 
das  Menschengeschlecht  zu  unaussprechlichen  Unthaten 
gestimmt  und  bestimmt  hat  .  .  .  Man  sollte  nie  un- 
natürlich sagen,  bis  man  recht  wüßte,  was  Natur  ist  .  .  . 
Es  braucht  schon  Natur,  um  Natur  zu  beurtheilen  (I  260). 

Das  ist  wahrlich  in  der  Literatur  ein  Frevel,  wie 
wir  uns  unter  Sodomiterei  in  der  Liebe  einen  zu  denken 
gewohnt  sind,  und  wie  der  auch  ist,  wenn  unsre  Geist- 
lichen im  Tempel  des  Herrn,  im  Namen  Gottes,  des  Vaters, 
des  Sohnes  und  des  heiligen  Geistes,  Wesen  zu  unaus- 
weichlichem Verderben  zusammenschmieden,  die  sich  ihrer, 
ihnen  völlig  dunklen  Natur  gemäß   ewig   abstoßen  und 


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—   535  — 


sich  selbst  eben  so  fremd  sind,  wie  ihrem  Priester.  Hätten 
uusere  Gelehrten  schon  längst  über  diesen  Theil  der 
Menschennatur  Licht  gesucht  und  zu  verbreiten  verstan- 
den, so  läge  über  diesem  fürchterlichen,  das  Glück  und 
Heil,  die  Tugenden  und  Laster,  den  Tod  und  das  Leben 
vieler  Tausenden  entscheidenden  und  bedingenden  Gegen- 
stand nicht  noch  solche  Mordnacht  —  solcher  Fluch 
der  Ketzer-  und  der  Hexenzeit,  der  tiefsten  Unwissenheit! 
Ihr,  die  ihr  durch  Unwissenheit  die  Schätze  des  mensch- 
lichen Gemüths  veruntreuet  und  mit  ihnen  Spiel  und  Spott 
und  Wucher  treibet,  wisset,  die  Folgen  eurer  Verhunzungen 
der  Klassiker,  eurer  literarischen  Schinderstreiche  und  Dieb- 
stähle sind  die  hauptsächlichsten  Stützen  der  kalten,  alten, 
eisernen  Mörderanstalten  des  neunzehnten  Jahrhunderts 
(I  2öS— 260). 

Bei  uns  und  uuserm  Wahn  nimmt  hier  jeder  Narr 
und  Sündenknecht  und  Sinuensclav  voll  eitlen  Wahns 
noch  immerfort  mit  aller  Gravität  seinen  hohen  Ehrensitz 
im  Tempel  der  Sittlichkeit  und  Keuschheit  ein  und 
dünkelt  sich  rein  von  —  einer  Sünde,  die  mit  seiner  iunern 
Geschlechtsorganisation  und  Stimmung  in  gar  keiner  Be- 
rührung steht,  und  weiß  nicht,  daß  da  seine  Tugend 
etwa  die  eines  Schweines,  das  nicht  davon  fliegt,  ist;  er 
meint,  seine  Natur  sei  die  jenes  Frevlers  und  die  jenes 
Frevlers  sei  ursprünglich  wie  die  seinige;  er  aber  habe 
sie  bewahret  und  heilig  gehalten,  er  ehre  sie,  er  habe 
sich  selbst  bestimmt  und  an  sie  angeschlossen,  er  sei  in 
ihr,  nicht  sie  in  ihm,  der  andere  aber  habe  sich  von  seiner 
Natur  entfernt  u.  dgl.  m.  So  schaut  er  richtend  und  ver- 
achtend und  behaglich,  oft  vom  Unflat  seiner  Unenthalt- 
samkeit,  auf  andere  Menschen  —  auf  Griechenland  und 
Plato  hoch  herab  und  schämt  sich  ihrer  und  mißt  und 
demonstrirt  sich  selbst  und  andern  diese  Höhe  seiner 
Kraft  und  seines  Werths  und  sein  Verdienst  vor  Gott 


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—   536  — 


und  seiner  Zeit  und  zeigt  durch  die  Verdammung  anderer 
die  Herrschaft  seiner  Seele  über  solche  Sünden  an.  Ja 
es  ist,  als  wie  wenn  wir  an  diesem  stummen,  aber  viel 
entscheidenden  Ungeheuer  gerade  noch  darum  festhielten, 
damit  der  Auswurf  unserer  Gesellschaft,  damit  der  Greuel 
und  Abscheu  unsers  Geschlechts,  alle  die  tausend  non 
plus  ultra  der  Charakterlosigkeit,  der  Bosheit  und  Ent- 
würdigung, der  physischen  und  moralischen  Verworfenheit, 
damit  alle  diese  Schmachwesen,  alle  diese  Muster  der 
eigentlichsten  und  vollständigsten  Scham-  und  Sitten- 
und  Gottlosigkeit,  in  jeder  Gemeinde  zerstreut,  für  ihre 
innere  Verruchtheit  noch  —  Etwas  unter  sich  selbst 
aufzuweisen  und  zu  verurtheilen  wissen,  statt  —  sich 
selbst  ....  Auch  das,  diese  Schutzwehr  der  Ver- 
worfensten im  Schooße  der  menschlichen  Gesellschaft,  war 
den  Griechen  nicht  vorhanden  und  bewirkte  ihnen  nicht 
in  tausend  Fällen  die  Vergeblichkeit  unsers  Erziehen« 
und  unserer  sittlichen  Bestrebungen  und  gab  den 
Schlechtesten  ihrer  Menschheit  nicht  ein  scheinbar  noch 
Schlechteres  zu  ihrer  Rechtfertigung  und  Beruhigung  an 
die  Hand.  Wahrhaft  wissenschaftliche,  stille  und  ge- 
wissenhafte Menschen  werden  da  prüfen,  der  ihnen  gegen- 
überstehende Troß  aber  urtheilen  und  verurtheilen,  ohne 
untersucht  —  ohne  gelesen  zu  haben  (II  13 — 15). 

Ich  frage  euch  Menschen  alle:  Könnte  jetzt  einer 
von  uns  aufhören,  das,  was  er  ist,  zu  sein  ?  Könnte  jetzt 
einer  von  uns  unberührt  bleiben  von  Allem,  was  ihn  bis- 
her berührte,  oder  ergriffen  von  dem,  was  bisher  seinem 
innersten  Menschen  fremd  war,  seine  Natur  aufgeben,  sie 
nicht  mehr  haben,  nicht  mehr  fühlen  und  ein  leidenschaft- 
licher Knabenliebhaber  werden?  Jeder,  der  da  Ja  sagt, 
lügt,  und  Jeder,  der  da  Nein  sagt,  widerspricht  und 
verläugnet  sich  also  selbst.  Hexen  und  Gespenster^ 
Wunder  und  Teufel  sind  aus  unsern  Listen  der  Wirklich- 


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—   537  — 


keit  gestrichen;  aber  die  Sünder  und  Sünde  wider  die 
Natur  —  deren  es  in  der  Natur  nie  gegeben  hat,  so  we- 
nig als  Hexen  —  die  sind  uns  noch  mit  allen  Einflüssen 
des  Hexen-  und  Zauberglaubens  geblieben.  Hier  ist  der 
erste  ernstliche  Versuch  dagegen.  Ich  kann  mich  vor 
dem,  was  man  einem  Menschen  in  solchen  Fällen  anlügt 
und  andichtet,  wissenschaftlich  noch  lange  nicht  so  ent- 
setzen, als  wie  über  das,  was  man  ihm  abspricht,  weg- 
disputirt,  wegdichtet,  weglügt  oder  an  ihm  nicht  einsieht. 
Wir  verfolgen  und  verdammen  in  wirklichen,  rein  und 
deutlich  gegebenen  Menschennaturen,  die  wir  aber  weder 
wissen  noch  sehen,  ganz  andere,  die  gar  nicht  sind,  deren 
es,  solange  die  Welt  steht,  keine  gegeben  hat,  so  wenig 
als  Hexen.  Wrir  richten  tausend  Wesen  moralisch  hin,  als 
solche,  die  ihre  Natur  verlassen  haben,  als  solche,  die  in 
sich  die  Liebe  zum  andern  Geschlecht  zwar  tragen,  aber,  um 
sie  in  sich  zu  ersticken,  mit  frevelndem  Willen  widernatür- 
liche Neigungen  und  Begierden,  das  heißt,  unsere  Sünde 
wider  die  Natur,  in  sich  aufgenommen  haben.  Wir  setzen 
in  ihnen  eine  Natur  voraus,  die  sie  nie  gehabt  haben,  die 
ihnen  ewig  fremd  bleiben  muß,  und  die  sie  nie  haben 
können,  nie  haben  sollen  und  nie  haben  werden;  und 
ihre  eigentliche,  einzige,  wahrhafte,  ihre  wirkliche,  wahre, 
unwandelbare  aber,  die  sprechen  wir  ihnen  ab  und  erklären 
sie  blos  für  die  Handlung  einer  freien  Willkühr  und 
Selbstbestimmung  und  verabscheuen  in  und  an  ihnen 
eine  Handlung,  die  nie  ein  Mensch  begehen  kann  .  .  .  . 
So  trug  die  Allmacht  eines  blutigen  Wahns,  in  die  Nebel 
geweihter,  geheimnißvoller  Unwissenheit,  in  die  Prunk- 
gemächer der  Gelahrtheit,  des  Herrscher-  und  Kirchen- 
thums gehüllet,  als  Mordprivilegium,  als  Saat  und 
Zeichen  des  Todes,  den  Eros  über  anderthalbtausend 
Jahre  durch  alle  Abgründe  einer  versunkenen  Menschheit 
triumphirend  in  alle  Winkel  unsere  Erdtheils  .  .  .  Und 
dadurch  nun  ist  es  jedem  Haus  eine  schwarze,  verhäng- 


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—    538  — 


nißvolle  Stunde  des  Verderbens,  unter  dessen  Dach  eine 
unglückselige  Mutter  ein  neues  Opfer  unsere  Irrwahns 
und  unserer  Unwissenheit  mit  Schmerzen  gebiert,  und,  o 
es  wäre  besser,  daß  der  Tod  beider  Leben  in  dieser  un- 
heilvollen  Stunde   zernichtete  Oder   wenn  ihr 

ihnen,  ihrem  Dasein  hienieden  eine  andere  Erkläruug,  andern 
Spielraum  des  Lebens  außer  in  eurer  Henkeransicht 
oder  meiner  Idee  wisset,  so  thut  das  Eure,  wie  ich  hier  das 
meine  .  .  .  damit  fürderhin  keine  Eltern  mehr  die  Stunde 
jener  Zeugung  zu  verwünschen  haben  und  nicht  mehr 
ein  über  alles  Dasein,  über  Zeit  und  Grab  hinausrei- 
chendes Unglück,  ohne  alle  Selbstverschuldung,  auf  ihr 
ruhen  könne! !  (II  280—288). 

Wo  aber  freche  Wuth  statt  frommem  Menschensinn 
und  blinder  Stolz  statt  reiner  Wissenschaft  ein  Volk  er- 
greift, da  mordet  es.  Keinem  Wahne  ward  je  so  viel 
geopfert,  als  dem:  Der  Mensch  kann  seine  Natur  aus- 
ziehen, wie  ein  Kleid,  oder  es  giebt  eine  Zuverläßigkeit 
der  äußern  Kennzeichen  im  Geschlechtsleben  des  Leibes 
und  der  Seele,  was  man  auf  diesen  Tag  noch  wühnt, 
noch  träumt,  noch  glaubt  —  nämlich,  daß  jeder,  der  in 
einen  Jüngling  sich  verliebe,  zuerst  seine  Uruatur,  die 
wir  nach  den  äußern  Kennzeichen  bestimmen,  ausgezogen, 
mit  Füßen  getreten  uud  weggeworfen  habe  ....  Das 
kann  nur  Unwissenheit  wähnen,  die  weiters  wähnet^  es 
sei  jedes  Geschlecht  nur  das  andere  zu  lieben  von  der 
Natur  augewiesen,  von  innen  aus  bestimmt  und  gestimmt, 
und  jedes  We.sen  anderer  Art  und  anderer  Neigung  sei 
nur  Willkühr,  Selbstbestimmung  und  frecher  Sünden 
willen  und  liege  in  keinem  Plan  und  Gang  der  Natur 
und  sei  darum  reif  zu  aller  Verfolgung,  Schmach  und 
Entwürdigung,  es  sei  entweder  der  Gesellschaft  unschäd- 
lich zu  macheu  oder  aber  im  menschlichsten  Fall  wieder 
durch  die  Kraft  der  Ueberzeugung  und  der  Moral  zu 


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—    539  — 


seiner  angebogen  und  wahren  Natur  zurückzuführen. . . 
Das  Schandmal  solchen  Glaubens  trägt  unsere  stolze 
Zeit  (für  die  Zukunft  als  Stempel  ihrer  Unwissenheit  und 
ihres  Barbarenthums)  noch  an  ihrer  Stirne,  sie  sieht  eine 
Blumen  wiese  (Plato's  Garten  des  Menschlichen)  noch 
immerfort  für  einen  Abgrund  an  und  baut  noch  immer- 
fort ein  Feld  mit  Henkern,  das  Griechenland  durch  seine 
Koryphäen  der  ewigen  Kuust  gepflegt,  und  brütet  noch 
Schmach  und  Verderben  und  Entehrung  und  schmiedet  noch 
Ketten  für  Wesen  ohne  irgend  eine  Schuld,  mit  denen  und 
für  die  Plato  einst  so  geredet,  wie  ich  zeigen  werde  und 
es  geschrieben  steht  in  der  heiligen  Schrift  der  Klassiker  und 
der  noch  heiligern  der  ewigen  Natur,  mit  ganz  wahr- 
haften und  natürlichen  Menschen,  die  immerhin  im  Plan 
der  Schöpfung  und  unablöslich  in  der  Wesen  wandel- 
loseu,  lebendigen  Reihen  sind  und  bleiben!!  —  .Nein 
ihr  seid  nicht!  Ihr  macht  euch  selbst  und  wir  zernichten 
euch,  nach  Recht  und  Gesetz,"  so  spricht  unsere  Zeit  der 
Weisheit  und  der  Wissenschaft,  gewöhnt,  Mitmenschen, 
die  Griechenland  als  solche  erkannt,  begriffen  und  be- 
sessen hat,  durch  die  es  seine  Unsterblichkeit  mitbe- 
gründete —  für  naturabtrünnige  Scheusale,  physisch  und 
moralisch,  tausendweis  zu  erwürgen  und  immerhin  be- 
müht, sie  mit  Mord  und  Tod  durch  Gewalt  und  Nacht 
von  ihrer  einzigen  und  wahren,  von  ihrer  einen  und 
reinen,  von  ihrer  unabänderlichen,  innern,  unwandelbaren 
Wesenheit  mit  Schmach  und  Schwert  abzuschrecken,  in 
sich  selbst  zu  ersticken,  zu  verwirren,  umzubringen  — 
und  postulirt,  entblöst  von  allem  Menschensinn  und 
Wissenschaft,  die  da  einzig  retten  können,  auf  Priester 
und  Barbaren  vergangener  Zeit  verweisend,  so  gräuel- 
haftes  Handeln,  auf  heiligen  blutgefärbten  Mordwahn  — 
und  mordet  tändelnd  noch  immerhin  ihr  eigenes  Ge- 
schlecht und  verdammt  im  Arm  der  fürchterlich  ge- 
täuschten Mutter  noch  den  Säugling,  denn  ich  sage,  sie 


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—    540  — 


ist  ewig  Natur  und  schlummert  im  Kind  so  gewiß  und 
so  wahr  vorbereitet,  als  sie  im  Leben  des  vollendeten 
männerliebenden  Mannes  ist  und  so  gewiß  der  Keim 
der  allgemeinen  Geschlechtsliebe  in  jedem  für  sie  ge- 
bornen  Kind  auch  vorhanden  ist.  Die  Nachwelt  wird 
über  die  Verhältnisse,  die  wir  den  Geschlechtern  an- 
gewiesen, wie  wir  dießfalls  den  Menschen  erfasset,  er- 
zogen, behandelt,  was  wir  an  ihm  zertrümmert,  benutzet, 
entwürdiget  und  gepflegt  haben,  Rechenschaft  fordern, 
wir  fordern  sie  auch  von  den  Griechen  —  aber  wir 
verstehen  sie  nicht,  wir  lästern  sie  lieber,  es  ist  leichter, 
als  wissenschaftlich  prüfen.  —  Natur  heißen  wir  Frevel 
und  Sünde  wider  sie;  wir  haben  Criminalgesetze  gegen 
sie,  wir  haben  einen  Irrwahn,  eine  Einbildung,  ein  Phan- 
tom, einen  Machtspruch,  eine  stumpfsinnige  Lüge,  mit 
Menschenblut  eingeweiht,  auf  den  Richterstuhl  gesetzt 
und  diesem  Gespenst  schon  Millionen  Menschen  ohne  alle 
Schuld  geschlachtet,  ihm  die  Würde  und  Kraft  unsres 
Geschlechts  hingeopfert,  wie  seiner  Zeit  dem  Phantom 
der  Hexen  und  Ketzer;  wir  wähnten  der  Menschheit 
Würde  zu  retten  und  entwürdigten  sie  —  logen  ihr 
Verbrechen  an,  die  sie  nie  beging  und  verübte;  und  ver- 
herrlichten solche,  die  ihr  ewiges  Schandmal  bleiben 
werden;  man  wähnte  ein  Uebel,  das  nicht  war,  auszu- 
rotten, und  zog  eine  Pest  über  die  halbe  Welt;  man 
brüstete  sich,  Laster  auszutilgen,  die  nie  gewesen  sind, 
und  beging  die  grauenvollsten  Verbrechen  an  der 
Gesellschaft,  an  Mensch  und  Natur,  man  gab  Menschen- 
rettung vor  und  versenkte  Millionen  in  den  Ab- 
grund innern  Widerspruchs  und  äußerlicher  Schmach 
und  rettete  keinen!  —  Die  Menschheit  hat  nie 
einen  Frevel  an  Größe  diesem  ähnlich  begangen  und 
ahnet  ihn  auf  diesen  Tag  noch  nicht!  Im  Reiche  mensch- 
licher und  unmenschlicher  Verirrungen  hat  kein  Wahn 
so  lange  als  dieser  gewüthet;  bis  auf  diese  Stunde  ist 


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—    541  — 


uns  unser  Geschlecht  im  Allgemeinen  mit  dieser  Liebe, 
mit  der  Wahrheit,  die  ich  nun  zu  bewähren  habe,  eben 
so  wenig  gedenkbar,  als  solches  den  Griechen  ohne  sie 
gedenkbar  war.  Ihnen  war  sie  Garten  und  Treibhaus 
herrlicher  Menschen  und  göttlicher  Thaten,  so  wie  sie, 
die  uns  nun  durch  Irrwahn  und  Unwissenheit  und  Bar- 
barenthura  geschändete  und  verworfene  Natur,  noth- 
wendig  oder  ununterdrückbar  nur  Verbrechen,  Unrecht 
und  Verwirrung  und  aus  diesen  Un-  und  Halbmenschen 
für  Familien  Jammer  und  Elend,  für  Rad  und  Galgen, 
für  Kerker  und  Galeere  liefert;  diese  Notwendigkeit, 
diese  völlig  naturgemäße  Folge,  wird  sich  im  Fortgang 
unserer  Prüfung  von  selbst  ergeben.  Die  Entdeckung 
alles  dessen,  so  uns  in  der  Menschennatur  noch  verborgen 
und  räthselhaft,  aber  der  Zukunft  zu  beleuchten  aufbe- 
halten ist,  wird  uns,  wenn's  denn  einmal  tagt,  dieses 
alles  ebenso  bejammern  lehren,  wie  wir  jetzt  die  Millio- 
nen dem  Hexen-  und  Ketzerglauben  Erwürgten  bejam- 
mern ;  denn  alles,  was  Barbarenmacht  und  Nacht  Zer- 
störendes an  der  Menschheit  je  verübt,  ist  für  den  Gang 
und  das  Leben,  für  die  Formen  und  Schicksale  der 
Menschen  und  der  Menschheit,  weit  weniger  als  diese 
Saat  des  Todes,  ist  wenig  gegen  den  Glauben  an  eiue 
Zuverläßigkeit  der  äußern  Kennzeichen  im  Geschlechts- 
leben des  Leibes  und  der  Seele,  sobald  er  einer  Menschen- 
behandlung unterlegt  wird,  und  wenig  gegen  den  Glau- 
ben, eiu  Theil  der  Gesammtnatur  unsers  Geschlechts  sei 
entweder  gar  nicht  vorhanden  oder  nicht  Natur  oder 
freier  Menschenwille,  Selbstbestimmung,  Verbrechen  oder 
Spiel  der  Natur,  das  Menschen  an  Menschen  zu  rächen 
oder  zu  strafen  hätten;  kein  Wahnglaube,  dem  die  Men- 
schen je  für  ihre  Verkrüppelung  gehuldigt  und  irrig  zum 
Richtmaß  ihrer  Sittlichkeit  und  Erziehung  erhoben  haben, 
ist  so  entsetzlich  als  der,  Menschen  können  die  Grund- 
richtung der  Triebe  und  Sinne,  also  ihres  Wesens  tiefste 


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—    542  — 


Urneigungen,  ihr  wahrhaftigstes  und  eigentlichstes  Seihst, 
ihren  Geschlechtssinn,  ihr  Geschlechtsleben,  mithin 
immerfort  währende  und  in  tausend  Richtungen  wirkende 
Theile  und  Gesetze  der  ewig  unabänderlichen  Natur, 
ihre  Liebe  mit  ihren  unzählbaren  Fasern  des  Lebens 
könnten  Menschen  willkührlich,  wie  ein  Kleid,  ausziehen 
und  mit  einer  andern  verbotenen,  mit  einer  Nichtnatur 
vertauschen  —  man  könnte  eine  Natur  behalten  oder 
nicht  behalten  oder  unter  zweien  wählen,  annehmen  oder 
wegwerfen,  man  könne  in   einer  leben  oder  nicht  leben 

—  wie  nian's  nach  den  Aussprüchen  Anderer  gut  und 
nöthig,  erlaubt  und  nicht  erlaubt  finde,  und  die  OetFent- 
lichkeit,  das  Gesetz,  die  Sitten,  die  Theorien  und  Lebens- 
lehren, die  dürfen  und  sollen  und  können  dann  nach 
Gutdünken  verfügen,  anerkennen,  gutheißen  oder  ver- 
dammen, sehen  oder  nicht  sehen  .  .  .  Nicht  die  Forschung 
und  die  Wissenschaft  und  das  Vorhandene  in  der  Natur, 

—  Staat  und  Kirche,  die  haben  da  zu  wählen,  zu 
befehlen,  zu  taxiren,  zu  erschaffen ;  es  gebe  da  ganz  un- 
bedingt und  durchaus  ein  willktihrliches  Abirren,  ein 
Um-  und  Austauschen,  ein  An-  und  Ausziehen  seines 
Innenlebens,  seines  Seins  und  derjenigen  Grund- 
eigenschaften der  Menschennatur,  von  denen  aus  und 
unbedingt  und  einzig  sich  der  Faden  ihres  Daseins  und 
ihrer  tiefsten  Naturbestimmung  auch  naturgemäß  und 
ohne  Störung  spinnt  und  abwindet;  da  seien  keine  als 
ihre,  der  Barbaren,  Gesetze  und  Aussprüche  nöthig  und 
gültig  und  heilig  und  unabänderlich  und  gut  und  gerecht, 

—  da,  wo  Gottes  Finger  gedeutet,  geordnet,  festgestellt, 
gewogen  und  erschaffen  hat,  könne  der  Mensch  für  sich 
und  Andere  gebieten,  verfügen,  unterdrücken,  wählen, 
verbessern,  ändern,  ausrotten,  richten,  verdammen,  gut 
oder  schlecht  heißen;  damit  sei  alles  Nöthige  gethan  und 
des  Menschen  Innenleben  und  Innennatur  nicht  weiters 
zu  fragen,  die  äußern  Kennzeichen  seien  da  Richter  und 


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—    543  — 


Gesetz,  und  der,  einst  auch  aus  Wahn  entstandene  Ab- 
scheu vor  Hexen,  der  jene  Millionen  Morde  ruhig  und 
pflichtgemäß  beging,  könne  jetzt  in  anderer  Richtung,  im 
Wahn,  der  Mensch  solle  oder  könne  über  die  Grundan- 
lagen seines  Geschlechtslebens  verfügen,  wieder  eben  so 
ruhig  und  pflichtgemäß  wie  ehemals  im  ähnlichen  Irr- 
glauben fortwirken  und  walten  und  morden !  —  Nicht 
Strick  und  Schwert  allein,  auch  Meinung  und  Gesetz  mor- 
den oft  eines  und  dasselbe  Menschenleben  tausendmal. 
Aus  frevelhaftem,  licht-  und  liebeleerem,  blindem  und 
wissenschaftlosem  Unsinn,  der  keine  Griechenmenschheit 
schändete,  aus  dem  sind  unsere  Barbarenansichten  und 
unsere  Mördergesetze  hervorgegangen.  Durch  ein  sol- 
ches Gesetz  wider  alle  Natur,  nicht  nur  gegen  eine, 
mußte  auch  im  Allgemeinen  der  Glaube  an  den  heiligen 
Ernst  und  die  Einfalt,  an  die  Kraft  und  das  Wesen  aller 
Natur  selbst  gleichsam  untergehen.  Kirchen,  die  in 
ihrem  Schooße  Hexen  brüteten  und  Ketzer  gebratet 
haben  —  die  konnten  auch  Plato's  Liebe,  diese  zu 
allen  Zeiten  und  überall  vorhandene,  unwandelbare  und 
fest  bestimmte  Menschennatur,  die  ich  erweisen  werde, 
statt  erfassen  und  erziehen,  mit  ihrem  Geifer  also  be- 
flecken und  ihr  denn  von  Sodom,  von  Athen  nicht  Na- 
men suchen  und  geben  —  daher  sind  wir  nun  schon  seit 
Jahrhunderten  gewöhnt,  sie,  diese  bestimmten  Natur- 
wesen, diese  Menschen,  als  der  Natur  abtrünnige  Ver- 
brecher und  Nichtmenschen  zu  behandeln  und  sie  zu- 
folge unserm  Glauben  an  eine  Zuverläßigkeit  der  äußern 
Kennzeichen  im  Geschlechtsleben  des  Leibes  und  der 
Seele  als  in  der  Natur  nicht  gegebene  zu  erklären,  von 
ihnen  anderes  Leben  als  ihr  Leben  fordernd,  ihnen  das 
größte  Verbrechen  gegen  die  Natur  als  Pflicht  auferle- 
gend und  sie  dadurch  in  einen  eigenen  und  besondern 
Kreis  von  Nacht  und  Widerspruch,  von  Sünden  und 
Vergehen  drängend,  und  dieses  alles  gegen  eine  Natur- 


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—    544  — 


erscheinung     und     eine    Naturwissenschaft,    die  einst 
Griechenland,  beide,  in   sein  ganzes  Leben  —  in  seine 
ewige  Kunst  der  Menschheit  verflochten  ...  Ihr  Leben 
aber  und  unser  Leben  und  aller  Menschheit  Leben  ist 
eines  und  dasselbe  Leben,  ein  Bleibendes,  ein  Unwandel- 
bares, ein  Ewiges,  aus  diesem  haben  wir  im  Wahn-  und 
Irrglauben  an  die  nie  vorhandene  und  von  aller  Mensch- 
heit und  aller  Zeit  widerlegte  ZuverläßigkeitderäußernKenn- 
zeichen  imGeschlechtsleben  des  Leibes  undder  Seele  einen  zu 
großen  Zwecken  (wie  der  Griechen  allgemeines  Leben  dem 
Nichtblinden  zeigt)  bestimmten  Theil  verdammend  ab- 
gelöset  (zernichten   können   wir  ihn   nicht),  dieser  nun 
dergestalt  entwürdigte  und  verfolgte  Theil  brütet  und 
trieft  Verderben   und  Elend,  als  Saat  des  Todes  und 
Sold  der  Völkermissethat  und  Blindheit,  als  physischer 
und  moralischer  Pesthauch,  voll  schrecklicher  Verhäng- 
nisse und  Schicksale  über  Einzelne,  über  Familien,  über 
Völker  und  Staaten,  wie  ich  zeigen  werde.    Und  da  diese 
so  hingerichtete  Liebe  als  Natur  unvertilglich  wie  unaus- 
löschlich nie  aufhören  kann,  nie  aufhören  konnte,  aber 
das,  was  sie  ist,  nicht  mehr  heißen  im  Leben,  und  in  der 
Idee  nicht  mehr  sein  durfte,  dagegen  aber  von  der  Eisen- 
haud  des  Wahns  am  schwarzeu  Höllenzug  der  Laster 
angeschmiedet,  als  Verbrechen   nun  denn  einen  Namen 
haben  mußte;  da  gaben  ihr  versunkene,  Wissenschaft-  und 
M'ürdelose  Völker,  entgegen  den  Griechen,  Namen,  die 
keine  andere  gebildete  Menschheit,  worunter  wir  Israels 
auch  nicht  zählen  mögen,  je  kannte  —  also  zur  Unnatur 
und  zum  Verbrechen  und  zur  willkührlichen  Abirrung  ge- 
stempelt und  verkündigt  —  entwürdigt  sie  nun  in  der 
That  und  Wahrheit,  in  solcher  Form  und  Gestalt,  wie 
jede  andere  Zeit,  die  so  verfügte,  auch  diese  unsere  noch! 
Als  unvertilgbare  Natur  aber,  entblößt  vom  Menschlichen 
und  abgelöst  von  allem  Menschensiun  und  allem  Menschen- 
wissen, entstellet  und  mit  Fluch  bedeckt,  muß  sie  auch 


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—    545  — 


diese  unsere  Zeit  und  Menschheit  mitten  im  Schooße  ihres 
innern  und  äußern  Lebens  an  ihren  Wunden  darbend 
tragen,  mit  allen  Schrecken  und  aller  Nacht  und  allen 
Lebenszerrüttungen  und  allem  leiblichen  und  geistigen 
Verderben  und  allem  physischen  und  moralischen  Elend 
und  allem  blutigen  Unrecht  und  allen  Menschenmorden, 
deren  wirkliches  Dasein  und  Quelle  ich  in  unseren  Wahn- 
wort und  aller  Nacht,  in  der  es  waltet,  aufdecken  will 
.  .  .  Von  Gnade  rede  ich  nicht,  es  ist  da  um  Recht  und 
Wahrheit,  um  Licht  und  Wissenschaft,  und  nicht  und 
nie  um  Gnade  zu  thun.  „Es  ist  schändlich,  o  Kaiser,  eine 
Ueberzeugung  zu  hegen  von  etwas,  das  du  nicht  unter- 
sucht hast"  (Apollonius  bei  Flav-Philost.).  Wer  eine 
Wahrheit  verwirft,  verschmäht,  verdreht,  verachtet,  von 
der  Hand  weist,  um  durch  den  ihr  gegenüberstehenden 
Wahn  und  Aberglauben  Brüder,  Menschen  ohne  Schuld, 
zu  verderben,  wäre  der  kein  Mörder?  Bedarf  die  Obrig- 
keit keiner  Wissenschaft,  —  nur  Gesetze  und  Henker? 
Ist  es  nicht  jedem,  der  durch  Ansicht  und  Gesetz,  durch 
Stand  und  Amt,  in  enger  oder  weiter  Umgebung  einen 
Einfluß  ausübt,  Amts-,  Berufs-  und  Menschenpflicht,  mit 
Ernst  ohne  Wahn  und  Vorurtheil  zu  untersuchen  und 
untersuchen  zu  lassen,  —  als  bestimmte  Natur  für  un- 
natürlich mit  Füßen  zu  treten,  mit  Kacht  und  Geifer  zu 
bedecken,  zum  Weltverderben  zu  gestalten.  Solche  Prüfung 
wird,  was  ich  wohl  hoffen  darf,  hier  leicht  gemacht  — 
Zeit  ist  es,  aus  diesem  Sündenschlaf  zur  Wahrheit,  zur 

Vernunft  und  zum  Recht  zu  erwachen  Wehe  dem, 

der  keine  Thränen  hat  über  seiner  Brüder  Elend  und 
seiner  Väter  und  seines  Vaterlandes  Unrecht  und  Misse- 
thaten  —  der  nicht  einsehen,  der  nicht  bereuen,  und 
nicht  bejammern  kann,  was  er  selbst,  und  andre  mit  und 
vor  ihm,  aus  Unwissenheit  und  Stumpfsinn,  an  seinen 
Mitmenschen,  in  blindem  Wahn  verbrochen.  Solcher  ist 
der  eigentliche  Sünder  wider  die  Natur  und  der  Frevler 
Jahrbuch  v.  35 


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—   546  — 


wide  rallen  Beruf  des  Menschen  für  die  Menschheit!! 
Gesetze  ohne  Wissenschaft  sind  Henker  ohne  Obrigkeit; 
und  selbst  ihr  alle,  die  ihr  mit  Ernst  am  Heil  der  Mensch- 
heit arbeitet,  mit  Kraft,  mit  Willen  und  Würde  nach 
dem  Licht  und  den  Polen,  um  die  wandellos  sich  alles 
wahre  Heil  der  Sterblichen  beweget,  hinweiset  —  selbst 
ihr  seid  in  dieser  Beziehung  noch  Inquisitoren,  wie  jene, 
die  auch  sonst  in  allem  Uebrigen  empören  —  Diener 
des  Unrechts  und  der  Unwissenheit  und  der  Nacht,  wie 
jene  schwarzen  Spaniolen,  blinde  Werkzeuge  barbarischer 
Macht  und  frevelnder  Gewalt  —  und  jeder  aus  euch 
bildet  da  in  dieser  Angelegenheit  noch  mit  Plato  die 
Gruppe  des  Erzengels  und  des  Satans  (I  102 — 118). 

Im  achtzehnhundert  und  siebenunddreißig- 
sten Jahr  unserer  Zeitrechnung  glauben  wir,  daß  Un- 
menschengesetze, etliche  Mährchen,  das  Geschwätz  alter 
Weiber,  die  Erklärungen  der  Universitäten,  wie  im  Ketzer- 
und  Hexenproceß,  und  Bibelstellen,  die  man  noch  nie  zur 
Ehre  der  Bibel  ausgelegt  hat,  was  leicht  ist,  .  .  .  hin- 
reichen, eine  Menschennatur  aufzuheben,  anders  zu  macheu 
oder  zu  ersticken,  eine  nicht  vorhandene  hervor  zu  bringen. 
Das  ist  der  pure,  leibhaftige  Hexenglaube,  die  voll- 
ständigste Teufels-Wirthschaft,  eine  auf  gleiche  Funda- 
mente gegründete  Finsterniß,  in  der  man  noch  alle  Gräuel 
jener  Mörderzeiten  an  Schuldlosen,  denen  man  die  Natur 
eines  Andern  und  Verbrechen  aufbürdet,  die  nie  ein 
Mensch  verüben  kann,  begeht  (H  293—294). 


Die  Geschlechtsnatur  Heinrich  Hößli's. 

Es  darf  die  Frage  nicht  unerörtert  bleiben :  war  der 
Mann,  welcher  mit  einer  Entschiedenheit  ohne  Vorbild 
und  mit  edler  Unerschrockenheit  für  die  Natur-  und 
Sittengesetzlichkeit  der  gleichgeschlechtlichen  Liebe  zu 


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—    547  — 


einer  Zeit  und  bei  einem  Volke  in  die  Schranken  traty 
wo  die  Ausübung  derselben  mit  schweren  Strafen  ge- 
ahndet wurde  —  war  Heinrich  Hößli  selbst  Uranier? 

Er  hat  sich  im  Alter  von  26  Jahren  vermählt  und 
zwei  Söhne  als  seine  leiblichen  Kinder  anerkannt;  allein 
er  führte  nicht,  wie  sonst  Eheleute  pflegen,  mit  seinem 
Weibe  gemeinsamen  Haushalt,  sondern  lebte  von  Anfang 
andauernd  und  sogar  örtlich  von  seinem  Weibe  getrennt. 
Es  scheint  dieser  Umstand  für  die  Auffassung  seiner 
wahren  Geschlechtsnatur  um  so  bedeutsamer,  als  er  selbst 
bekennt,  erst  1817,  alsoG  Jahre  nach  seiner  Verheiratung  und 
3  Jahre  nach  der  Geburt  seines  zweiten  und  letzten  Sohnes, 
sei  ihm  durch  einen  äußern  Anlaß  (Desgouttes'  Hinrichtung) 
die  Binde  von  den  Augen  gefallen.  Es  bleibt  demnach  zum 
mindesten  zweifelhaft,  ob  ihn  nicht  doch  mehr  Unklarheit 
über  sich  selbst,  vielleicht  gar  bloßer  Nachahmungstrieb, 
geachteten  Vorbildern  es  gleich  zu  machen,  als  persön- 
liche Zuneigung  in  die  Ehe  getrieben  habe. 

In  den  zahlreichen  Briefen  der  Frau  Elisabeth  Hößli 
geb.  Grebel  an  Heinrich  Hößli ')  redet  sie  diesen  ihren 
Ehemann  niemals  als  das  an,  was  er  für  sie  doch  war; 
vielmehr  nennt  sie  ihn  durchweg  „ Meinen  Freund"  und 
sich  selbst  bezeichnet  sie  als  seine  „ Freundin",  seine 
, wahre  Freundin44;  nach  einem  dieser  Briefe  vom  21. 
September  1846  aus  Zürich  fühlt  sie  für  ihn  eine  „alte 
unauslöschliche  Freundschaft,  wie  es  in  unserm  Ver- 
hältniß  nicht  anders  sein  kann*.    Sie  macht  ihm  sanfte, 

,)  Die  Reihe  dieser  Briefe,  etwa  100,  beginnend  mit  dem  28. 
Januar  1825  und  endend  mit  dem  30.  Oktober  1854,  weist  nur  für 
die  Jahre  des  ersten  Aufenthalts  der  Frau  Hößli  in  Amerika  1834 
bis  1843  eine  erhebliche  Llicke  auf;  allermeist  sind  sie  aus  Zürich 
datiert,  einige  wenige  aus  Meilen,  Cannstatt,  München  und  Rheinck; 
die  Schreiberin  zeigt  sich  darin  als  eine  liebevolle  und  resignierte, 
in  der  Sorge  für  ihre  beiden  Söhne  aufgehende  und  um  das  Wohl 
und  die  Gesundheit  ihres  von  ihr  getrennt  lebenden  Ehemannes 
bekümmerte  echte  Frau. 

35* 


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—   548  — 


aber  entschiedene  Vorwürfe  wegen  seines  unmännlichen 
vielen  und  langen  Besinnens,  seines  Eigenwillens  und 
seiner  Schwerfälligkeit  im  Entschluß  und  im  Handeln. 

Mit  seinem  Sohne  Hansi  stand  Heinrich  Hößli  in 
regem  Brief  verkehr;  leider  sind  von  dieser  Korrespondenz 
nur  die  Briefe  des  Sohnes  erhalten;  aus  ihnen  geht  aber 
bestimmt  hervor,  daß  Vater  und  Sohn  nicht  nur  über 
den  „Eros*  ihre  Gedanken  austauschten,  sondern  auch, 
daß  der  Sohn  dem  Vater  gegenüber  aus  seiner  Geschlechts- 
natur  duchaus  kein  Hehl  machte.  Unterm  27.  Dezember 
1848  schrieb  Hansi  aus  Galveston  (Texas)  seinem  Vater: 
„Ich  würde  recht  gut  und  angenehm  in  der  Schweiz  leben 
und  wegen  Dir  wäre  es  mir  über  Alles  .  .  .  aber  siehe, 
die  mehreren  Gründe  dagegen  rühren  von  Einer  Quelle 
her  oder  doch  meist  von  einer  Quelle.  Ich  will  sagen 
Efros].  Besonders  die  verflossenen  Sachen  von  der  Zeit 
des  rothen  Löwen  in  M.  herrührend,  das  war  eine  un- 
angenehme Geschichte,  es  wirkten  dort  viele  Umstände  zu- 
sammen. Ich  war  wohl  unvorsichtig  und  ich  wäre  auch 
eher  verschwatzt  worden  als  andere,  es  war  mein  Fehler, 
aber  wie  kannst  Du  böse  darüber  sein,  ich  that  doch 
nichts  mit  bösem  Herzen  ....  Hier  bin  ich  verhältniß- 
niäßig  glücklich  und  frei  .  .  .  Etwas  ganz  Anderes  auch, 
wovon  ich  Dir  sagen  will.  Einen  Jungen  in  N.  York, 
den  ich  gleich  einem  nahen  Verwandten  liebe,  ohne  Eltern, 
irländischer  Abstammung,  habe  ich  im  Sinn,  als  Sohn 
anzunehmen;  er  ist  16  bis  17  Jahre  alt,  heißt  Henry 
Wilson,  er  könnte  daher  eiumal  Deinen  Namen  bekommen. 
Er  ist  arm,  sehr  arbeitsam,  ohne  Fehler,  nicht  besonders 
hübsch  oder  groß.  Ich  konnte  noch  nie  irgend  etwas  für 
ihn  thun,  da  er  alles  da  hat,  wo  er  arbeitet.  Wie  ich 
das  letzte  Mal  in  N.  York  war,  sah  ich  ihn  blos  ein 
Mal  und  stehe  auf  sehr  ceremoniellem  Fuße  mit  ihm, 
da  er  so  jung  ist;  ich  bin  nie  in  seiner  Gesellschaft  wie 
mit  den  zwei  jungen  Männern,  die,  obschon  jung,  doch 


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—   549  — 


erwachsen  sind.  Henry  ist  noch  Bube.  Er  kann  ziem- 
lich deutsch  sprechen,  auch  deutsch  lesen.  Nun,  ehe  ich 
in  die  Schweiz  gehe  auf  einen  allfälligen  Besuch,  treibt 
es  mich,  eine  Art  Geschäft  oder  Heimath,  wenn 
auch  eine  Farm,  zu  haben  und  daß  er  bei  mir 
zuerst  angestellt  sei.  Er  scheint  sehr  anhänglich  gegen 
mich  und  würde  mit  mir  auf  Land  oder  Stadt  in  irgend 
etwas  gehen,  ich  versprach  ihm  das  schon  lange.  Solches 
und  Aehnliches  halten  mich  immer  ab.*  —  Noch  deut- 
licher redet  die  Einlage  eines  nicht  vorgefundenen  Briefes 
Hansis  an  den  Vater  vom  Februar  1853:  „Zerstöre  den 
Zettel!  Ich  muß  Dir  auch  sagen,  wie  es  mit  der  Sache 
vom  letzten  Sommer.  Jener  junge  H.  ging  von  Hause 
weg  d.  h.  er  war  in  Deutschland  und  kam  hieher.  Sein 
Vater  schrieb  zuerst,  ich  soll  doch  machen,  daß  er  zurück 
gehe,  er  wolle  ihn  nicht  strafen  und  in  Deutschland 
lernen  lassen  was  er  wolle.  Ich  sprach  zum  Sohn  und 
er  ging  zurück.  Aber  es  kamen  andere  Briefe,  welche 
Monate  lang  unterwegs  geblieben,  ich  solle  ihn  doch 
nicht  zurückgehen  machen,  wenn  er  in  der  Bucbdruckerei 
gut  sei,  das  Wechseln  sei  nicht  gut,  ich  solle  mich  seiner 
annehmen  und  zu  ihm  sehen,  und  er  wolle  mir  für  seinen 
Sohn  eine  artige  Summe  Geldes  geben,  für  ihn  zu  ver- 
wenden. Er  war  aber  schon  weg,  was  mir  auch  recht 
war,  indem  ich  nicht  weiß,  wie  er  ausfallen  wird.  Seinem 
Sohn  schrieb  der  Vater,  mir  zu  folgen  —  aber  nicht 
andern  in  der  Schweiz  zu  sagen,  daß  er  mit  mir  in  einem 
Verhältnisse  sei,  er,  der  Vater,  sage  es  nicht.  Er  bat 
mich  sehr,  ihn  nicht  aus  deu  Augen  zu  lassen  und  „rüstete 
mich  mit  väterlicher  Gewalt  aus/  Es  war  zu  spät,  da 
der  Brief  mehrere  Monate  unterwegs  war.  Ich  schrieb 
dem  Sohn  durch  den  Vater  in  Z[ürich],  mir  nicht  mehr 
zu  schreiben  und  ganz  den  Wünschen  des  Vaters  zu 
leben.  Er  schrieb  mir  aber  doch  seine  Ankunft  von 
Hamburg  und  er  will  wieder  aufs  Meer,  was  nicht  gut 


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—   550  — 


ist;  ich  schreibe  ihm  aber  nicht  mehr.  Er  war  hier  in 
einer  Buchdruckerei,  wo  er  sich  gut  hielt.  Es  war  eine 
Verläumdung.  In  der  Schweiz  möchte  ich  natürlich  jetzt 
nicht  mehr  leben,  denke  aber  etwa  für  2  Monate  im 
Sommer  zu  kommen.  Nach  der  Schweiz  geht  der  junge 
II.  jedenfalls  nicht.*  —  Zerstöre  den  Zettel!  Der  Vater 
hat  den  Zettel  nicht  nur  nicht  zerstört,  sondern  ihn  noch 
einmal  abgeschrieben,  so  daß  er  nun  doppelt  in  seinem 
Nachlasse  erhalten  ist! 

Als  dann  später  Heinrich  seinem  Hansi  schrieb,  ihm 
möge  das  Heil,  einen  wahren  Freund  für  das  Leben  zu 
finden,  zuteil  werden,  diese  Aussicht  für  ihn  erschüttere 
sein  Herz  vor  Freude  und  Hoffnung,  schrieb  Hansi  zurück, 
daß  das  wohl  oft  sehr  schwer  sei,  wenigstens  für  seine 
Person  finde  er  das.  Und  in  demselben  Schreiben  aus 
N.  York  vom  21.  April  1857  äußerte  er  sich  in  Beant- 
wortung vom  Vater  gestellter,  auf  den  „Eros"  bezüg- 
licher Fragen:  „Ich  glaube  gar  nicht,  daß  in  mir  Kraft 
liegt  oder  Mittel  mir  zu  Gebote  stehen.  Ich  glaube  eben 
nicht  so  sehr  an  menschliche  Unwissenheit,  sondern  an 
der  Menschen  Bosheit  und  Gefühllosigkeit  gegen  Andere 
und  Lust,  Andere  zu  erniedrigen,  und  eine  Art  Neid, 
besser  Mißgunst.  Von  Allem,  was  aus  dem  Alterthum 
und  auch  für  Natur-Anlage  —  ich  spreche  immer  spe- 
ziell von  diesem  Falle  —  bewiesen  werden  kann,  wird 
gesagt:  „Das  ist  eine  alte  Sache,  das  ist  allbekannt"  und 
„das  macht  die  Sache  nicht  besser".  Die  Meinung  Ein- 
zelner gilt  nicht  viel.  Allerdings  wenn  die  Unwissenheit 
des  Volkes  im  Ganzen  nicht  wäre,  so  würde  Alles  anders 
sein;  Unwissenheit  aber  ist  hier,  in  diesem  Falle,  mehr 
Vorurtheil,  und  es  ist  (in  der  Politik)  bekannt,  daß  all- 
gemeine Vorurtheile,  selbst  von  starken  Regierungen, 
innerhalb  einiger  successiven  Generationen  nicht  gehoben 
werden  können,  daher  alle  Regierungen,  die  bestehen 
wollen,  die  Vorurtheile  sich  zu  Nutzen  ziehen  müssen. 


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—    551  — 


Meine  Ansichten  sind  in  diesem  Falle  unangenehm. 
Es  ist  gegen  meine  Natur,  die  Menschen  so  anzusehen; 
aber  wie  helfen,  wenn  die  Sache  so  liegt?  Eine  gewisse 
negative  oder  doch  zweiseitige  Anschauung  in  einem 
Werk  wie  das  Buch  in  vier  Bänden  V(enus)  U(rania) 
oder  wohl  auch  Zschokke's  mögen  eher  angehen,  aber 
wie  wenige  lesen  Alles  und  Solches,  und  wenige,  die 
Solches  lesen,  sind  eigentlich  unwissend,  haben  aber  doch 
Vorurtheil  oder  kein  Gefühl  für  Andere  und  die  Besten 
scheuen  sich  wenigstens  so,  daß  sie  eigentlich  neutral 
sind,  aber  nicht  ein  Mal  so  viel  Bekenntniß  ablegen. 
Die  Hebung  des  Vorurtheils  würde  wohl  Tugend  för- 
dern und  Laster  vermindern,  in  großen  Städten  wie  hier 
muß  das  sehr  bemerkt  werden.  Es  hat  zwar  auch  eine 
andere  Seite  füVs  Allgemeine:  Würden  Gesetze  weggethan, 
ohne  andere  Gesetze  zu  machen,  so  gäbe  es  viel  Böses, 
und  wie  könnten  andere  gemacht  werden?  An  eine 
solche  Möglichkeit  ist  unter  bestehenden  Umständen  und 
Ansichten  ja  nicht  zu  denken.  —  Das  Liebste  ist  mir, 
wenn  ich  mit  meinen  Vettern  (von  denen  Du  redest) 
unter  obwaltenden  Umständen  in  keine  Berührung 
komme.* 

Meine  Aufgabe  kann  es  hier  nicht  sein,  den  Nach- 
weis zu  führen,  Heinrich  Hößli  sei  nicht  weibliebend 
gewesen;  diese  Aufgabe  könnte  selbst  dann  mir  nicht 
zufallen,  wenn  es  überhaupt  logisch  zu  den  Möglichkeiten 
gehörte,  überzeugend  nachzuweisen,  daß  etwas  nicht  sei. 
Aber  auch  für  mehr  als  bloß  hohe  Wahrscheinlichkeit, 
daß  Heinrich  Hößli  rein  mann  liebend  gewesen  ist, 
kann  aus  dem  von  mir  Ermittelten  irgend  ein  zwingender 
Beweis  nicht  hergeleitet  werden,  weit  weniger  noch 
der  Nachweis  irgend  einer  Art  gleichgeschlechtlichen 
Verkehrs.  Wir  erfahren  aus  dem  Leben  des  Ver- 
fassers    des     „Eros*     nichts     von     einer  großen 


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—  552 


Liebe,  die  ihn  fortgerissen  habe.  Eine  lange  Reihe  von 
Jahren  hat  er  treue  Freundschaft  oder  Kameradschaft 
mit  seinem  Neffen  Jakob  Kubli gehalten;  es  war  das  um  eben 
die  schwere  Zeit,  als  sein  „Eros*  entstand;  die  geschäftige 
Fama  brachte  den  .Eros"  mit  Kubli  in  Verbindung;  sie 
machte  aber  ein  enttäuschtes  Gesicht,  als  bei  darauf  aus- 
gehenden Prüfungen  Jakob  Kubli  sich  als  völlig  unschuldig 
erwies  und  es  sich  zeigte,  daß  dem  Harmlosen  der  Gegen- 
stand des  „Eros"  —  spanische  Dörfer  waren.  Damit  war  es 
also  nichts !  Es  wird  bestimmt  versichert,  Heinrich  Hößli 
sei  ein  alter  lieber  Freund  der  Familie  des  Löwenwirts 
gewesen,  ein  edler,  sittenreiner  und  makelloser  Charakter, 
dem  Eltern  und  Kinder  stets  die  höchste  Achtung  zollten; 
den  Kindern  gab  Heinrich  nie  den  leisesten  Anlaß  zu 
einer  Klage,  weder  in  Tat>  noch  Wort,  noch  Blick; 
wäre  ein  solcher  Anlaß  vorgekommen,  so  hätte  deren  sehr 
guter,  aber  leicht  heftiger  Vater  den  Freund,  trotz  bisherge- 
pflogener echter  Freundschaft,  erwürgen  können;  um 
Hößli's  im  „Eros"  niedergelegte  Anschauungen  habe 
man  sich  nicht  in  der  Familie  gekümmert,  da  man  der 
Sache  gänzlich  fern  stand  und  diese  Frage  im  Familien- 
kreise überhaupt  nie  wäre  besprochen  worden.  Dem 
jüngsten  der  drei  Söhne  des  Löwenwirts  hatte  Heinrich 
auf  seinen  Wunsch  hin  im  späteren  Alter  den  „Eros" 
gegeben,  in  der  Erwartung,  daß  er  ihn  sorgfältig  studieren 
werde;  aufrichtig  gestand  ihm  der  jüngere  Freund,  daß 
er  zwar  im  „Eros"  geblättert,  die  Sache  aber  nicht  be- 
griffen habe,  die  vielen  Zitate  langweilig  fände  und  das 
Buch  wieder  bei  Seite  gelegt  habe;  der  alte  Freund 
lächelte  und  sprach:  „Recht  so!  Du  hast  Besseres  zu 
tun  in  Deiner  Familie  und  in  Deinem  Geschäfte!" 

Ein  ausgesprochen  urnischer  Zug  in  Heinrich  Hößli's 
Wesen  war  lediglich  seine  Geschicklichkeit  in  weiblichen 
Arbeiten.  Um  sein  selbstloses  mannhaftes  und  furchtloses 
Eintreten  für  seine  heiligsten  Ueberzeugungen  aber  hätte 


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—   553  — 


unser  sich  selbst  hochpreisendes  Männervolk  alle  Ursache, 
ihn  ehrlich  zu  beneiden! 

Was  Heinrich  Htfßli  in  seinem  zweibändigen  „Eros* 
von  Selbstbekenntnissen  offenbart,  das  bezieht  sich 
auf  seine  Anschauungen,  nicht  notwendig  auf  seinen 
Geschmack,  nicht  notwendig  auf  seine  Lebensfüh- 
rung; da  er  bestimmt  erklärte,  daß  die  Männerliebe  der 
Griechen  zwar  auch  dem  Leben  und  der  Wirklichkeit 
seiner  Zeit  noch  angehöre,  jedoch  ohne  schwarzen,  „ver- 
dammlichen  Brüderverrath*  an  ringsum  lebenden  Menschen 
und  Lebensverhältnissen  sich  nicht  zeigen  lasse  —  „und 
ich  bin  kein  Judas",  fügt  er  (Eros  II  S.  44)  in  Klammern 
bei  —  so  lag  ihm  auch  die  Pflicht  nicht  ob,  sich  selber 
bloß  zu  stellen. 

In  dem  hinterlassenen  ungedruckten  Manuskripte 
zum  dritten  Bande  seines  „Eros"  findet  sich  der  nach- 
folgende Passus  wortgetreu: 

»(Aus  den  Selbstbekenntnissen  eines  Unglücklichen 
ohne  Liebe  zum  andern  Geschlecht) 

„Ich  sitze  im  Reisewagen,  mir  gegenüber  eine  männ- 
liche Schönheit  —  tausend  andre  hätten  sie  nicht  für 
eine  solche  genommen  —  oder  vielmehr  —  es  hätte  sich 
in  den  tausend  andren  für  diesen  Menschen  nichts  be- 
wegt und  dieser  Mensch  nichts  in  diesen  tausend  andren. 
—  Die  Stadt  ist  zurück;  Berge  und  Thäler  und  Bilder 
am  Himmel  und  auf  Erden  wogen  und  rollen  dahin;  ich 
hatte  schon  große  Reisen  gemacht;  aber  so  gerollt  und 
so  gewogt  —  solchen  Himmel,  solche  Erde,  solche  Selig- 
keit —  und  ich  wußte  eigentlich  nicht,  ob  sie  in  mir 
oder  im  Postwagen  oder  rings  um  denselben  her  sei  — 
ich  war  trunken  und,  o  du  guter  Gott,  hätte  ich's  ewig 
bleiben  können 

—  es  war  der  Eros!  — 
„Ich  bin  in  der  Kirche,  mir  zur  Rechten  eine  ver- 
klärte Menschengestalt,  die  auch  meine  ganze  Seele  ver- 


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—   554  — 


klärt  und  mit  glühender  Andacht,  mit  dem  Himmel 
selbst  erfüllt  Der  Tempel  erbebt*  er  verschwindet  .  .  . 
und  warum  dachte  ich:  zu  den  Füßen  dieses  göttlichen 
Jünglings  wäre  es  selig  zu  sterben?  — 

—  es  war  der  Eros!  — 

„Ich  sehe  die  Lichter  brennen  unter  dem  Thron 
Gottes  —  die  Glanzmeere  unendlich  ausgesäet  am  wolken- 
losen Himmel  ...  er  feiert  einen  Sabat  der  Welten  und 
seine  Flammen  funkeln  Ewigkeit  und  Liebe;  ich  sinke 
nieder,  ich  liege  im  Staub  .  .  .  und  ...  ich  weiß  nicht 
o  Gott  woher  .  .  .  die  Gestalt  eines  holden  Jünglings 
steht  neben  mir  

—  Stimme  des  Eros!  — 

„Ich  stehe  im  Winter  uliein  am  einsamen  Fenster; 
es  schneit;  der  Fink  für  sein  Weibchen  sucht  Körnlein 
vor  der  Scheuer  .  .  .  und  ich  bin  voll  Liebe  und  voll 
Wehmuth  —  und  denke,  wie  selig  so  ein  paar  vereinte 
Menschen  auf  dieser  Welt  voll  Sehnen  und  Trübsal 
leben  .  .  .  und  wie  viel  Herrlichkeit  im  Hintergrund 
einer  Menschenseele  sei  .  .  .  und  wenn  Gott  mir  noch 
so  ein  Menschenwesen  gäbe  und  ich  mein  ganzes  Leben 
mit  ihm  raeinen  Bissen  Brod  theilen  könnte.  —  Es  saß 

ein  freundlicher  Jüngling  am  Ofen  es  war  eine 

Erscheinung 

—  es  war  der  ewige  Eros,  der  in  den 
Zeugen  und  Stimmen  redet  und  im  Plato 
und  in  der  ewigen  Natur  und  bei  den 

Griechen! 

„Ich  sitze  am  Bach  und  denke  und  fühle  und  sinne 
so  hin  und  her  und  auf  und  ab  .  .  .  und  bin  voll  Heim- 
weh —  und  weiß  nicht  wohin  ich  vor  allem  diesem 
soll  .  .  .  denn  es  ist  Frühling  .  .  .  und  sagen  möchte 

ich's,  wie  es  in  mir  wogt  und  Wellen  schlägt  und 

so  einsam  ist  und  mir  all'  die  Herrlichkeit  so  zu  keinem 


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—   555  — 


Frieden  hilft  .  .  .  und  meine  Sehnsucht  nach  dem  Engel 
in  Jünglingsgestalt  mich  in  namenlose  Traurigkeit  ver- 
senkt, wo  soll  ich  hin?  .  .  . 

„Ich  wandle  allein  in  einer  schönen,  einsamen  Ge- 
gend, ich  sitze  in  dem  Schatten  des  kleinen  Gartens  vor 
einer  unbewohnten  Hütte,  wie  ich  in  selig  hoffenden 
Träumen  schon  manche  erbaut  habe.  Daß  du  da  dein 
Leben  zubringen  und  diesen  Acker  pflügen  könntest  und 
säen  und  erndten  und  im  Sommer  und  Winter  die  Abend- 
röthe  sehen  und  diese  Bäume  blühen,  und  leben  und 
sterben  könntest  mit  —  dem  Einzigen  unterm  Himmel 
und  auf  Erden.  —  Ihr  tiefsten  stillen  Bilder  des  Lebens, 
ihr  goldnen  unvergeßlichen  Träume .  .  .  ich  saß  noch  da, 
als  die  ersten  Sterne  durch  die  Zweige  redeten  ...  ich 
mußte  fort,  denn  es  wohnten  keine  Menschen  in  dieser 
Gegend  und  ich  kannte  nicht 

den  Eros  in  des  jungfräulichen  VirgiPs  und 
Theokrit's  Hirtengedichten. 

„Eine  Mutter  traf  ich  auf  einem  Dorfkirchhof  an; 
ihre  Tochter  war  gestorben  und  ihr  Sohn;  und  was  sie 
da  that,  fragt  wohl  kein  Mensch.  Ich  erfuhr,  daß  die 
Tochter  Braut  gewesen,  und  daß  sie  Anna  geheißen,  sah 
ich  am  Kreuz  und  daß  ihr  Heinrich  nun  in  die  weite 
Welt  geflüchtet  —  und  Johann  der  beste  und  schönste 
Mensch  weit  und  breit  gewesen  sei.  Nachdem  die  Mutter 
fort  gegangen  war  —  und  ich  so  .  froh,  allein  zu  sein, 
und  ringsum  alles  so  still  und  kein  Menschenwesen  weit 
und  breit  —  und  die  Auferweckten  wieder  wie  Nebel 
verschwanden  und  meine  Seele  überfloss  von  unsäglicher 
Wehmuth,  —  hätte  ich  zu  dem  schönen  gestorbenen  Jo- 
hann in  das  Grab  hinab  und  mich  zu  ihm  in  sein  Leichen- 
tuch wickeln  und  dort  bei  ihm  sein  mögen  —  ewig  — 
wegen  alP  der  Trübsal  und  dem  Heimweh  und  der  Liebe 


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—   556  — 


auf  dieser  Welt  ....  und  ich  wußte  nicht,  warum  das 
alles  so  wundersam  in  mir  war  —  und  nichts 

von  der  Anthologie  der  Griechen  —  den 
Sängern  der  Vorwelt!" 

* 

Wer  war  der  Schöpfer  dieser  Bilder,  die  uns  zeigen, 
daß  der  Eros  der  Griechen  auch  heute  noch  unter  uns 
weilt?  Daß  er  Menschenherzen  erfüllt  und  Menschen- 
verhältnisse beeinflußt?  Wer  schrieb  so?  Schrieb  so 
noch  ein  anderer?  Hößli  verrät  es  uns  nicht;  er  läßt 
es  uns  erraten  —  aber  er  fügt  an  dieser  Stelle  bei: 

„  in  diesen  Bildern,  in  diesen  Begriffen,  —  in 

diesen  Wahrheiten,  an  die  ich  noch  so  manche 
eigene  tiefere  Erfahrung  knüpfen  könnte  .  .  . 
in  ihnen  ist  der  Eros  der  Griechen  —  sie,  ihre  Stimmen 
und  Zeugen  sind  da  gültig  .  .  .  nicht  Greuellehren  der 
Hexen-  und  Ketzer-Prediger*  .  .  . 

Nach  allem  halte  ich  für  wahrscheinlich,  daß  Hein- 
rich Hößli  zeitlebens  mannliebend  war  und  daß  sein  „Eros" 
nicht  bloß  ein  Produkt  seines  Nachdenkens  und  Studiums 
und  seines  ausgesprochenen  Rechtsempfindens  war,  son- 
dern vorwiegend  als  der  Ausfluß  seines  innersten  Seelen- 
lebens aufzufassen  ist.  War  der  Verfasser  des  „Eros*  aber 
nicht  mannliebend,  so  wiegt  sein  Zeugnis  für  die  Männer- 
liebe  nur  noch  um  so  schwerer. 


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Franz  Desgouttes  (1785—1817) 

„Alle«  kommt  mir  wie  im  Traume  vor." 

Franz  Desgouttes. 

Da  der  „Eros"  Heinrich  Hößli's  nach  dessen 
eigenem  Geständnisse  ein  Ausfluß  seines  unendlichen  Mit- 
leidens mit  den  Qualen  und  seines  zornigen  Ingrimms 
über  die  ungewöhnlich  fürchterliche  Hinrichtung  des 
reumütigen  Mörders,  des  Berner  Bürgers  Franz 
Desgouttes  gewesen  ist,  Hößli  selbst  aber  die  Schilde- 
rung der  Leiden  und  der  Verworfenheit  dieses  Unglück- 
lichen in  den  beiden  erschienenen  Bänden  seines  „Eros" 
unterlassen  und  sich  wahrscheinlich  für  den  dritten  Band 
aufgespart  hat,  so  wird  durch  Nachholungdes  von  Hößli  Ver- 
säumten an  dieser  Stelle  lediglich  eine  Pflicht  schuldiger 
Pietät  gegenüber  dem  so  verdienstvollen  Verfasser 
des  „Eros*  erfüllt.  „An  meiner  Idee,"  sagte  Hößli,  „ist 
Desgouttes'  innere  Zerstörung,  sein  Elend  und  sein  schauer- 
vollcs  Ende  zu  prüfen  und  Fluch  dem  Menschen,  der 
diese  Prüfung  verschmähte,  wenn  sie  ihm  für  noch  nicht 
verlorene  Mitmenschen  Licht  und  Rettung  an  die  Hand 
geben  könnte"  (Eros  II,  213). 

Als  seine  Quelle  gibt  Hößli  (Eros  I,  277—278)  die 
Schrift  an: 

„Leben  und  Lebensgeschichte,  Verbrechen 
und  Hinrichtung  des  Herrn  Joh.  Franz  Xiklaus 
Desgouttes,  Doktors  der  Rechte  und  Bürgers 
der  Stadt  Bern",  Bern,  1817  in  4°.  Da  die  damalige 
Regierung  das  Erscheinen  dieser  Geschichte  in  ihrem 


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—   558  — 


Gebiete  unterdrückte,  so  erschien  nach  H  ößli  diese  Schrift 
darauihin  französisch  in  Lausanne  und  1827  wieder 
deutsch  in  Berlin.  Desgouttes'  Schicksal  hat  bei  seiner 
Bekanntwerdung  Hößli's  Gemüt  mit  Grausen  erfüllt,  er 
konnte  nicht  schweigen  und  Mensch  bleiben.  Die  Schrift 
„hat  keinen  andern  als  den  Werth  eines  Beitrags  zur 
Geschichte  des  namenlosen  Elends  der  Opfer  unserer 
Unwissenheit  und  Unkenntniß  der  Menschennatur  in 
allen  Zweigen.  Nach  meiner  Ansicht  gehört  sie  zu  unserer 
Literatur  des  Eros  —  das  ist  fürchterlich,  aber  natür- 
lich; wie  wir  dieses  Feld  bestellt,  so  trägt  es  uns  Früchte* 
(Eros  I,  278). 

Diese  einzige  von  Hößli  angeführte  Quelle  für 
Desgouttes  ist  aller  Mühe  ungeachtet  mir  völlig  unzu- 
gänglich geblieben;  sie  fehlt  auch  den  drei  öffentlichen 
Bibliotheken  in  Bern,  woselbst  man  sie  am  ehesten  noch 
erwarten  könnte. 

Die  übrigen  das  Schicksal  Desgouttes'  behandelnden, 
mir  bekannt  gewordenen  Druckschriften  bieten  für  den 
Zweck  dieses  Biogramms  wenig  Belangreiches  und  deuten 
eigentlich  nur  an.  So 

Heinrich  Zschokke,  Der  Eros  oder  über  die 
Liebe,  in:  „Ausgewählte  Novellen  und  Dichtungen  von 
Heinrich  Zschokke.  Erster  Theil,  Aarau,  1843*,  S.  231 
bis  292.  Desgouttes  heißt  hier  Lukasson,  sein 
Geliebter  Hemmeier  wird  Walter  genannt  Seite 
232—233,  244,  252—254,  256,  270—271,  289, 
291—292. 

Heinrich  Hößli,  Eros.  Die  Männerliebe  der 
Griechen  u.  s.  w.  I.  Band,  Glarus  1836;  II.  Band, 
St.  Gallen  1838.  üeber  Desgouttes  handeln  Band  I 
S.  IX,  XVI,  61  und  278,  Band  II  S.  53,  212—213,  225, 
239,  263—264,  279,  327*)  und  351. 

Anonym,  Dr.  Franz  Desgouttes,  Dieb  und  Mörder. 
In:  „Die  interessantesten  Kriminal-Geschichten  aus  alter 


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und  neuer  Zeit.  Ein  Buch  zur  Unterhaltung,  Warnung 
und  Belehrung  für  Jung  und  Alt,  nach  den  vorgelegenen 
Akten  bearbeitet  und  herausgegeben  von  einem  viel- 
jährigen höhern  Gerichtsbeamten.  St.  Gallen.  Altwegg- 
Weber.*  IV  und  706  Seiten  in  8°,  Seite  633—050.  Das 
Erscheinungsjahr  fehlt;  das  Datum  des  Vorworts  ist 
November  1866. 

Während  Zschokke  und  Hößli  nur  zusammen- 
fassende Urteile  geben,  bringt  der  anonyme  Verfasser 
der  Kriminal-Geschichten  viel  interessantes  Detail,  aber 
gerade  bezüglich  der  hier  in  Frage  stehenden  Materie 
schweigt  er  sich  aus  und  begründet  seine  Zurückhaltung 
S.  644  mit  den  Worten:  „Es  ekelt  uns  nachgerade  an,  von 
dieser  »Freundschaft*  mehr  zu  schreiben,  leider  aber  hängt 
sie  mit  der  ganzen  Geschichte  unzertrennlich  zusammen." 

Ich  würde  nun  ratlos  dastehen  und  Hößli's  Zusage 
nicht  einlösen  können,  wenn  ich  nicht  durch  das  freund- 
liche Entgegenkommen  des  Staatsarchivars  des  Kantons 
Bern,  des  Herrn  Dr.  Heinrich  Türler,  in  die  dankens- 
werte Lage  versetzt  worden  wäre,  die  im  Staatsarchiv  in 
Bern  befindlichen  schriftlichen  Prozeßakten  nebst 
dem  Tagebuche  Desgouttes'  auf  das  Eingehentiste 
studieren  zu  können,  derart,  daß  alles,  was  im  Nach- 
folgenden über  Desgouttes  mitgeteilt  wird,  einzig  dem 
genannten  Akten-Material  entnommen  ist 


I.  Ein  Mord  und  seine  Folgen. 

Am  29.  Juli  1817  Morgens  nach  9  Uhr  erstattete 
der  Bärenwirt  Gustav  Wiedmer  in  Langenthal  im  Kan- 
ton Bern  dem  Gerichtstatthalter  daselbst  die  Anzeige, 
der  Schreiber  des  Rechtsagenten  Dr.  Franz  Desgouttes, 
Daniel  Hemmeier  von  Aarau,  liege  tot  in  seinem 
Bette  und  scheine  ermordet  zu  sein.  Der  Gerichtstatt- 
halter ließ  die  Anzeige  an  den  Amtsstatthalter  in  Aar- 
wangen weiter  befördern  und  dessen  Gegenwart  erbitten. 


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—   560  — 


Dieser  erschien  mit  dem  Amisschreiber  alsbald  in  Langen- 
thal behufs  Besichtigung  von  Oertlichkeit  und  Leiche. 
Im  Hause  des  Bärenwirts  befand  sich  zu  ebener  Erde 
gleich  links  von  der  Eingangstür  die  Schreibstube  des 
Kechtsagenten  Dr.  Desgouttes;  ihre  Besichtigung  er- 
gab nichts  Absonderliches;  eine  Treppe  hoch  bildeten  eine 
Flucht  von  drei  Vorderzimmern  und  diesen  gegenüber  zwei 
Zimmer  und  die  Küche  die  Privatwohnung  des  Dr.  Des- 
gouttes und  hier  wurde  folgendes  festgestellt :  Im  ersten 
Zimmer  stand  links  neben  der  Tür  ein  völlig  in  Un- 
ordnung gebrachtes  Bett,  auf  dem  unter  anderm  ein  blut- 
bespritztes, ,F.  D."  gezeichnetes  Hemd  und  ein  Offiziers- 
säbel mit  eiserner  Scheide  lag,  während  am  Fußboden 
um  das  Bett  herum  viele  unvollkommene  blutige  Fuß- 
spuren sichtbar  waren;  eine  halboffene  Tür  führte  in 
das  Mittelziramer,  dessen  Boden  zahlreiche  blutige  Fuß- 
spuren von  solcher  Deutlichkeit  aufwies,  daß  die  fünf 
Zehen  unterschieden  werden  konnten,  ein  Beweis  dafür, 
daß  unbekleidete  Füße  sie  hervorgerufen  haben  mußten; 
auf  einem  kleinen  Tischchen  lag  ein  großes  ledernes 
halboffenes  Säckchen  mit  drei  verschiedenen  Behältern, 
welche  Bleikugeln,  Patronen  und  ein  kleines  Ladestöckchen 
zu  einer  Pistole  enthielten;  im  letzten  Zimmer  endlich, 
dem  Schlafgemache  des  Schreibers  Hemmeier,  lag  ein 
junger  Mann  im  Bette  auf  dem  Rücken,  kalt,  bleich  und 
starr,  den  Kopf  hoch  auf  dem  Hauptkissen  mit  halb- 
geschlossenen Augen  und  offenem  Munde,  die  Arme  dem 
Leibe  nach  gekrümmt  haltend,  die  Hände  auf  dem  Unter- 
leibe gefaltet  und  den  linken  Fuß  aus  dem  Bette  hervor- 
streckend;  eine  wollene  Decke  reichte  dem  Jüngling  bis 
fast  an  den  Hals,  das  eigentliche  Deckbett  bildete  einen 
Knäuel  am  Fußende  des  Bettes ;  der  mit  dem  Hemde  be- 
kleidete entseelte  Körper  zeigte  wie  das  Bett  überall 
Blutspuren;  dicht  am  Leibe  zwischen  dem  Ellenbogen 
und  der  Achsel  des  rechten  Armes  fand  sich  ein  fast 


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—    501  — 


offenes  blutbedecktes  großes  Sackmesser  mit  zwei  frisch- 
geschliffenen  Schneiden;  auch  hier  wies  der  Fußboden 
ungezählte  Spuren  blutiger  nackter  Füße  auf. 

Der  Tote  war  Daniel  Herameier  von  Aarau,  ein 
junger  Mann  von  22  Jahren.  Geboren  am  2.  März  1794 
hatte  er  sich  von  früher  Jugend  auf  durch  Ordnungsliebe, 
Lernbegierde  und  gute  Aufführung  ausgezeichnet  und 
wurde  auf  Verwendung  seiner  Tante  Salome  Anderes,  der 
Dienstmagd  des  Herrn  Fürsprech  Franz  Jakob  Desgouttes, 
vom  1.  November  1810  an  in  dessen  Schreibstube  beschäf- 
tigt, um  den  Advokatendienst  zu  erlernen.  Bei  der  voll- 
ständigen Mittellosigkeit  seiner  mit  sieben  Kindern  ge- 
segneten Eltern  war  die  Dauer  seiner  Lehrzeit  auf  fünf 
Jahre  festgesetzt  worden;  vom  1.  November  1815  an 
war  alsdann  Hemmeier  in  derselben  Kanzlei  als  Gehülfe 
tätig  geblieben  und  nach  dem  am  6.  Juli  1816  erfolgten 
Ableben  des  alten  Desgouttes  zugleich  mit  der  Kanzlei 
von  dessen  Sohne  Dr.  Franz  Desgouttes  übernommen 
worden.  Hatte  Hemmeier  schon  als  Lehrling  viel  für 
seinen  leidenden  Vater  und  seine  kränkliche  Mutter  ge- 
tan, so  war  er  als  Gehülfe  die  Stütze,  der  Trost  und 
die  Freude  seiner  bis  dahin  in  drückender  Armut  leben- 
den Eltern  geworden  —  ein  stiller  und  strebsamer,  wohl- 
geratener und  hoffnungsvoller  Sohn. 

Gleich  nach  dem  Bekanntwerden  der  Auffindung 
des  Hemmeier  als  Leiche  lief  vom  Markte  zu  Langenthal 
aus,  wo  Wochenmarkt  tagte,  durch  das  ganze  Amt  mit 
Blitzesschnelle  das  Gerücht  von  Mund  zu  Mund,  daß 
kein  anderer,  als  der  Dr.  jur.  Franz  Desgouttes,  der 
des  guten  Jünglings  Berater  und  Wohltäter  hätte  sein 
sollen,  der  Urheber  des  grausigen  Mordes  wäre.  Dieser 
hatte  am  29.  Juli  sein  nur  durch  ein  Zwischenzimmer 
vom  Schlafzimmer  des  Ermordeten  getrenntes  Schlaf- 
gemach nicht  vor  8  Uhr  Morgens  verlassen,  war  dann 
mit  einem  Portefeuille  unter'm  Arm  auf  der  Straße  nach 

.lahrbuch  V.  36 


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502 


Aarwangen  von  verschiedenen  Personen  angetrofl'eu  wor- 
den, hatte  sich  im  Dorfe  Aarwangen  autgehalten  und 
sich  nach  dem  Dorfe  Muhmenthal  begeben  wollen,  wurde 
jedoch  auf  dem  Wege  dahin  mit  Hülfe  von  zwei  Bauern 
durch  einen  Polizei  Wächter,  der  ihm  mit  einer  eisernen 
Schnur  die  Hände  fesselte,  angehalten;  er  schien  zer- 
schlagen, müde  und  traurig  und  mußte  starke  Getränke 
zu  sich  genommen  haben;  auch  seufzte  er  viel,  faßte  sich 
an  die  Stirn  und  klagte  über  Zahnschmerzen.  Zu  den 
sich  einfindenden  Neugierigen  sagte  er :  „Ihr  lieben  Leute, 
ich  will  Kuch  gewarnt  haben,  ergebt  Euch  nicht  dem 
Trünke*  und  „Im  Rausche  und  im  Zorn  soll  man  nicht 
sündigen11.  So  wurde  er  drei  ihn  suchenden  Landjägern 
übergeben,  welche  ihm  anfangs  Handschellen  anlegten, 
als  sie  aber  gewahrten,  daß  er  sehr  schwach  und  Wider- 
stand zu  leisten  unfähig  war,  vielmehr  sagte,  sie  könnten 
mit  ihm  machen,  was  sie  wollten,  ihm  auch  einen  Schuß 
geben,  ihn  wieder  davon  befreiten  und  gegen  1  Uhr 
Mittags  als  Untersuchungsgefangeuen  in  das  Schloß  Aar- 
wangen abführten.  Im  Wartezimmer  daselbst  gab  er 
dem  Schloßknecht  eine  silberne  Uhr  mit  dem  Ersuchen, 
sie  zu  verkaufen;  der  Erlös  solle  zur  Erleichterung  seiner 
Gefangenschaft  dieneu.  Als  der  Knecht  später  hörte, 
daß  des  Hemmeier  Uhr  vermißt  werde  und  die  in  seinen 
Händen  befindliche  die  gesuchte  sei,  gab  er  sie  zurück; 
Desgouttes  hatte  sie  nach  dem  Morde  von  der  Wand 
genommen  und  zu  sich  gesteckt;  ebenso  Taschentücher 
des  Ilemmeler;  beides  hatte  er  selbst  dem  Henimeler 
geschenkt  und  dachte  nun  bei  sich:  Ich  habe  sie  ihm  ge- 
schenkt und  er  braucht  sie  nicht  mehr. 

Schon  am  Tage  nach  dem  Morde  nahm  der  Amts- 
statthalter im  Beisein  von  drei  Amtsrichtern  und  dem 
Aktuar  das  Präliminar  verhör  mit  dem  des  Mordes 
Verdächtigen  vor,  in  welchem  dieser  die  Tat  unumwun- 
den eingestand;  zu  seiner  Tat,  die  Vorsatz  und  Absicht 


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—   563  — 


gewesen  sei,  habe  er  sich  den  nötigen  Mut  durch  starke 
Getränke  getrunken;  seine  Tat  sei  eine  prämeditierte 
Handlung;  in  einem  an  Wahnsinn  grenzenden  Zustande 
habe  er  den  Hemmeier  so  zugerichtet,  daß  er  hätte  ver- 
bluten müssen;  hätte  er  nur  ein  wenig  Besinnung  ge- 
habt, so  würde  er  Aerzte  oder  anderweite  Hülfe  herbei- 
geholt haben;  in  seinem  Zustande  über  sei  das  ausge- 
schlossen gewesen.  Im  zweiten  Verhöre  am  5.  August 
führte  der  Geständige  aus,  wie  ihn  die  Absicht  des 
Mordes  gepackt  habe;  auch  Handlungen  im  betäubten 
Zustande,  in  welchem  alles  zu  tun  möglich  sei,  seien 
mehr  oder  weniger  mit  Absicht  verbunden.  Nebenher 
legte  er  das  Geständnis  ab,  mit  seinem  Lehrling  Hans 
Ulrich  Leib  und  Gut  „  Unzucht-  getrieben  zu  haben. 

Bereits  am  2.  August  hatte  die  Kriminal-Kommission 
zu  Bern  wegen  Behinderung  des  Oberamtmanus  in  Aar- 
wangen durch  Krankheit  die  Transportierung  des  Des- 
gouttes  nach  Bern  und  Uebertragung  der  Untersuchung 
au  das  Verhörrichteramt  in  Bern  vom  Präsidenten  des 
Justizrats  der  Stadt  und  Republik  Bern  erbeten  und 
der  Auftrag  dazu  war  am  4.  August  erfolgt.  So  wurde 
der  geständige  Mörder  am  5.  August  nach  Bern  ge- 
schafft und  ihm  die  Zelle  12  der  „oberen  Gefangenschaft" 
angewiesen;  nach  Aussage  des  Gefangenen  in  der  Nach- 
barzelle 11  ging  Desgouttes  bis  über  Mitternacht  vom 
7.  auf  den  8.  August  in  seiner  Zelle  umher,  klopfte  an 
Tür  und  Wände,  warf  sein  Lager  hin  und  her  und 
schrie  immer:  „Hemmeier,  ich  hab's  nicht  gern  getan! 
Ihr  Herren,  laßt  mich  doch  heraus!  Mau  bringe  mir 
doch  Schnupftabak!"  Mit  dem  gefangenen  Nachbarn  hat 
er  endlich  durch  die  Wand  gesprochen  und  gesagt,  wie 
er  heiße  und  warum  er  gefangen  sitze;  hernach  ward  er 
wieder  ruhig  und  still  wie  bei  Tage  und  verlangte  nur 
immer  nach  Schnupftabak.  Seitens  des  Berner  Verhör- 
richteramtes wurden  durch   den  Verhörrichter  v.  Wat- 

3«* 


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—    564  — 


tenwyl  vom  9.  bis  zum  19.  Augut  noch  sieben  Ver- 
höre mit  Desgouttes  vorgenommen,  in  denen  dieser  viele 
seiner  Antworten  dem  Schreiber  in  die  Feder  diktierte;  er 
verblieb  bei  dem  Bekenntnisse  seiner  Ta',  erklärte,  sie 
sei  mit  Vorbedacht  begangen  und  er  hatte,  obwohl  er 
betrunken  gewesen  sei,  Beson:.?nheit  genug  bewahrt,  um 
vor  und  bei  der  Ausführung  des  Mordes  genau  zu 
wissen,  daß  er  dem  Hemmelcr  das  Leben  nehme ;  er 
machte  nur  die  eine  Einscln Unkung,  der  Mord  sei  un- 
streitig mehr  seiner  unglücklichen  Imagination  beizu- 
messen als  seinem  Verstände.  Um  sein  Gewissen  zu 
entlasten,  bekannte  er,  mit  dem  Hemmeier  Jahre  hin- 
durch „unzüchtigen  Umgang"  gehabt  und  auch  mit  an- 
deren männlichen  Personen  , Unzuchthandlungen*  verübt 
zu  haben.  Außerdem  gestand  er  zahlreiche  auf  anderen 
Gebieten  liegende  Straftaten  und  Verbrechen  ein: 
Diebstahl  au  Geld  und  sonstigem  Gut,  zweimalige  De- 
sertion vom  Militär  und  eine  ungerechtfertigte  Quartier- 
bestellung, mehrmalige  Fälschung  seines  Namens,  Ur- 
kundenfälschung, Betrug  und  Uebervorteilung  in  seiner 
juridischen  Amtstätigkeit,  Mißbrauch  von  Canthariden 
bei  seinen  nächsten  Angehörigen,  bei  den  Dienstmädchen 
seiner  Eltern  und  beim  Hemmeler,  Mordversuche,  end- 
lich Raub-  und  Mordpläne,  die  er  nur  deshalb  nicht 
ausgeführt  habe,  weil  es  ihm  an  dem  dazu  nötigen  Mute 
gefehlt  hätte.  Noch  nach  Abschluß  der  Vernehmungen 
schrieb  er  an  den  Verhörrichter  eigenhändig  sechs  frei- 
willige ausführliehe  Bekenntnisse  zwischen  dem  27. 
August  und  22.  September  nieder;  in  diesen  fügte  er  den 
früheren  immer  wieder  neue  Geständnisse  hinzu;  durch 
seine  Geständnisse  hat  er  sich  allmählich  in  eine  solche 
Scham,  in  einen  so  tiefen  Abscheu  vor  sich  selbst  hineingelebt, 
'daß  er  in  all'  seinem  Tun  und  Lassen  nur  noch  Aus- 
fluß seiner  Eigenliebe,  Unzucht,  Völlerei,  Verschwen- 
dung, Genußsucht  und  Bosheit  zu  erkennen  vermag  und 


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—    565  — 

in  Absicht  und  Tat  für  das  verworfenste  Scheusal  der 
Erde,  für  das  größte  Ungeheuer,  das  die  Erde  getragen, 
angesehen  seiu  will.  Tief  hat  ihn  die  Leichenrede  auf 
Hemmeier  gerührt;  der  bloße  Anblick  seines  Opfers 
senkt  ihn  in  des  Jammers  Tiefen.  Er  erklärt,  auf  einen 
Verteidiger  zu  verzichten  und  seiner  eigenen  „Ver- 
teidigung* eine  schriftliche  „demütige  Supplikation" 
an  seine  Richter  vorzuziehen.  Er  hält  sich  des  Todes  für 
schuldig  und  wünscht  den  Tod  auf  dem  gesetzlichen  Wege. 

Am  20.  August  legte  der  Verhörrichter  die  Unter- 
suchungsakten Desgouttes  der  Kriminal-Kommission  des 
Obersten  Appellations-Gerichts  der  Stadt  und  Republik 
Bern  vor  und  am  23.  August  konnte  der  Präsident  der 
Kriminal-Kommission  zu  Bern  an  das  Oberamt  Aarwangen 
berichten,  daß  die  Prozeß  Verhandlung  zu  Ende,  die 
wichtigsten  Zeugen  vernommen  und  die  nötigen  Infor- 
mationen eingeholt  seien;  er  übermittelte  die  Akten  dem 
Amtsgericht  Aarwangen  als  erstinstanzlichem  peinlichen 
Richter  zur  Beurteilung,  wobei  er  der  Meinung  Ausdruck 
gab,  die  Eingeständnisse  des  Delinquenten  eigneten  sich 
so  wenig  zur  Bekanntmachung  wie  zu  einer  längeren 
Behandlung.  Das  Oberamt  zu  Aarwangen,  bestehend  aus 
drei  Amtsrichtern  und  zwei  Suppleanten  unter  dem  Vor- 
sitze des  Amtsstatthalters,  erkannte  am  2.  September 
einmütig  auf  schuldig  des  Meuchelmordes  und  der  Ver- 
urteilung zur  Hinrichtung  durch  das  Schwert.  Woraufhin 
das  Oberste  Appellationsgericht  zu  Bern  revisionsweise  zu 
Recht  sprach  und  am  27.  September  erkannte :  Der  Delin- 
quent solle,  nachdem  er  in  Sachen  seines  Heils  unter- 
richtet sein  würde,  auf  der  Richtstätte  vom  Leben  zum 
Tod  hingerichtet,  zuerst  erwürgt  und  dann  gerädert,  sein 
Leichnam  hernach  auf  das  Rad  geflochten,  erst  am  Abend 
davon  abgenommen  und  zuletzt  an  dem  verschmäheten 
Orte  verscharrt  werden.  Aus  seinem  allfälligen  Ver- 
mögens-Nachlaß sollen  sowohl  Schaden-Ersatz  als  auch 


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die  Kosten  der  Prozedur,  Gefangenschaft  und  Hinrichtung 
bestritten  werden. 

Diese  Exekution  wurde  au  dem  Verurteilten  zu 
Aarwangen  am  30.  September  vollzogen;  der  Delinquent 
zeigte  bis  zum  Lebensende  eine  außerordentliche  Geistes- 
gegenwart und  Standhaftigkeit  und  ging  seinem  Tode 
mit  Reue  und  Ruhe  entgegen. 

Die  letzte  Stunde  des  Mörders  behandelt  eine  kleine 
Druckschrift,  deren  wortgetreuer  Abdruck  hier  folgt: 

Rührende  Standrede  des  hingerichteten 
Johann  Franz  Nikiaus  Desgouttes  von  Bern, 
ehemaligen  Doktors  der  Rechte  in  Langen- 
thal, mit  Christlicher  Unerschrockenheit  vor- 
getragen auf  dem  Hinrichtungsplatze  zu  Aar- 
wangen den  30.  Herbstmonat  1817.  —  (Sein  Vortrag 
war  feurig  und  schnell.)  —  Bern,  gedruckt  bey  Ulr.  Niki. 
Schönauer,  No.  218  am  Stalden. ') 

Zahlreich  versammelte  Zuschauer  meiner  wohlver- 
dienten Todesstrafe,  die  Mehrern  ohne  Zweifel  auch 
Zeugen  meines  ungläubigen  sünden vollen  Lebens! 

Höret!  ach  höret  nun  die  letzten  Worte  eines  reuig 
sterbenden  Uebelthäters !  Ja!  ich  bin  es  der  Allerheiligsten 
Ehre  meines  tief  beleidigten  himmlischen  Vaters  und 
Heilandes,  ich  bin  es  Seiner  mit  Füßen  getretenen 
göttlich  wahren  Religion  schuldig,  ich  bin  es  allen  durch 
mich  Geärgerten,  im  Glauben  Irregemachten  und  Ver- 
führten und  auch  dem  Heil  meiner  eigenen  armen  Seele 
schuldig,  noch  vor  meinem  Ende  ein  lautes  öffentliches 
Bekenntniß  vor  Euch  abzulegen  und  Euch  zu  sagen, 
wohin  die  verbleuderische  Zaubergewalt  der  von  mir  so 
vergötterten  sogenannten  Welt- Weisheit,  die  vor  Gott 
wahre  Thorheit  ist,  mich  in  meinem  Leben  gebracht  und 
durch  was  für  erbarm ungs volle  Führungen  und  ehemals 

*)  4  Seiten  ohne  Paginierung  in  Quart,  mit  Trauerrand. 


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von  mir  verachtete  Kräfte  raein  ganz  verarmter  Geist 
aus  dem  tiefen  Abgruude,  worinnen  ich  mit  Leib  und 
Seele  ewig  verloren  gewesen  wäre,  zu  dem  gegenwärtigen 
glückseligen  Zustand  wieder  erhoben  worden  sey. 

Glaubt  mir,  theure  Freunde!  daß,  wenn  an  irgend 
einen  Menschen  alle  Aufopferungen,  Mühe  und  Unterricht 
zur  höchstmöglichen  Bildung  seines  Verstandes  verwendet 
worden,  welche  heutzutage  meist  für  hinreichend  gehalten 
wird,  um  den  Menschen  wahrhaft  gut  und  glückselig 
machen  zu  können,  so  ist  es  gewiß  an  mir  geschehen.  Auch 
habe  ich  bey  der  Welt  aller  daraus  fließenden  schönen 
Vorzüge  genossem  — 

Aber  ach!  was  ist  bey  aller  hohen  Erziehung  des 
Verstandes  eine  von  angeborner  Ehrsucht,  Hochmuth, 
Fleischeslust  und  Liebe  zur  Eitelkeit  irregeführte  und 
überdieß  noch  von  Unglaubens-  und  Romanbücher-Gift 
verfinsterte  menschliche  Vernunft,  die  sich  selbst  über- 
lassen und  vom  allmächtig  verbessernden  Lichte  des 
Geistes  und  Wortes  Gottes  leer  bleibet?  Ein  unge- 
staltes  Ungeheuer,  ein  gefährliches  Irrlicht,  eine  Seelen- 
mörderin und  höchste  Feindin  zeitlichen  und  ewigen 
wahren  Glücks!  —  bey  welchem  allem  sie  doch  auf 
eingebildete  Weisheit  und  Kräfte  so  stolz  ist. 

Ja!  vor  den  Ohren  meines  Obersten  Richters,  vor 
dem  keine  Heucheley  mehr  möglich  ist,  bekenne  ich 
hier  mit  bald  sterbendem  Munde,  aus  aller  Kraft  meines 
Herzens:  ,Einzig  und  allein  diese  thörichte  Vernunft 
und  die  Verführerin  so  vieler  Tausenden,  die  falsche 
Weltweisheit  war  es,  welche  zuerst  zum  verborgenen 
Fall  den  Grund  legte,  dann  von  einem  Laster  zum 
andern  mich  verstrickte,  mein  Herz  zu  einer  unreinen 
Wohnung  aller  bösen  Anschläge  machte  und  mich,  da 
ich  nach  völliger  Sünden-Freyheit  und  Ruhe  vor  dem 
Nagen  meines  Gewissens  dürstete,  auch  noch  in  die 
schrecklichsten  Finsternisse  der  Verachtung  und  Verspott- 


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ung  alles  Glaubens  an  einen  Gott  und  Heiland,  an 
Unsterblichkeit  und  ewige  Vergeltung  hineinsenkte, 
worinnen  ich  dann  der  vollkommensten  Herrschaft  aller 
wilden  Geister  und  Leidenschaften  und  endlich  auch  dem 
Mord-Geiste  so  preisgegeben  war,  daß  ich  keine  Ruhe 
mehr  hatte,  bis  ich  hier  anlangen  mußte/ 

Aber  wer  hat  mich  dagegen  aus  diesem  Elend  heraus- 
gezogen? O,  wer  anders  als  alleine  die  göttliche 
Barmherzigkeit,  die  auch  mir,  ihrem  Verächter, 
immer  noch  mitleidsvoll  nachgieng!  Ja,  durch  sie  allein 
bin  ich  in  die  heilsame  Stille  der  Gefängnisse  geführt, 
über  meinen  schrecklichen  Seelenzustaöd  erleuchtet  und 
zum  Nachdenken  gebracht,  durch  sie  allein*  bin  ich  vor 
völliger  Verzweiflung  bewahret  und  endlich  als  ein  tief 
gedemüthigter  armer  Sünder  mit  allen  meinen  unnenn- 
baren Sündengräueln,  zu  meiner  allertiefsten  Beschämung, 
zu  unbegreiflicher  Gnade  wieder  angenommen  worden ; 
wofür  ich  sie  ewig  nie  würdig  genug  werde  preisen 
können. 

Und  nun  bekenne  ich  aus  innigst  dankbarem 
Herzen  ebenfalls  öffentlich:  Daß  allein  Jesus  Christus, 
der  wahre  Gott- Mensch,  mein  Heiland  und  Retter 
geworden  sey;  daß  Er  auch  für  mich  hier  gelebt,  Sein 
unschuldiges  Blut  vergossen  und  den  Kreuzestod  zur 
Versöhnung  für  meine  Sünden  ausgestanden  habe,  daß 
Er  alleine  mich  ewig  fluchwürdigen  Süuder  aus  dem 
Sumpfe  von  Elend,  worin  jene  verkehrte  Weltweisheit 
mich  bereits  versenkt  hatte,  errettet;  ja  daß  ich  auch 
nur  durch  Seine  Kraft  alleine  (indem  ich  aus  mir  selber 
nichts  bin  noch  vermag)  bis  auf  diesen  Augenblick  noch 
von  der  Furcht  des  Todes  frey  und  ruhig  geblieben  und 
nun  vertraue,  daß  Er  mich  auch  zur  letzten  Arbeit  bev 
der  Zerstörung  meines  schwachen  Fleisches  allmächtig 
stärken  und  in  Sein  herrliches  Reich  hinüber  führen 
werde! 


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O  Ihr  alle,  lieben  Freunde!  höret  doch  diese  Stimmen 
eines  sterbenden  Sünders  an  Eure  Herzen !  Glaubet  doch 
an  Euere  Gott  und  Heiland!  Haltet  Euch  ganz  und 
ewig  an  Ihn!  Ohne  Ihn  seid  Ihr  fast  ohne  Rettung 
verloren,  Ihr  möget  thun,  was  Ihr  wollet!  Der  Herr  er- 
barme sich  über  Euch  alle!  Betet  nun  für  mich,  daß  Er 
sich  auch  über  mich  erbarme!  — 

Und  nun  will  ich  eilen!  [Hier  erhob  er  mit  in  die 
Höhe  gerichteten,  gefalteten  Händen  einen  unaussprech- 
lichen Blick  in  den  heitern  Himmel]  Denn  meine  Seele 
sehnet  sich  nach  dem  Himmlischen  Vater  und 
seinem  liebenswürdigsten  Sohne  Jesu  Christo, 
vor  welchem  ich  nun  bald  erscheinen  zu  können  mich 
freue!  Ihm  übergebe  ich  zum  letztenmale  meinen  Leib 
und  meine  Seele  zum  ewigen  Eigenthum!  Amen. 

(Hierauf  entkleidete  er  sich  selbst  mit  aller  Ruhe 
und  legte  sich  sanft  auf  das  Todeswerkzeug  nieder,  bis 
er  mit  ernstem  Blicke,  aber  standhaft  ruhig  bis  an's 
Ende,  die  Augen  schloß.) 


II.  Franz  Desgouttes'  Leben  und  Charakteranlagen. 

0 

Das  zu  Bern  1785  ehelich  geborene  Kind  des  Proku- 
rators Franz  Jakob  Desgouttes  und  seiner  Ehefrau  Jo- 
hanna Margaretha  geb.  Holzer  erhielt  am  8.  März  bei 
seiner  im  großen  Münster  zu  Bern  nach  katholischem 
Ritus  erfolgten  Taufe  die  Namen  Johann  Franz  Nikiaus. 
Franz  hatte  drei  Geschwister:  einen  Bruder  Emanuel  und 
zwei  Schwestern,  die  späteren  Ehefrauen  Steinhäusli  und 
Debary.  Sein  Großvater  väterlicher  Seits  hatte  nach 
Angabe  des  Pfarrers  Friedrich  Rütimeyer  nicht  wenig 
Ueberspanntes  in  seinem  ganzen  Wesen  gehabt  und  sein 
Großonkel  war  ein  „blödsinniger  Verrückter.*  Franz 


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blieb  nur  bis  in  sein  7.  Jahr  im  Vaterhause  zu  Langen- 
thal unter  der  Aufsicht  seiner  Mutter  und  wurde  als- 
dann in  verschiedene  Pensionsanstalten  gegeben.  Erst 
den  14  Jahre  alten  und  ziemlich  verwahrlosten  Knaben 
nahm  der  Vater  wieder  auf  und  übergab  ihn  dem  Reli- 
gionsunterrichte eines  Pfarrers,  bei  welchem  sich  der  junge 
Mensch  mit  großem  Eifer  zum  hl.  Abendmahle  vor- 
bereitete; nicht  leicht  habe,  gesteht  er  selbst,  jemand 
diese  Handlung  so  feierlich  begangen  und  sein  Leben  sei 
dazumal  fleckenlos  und  untadelhaft  gewesen.  Bis  Juli 
1800  blieb  er  im  Vaterhause  mit  den  Vorbereitungen  zu 
einem  Lebensberufc  bes.  durch  Kopieren  von  Rechtsschriften 
beschäftigt  und  kam,  nachdem  er  in  Lützel flüh  beim 
Pfarrer  Moser  sich  schöne  Kenutnisse  in  Philosophie  und 
Sprachen  angeeignet  hatte,  1802  nach  Lausanne,  wo  er 
leichtsinnig  Schulden  machte,  in  seiner  Not  einen  Ge- 
nossen bestahl,  ertappt  entfloh,  aber  nach  erfolgter  Fest- 
nahme nach  Langenthal  geschafft  wurde.  Der  ratlose 
Vater  gab  den  ungeratenen  Sohn  1803  einer  Frau  de 
Feiice  zu  Yverdon  in  Kost,  nahm  ihn  aber  1804  wieder 
zu  sich,  da  der  junge  Mensch  nichts  lernte,  allerhand 
Unfug  trieb  und  „nur  eine  Tugend,  die  der  Mäßigkeit  im 
Trinken,  zeigte,"  woher  er  den  Namen  boi  l'eau  (Wasser- 
trinker) erhielt.  Im  Herbst  1804  bezog  er  die  Univer- 
sität Tübingen*  welche  er  1806  mit  dem  Diplom  eines 
Doctor  juris  wieder  verließ.  Im  Elternhause  wurde  er  nun 
vom  Vater,  der  viele  Schulden  für  ihn  zu  bezahlen 
hatte,  streng  gehalten,  was  ihn  mißmutig  machte  und 
ihn  nicht  nur  zu  tollen  Streichen  trieb,  sondern  auch  zum 
unmäßigen  Trinken,  dem  er  sich  in  Tübingen  schon  er- 
geben hatte,  veranlaßte,  um  seinen  Unmut  zu  betäuben; 
er  trat  in  ein  sinnliches  Verhältnis  zur  Dienstmagd  seines 
Schwagers  und  zog  mit  ihr  Monate  hindurch  im  Lande 
umher,  bis  er  1807  bei  einem  Einbruchsversuche  fest- 
genommen und  zu  seinem  Oheim  nach  Bern  geschafft 


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wurde;  als  er  auch  hier  sich  schlecht  führte,  ward  er  ge- 
zwungen, im  3.  Schweizer  Regiment  zu  Beifort  franzö- 
sische Dienste  zu  nehmen ;  nach  zweimaliger  Desertion, 
einem  tollen  Leben  und  einer  Gefangenschaft  von  135 
Tagen  wurde  er  im  Mai  1809  nach  Hause  entlassen,  ob- 
wohl er  erst  1812  seinen  eigentlichen  Militärabschied 
erhielt.  Im  Elternhause  geriet  er  1813  in  schwere  Ver- 
schuldung, die  ihn  außerordentlich  drückte;  ein  Lotterie- 
gewinn im  Jahre  1814  deckte  zwar  einen  Teil  derselben, 
machte  jedoch  den  glücklichen  Gewinner  um  so  kühner 
im  Einsetzen.  Alles  in  allem  war  dieser  Zeitraum  der 
glücklichste  in  seinem  unruhigen  Leben,  indem  Franz  ganze 
7  bis  8  Monate  hindurch  des  Genusses  geistiger  Getränke 
sich  enthielt.  Aber  nach  einem  Mägdewechsel  im  Eltern- 
hause ergab  er  sich  sinnlichen  Ausschweifungen  mit  der  neu 
eingetretenen  Dienstmagd;  diese  erklärte,  um  ihn  auszu- 
nutzen, sich  als  von  ihm  geschwängert  und  da  er  nun 
beträchtliche  Summen  bezahlen  mußte,  verlor  er  bis  in 
den  Herbst  1815  alle  Besinnung,  machte  zu  seiner  Zer- 
streuung kostspielige  und  unsinnige  Reisen  und  ergab 
sich  dem  Trünke,  so  daß  ihn  bald  wieder  eine  große 
Schuldenlast  drückte.  Eine  Prokuratorstelle,  auf  welche 
er  rechnete,  erhielt  er  nicht,  ein  Unglück,  welches  seinem 
starblinden  Vater  den  physischen,  ihm  den  moralischen 
Todesstoß  versetzte.  Sein  Verkehr  mit  Hemmeier  be- 
darf einer  gesonderten  Behandlung. 

Frauz  Desgouttes  war  ein  Mann  von  schlankem, 
hohem  Wüchse  mit  kastanienbraunem  Haar  und  eben- 
solchen Augenbrauen,  grauen  Augen,  mittelgroßem  Munde 
und  langer  Habichtsnase.  Er  war  Gemütsmensch  und 
nichts  weniger  als  kalter  Verstandesmensch.  Seine  Seele 
war  voller  Einbildungskraft  und  seine  Phantasie  von 
außerordentlicher  Lebhaftigkeit;  nachdem  er  ein  medi- 
zinisches Buch  studiert,  glaubte  er  alle  Krankheiten  zu 
besitzen,  von  denen  er  gelesen  hatte;  die  Schilderungen  ge- 


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schichtlicher  und  dichterischer  Werke  vergegenwärtigte  er 
sich  mit  solcher  Unmittelbarkeit,  daß  er  bei  ihrer  Wiedergabe, 
mit  der  er  einsame  Stunden  ausfüllte,  in  starke  Er- 
regung geriet  und  dann  bisweilen  ganz  unkenntlich 
wurde;  besonderes  Wohlgefallen  fand  er  am  Ueber- 
triebenen;  die  Musik  besaß  eine  große  Macht  über  sein 
Gemüt;  obwohl  ein  Verächter  des  „Pfaffenwesens*  und 
der  Klosterbrüder  zeigte  er  sich  besonders  als  werdender 
Jüngling  und  als  Delinquent  von  tiefgehender  Religiosität. 
Bei  solch'  eigenartiger  Veranlagung  fanden  sich  in  seinem 
Wesen  die  widersprechendsten  Charaktereigenschaften 
nebeneinander;  bald  war  er  lange  Zeit  völlig  nüchtern, 
bald  ergab  er  sich  dem  Trünke  bis  zur  Besinnungs- 
losigkeit; in  der  Trunkenheit  faßte  er  Entschlüsse  zu 
Diebstahl,  Einbruch  und  Mord,  vor  deren  Ausführung  er 
nach  erfolgter  Ernüchterung  mutlos  zurückbebte:  „Alle 
Ausführungen  unterblieben,  nicht  aus  Tugeud,  sondern 
aus  Mangel  an  Mutb";  ja  die  Furcht  vor  Gespenstern 
und  Mördern  in  seiner  Knabenzeit  ward  er  auch  später 
nicht  ganz  los;  einmal  voll  Offenheit,  Lebensart  und  Witz, 
ja  selbst  kindischen  Scherzen  nicht  abgeneigt,  war  er  das 
anderemal  launisch,  verdrießlich  und  abstoßend ;  bisweilen 
von  einem  solchen  Jähzorn  besessen,  daß  er  alles  zer- 
schlug, was  ihm  erreichbar  wurde,  schämte  er  sich  im 
nächsten  Augenblicke  seiner  selbst  und  verfiel  dann  in 
eine  an  Schwäche  grenzende  Gutmütigkeit;  er  brachte 
es  fertig,  zu  stehlen,  wo  es  etwas  zu  nehmen  gab,  und  zeigte 
doch  überall  eine  auffallende  Geringschätzung  des  Geldes, 
indem  er  mit  demselben  mitleidsvoll  Bedürftige  beschenkte; 
fleißig  und  belesen,  schlug  seine  anhaltende  Arbeitskraft 
urplötzlich  in  Unfähigkeit  und  Widerwillen  um ;  dann 
raste  er  fort,  durchjagte  Flur  und  Wald  und  nahte  nur 
nachts  den  Dörfern;  ohne  jede  Spur  von  Eltern-  und 
Geschwisterliebe  erwies  er  sich  fremden  einfachen  Leuten 
als   einen    „ herrlichen  Ratgeber-.     Den    Verdacht  der 


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Blutgier  wollte  er  nicht  auf  sich  sitzen  lassen:  Wenn  er  mit 
Pistolen  knallte,  so  sei  es  nicht  geschehen,  um  Vögel  und 
andere  Tiere  zu  töten,  sondern  lediglich,  um  ein  Echo 
hervorzubringen,  an  dem  er  seit  seinem  13.  Jahre  ein 
lebhaftes  Wohlgefallen  gehabt;  einem  jungen  Fuchs,  den 
er  eine  Zeitlang  gehalten  und  sehr  geliebt  hatte,  habe  er 
in  plötzlicher  Eingebung  den  Kopf  vom  Rumpfe  getrennt, 
weil  der  Unhold  ihn  und  andere  gebissen  habe.  Sein 
Geschlechtstrieb  erwachte  bereits  in  seinem  14.  Jahre  und 
sofort  gebieterisch;  zeitlebens  war  er  von  gänzlich  unge- 
bändigter  und  unbefriedigter  Sinnenlust ;  wenn  schon  das 
Lesen  von  Wieland's  „Agathon"  ihn  zu  sinnlichen  Aus- 
schweifungen verleitete,  wie  müssen  erst  Beispiele,  die  er 
erlebte,  auf  ihn  eingewirkt  haben! 


III.  Franz  Desgouttes'  Liebesleben. 

Für  die  Kenntnis  des  Liebeslebens  Franz  Desgouttes' 
liefert  neben  den  Prozeßakten  sein  Tagebuch  ein  bedeut- 
sames Quellenmaterial.  Wie  aber  einerseits  die  Prozeß- 
akten Angaben  Desgouttes*  über  seine  Pläne  und  Absichten 
enthalten,  welche  von  ihm  selbst  als  zweifelhaft  hinge- 
stellt werden  oder  einander  zu  widersprechen  scheinen, 
auch  den  Eindruck  erwecken,  als  ob  sie  durch  au  ihn 
gerichtete  Fragen  beeinflußt  oder  unter  dem  Drucke 
seines  Abscheus  vor  seiner  eigenen  übertriebenen  Schlechtig- 
keit ihm  in  die  Feder  geflossen  seien,  so  erstreckt  anderer- 
seits das  Tagebuch  sich  nur  über  den  Zeitraum  eines 
einzigen,  des  letzten  Jahres  seines  Lebens.  Scheint  so 
viel  gewiß  zu  sein,  daß  Desgouttes  sich  nicht  allein  in 
maßloser  Weise  der  einsamen  Onanie  ergab,  sondern  auch 
seinen  Mitmenschen  gegenüber  von  fast  schrankenloser 
Sinnlichkeit  war,  indem  ihn  das  Verlangen  trieb,  alle 
hübschen  Mädchen  zu  verführen  und  mit  allen  hübschen 


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—   574  — 


Knaben  und  Jünglingen  sich  zu  vereinigen1),  so  ist  nicht 
minder  gewiß,  daß  er  einzig  den  Hemmeier  mit  Leib  und 
Seele  geliebt  hat,  den  Hemmeier,  der  das  Glück  und  das 
Unglück  seines  Lebens  war. 

Desgouttes*  Geschlechtstrieb  war  bereits  erwacht,  als 
der  Knabe  in  der  zweiten  Hälfte  des  Jahres  1800,  15 
Jahre  alt,  beim  Pfarrer  Moser  iu  Lützelflüh  als  einziger 
Schüler  und  Tischgenosse  lebte;  er  war  hier  „leider  zu 
oft  einsam"  und  diese  Einsamkeit  entwickelte  immer 
mehr  die  „unglücklichen"  Anlagen  seiner  lebhaften  Ein- 
bildungskraft; er  hatte  bereits  „Visionen"  aller  Art,  die 
„ verzerrtesten  Bilder  der  Imagination*  umlagerten  ihn 
unaufhörlich;  das  war  auch  der  Grund,  warum  er  in 
dieser  Zeit  öfters  „Unzuchtsüuden"  trieb,  die  seine  Nerven 
schwächten  und  ihn  noch  reizbarer  machten.  Ueberhaupt 
fing  nach  erwachter  Phantasie  seine  Unzucht  mit  Onanie 
an,  besonders  geweckt  durch  die  Lektüre  von  Wieland's 
„  Agathon „Dieses  schreckliche  Laster*  verließ  ihn  nie 
und  er  hat  es  „in  einem  unglaublichen  Maße*  getrieben; 
zum  letzten  Male  geschah  das  am  28.  Juli  1817  Morgens 
nach  einem  Attentat  auf  Hernmeier,  nur  einen  Tag  vor 
der  Ermordung  dessen,  den  er  von  allen  Menschen  am 
meisten  und  innigsten  liebte.  Die  Onanie  und  die  Trunk- 
sucht redete  er  sich  selbst  als  „Produkte"  seiner  Phantasie 
und  als  die  Grundlagen  aller  seiner  Verbrechen  ein.  In 

l)  Ob  es  richtig  wäre,  den  Desgouttes  wegen  dieser  Vielseitig- 
keit (mit  dem  Verfasser  der  Schriften  „§  143  des  Preußischen  Straf- 
gesetzbuchs" und  „Das  Gemeinschädliche  des  §  143  des  Preußischen 
Strafgesetzbuchs  vom  14.  April  1851",  Leipzig,  Serbe  1869)  als 
Mono-,  Homo-  und  Normal-Sex ualisten  zu  rubrizieren,  ist  eine 
andere  Frage.  Gibt  es  doch  Kenner  des  Sexuallebens,  welche  das 
Vorkommen  von  Bisexualität  entschieden  in  Abrede  stellen;  ein 
Physiognom  des  Urningtums  schrieb  mir  in  Bezug  auf  Goethe 
.  .  .  „in  modo  ejacutationis,  ja,  da  kenne  ich  Menschen,  denen  ist 
es  gleich,  ob  sie  rechts  oder  links  gehen;  in  modo  araoris,  nein, 
ganz  entschieden  nein,  da  kenne  ich  niemanden". 


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—    575  — 


eiuem  seiner  freiwilligen  schriftlichen  Bekenntnisse  an 
den  Verhörrichter  von  Bern  sagt  er:  »Ich  bitte  den 
Hohen  Richter  um  Gotteswillen,  ich  beschwöre  Hochden- 
selben um  des  höchsten  letzten  Gerichts  willen,  alle  Haus- 
und Familienväter  furchtbar  und  ernstlich  zu  warnen, 
auf  ihre  Kinder  ein  unendlich  wachsames  Auge  zu  haben, 
denn  diese  Seuche  herrscht  allgemeiner,  als  Jemand 
glaubt  —  In  meinem  Pulte  in  der  mittlem  Stube  liegt 
ein  von  Hamburg  gekommenes  Mittel,  weiches  dazu  dient, 
den  geschwächten  Körper  herzustellen;  aber  man 
sollte  darüber  einen  nicht  selbstsüchtigen  Arzt  fragen, 
ehe  man  es  bekannt  macht.  Doch  wenn  nur  die  Jugend 
streng  beobachtet  wird,  so  bedarf  man  solcher  Mittel 
nicht.  —  Solche  schreckliche  unnatürliche  Verbrechen 
entquillen  aus  der  Ouanie,  wie  ich  begangen  habe. 
Möchte  ich  der  letzte  Onanit  gewesen  sein!" 

Von  fast  unbegrenzter  Eindrucksfähigkeit  gegenüber 
seiner  Gattung  fand  seine  Phantasie  in  Finsternis  und  Ein- 
samkeit Erlösung  allein  in  der  Onanie;  im  Bette  wirkte 
die  Imagination  so  ausgedehnt,  daß  sie  ihm  Bilder  bestimmter 
männlicher  oder  weiblicher  Personen  vorspiegelte,  ihm 
Gemälde  von  Wollust  vorzauberte  und  Begierde  nach 
Genuß  in  ihm  erweckte,  welche  nach  seinen  Eingeständ- 
nissen hin  und  wieder  nicht  an  der  Sinnenlust  der  Liebe  Ge- 
nüge fand,  sondern  mit  Mordgedanken  in  Verbindung  trat; 
nach  erfolgter  Erlösung  durch  Onanie  unterblieb  alsdann 
die  Ausführung  sowohl  des  Mordplanes  als  des  erträumten 
Sinnengenusses;  in  diesen  Zuständen  kommt  bei  Des- 
gouttes  das  Pathologische  unverkennbar  zum  Durchbruch. 

Die  dominierende  Triebrichtung  in  Desgouttes'  Ge- 
schlechtsleben vom  Erwachen  der  Phantasie  und  der  ersten 
Regungen  an  bis  zur  Mordkatastrophe  war  und  blieb  die 
auf  jugendliche  männliche  Personen;  hier  fühlte  sich  seine 
Geschlechtsnatur  in  ihrem  wahren,  eigentlichen  Elemente 
und  wurde  von  einer  Person  auf  Jahre  hinaus  gefesselt. 


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—    57(5  — 


In  Zofingen  schlief  der  junge  Desgouttes  1799,  14 
Jahre  alt,  gewöhnlich  bei  dem  siebenjährigen  Sohne  des 
Schulmeisters  Sutermeister ;  schon  hier  begann  er  Wollust- 
trieb zu  fühlen  und  „vereinigte-  sich  mit  dem  Knaben; 
„  allein  aus  Mangel  an  Kraft  erfolgte  nichts."  In  Lützel- 
flüh hat  er  1801  „einen  kleinen  Knaben  mißbraucht"; 
derselbe,  gibt  er  an,  sei  «längst,  aber  nicht  dadurch, 
verstorben.*  1802  trieb  Desgouttes  in  Lausanne  mit 
seinem  Schlafkameraden  Jakob  Mettler  „ öfters  Unzucht" ; 
wie  zu  seiner  Entschuldigung  fügt  er  bei:  „Dieselbe  hatte 
aber  keine  Folgen  für  ihn".  In  seiner  Soldatenzeit  er- 
lebte Franz  mannigfache  Szenen  von  Ausgelassenheit  der 
Soldaten  mit  dem  anderen  Geschlecht;  doch  scheinen 
solche  ihn  nicht  sonderlich  angefochten,  seine  Sinne  zur 
Nachahmuug  gar  nicht  gereizt  zu  haben.  Dahingegen  er- 
innerte er  sich  lebhaft,  wie  zu  Lille  im  Bette  neben  ihm 
„ein  Freiburgischer  Bedienter  mit  einem  jungen  Trommel- 
schläger beinahe  alle  Nächte  sein  Wesen  trieb",  was 
seine  Phantasie  dazumal  (1808)  außerordentlich  in  Be- 
wegung setzte.  Er  selbst  schlief  zu  Beifort  gegen 
Ende  seines  Dortseins  (1809)  mit  einem  jungen  Re- 
kruten in  einem  Bette,  „woselbst  leider  das  Laster 
der  Unzucht  öfter  getrieben  ward,  und  zwar  von  beiden 
Seiten."  Im  Januar  1811  befand  sich  beim  Amtsweibel 
Johann  Dennler  in  Langenthal  ein  Pensionär  von  16 
Jahren,  Louis  Vuillemier;  schon  bei  seiner  ersten  Bekannt- 
schaft mit  diesem  Jünglinge,  der  vom  Zeugen  Dennler 
als  „ganz  verdorben"  gekennzeichnet  wird,  faßte  Des- 
gouttes den  Entschluß,  ihn  sich  anhänglich  und  dann 
willfährig  zu  machen.  Er  entführte  ihn  in  der  Nacht 
vom  Donnerstag  auf  den  Freitag  und  trieb  während  der 
Flucht  im  Bette  mit  ihm  „Unzucht",  wurde  aber  schon 
am  Samstag  mit  dem  jungen  Menschen  vom  Knecht 
seines  Vaters  wieder  eingeholt  und  kehrte  willig  zum 
Vater  zurück ;  er  hatte  geplant,  auf  einen  von  ihm  selbst 


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—   577  — 


gefälschten  Paß  als  Karl  Meyer  mit  dem  Vuillemier 
als  seinem  Bedienten  Ludwig  Ernst  nach  Zug  zu  seiner 
Schwester  und  von  da  nach  Deutschland  zu  wandern. 
Kaum  zu  Hause  wieder  eingebracht,  beschloß  er  einen 
zweiten  Entführungsversuch  des  Vuillemier;  er  wollte  in 
das  Haus  des  Amtsweibels  dringen,  durch  des  Kostherrn 
Stube  schleichen,  bei  Widerstand  Gewalt  gebrauchen,  den 
Vuillemier  zur  „Unzucht"  und  Flucht  bewegen  und  im 
Falle  seines  Widerstrebens  oder  selbst  nach  erreichtem 
Genüsse  den  jungen  Menschen  umbringen;  zunächst 
aber  berief  er  den  Vuillemier  in  seine  Wohnung  und 
redete  auf  ihn  zu  einem  nochmaligen  Fluchtversuche  ein; 
als  aber  der  Gegenstand  seiner  Wollust  ihm  trotzig  be- 
gegnete und  nicht  einwilligen  wollte,  so  kam  ihm  in  der 
Angetrunkenheit  der  teuflische  Gedanke,  schon  jetzt  den 
Widerstrebenden  zu  töten  und  in  den  Abort  zu  werfen; 
nur  die  Stimme  eines  Freundes  des  Vuillemier,  der  diesen 
auch  mit  Desgouttes  zusammengebracht  hatte  und  vor 
dem  Desgouttes  sich  scheute,  hielt  letzteren  von  der  Aus- 
führung seines  Vorhabens  ab.  Auch  den  eigenen  Sohn 
des  Amtsweibels  Dennler,  ein  Bürschcheu  von  1 1  Jahren, 
schonte  er  nicht;  ihn  hat  er  um  eben  diese  Zeit  ,ein 
paar  mal  in  sein  Zimmer  gelockt  und  mit  ihm,  jedoch 
nicht  nackt,  dieses  Laster  ausgeübt."  Er  fügt  hinzu,  der 
Knabe  habe  nichts  davon  gewußt  und  befände  sich  jetzt  im 
Wraadtland.  Späterhin  hatte  er  noch  geschlechtlichen 
Umgang  mit  einem  Jakob  Kummer,  mit  einem  Nach- 
barssohne Johannes  Madliger  und  mit  dem  zur  Zeit  des 
Mordes  an  Hemmeler  22  Jahre  alten  Analphabeten 
Jakob  Herzig. 

In  allen  diesen  und  überhaupt  allen  Fällen  der  Aus- 
übung seines  Geschlechtstriebes  an  männlichen  Personen 
bekennt  sich  Desgouttes  als  den  „Selbstverführer*  und 
gesteht:  „Die  Phantasie  half  mir  leider  nur  allzu  ge- 
treulich nach." 

Jahrbuch  V.  37 


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—   578  — 


Da  trat  1810  Daniel  Hemnieler,  IG  Jahre  alt, 
als  Kopist  in  den  Dienst  des  alten  Desgouttes,  in  dessen 
Hause  er  wie  ein  Familienmitglied  gehalten  wurde.  Der 
junge  Desgouttes,  oberflächlicher  Geselligkeit  abhold 
und  doch  durch  seine  starke  Liebesnatur  genötigt,  eng- 
sten Anschluß  zu  suchen,  wo  er  irgend  ihn  finden  konnte, 
gewann  den  um  zehn  Jahre  jüngeren  ordentlichen  und 
fleißigen,  guten  und  tugendhaften  Hausgenossen  lieb  und 
immer  lieber  und  bemühte  sich,  das  Vertrauen  und  die 
Zuneigung  desselben  für  sich  zu  erobern.  Außer  den 
Arbeitsstunden  verlebte  er  die  meiste  Zeit  mit  dem 
Hemmeler;  da  er  von  seinen  akademischen  Freunden 
nur  selten  jemand  bei  sich  sah  und  doch  gelehrte  Ge- 
spräche liebte,  so  war  es  seine  größte  und  reinste 
Freude,  seineu  jungen  Freund,  die  griechischen  Philo- 
sophen nachahmend,  spazierend  zu  unterrichten.  Er 
machte  ihm  oft  kleinere  und  größere  Geschenke  an 
Büchern,  Waffen  und  dergleichen;  auch  sorgte  er  teil- 
nehmend für  dessen  körperliches  Wohlergehen;  er  ba- 
dete mit  ihm  in  einer  Badeanstalt  und  teilte  mit  ihm 
die  Genüsse  des  Weines  und  der  Tafel.  Er  scheint  es 
zuwege  gebracht  zu  haben,  daß  der  junge  Mensch 
Reiz  an  seinem  Umgang  fand  und  ihm  gern  und  allein 
angehörte.  So  wuchs  durch  die  Gewohnheit  und  durch 
die  Möglichkeit,  den  Freund  immer  zu  haben,  wenn  er 
seiner  bedurfte,  Desgouttes'  Zuneigung  zum  Hemmeler 
zu  einer  leidenschaftlichen  Neigung  heran  und  der 
Jüngling  flößte  durch  sein  unschuldvolles  Wresen  dein 
älteren  Manne  überdies  eine  unwillkürliche  hohe  Achtung 
ein,  so  daß  Aussicht  war,  der  leidenschaftliche  Mann  habe 
an  dem  ruhigen,  besonneneu  Jünglinge  den  ihm  so 
nötigen  Halt  für  sein  Leben  gefunden. 

Im  Jahre  1812  begann  Desgouttes  mit  dem  Hem- 
meler in  geschlechtlichen  Verkehr  zu  treten,  während 
bei   dem  Jüngling   der  Geschlechtstrieb   erst    1814  '  er- 


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—   579  — 

wachte;  alsobald  gab  Desgouttes  dem  Unschuldigen 
wollüstige  Bücher  zu  lesen,  um  dessen  Begierde  nach 
geschlechtlichen  Genüssen  in  seinem  eigensten  Interesse 
anzufachen.  Denn  seine  Liebe  zum  Hemmeier  war  doppel- 
ter Art,  war  „edler*  und  „phantastischer",  aber  auch 
„niedriger"  und  „grobsinnlicher*  Natur.  Aber  diese  bei- 
den Seiten  seines  Wesens  flößen  Hemmeier  gegenüber 
völlig  in  einander.  So  oft  er  bei  dem  Geliebten  schlief, 
gewann  er  es  nicht  über  sich,  den  Jüngling  in  Ruhe  zu 
lassen;  wenn  er  dann  bei  diesem  ein  Entgegenkommen 
für  sein  Triebleben  nicht  fand  und  auch  mit  Gewalt  und 
List  nichts  zu  erreichen  vermochte,  so  tat  er,  als  ob  er 
eigentlich  immerdar  „dieses  Laster"  verabscheue  und 
seine  Ausübung  jedesmal  besonders  bereue;  er  unterlieft 
dann  oft  Monate  lang,  den  geliebten  Jüngling  mit  seinen 
Zudringlichkeiten  zu  belästigen,  und  fing  nur  wiederum 
an,  wenn  er  angetrunken  war;  gelegentlich  tat  er  dem 
Widerstrebenden  den  feierlichen  Schwur,  alles  Geschlecht- 
liche ganz  und  gar  zu  unterlassen,  insofern  der  Geliebte 
seine  ganze  Freundschaft  ihm  ungeteilt  schenken  und 
dafür  ihm  auch  Sicherheit  gewähren  wolle.  Aber  der 
.bessere  Mensch*  in  ihm  vermochte  nur  so  lange  sieh 
zu  behaupten,  bis  Hemmeier  eine  Probe  seines  Undanks 
für  Desgouttes'  Sorge  und  Aufwendungen  dadurch  ab- 
legte, daß  er  gleichsam  zum  Trotze  den  Liebhaber  hint- 
ansetzte, was  er  dann  freilich  schon  im  nächsten  Augen- 
blicke, seiner  gutmütigen  Xaturanlage  entsprechend, 
wieder  zu  bereuen  schien;  aber  auch  dann  noch  fügte 
sich  Hemmeler  dem  leidenschaftliehen  Liebhaber  immer 
nur  mit  Widerwillen.  Diese  Art  der  Führung  eines 
halb  zurückgewiesenen  Liebeslebens  kränkte  den  Lie- 
benden tief  und  er  machte  darüber  dem  Geliebten  die 
bittersten  Vorwürfe;  nahm  er  doch  wahr,  daß  durch 
ihren  gemeinsamen  Geschlechtsverkehr  weder  das  physi- 
sche Wesen,  noch  die  moralische  Natur  des.  innigst  Ge- 

37* 


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—    580  — 


liebten  Schaden  litt.  Im  höchsten  Grade  unglücklich, 
fiel  Desgouttes  wiederum  der  Onanie  anheim  und  fühlte 
sich  bald  geschwächt;  dann  schämte  er  sich  gegenüber 
der  größeren  Maunbarkeit  des  Hemmeier,  der  selbst  sei- 
nen Körper  nie  befleckte,  und  in  seinem  Widerstande 
gegen  die  wechselseitige  Selbstbefleckung  ward  dann  Hem- 
nieler  wieder  durch  seinen  unglücklichen  Liebhaber  da- 
durch bestärkt,  daß  dieser  in  ruhigen  Stunden  ihm  über 
das  Abscheuliche  „ dieses  Lasters"  allerlei  Gedanken  dar- 
legte, als  ob  es  seine  eigenen  seien.  Dieses  ewige 
Widerspiel  brachte  den  noch  immer  nicht  verzagenden 
Liebhaber  auf  die  sonderbarsten  Versuche.  Da  Hemmeier 
seinen  geschlechtlichen  Umgang  nicht  suchte,  so  erregte 
Desgouttes,  sobald  seine  Geschlechtslust  wieder  rege 
ward,  oft  künstlichen  Streit  oder  führte  den  Anlaß  zu 
einem  solchen  herbei,  einzig,  damit  Hemmeier  wieder  mit 
ihm  Frieden  schließe  und  dann  in  guter  Laune  seine 
Wollustausbrüche  gestatte;  weigerte  sich  aber  Herameier 
auch  dann,  so  ließ  Desgouttes  ihn  bei  sich  schlafen  und 
erzwang  die  „ Unzucht";  kein  Mittel  ließ  er  unversucht, 
seine  unbefriedigte,  zu  einer  wahren  Satyriasis  ausartende 
Wollust  an  dem  einzig  Geliebten  auszuüben.  Um  den- 
selben geschlechtlich  anzuregen,  ließ  er  den  Hemmeier 
viel  Wein  trinken,  nach  dessen  Genuß  seiner  Erfahrung 
gemäß  auch  regelmäßig  die  erwartete  Wirkung  sich  ein- 
stellte; der  Genuß  von  Canthariden  aber,  die  Desgouttes 
dem  Hemmeier  heimlich  beibrachte,  um  dessen  Ge- 
schlechtsdrang zu  steigern,  hatte  nur  eine  krankmachende 
Wirkung.  Auch  ließ  er  den  Hemmeier  starke  Chocolade 
mit  unsäglich  viel  Zimmet,  den  er  hinzufügte,  des  Abends 
trinken,  dann  vielen  Wein,  alles  in  der  gleichen  Absicht, 
deren  Erreichung  fast  immer  mißlang  oder  ohne  Hcmme- 
ler's  Willen  gelang.  Wenn,  was  öfters  vorkam,  der  an 
hektischer  Anlage  leidende  Hemmeier  erkrankte,  an 
Magenschwäche,  Durchfall  oder  Halsweh   litt,   st)  wich 


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581  — 


Desgouttes  ganze  Tage  und  Nächte  kann»  von  dessen 
Lager  und  verrichtete  für  den,  den  er  über  alles  liebte, 
öfters  die  Geschäfte  der  niedrigsten  Dienstmagd.  Allein 
alles  dieses  konnte  Hemmeler's  Gegenliebe  nicht  er- 
wecken. Obwohl  beide  öffentlich  in  guter  Zufriedenheit 
mit  einander  auszukommen  schienen,  brach  Desgouttes' 
verhaltener  Unmut  mit  der  Zeit  öfter  und  stärker  her- 
vor. Dann  klagte  er  wohl  auch  Personen  seiner  Um- 
gebung, daß  Hemmeier  von  ihm  angebotene  Geschenke 
ganz  ohne  Danksagung  annehme.  Schlug  aber  Hemmeier 
solche  Geschenke,  die  er  für  Bestechuugsgeschenke  an- 
sehen mußte,  gänzlich  aus,  so  konnte  das  den  Desgouttes 
bis  zur  Raserei  empören  und  verleitete  ihn  zu  den  hef- 
tigsten Vorwürfen;  doch  augenblicklich  bereute  er  sein 
übereiltes  Verfahren,  bat  seinen  Liebling  um  Vergebung 
und  bot  ihm,  um  dessen  gänzliche  Zufriedenheit  zu  er- 
wirken, wieder  neue  Geschenke  an.  Geschenke  und 
Vorwürfe  hatten  immer  wieder  den  Hauptzweck, 
den  ungefügigen  Hemmeier  willfährig  zu  machen. 
Dieser  ewige  Wechsel  von  Verdruß  und  halber  Seligkeit 
wirkte  auch  auf  Desgouttes'  sonstige  Launen,  so  daß  sein 
Zustand  bisweilen  schrecklich  war;  alsdann  schonte  er 
niemanden,  mißhandelte  die  Mägde,  schlug  sie  blutwund, 
mißhandelte  den  unschuldigen  Hemmeier  und  zerschlug, 
was  ihm  unter  die  Finger  kam.  Und  doch  fühlte  er 
sich  so  eins  mit  dem  Geliebten,  daß  er  einen  Tadel  über 
ihn  aus  fremdem  Arunde  nicht  ertragen  konnte;  die 
Dienstmagd  Salome  Anderes,  Hemnieler,s  Tante,  welche 
ihrem  Herrn  zu  bemerken  wagte,  daß  der  Hemmeier  des 
Morgens  zu  lange  im  Bette  liege,  zog  sich  augenblicklich 
des  Gestrengen  grimmigsten  Haß  zu,  da  dieses  eine  An- 
gelegenheit beträfe,  in  die  sie  nach  seiner  Ansicht  sich 
nicht  zu  mischen  habe.  So  ganz  war  der  Hemmeier 
Desgouttes'  zweites  Ich  geworden. 

Desgouttes  wollte  seinen  Liebling  allein  für  sich  be- 


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sitzen  und  ihn  ausschließlich  wollüstig  genießen;  er  duldete 
daher  nicht,  daß  irgend  ein  Nebenbuhler  daran  Anteil 
habe;  er  hielt  den  Jüngling  so  lange  wie  möglich  ganz 
davon  ab,  Bekanntschaften  zu  machen,  und  hoffte  so  zu 
verhindern,  daß  derselbe  einen  noch  größern  Abscheu 
gegen  den  geschlechtlichen  Umgang  mit  ihm  empfinden, 
Verachtung  gegen  ihn  fühlen  und  zum  Bewußtsein  des 
Druckes  seiner  tyrannischen  Freundschaft  gelangen  würde. 
Als  aber  der  überall  beliebte  junge  Mann  endlich  doch 
Bekanntschaften  anknüpfte,  entwickelte  sich  bei  Desgouttes 
zu  der  unbefriedigten  Liebe  noch  eine  quälende  Eifersucht. 
Desgouttes'  Anhänglichkeit  an  den  Hemmeier  war  un- 
begrenzt; er  machte  für  denselben  große  Aufwendungen; 
von  dem  Geliebten  fern  zu  sein,  schien  ihm  unerträglich; 
er  dachte  daher  sein  Zusammensein  mit  dem  ihm  Unent- 
behrlichen so  weit  möglich  zu  verewigen  und  ihm  ein 
Glück  zu  bereiten,  das  denselben  über  alle  irdische  Sorge 
hinausheben  sollte;  er  wollte  es  Aufopferungen  aller  Art 
sich  kosten  lassen,  um  dem  Hemmeier  dieses  Glück 
zu  bereiten,  selbst  mit  dem  Opfer  seines  eigenen  irdischen 
Glücks;  so  gedachte  er  durch  vorteilhafte  Verheiratung 
mit  einer  Person,  welche,  weil  sie  weit  älter  war  als 
er  und  unangenehme  Eigenschaften  besaß,  ihn  gewiß 
unglücklich  gemacht  hätte,  in  den  Besitz  eines  stattlichen 
Vermögens  zu  gelangen  und  vermittelst  dessen  dem 
Hemmeier  sich  zu  assoziieren,  um  ihn  so  bis  an  sein 
Lebensende  bei  sich  zu  behalten.  Wirklich  fand  sich  bei 
seiner  Festnahme  am  29.  Juli  1817  in  seinem  Besitze 
eine  vom  25.  Januar  181b*  datierte  Eheversprechuug 
zwischen  Franz  Desgouttes  und  der  Jungfer  Susanne  von 
"Wagner  vor.  Er  plante  sogar,  seinen  anders  gearteten 
Hemmeler  dann  ebenfalls  zu  verheiraten,  unter  dem 
Beding  des  immerwährenden  Bleibens  an  des  Liebhabers 
Seite.  Für  die  Opfer,  die  er  dem  Geliebten  brachte, 
wollte  er  schlechterdings  keinen  Rivalen  neben  sich  dulden, 


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—   583  — 


der  des  Jünglings  Freundschaft  mit  ihm  teilte;  auch 
war  er  überzeugt,  daß  es  niemand  so  gut  mit  dem  Jüng- 
ling meinen  könne  wie  er  und  niemand  daher  dessen 
Freundschaft  so  wie  er  verdiene.  Bloße  Bekanntschaften 
wollte  er  dem  Hemmeier  wohl  erlauben;  dennoch  war 
er  immer  eifersüchtig,  wenn  jemand  sich  vertraulich 
dem  Hemmeier  näherte,  und  er  machte  dem  Freunde  als- 
dann die  bittersten  Vorwürfe  über  seinen  Undank,  der, 
wie  er  selbst  später  seinem  Richter  zugestand,  oft  wirk- 
lich nur  eingebildet  war.  Wenn  Hemmeier  dann  sich 
beleidigt  fühlte  und  aus  purem  Trotze  oft  Stunden  oder 
halbe  Tage  lang  fortblieb,  den  verlassenen  Liebhaber  in 
seiner  ungewollten  Einsamkeit  dann  aber  die  fürchterlichste 
Sehnsucht  peinigte,  so  führte  seine  glühende  Phantasie 
dem  Unglücklichen  die  quälendsten  Bilder  der  Untreue, 
des  Undanks  des  Geliebten  vor  Augen;  und  besonders 
dann,  wenn  der  so  Gemarterte  der  großen  künftigen  Auf- 
opferungen gedachte,  die  bei  seiner  traurigen  Vermögens- 
lage ihm  nichts  weniger  als  leicht  wurden,  gab  es  bei 
des  Heißersehnten  Rückkunft  in  Folge  der  Empfindlich- 
keit und  des  Jähzorns  des  unglücklich  Liebenden  die 
ärgerlichsten  Auftritte.  Und  als  dann  Hemmeier  nach 
und  nach  öfters  und  länger  sich  entfernte,  so  glaubte  der 
Verlassene  daraus  schließen  zu  müssen,  daß  er  dem 
Hemraeler  nicht  mehr  so  wert  sei,  wie  ehedem;  und 
Hemmeier  ging,  um  mit  jungen  Leuten,  besonders  dem 
Kommis  Kaspar  Vogel  und  dem  Johannes  Trösch,  beide 
jünger,  als  er  selbst,  sich  zu  zerstreuen;  diese  führten 
ihn  zu  verschiedenen  Mädchen;  Desgouttes  aber  hatte 
dem  Hemmeier  nur  gestattet,  die  gute  Jungfer  Viktoria 
Dennler  zu  besuchen,  weil  er  glaubte,  es  sei  für  den 
jungen  Menschen  besser,  an  eine  Person  sich  zu  halten, 
als  allenthalben  herumzuflattern ;  auch  fürchtete  er, 
Hemmeier  dürfte,  wenn  er  jedem  Mädchen  nachgehe, 
gleich  seinem  Kameraden  Trösch,  alles  Gedächtnis  ver- 


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—    584  — 


lieren,  seine  Auftrüge  vergessen  und  zu  einer  ernsthaften 
Arbeit  nicht  mehr  aufgelegt  sein;  und  schließlich  besorgte 
er  auch,  Hemmeler  möchte  durch  ein  solches  Schmetter- 
lingswesen ihn  gänzlich  vergessen  und  sich  allen  Leuten 
mitteilen,  mit  denen  er  täglichen  Umgang  pflegte.  Bald 
aber  wurden  Einsamkeit  und  Eifersucht  dem  Aermsten 
unerträglich  und  sofort  änderte  er  seinen  Plan;  er  be- 
günstigte den  Umgang,  teils  um  bei  dem  Liebsten 
berechtigte  Vorwürfe  anbringen  und  bei  einer  Häu- 
fung des  Unrechts  seitens  des  Hemmeler  gegen  ihn 
dessen  Handlungen  mit  seinen  eigenen  Wollust-Forder- 
ungen in's  Gleichgewicht  bringen  zu  können  und  auf 
diese  Art  zum  Hechte  der  Ausübung  des  ersehnten 
Liebesaktes  mit  dem  Geliebten  zu  gelangen;  teils,  um 
Reize  in  ihm  anzufachen  und  aufzusammeln,  welche  seinem 
Wollustdrange  gelegentlich  zu  Statten  kämen.  So  ver- 
anlaßte  er  den  harmlosen  Jüngling  zu  nächtlichem  Aus- 
bleiben, gab  seinen  Freunden  und  der  Viktoria  Denuler 
Geld,  damit  diese  die  Mittel  hätten,  den  Hemmeler  betrunken 
zu  machen,  ohne  die  eigentliche  Absicht  zu  verraten, 
und  wenn  dann,  was  mehrmals  geschah,  Hemmeler  be- 
trunken nach  Hause  kam,  so  gebrauchte  er  ihn  zu  seinen 
„schändlichen  Lüsten";  aber  meistens  scheiterte  sein 
Plan.  Je  mehr  aber  während  dessen  seine  Satyriasis  ge- 
wachsen war,  um  so  dringender  und  ungestümer  wurden 
seine  Forderungen.  Ex  versuchte  dann  auf  tausenderlei 
AVeise  zum  Ziele  zu  kommen  und  verfiel  dabei  auf  alle 
nur  erdenklichen  Mittel. 

Um  den  so  viel  abwesenden  Freund  einmal  wieder 
ganz  für  sich  zu  haben,  faßte  er  den  Entschluß,  ihn  krank 
zu  machen;  er  gab  ihm  Brechstein  ein  und  redete  ihm 
vor,  es  handle  sich  um  eine  Krankheit,  die  allein  er  heilen 
könne;  er  war  dann  so  lange  glücklich,  als  er  bei  dem 
Leidenden  wachen  und  seiner  Bangigkeit  beiwohnen 
konnte.    Aber  als  einen   traurigen   Erfolg  aller  seiner 


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Mühen  mußte  er  erleben,  daß  Hemraeler  den  Verkehr 
mit  anderen  Personen  immer  weiter  ausdehnte  und  bald 
ungebührlich  übertrieb;  schließlich  blieb  dieser  nicht  nur 
des  Abends  bis  in  die  Nacht  hinein  von  Hause  fort, 
sondern  er  vernachlässigte  auch  seine  dienstlichen  Pflichten, 
so  daß  sein  Liebhaber  als  sein  Brodherr  im  Geschäfts- 
interesse es  nicht  unterlassen  durfte,  ihm  ernstliche  Vor- 
stellungen zu  raachen,  deren  Vergeblichkeit  den  doppelt 
Unglücklichen  dann  vollends  zur  Verzweiflung  brachte. 
Immer  unerträglicher  wurde  ihm  die  Vorstellung:  „Wenn 
du  tot  bist,  so  genießt  dann  Hemmeier  die  Welt  und 
genießt  selbsttätig  die  Wollust;  dann  gedenkt  er  deiner 
nicht  allein  mit  Abscheu,  sondern  dann  hast  du  nichts 
davon*.  Je  mehr  er  nachdachte,  desto  schrecklicher  kam 
ihm  dieses  vor,  insonderheit,  wenn  er  erwog,  daß  Hemmeier 
nicht  mit  Knaben,  sondern  mit  Mädchen  Umgang  haben 
würde.  Selbst  nüchtern  wogten  solche  mit  Mord-Gedanken 
verknüpfte  Bilder  in  seiner  wollustatmenden  Seele;  je 
mehr  seine  Sinnlichkeit  uud  seine  ungezügelte  Phantasie 
durch  Getränke  noch  gesteigert  wurden,  desto  fester 
wurzelte  bei  ihm  der  Entschluß,  all'  dem  Jammer  einmal 
ein  Ende  zu  bereiten;  schon  weidete  er  sich  an  der  Vor- 
stellung, den  Hemmeler  vor  und  nach  der  gewaltsamen 
Ermordung  seiner  unzüchtigen  Begierde  zu  unterwerfen, 
und  der  Entschluß,  ihn  zu  ermorden,  eroberte  sich  immer 
mehr  Raum  in  des  unglücklichen  Mannes  Seele.  Es 
wechselten  bei  ihm  unaufhörlich  Satyriasis  und  unbefrie- 
digtes Liebesverlangen  mit  durch  Onanie  hervorgerufenen 
Schwächezuständen  ab ;  in  diesen  kam  ihm  der  Einfall,  bei 
Hemmeler  Uebelkeiten  deshalb  hervorzubringen,  um  die 
Mannbarkeit  desselben  seiner  Schwäche  gleich  zu  stellen, 
damit  Hemmeler  nicht  wegen  überwiegender  Mannbar- 
keit ihn  verlassen  möchte;  so  hoffte  er  des  Jünglings  aus- 
schließlichen Umgang  und  seine  Häuslichkeit  zu  erzielen;  er 
wünschte  in  solcher  Verfassung,  die  Natur  oder  ein  Zufall 


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—  m  — 


hätte  den  Hemmeier  zum  Kastraten  gemacht,  nur  damit 
derselbe  sich  an  Niemanden  hünge;  er  verfiel  auf  den 
unseligen  Gedanken,  des  Jünglings  Pudenda  zu  schwächen; 
er  wurde  der  Urheber,  daß  Hemmeier  verschiedene 
„Kiltgänge*  *)  machte;  dann  wollte  er  seinem  Opfer 
Mittel  geben,  um  sein  Beischlafsvermögen  derart  zu 
schwächen,  daß  er  mehrere  Jahre  hindurch  gar  nicht 
an  sinnliche  Lust  denken,  sie  gar  nicht  ausüben  könnte, 
hingegen  seine  Freundschaft  ausschließlich  für  ihn  be- 
wahren solle.  Diesen  Plan  gedachte  Desgouttes  auf  einer 
Reise  im  August  1817  auszuführen;  als  er  dann  den  Ruin 
seines  Vermögens  vor  Augen  sah,  verwandelte  sich  dieses 
Bild  in  einen  Mordplan  für  seine  Reise,  auf  welcher  er 
entweder  mit  Hemmeier  sterben  oder  als  Einsiedler  bei 
dem  teuern  Leichnam  leben  und  sterben  wollte;  nur  die 
Verzweiflung,  den  innigst  Geliebten  ganz  zu  verlieren 
oder  für  andere  zu  behalteu,  erfüllte  seinen  Geist  mit 
Mordplänen. 

Bei  alledem  versicherte  Desgouttes,  daß  seine  Wollust 
nicht  das  Ueberwiegende  in  seiner  Neigung  zum  Hem- 
meier gewesen  sei;  er  habe  ihn  geliebt,  weil  ihre  Charaktere 
in  vielen  Stücken  zusammentrafen,  ausgenommen,  daß 
Hemmeier  keines  der  Laster  seines  Liebhabers  an  sich 
hatte;  er  liebte  den  Hemmeier,  weil  inneres  Gefühl,  Ge- 
wohnheit und  langer  Unigang  ihn  an  den  jüngeren  Ge- 
fährten ketteten;  er  liebte  ihn  aus  „ übersinnlichen"  Gründen, 
von  denen  er  Rechenschaft  sich  nicht  zu  geben  wisse 
und  wenn  er  nach  dem  ausschließlichen  und  ewigen  Be- 
sitze seiner  Freundschaft  strebte,  so  sei  es  nicht  aus  sinn- 
lichen Motiven  geschehen,  denn  diese  paßten  nicht  für 
die  Ewigkeit. 


*)  Dem  Yerhtfrrichter  gestand  Desgouttes,  daü  es  beim  Hem- 
meler  zu  einem  „unmoralischen  Lebenswandel  mit  Mädchen"  nie  ge- 
kommen sei  und  daU  er  „nur  einmal  sich  vergangen"  habe. 


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Um  Neujahr  1817  sah  Desgouttes  rückwärts  und 
vorwärts  schauend  den  Zerfall  seines  Vermögens  und 
seiner  Liebe  unrettbar  vor  Augen.  Sylvester  mit  dem 
Hemmeier  zu  feiern,  dünkte  ihn  in  dieser  trostlosen  Aus- 
sichtslosigkeit ein  unendliches  Glück;  aber  Hemmeier 
kam  äußerst  spät  nach  Hause  und  da  betrank  sich  Des- 
gouttes entsetzlich  und  seine  Besinnung  war  wieder  dahin. 
Fortan  quälte  er  den  jüngeren  Genossen,  um  diesen  seine 
Abhängigkeit  von  dem  älteren  Freunde  recht  herb  fühlen 
zu  lassen,  noch  mehr  und  raffinierter  als  vordem.  Im 
Januar  kassierte  Desgouttes  eine  Barsumme  von  1700 
Franken  für  die  Erbschaft  Neukom  ein,  von  welcher 
aber  die  Hälfte  schon  seit  bald  zwei  Jahren  verbraucht 
war;  mit  der  anderen  Hälfte  entwich  er  planlos,  er  wußte 
nicht  wohin;  allein  freiwillig  kehrte  er  zurück,  haupt- 
sächlich, weil  er  die  Gesellschaft  seines  Substituten  Hem- 
meier nicht  entbehren  konnte  und  ohne  ihn  ganz  außer 
aller  geselligen  Verbindung  war.  Bei  seiner  Rückkehr 
machte  ihm  Hemmeier  die  schwersten  Vorwürfe  und 
brachte  ihn  nahe  an  den  Rand  der  Verzweiflung;  indessen 
überlegte  er  sich,  daß  aus  diesem  Verhalten  Hemmeler's 
dessen  wahre  Freundschaft  für  ihn  zu  ersehen  sei,  und 
nun  gelobte  er  sich  und  ihm,  alles  zu  bessern,  insofern 
die  Umstände  einmal  nicht  ungünstig  wären;  aber  als  bald 
darauf  wieder  ein  Ruf  von  der  Irmel'schen  Schuld  erschien 
und  andere  Schuldenrufe  einliefen,  wußte  er  durchaus 
nicht  mehr,  wie  er  sich  helfen  sollte.  Da  verhalf  ihm 
starkes  Trinken  zum  Vergessen  für  den  Augenblick ;  aber 
dann  erfüllte  ihn  wieder  mit  Schaudern  die  Vorstellung, 
die  Welt  zu  verlassen  und  den  Hemmeier  mitzunehmen 
oder  diesen  vorauszuschicken  uud  dann  nachzufolgen. 
Die  ganze  Zeit  vom  Palmsonntag  (30.  März)  bis  zum 
Umzug  in  die  neue  Wohnung  (17.  Juli)  blieb  ernüchtern, 
ohne  daß  die  unglückliche  Idee,  ausschließlich  im  Besitze 
Hemmeler's  sein  zu  wollen,  und  die  Furcht,  traurige  Ura- 


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stände  könnten  denselben  von  ihm  trennen,  ihn  jemals 
losgelassen  hätten ;  das  alles,  die  Innersche  Schuld  uud 
das  Benehmen  Hemmeler's  zu  Beginn  des  Lebens  im 
neuen  gemeinsamen  Heim  leiteten  in  Verbindung  mit 
Desgouttes'  periodischem  Hang  zum  Trnnke  und  mit  seiner 
ausgesprochenen  Anlage  zum  Uebertriebenen  das,  was  nun 
folgte,  ein.  Am  17.  Juli,  dem  Tage  seines  Umzuges  in  die  neue 
Wohnung  und  des  Anfangs  eines  eigenen  Haushalts  mit 
dem  Busenfreunde  erwartete  Desgouttes,  daß  Hemmeler 
nun  für  alle  seine  Vernachlässigungen  und  seinen  viel- 
fachen Undank  den  Liebhaber  um  Verzeihung  bitten 
und  zur  Versöhnung  und  zu  dauerndem  Frieden  die 
Hand  zuerst  bieten  würde;  Hemmeier  hätte  dazu  um  so 
stärker  sich  gedrungen  fühlen  müssen,  als  er  wohl  wußte, 
wie  unendlich  Desgouttes  litt,  wenn  es  unterblieb,  und  in 
welch'  ratlose  Verzweiflung  er  den  unglücklichen  Liebhaber 
stürzen  würde;  —  aber  als  er  im  neuen  Heimwesen  dem 
Hausherrn  ganz  allein  gegenüberstand,  sprach  er  kein 
Wort;  er  stand  da  wie  ein  Klotz  und  tat,  als  wäre 
gar  nichts  geschehen.  Dieses  empörte  den  ohnehin 
Gereizten  aufs  äußerste;  er  verlor  alle  Selbstbeherr- 
schung und  geriet  in  fürchterlichen  Zorn  und  dann  in 
Wehmut ;  er  wußte  sich  weder  zu  raten,  noch  zu  helfen ;  alle 
seine  Vorstellungen  blieben  fruchtlos  und  so  nahm  er  wie 
früher  seine  Zuflucht  zum  Trinken;  dieses  besänftigte 
ihn  in  etwas  und  außerdem  führten  ihn  auch  notwen- 
dige geschäftliche  Ueberlegungen  dazu,  einen  halben 
Scheinfrieden  mit  dem  Hemmeler  zu  schließen ;  da  er 
das  Unzulängliche  dieses  Friedens  schmerzlich  empfand, 
so  trank  er  mehr  und  weiter;  in  diesem  Scheinfrieden 
gelang  es  ihm,  in  der  Nacht  vom  17.  auf  den  18. 
Juli,  mit  dem  Hemmeler —  zum  letzten  Male  —  geschlecht- 
lich zu  verkehren.  Von  diesem  Tage  an  befand  sich 
Desgouttes  ununterbrochen  in  einem  an  Besinnungslosig- 
keit grenzenden  Zustande,  in  einer  durch  starken  Genuß 


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voii  Absinthextrakt,  Wein  und  Liqueuren  hervorgebrachten 
ausnehmend  hohen  Trunkenheit,  welche  seine  Sinne  im 
höchsten  Grade  aufregte,  was  dann  wieder  seine  glühende 
Phantasie  in  Tätigkeit  setzte,  während  sein  Verstand 
und  seine  Ueberlegung  gänzlich  ausgeschaltet  wurden,  so 
daß  ihm,  was  er  tat,  nicht  zum  klaren  Bewußtsein  kam. 
Hatte  er  sich  in  Tübingen  schon  dem  Trünke  ergeben, 
um  die  lebhaften  Bilder  seiner  Phantasie  noch  zu  erwei- 
tern und  höher  zu  spannen,  so  geschah  es  in  dieser 
Periode,  um  im  Gaukelspiel  seiner  durch  den  Trunk  her- 
beigeführten Phantasieen  die  erbärmliche  Wirklichkeit 
vergessen  und  sich  auf  Augenblicke  an  diesem  Gaukel- 
spiele ergötzen  zu  können.  In  der  Nacht  vom  18.  auf 
den  19.  Juli  ließ  er  seinen,  seit  Neujahr  1817  bei  ihm 
beschäftigten  15jährigen  Lehrling  Hans  Ulrich  Leib  und 
Gut,  der  sonst  allabendlich  nach  dem  Dienste  in  das 
benachbarte  Schoren  zu  seinen  Eltern  zu  gehen  pflegte, 
angetrunken  bei  sich  im  Bett  schlafen,  um  sich  au  dem 
unschuldigen  Knaben  zu  vergreifen,  da  er  in  dieser  Nacht 
zu  Hemmeier,  dem  er  Opium  zu  trinken  gegeben,  nicht 
gehen  mochte;  zweimal  mißlang  sein  Plan,  da  der  Knabe 
erwachte;  Desgouttes  näherte  sich  ihm  unter  dem  Vor- 
wande,  ihm  die  Vorhaut  zu  erweitern.  Weil  sicli  sonst 
dort  Uureinigkeit  sammle;  er  gab  ihm  den  Rat,  .sie  öfter 
zu  erweitern,  und  brachte  durch  Reiben  einen  »fast 
inflammablen  Reiz"  in  des  Knaben  Rute  hervor;  er 
wollte  ihn  so  zum  Verluste  der  Unschuld  und  zum  Mit- 
genusse  bringen,  was  aber  nicht  erfolgte;  erst  der  dritte 
Versuch  gelang:  der  Knabe  schlief  fest  und  schlief  weiter. 
Am  nächsten  Morgen  fühlte  Desgouttes  sich  allzu  nüchtern, 
als  daß  er  seinen  Tags  vorher  gefaßten  Plan,  den  Hemmeier 
zu  betäuben  und  dann  aus  dem  Fenster  zu  stürzen,  hätte 
ausführen  können.  Aber  einige  Tage'  später,  als  in  der 
Frühe  des  Morgens  bereits  der  „Weingeist"  ihn  benebelt 
hatte,  entstand  wieder  der  Kntschluß  in  seinem  Kopfe, 


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den  Hemmeier  umzubringen.  Er  ergritf  eiue  Pfanne  mit 
nassem  Stroh,  um  es  in  Hemmeler's  Zimmer  anzuzünden, 
den  Schlafenden  zu  betäuben  und  dann  zum  Fenster 
hinaus  zu  werfen.  Nur  das  Mitleid,  das  Bedauern  mit 
dem  unglücklichen,  ihm  so  werten  Jüngling  und  der 
Gedanke,  er  könnte  Schmerzen  fühlen,  brachte  ihn  wieder 
gänzlich  von  dem  Mordplane  ab  und  nun  wollte  er  eine 
Zeitlang  keinen  Gedanken  mehr  daran  in  sich  aufkommen 
lassen,  den  Hemmeier  zu  töten. 

Ein  mit  dem  Todestage  seines  Vaters,  zugleich  dem 
Geburtstage  seiner  eigenen  wirtschaftlichen  Selbständig- 
keit, dem  0.  Juli  1810  begonnenes  Tagebuch  führte  der 
Unglückliche  noch  bis  zum  25.  Juli  1817  fort  —  alsdann 
brach  er  es  jäh  ab.  In  diesem  Tagebuche  ist  niederge- 
legt, wie  der  unglücklich  Liebende  in  dem  langen  Zeit- 
raum vom  20.  Juli  1810  bis  dahin  1817  um  den  innigst 
Geliebten  gebangt  und  was  er  um  ihn  gelitten  hat.  Lassen 
wir  ihn  selbst  zu  Worte  kommen. 

Aus  dem  Tagebuche  des  Dr.  Franz  Desgouttes: 

1810:  20.  Juli:  Dem  Daniel  Hemmeler  eine  ßadfreude 
gemacht. 

28.  Juli:  Der  Daniel  geht  in's  Bad  und  läßt  den 
Freund  allein,  der  düster  und  traurig  zu  Hause 
bleibt. 

31.  Juli:  Reise  nach  Bern  mit  Freund  Hemmeler. 
15.  August:  Vorwürfe  au  Daniel  H.  wegen  seinem 
Undank.  .  .  Mit  Daniel  H.  ins  Bad. 
10.   August:   Besichtigung   des   Perpetui  mobilis 
bezahlt  für  den  Daniel. 
17.  August:  Besuch  bei  Daniels  Eltern. 
5.,  0.,  7.  September:  Dem  Daniel  Hemmeler  ge- 
geben Wein,  Chokolade  u.  dergl.    Aber  Er  ist 
immer  gleichgültig. 


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1816:  11.  September:  Dem  Dauiel  Hemmeier  gegeben 
Wein,  Weggeld.  Immer  gleichgültig. 
2.  November:  Ich  hatte  mich  von  jeher  des  Da- 
niel Hemmeier  innigst  angenommen;  ich  achtete 
Nichts  für  unmöglich,  wenn  es  nur  zu  seinem 
physischen  oder  moralischen  Wohl  diente.  Oft  ent- 
zweite ich  mich  mit  meiner  Familie,  weil  ich  mich 
des  H.  eifrigst  angenommen  und  seine  wehrlose  Ju- 
gend geschützt  hatte.  Seine  physische  Constitution 
wäre  ohne  mein  Zuthun  zu  Grunde  gegangen. 
Er  nähert  sich  jetzt  der  Festigkeit,  die  jedem 
Jüngling  wünschenswerth  ist.  Er  blühet  gleich  einer 
Rose,  Er,  der  sonst  Anlage  zur  Hektik  hatte. 
Seine  Garderobe  ist  wohl  versehn.  Seine  Kennt- 
nisse hat  Er  einzig  meinem  immerwährenden 
Unterrichte  zu  danken.  Nichts  habe  ich  versäumt, 
ihn  zu  bilden,  Nichts  unterlassen,  ihm  das  Leben 
von  allen  Seiten  anschaulich  zu  machen.  Geld, 
Reisen  .  .  .  Nichts  sparte  ich,  ihm  meine  Pflicht- 
erfüllung zu  beweisen.  Zu  hunderten  habe  ich- an 
ihm  verwendet,  vergeudet. 

Des  Tags  dachte  ich  für  ihn  und  sein  Wohl  und 
oft  wachte  ich  des  Nachts  an  seiner  Seite.  Ich 
empfahl  ihn  allenthalben,  sprach,  handelte  für  ihn, 
verwandte  mich  für  ihn  —  Kurz!  ich  lebte  bloß 
für  ihn  und  in  ihm.  Meine  Freundschaft  genoß 
er  in  vollstem  Maaße  und  meine  Zuneigung  in 
vollsten  Zügen.  Bei  Gott:  ich  hätte  mein  Leben 
für  ihn  gelassen,  wenn  Er  es  hätte  nützen  können. 
Ach!  und  was  für  Dank  ernte  ich  jetzt  von  ihm? 
Jetzt,  da  ich  gleichsam  verlassen  bin,  da  ich  in 
ziemlichen  Schulden  stecke,  da  ich  durch  zweijäh- 
rigen Kummer  mich  krank,  ja  fast  aufgerieben 
fühle,  da  ich  ohne  Aussicht  bin,  —  jetzt  zeigt  er 
seinen   Undank!    O   kaltes,  fühlloses  Wesen,  o 


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starrer  junger  Mensch!  Wie  höchst  unglücklich 
machst  Du  mich!  —  Die  Gefühle  überwältigen 
mich  so  entsetzlich,  daß  Worte  mir  fehlen  und  die 
Hund  mir  ihren  Dienst  versagt! 
1816;  4.  November:  Muß  deun  alles  zusammenschlagen. 
Noch  kein  Patent,  Mortifikationen  aus  dem  Aargau, 
Mißverständnisse  mit  Herrn  Gerber,  daher  sein 
Brief  vom  3.  h.,  wo  ich  ganz  mißkannt  werde. 
Muß  ich  denn  ewig  der  Spielball  der  Menschen 
sein,  während  ich  möglichst  meine  Leidenschaften 
bändige  und  der  Phantasie  Spiel  verdränge  ?  Und 
Daniel,  Daniel,  den  ich  liebe,  kehrt  mir  den 
Kücken?!! 

10.  November:  Traurige,  melancholische  Stunde! 
Beinahe  von  Allen,  ach!  verlassen,  in  allen  Hin- 
sichten!   Daniel  auch. 

22.  November:  Dem  Daniel  wieder  gegeben  eine 
Flasche  Wein.    Anderer  Dinge  nicht  zu  gedenken. 

Wenn  ich  die  Menschen  um  mich  betrachte,  so 
überfällt  mich  alteruatim  Wuth  und  Wehmuth, 
wenn  ich  bedenke,  wie  vielen  Hunderten  ich  schon 
geholfen  und  wie  mir  alternatim  Niemand  hilft. 
Verdammter  Eigennutz!  Alles  will  an  mir  saugen ! 
Allen  soll  ich  helfen  und  wenn  ich,  ich  Etwas 
Will  —  so  ist  Niemand  zu  Hause.  Selbst  meine 
Nächsten  machen  mir'sso.  Wer  mich  nicht  betrügen 
will  oder  nicht  kann,  der  versagt  mir  sonst  Alles, 
ja  selbst  die  edelsten  Gefühle,  welche  Natur  einflößt. 
4.  Dezember:  Weiuf'riiehte  des  Daniel  Hemmeler, 
da  er  erst  um  yal  Uhr  Morgens  heimkam. 
15.  Dezember:  Den  Daniel  Hemmeler  von  s  4  auf 
4  Uhr  an  mit  Herrn  Bachmann  ins  Wirthshaus 
gehen  lassen.  Er  blieb  aber  bis  fast  8  Uhr  au9 
und  ich  mußte  annehmen,  daß  er  von  einem  Haus 
in's  andere  sehwärmte,  worüber  ich  ihm  nachher 


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deutliche,  doch  sanfte  Vorwürfe  machte.  Ach! 
er  mißkennt  mich.  Wüßte  er  doch,  wie  unendlich 
ich  ihm  anhänge  und  was  ich  für  ihn  entweder 
bereits  aufgeopfert  habe  oder  noch  ferner  auf- 
opfern werde  —  o,  Er  würde  keinen  Augenblick 
mich  verlassen  oder  selten. 
1816:  16.  Dezember:  Daniel  Hemiueler's  Benehmen  gegen 
mich.  Wiederholte  Rüge.  Befragung  vom  letzten 
Band  an  mich. 

So  weicht  Alles  von  mir!  Auch  er,  an  den  ich 
Alles  wende.  Kalte  Seele!  Diese  Pein  möge  dir 
nicht  vergolten  werden! 

18.  Dezember:  .  .  .  Und  heute  war  auch  der  Tag, 
an  dem  ich  dem  Daniel  Hemmeier  bittere  Vorwürfe 
wegen  seinem  Betragen  gegen  mich  raachen  mußte. 
Ach!  daß  ich  ihm  so  anhänge,  um  ihm,  gewiß  aus 
Liebe,  derlei  Vorwürfe  macheu  zu  müssen;  aber 
Er  treibt  es  zu  arg.  Alles,  Alles,  was  ich  ihm  an 
den  Augen  ansehe,  Alles  thue  ich  ihm  zu  Gefallen 
und  überhäufe  ihn  mit  Liebkosungen  aller  Art. 
Wenn  ich  ihn  betrachte,  seitdem  der  unselige 
Geschlechtstrieb  in  ihm  erwacht  ist,  so  muß  ich 
diesen  verwünschen;  denn  mich  vergißt  Er  und 
denkt  nur  an  das  Vergnügen,  Ball,  Mädchen  und 
Wein,  ohne  doch  ein  Säufer  oder  Wüstling  zu  sein. 
Bedenke  ich  meine  traurigen  Umstände,  meiue 
entsetzliche  Lage  und  den  Undank  des  Daniel, 
so  nimmt's  mich  Wunder,  daß  nicht  die  vollste 
Verzweiflung  mich  ergreift.  Doch  Glauben  an 
Gott,  Philosophie,  Hoffnung  —  das  hält  mich  empor! 
21.  Dezember:  Dem  Daniel  Hemmeier  Vorwürfe 
machen  müssen :  a.  daß  Er  den  20.  Dez.  Abends 
den  ganzen  Abend  bis  8  Uhr  ausgeblieben;  b.  daß 
Er  bis  7,10  Uhr  den  21.  Vormittags  3  4  Stunden 
lang  bei  Vogel  geblieben. 

Jahrbuch  V.  38 


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—    594  — 

1816:  22.  Dezember:  Dem  Daniel  Hemmeier  einige  sehr 
herbe  Vorwürfe  machen  müssen,  weil  Er  ohne  alle 
Aufmerksamkeit  für  mich  sich  nur  mit  Andern 
beschäftigt  und  ungeachtet  aller  liebreichen  und 
ernsten  Ermahnungen  mich  stehen  läßt.  Dann 
ihm  Geld  gegeben,  um  einen  Schoppen  zu  trinken. 
Dann  ihm  erlaubt,  bis  um  10  Uhr  Abends  die  Berg- 
knappenmusik anzuhören.  Sechs  ganze  Stunden  lang. 

25.  Dezember:  Dem  Daniel  Hemmeier  erlaubt, 
mit  seinen  Bekannten  spazieren  zu  gehen.  Er 
ging  um  >/,3  Uhr  fort  und  returnirte  um  5  Uhr. 
Ging  um  6  Uhr  wieder  fort  und  returnirte  erst 
um  »/a9  Uhr. 

26.  Dezember:  Dem  Daniel  Hemmeier,  dem  icb 
spaß  weise  Etwas  vorbrachte,  ohne  ihn  zu  be- 
leidigen, und  welcher  sich  plötzlich  in  seiner 
Eigenliebe  höchlichst  ergrifleu  fühlte  [:Gnug  mi, 
gnug  mi:],  derbe  Vorwürfe  gemacht  und  ihn  aus 
der  Stube  gewiesen. 

27.  Dezember :  Dem  Daniel  II.  allerhand  gegeben. 
Frieden ! 

29.  Dezember:  Dem  Daniel  Hemmeier  erlaubt,  aus- 
zugehen. Er  ging  um  4  und  kehrte  erst  um  8  Uhr 
zurück. 

30.  Dezember:  Dem  Daniel  H.  gegeben: 

1.  Einen  derben  Verweis  wegen  seiner  Saum- 
seligkeit. 

2.  Eine  Brochüre. 

3.  Geld  für  Neujahrsbelustigung. 

30.  Dezember:  Dem  Daniel  II.  gegeben  zum  Neu- 
jahrsgeschenk ein  Jagdgewehr. 

31.  Dezember:  Heute  war  Daniel  H.  fast  immer 
abwesend  und  dennoch  erlaubte  ich  ihm  noch,  zu 
Sylvestern.  Er  blieb  auch  aus  von  5  Uhr  bis  11 
Uhr  Abends:  Mädchengosellschaft. 


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—    595  — 


So  schließt  sich  dieses  Jahr,  schrecklich  in  seinem 
Anfange,  traurig  in  seinem  Verfolge  und  entsetzlich 
in  seiuer  Mitte;  endlich  in  den  Merkmalen  des 
Schrecklichen,  Entsetzlichen  und  Ungeheuren  am 
Ende,  ohne  Aussicht,  mit  einer  unendlichen  Schulden- 
last, Verzweiflung  im  Herzen  —  ach!  wer  hilft 
mir?  Da  mich  Alles  verläßt,  so  muß  ich  selbst 
für  mich  sorgen!!! 

Jacta  est  a  1  ea! 

Mit  Dir,  o  Daniel,  bin  ich  sehr  unzufrieden;  es 
ist,  als  wenn  der  Dämon  der  Zerstreuung  oder 
aber  der  Gleichgültigkeit  gegen  mich  in  deine 
sonst  gute  Seele  gefahren  wäre.  Ach!  ich  ver- 
diene das  nicht;  denn  innigst  liebe  ich  dich  und 
wünsche  dir  allen  erdenklichen  Segen,  alles  mög- 
liche Glück  und  Heil.  Ach!  daß  du  mich  mißkennst! 

So  rollt  das  Jahr  ab  und  läßt  mich  einsamlich! 
1817:  Anfangs  Januar:  Schön  begann  das  Jahr  1817 
—  war  aber  nicht  gut  im  Verfolge.  Ach!  guter 
Daniel,  hab'  ich  auch  gegen  dich  gefehlt,  so  ver- 
zeihe; denn  dein  kalt  verwerfendes  Wesen  könnte 
mich  verzweifeln  machen. 

Man  könnte  mich  fragen  —  warum  den  Daniel 
so  in  den  Strudel  der  Vergnügen  werfen,  während 
du  es  ihm  selbst  verboten  hast?  —  Am  Neujahr 
feierte  ich  meine  seligsten  Stunden  im  Kreise 
meiner  Geliebten.  Warum  fehlte  da  Daniel  ?  Warum 
betrug  Er  sich  schon  am  Morgen  kalt?  Warum 
blieb  Er  aus,  da  Er  doch  wußte,  wie  sehr  ich 
daran  hing,  ihn  auch  bei  mir  am  Abendessen  zu 
sehen?  Warum  mußte  ich  selbst  ihn  holen?  O,  das 
war  für  mich  ein  Todesstich!  Ich  sah  nun,  daß 
Er  mich  gar  nicht,  Andre  aber  über 'Alles  liebt!  O 
Gott,  welche  marternde,  verzweifelnde  Empfindung! 
Dies  betäubte  mich  fürchterlich,  brachte  mich  halb 

88* 


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—    590  — 


zur  Wuth.  Ach  !  die  grimmige  Empfindung  folgte 
mir  nach.  Ich  trank  immer  und  immer  mehr, 
bis  ich  von  Tumult  zu  Tumult  stürzte.  Da,  da  ver- 
gißt sich  der  Mensch  mit  der  glühenden  Phantasie. 
Deswegen  geschah,  was  leider  geschehen  ist.  Hätte 
Daniel,  eingedenk,  daß  ich  ihn  so  manchen  Abend 
vermißte,  den  Neujahrsabend  mit  mir  gefeiert  — 
o,  ich  würde  nie  so  derbe  tumultuirt  haben. 
1817:  8.  Januar:  Gott  gebe,  daß  an  mir  geholfen  werde. 
13.  Januar:  Dem  Daniel  H.  gegeben  Müller,s 
Sehweizergeschichte  in  4  Bänden. 
Ende  Januar:  Seit  dem  15.  dem  Daniel  allerhand 
geschenkt  und  Er  bringt  mich  dafür  in  Verzweiflung. 
Ende  Miirz:  Während  dem  März  dem  Daniel 
und  seiueu  Kameraden  sehr  viel  an  Wein  und 
Objekten  zum  Vergnügen  geschenkt,  damit  sie 
sehen,  daß  ich  ihnen  dergleichen  in  Maaße  sehr 
wohl  und  gern  gönnen  möge. 

<_>.  April:  Dem  Daniel  Hemmeier,  meinem  Sub- 
stituten, vorgestellt:  1.  für  seinen  Körper  Sorge 
zu  tragen;  2.  die  Zerstreuungen  einzustellen;  3.  die 
beiden  Mädchen  aufzugeben  und  4.  mit  Vogel 
und  Trösch  weniger  Umgang  zu  haben;  überdies 
mir  mehr  Freundschaft  uud  Liebe  zu  schenken. 

Insonders  soll  Er  aufrichtig  und  aufmerksam 
sein.  —  Welch'  Alles  Er  auch  mit  Mund  und 
Hand  versprochen. 

Dazu  erlaubte  ich  ihm,  Montag  den  7.  hujus 
auf  Aarburg  zu  gehen,  seine  Schwester  und  seinen 
Schwager  zu  sehen. 

Daniel  Hemmeier  geht,  wegen  Langeweile,  mit 
Vogel  uud  Trösch  spazieren  ins  Bad  seit  lj2T>  Uhr 
bis  8  Uhr. 

Den  7.  April  befand  sich  Daniel  Hemmeier  den 
ganzen  Tag  abwesend  in  Aarburg  und  returnirte 


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—    597  — 


erst  um  l/i9  Uhr  mit  zwei  Schwestern  und  seinem 
So  h  wager. 

Den  8.  April  blieb  Er  bis  10  Uhr  Morgens  weg 
und  ich  versah  indessen  seine  vices. 

Mit  dem  Daniel  Hemmeier  einen  Lohnvertrag 
errichtet  bis  1.  Juli  1817. 

Heute  spürte  Daniel  Hemraeler  erst  die  Folgen 
seiner  Reise  auf  Aarburg  durch  Faulheit,  Mattig- 
keit und  Schmerzen  in  den  Waden  und  am  Fuß, 
Erhitzung  und  Abgespanntsein.  Fast  den  ganzen 
Nachmittag  lag  Er  faul  da  oder  befand  sich  bei 
Vogel.    Daselbst  zweimal. 

9.  April:  Daniel  Hemmeier  spürt  noch  immer  die 
Folgen  der  Anstrengung  nach  Aarburg  durch 
Schmerzen  auf  der  Fußballe  und  in  den  Beinen, 
dann  Engbrüstigkeit,  Schweiß  des  Nachts. 

Daniel  Hemmeier  überläßt  sich  schon  wieder 
der  Zerstreuung  bei  Vogel  und  Viktoria  Dennler, 
vernachlässigt  mich  und  seine  Studien. 

10.  April:  Er  läuft  zu  Vogel;  gibt  sich  selten 
mit  mir  ab;  sagt  mir  offen,  daß  Er  Andre,  z.  B. 
Viktoria  D.,  mir  vorziehe  und  malt  für  selbige 
(Oster-)  Eier  aus,  statt  zu  studiren,  verbraucht 
mehrere  Stunden  dafür  und  arbeitet  für  Andre 
öfter. 

Abends  verweilt  Er  von  7  bis  8  Uhr  bei  Vik- 
toria Dennler. 

Was  soll  ich,  Verlassener,  bei  solchen  Connexionen 
denken?  Ö  daß  ich  diesen  Menschen  je  so  selbst- 
ständig machte!  —  Besser  wäre  es  für  mich,  den 
Tod  zu  erhalten,  ohne  ihn  selbstmörderisch  zu 
suchen.    Aber  Gott  wird  helfen! 

Den  11.  April  mit  Daniel  Hemmeier  gesprochen  und 
ihm  ernstliche  Vorstellung  gemacht  : 


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—   598  — 


a.  seine  Distraktionen  zu  meiden, 

b.  dann   seinen   Studien  mehr  Fleiß  und  mir 
mehr  Liebe  zu  schenken. 

Welches  Er  auch  versprochen. 
1817:  13.  April:    Daniel  Hemmeier  geht  um  1  Uhr  aus 
und  bleibt  bis  2  Uhr  bei  Lise  Muhraenthaler. 

Daniel  Hemmeier  geht  aus  zu  Vogel  von 
bis  1j4  ab  8  Uhr.    So  bin  ich  oft  einsam! 
Den  16.  April  befand  sich  Daniel  f/9  Stunde  bei 
Vogel  und  Trösch,  welche  Messieurs  auch  unseren 
Unterricht  um  0  Uhr  unterbrachen. 
17.  April:    Verdruß  mit   Daniel  Hemmeier,  weil 
Er  oft  weggeht  und  niemals  mich  für  den  Unter- 
richt begrüßen  mag.    Doch  am  gleichen  Abend 
Frieden. 

Den  19.  April  geht  Daniel  Hemmeler  bis  1  Stunde 
zu  Vogel. 

Der  Daniel  Hemmeler  bleibt  von  i/27  bis  9  Uhr 
bei  seinen  Freunden  Vogel  und  Trösch  und  im 
Wirthshause. 

20.  April:  Daniel  Hemmeler  geht  um  s/4  auf  4 
Uhr  weg  zu  Viktoria  Dennler  und  bleibt  bis  3  4 
auf  5  Uhr  weg. 

Dann  geht  Gleicher  um  l/2ti  Uhr  wieder  weg 
und  zwar  mit  dem  fast  betrunkenen  Vogel  — 
kömmt  erst  um  »/jD  Uhr  wieder. 

21.  April:  Daniel  Hemmeler  geht  mit  Viktoria 
Dennler  spazieren  während  1.  Stunde. 

Idem  thut  nicht  viel  und  geht  von  8'4  auf  5 
bis         Uhr  zu  Viktoria  Dennler. 
20.  April:  Mstr.  Daniel  Hemmeler  geht  spazieren 
mit  Vogel  l/2  Stunde  lang,  mich  verlassend. 

Daniel  Hemmeler  geht  zu  Viktoria  Dennler  »/* 
Stunde. 


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—    599  — 


Idem  geht  zur  Gleichen  und  bleibt  weg  5 
Viertelstunden  lang,  ohne  den  Effekt  hervorzu- 
bringen. Der  Esel!  .... 
1817:  27.  April:  Daniel  Hemmeier  geht  um  5  Uhr  weg 
zu  Viktoria  Dennler  und  bleibt  weg  bis  8  Uhr. 
28.  April:  Daniel  Hemmeier  steht  alle  Morgen 
spät  auf:  circa  l/2  8  oder  8  Uhr.  Ich  mag  ihm 
das  gönnen ;  doch  wünschte  ich  dann  auch,  en  retour 
egard  für  mich,  Aufmerksamkeit  uud  was  ich  gar 
nicht  erhalte. 

Ende  April:  Auf  den  ganzen  Monat  bleibt  Daniel 
weg  —  Tage  6,  Std.  2 3  4. 

2.  Mai:  Daniel  H.  geht  zur  Viktoria  Dennler 
und  bleibt  vor  dem  Eßen  2l/2  Stunden  lang  weg. 
Nachts  11  Uhr  geht  Er  zu  Viktoria  D.  und  returnirt 
um  4  Uhr  Morgens. 

4.  Mai:  Wie  drängt  man  mich  von  allen  Seiten! 
Eltern,  Gerber,  Daniel,  Pf.  Wagner,  Geschwister! 
Ich  soll  heirathen!  —  Was?  Geld!  .  .  .  eigene 
Wahl!  aber  durch  Vaters  Seufzen  hervorgebracht. 
Oft  bereut,  ach,  ohne  Hoffnung  zur  Wiederkehr. 
Elendes,  schreckliches  Leben!  Damit  meine  Um- 
gebungen fröhlich  sein  und  lustig  oder  bequem 
leben  können,  soll  ich  elend  sein. 

Heirathen  soll  ich  bei  schrecklichem  Mangel, 
beim  Dasein  meiner  vielen  Schulden,  bei  schreck- 
licher Theuerung,  bei  halber  Dienstlosigkeit,  ohne 
Stand,  ohne  Patent,  ohne  Aussichten,  ohne  Hoff- 
nung, kränklich  Gott,  welche  Dunkelheit! 

Wenn  ich  mein  ganzes  Leben,  wenn  ich  mein 
Sein,  Thun  etc.  betrachte,  so  nimmt  mich  Wunder, 
daß  ich  noch  bin.  Wie  viel  Undank  muß  ich 
ansehen!  Genüsse  habe  ich  keine  und  für  die 
Zukunft  keine  Erwartung,  als,  wenn  ich  heirathe, 
die  Anwartschaft  auf  ein  elendes  kurzes  Leben. 


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—    600  — 


Nein,  ich  heirathe  nicht,  bis  —  körperlich,  öko- 
nomisch und  ab  Seite  meines  Patentes  bessere 
Zeiten  da  sind.  Ich  bin  es  der  ersten  Pflicht, 
meiner  Selbsterhaltung,  schuldig.  Wer  will  mir 
dies  wegraisonnieren  ?  —  Gewiß  Niemand. 

Mit  dem  Daniel  H.  ernstliche  Rücksprache  ge- 
nommen, mehr  Aufmerksamkeit  mir  zu  schenken. 

Ihm  geschenkt  Schlenbach's  Welthistorie  mit 
Kupfern. 

Daniel  H.  geht  um  1  Uhr  zu  seinen  Freunden 
und  returnirt  nach  l/M2  Uhr.    Mich  läßt  er  allein. 

Dan.  H.  geht  an  3  4  auf  2  Uhr  wieder  zu  seinem 
Vogel  und  Trösch  —  um  zu  spazieren  auf  St. 
Urban  und  kehrt  erst  um  3  4  auf  8  Uhr  wieder. 
So  bin  ich  immer  einsam!  Soll  das  Aufmerk- 
samkeit sein  ? 
1817:  7.  Mai:  Ich  muß  mein  Leid  bemerken,  daß  Daniel 
H.  tagtäglich  negligenter  wird.  Wenig  Aufmerk- 
samkeit zeigt  er  mir,  denn  von  den  ehemaligen 
gemeinem  Verrichtungen  will  der  junge  Herr  nichts 
mehr  thun.  Ich,  der  ich  eine  unbegrenzte  Auf- 
merksamkeit habe,  kann  auf  seine  Dienste  nicht 
mehr  rechnen  ;  von  seiner  Aufopferung  ist  längst 
keine  Rede  mehr.  Ach !  ich  fürchtete  nicht  vergeblich 
den  Moment  seines  Ausflugs  zu  Freunden  außer- 
halb dem  Hause! 

Daniel  H.  kehrt  sich  an  meine  freundschaftlichen 
Winke  wegen  seiner  nicht  ganz  seltenen  Unord- 
nung nicht.  Gebe  ich  Erinnerungen,  Ermah- 
nungen, so  werden  sie  entweder  bald  vergessen 
oder  übel  aufgenommen,  weil  Er  in  großen  Un- 
willen geräth,  wenn  man  seine  geglaubte  Infalli- 
bilität  antastet.  Wenn  ich  endlich  barsch  rede, 
so  hilft's  ein  paar  Tage,  und  dann  ist's  bald  wieder 
im    Alten.   —  —  —  Ordnung,   Produkt  der 


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—    601  — 


Regelmäßigkeit  muß  sein,  muß  vom  1.  Juli 
an  streng  eingeführt  und  beobachtet  werden;  oder 
lieber  will  ich  sterben,  ungeachtet  ich  an  Daniel 
H.  unendlich  und  so  hänge,  daß  ich  ihn  über 
Alles  liebe,  aber  nicht  über  Alles  schätzen  kann! 
1817:  8.  Mai:  Daniel  H.  geht  auf  eine  Stunde  nach  dem 
Musterplatz,  kömmt  dann  um  2  Uhr  wieder  mit 
Vogel,  macht  sich  mit  ihm  bis  3  Uhr  in  meinem 
Zimmer  lustig;  ich  gab  Beiden  3  Schoppen  AVein 
und  Haselnüsse;  dann  geht  er  damit  weg  um 
3  Uhr  und  returnirt  um  4  Uhr. 

Daniel  H.  geht  wieder  auf  l/2  Stunde  weg. 

Idem  geht  um  8  4  auf  6  Uhr  weg  mit  Vogel 
und  kehrt  wieder  um  ^7  Uhr.  Dann  kommt 
Vogel  und  geht  erst  um  7  und  ,/4  Uhr.  Daniel 
H.  entfernt  sich  zum  Balle  um  8  Uhr. 

Zum  erstenmal e,  mein  Daniel!  für  dich  Ball! 
ach!  folgenreicher  Schritt!  ich  —  warnte  brüderlich, 
aber  ach!!! 

Ja!  dieser  Ball  war  folgenreich  für  mich! 
Denn  er  öflnete  mir  die  Augen  über  Daniel  und 
zeigte  mir  ihn  in  seiner  ganzen  Blöße!  O  ich  Thor, 
der  ich  ihm  zu  Liebe  meine  Harfe  verbrannte!  — 
Nicht  zu  rechnen,  daß  Er  mich  nicht  einmal  um 
meine  Einwilligung  befragte,  kömmt  der  Herr 
erst  um  3  und  i/i  Uhr  Morgens  heim  und  belohnt 
mich  dann  noch  sonst  mit  Undank.  Der  Elende! 
0.  Mai:  Daniel  H.  geht  erst  um  9  Uhr  aus  dem 
Bette  und  ging  bis  11  Uhr  weg.  Den  ganzen 
Nachmittag  schob  Er  sich  von  eiuem  Sessel  zum 
andern.  Dann  geht  Er  um  l/i7  Uhr  und  returnirt 
erst  um  8\4  Uhr  heim,  etwas  beübelt.  Dann  geht 
er  um  11  Uhr  zum  Tanze  und  returnirt  um 
7,6  Uhr. 

10.  Mai:   Mit  Daniel  H.  lange  Rücksprache  ge- 


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—   602  — 


halten  wegeu  seinem  Verhalten.  Ich  gönne  ihm 
Freunde,  ich  bin  glücklich  dabei!  aber  Er  soll 
Vernunft  dareinsetzen  und  mich  nicht  nur  nicht 
so  vernachlässigen,  sondern  seine  Liebe  mit  meinen 
Aufmerksamkeiten  in  das  völligste  Gleichgewicht 
setzen,  da  ich  der  Schöpfer  seiner  vielen,  vielen 
Freuden  bin!  Ach!  er  verspricht  wohl,  ob  Er's 
auch  halten  wird?  Hoffe. 

Daniel  H.  geht  von  9  bis  10\4  Uhr  wieder  zum 
Tanze  und  kommt  halb  krank  heim.    Ich  laufe 
für  ihn  in  die  Apotheke. 
1817:  11.  Mai:    Daniel  ist  den  ganzen  Tag  theils  krank, 
theils  zu  Allem  untüchtig. 

Dem  Daniel  in  seiner  Krankheit  treulich  ab- 
gewartet. 

Dem  Daniel  H.  habe  ich  zwei  Clvstiere  gegeben 
und  ihm  bis  10  Uhr  Abends  abgewartet  und  geholfen. 
Den  20.  und  21.  Mai  bleibt  Daniel  H.  von  9  Uhr 
bis  um  1  Uhr  des  Morgens  fort.  Ich  muß  wachen 
und  für  ihn  im  Schweiß  erkalten. 

21.  Mai:  Daniel  H.  thut  den  ganzen  Tag  nicht 
viel,  einige  Briefe  ausgenommen.  Nachts  von  9  Uhr 
bleibt  Er  bis  Uhr. 

22.  Mai:  Der  arme,  von  Viktoria  Dennler  ge- 
plagte Daniel  H.  verzweifelt  fast,  ist  bis  um  5  Uhr 
Abends  zu  Allem  untüchtig,  wo  Er  dann  bis  7 
Uhr  arbeitet. 

23.  Mai:  Daniel  H.  kommt  mit  Viktoria  D.  wieder 
zum  Frieden;  ich  begebe  mich  deswegen  und  um 
zu  traktiren  zu  derselben  und  verwende  mich 
mit  Worten  und  Geschenken  bei  ihr  eiue  Stunde 
lang. 

25.  Mai:  Daniel  H.  bleibt  von  1  Uhr  bis  8  Uhr 
weg  und  ist  bei  Viktoria  D.  Er  behandelt  mich 
sonderbar,  nachlässig  und  auf  alte  Art. 


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—    603  — 


1817:  29.  Mai:  Daniel  H.  bleibt  des  Abends  von  10  bis 
1  Uhr  Morgens  bei  Elisabeth  Bracher. 
Ende  Mai:  Auf  den  ganzen  Monat  bleibt  llemmeler 
weg:  9  Tage. 

I.  Juni :  War  Daniel  H.  den  ganzen  Tag  un- 
tüchtig und  krank;  ich  wartete  ihm  ab  und  pHegte 
sein. 

Den  10.  Juni  —  ist  Daniel  llemmeler  10  Stunden 
zu  Allem  unfähig,  weil  er  Abends  vorher  ribotierte 
bis  um  12  Uhr,  wo  ich  wachen  mußte. 

II.  Juni:  Daniel  H.  abseutirt  sich  seit  11  Uhr 
des  Morgens  bis  Abends  um  acht  Uhr. 

Den  12.  Juni  —  befand  sich  Daniel  H.  den  gan- 
zen Tag  krank.  Ich  wartete  ihm  ab  und  gab  ihm 
Arzneien. 

Den  13.  Juni  befand  sich  Daniel  H.  den  ganzen 
Tag  krank.  Ich  wartete  ihm  ab  und  gab  ihm 
viele  Arzneien. 

Er  ist  entsetzlich  ungeduldig,  eigensinnig  und 
bös,  daß  man  kaum  bei  ihm  aushalten  kann. 

14.  Juni:  Derselbe  geht  2  Stunden  zu  Viktoria  D. 

15.  Juni:  Daniel  H.  bleibt  3  Stunden  weg  bei 
Viktoria  D.  Nicht  zu  rechnen,  wie  oft  Er  seine 
Arbeit  vernachlässigt,  Sachen  verschiebt,  Nichts 
thut.    (.)  tempora,  o  mores! 

Den  21.  Juni  —  ist  Daniel  H.  den  ganzen  Tag 
nicht  tauglich  und  schwärmt  doch  herum. 

23.  Juni:  Ankunft  von  Vogel  und  Trösch  — 
derbe,  nachdrückliche  Rücksprache  mit  Daniel  H. 
wegen  dem  künftigen  Umgang  mit  ihnen. 

Öftere  Abwesenheit  des  Daniel  H.,  die  ich  nicht 
einmal  notire,  weil  sie  zu  häufig  kömmt. 

24.  Juni:  Daniel  H.  geht  auf  U/s  Stunde  zu 
Vogel  und  versäumt  allerhand. 


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—    604  — 


1817:  30.  Juni:  Dem  Daniel  H.  Vorstellung  gemacht  et 
ulia. 

Wann,  o  Schicksal,  wann  wirst  du  mich  be- 
günstigen? Elendes  Leben,  wo  meiner  Jugend 
Rest  planlos  und  ungenützt  hingeht!  Und  dennoch 
arbeite  ich  rastlos!  O,  daß  doch  Niemand  einen 
Augenblick  leichtsinnig  wäre!  —  O  unseliges 
Schuldenmachen ! 

Bald,   bald,  wenn    Gott   nicht  hilft  

ist's  aus,  dann  vermag  Niemand  mehr  mich  zu 
retten!  O,  daß  ich  noch  einmal  ganz  schulden- 
frei sein  könnte!  Noch  einmal  —  nie,  nie 

würde  ich  mehr  so  handeln  —  wie  vorher!  Wie 
kann  der  Körper  gedeihen,  wenn  immerwährende 
Unruhe  die  Seele  hinwirft?  —  Wie  kann  ich 
einen  Gedanken  mit  Festigkeit  verfolgen,  wie  seine 
Ausführung  mit  Energie  bethätigen,  wie  auf  freiem 
Spielraum  mich  bewegen,  wenn  alle,  alle  Be- 
rührungspunkte sklavisch  mich  fesseln  —  Alles 
mich  kettet?!? 

30.  Juni:  Disput  mit  Daniel  Hemmeier  wegen 
Undank. 

Ende  Juni:  Auf  den  ganzen  Monat  bleibt  Daniel 
Hemmeier  weg :  9  Tage,  nicht  zu  rechnen  kleinere 
Abwesenheiten,  Arbeiten  für  sich  und  zahlloses 
Andre ! 

5.  Juli:  Daniel  Hemmeier  nokturnirt  bei  Viktoria 
Dennler  wie  auch  schon  am  3.  Juli. 
0.  Juli:  Einsam  sitz'  ich  hier,  kein  Daniel,  der  mich 
tröstet,  mich  aufrecht  hält  und  mir  beisteht,  wenn 
schwache,  melancholische  Stunden  mich  umdüstern. 
Welch'  ein  Mensch!  Wo  ist,  wo  bleibt  die 
Freundschaft,  die  er  so  hoch  preist?  Wo  sein 
hohes,  inniges  Gefühl  für  mich?  Ach,  es  lebt 
nur  in  seinem  Innern  und  sein  Aeußeres  wendet 


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—    G05  — 


sich  zu  Andern,  die  keinen  Anspruch  auf  ihn 
haben,  als  die  Macht  der  Gewohnheit  und  den 
Titel  des  bloßen  Umgangs.  Wo  sind  die  seligen 
Zeiten,  da  Er  nur  in  mir  und  durch  mich  lebte? 
Wo  die  Verhältnisse,  die  ihn  allein  an  mich  ban- 
den? Wo  die  Reize,  die  er  einzig  in  meinem 
Umgang  fand  ?  —  Ach !  von  allem  dem  ist  nichts 
mehr  vorhanden,  als  das  traurige  Andenken,  das  mir 
nur  schmerzhafte  Erinnerungen  gibt!  Und  nun,  was 
ist  zu  thun  —  bei  solcher  Sachlage,  wo  ich  mit  großem 
Aufwände  von  Kräften,  mit  Zeitverlust,  mit  star- 
kem Geldauslegen,  selbst  auf  Kosten  meiner  Ehre 
und  mit  enormen  Schulden,  ohne  Kredit,  ohne 
Gesundheit  —  keine  Zwecke  erreicht  habe,  als 
die,  welche  der  Zufall  mir  in  die  Hände 
schickte  oder  in  meine  Lebensbahn  warf???  — 
 Aenderung,  Besserung,  Hemmung  der  Leiden- 
schaften, Herrschaft  der  Vernunft!  Aber  dann 
auch  Kälte  gegen  Daniel,  Zurückziehung  von  ihm, 
Ernst  gegen  ihn  lind  öftere  Objurgation  mit  Ver- 
nunft. —  —  Ha!  herrliche  Käthe,  wenn  man 
noch  im  Labvriuth  der  schrecklichsten  Verhält- 
nissc  ist  und  ohne  ein  Wunder  sich  nicht  heraus- 
winden kann !  O,  wenn  ich  noch  einmal  wieder  auf 
deu  alten  Standpunkt  käme,  wie  wollte  ich  mich 
ändern,  wie  meinen  ehedem  festgesetzten  Lebens- 
plan konsequent  ausführen!  O  Deus  adjuvet! 
Möge  es  noch  heute  geschehen!  Dann  würde, 
dann  müßte  eine  neue,  herrliche  Morgenröthe  auf- 
gehen in  Erkennung  wie  im  Handeln! 
1817:  Den  0.  Juli  —  geht  Daniel  H.  wieder  am  Abend 
1  Stunde  fort  und  richtet  Verdruß  im  Hause  an. 
7.  Juli:  Derselbe  ist  den  ganzen  Tag  krank;  ihm 
eine  Arznei  gegeben.  Des  Abends  ein  schreck- 
liches Wetter;  Einschlag  in  Bleybach. 


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—    606  — 


1817 :  8.  Juli:  Von  J.  J.  Christen  Avis  vom  Leeraus- 
gehen meiner  Lotteriezedeln.  Soll  ich  denn  Alles 
verlieren  und  will  Niemand  und  nichts  mir  helfen  ? 

10.  Juli:  Daniel  H.  geht  am  9.  Juli  den  ganzen 
Tag  fischen. 

11.  Juli:  Von  Bruder  Emanucl  Desgouttes  einen 
impertinenten  Brief  empfangen  .  .  . 

14.  Juli:  Von  nun  an  bemerke  ich  Daniels  Ab- 
wesenheiten, Entfernungen  und  Regellosigkeiten 
nicht  mehr.  Es  gibt  mir  zu  viel  zu  thun.  Das 
bemerke  ich  noch,  daß  Er  in  diesem  Monat  bei  C» 
Stunden  sich  hin  und  her  absentirte  und  mich 
unendlich  reizte.  Dennoch  will  ich  hoffen,  es 
werde  Alles  noch  zum  Besten  kehren  und  in 
dieser  Voraussetzung  und  weil  mir  solche  Noten  zu 
viel  zu  thun  geben,  unterlasse  ich  es.  Ebenso 
mit  dem  Geben  und  Schenken. 
1(5.  Juli:  Mit  Sack  und  Pack  gezügelt,  d.  i.  dclo- 
girt  und  in's  neue  Haus,  den  Bärenstock,  trans- 
portirt. 

25.  Juli:  —  Daniel  —  ich  rufe  wie  einst  Gott 
unser  Herr: 

Saul,  Saul,  was  verfolgest  du  mich?  —  denk*  an 
Donnerstag!!! 


Damit  bricht  Franz  Desgouttes'  Tagebuch  plötzlich 
ab  —  es  schließt  mit  einer  Drohung,  welche  besagen 
will,  der  Schreiber  werde  es  dem  Hemmeier  nie  vergessen, 
«laß  dieser  am  Donnerstag,  beim  Einzug  in  das  neue  ge- 
meinsame Heim,  den  ersehnten  Frieden  in's  Haus  nicht 
habe  bringen  wollen ! 

In  diesem  Tagebuche  vielfach  rührenden  Inhalts  hat 
der  Liebhaber  Hemmeler's  mit  großer  Peinlichkeit  selbst 
über  die  unbedeutendsten  Geringfügigkeiten,  die  er  seinem 


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—    607  — 


Liebsten  zuwendete,  genau  Buch  geführt  und  alles  mit  dem 
Kostenpreise   versehen;   du   finden  sich   immer  wieder 
Speisen,  wie  ßrödchen,  Brezeln,  Kuchen,  Eier,  Zucker, 
Chocolade,    Thee,    Milch,    Bonbons,    Nüsse,  Kirschen, 
Trauben,  Wein,  Liqueur,  Medizin  und  ihr  Geldwert  und 
zwischendurch  Ausstattungsgegenstände,    wie  Strümpfe, 
eine  seidene  Weste,  ein  Spazierstock,  ein  Jagdgewehr  und 
deren  Kosten  —  alles  für  den  Hemmeier  bestimmt  — 
aufgezeichnet.    Und  diese  seine  Eigenart  erklärt  er,  indem 
er  —  das  einzige  Mal  an  seinen  Leser  sich  wendend  — 
in  seinem  Tagebuche  niederschreibt: 
1816:  21.  Dezember:  Dem  Daniel  Hemmeier  allerhand  zu 
Gefallen  gethan,  mit  Aufmerksamkeiten  aller  Art. 
Du,  der  du  einst  etwa  dies  lesen  mögest,  glaube 
nicht,  daß  Prahlsucht  die  Feder  führte,   als  ich 
das,  was  ich  dem  Daniel  H.  that,  fleißig  aufzeichnete. 
—  Nein!  gewiß  nicht.    Sondern  einzig  die  Sucht, 
um  mich  von  Zeit  zu  Zeit  zu  erinnern,  daß  ich 
meine  Liebe  zu  ihm  in  allerhand  kleinen  Aufmerk- 
samkeiten zeigte  und  zugleich  damit  Er  mir  nicht 
vorwerfen  könne,  ich  besolde  ihn  zu  wenig. 

* 

So  nahte  denn  wohl  vorbereitet  die  Katastrophe. 
Desgouttes  versuchte  noch  einmal,  den  Hemmeier  zu  er- 
weichen; er  gab  diesem,  während  er  krank  lag,  seine  Ent- 
lassung; es  geschah  das  in  keiner  andern  Absicht,  als  den 
Jüngling  „in  sich  selbst  zu  nöthigen",  um  längeres  Ver- 
bleiben in  des  ältern  Freundes  Hause  anzuhalten,  womit 
ja  dann  freilich  Desgouttes'  Zweck,  den  Hemmeier  von 
sich  völlig  abhängig  zu  machen,  beinahe  erzielt  gewesen 
wäre;  doch  war  die  Kündigung  dem  Liebhaber  im  ge- 
ringsten nicht  Ernst,  denn  schon  bei  dem  ersten  Ausbruche 
des  Bedauerns  seitens  des  Hemmeier  blutete  sein  Herz. 
Hemmeier  aber  war  zu  kalt  und  zu  verschlossen,  als  daß 
er  sich  offenherzig  gegen  Desgouttes  hätte  aussprechen 


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—   G08  — 


mögen.  Die  Dienstmagd  Salome  Anderes  war  sehr  ver- 
wundert, als  sie  durch  ihren  Herrn  vier  Tage  vor  dem 
Morde,  am  25.  Juli,  erfuhr,  ihr  Neffe  Hemmeier  komme 
fort;  denn  Hemmeier  hatte  es  der  Tante  verschwiegen 
und  nun  wollte  diese  ihn  nicht  fragen,  weil  er  krank  war. 
Am  20.  Juli  müssen  die  Spuren  geistiger  Verwirrung  bei 
Desgouttes  schon  recht  deutlich  hervorgetreten  sein;  denn 
der  Pfarrer  Friedrich  Rütimeyer,  der  ihn,  mit  dessen 
Vater  er  befreundet  gewesen  war,  an  diesem  Tage  in 
seiner  neuen  Wohnung  zum  ersten  und  letzten  Male  be- 
suchte, eilte  bald  weg,  weil  er  aus  Desgouttes'  tiefliegen- 
den Augen  und  entflammtem  Gesicht  schloß,  daß  es  mit 
ihm  nicht  ganz  richtig  sei;  seine  Blicke  blieben,  so  sehr 
er  bemüht  war,  sich  Zwang  anzutun,  wild  und  verstört. 
In  diesen  Tagen  des  eigentlichen  Mordentschlusses  be- 
lebte den  Verzweifelten  einzig  der  grobsinnliche  Trieb 
des  Genusses  oder  der  unausweichliche  Drang  des  Mordens 
mit  der  Absicht,  zum  Genüsse  zu  gelangen,  der  den 
Unglücklichen  zu  der  grausigen  Tat  bestimmt  haben 
mag.  Am  27.  Juli,  einem  Sonntag,  besuchte  er  noch  des 
Abends  um  10  Uhr  die  Familie  des  Schreiners  Jakob 
Herzig  Vater  und  traf  die  Eltern  und  das  achtjührige 
Töchterchen  bereits  im  Bette  an;  er  veranstaltete  mit 
Hülfe  des  zweiundzwanzigjährigen  Sohnes  Jakob,  den  er 
fortschickte,  um  Wein,  Bier  und  Kssen  zu  holen,  ein 
Gelage,  bei  welchem  er  viel  mit  dem  Säbel  spielte  und 
den  einfachen  Leuten,  deren  Umgang  er  vor  anderen  den 
Vorzug  gab,  zeigte,  wie  schön  sein  Säbel  sich  biegen 
ließe.  Am  Montag,  den  28.  Juli,  morgens,  begab  sich 
Desgouttes  in  das  Bett  des  Hemraeler  und  machte  gegen 
den  Erwachenden  allerhand  unzüchtige  Geberden,  infolge 
deren  der  Ueberraschte  mechanisch  aus  dem  Bette  heraus- 
und  wieder  hineinsprang  und  bestimmt  erklärte,  daß  er 
lieber  sterben,  als  dem  Willen  Desgouttes'  sich  fügen 
wolle ;  nun  stellte  sich  der  Peiuiger,  als  ob  der  erwartete 


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—   609  — 


Widerstand  des  Jünglings  ihn  mit  Bedauern  und  Herze- 
leid erfülle,  er  bat  ihn  knieend  um  Verzeihung,  die  er 
auch  erhielt,  und  versprach  ihm,  dergleichen  ihm  nicht 
mehr  zuzumuten ;  dieses  ganze  Spiel  aber  führte  Des- 
gouttes in  der  einzigen  Absicht  auf,  den  Hemmeier  mit 
einem  Federmesser,  das  er  bei  sich  führte,  zu  verletzen 
oder  zu  töten  und  ihn  dann  zu  vergewaltigen;  war  er 
doch  mit  Mordplänen  des  Nachts  eingeschlafen,  mit 
solchen  in  der  Nacht  aufgewacht  und  mit  ihnen  des 
Morgens  aufgestanden;  aber  als  er  nun  glaubte,  sein 
Opfer  beruhigt  zu  haben,  und  seinen  Mordplan  ausfuhren 
wollte,  da  setzte  der  Bedrohte  mit  jammernden  Worten 
sich  zur  Wehr,  und  mit  dem  Ausruf  des  Mitleids: 
„Lebe!"  ließ  Desgouttes  noch  einmal  von  seinem  Vor- 
haben ab;  er  ging  in  sein  Schlafzimmer  und  onanierte. 
Um  9  Uhr  begab  er  sich  zu  seiner  Zerstreuung  in  die 
Wohnungen  Herzig's  und  Bracher's.  Während  des  Nacht- 
essens kam  die  Frau  Rosina  Dennler  zu  Desgouttes;  dieser 
verließ  den  Tisch,  zeigte  ihr  sein  neues  Heim  und  be- 
merkte dabei,  daß  der  Herameier  das  schönste  aller 
Zimmer  habe;  so  könnte  doch,  meinte  er,  nichts  mehr 
fehlen  an  seiner  Zufriedenheit,  da  Hemmeier  beinahe 
Meister  wäre  und  hätte,  was  er  wollte.  Noch  nach  dem 
Abendessen  rieb  er,  als  er  sich  mit  Hemmeier  allein  be- 
fand, nüchtern  dessen  Pudenda  mit  einer  Komposition  von 
Cautharidenessenz,  Salmiakgeist  und  Oel  ein,  „bloß  um  zu 
beschauen";  dieses  hat  den  Hemmeier  „mannbarer"  ge- 
macht, aber  eine  Ejakulation  nicht  hervorgerufen.  Als- 
dann, gegen  10  Uhr,  ist  Desgouttes  wieder  zu  Bracher's 
gegangen,  hat  dort  eine  halbe  Stunde  verweilt  und  in 
einem  kleinen  Rausche  von  allerhand  Sachen,  besonders 
aber  von  dem  Hemmeier  gesprochen,  wie  er  das  schon 
vorher  gegen  6  Uhr  getan  hatte.  Nachdem  er  die  ein- 
fachen Leute  verlassen,  lief  er  über  das  Kircheufeld  zu 
hinein  Mädchen,  das  er  beschlief,   und  traf  um  11  Uhr 

Jahrbucb  V.  39 


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—    610  — 


wieder  in  seinem  Hause  ein;  als  er  hier  sein  Zimmer  be- 
trat, rief  ihm  Hemmeier  zu,  er  sei  eben  noch  rechtzeitig 
eingetroffen ;  Desgouttes  aber  scheute  sich,  zum  Hemmeier 
hinüber  zu  gehen,  weil  er  nicht  wollte,  daß  dieser  seine 
Trunkenheit  bemerke.  Um  halb  12  Uhr  trat  er  an  die 
Tür  des  Schlafzimmers  der  Dienstmagd  Salome  Anderes, 
pochte  an,  gab  auf  die  Anfrage  der  Magd,  was  er  wolle 
und  ob  sie  aufstehen  solle,  die  Antwort  „nein!"  und  ging 
wieder  fort.  Nach  festem  Schlafe  wachte  er  in  der 
Morgendämmerung  gegen  3  Uhr  mit  wehmütigen  Em- 
pfindungen auf,  erhob  sich,  ergriff  eine  kleine  Flasche 
Liqueur,  die  auf  dem  Ofen  stand,  und  trank  in  Hast  da- 
von; da  fuhr  ihm  der  Gedanke  durch  den  Kopf:  „Wie, 
wenn  du  ihn  jetzt  tötetest?"  Und  dann  wieder:  „Wenn 
du  seiner  noch  vorher  genießen  würdest?*  So  stand  er 
im  bloßen  Hemde  in  seinem  Schlafzimmer  am  Ofen. 
Schnell  trank  er,  wie  um  sich  Mut  zu  holen,  die  Flasche 
bis  fast  auf  den  Grund  leer  und  geriet,  ein  zum  Morde 
geeignetes  Instrument  suchend  und  ein  Taschentuch  er- 
greifend, in  entsetzliche  Wildheit,  in  „Kannibalenwut* ;  in 
der  Mittelstube  fand  er  einen  Pfriem,  warf  ihn  aber 
wieder  hin,  indem  er  dachte,  durch  ihn  würden  Hemnieler^ 
Leiden  zu  lange  währen  und  die  lange  Leidenszeit  könnte 
den  Mörder  verraten;  dann  stieß  er  auf  ein  frisch  ge- 
schliffenes Messer,  das  er  schnell  ergriff  und  öffnete; 
dieses  in  der  rechten  Hand  haltend,  stürzte  er  in 
Hemmeler's  Schlafzimmer.  Hier  lag  der  Schutzlose  mit 
unbedeckter  Brust  auf  dem  Rücken  im  Bette,  seine 
linke  Seite  dem  Trunkenen  zugewendet.  Dieser  suchte 
mit  der  linken  Hand  die  Herzgegend  und  versetzte  ihm 
mit  dem  Messer  einen  Stich  dahin.  Mit  der  Frage:  „Was 
soll  das?*  schlug  Hemmelcr  die  Augen  auf,  schrie  zwei- 
mal laut  und  warf  sterbend  einen  wehmütigen  Blick  auf 
seinen  unglücklichen  Mörder;  da  hörte  dieser  die  Magd 
vor  der  verschlossenen  Türe  fragen,  was  dem  Daniel 


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—    611  — 


fehle,  weshalb  er  schreie,  und  er  gab  zur  Antwort : 
„ Hemmeier  träumt  nur;  es  ist  nichts!"  Die  große  Menge 
des  aus  der  Wunde  des  Verblutenden  hervorsprudelnden 
warmen  Blutes  versetzte  den  verstörten  Mörder  in 
Schrecken  und  Grausen  und  er  rannte  in  sein  Zimmer,  von 
wirren  Gefühlen  bestürmt;  so  war  ihm  noch  nie  gewesen. 
Auf  einmal  wachte,  als  wenn  dem  Drama  der  Schlußakt 
fehlte,  seine  Wollust  auf  und  ging  schnell  in  Satyriasis 
über;  er  eilte  in  das  Zimmer  des  Hemmeier  zurück  und 
deckte  den  verblutenden  Körper  bloß;  allein  der  Anblick 
des  Erstarrenden  erfüllte  ihn  mit  physischem  Abscheu 
gegen  Befriedigung  seiner  Sinnenlust.  „Boshaft  wütend" 
über  die  Unmöglichkeit,  unter  solchen  Umständen  Wollust 
ausüben  zu  können,  goß  er  ein  Fläschchen  Scheide wasser 
auf  die  Geschlechtsteile  seines  Opfers  hin  und  fühlte 
jetzt  auch  moralischen  Abscheu  gegen  die  Luststillung; 
so  ergriff  er,  wie  zum  Abschied,  des  Geliebten  Hand  und 
zog  die  Decke  über  den  Leib  des  Sterbenden  bis  an  den 
Hals;  sein  Entsetzen  ging  in  Wehmut  und  völlige  Ab- 
spannung über  und  so  drückte  er  dem,  den  er  über  alles 
geliebt  hatte,  die  Augen  zu.  Dann  packte  ihn  die  Angst 
vor  Entdeckung,  die  Furcht  vor  der  Schande,  welche  er 
seiner  Familie  bereitet,  und  er  kroch  auf  allen  Vieren 
durch  das  Mittelzimmer,  dessen  Fenster  nicht  verschleiert 
waren,  in  sein  Schlafgemach,  kleidete  sich  an  und  verließ 
das  Haus  —  ohne  Plan  und  ohne  klare  Besinnung.  Er 
fühlte  noch  große  Liebe  zum  Leben,  war  sich  noch  nicht 
klar  über  den  unersetzlichen  Verlust,  den  er  sich  selbst 
bereitet  hatte,  und  wähnte  noch,  der  Welt  durch  ein 
nützliches  Leben,  dem  er  fortan  sich  widmen  wollte,  mehr 
bieten  zu  können  als  durch  einen  schimpflichen  Selbst- 
mord. So  wurde  er  gefangen,  verhört,  verurteilt  und  ge- 
richtet, wie  im  T.  Abschnitt  dargestellt  ist. 


39» 


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I 


—    612  — 

IV.  Die  Beurteilung  des  Falles  Desgouttes 
durch  Zschokke  und  Hößli. 

In  Heinrich  Zschokke's  „Gespräch  über  die  Liebe"  lenkt 
sich  die  Unterhaltung  „gleich  anfangs,  wie  dies  immer  zu  ge- 
schehen pflegt,  auf  die  widerlichste  Merkwürdigkeit  des 
Tages*:  die  Ermordung  des  Hemmeier  (Walter)  durch 
Desgouttes  (Lukasson).  Den  Wortführern  des  Gesprächs 
erscheint  die  verbrecherische  Tat  um  so  rätselhafter,  als 
Desgouttes  den  hingemordeten  Freund  noch  bis  zum 
letzten  Augenblicke  geliebt  und  denselben  im  Schlafe 
erstochen  hat;  so  konnte  sie,  nach  jedermanns  Urteil, 
doch  nur  in  einem  Anfall  von  Wahnsinn  geschehen  sein. 
War  es  doch  bekannt,  daß  Desgouttes,  von  jeher  unge- 
stümen und  mit  sich  selbst  entzweiten  Wesens,  zwischen 
leichtsinnigen  Ausschweifungen  und  schwermütigen  Bereu- 
ungen schwankend,  zuletzt  immer  das  unselige  Mittel 
der  Selbstbetäubuug  durch  starke  Getränke  ergritt'  Die 
Frage,  wie  der  tugendhafte  Jüngling  Hemmeier  eines 
solchen  Ungeheuers  Freund  sein  konnte,  wird  dahin 
beantwortet,  daß  auch  sein  Mörder,  ungeachtet  seiner 
Leidenschaften  und  Vcrirrungen,  doch  im  Besitze  von 
Tugenden,  die  ihn  liebenswürdig  macheu  konnten,  gewesen 
sein  mußte.  Man  kommt  darin  überein,  den  Verbrecher 
nicht  zu  verdammen:  weil  böse  Taten  überhaupt  nur  aus 
Irrtum  oder  Krankheit  des  Gemüts  geschähen;  Desgouttes 
aber  wurde  durch  eine  unharmonische  Entfaltung  seiner 
Natur  zum  Verbrechen  hingejagt;  er  ward  durch  eine 
wütende,  alle  Vernunft,  alle  Tugend  zerstörende  Leiden- 
schaft, welche  er  nicht  zur  rechten  Zeit  meisterte  und 
welche  ihn  zum  Wüstling  machte,  unglücklich  und  endlich 
zum  rasenden  Mörder.  Desgouttes  „mußte  nicht  nur  nach 
dem  Gesetz  sterben,  sondern  er  war  auch  strafbar." 
Holmar,  der  in  Zschokke's  Gespräch  Hößli's  Idee  vertritt 
und  (S.  270)  von  sien  selber  gesteht,  er  wäre  vielleicht 


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—    613  — 


auch  unglücklich  geworden,  wenn  er  als  Jüngling  den 
mit  unbestimmter  Sehnsucht  gesuchten  Freund  gefunden 
hätte,  steht  mit  seiner  Auffassung  allein:  „In  Griechen- 
land wäre  er  vielleicht  der  großen  Künstler,  der  Weisen 
oder  Vaterlandshelden  einer  geworden,  durch  die  Freund- 
schaft der  Seelen,  bei  uns  ward  er  dadurch  Mörder  und 
die  Gesetze  führten  ihn  zum  Rabenstein.  Sein  ganzes 
Leben  voller  Widerspruch  und  Verirrung;  sein  Alles- 
opfern  für  den  Geliebten;  sein  ewiges  Bemühen,  diesen 
zum  vollkommensten,  tugendhaftesten  und  edelsten  Mann 
zu  bilden;  sein  Kampf  mit  sich  und  einer  Leidenschaft, 
die  ihn  irre  an  sich  selbst  machte;  seine  Anstrengungen, 
Zerstreuung  zu  finden;  sein  geflissentliches  Streben,  sich 
selbst  mit  geistigen  Getränken  zu  betäuben;  seine  wieder- 
holten Entschlüsse  zum  Selbstmord ;  endlich  die  Ermord- 
ung des  Freundes  —  Alles  erklärt  sich  aus  seiner  nicht 
anerkannten  Seelenberechtigung.  • 

*  * 
* 

Und  hören  wir  nun  Hößli  selbst,  so  sieht  er  in 
Desgouttes  „eine  Natur,  die  in  sich,  in  ihren  Tiefen, 
verborgnen  Lebenswurzcln,  uns  unsichtbar,  doch  ewig 
gewiß,  alle  jene  Blumen  und  Kunstgestalten  der  griechi- 
schen Muse  des  Eros,  wie  die  Qualen  und  die  Verworfen- 
heit eines  Desg.  verbindet."  (Eros  II  Seite  351)  „er,  der 
Ermordete,  war  zwar  ein  Mörder,  aber  unsere  Irridee  hat 
ihn  zuerst  zum  verlornen  und  lasterhaften  Menschen  und 
endlich  dadurch  zum  Mörder  gemacht;  er  hatte  weder 
eigentliches  Dasein  noch  Leben  mehr  zu  verlieren,  darum 
spielte  er  mit  beiden  fürchterlich  ..."  (Eros  II  213). 
Die  ganze  Fürchterlichkeit  solcher  Wesen  wie  Desgouttes 
erklärt  Hößli  für  begründet  durch  moralische  Zernichtun^ 
in  Folge  ihrer  völligen  Verkennung  und  daher  für  not- 


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—   614  - 


wendig  und  natürlich.  Eine  Bestätigung  für  die  Richtig- 
keit seiner  Auffassung  des  Wesens  Desgouttes'  sieht  er 
in  dessen  Verhalten  nach  der  Gefangennahme  unter  dem 
suggestiven  Einflüsse  seiner  Richter,  besonders  in  der 
rührenden  Standrede.  „Wenn  ich,"  sagt  Hößli  (Eros  I  S. 
61),  „in  Dr.  J.  F.  Eisenharte  Rechtshändeln  des  achtzehn- 
jährigen, am  10.  Juni  1651  verbrannten  Mädchens  letzte 
Worte  im  Briefe  an  ihre  Mutter  (sie  war  zu  ihrer  Zeit 
ein  sehr  gebildetes  Mädchen,  gebildeter  als  Desgouttes 
in  der  seinigen  war)  lese:  „Aber  ich  habe  nun  Gnade 
gefunden,  dem  Teufel  abgesagt,  mich  zu  meinem  Jesu 
begeben,  bei  dem  will  ich  nun  leben  und  sterben !  Amen. 
Amen",  so  habe  ich  auch  den  armen  unglückseligen 
Desgouttes  leibhaftig  vor  mir." 


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6.  Herzog  August  der  Glückliche 

(1772—1822) 

(mit  5  Textbildern). 

KaXov  tm6Q  tov  xalov  ^n/jaxeiv 
(Im  Genüsse  des  Schönen  sterben  ist  schün) 
Epigraph  August  des  Glücklichen. 

„ .  .  .  er  war  eine  so  buntschillernde 
Erscheinung,  daß  man  mit  wenig  Worten 
Uber  ihn  nicht  auskommt" 

H.  A.  0.  Reich ard  1877,  505. 

Aemil  Leopold  August,  der  zweitgeborene  Sohn 
des  Herzogs  Ernst  II.  von  Sachsen-Gotha  und  Altenburg 
mit  der  Herzogin  Charlotte,  der  Tochter  des  Herzogs 
Anton  Ulrich  von  Sachsen  -  Meiningen,  erblickte  am 
23.  November  1772  in  Gotha  das  Licht  der  Welt.  Von 
seinen  drei  Brüdern  —  Schwestern  hatte  er  nicht  — 
—  wurde  der  jüngste,  Ludwig,  1777  geboren,  nur  6  Tage 
alt  und  der  älteste,  der  am  27.  Februar  1770  geborene 
Erbprinz  Ernst,  starb  bereits  im  Alter  von  9  Jahren 
(November  1779).  Die  Erziehung  der  beiden  übrig 
gebliebenen  jungen  Prinzen,  Augusts,  der  nun  Erbprinz 
war,  und  seines  um  2  Jahre  jüngeren  Bruders  Friedrich, 
leitete  anfangs  der  aus  Stuttgart  berufene  Freiherr  Joachim 
Erust  von  der  Lühe  und  späterhin  der  waadtländische 
Naturforscher  Legationsrat  Samuel  Elisa  von  Bridel- 
Brideri.  Da  beide  Knaben  von  zarter  Gesundheit  zu 
sein  schienen,  so  wTurden  sie  von  den  besorgten  Eltern  zu 
ihrer  Kräftigung  im  Jahre  1788  nach  Genf  geschickt  ; 


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—   616  — 


hier  erlernte  der  Erbprinz  die  Beherrschung  der  franzö- 
sischen Sprache.  Erst  1791  kehrten  beide  Prinzen  nach 
Gotha  zurück.  Daheim  waren  Vorlesungen  des  jenaischen 
Professors  Ulrich  über  Philosophie,  des  Geheimrats  von 
der  Becke  über  Geschichte  und  über  Staatsrecht  des 
deutschen  Reichs,  des  Archivars  Welker  über  die  vater- 
ländische Geschichte  bestimmt,  der  allgemeinen  Bildung 
der  beiden  Jünglinge  den  Abschluß  zu  geben.  Alsdann 
nahm  der  Erbprinz  August  an  den  Sitzungen  des 
Ministeriums  teil,  um  mit  den  Regierungsgeschäften  ver- 
traut zu  werden. 

Noch  nicht  25  Jahre  alt,  vermählte  sich  der  Erb- 
prinz August  auf  den  Wunsch  seines  Vaters  am  21. 
Oktober  1797  mit  der  am  19.  November  1779  geborenen 
achtzehnjährigen  Prinzessin  Louise  Charlotte  von 
Mecklenburg-Schwerin  r),  welche  aber,  nachdem  sie  dein 
Gatten  am  21.  Dezember  1800  ein  Töchterchen  Louise 
geschenkt  hatte,  schon  am  4.  Januar  1802  im  Wochen- 
bette verstarb.  Schon  ein  und  ein  drittel  Jahr  später, 
am  24.  April  1801,  ging  der  Erbprinz  eine  zweite  Ehe 
ein  mit  der  ihm  ziemlich  gleichalterigen  Karoline  Amalie, 
der  jüngsten,  am  11.  Juli  1771  geborenen  Tochter  des 
Landgrafen  und  späteren  Churfürsten  Wilhelm  von 
Hessen-C  assel,  eine  Ehe,  welche  kinderlos  geblieben  ist. 

Nach  dem  Ableben  seines  Vaters  Ernst  II.  am 
20.  April  1804  trat  der  Erbprinz,  31  Jahre  alt,  als 
Herzog  August  die  Regierung  des  Herzogtums  Sachsen  - 
Gotha  und  Altenburg  an;  er  hat  sie  in  einer  für  ganz 
Deutschland  äußerst  kritischen,  durch  die  Schlacht  bei 
Jena   genügend   gekennzeichneten  Zeit  achtzehn  Jahre 

•)  Ueber  die  erste  Gemahlin  des  Erbprinzen  August,  Louise 
Charlotte,  eine  Tochter  des  nachmaligen  Großherzogs  Fr.  Franz 
von  Mecklenburg-Schwerin  mit  der  Prinzessin  Auguste,  Tochter 
des« Prinzen  Johann  August  von  Kode,  äußert  sich  1902  Katharina 
von  Bechtolsheim  Seite  111—112. 


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—    617  — 


hindurch  glücklich  geführt;  „er  hatte  ein  unerschütter- 
liches Vertrauen  auf  sein  Glück,  wie  er  denn  auch  zu 
sagen  pflegte,  daß,  wenn  er  einen  Beinamen  führen 
sollte,  es  der  des  Glücklichen  sein  müßte."  *)  «Klug  be- 
sorgt und  umsichtig  lavirte  er,  ohne  seiner  Würde  etwas 
zu  vergeben,  durch  die  schwierigen  politischen  Ver- 
hältnisse, die  Deutschland  einen  andern  Charakter  gaben, 
so  daß  Napoleon  selbst  ihn  einen  der  geistvollem  deutschen 
Fürsten  nannte.* 2)  Schnell  und  unerwartet  starb  der 
Herzog,  der  niemals  ernstlich  krank  gewesen  war,  noch 
nicht  volle  50  Jahre  alt,  am  17.  Mai  1822  in  Folge  „einer 
in  den  Körper  geschlagenen  Flechte"  *)  nach  kurzem 
Krankenlager  und  wurde  auf  der  „Insel*  im  Park  zu 
Gotha  neben  seinem  Vater  und  seinen  im  Tode  ihm 
vorausgegangenen  beiden  Brüdern  beigesetzt. 

Herzog  Augusts  zweite  Gemahlin4)  überlebte  den 
Gatten  sechsundzwanzig  Jahre;  sie  starb  am  22.  Februar 
1848  und  wurde  zu  ihrem  Gemahl  auf  der  Parkinsel  be- 
stattet. Mit  Augusts  jüngerem  Bruder  Friedrich6), 
seinem  Nachfolger  in  der  Regierung  des  gothaischen 
Landes  als  Friedrich  IV.,  der  unter  der  Wirkung  eines 
Gehirn polypen  nach  kaum  dreijähriger  Regierung  schon 
am  11.  Februar  1825  verstarb,  erlosch  sein  Stamm. 

Durch  seine  einzige  Tochter  Louise6),   die  spätere 

*)  Jacobs  1822,  Seite  499— f»00;  Beck  I  1868,  Seite  481. 

2)  v.  Weber  1  1864,  Seite  322.  —  9)  Beck  1875  Seite  G83. 

*)  Uober  Augusts  zweite  Gemahlin,  Karoline  Amalie,  üuüert 
sich  Louise  Seidler  1874  Seite  80  und  Katharina  von  Bechtolsheim 
1902  Seite  112. 

ft)  Sein  liebenswürdiges  Wesen  hebt  v.  Weber  I  1804  S.  374 
hervor  und  sein  schreckliches  Leiden  schildert  H.  A.  0.  Reichard 
1877  Seite  610-514. 

*)  Nach  Galletti  V  1824  S.  26  hieß  sio  Dorothee  Louise,  nach 
Beck  1  1868  S.  430  Louise  Pauline  Friederike  Charlotte  Auguste; 
Uber  sie  handelt  Louise  Seidler  1874  S.  86-88,  welche  mit  ihr  be- 
kannt wurde  zur  Zeit,  als  sie  noch  Herzogin  von  Coburg  war. 


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—   G1S  — 


Gemahlin  des  Herzogs  Ernst  von  Sachsen  -  Coburg- 
Saalfeld,  deren  zweiter  Sohn,  Albert,  Prinzgemahl  der 
britannischen  Königin  Viktoria  wurde,  ist  Aemil  Leopold 
August  Urgroßvater  des  gegenwärtig  regierenden  Königs 
von  England,  Eduard  VII. 

* 

Aemil  Leopold  August  machte  als  Herzog  einen 
Unterschied  zwischen  seinen  Taufnamen  Aemil  und  August; 
seines  Rufnamens  August  bediente  er  sich  als  Regent  und 
in  Geschäftssachen,  den  Namen  Aemil,  den  er  seinem 
Paten  Friedrich  dem  Großen  folgend  und  diesem  zum 
Andenken  Emile  schrieb,  gebrauchte  er  als  Mensch  im 
freundschaftlichen  Verkehre  und  in  seinen  Briefen.1) 
Diese  Doppelnamigkeit  war  nicht  eine  leere  Spielerei, 
sondern  von  tieferer  Bedeutung  und  dem  Herzoge, 
dem  das  reiu  Menschliche  hoch  galt,  ein  inneres 
Bedürfnis;  er  selbst  versicherte,  als  er  das  Gesuch 
einer  sehr  geliebten  Person  nicht  erfüllen  konnte,  auf 
den  durch  seine  Unterschrift  bezeichneten  Unterschied 
des  Fürsten  und  Freundes  verweisend,  als  August  nicht 
erfüllen  zu  können,  was  er  als  Aemil  gern  gewünscht 
hätte.2)  Es  läge  daher  nahe  und  ist  auch  vorgeschlagen 
worden,  in  eiuer  Lebensbeschreibung  des  Herzogs  seine 
Namen  Aemil  und  August  zur  Inhaltsbezeichnung  ihrer 
zwei  Hauptabteilungen  zu  verwenden.8)  Es  kann  indessen 
hier  der  Ort  nicht  sein,  den  Regenten  August  zu  schildern; 
vortreffliche  Charakteristiken  desselben  haben  von 
Wüstemann,  Eichstädt  und  diesen  folgend  von  Lupin  auf 
Illerfeld,  ferner  Galletti,  Beck  und  der  geheime  Kriegsrat 
H.  A.  O.  Reichard  entworfen.  Die  Behauptung,  um  die 
Regieruug  seines  Landes  habe  sich  Herzog  August  wenig 

»)  von  WUsteniann  1823  Seite  7. 
«)  von  WUfltemann  1823  Seite  7—8. 
■1)  von  Wüsteinann  1823  Seite  8. 


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—    619  — 


gekümmert,  er  habe  sie  lediglich  seinen  trefflichen 
Ministern  überlassen1),  deckt  sich  weder  mit  dem  Hinweise 
auf  „oft  sehr  bedenkliche  Regierungs-Geschäfte"  des 
Herzogs*),  noch  mit  der  bestimmten  Angabe,  daß  viele 
Aenderungen  seiner  Regierung  aus  seinem  Geist  hervor- 
gegangen sind*),  noch  mit  der  Versicherung,  daß  er  die 
Regierungsgeschäfte,  die  er  mild  und  gerecht  führte,  bis 
zu  seinem  Ende  ohne  Aufschub  erledigte.4)  Als  Regenten- 
Tugenden  des  Herzogs  August  werden  hervorgehoben 
sein  ausgesprochener  und  unbeugsamer  Sinn  für  Recht 
und  Billigkeit5),  welcher  ihn  nicht  nur  hinderte,  jemals 
den  Lauf  eines  gerichtlichen  Verfahrens  zu  hemmen6), 
sondern  auch  dahin  führte,  daß  aus  seiner  Regierungs- 
zeit nicht  ein  einziger  Gewaltstreich,  nicht  eine  einzige 
vorsätzliche  Ungerechtigkeit  zu  berichten  ist.7)  Der 
Herzog  ehrte  Anhänglichkeit8),  aber  er  besaß  auch 
selbst  diese  Tugend  und  harrte  in  schwerer  Zeit  bei 
seinem  Volke  aus  ohne  Furcht  um  seine  Person.9)  Er 
war  ein  eifriger  Wohltäter  seines  Landes10)  und  trug 
Sorge  für  die  Verschönerung  seiner  Residenzstadt.11) 
Jedermann  aus  seinem  Volke  stand  der  Zutritt  zu  ihm 
offen.12)  Auch  liebte  er  das  Volk  und  ganz  besonders 
seine  Altenburger  Bauern,  die  er  seine  „Rembrandts"  zu 
nennen  pflegte.18)  Als  er  im  Februar  1819  zum  Landtage 
in  Altenburg  weilte,  erschien  er  auf  einem  am  2.  Februar 
von  der  vereinten  Kasino-  und  Ballgesellschaft  im  Gast- 
hofe zum  Hirschen  veranstalteten  Maskenballe  in  der  Tracht 
eines  Altenburger  Bauern,  begleitet  von  der  Frau  Hofrat 

»)  Louise  Seidler  1874  Seite  84.  —  »)  Galietti  V  1824  Seite  42. 

—  »)  von  Wllatemann  [Geh.  Kanzleisekretär]  1823  Seite  20.  — 
*)  Jacobs  VII  1840  Seite  177—178.  —  %)  Reichard  1877  Seite  183. 

—  ")  Derselbe  Seite  490.  —  7)  Derselbe  Seite  482—483.  —  *)  Der- 
selbe Seite  482.  —  ")  Derselbe  Seite  484;  Jakobs  VII 1810  Seite  178. 

—  I0)  Reichard  1877  Seite  484.  —  u)  Derselbe  Seite  484.  — 
»*)  Derselbe  Seite  479  — u)  G.  bei  Hennings  1832  Seite  27. 


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-    620  — 


Pierer  als  seiner  Bäuerin;  er  hatte,  anstatt  einen  Hof- 
schneider mit  der  Anfertigung  eines  solchen  Bauern- 
anzuges für  sich  zu  betrauen,  das  Festkleid,  welches  er 
trug,  von  dem  Bauern  Michael  Pohle  entliehen  und  stiftete 
diesem  dann  für  seine  Gefälligkeit  einen  silbernen  Becher 
mit  der  Inschrift:  „Ehret  der  Väter  Sitte  und  ihre 
Tracht."  Erst  nach  11  Uhr  hat  er  den  Ball,  auf  dem  er 
sich  zwanglos  bewegte,  verlassen.  Aus  Dankbarkeit 
brachten  die  Altenburger  Bauern  dem  Herzoglichen  Paare 
durch  acht  Deputierte,  je  vier  Männer  und  Frauen,  im 
März  1819  als  Geschenk  die  vollständige  Tracht  eines 
Bauern  und  einer  Bäuerin,  welche  der  Herzog  und  die 
Herzogin  mit  Hülfe  der  Deputierten  anlegten;  bei  diesem 
Anlasse  äußerte  launig  der  Herzog,  er  werde  nun  endlich 
so  glücklich  sein,  die  Waden  seiner  Frau  zu  sehen,  die 
er  noch  nie  zu  sehen  gekriegt  habe.') 

Bei  so  großen  Tugenden  bestanden  die  Regenten- 
Schwächen  des  Herzogs  hauptsächlich  darin,  daß  er 
Geldeswert  nicht  kannte2)  und  eine  allzugroße  Liebe  zu 
äußerm  Prunke  besaß8),  welche  ihn  zu  unnötigem  Auf- 
wand trieb.4)  Auch  herrschte  am  Hofe  eine  Günstlinge 
Wirtschaft*);  diese  ging  aber  nie  so  weit,  daß  es  möglich 
gewesen  wäre,  den  Herzog  lange  zu  täuschen.0)  „Nie- 
mand besaß  außer  dem  ihm  angewiesenen  Wirkungskreise 
eine  fremdartige  Einwirkung;  jeder  Versuch,  sie  zu  er- 
langen, hätte  sofortige  Abfertigung  oder  (ging  eine  Er- 
örterung vorher)  nachher  eine  desto  beschämendere  zu 
erwarten  gehabt.  Anmaßung  und  Unrechtlichkeit  fanden 
an  ihm  einen  entschiedenen  und  offenen  Feind."7) 

*  * 
* 


')  Hempel  1819  besonders  Seite  23—24;  35—36;  53—54;  65; 
67;  79  und  83.  —  •)  Reichard  1877  Seite  486.  —  *)  Derselbe  Seite 
491.  —  *)  Derselbe  Seite  484—485.  —  6)  Derselbe  Seite  486—487. 
—  «)  von  Wüsteraann  1823  Seite  9.  —  ')  von  WUstcmann  1823 
Seite  14. 


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—    G21  — 


Die  Persönlichkeit  des  Herzogs  als  Mensch  mit 
wenigen  Strichen  zu  zeichnen,  ist  eine  Unmöglichkeit;  nur 
allzu  leicht  wird  er  dem,  der  ihn  nicht  begreift,  zur 
Karikatur1)  .  .  „er  war  eine  so  buntschillernde  Er- 
scheinung, daß  man  mit  wenig  Worten  über  ihn  nicht 
auskommt."2) 

„Einer  der  geistvollsten  Fürsten,  die  ich  kenne*3) 

—  „ein  Fürst,  der  zu  den  merkwürdigsten  Erscheinungen 
unserer  Zeit  gehört"4)  —  „von  unbezweifelbarer 
Genialität,  mit  Excentricität  gemischt*5)  —  alles  dieses 
sagt  zwar  mit  wenigen  Worten  viel,  erschöpft  aber  die 
Eigenart  des  Mannes  bei  weitem  nicht;  mehr  enthalten 
schon  die  Epitheta:  „geistreich  und  edel*8)  oder  „Große 
Klugheit,  kein  bösartiges  Herz,  aber  beißender  Witz, 
dabei  Gefühl  für  Edelrauth  —  das  waren  allerdings  die 
Grundziige  seines  Charakters.*7) 

Im  Wesen  des  Herzogs  August  flößen  zwei  an- 
scheinende Gegensätze  zu  einem  nicht  unharmonischen 
Ganzen  zusammen;  das  waren  gewinnende  Liebenswürdig- 
keit und  beißender  Witz.  Seine  Liebenswürdigkeit  konnte 
bezaubern8);  aber  seine  Satire  schonte  niemanden;  bald 
wirkte  sie  verblüffend,  bald  verletzend ;  aber  den,  welchen 
er  beleidigte,  versöhnte  er  durch  Huldbeweise.9)  Seine 
beißenden  Epigramme,  Rätsel,  Wortspiele  und  Witzworte, 
die  fast  alle  den  Stempel  plötzlicher  Eingebung  tragen, 
so  daß  Jean  Paul  Friedrich  Richter  ihn  ohne  Schmeichelei 
den  „witzigsten  Fürsten*  nennen  konnte10),  wurden  meist 

»)  So  nennt  ihn  Louise  Scidlcr  1874  Seite  88  einfach  „dieses 
SröUte  Original  mner  Zeit.4'  -  -)  H.A.  0.  Reichard  1877  Seite  505. 

—  ')  Napoleon  I.  bei  von  Weber  186-1  Seite  821;  322;  G.  bei 
Hennings  1832  Seite  27.  —  *)  Jacobs  VI  1837  (1828)  Seite  450.  — 
ß)  von  Weber  I  1804  Seite  373.  —  ö)  H.  A.  0.  Reichard  1877  Seite 
505.  —  ')  Derselbe  Seite  482.  —  H)  wie  sie  den  Komponisten  Carl 
Maria  von  Weber  bezauberte;  von  Weber  1  1864  Seite  325.  — 
•)  von  Weber  I  1864  Seite  328.  —  ,0)  Richter  1805  Seite  14. 


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bei  Tische  laut  vorgebracht,  durch  die  umstehenden 
Dieuer  weiter  verbreitet  und  bisweilen  zum  Stadtgespräche. 
„Die  Vornehmen  fürchteten  daher  diese  Satyre  des 
Herzogs,  weil  sie  oft  wunde  Flecke  traf,  und  so  wurde 
manche  Schlechtigkeit  verhütet.  Man  scheute  sich  mehr 
vor  dein  Herzog  August  und  seinem  Spott,  als  vor  dem 
würdigen  Ernste  seines  trefflichen  Vaters,  der  es  höchstens 
bei  einem  stummen  Achselzucken  bewenden  ließ,  wenn 
es  ihm  zu  arg  wurde."1) 

Leider  sind  die  Scherze  des  Herzogs  August  nicht 
gesammelt  worden;  immerhin  wurde  genug  zur  Charakter- 
istik ihres  Schöpfers  durch  den  Druck  bekannt2);  nur 
einige  wenige  für  die  Eigenart  des  Herzogs  besonders 
typische,  aus  Werken  entnommen,  in  denen  man  sie  kaum 
vermutet,  mögen  hier  Platz  finden.  Dem  Kammerherrn 
Ernst  Ludwig  Karl  von  Seebach,  einem  höchst  achtungs- 
werten Herrn  von  wenig  gesellschaftlichen  Talenten,  der 
neben  ihm  bei  Tische  saß,  gab  der  Herzog  das  leicht  zu 
erratende  Rätsel  auf:  „Was  ist  das?  Die  erste  Silbe  ist 
ein  großes  Wasser,  die  zweite  ist  ein  kleines  Wasser  — 
das  Ganze  aber  ist  doch  unbeschreiblich  trocken."8)  — 
Auf  einem  Maskenballe  bemerkte  der  Herzog,  wie  ein 
junger  Kaufmann  namens  Tröbsdorf,  den  er  unter  der 
Verkleidung  erkannt  hatte,  einer  weiblichen  Maske  stark 
den  Hof  machte;  der  Herzog  trat  auf  ihn  zu,  klopfte 
ihm  vertraulich  auf  die  Schulter  und  sagte  laut:  »Tröbs- 
dorf mit  der  Elle  —  verliebt  sich  schnelle!"    Der  An- 

')  Reichard  1877  Seite  483—484.  Derselbe  sagt  Seite  501 : 
„Diese  Spiele  des  Witzes  zu  sammeln,  wäre  ein  verdienstliches 
Werk"  .  .  . 

*)  In  der  am  Schluß  aufgeführten  Literatur  sind  deren  etwa  80 
enthalten;  sie  finden  sich  bei  Appun,  Beck  (I  1868  Seite  449—451), 
Förster  (Iii  1817  Seite  787:  IV  1854  Seite  834),  G.  bei  Hennings 
(1832  Seite  25—27),  Keichard  (1877  Seite  483;  495;  500—505), 
Louise  Seidler  (1874  Seite  90—91)  und  von  Weber  (I  1864  Seite  323). 

')  „Anekdote"  1805;  Louise  Seidler  1874  Seite  91. 


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—   623  — 


geredete,  welcher  sein  Gegenüber  sofort  erkannte,  ant- 
wortete mit  großer  Geistesgegenwart:  „Ich  führe  meine 
Elle  mit  Verstand  —  das  Scepter  ruht  in  August'* 
Hand!"  Weit  entfernt,  „dergleichen  gegen  ihn  gerichtete 
Sarkasmen"  übel  aufzunehmen,  ergötzte  sich  der  Herzog 
darüber  im  Gegenteil  außerordentlich;  eine  passende  Ent- 
gegnung imponierte  ihm ;  auch  konnte  er  über  eine  solche 
aus  vollem  Halse  lachen1);  Freimut  und  geistreiche 
Lebendigkeit  sprachen  ihn  an.2)  —  Eines  Tages  erschien 
er  bei  einer  festlichen  Gelegenheit  im  Kreise  des  ver- 
sammelten großen  Hofstaates  und  sprach  mit  jedem  der 
Anwesenden  außerordentlich  freundlich  einige  Worte,  die 
indes  auch  jeden  ein  sehr  verdutztes  Gesicht  machen 
ließen.  Als  man  sich  nach  der  Feier  eifrig  fragte:  »Was 
hat  der  Herzog  zu  Ihnen  gesagt?",  äußerte  der  Erste: 
„Wunderbar!  mir  sagte  er  höchst  liebenswürdig:  „Eins! 
zwei!  drei!".  »Und  mir",  sagte  der  Nächste,  „rief  er 
höchst  herablassend  in's  Ohr:  „Vier!  fünf!  sechs!",  und 
so  hatte  der  Herzog,  statt  des  ebenso  wenig  sagenden 
Courgesprächs,  zählend  seinen  fürstlichen Cercle  gemacht. *) 
Goethe  teilt  1808 4)  von  ihm  mit:  „Ich  habe  mich  nicht 
über  ihn  zu  beklagen;  aber  es  war  immer  ängstlich,  eine 
Einladung  zu  seiner  Tafel  anzunehmen,  weil  man  nicht 
voraussehen  konnte,  welchen  der  Ehrengäste  er  schonungs- 
los zu  behandeln  zufällig  geneigt  sein  möchte'1.  Und  der 
Herzog  fragte  eines  Tages  die  aus  Weimar  gebürtige 
Malerin  Louise  Seidler:  „Was  macht  Euer  Kunstpapst ?u 
Damit  raeinte  er  Goethe5).  Auch  nannte  er  Goethe  einen 
„Pedanten««). 

- 

»)  Louise  Seidler  1874  Seite  91.  —  Sonderbar  klingt  gegenüber 
diesem  „Lachen  ans  vollem  Halse"  Jacobs  Versicherung  (VII  1810 
Seite  177):  „Sein  Geist  schien  immer  in  Bewegung.  Ich  habe  ihn 
nie  gähnen,  aber  auch  nie  von  Herzen  lachen  gesehn".  —  e)  Reichard 
1877  Seite  882.  —  ')  von  Weber  I  1864  Seite  323.  —  ")  J.  W. 
von  Goethe  (1808)  27.  Teil  Seite  181  n.  695.  —  *)  Louise  Seidler 
1874  Seite  90.  —  •)  Beck  1  1868  Seite  448. 


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—   624  — 


Des  Herzogs  weiches,  gefühlvolles  Herz  erfreute  gern 
andere;    er  war  von  so  wohltätiger  Sinnesart,  daß  ihm 
nichts  größere  Freude  bereiten  konnte,  als  Geschenke  zu 
geben,  worin  seine  Freigebigkeit  keine  Grenzen  kannte1); 
daß  die   Wahl  seiner  Geschenke   bisweilen   recht  un- 
zweckmäßig ausfiel,  so  wenn  er  einem  Küchenjungen  eine 
astronomische  Uhr  schenkte,  den  Frauen  kleiner  Beamten 
mit  Blumenguirlanden  gezierte  seidene  Schleppkleider  an- 
fertigen ließ*)  oder  aus  Dankbarkeit  kleine  Gegenstände, 
einen  Fächer*),  Ringelchen  und  dcrgl.  fortgab,  die  für 
jeden   anderen,    als    einen    Liebhaber   wie    er  selbst, 
wertlose  Dinge  waren4),  kann  seiner  wohlwollenden  Ge- 
sinnung keinen  Abbruch  tun,  da  diese  Geschenke  für  ihn 
großen  Wert  besaßen   und  er  sich  dennoch  ihrer  ent- 
äußerte, und  konnte  auch  überdies  in  jedem  Falle  seinen 
ganz  besonderen  Grund  haben.    Diese  Freigebigkeit  war 
weit  eutfernt,  eine  Schwäche  zu  sein,  da  der  Herzog  An- 
maßungen auch  seiner  Begünstigten  scharf  zurückzuweisen 
pflegte5).    Eine  ganz  besondere  Leidenschaft,  welche  viel- 
leicht  seiner  Liebe  zu  Kindern  entsprang,  hatte  er  für 
das  Gevatterstehen :  er  bot  sich  selbst  als  Paten  an,  gleich- 
viel, ob  es  sich  um  das  Kind  einer  vornehmen  Familie 
oder  um  das  eines  Lakaien  handelte0).  Er  anerkannte  Ver- 
dienste jeder  Art,  ermunterte  Talente,  unterstützte  die  Armut 
aus  seinen  Handgeldern  und  begünstigte  überall  nicht  die 
Aristokratie  der  Geburt,  vielmehr  mit  sichtlicher  Vor- 
liebe die  des  Wissens,  des  Könnens  und  der  Bildung.7) 

Des  Herzogs  Schwächen  als  Mensch  bestanden  gegen- 
über allen   diesen  Vorzügen  namentlich  in  grenzenloser 

»)  Beck  I  1868  Seite  446;  Louise  Seidler  1874  Seite  89. 
9)  Louise  Soidler  1874  Seite  89.  —  *)  Dem  Oberbibliothekar  Rat 
Vulpius- Weimar  nach  G.  bei  üennings  1832  Seite  27;  von  Weber  I 
1864  Seite  823.  —  *)  von  Wober  I  1864  Seite  374.  —  »)  G.  bei 
Hennings  1832  Seite  27;  Beck  1  1868  Seite  446.  —  •)  Reichard  1877 
Seite  500.  —  *)  Herapel  1819  Seite  83. 


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—    625  — 


Eitelkeit1),  Geneigtheit  zum  Zorn8),  Neigung  zur  Reizbar- 
keit8), Mangel  an  Geduld4),  völligem  Mangel  an  Ver- 
ständnis für  Geldsachen5)  und  daraus  hervorgehender 
Verschwendungssucht8).  Es  fehlte  ihm,  der  viele  seiner 
Günstlinge  verachtete,  an  einem  von  ihm  geprüften,  an- 
erkannten und  aufrichtigen  Freunde,  dessen  ernste  Vor- 
stellungen seinem  hellen  Verstände  eine  würdigere  Rich- 
tung gegeben  haben  würden;  Beweis  dafür  ist,  daß  er  in 
seinem  reiferen  Alter  manche  Auswüchse  aus  eigener 
Ueberlegung  beseitigte7). 

Lässiger  Bequemlichkeit  ergab  der  Herzog  sich  allzu- 
gern. Gegen  Abhärtungen  des  Leibes  besaß  er  starke 
Abneigung.  Ritterliche  und  militärische  Uebungen,  Reiten, 
Jagen,  Schießen  waren  ihm  zuwider8).  Die  einzige  Be- 
wegung, welche  ihm  behagte,  war  der  Tanz,  dem  er  sich 
mit  Anmut  und  Grazie  hingab;  um  die  Tanzlust  zu  för- 
dern, besuchte  er  auch  Tanzvereine  der  höhern  Stände 
seiner  Residenzstadt  Gotha9).  In  den  späteren  Jahren 
lag  er  viel  zu  Bett  und  erhob  sich  erst  zur  Zeit  der 
Mittagstafel;  im  Bette  liegend,  mit  Ringen  geschmückt, 
empfing  er  Besuche,  auch  seinen  Ministerrat  und  die 
Gesandten,  hier  diktierte  er  seine  Briefe  und  seine  in 
Worte  gebrachten  Phantasieen10).  An  eine  geregelte 
Lebensweise  sich  zu  binden,  widerstrebte  seiner 
Natur11). 

Den  Herzog  beherrschte  eine  Prachtliebe,  die  er  nur 
schwer  zu  zügeln  vermochte.     Die  Einrichtung  seiner 

»)  Reichard  1877  Seite  48ö;  486;  491—492.  —  »)  G.  bei  Hennings 
1832  .Seite  4.  —  ')  Beck  I  1868  Seite  447.  —  *)  G.  bei  Henninga 
1832  Seite  4.  —  »)  G.  bei  Hennings  1832  Seite  26;  Beck  I  1808 
Seite  447.—  «)  Louise  Seidler  1871  Seite  89—90.  —  ;)  Reicbard  1877 
Seite  485.  -  h)  Beck  1  1868  Seite  446—447.  —  9)  Eichstädt  1823 
Seite  21—22;  1849  Seite  54;  Galletti  V  1824  Seite  41—42;  Beck  I 
1868  Seite  447.  —  l0)  Beck  I  1868  Seite  447;  Reichard  1877  Seite 
494.      u)  Jacobs  VII  1840  Seite  177. 

J.hrbuoh  V.  40 


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-    62G  - 

Gemächer1),  der  Glanz  des  Hofes8),  die  zahlreichen 
Stellen  seines  Hausstaats,  welche  er  neu  geschaffen  hat8), 
legen  dafür  Zeugnis  ab;  doch  wird  anerkannt,  daß  er 
begründeten  Vorstellungen,  wie  der  des  alten  Obergärtners 
Wehmeyer,  der  an  der  Ueberzahl  der  kostspielig  zu 
unterhaltenden  Kieswege  Anstoß  nahm,  obwohl  er  sich 
anfangs  solchen  gegenüber  ablehnend  verhielt,  in  der  Folge 
doch  sich  zugänglich  zeigte*);  dagegen  versagte  sich  der 
Herzog  ohne  Schwierigkeit  den  Aufwand  für  Reisen  in 
entfernte  Länder,  für  Jagden,  für  Theater,  für  Spiel  und 
für  kostspielige  Liebschaften  mit  Frauen5). 

Herzog  August  gehörte  der  lutherischen  Kirche  an, 
doch  zeigte  er  eine  ausgesprochene  Vorliebe  für  [den 
römisch-katholischen  Kultus,  „vielleicht  nur,  weil  ihm 
dieser  die  Farben  darbot,  deren  er  zu  seinen  Gemälden 
bedurfte"0);  er  trat  aber  nicht,  wie  sein  unglücklicher 
Bruder  und  Nachfolger  Friedrich,  zur  katholischen  Kirche 
über,  nahm  vielmehr  wie  sonst  alljährlich  auch  auf  seinem 
Sterbebette  das  Abendmahl  nach  lutherischem^ Ritus 7)- 
Lebhaftes  Interesse  gab  er  auch  für  die  indischen. 
Religionslehren  kund8). 

Seine  politische  Auffassung  war  der  der  Mehrzahl 
seiner  deutschen  Zeitgenossen  entgegengesetzt;  er  verehrte 
schwärmerisch  Napoleon;  der  Umschwung  der  Verhält- 

')  Beck  1  1868  Seite  442-444;  Louise  Seidler  1874  Seite  93 
bis  94.  Beschreibung  des  Fliederziinmers  bei  Appun  "£  1900.  — 
9)  Reichard  1877  Seite  492.  —  s)  Galletti  V  1824  Seite  42.  — 
»)  Reiehard  1877  Seite  484.  —  s)  Galletti  V  1824  Seite.46— 47.^— 
«)  Jacobs  VII  1840  Seite  177.  —  7)  Beck  1 1868  Seite  447—448.  Nach 
Reiehard  1877  Seite  505  verlangte  er  das  Abendmahl  von  dem 
greisen  Oberhof'prediger  Schäffer,  der  als  Kanzelredner  den  auf  ihn 
gesetzten  Hoffnungen  nicht  entsprochen  hatte,  nur  um  ihn  nicht  zu 
kränken,  mit  der  Begründung:  „Ich  schätze  den  Mann,  denn  er 
glaubt,  was  er  lehrt."  —  ")  Louise  Seidler  1874  Seite  160;. 
ISO- 187. 


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—    627  — 


nisse  im  Jahre  1813,  dem  er  sich  klug  unterwarf,  berührte 
ihn  nicht  angenehm1). 

Dem  Herzog  August  war  ein  so  hochgradiger 
Sammeltrieb  eigen,  daß  er  sein  eigenes  und  ein  geerbtes 
enormes  Vermögen  durch  Ankauf  von  Raritäten  aller  Art 
verschwendete*);  der  Sammelgeist  der  sächsischen  Fürsten 
war  auf  ihn  übergegangen;  seine  Wohnräume  und  sein 
Schlafzimmer  bargen  reiche  Galerieen  von  Seltenheiten 
und  Merkwürdigkeiten  aus  allen  Gebieten  der  Natur,  der 
Kunst  und  der  Literatur  bunt  durcheinander;  so  kam 
unter  anderem  die  Seetzen'sche  (asiatische)  Sammlung  und 
das  auch  jetzt  noch  bedeutende  chinesische  Kabinett  des 
Herzogs  zu  Stande8).  Wenn  Alex,  von  Sternberg  sagt: 
Herzog  August  war  in  China  mehr  zu  Hause  als  auf  dem 
Friedensteine4),  so  ist  das  indes  wohl  nur  eine  von  den 
vielen  in  Bezug  auf  diesen  Herzog  beliebten  Uebertreib- 
ungen. 

Die  Beschäftigung  mit  Kunst  und  Wissenschaft,  die 
Unterhaltung  mit  durch  Kenntnisse,  Genie  oder  Bildung 
ausgezeichneten  Männern  und  literarisch  gebildeten  geist- 
reichen Frauen  zog  Herzog  August  den  gewöhnlichen 
Hof  Versammlungen  vor5).  Er  selbst  war  mannigfach  be- 
gabt. Er  hatte  nicht  griechisch  gelernt,  während  sein 
Vater  den  Homer-  in  der  Ursprache  lesen  konnte,  und 
auch  von  den  neueren  Sprachen  beherrschte  er  nur  die 
französische  gut  und  sprach  sie  gern;  erst  nach  und 
nach  wurden  auch  seine  wissenschaftlichen  Neigungen 
ernster6);  der  Grundzug  seines  Wesens  war  eben  ein 
künstlerischer.  Der  VVitter'schen  Schauspielergesellschaft 
räumte  er  mehrere  Jahre  hindurch  sein  Hoftheater  ein, 

»)  Beck  1 1868  S.  147.  —  -)  Louise  Seid ler  1874  Seite  89.  — 
*)  Reiehard  1877  Seite  496—199.  —  l)  nach  Beck  1  1868  Seite  415;  wo 
v.  Sternberg  diesen  Ausspruch  getan,  ist  mir  verborgen  geblieben; 
Beck  gibt  es  nicht  an.  —  A)  Galletti  V  1824  Seite  41.  —  ")  Jacobs 
VI  1837  (18-J3)  Seite  484;  Reichard  1*77  Seite  493—494. 

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—   628  — 


erteilte  aber  hernach  der  Feuersgefahr  wegen  die  Er- 
laubnis nicht  mehr1).  Viel  beschäftigte  ihn  das  Zeichnen ; 
er  war  Meister  im  Entwerfen  und  Ausführen  besonders 
landschaftlicher  Gegenstände  durch  flüchtige  Federzeich- 
nung*). Kunstwerke  der  Architektur  auszusinnen,  war 
eine  seiner  liebsten  Beschäftigungen;  nach  seinen  Angaben 
entwarf  ein  talentvoller  gothaischer  Architekt  viele  Risse 
von  Bauwerken,  in  denen  sich  die  reiche  Phantasie  oder 
der  richtige  Geschmack  ihres  Erfinders  zeigt  Während 
er  diktierte,  zeichnete  er  oft  mit  der  Feder  oder  dem  Bleistift, 
um  durch  reiche,  sinnvoll  angelegte  Landschaften,  meist 
Inseln,  seine  Besitzungen,  wie  er  scherzte,  zu  vermehren ; 
auch  gelangen  ihm  Karikaturzeichnungen  gut4);  in  den 
Federzeichnungen  kleiner  Landschaften  gelang  ihm  be- 
sonders der  Baumschlag4).  Der  Kandelaber  auf  der 
Höhe  von  Altenbergen  wurde  1811  nach  dem  Entwürfe 
des  Herzogs  August  errichtet*);  mit  der  Ausführung 
seiner  Ideen  konnte  er  den  Maler  Joseph  Grassi*)  vollauf 
beschäftigen.  Nicht  minder  lebhaftes  Interesse  wandte 
er  der  Tonkunst  zu,  wenn  auch  zu  tieferem  Eindringen 
und  beharrlichem  Fleiße  seine  Natur  nicht  neigte.  Mit 
Hülfe  seines  Kapellmeisters  Louis  Spohr  und  nach  dessen 
Fortgang  Andreas  Hombergs  setzte  der  Herzog  selbst 
Lieder  und  Sonaten  auf7).  Einige  seiner  Gedichte  wurden 
durch  Kompositionen  von  Himmel  und  Carl  Maria  von 

»)  Galetti  V  1824  Seite  41.  -  a)  G.  bei  Hennings  1832 
Seite  15  nota*).  —  »)  Jacobs  1822  Seite  502;  nach  diesem  von 
Lupin  auf  Illerfeld  182(5  Seite  74;  Beck  I  1868  Seite  443.  — 
«)  Reichard  1877  Seite  493  und  494.  —  B)  Appun  1900.  — 
a)  Ueber  den  Maler  Professor  Joseph  Grassi  1756 — 1838,  gebürtig 
aus  Udine,  handeln  Galletti  V  1824  Seite  40;  v.  Sternberg  1857 
Seite  94;  Beck  I  1868  Seite  445:  Louise  Seidler  1874  Srtte  249. 
-  7)  Jacobs  1822  Seite  502;  VI  1837  (1823)  Seite  465-466;  Galletti 
V  1824:  von  Lupin  1826  Seite  74;  von  Weber  I  1864  Seite  321: 
326;  373-374; 381;  Beck  I  1863 Seite  440;  442;  Reichard  1877  Seite 
194-495. 


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—   629  — 


Weber  dem  weiteren  Publikum  bekannt1).  Den  größten 
Teil  seinerZeit  aber  nahmen  sein  ausgedehnter  Brief  Wechsel 
und  seine  phantasiereiche  schriftstellerische  Tätigkeit  in 
Anspruch;  lebte  er  doch  in  seiner  Phantasie  wie  in  der 
Wirklichkeit;  besaß  er  doch  eine  divinatorische  Kraft  oder 
glaubte  wenigstens  an  eine  solche  in  sich  und  überredete 
sich  gern,  daß  auch  seine  Träume  der  Abdruck  des 
Wirklichen  wären8).  Bei  seiner  Schriftstellerei  kam  ihm 
sein  phänomenales  Gedächtnis  zu  Statten8).  Seine  Schrift- 
stellerei  selbst  aber,  ebenso  des  Herzogs  ausgesprochene 
Weiblichkeit  erheischen  an  dieser  Stelle  je  ein  besonderes 
Kapitel. 

Diese  allgemeine  Schilderung  des  Wesens  des  Herzogs 
August  beschließt  wohl  am  besten  eine  auf  manchen  seiner 
Porträts  in  Kupferstichen  befindliche  recht  passende  Unter- 
schrift : 

„Beschützer  des  Kechts,  von  den  Musen  geliebt  und 
der  Grazien  Zögling*'4). 


Des  Herzogs  Weiblichkeit. 

Alle  Nachrichten  über  den  Herzog  August  stimmen  in 
einem  Punkte,  der  für  die  Beurteilung  seiner  Geschlechts- 
natur von  wesentlicher  Bedeutung  ist,  überein:  „Daß 
ungeachtet  des  hohen  Wuchses  und  der  regelmäßigen 
schönen  Formen  seines  Körpers  eine  fast  weibliche  Weich- 
heit bemerkt  werden  konnte"5)  ....  „Schlank  und  von 
hohem  Wüchse,  hätte  er  im  Bau  der  Brust,  der  Hüften 
und  Arme  ein  schönes  Modell  des  Bacchus  gegeben,  die 
Umrisse  seiner  Glieder  waren  leicht  und  fließend;  Hände 
und  Füße  vorzüglich  schön;  die  Haltung  des  Körpers 

')  Jacobs  VI  1887  (1823)  Seite  4G5;  Beck  1  1868  Seite  440. 
—  *)  Jacobs  1822  Seite  502.  —  *)  Derselbe  1822  Seite  502.  — 
4)  Appun  1000.  —  »)  Beck  I  1868  Seite  429. 


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—   630  — 


zum  weiblichen  hingeneigt*1)  ....  „Obgleich  sich  sein 
Teint  und  die  Bildung  seines  Körpers  zur  weiblichen 
Natur  neigte,  konnte  er,  bei  seinem  hohen  Wuchs  im 
richtigsten  Ebenmaaße,  für  einen  schönen  Mann  gelten*2). 

Lassen  wir  von  den  Personen,  welche  auf  Grund 
engerer  persönlicher  Berührung  mit  Aemil  August  wirklich 
Beobachtetes  über  ihn  berichten  konnten,  zuerst  die 
Frauen  zu  Worte  kommen,  so  haben  die  Malerin  Louise 
Seidler  und  die  Hofdame  Katharina  Bueil  (spatere  von 
Bechtolsheim)  ihn  schon  kennen  gelernt,  als  er  noch  Erb- 
prinz war.  Die  Seidler,  eine  Weimarerin,  teilt  mit,  daß 
der  „phantastische  Erbprinz*  im  Hause  ihrer  Tante  Et- 
tinger in  Gotha  verkehrte  und  auch  nicht  fortblieb,  als 
er  den  Thron  bestiegen1),  daß  er  nach  einem  Hof  balle  seine 
sämtlichen  Tänzerinnen  mit  Pariser  Blumen  fürstlich  be- 
schenkte4); seine  zweite  Gemahlin  habe  ihn,  dessen  Geist 
sie  anstaunte,  schwärmerisch  geliebt5);  und  sie  schildert 
den  Herzog  mit  folgenden  Worten:  „Dieses  größte  Ori- 
ginal seinerZeit  war  schön  von  Gestalt  ;  seine  Erscheinung 
hatte  etwas  Damenhaftes,  besonders  wohlgeformt  waren 
seine  sorgfältig  gepflegten  Hände  und  seine  Füße.  Auch 
der  Kopf  wäre  schön  gewesen,  hätte  ihn  nicht  ein  schie- 
lendes Auge  verunstaltet.  Barock  in  Allem,  was  er  that, 
liebte  er  es,  bisweilen  mit  einem  türkischen  Shawl  drapirt 
oder  in  noch  phantastischeren  Costümen  zu  erscheinen. 
Gewöhnlich  trug  er  eine  ä  la  Titus  gelockte  Perücke 
vom  zartesten  Blond,  die  in  Paris  verfertigt  war.  Der 
Herzogliche  Bibliothekar  und  Sekretär,  mein  guter  Onkel 
Jacobs,  berühmt  als  gelehrter  Philolog,  mußte  zu  seinem 
größten  Kummer  sehr  oft  wegen  dieser  Perücke  mit 
pariser  Friseuren   correspondiren.    Des  Herzogs  Finger 

—  die  Daumen  ungerechnet  —  strotzten  von  kostbaren 

•)  Jacobs  1822  Seite  497:  wörtlich  aufgenommen  von  Lupin 
auf  Illerteld  182(i  Seite  70.  —  2)  G.  bei  Hennings  1832  Seite  3. 

—  ')  Louise  Seidler  1S74  Seite  32.  -  *)  Dieselbe  Seite  33.  — 
r')  Dieselbe  S.-ite  H>. 


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Aemil  August  als  Erbprinz 

(nach  einem  Oelgcmalde  von  Jos.  Grassi). 


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—    632  — 


Ringen,  die  Arme  von  Spangen  und  Armbändern.  Oft, 
wenn  er  sich  einbildete,  krank  zu  sein,  blieb  er  Wochen 
lang  im  Bette  liegen.    Dort  ertheilte  er  Audienzen  und 
empfing  seine  Damen.    Als  ich  mit  meiner  Tante  mich 
einst  nach  seinem  Befinden  erkundigte,  nahm  er  auch 
unsern  Besuch  in  seinem  Bette  liegend  an.    Während  des 
Gespräches  streifte  er  den  Aermcl  seines  weiten  weißen 
Nachtgewandes  kokett  bis  an  die  Schulter  zurück  und 
zeigte  uns  den  mit  einer  ganzen  Reihe  der  prachtvollsten 
Armbänder  geschmückten  Arm.    Den  Kopf  bedeckte  eine 
Art  Haube,  mit  kostbaren  Spitzen  garnirt.  Großen  Werth 
legte  er  auf  die  Toilette  der  Frauen,  welche  er  mit 
Kennerblick  musterte;  mit  seinen  Bemerkungen  darüber 
hielt  er  nicht  zurück;  „das  ist  ja  ein  wahres  Pfauenkleid", 
sagte  er,  als  ich  einst  in  einem  Gewände  von  buntem 
Seidenstoff  erschien;  bei  einer  anderen  Gelegenheit  rief 
er  aus:    „Welch  ein  schöner,  feiner  Sammt!"  und  strich 
mit  der  Hand  über  meinen  Rock.    Parfüms  aus  Paris 
verbrauchte  er  in  Menge;  ein  besonderes  Vergnügen  fand 
er  darin,  Eintretenden  ganze  Gläser  davon  entgegen  zu 
schütten."1)  B  Uebertrieben  eitel,  wie  Herzog  August  war, 
hatte  er  die  Eigenheit,  sich  von  allen  Malern,  die  nach 
Gotha  kamen,  portraitiren  zu  lassen,  um  zu  sehen,  wie 
jeder  ihn  auffasse.    Ich  hatte  ihn  zu  malen  in  einem 
violetten  Sammetrock  und  einer  Weste  von  Goldstoff. 
Von  dieser  Weste  erbat  ich  mir  eine  kleine  Probe,  um 
den  Stoff  richtig  nachzuahmen.    „Nein!",  sagte  er,  „keine 
Probe,  sondern   ein  ganzes  Stück  von   der  Goldtresse 
sollen  Sie  haben."    Wollte  Jemand  seine  Freigebigkeit 
abwehren,  so  verdoppelte  er  sie;  ich  weiß  dies  aus  eigener 
Erfahrung.    Bisweilen  genoß  ich  den  Vorzug,  mit  ihm 
und  seinem  Kammerherrn  allein  zu  speisen;  nach  der 
Tafel  ging  der  Herzog  auf  und  nieder  und  ließ  sich  von 


')  Louise  Seidler  1874  .Seite  88—89. 


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—  633 


mir  erzählen  oder  er  that  in  seiner  originellen  Art  allerlei 
Fragen.*1)  Das  von  der  Seidler  entworfene  Bild  des 
Herzogs  vervollständigt  der  folgende  Zug:  «Excellenz 
von  Thümmel,  der  vormalige  Minister,  war  ein  schöner, 
origineller,  geistreicher  Mann,  von  dem  die  geheime  Ge- 
schichte berichtet,  daß  er  sich  die  Gunst  der  damaligen 
Erbprinzessin  von  Gotha,  geboraen  Prinzeß  von  Mecklen- 
burg, erworben,  deren  weibischer  Gemahl  —  der  wunder- 
liche Herzog  August  —  dem  Lande  keinen  Erben  ver- 
hieß.148) .  .  Katharina  Freifrau  von  Bechtolsheim,  geborene 
Gräfin  Bueü,  etwa  15  Jahre  jünger  als  der  Herzog 
August  und  Hofdame  seiner  zweiten  Gemahlin,  äußert 
sich  über  diesen  also:  „An  einem  der  Tage,  die  Frau 
von  Stael  bei  uns  zubrachte,  wobei  sie  von  Benjamin 
Constant  begleitet  wurde,  kam  auch  Herzog  August 
von  Gotha,  um  ihre  Bekanntschaft  zu  machen,  noch  ehe 
sie  an  seinem  Hofe  erschien.  Was  soll  ich  von  diesem 
seltsamen  Manne  sagen,  der,  von  Phantasie,  Witz  und 
Geistesfülle  strotzend,  der  verkehrteste  Kopf  war,  den 
ich  je  gesehen?  —  Von  meinen  Kinderjahren  an  von 
ihm  mit  zuvorkommender  Güte  überhäuft  und  bald  nach 
jener  Zeit,  hauptsächlich  durch  ihn,  zur  Hofdame  seiner 
Frau  erwählt,  begegnete  er  mir  von  Neuem  auf  das 
Freundlichste.  Gern  las  er  mir  und  noch  einigen  Damen 
seine  Gedichte  und  Romanzen  vor.  Trotz  aller  Güte  und 
Zuvorkommenheit,  die  er  mir  beständig  und  bei  jeder 
Gelegenheit   bewies,   konnte   ich   ihm  jedoch  nicht  nur 

l)  Louise  Seidler  1874  S.  90.  -  *)  Dieselbe  S.  101.  Und  S.  86—87 
sagt  die  Seidler  mit  Bezug  auf  die  einzige  Tochter  des  Herzog«, 
Louise:  „Auch  die  sarkastische  Art  des  Herzogs  hatte  sicherlich 
keine  gute  Wirkung  auf  das  junge,  leicht  empfängliche  tiemtith: 
einmal  hörte  ich  selber  bei  einem  Souper  im  engeren  Kreise  des 
Hofes,  zu  welchem  ich  mit  meinen  Tanten  eingeladen  war  (die 
Herzogin  war  nicht  anwesend),  was  für  unpassende  Neckereien  der 
Vater  sich  gegen  seine  Tochter  erlaubte."  Leider  verschweigt  die 
Seidler,  welcher  Art  diese  Neckereien  waren. 


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—    034  — 


keinen  Geschmack  abgewinnen,  sondern  fühlte  mich  sogar 
im  grellsten  Gegensatz  zu  seinem  ganzen  Wesen  und 
seinen  phantastischen  Anschauungen.  Wie  auf  glühenden 
Kohlen  befand  ich  mich,  wenn  er  mir  dieselben  im  Feuer 
der  Rede  auseinandersetzte,  fa9t  noch  mehr  als  da  er  sie 
vorlas.  Ich  konnte  in  meinem  damaligen  Alter  viel 
weniger  als  späterhin  verbergen,  was  ich  dachte  und 
fühlte,  begreife  daher  "nicht,  daß  ich  ihm  nicht  bald 
ebenso  unerträglich  wurde,  als  er  es  mir  gewesen.  Ob 
ihn  davon  bisweilen  etwas  anwandelte,  weiß  ich  nicht, 
jedenfalls  konnte  ich  es  nicht  bemerken;  sehr  wunderte 
ich  mich,  als  er  sich  einstmals  mit  einer  geistvollen 
jungen  Person,  der  Tochter  des  Dichters  Gott  er  und 
Schwester  der  Frau  von  Sehe  Hing,  verabredete,  mich 
in  einem  Sonett  zu  besingen,  das  sie  mir,  zugleich  mit 
dem  ihrigen,  zeigte.  —  1  lerzog  August  traf  mit  Frau  von 
Stael  bei  uns  gerade  an  einem  Tage  zusammen,  an  dem 
sein  phantastischer  Kopf  übersprudelte;  die  beiden  konnten 
über  keinen  Gegenstand  einig  werden.  Ohne  eigentlich 
interessant  zu  sein,  war  das  Gespräch  in  seiner  Art 
merkwürdig,  ich  fand  es  sogar  ermüdend  und  wünschte 
ihn  in  meinem  Herzen  weit  hinweg,  worin  mir  aber  nicht 
gewillfahrt  wurde,  und  es  dauerte  übermäßig  lange,  bis 
er  uns  verließ.*1) 

Während  das  Ueb erweibliche  im  1  lerzog  August 
auf  beide  Frauen  unsympathisch  wirkte,  fällt  das  Urteil 
der  Männer  mehr  ungleich  aus. 

Goethe  schrieb  von  ihm  im  Jahre  1808:  »Des  re- 
gierenden Herzogs  August  von  Gotha  darf  ich  nicht 
vergessen,  der  sich  als  problematisch  darzustellen  und 

')  von  Bechtolsheim  1902  .Seite  103 — 105.  Katharina  von 
Bechtolsheim,  damals  noch  Gräfin  Bueil,  lebte  bei  ihrem  Pflegevater, 
dem  französischen  Enzyklopädisten  und  Literaten  Friedrich  Melchior 
Baron  von  Grimm;  der  oben  geschilderte  Besuch  der  Madame  de 
Stai-1  fällt  in  das  Jahr  1804. 


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—   635  — 


unter  einer  gewissen  weichlichen  Form  angenehm  und 
widerwärtig  zu  sein  beliebte"  .  . 

-  Der  Philologe  Friedrich  Jacobs,  dem  der  Herzog 
August  von  1810  ab  viel  in  die  Feder  zu  diktieren  pflegte, 
legt  die  weibliche  Natur  desselben  in  folgender  Schilderung 
fest:  „Der  Bau  seines  Körpers  war  ausgezeichnet  zu 
nennen,  sowohl  wegen  seiner  Größe,  als  wegen  seiner 
Regelmäßigkeit,  Die  starke  Rundung  seiner  Hüften  gab 
ihm  einen  weiblichen  Charactcr,  dem  auch  die  Weichheit 
seiner  Muskeln  und  die  Weiße  seiner  Farbe  entsprach. 
Diesen  äußerlichen  Kigenschaften  waren  auch  seine  Nei- 
gungen analog,  die  mehr  den  Stempel  des  Weiblichen  als 
des  Männlichen  trugen,  seine  Liebe  zum  Putze  und,  in 
j ungern  Jahren,  zu  phantastischer  Bekleidung  und  zum 
Gebrauche  kosmetischer  Mittel.  Auch  Anderes  hing  durch 
geistige  Fäden  mit  dieser  Anomalie  zusammen;  vorzüglich 
eine  gewisse  divinatorische  Kraft,  die  ihn  auch  das  wahr- 
nehmen ließ,  was  in  einer  Ferne  geschah,  zu  der  seine 
sehr  kurze  Sehkraft  nicht  reichte.  Das  Innere  Anderer 
errieth  er  leicht*2) 

Der  Komponist  Carl  Maria  von  Weber  hat  eine 
Schilderung  des  ihm  befreundet  gewesenen  Herzogs  ge- 
geben, welche  die  Haupteigenschaften  desselben,  seine 
Weiblichkeit  uud  sein  weiches  Empfinden  mit  seiner 
Spottlust  in  sinnlich-harmonischer  Verschmelzung  veran- 
schaulicht:   „Seine   Erscheinung    hat    Etwas  ungemein 

'!  Johann  Wolfgang  von  Goethe  1808  Seite  181  n.  695.  —  Der 
Herausgeber  der  angezogenen  Ausgabe  setzt  Seite  i:A  zu  n.  (i9ö 
hinzu:  „Herzog  August  von  Gotha  war  problematisch  bis 
zum  entschiedenen  Sonderling,  und  in  seiner  weichlichen  Form 
ging  er  so  weit,  dali  er  bei  öffentlichen  Veranlassungen  in  Frauen- 
kleidern erschien.  Ueber  das  Zusammentreffen  mit  ihm  1808  in 
Karlsbad  spricht  G.  ähnlich  wie  hier  sieh  im  Brief  an  Frau  v.  Eyben- 
berg  vom  12.  August  aus,  desgleichen  in  ungedruckten  Briefen  an 
Silvie  v.  Ziegesar  vom  3.  und  5.  desselben  Monats." 

-)  Jacobs  VII  1840  Seite  177. 


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—   636  — 


Edles  und,  trotz  seiner  hoben  Statur,  Weiches,  fast  Weib- 
liches, woher  auch  seine  Liebhaberei  für  weibliche  Putz- 
stücke rührte.  Das  Obergesicht  mit  der  runden,  -fast 
Schiller'schen  Stirn,  der  feingeschnittenen,  krummen  Nase, 
den  schönen,  tiefen  Augen  bewohnte  der  Ausdruck  fast 
lieblich  zu  nennender  geistvoller  Freundlichkeit^  während 
das  Ganze  durch  die  faunisch  emporgezogenen  Winkel 
des  sinnlich  geformten  Mundes  mit  etwas  vorgeschobener 
Unterlippe  einen  Beigeschmack  von  Satyrhaftem  erhielt, 
der  indeß  der  Interessantheit  der  Erscheinung  keinen 
Abbruch  that."  .  .  .  Ueber  des  Herzogs  Gefallen  an 
weiblichem  Putz  heißt  es  bei  von  Weber:  .  .  .  „Ein 
andermal  erschien  er  mit  einem  Frauenrocke  zum  Galla- 
anzuge  oder  in  römischem  Costüm  mit  Toga,  rothen 
Corduan-Schnürstiefeln  und  einem  Kranz  im  Haar  oder 
mit  einem  Frauenschleier  auf  dem  Hute,  ein  drittes  Mal 
überreichte  er  Vulpius  für  eine  Hofdienstleistung  zur 
Belohnung  einen  —  Fächer,  den  die  Gräfin  Cosel  getragen 
hatte  u.  s.  w.,  ohne  daß  er  sich  indeß  solche  Scherze  je- 
mals in  Staatsgeschäften  erlaubt  hätte.  Fast  täglich  er- 
schien er  mit  anders  gefärbtem  Haar,  sodaß  ihn  sehr  oft 
seine  eigenen  Diener  nicht  kannten.*2)  „Ein  Freund  des 
heitern  Glanzes,  der  vornehmen  Form  und  feinen  Sitte, 
wachte  er  streng  darüber,  daß  in  den  Ton  des  Hofes 
kein  Anklang  von  der  militärischen  und  jagdmäßigen 
Derbheit  kam,  die  damals  an  vielen  kleinen  Höfen,  in 
Nachahmung  des  Napoleonischen  Soldatenhofes  zu  Paris, 
an  die  Stelle  der  gedrechselten  Haarbeutelformen  trat, 
mit  denen  man  sich  fünfzig  Jahre  lang  gegenseitig  ge- 
quält hatte.«8) 

Die  Eigentümlichkeiten,  welche  den  Herzog  August 
als  Sonderling  erscheinen  ließen,  glaubte  der  gothaische 
Geheime  Kriegsrat  H.  A.  O.  Reichard  unparteiischer  als 

')  von  Weber  I  1864  Seite  323—824.  —  «)  von  Weber  I  1864 
Seite  323.  —  *)  von  Weber  I  1864  Seite  824. 


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—   637  — 


irgend  ein  anderer  würdigen  zu  können;  da  er  weder 
über  des  Herzogs  Ungnade  zu  klagen,  noch  ausgezeichneter 
Gnadenbezeugungen  von  ihm  sich  zu  rühmen  hatte,  so 
konnte  er  sich  mitten  zwischen  Lob  und  Tadel  stellen. 
Er  macht  sich  daher  nicht  ganz  die  schiefe  Auflassung 
L.  A.  Böttiger's  zu  eigen,  der  in  einem  Briefe  an  Reichard 
vom  25.  Mai  1822  den  ihm  persönlich  bekannten  Herzog 
„aus  Eitelkeit  Weichling,  aus  Witzsucht  Sonderling, 
übrigens  den  edelsten  Menschen,  und  dabei  sehr  klug" 
genannt  hatte.1)  Freilich  führt  auch  er  den  weibischen 
Zug  in  des  Herzogs  Wesen,  seinen  Anschluß  an  einige 
Damen  in  den  ersten  Jahren  seiner  Regierung  und  seinen 
Umgang  mit  „schönen  Mannspersonen "  auf  seine 
»grenzenlose  Eitelkeit"  zurück;  diese  wiederum  erklärt 
er  als  durch  falsche  Erziehung  ursprünglich  geweckt  und 
durch  Schmeicheleien  mancher  Speichellecker  in  seiner 
Umgebung  genährt.2)  Als  eine  Kundgebung  seiner 
Eitelkeit  faßt  er  auch  des  Herzogs  Vergnügen  auf,  sich 
derart  oft  malen  zu  lassen,  daß  überhaupt  nur  wenige 
Maler  nach  Gotha  gekommen  wären,  die  ihn  nicht  gemalt 
hätten;  bald  ließ  er  sich  als  Apollo,  bald  als  Raphael, 
bald  in  einer  andern  Maske  malen;  als  das  dem  Herzoge 
ähnlichste  Bild  erklärt  er  das  Bild  von  Grassi,  welches 
den  Herzog  im  Momente  des  Diktierens  darstellt  und, 
durch  Steinla  in  Kupfer  gestochen,  dem  12.  Bande  von 
Hennings'  Deutschem  Ehrentempel, Gotha  1832,  beigegeben 
ist8) ;  mit  der  Eitelkeit  bringt  Reichard  die  üppige  Pracht- 
entfaltung des  Hofes,  welche  in  Gotha  seit  den  Tagen 
der  geistreichen  Louise  Dorothea  nie  so  glänzend  ge- 
wesen, wie  unter  dem  Herzog  August,  in  Zusammenhang; 
nach  dessen  Tode  wich  das  Gewühl  schöner  gestickter 
Uniformen,  das  Rauschen  prächtiger  seidener  Gewänder, 

»)  Reichard  1877  Seite  482.  —  ■)  Derselbe  1877  Seite  485.  — 
8)  Derselbe  1877  Seite  485.  Eine  verkleinerte,  aber  getreue  Wiedergabe 
diese«  Bildes  findet  der  Leser  auf  Seite  639  dieser  Arbeit 


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—    638  — 


das  Gedränge  von  Lakaien  und  der  strahlende  Schimmer 
der  Kerzen  plötzlich  einer  unheimlich-gespensterhaften 
Oede  in  dem  leereu,  unermeßlichen  Gebäude  des  Frieden- 
steins1); die  Eitelkeit  veranlaßt«  auch  den  Herzog,  sieh 
mit  Orden  zu  schmücken,  deren  er  elf  bei  seinem  Tode 
besaß;  gewöhnlich  trug  er  eine  große  Schnalle  eigener 
Erfindung,  einen  ovalen  Goldreif  mit  acht  verkleinerten 
Ordenskreuzen2).  In  seiner  Prachtliebe  nicht  weniger 
als  in  der  freigebigen  Fordernis  aller  Künste  und  Wissen- 
schaften findet  ihn  Reichard  Lorenzo  von  Medici,  dem 
Prächtigen,  vergleichbar8);  allein  an  Ringen  fand  man 
bei  seinem  Tode  hunderte;  sie  waren  oft  von  einer  sehr 
geistreich  ersonnen en  Fassung  und  Form,  welche  der 
Herzog  selbst  angegeben.  „Er  hatte  dazu  einen  jungen 
Künstler  namens  Rosenberg  angeleitet,  der,  ohne  im 
Auslande  einen  langen  Aufenthalt  genommen  zu  haben, 
doch  mit  den  Künstlern  von  London  und  Paris  wett- 
eifern konnte;  er  starb  kurze  Zeit  vor  seinem  fürstlichen 
Herrn.*4)  Als  einen  besondern  Zug  des  Herzogs  führt 
Reichard  an,  daß  er  in  Gegenwart  von  Damen  es 
manchmal  liebte,  „schmutziger,  unanständiger  Ausdrücke* 
sich  zu  bedienen;  als  einmal  eine  nicht  gerade  vornehme 
Dame  durch  solche  Ausdrücke  veranlaßt  mit  den  Worten 
aufstand:  „Ich  merke,  Ew.  Durchlaucht  wünschen,  daß 
wir  uns  entfernen  sollen*,  brachte  ihn  dieser  Freimut 
sogleich  zum  Schweigen  —  ein  Beleg,  wie  er  feine 
Zurechtweisungen  nieht  übel  nahm6).  Was  Reichard  über 
den  Verbrauch  des  Herzogs  an  Pomaden  u.  dergl.  und 
von  seiner  Günstlingswirtschaft  mitteilt,  sei  hier  wörtlich 
wiedergegeben:  „Leider  hatte  man  dem  Herzog  August 
weder  in  seiner  Jugend,  noch  selbst  später  Geld  in  die 
Hände  gegeben  oder  ihn  auch  nur  mit  dem  Geldwerthe 

»)  Reiohard  1877  Seite  492—493.  —  «)  Derselbe  1877  Seite  493. 
—  s;  Derselbe  1877  .Seite  485;  491:  493.  —  ')  Derselbe  1877  Seite 
491.  -  ■•)  Derselbe  1877  Seite  503. 


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August, 

Herzog  zu  Sachsen-Gotha  und  Altenburg. 
Aus  „Deutscher  Ehren-Tempel",  Zwölfter  Band,  Gotha  1832. 
J.  v.  Grassi  gem.    M.  Steinla  gest. 


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—   640  — 


vertraut  gemacht;  der  Fürst,  der  Tause.nde  wegschenkte, 
wäre  nicht  im  Stande  gewesen,  einen  Thaler  nach  Groschen 
uud  Pfennigen  zu  zählen.  Es  ging  ihm,  wie  dem  Spieler, 
der  mit  Marken  spielt  und  diese  zu  ganzen  Händen  voll 
auf  die  Karte  setzt,  während  er  mit  wirklichem  Golde 
oder  Silber  sich  weit  anders  bedenken  würde.  Weil  es 
ihm  immerfort  an  baarem  Gelde  gebrach,  so  war  er  in 
Waaren  über  Gebühr  freigebig,  denn  diese  konnte  er  zu 
hohen  Preisen  und  Procenten  stets  auf  Wechsel  erhalten ; 
da  jedoch  zuletzt  deren  Zahlung  nach  zwanzig-  und 
mehrjährigen  Fristen  angesetzt  war,  so  kosteten  dem 
Fürsten  die  Artikel,  welche  er  verschenkte,  das  Zehn- 
und  Zwanzigfache  ihres  wahren  Werthes.  Beispielsweise 
fand  man  gelegentlich  der  Inventur  in  einem  Zimmer 
Oele,  gebrannte  Wasser,  Eaux  de  seuteur,  Pomaden, 
Schminken,  Obstweine  und  ähnliche  Dinge  immer  zu 
zwölf  Dutzenden;  nach  den  Rechnungen  hatte  das  alles 
nicht  weniger  als  vierzigtausend  Thaler  gekostet,  war  aber 
nun  keine  viertausend  werth,  denn  der  Fürst  hatte  das 
Depot  vergessen  und  vieles  war  verdorben.  Die  Bestände 
wurden  nachher  verkauft  und  mehrere  tausend  Thaler 
daraus  gelöst. 

„Der  Herzog  äußerte  in  meiner  Gegenwart  einmal 
bitter:  mit  allen  seinen  Wohlthaten  schatte  er  sich  doch 
nur  Undankbare.  In  der  That  wurden  seine  Geschenke 
häufig  ganz  ungescheut  von  deu  Beschenkten  mit  25 
oder  30  Procent  ihres  Werthes  an  den  Dritten  wieder 
versilbert,  worin  namentlich  Palmer1)  Starkes  leistete. 
Daß  die  geschenkten  Waaren  von  den  Empfängern  um- 
getauscht wurden,  war  das  Gewöhnliche;  so  z.  B.  hatte 
er  in  Leipzig  für  einige  hundert  Dukaten  echtes  Rosenöl 
gekauft   und   unter   verschiedene   Personen   aus  seiner 

')  Ueber  Palmer,  den  „Regicrnnga-Paliuer",  und  seinen  Einfluß 
auf  den  Herzog  handelt  Reichard  1877  S.  483;  48«;  487—491.  Er 
soll  Jude  gewesen  sein,  seine  Frau  eine  Köchin  aus  Wien. 


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—    641  — 


Umgebung  vertheilt;  die  alte  Generalin  von  Zastrow  ver- 
tauschte das,  was  sie  empfangen,  sogleich  wieder  gegen 
andere,  ihr  nützlichere  Dinge  um  hundert  Thaler.  Erfuhr 
er  dergleichen,  so  nahm  er  es  bisweilen  übel;  ungehalten 
war  er  z.  B.,  als  der  Gratulationsgesandte  eines  Hofes, 
dem  er  bei  seinem  Regierungsantritte  eine  Dose  mit 
einem  Brillanten  im  Werthe  von  5000  Thalern  gab,  letzte- 
ren an  einen  Juwelier  verkaufte.  Als  ein  Günstling  von 
ihm  die  Patentpistolen  aus  dem  Nachlasse  des  Herzogs 
Ernst  erhalten  und  zu  Gelde  gemacht  hatte  (ich  gedachte 
oben  dieser  Pistolen  als  eines  Gegenstandes,  meiner  stillen 
Wünsche)  mußte  der  Käufer  sie  zurückgeben  und  sich 
ein  paar  andere  in  Suhl  bestellen.  Dann  wiederum  — 
je  nachdem  er  bei  Laune  war  —  litt  der  Herzog,  daß 
die  von  ihm  an  seine  Günstlinge  geschenkten  Häuser, 
Mühlen,  Landgüter  u.  s.  w.  von  den  Empfängern  wieder 
verkauft  werden  durften.  Ein  heimgefallenes,  ansehn- 
liches Lehen,  Liebenstein,  schenkte  er  noch  ein  Jahr  vor 
seinem  Tode  einem  Lieblinge,  dem  er  es  versprochen 
hatte;  denn  strenge  Gewissenhaftigkeit  im  Halten  einer 
einmal  gegebenen  Zusage  war  eine  seiner  Tugenden. 
Jener  verkaufte  Liebenstein  schon  einige  Wochen  darauf. 
Wenn  es  wahr  ist,  daß  die  Schuldeumasse  des  Herzogs 
bei  dessen  Tode  541 000  Thaler  betrug,  so  ist  ihre  Größe 
nicht  nur  kein  Wunder,  sondern  es  erscheint  bei  dem 
vorhin  von  mir  geschilderten  Geschäftsgange  eher 
wunderbar,  daß  sie  nicht  weit  riesiger  ist,  denn  wenn 
man  mit  den  18  Regierungsjahren  in  jene  Summe  hinein- 
dividirt,  so  fällt  noch  immer  wenig  genug  aufs  Jahr; 
es  giebt  Regenten  seiner  Zeit,  gegen  deren  Schuldenhöhe 
die  Verschuldung  des  Herzogs  August  als  eine  wahre 
Kleinigkeit  gelten  kann.-  ') 

Alles  in  allem   war  der  Herzog  von  einer  eigenen, 
höchst  bezeichnenden,  buntscheckigen  Vielseitigkeit  seines 
~')"  Roichard  1877  Seite  480—487. 

Jahrbuch  V.  41 


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—    642  — 


Wesens.  „Er  war  —  besonders  wenn  er  es  sich  vor- 
genommen hatte  —  im  Umgange  der  liebenswürdigste, 
aufheiterndste,  geistreichste,  glänzendste,  hochsinnigste> 
dezenteste,  würdevollste  Sterbliche;  allein  er  konnte 
in  ganz  demselben  Grade  auch  das  grelle 
G  e  gen  t  heil  von  dem  allen  sein."1)  Seine  Be- 
trachtungen über  den  Herzog  August  schließt  Ileichard 
mit  den  Worten:  „Und  wenn  auch  kein  Ernst  II.,  so 
war  Herzog  August  doch  sieher  nicht  die  groteske 
Carieatur,  zu  der  man  ihn,  ohne  auch  nur  das  aller- 
geringste Gute  an  ihm  zu  lassen,  hat  machen  wollen,  und 
zwar  leider  vielfach  gerade  von  solcher  Seite,  die  dem 
Verewigten  für  manche  Wohlthat  dankbar  verpflichtet 
gewesen  wäre."  *) 

Eine  solche  Karikatur  hat  von  den  Schriftstellern, 
welche  dem  Herzoge  persönlich  begegnet  waren,  Friedrich 
Förster  aus  ihm  zu  machen  versucht,  indem  er  denselben 
bei  Gelegenheit  der  Schilderung  einer  dem  Herzoge  zu 
Ehren  veranstalteten  Festlichkeit  zu  Altenburg  folgender- 
maßen beschreibt:  „Eine  komischere  Erscheinung  wie 
diese  Durchlaucht  ist  mir  in  meinem  ganzen  Leben  nie 
wieder  zu  Gesicht  gekommen.  Er  war  damals  wohl 
schon  ein  Mann  von  reifen  Jahren,  verwandte  aber  die 
Toilettenkünste  des  Boudoirs  einer  Pariser*  Modistin 
darauf,  für  eiue  weibliche  Schönheit  zu  gelten.  Es  war 
von  ihm  bekannt,  daß  er  einst,  als  Fanchon  verkleidet, 
mit  dem  Leierspiel  der  Savoyardin  die  Leipziger  Messe 
besucht  und  auf  Classig's  Kaft'eehause,  in  Auerbach'** 
Keller,  in  der  „blauen  Mütze"  und  anderen  Kneipen  gute 
Geschäfte  gemacht  hatte.  Er  trug  eine  blonde  Locken- 
perrücke,  schielte  ganz  verzweifelt,  war  roth  und  weiß  ge- 
schminkt, unter  einem  rosaseidenen  Gilet  schimmerten 
Blonden  am  feinen  Battistchemisett,  dessen  Brillantknöpfe 


')  Kek'barti  1*77  Seite  503.  —  *)  Derselbe  1877  Seite  505. 


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—    043  — 


absichtlich  gelöst  wareD,  um  die  Wellenlinien  des 
Schwanenhalses  und  des  Busens  sehen  zu  lassen;  an  den 
schön  gepflegten  Fingern  seiner  alabasterweißen  Hände 
rosige  Nägel,  so  lang,  daß  man  hätte  Kämme  daraus 
schnitzen  können.    Insonderheit  erschien  Sc  Durchlaucht 


Herzog  August  von  Gotha  als  Griechin 

(nach  einem  Bilde  der  „Gartenlaube"  1857,  Nummer  7,  Seite  93) 


am  Frühstückstische  in  vollständiger  Pameutoilette,  mit 
einem  Morgenhäubchen  von  den  feinsten  Brüsseler 
Kauten,  Mantille,  Spitzenkragen  und  dergleichen  Aermeln, 
die  jedoch  sehr  kurz  waren,  da  er  seine  Oberarme  für 
die  schönsten  Gliedmaßen  seines  Körpers  hielt.  Als  eine 
der  anwesenden  Damen    einen  Blick    nach    den  unteren 

41* 


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—    G44  — 


Partien  richtete,  warnte  er  scherzend,  da  es  Gefahr 
bringe,  wenn  man  sich  nicht  an  den,  den  höheren 
Regionen  angehörenden  Schönheiten  Melusinens  begnüge. 
—  Uebrigens  mußte  man  dem  Herzoge  Witz  und  selbst 
einen  Anflug  von  dem  Humor  Jean  Pauls  zugestehen, 
mit  dem  er  eine  Zeit  lang  in  sehr  freundschaftlichem  Ver- 
kehr stand,  den  er  aber  mit  einem  allerhöchst  unhöflichen 
Briefe  abbrach. —  Einige  seiner  Witze,  welche  er  bei  Tische 
losließ,  sind  mir  im  Gedächtniß  geblieben."  ')  In  Förster'« 
Geschichtswerk  ist  der  Herzog  ihm  „der  Durchlauchte 
Kakerlak  von  Gotha.*  2) 

Daß  Schriftsteller,  die  den  Herzog  August  nicht 
persönlich  kannten,  eine  Karikatur  aus  seinem  Bilde 
machten,  ist  weniger  verwunderlich.  So  Perthes3),  der 
nur  erzählt,  was  er  vom  Hörensagen  weiß,  so  Alexander 
v.  Sternberg  4). 

Bezüglich  der  Frauen,  deren  Umgang  der  Herzog 
suchte,  bemerkt  von  Wüstemann:  „Sein  Sinn  für  das 
Innerlich-Schöne  und  Feinheit  im  Umgang  zog»  ihn  zur 
Gesellschaft  der  Frauen  hin,  in  denen  er  jedoch  nur  eben 
diese  Eigenschaften  suchte  und  ehrte:  äußere  Schönheit 
war  dazu  nicht  nöthig,  wohl  aber  Anspruchslosigkeit  und 
Tugend.«  4) 

Wie  sehr  aber  der  Herzog  selbst  sich  als  Weib 
fühlte  und   wie   wenig  hoch  er  seine  Männlichkeit  be- 

»)  Friedrich  Fürstor  1873  Seite  12—18.  —  5)  Derselbe  IV  1854 
Seite  334.  —  a)  Friedrich  Perthes  III  Seite  IG— 17. 

4)  A.  von  Sternberg,  Jena  und  Leipzig  1844  II  Seite  8 — 5  und 
8 — 11.  Ich  muß  hier  zu  S.  489  meines  Quellenmaterials  im  4.  Jahr- 
gang dieses  Jahrbuchs  berichtigen,  daß  v.  Sternberg  mit  seinem 
weibischen  Herzoge  von  Gotha  nicht  den  Herzog  Friedrich,  sondern 
Aemil  August  im  Sinn  hatte. 

6)  v.  Wlistemann  1823  S.  14.  —  Seite  5  heißt  es  daselbst: 
„Kein  Name  eines  Favoriten  männüchen  oder  weiblichen  Geschlechts 
ist  seit  mehreren  Menschenaltern  verflucht  worden." 


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—    645  — 

wertete,  hat  er  in  einem  Briefe  an  seine  Freundin 
Fräulein  Sidonie  von  Dieskau  unter  dem  19.  November 
1815  markaut  zum  Ausdruck  gebracht,  in  dem  er  seinen 
Zustand  also  schildert:  «Hell  flackerten  Selbstliebe  und 
Selbstachtung  in  mir  auf,  und  mich  stärker  und  besser 
fühlend  als  vorhin  fielen  bald  von  meinem  Ich  die  müh- 
sam mir  angeklebten  erbärmlichen  Schlacken  der  mir  an- 
gezwängten Männerey."1)  .  .  . 

Bringt  man  die  von  allen  Augenzeugen  bestätigte 
zum  Weiblichen  neigende  Körperbildung  des 
Herzogs  August  in  Verbindung  mit  dem  weibischen 
Zug  in  seinem  Wesen  und  seinem  von  Reichard 
betonten  „Umgang  mit  schönen  Mannspersonen", 
so  kann  kaum  ein  Zweifel  obwalten,  daß  der  Herzog 
Urning  war;  wofür  seine  Zeitgenossen  ihn  hielten,  sprach 
die  Seidler  aus,  indem  sie  mitteilte,  daß  man  Leibeserben 
von  ihm  nicht  erwartet  habe.  Die  Berechtigung  dieser 
Annahme  findet  noch  eine  weitere  Stütze  in  dem  Um- 
stände, daß  Aemil  Leopold  August  im  zweiten  Jahre 
seiner  Regierung  eine  Novelle  verfaßte  und  drucken  ließ, 
welche  die  Genuß  suchende  leidenschaftliche  Liebe  zweier 
schönen  Jünglinge  zu  einander  als  eine  Glückseligkeit 
und  als  eine  Naturnotwendigkeit  ohne  sittliche  Bedenken 
dem  Leser  vor  Augen  führt.  In  welcher  Weise  und  in 
welchem  Maße  der  Dichter  des  „Kvllenion"  seine  eigene 
urnische  Natur  auslebte  oder  unterdrückte  und  vor  der 
Welt  verbarg,  erfahren  wir  nicht;  mau  wird  aber  kaum 
umhin  können,  eine  bezeichnende  Schilderung  A.  v. 
Sternberg's,  falls  sie  Wahrheit  ist,  auf  August  des 
Glücklichen  unbefriedigtes  urnisches  Empfinden  zu  be- 
ziehen: a  August  konnte  auch  sehr  traurig  sein,  ja  es 
gab  besonders  in    seinem   letzten  Lebensjahre  bei  ihm 


')  Eichstädt  1823  Seito  50;  1849  Seite  80;  G.  bei  Hennings  1832 
Seite  22;  Reichard  1877  Seite  495. 


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—   G4Ö  — 

Stunden,  in  denen  eine  wahrhaft  dämonische,  mit  den 
schwärzesten  Gebilden  gefüllte  Hypochondrie  bei  ihm  die 
Oberhand  gewann1).  Alsdann  war  der  französische  Stutzer 
und  Spötter  gar  nicht  mehr  wieder  zu  erkennen.  Er 
trieb  sich  dann  Nachts  herum,  durchirrte  mit  fliegendem 
Nachtgewande,  eine  Kerze  in  der  Hand,  die  Säle  seines 
Palastes  und  schien  irgend  etwas  Geheimnißvolles  zu 
suchen,  das  er  nicht  fand.  Er  stieß  namenlos  rührende 
und  erschütternde  Klagen  aus,  die  in  der  Stille  und  Ein- 
samkeit der  Nacht  die  Seele  jedes  lebenden  Wesens,  das 
sich  in  seiner  Nähe  befand,  tief  bewegten.  Hatte  er 
seinen  nächtlichen  Lauf  vollendet,  so  warf  er  sich  auf  die 
Teppiche  seines  Schlafgemaches  und  wimmerte,  indem  er 
sich  unter  Schmerzen  wand.  In  der  Seele  dieses  Mannes 
mußte  in  diesen  Augenblicken  etwas  vorgehen,  was  nicht 
Schein  und  nicht  Lüge  war.  Diese  Stunden  söhnten  mit 
seinen  Bizarrerien  und  Lächerlichkeiten  aus,  denn  un- 
willkürlich empfand  der  Beobachter  der  menschlichen 
Natur,  tfaß  ein  Wesen,  das  so  zu  leiden  im  Stande  war, 
die  Tiefen  und  Geheimnisse  der  Sterblichen  zu  ahnen 
verstand  und  daß  sein  irregehender  Geist  nach  einer 
Größe  suchte,  die  er  nicht  zu  erfassen  und  festzuhalten 
verstand.  Seine  Widersacher  erfuhren  von  diesen  Stunden 
nichts,  sonst  hätten  sie  ihn  milder  beurtheilt.*2) 


Herzog  Augusts  Schriftstellern. 

Jahre  hindurch  führte  Herzog  August  mit  wenigen 
auserwählten  befreundeten  Personen  unter  Beobachtung 
gewissenhaftester  Hegelmäßigkeit  einen  Briefwechsel, 
blieb  aber  auch  sonst  schwerlich  irgend  Einem,  der  an 
ihn  schrieb,  die  Antwort  schuldig.  Alle  seine  Briefe 
zeichnen  sieh  durch  einen   von  ihm  selbst  geschaffenen 

')  Nach  dem  Tode  Rodenbergs,  verjrl.  Seite  68S. 
'-*)  A.  v.  Sternberg  1n"m  Seite  91. 


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—    647  — 


Stil,  uDgewöhnliche  Ideen,  zarte  und  geistreiche  Wendungen 
aus;  wie  seine  mündliche  Unterhaltung  zeigten  auch  seine 
Briefe  eine  unerschöpfliche  Fülle  der  Wendungen  und  Ge- 
danken und  verrieten  überall  seinen  „opalisirenden"  Geist; 
auch  wenn,  was  selten  vorkam,  ihn  alltägliche  Begebenheiten 
darin  beschäftigten,  so  geschah  es  immer  in  ungewöhnlicher 
Form1).    Seine  Briefe  verdienten  die  Aufbewahrung.2) 

Als  Probe  des  Briefstils  Aemil  Augusts  diene 
sein  Brief  an  den  siebenjährigen  Knaben  Eduard  Manso; 
er  ist  die  Antwort  auf  ein  von  dem  Knaben  an  ihn 
gerichtetes  und  mit  dem  Geschenke  eines  Ringes  be- 
gleitetes Glückwunschschreiben  zum  Geburtstage  des 
Herzogs : 

„Ja  freylich,  mein  Eduard,  war  mir  der  gestrige  Tag 
ein  wichtiger,  ein  mild-herber  Tag.    Ja   freylich  war  es 

»)  Jacobs  1822  Seite  500;  von  Lupin  1826  Seite  72;  Jacobs 
VI  1837  (1S23)  Seite  456 — 403 ;  G.  bei  Hennings  1*32  Seite  4;  von 
Weber  1  1804  Seite  321;  323;  Heek  I  1808  Seite  148;  Reiehard 
1877  Seite  491-495. 

2)  v.  Wüstemann  1823  Seite  20.  Gedruckt  sind  von  des  Herzogs 
Briefen  meines  Wissens  solche  an  die  Frau  von  Stael  (bei  Eich- 
städt 1823  Seite  53—50;  1849,  Seite  89-91;  G.  bei  Hennings  1832 
Seite  24 — 25);  an  die  junge  Gräfin  Sidonjie  von  Dieskau 
1815—1822  (Eichstädt  1823  Seite  48—53;  1819  Seite  79— 83:  G.  bei 
Hennings  1832  Seite  20-24;  Reiehard  1877  Seite  495);  an  Papst 
Pius  VII  (Jacobs  VII  1840  Seite  522—520;  Louise  Seidler  1874 
Seite  93;  Reichard  1877  Seite  400  und  495  nota  1);  an  die  Malerin 
Therese  Emilie  Henriette  aus  dem  Winckel,  1800 
bis  1811  (von  Metzseh -Schiibach  189:$);  an  Jean  Paul 
Friedrich  Richter  (Richter  1805  Seite  10—21,  23—25, 
20—27,  30—32,  35—30):  an  den  kranken  Dichter  Ernst  Wagner 
(Mosengeil  II  1820  Seite  17 — 70;  Seite  91;  G.  bei  Hennings 
18: fci  Seite  4—20;  von  Weber  I  1864  Seite  323):  die  Briefe  an 
Jean  Paul  und  Ernst  Wagner  sind  nach  v.  Weber  „Muster  des 
Ausdrucks  einer  edlen,  großen,  oft  fast  Uberreichen,  für  Freundschaft 
tief  empfänglichen  Seele".  Leider  haben  Jean  Paul  und  Mosengeil 
es  für  nötig  befunden,  die  Briefe  des  Herzogs  zu  kastrieren  (Richter 
1805  Seite  37:  Mosengeil  II  1826  Seite  17). 


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—    648  — 


mir  gestern  recht  schön,  recht  wunderbar  zu  Muthe, 
mein  lieblich  liebes  Kind !  Aber  erst  als  ich  Deine  Worte 
gelesen,  als  Dein  Ring,  Dein  schöner,  lieber  Ring  meine 
Rechte  schmückte,  da  verschwand  alles  Herbe,  alles 
Trübe.  Hättest  Du  ihn  nicht  selbst  bringen  können, 
mein  zarter  Liebling?  Freylich,  die  Wege  sind  sehr 
böse;  aber  Du  kömmst  mir  immer  wie  ein  gewisser 
Junge  vor,  den  ich  nur  aus  den  Bildern  kenne  und 
den  Du  hoffentlich  recht  spät  wirst  kennen  lernen  und 
von  dem  Dir  Deine  Emilie  viel  Gutes  und  Auguste  viel 
Böses  zu  erzählen  hat.  Nim  ms  nicht  übel:  aber  bey 
Dir  fällt  mir  immer  der  Junge  ein;  und  da  bild*  ich 
mir  immer  ein,  Du  hättest  zu  mir  fliegen  können;  da 
wäre  freylich  der  gestrige  Tag  noch  weit,  weit  schöner 
gewesen.  Weißt  Du  wohl,  Eduard,  Deine  Schwestern, 
die  immer  in  der  Stadt  sind  und  immer  in  der  Stadt 
viel  zu  thun  und  zu  schaffen  haben,  hätten  mir  Deinen 
schönen  Ring  bringen  können.  —  Doch  nein,  die  kommen 
nicht  zu  mir;  die  haben  mich  lange  vergessen.  Emilie  hat 
viel  zu  viel  zu  hoffen,  Auguste  hat  viel  zu  viel  zu  wünschen, 
als  daß  die  an  mich  denken  könnten.  Grüße  sie,  doch 
ohne  mich  zu  nennen.  Umarme  sie  und  die  lieben  Eltern. 
Bleibe  gut  und  mir  gut.  Emile."1) 

Mit  besonderer  Vorliebe  betrieb  der  Herzog  in  seinem 
einförmigen  Lebeu  poetische  Arbeiten,  welche  sich  wie 
seine  Briefe  durch  Zartheit  und  großen  Reichtum  unge- 

l)  Eichstädt  1823  Seite  57;  1819  Seite  85— 86;  G.  bei  Henning* 
1832  Seite  25.  —  Reichard  1877  Seite  494—495  findet  in  der  Ver- 
öffentlichung dieser  flir  die  Üeflentliehkeit  ursprünglich  nicht  bestimmt 
gewesenen  Ergieüungen  und  in  der  der  Briefe  des  Herzogs  an  die 
Gräfin  Sidonio  von  Dieskau  (eine  Probe  aus  diesen  siehe  vorher 
Seite  645)  eine  Taktlosigkeit  und  eine  Beschimpfung  seiner 
eigenen  in  Ciceronianisohem  Latein  verfaßten  Schrift  „Memoria 
Augusti"  seitens  des  gelehrten  Philologen  Eichstädt  Man  kann 
darüber  verschiedener  Ansicht  sein,  wie  dieses  auch  die  unbeanstandete 
Aufnahme  derselben  Briefe  durch  G.  bei  Hennings  1832  beweist. 


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-    649  — 


wohnlicher  Wendungen  und  Ideen  auszeichnen.1)  Er  war 
nicht  nur  Schöpfer  musikalischer  Liederkompositioneu 
in  denen  Kenner  seine  Eigenartigkeit  wieder  finden 
wollen2),  sondern  auch  Dichter  und  Verfasser  einer  An- 
zahl poetischer  Prosa  werke;  von  diesen  wurde  nur  ein 
einziges,  sicher  und  allein  von  ihm  herrührendes,  durch 
den  Druck  bekannt,  nämlich  die  1805  erschienene  Novelle 
«Ein  Jahr  in  Arkadien."8)  Nach  einigen  Angaben4) 
hätte  der  Herzog  noch  eine  Uebersetzung  der  „Lettres 
d'un  Chartreux  par  Charles  Pougens*  (Briefe  eines  Kar- 
thäusers)  verfaßt  und  in  wenigen  Exemplaren  für  seine 
vertrautesten  Freunde  drucken  lassen;  allein  nach  Eich- 
städt*) erscheint  die  Autorschaft  des  Herzogs  ungewiß  und 
nach  Jacobs0)  hat  er  zwar  diese  Uebersetzung  begonnen, 
sie  jedoch  wieder  aufgegeben  und  den  Geheim-Sekretär 
Wüstemann,  späteren  Geheimen  Rat  von  Wüstemann  zu 
Altenburg  mit  der  UebersetzuDg  der  „Lettres*  betraut, 
sich  dann  die  fertige  Uebertragung  vorlesen  lassen,  Einiges 
geändert,  einiges  Eigene  hinzugefügt  und  das  Werkchen 
so  in  Druck  gegeben.7) 

')  Ueber  den  Herzog  Aemil  August  als  Schriftsteller  haben  sich 
mehr  oder  weniger  ausfuhrlich  verbreitet:  Jacobs  1822  Seite  500 
bis  504;  von  Lupin  1826  Seite  72—75;  von  WUstemann  1823  Seite 
19;  Galletti  V  1824  Seite  41;  G.  bei  Hennings  1882  Seite  28-41; 
Jacobs  VI  1837  (1828)  Seite  456-15«;  464-492;  von  Weber  1 1864 
Seite  322—823  ;  373,  570;  Beck  I  1868  Seite  440—441;  1875  Seite 
683;  Louise  Seidler  1874  Seite  91—92;  Reichard  1877  Seite  494  bis 
496;  v.  Bechtolsheim  1902  Seite  101—105;  112.  —  a)  Jacobs  1822 
Seite  501.  —  s)  Jacobs  1822  Seite  500  und  öfter;  von  WUstemann 
1823  Seite  19.  —  *)  G.  bei  Hennings  1832  Seite  33—35  (woselbst 
die  Briefe  2,  7  und  11  abgedruckt  sind);  Beck  I  1868  Seite  441; 
1875  Seite  683;  Reichard  1877  Seite  496.  —  ")  Eichstädt  1823  Seite 
32;  Seite  70  nota  32;  1849  Soite  95  nota  30.  —  «)  Jacobs  VI  1837 
(1823)  Seite  471—473;  491—492  nota  8.  —  Das  Werkchen  muß 
sehr  selten  sein;  es  führt  den  Titel:  „Vierzehn  Briefe  eines  Kar- 
thäusers.  Geschrieben  im  Jahre  1755  zu  Paris.  Horausgegeben  von 
Karl  Pougens.  Paris  1820."  Darunter  stehen  die  verschlungenen 
Initialen  E  und  A.   Es  ist  nur  45  Seiten  stark.   In  kl.  8°. 


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—    G50  — 


Den  Herzog  haben  wenigstensdrei  große  poetische 
Prosawerke  beschäftigt,  welche  nicht  zum  Drucke  gelangten. 
Noch  vor  seinem  Regierungsantritt  nahm  seine  Aufmerk- 
samkeit der  weitläufige  Plan  zu  einem  Märchen  in  An- 
spruch :  das  P o  1  y  u  e o n  oder  Panedone;  nach  seinem 
Regierungsantritt  ein  Werk,  das  ohne  Titel  blieb  und  ein 
Roman  A em  il  ia  (Emilia) oder  Em i  lianische  B r i  efe.1) 

1.  Polyneon  (Viel-Neu)  oder  Panedone  (All- 
Lust3)  nach  der  Hauptfigur  des  Romans,  einem  auf  eine 
entfernte  Insel  verbannten  Götterwesen  Panedonia, 
neben  welcher  als  zweite  Hauptperson  ein  lykaonischer 
Jäger  Barys  steht;  in  die  Geschicke  der  aus  ihrem 
Himmel  Verwiesenen  sind  noch  verflochten:  ein  blühender 
Jüngling  Cvparissus,  ein  anmutiger  Flötner  und  ein  blasser 
König.  Nach  des  Dichters  Angaben  stellte  Grassi  die 
vornehmsten  „in  diesem  Labyrinth"  sich  bewegenden  Per- 
sonen in  sieben  großen  Bildern  dar8);  eins  derselben  zeigt 
uns  Panedonia4),  zum  Himmel  aufschauend,  eine  Leier  in 

*)  Wenn  ich  Jacobs  recht  vorstanden  habe,  so  muß  aber 
der  Herzog  noch  an  einem  vierten  Werke  gearbeitet  haben;  der 
Kaltsinn,  meint  Jacobs  VI  1837  (1823)  Seite  465,  mit  welchem 
„Ein  Jahr  in  Arkadien"  aufgenommen  wurde,  dürfte  verursacht 
haben,  daß  der  Herzog  ein  ähnliches  Werk,  das  er  um  jene  Zeit 
unternahm  und  von  deui  sich  Anlange  in  seinem  Nachlasse  fanden, 
unvollendet  ließ;  leider  wird  weder  ein  Titel  genannt,  noch  der  Inhalt 
angedeutet.  Vielleicht  „Schwarz  und  weißa  (v.  Metzseh-Schilbat-'h 
18i>3  Seite  7).  —  *)  Heichard  nennt  1877  Seite  4'.>">  den  Roman  „Pane- 
donia4'1 und  fügt  bei:  „(in Grassi  s  lebensgroßem,  idealisirten Portrait : 
Bildniß  des  Herzogs  in  schwarzer  spanischer  Tracht.  Es  wird  noch 
jetzt  im  .Schlosse  zu  Gotha  gezeigt  legt  er  die  Hand  darauf).44  — 
:1)  Nach  Reichard  1877  Seite  -10«  [Fußnote)  wären  es  im  Ganzen  nur 
G  Bilder,  welche  in  der  Herzoglichen  Gemäldegalerie  zu  Gotha  in 
der  Abteilung  VI  als  Nummer  5,  G,  7,  9,  10  und  11  autbewahrt 
werden;  nach  Louise  Seidler  1 S7 1  Seite  7"»  wurden  die  Bilder  laut 
Katalog  der  Gemäldegalerie  1W9  gemalt. 

l)  Dieses  Gemälde  Grassi's  veraulaßte  Jacobs  zu  einem  Sonett 
an  den  Maler  (veröffentlicht  bei  Jacobs  VI  1*37  Seite  477 — 478 
nota  3)  und  als  Grassi  es  dem  Herzog  gab,  dichtete  dieser  mit  Be- 


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—    651  — 


der  Hand;  diese  sieben  Bilder  waren  ursprünglich  be- 
stimmt, ein  Schlafzimmer  zu  schmücken,  in  dem  der 
Herzog  alle  Herrlichkeiten  eines  Feenterapels  vereinigen 
wollte;  das  Zimmer  ist  aber  nicht  gebaut,  das  Märchen 
nicht  zu  Ende  geführt  worden  und  so  fehlt  diesen  schönen 
Gemälden  der  erläuternde  Kommentar.1) 

2.  Nach  dem  Antritt  seiner  Regierung  begann  Aemil 
August  ein  neues  poetisches  Werk,  dem  er  einen  Titel 
nicht  gegeben  hat.  Der  Roman  sollte  ganz  aus  Briefen 
zweier  Freundinnen  hohen  Ranges  bestehen;  die  eine 
dieser  Freundinneu  war  die  geistreiche  Baronin  Cäcilie 
von  Werthern,  die  andere  —  der  Herzog  Aemil  August 
im  Charakter  einer  jungfräulicheu  Witwe  unter  dem 
Namen  einer  Großherzogin  Anna.  Da  die  Baronin  von 
Werthem  bald  das  Interesse  an  dem  Briefwechsel  verlor, 
so  führte  der  Herzog  den  Roman  allein,  teils  in  Form 
eines  Tagebuchs,  teils  in  Briefform,  fort;  manches  in 
diesem  Roman  beruhte  für  den  Eingeweihten  auf  persön- 
lichen  Verhältnissen   des   Verfassers  und   der  Roman 


zug  auf  zwei  andere  Gestalten  seines  Märchens  Panedone  mit  Bei- 
behaltung der  Keime  des  Jacobs'sehen  Sonetts  als  Fortsetzung  noch 
zwei  Sonette  hinzu:  ,.Der  Sybarit"  und  „Der  Lykaonier"  (ver- 
öffentlicht bei  Jacobs  VI  1837  (1823)  Seite  478  und*  179;. 

')  Jacobs  VI  1X37  (18*23)  Seite  466— 407.  „Das  Polyneon  .  .  .  ein 
grotfes  episches  Mährehen  über  die  Liebe  .  .  .,  welches  alles,  was  groüe 
Keuntnilie  und  grolle  Kräfte  von  Frucht-  und  Blumen-Gewinden,  Perlen- 
schnuren und  Venus-GUrteln  in  einander  flechten  können,  zu  seinem 
Zauber-Kreis  der  Liebe  rimdet.  Doch  das  was  schildert,  kann  nicht 
selber  geschildert  werden;  der  Kreis  wird  zuletzt  ein  Trauring  —  der 
Ring  ein  Juwel  —  der  Juwel  ein  Lichtblick  —  der  Blick  ein 
Geist.  Der  Tadel,  womit  man  das  Polyneon  so  gut  belegen  kann 
als  mit  Lob,  ist  blolt  schwerer  zu  verdienen  als  zu  vermeiden. 
Line  geniale  Phantasie  ist,  gleich  dem  Luftballon,  leicht  in  die 
Höhe  und  in  die  Tiefe  zu  lenken:  aber  das  wagrechte  Richten  wird 
bei  beiden  etwas  schwer:  indessen  hielt  man  es  bisher  doch  für  das 
gröltere  Wunder,  sich  in  den  Himmel  zu  erheben,  als  mich  darin  zu 
steuern."    Jean  Paul  (Richter  1X05  Seite  15). 


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—    652  — 


wurde  unabgeschlossen  bei  Seite  gelegt,  als  diese  Ver- 
hältnisse sich  änderten.1) 

3.  Erailiani8che  Briefe.5)  In  diesen  Briefen  und 
Tagebuch  blättern  erscheint  der  Herzog  in  doppelter  Ge- 
stalt, als  eine  Jungfrau  Emilie  und  als  ein  Fürst,  an 
dessen  Hof  ein  junger  von  Emilie  heftig  geliebter  Jüng- 
ling Xaver  lebt;  beide  Hauptpersonen,  die  der  Idee  nach 
nur  eine  sind,  werden  ganz  verschieden,  Emilie  mit  zärt- 
licher Vorliebe,  der  Fürst  mit  oft  an  Bitterkeit  streifen- 
der Ironie  behandelt.  Dieses  Werk,  das  den  Herzog  bis 
an  seinen  Tod  beschäftigte,  war  ihm  selbst  von  allen  das 
liebste;  „es  ist  geschlossen,  aber  nicht  vollendet  .  .  . 
Das  Mangelnde  zu  ergänzen,  wäre  Niemand  im  Stande, 
sollte  er  auch  vollkommen  in  die  Gedanken  des  Herzogs 
eingeweiht  sein  ...  In  der  Ausführung  aber  seine 
Manier  nachzubilden,  würde  ein  eitles  Bemühen  sein."3) 

Friedrich  Jacobs,  „unter  dessen  Fingern  der  Armida- 
Garten  entstanden  ist"4),  veröffentlichte  sieben  von  ihm 
verfaßte  und  dem  Herzoge  gewidmete  Gedichte,  welche 
in  Beziehung  auf  die  Emilianischen  Briefe  „die  Stelle 
eines  convexen  Spiegels  vertreten  können,  der  die  Gegen- 
stände einer  weiten  Gegend  in  einem  engen  Räume  ver- 
kleinert zeigt",  und  er  faßt  sein  Urteil  über  die  schrift- 
stellerischen Fähigkeiten  des  Herzogs  also  zusammen : 
„Das  Einzelne  ist  reich,  neu,  glänzend,  oft  wunderbar  und 
außerordentlich;  aber  das  Ganze  leidet  an  dem  Mangel 
fortschreitender  Bewegung,  der  sich  aus  der  Art  seiner 
Entstehung  und  Fortbildung,  vielleicht  auch  überhaupt 

»)  Jacobs  VI  1837  (1823)  Seite  407-468.  —  «)  Keichard  1877 
Seite  495  nennt  den  Roman  „Erailia"  nnd  sagt  S.  496,  der  Herzog 
habe  das  bändereiche  Werk  besonders  gern  in  engvertraaten 
Kreisen  vorgelesen  und  viele  Lebende  hätten  zu  den  darin  auftreten- 
den Personen  gesessen.  —  s)  Jacobs  VI  1837  (1823)  Seite  468—470; 
482—491  nota  5,  6,  7.  —  *)  Jacobs  VI  1837  (1823)  Seite  484—491 
nota  7. 


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—    653  — 


aus  der  Eigentümlichkeit  des  Verfassers  erklärt.  Für 
ihn  war  die  Abfassung  eines  Romans  nicht  ein  Geschäft, 
sondern  eine  Ergötzung,  wobei  er  sich  gern  mit  Bequem- 
lichkeit auf  breiten  Bahnen  bewegte,  ohne  durch  die  vor- 
aus bestimmte  Richtung  eines  festen  Plans  gebunden  zu 
sein.  Fast  immer  dictirte  er.  Wenn  nun  der  dazu  Be- 
rufene an  den  bestimmten  Tagen  zur  bestimmten  Stunde 
erschien,  fuhr  der  Herzog  an  der  Stelle  fort,  wo  er  in 
der  vorhergehenden  Sitzung  abgebrochen  hatte,  und  di- 
ctirte oft  drei  und  vier  Stunden  nach  einander,  ohne 
Unterbrechung,  die  geistreichsten  Dinge  in  der  gewähl- 
testen Sprache  und  in  gut  geordneten,  wohlklingenden 
und  richtig  gebildeten  Sätzen.  Nie  verwirrte,  nie  ver- 
besserte er  sich.  Der  erste  Wurf  hätte  für  den  Druck 
genügt"1) 

Ein  zwar  wenig  umfangreiches  Werk  des  Herzogs, 
das  aber  den  großen  Vorzug  besitzt,  abgeschlossen  zu 
sein  und  gedruckt  vorzuliegen,  ist  das  Kyllenion. 
„  K YA A /LY !ONu  (Kyllenion)  ist  nur  der  Untertitel  der 
Novelle: 

„Ein  Jahr  in  Arkadien.  1805." 

Diese  124  Seiten  starke  Novelle  erschien  zu  Gotha 
bei  Ettinger  in  Oktav  und  enthält  ein  Titelbild  und  eine 
Schlußvignette.  Ziemlich  die  Hälfte  der  Novelle  schildert 
die  anfangs  hoffnungslos  erscheinende,  später  aber  doch 
Entgegenkommen  findende  glühende  Liebe  des  jugendlich 
schönen  arkadischen  Hirten  Iulanthiskos  zu  dem  männlich 
schönen  reichen  Arkadier  Alexis  und  es  kann  daher  das 
Werkchen  als  die  erste  deutsche  urnische  Novelle 
in  Anspruch  genommen  werden.  Sie  verdankt  ihre  Ent- 
stehung den  Lobpreisungen  der  Geßner'schen  Idyllen, 
durch  die  eine  sechszehujährige  Französin,  die  Gräfin 

•)  Jacobs  1822  Seite  501—502;  VI  1837  (1823)  Seite  482  -48S 
nota  6. 


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—    054  — 


AdMe  de  Bueil,  den  Widerspruch  des  Herzogs  so  reizte, 
daß  er  sich  anheischig  machte,  da  die  Gräfin  vor- 
nehmlich den  griechischen  Geist  der  Geßuer'schen  Idyllen 
hervorgehoben  hatte,  selbst  Idyllen  zu  sehreiben,  welche  auf 
eine  ganz  andre  Art  durch  und  durch  griechisch  sein 
sollten;  durch  dieses  Versprechen  kann  nach  Jacobs 
manches  im  Kyllenion  Getadelte  erklärt  werden.  Die 
Novelle  besteht  aus  14  Kapiteln,  deren  12  die  Namen 
der  atheniensischen  Monate  tragen;  der  Inhalt  ist  nach 
Jacobs  „an  persönliche,  aber  nur  leise  angedeutete  Ver- 
hältnisse geknüpft.*  Pas  Manuskript  ging  vor  dein 
Drucke  durch  Jacobs'  Hände  und  kehrte  „mit  einigen  un- 
bedeutenden Veränderungen  und  einem  Sonett  „Arkadien* 
an  den  Herzog  zurück,  der  an  demselben  Tage  in  einem 
Sonett  „Ruf"  darauf  mit  den  nämlichen  Keimen  er- 
widerte1). Gewidmet  hat  Herzog  August  seine  Novelle 
der  Tochter  seines  Verlegers,  des  Kommissionsrats  Karl 
Wilhelm  Ettinger,  Karoline  Ettinger,  der  späteren  Frau 
Arnold  in  Bromberg,  deren  Mädchennamen  das  dem 
Werkeben  Seite  3  vorgedruckte  Akrostichon  verrät2). 

Die  Zeit,  in  welcher  die  Novelle  erschien,  war  ihrer 
Verbreitung  nicht  günstig;  ihr  Verfasser  war  nur  wenigen 
bekannt;  „die  kritischen  Tribunale  sehwiegen;  auch  in 
leichtern  Tagblättern  geschah  ihrer  nicht  oft  Erwähuung"; 

')  Abgedruckt  bei  Jacobs  VI  1837  (1823)  Seite  475—477. 

e)  Jakob«  VI  1837  (1823)  Seite  465  und  S.  474—475  nota  1. 
Nach  Kciehard  1877  Seite  496  war  Karolino  Ettinger,  Keichard's 
Nichte,  ein  «damals  in  ihrer  Blüthe  stehende»  sehr  gebildetes 
Frauenzimmer,  welches  mit  anmuthiger  Jugendfrischo  und  ein  paar 
schönen  Augen  Begabung  und  Liebenswürdigkeit  vereinigte".  Ihr 
ist  auch  noch  ein  anderes  Werk  gewidmet  worden,  nämlich  „Die 
Einsamen  im  Chiusato.  Eine  i»ienientesische  Novelle"  mit  demUntertitel 
„Das  geraubte  Landraadchen".  Arnstadt  und  Rudolstadt,  Langbein 
und  Kläger.  2  Teile.  1802  (278  und  272  Seiten).  „Seiner  ver- 
ehrungswürdigen Freundin  Karoline  Etting  er  hochachtungsvoll 
gewidmet    vom    Verfasser".     Der   „Prolog  des    Autors"  dieser 


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—    655  — 

die  kleinen,  der  Novelle  eingewebten  Gedichte  setzte  der 
Herzog  selbst  in  Musik1). 

In  der  Nummer  115  vom  24.  September  1805  der 
„ Zeitung  für  die  elegante  Welt"  (Leipzig)  erschien  ein 
mit  »Aug.  Klingemann"  unterzeichneter  Bericht  über  die 
ohne  den  Namen  ihres  Verfassers  erschienene  Novelle 
folgenden  Wortlauts: 

„Zwölf  arkadische  Monate  mit  ihren  Blumen  und 
Früchten  lieblich  dahin  gezaubert  Die  darin  verflochtenen 
Idyllen  sind  größtenteils  nur  Staffage  und  von  den 
Blumengewinden  so  überhüllt,  daß  oft  die  Gestalten  nur 
zum  Theil  erscheinen  und  die  ganze  Handlung  sich  in 
einen  Kuß  auflöst.  Uebrigens  ist  es  eine  romantische. 
Natur,  die  diesen  Blumengarten  in  das  Alterthum  hinein 
versetzt,  und  antik  ist  eben  an  dem  Werke  nichts  als 
der  Theil,  der  das  angehängte  Lexikon  nothwendig  macht, 
bei  dem  man  entweder  bedauern  muß,  daß  die  Unwissenheit 
so  vieler  Leser  es  nothwendig  machte,  oder  daß  die  Muse 
des  Dichters  nicht  ohne  einige  Koketterie  ihn  begeisterte." 

Diese  Kritik  gab  dem  Herzog  Anlaß,  sich  in  seiner 
ganzen  Eigenartigkeit  zu  zeigen ;  er  lud  den  Redakteur 
der  Zeitung,  den  Dichter  Siegfried  August  Mahlmann, 
nach  Gotha  an  seinen  Hof.  Mahlmann  kam  und  wurde 
in  einer  Staatskarosse  mit  Hoffourier  und  Haiducken 
abgeholt.  Der  Herzog  bewillkommnete  ihn  als  eine  der 
größten  Kapazitäten,  bat  um  seine  Freundschaft  und 
wünschte  eine  Vorlesung  von  ihm  zu  hören,  zu  welcher 

Novelle  1  Seit«;  4  ist  „Kajetan  **♦*♦*"  unterzeichnet.  Man 
könnte  auf  Grund  dieser  Widmung,  der  liebevollen  Schilderung 
der  Natur  und  des  einfachen  Landlebens,  de»  Doppeltitels  und  der 
Anonymität  des  Verfassers  im  Herzog  August  den  Schöpfer  auch 
dieser  Novelle  vermuten  und  sogar  in  den  sechs  Sternen  (V  August) 
die  Bestätigung  dieser  Vermutung  erblicken ;  da  aber  diese  Novelle 
Urnisches  nicht  enthält,  so  kann  die  angeregte  Frage  hier  unerörtert 
bleiben. 

*)  Jacobs  VI  1837  (18Ü3)  Seite  4G.r>—  46(3. 


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—    056  — 


der  nächste  Abend  bestimmt  wurde ;  der  Herzog  erklärte, 
zu  dieser  Vorlesung  sei  der  gesamte  Hof  bereits  ein- 
geladen und  er  habe  schon  eine  geeignete  Schrift  für 
den  Vortrag  gewählt.  Da  erfuhr  die  stolze  Herzogin  zu 
ihrem  Entsetzen  von  der  Oberhofmeisterin,  daß  Mahl- 
mann bürgerlicher  Herkunft,  nur  ein  Zeitungsredakteur 
und  ohne  Titel  sei;  unter  solchen  Umständen,  erklärte 
sie,  könne  Mahlmann  bei  Hofe  nicht  erscheinen  und  der 
Herzog  ordnete  daher  an,  daß  der  Minister  von  Francken- 
berg in  aller  Eile  ein  Hofratsdiplora  für  den  Vorleser 
ausfertige1).  Zur  Vorlesung  aber  hatte  der  Herzog  — 
sein  Kyllenion  bestimmt  und  Mahlmann  kam  in  ziemliche 
.  Verlegenheit,  da  er  die  spöttischen  Neckereien  des  Herzogs 
ertragen  mußte8). 

Ein  von  Friedrich  Jacobs8)  unterschriebenes  Urteil 
über  das  Kyllenion  hat  Eichstädt4)  gefällt;  er  rühmt  an 
ihm  besonders  die  Lebendigkeit  und  Glut  der  Phantasie^ 
eine  gewisse  Kühnheit  der  Gestaltung,  einen  bewunderns- 
würdigen Reiz  der  Neuheit  und  durch  Belesenheit 
erworbene  Kenntnis  griechischer  Eigenart.  Demgegenüber 
klingt  es  herb,  wenn  ein  anderer  Kritiker5)  die  Novelle 
bloß  deshalb  „völlig  geschmacklos  und  unlesbar*  fiudet, 
„weil  jedes  Ding,  das  im  gewöhnlichen  Leben  vorkommt, 
hier  mit  einem  griechischen  Namen  genannt  wird*. 
Auch  den  urnischen  „Liebeshandel",  der  den  Kern 
der  Novelle  bildet,  findet  dieser  Kritiker  „vor  lauter 


')  Der  Verfasser  der  Lebensgeschicbte  Siegfried  August 
Mahlraann's,  K.  L.,  in  „Mahlmann's  sämintlicbe  Werke"  (8  Bändeben 
Leipzig,  Volkmar  1839—40)  teilt  I  1839  Seite  20  nur  mit:  „Der 
Herzog  von  Sachsen-Gotha  ehrte  sein  Verdienst  durch  Ertbeilung 
des  Hofrathstitels."] 

2)  Beck  I  1808  Seite  448—449. 

»)  Jacobs  VI  1837  (1823)  Seite  475  nota  2. 

l)  Eichstädt  1823  Seite  30—32;  1849  Seite  62— 61  ;S.  91  nota  29. 

*)  A.  v.  Sternberg  1857  Seite  91. 


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—   657  — 


Ziererei  und  Schwulst  bitter  langweilig."  Wolfgang 
Menzel  tut  die  Novelle  kurz  als  „vorzugsweise  senti- 
mental" ab1).  Ein  lebender  Schriftsteller  bezeichnete 
mir  die  Arbeit  als  bei  manchen  Mängeln  und  Flüchtig- 
keiten schön  und  eigenartig;  selbst  in  Neu  Wortbildungen 
sei  der  herzogliche  Dichter  glücklich,  so  z.  B.  mit  dem 
Neu  wort  „  Einton"  für  das  eintönige  Picken  des  Spechtes. 

Das  Nachfolgende  ist  der  urnische  Auszug  aus  dem 
„Kyllenion"  (der  Name  wurde  dem  arkadischen  Gebirge 
Kyllene  entnommen).  Ein  passender  Titel  für  diesen 
Auszug  als  solchen  würde 

„Julanthiskos 2)  and  Alexis 
oder 

Verbotener  Himmel" 

sein,  da  es  sich  bei  der  Freundschaft  zwischen  den 
genannten  schönen  Jünglingen  um  leidenschaftliche  Liebe 
oder,  wie  die  allwissende  Alethophone  sich  ausdrückt  3), 
um  „Verbotenen  Himmel*  handelt. 


')  Wolfgang  Menzel  III  1859  Seite  74:  „Die  Natürlichkeits- 
periode;  die  Gräkomanie". 

lieber  das  Kyllenion  handeln  besonders:  Jacobs  1822  Seite 
300:  1823  Seito  86;  VI  1837  (1823)  Seite  464— 467 :  von  WUstemann 
J823  Seite  18;  Eichstädt  1828  Seite  30—32  ;  69;  1849  Seite  62—64; 
91:  Galletti  V  1824  Seite  41;  G.  bei  Hennings  1832  Seite  28—30: 
von  Weber  I  1864  Seite  322;  373;  Beck  1  1808  Seite  440;  448 — 449; 
Louise  Seidler  1874  Seite  92;  Reichard  1877  Seite  496.  Ferner: 
„Todesfälle"  1822. 

2)  Der  grichische  Name  Julanthiskos  bedeutet  „männliche 
Blüte"  und  miiüte  demnach  mit  I  geschrieben  werden,  während  er 
in  der  Novelle  «tets  mit  J  gedruckt  steht. 

*)  St-ite  17  des  Kyllenion,  Seite  664  dieses  Jahrbuchs. 

Jahrbuch  V.  42 


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Szene  aus  dem  „Kyllenion": 
Das  Dankopfer  vor  der  wundertätigen  schlanken  Hermes-Säule 
(zu  Seite  680  dieses  Jahrbuchs). 


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—    659  — 


Kannst  Du  den  Flug  mit  mir,  o  Freundinn,  wagen, 
Auf  leichten  Schwingen  zu  der  Dichtung  Aun? 
Rasch  sollen  Dich  die  Purpurschwäne  tragen; 
Orangenduft  soll  süß  herniederthaun. 
Leicht  trenn'  Aurorens  Saum  der  goldne  Wagen; 
Ihn  wird  der  Hören  Schaar  bewundernd  schaun. 
Nichts  soll  der  Reise  Götterlust  Dir  trüben; 
Eil  unverzagt!    Dir  will  ich  Zauber  üben! 

Entfleuch  des  schwülen  Tages  bangen  Sorgen, 
Trägt  Dich  der  treuen  Freundschaft  Schwanenpaar! 
Tränk*  Deinen  Blick  im  Purpur  schöner  Morgen; 
Jasmin,  Granaten  flechte  Dir  ins  Haar. 
Nimm!  Dir  will  ich  Euterpens  Chelys  borgen; 
Gestimmt  und  rein  ist  ihrer  Saiten  Paar. 
Ergreifen  muß  ich  meiner  Schwäne  Zügel; 
Reich'  mir  die  Hand!  Wir  sind  auf  meinem  Hügel. 


42* 


—    0*50  — 


Eros. 


In  des  Orasis  friedlich  stillen  Auen 
Erreicht  mein  Götterflug  sein  holdes  Ziel. 
Bald  werd'  ich  Wunder  über  Wunder  schauen, 
Die  ich  geschaffen,  mir  zu  leichtem  Spiel. 

Soll  ich  der  Mutter  trüben  Winken  trauen? 
Wozu  der  Zwang,  der  niemals  mir  gefiel? 
Soll  ich  nicht  mehr  auf  meine  Allmacht  bauen?  — 
Für  schwache  Menschen  wäre  das  zu  viel! 

• 

Ich  mag  nicht  lösen  meine  Zauberbinde; 
Ich  kann  nicht  missen  meine  leichte  Schwingen, 
Die  Fackel  nicht  und  auch  die  Waffen  nicht; 

Und  wenn  ich  hier  den  Widersacher  finde, 
Wie  mag  mir  dann  der  schwere  Kampf  gelingen, 
Wenn  mir's  an  Zauber  und  an  Reiz  gebricht? 


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—    661  — 


Die  Verheißungen. 

Nie  hatte  man  bey  einem  Feste  so  kunstreiche  Tänzer 
und  Tänzerinnen  gesehn ;  doch  der  Koryphant »)  Alexis  mit  seiner 
göttlichen  Eburgestalt,  in  welcher  männliches  Ebenmaas  und 
jungfräulicher  Mildreiz  mit  erhabener  Einfalt  und  ruhiger  stolzer 
Kälte  unbegreiflich  schön  zusammen  schmolz,  übertraf  an  Kunst- 
Geschmeidigkeit  und  zephyrinischer  Leichtigkeit  alles;  auch  den 
schönen  braunlockigen,  feueräugigen ,  lieblichen  Julanthiskos 
schier.  Schon  längst  hatte  man  beide  Beherrscher  der  Herzen 
einstimmig  als  Anführer  jeder  Freude,  jedes  Spiels,  jedes  Tanzes 
in  Arkadien  erkohren.  Sie  beneideten  sich  aber  nicht.  Phoibos- 
Alexis  war  der  Liebling  der  Männer  und  der  Frauen;  hingegen 
Hermes-Julanthiskos  der  Apfel  des  Neides  für  die  Mädchen. 

Julanthiskos  saß  mit  mühsam  verhaltenen  Zähren  und 
stützte  das  welke  schmollende  Haupt  mit  der  glühenden  Rechten; 
neben  ihm  die  niedliche  Freundin  und  Base  Nikrion,  mit  den 
Fingerspitzen  seiner  Linken  nachlässig  in  ihrem  Schoose  tändelnd. 
Aber,  lieber  Bruder,  so  fasse  dich!  Ist  denn  ein  versagter  Kuß, 
ein  unterbrochenes  Spiel,  ein  schnelles  Schweigen  bey  deinem 
Nähern  und  ein  fortgesetztes  Gespräch  mit  den  eleusinischen 
Jungfrauen,  sind  denn  das  alles,  guter  Julanthiskos,  so  grausame 
Beleidigungen?  Ach!  und  giebt  es  keine  unter  uns,  die  dich 
zerstreuen  kann?  —  Liebe  Base,  holdblickende  Nikrion,  wählte 
mich  nicht  die  gastfreundliche  Wirthinn,  die  Spiele  zu  ordnen, 
und  sollte  nicht  bey  dem  Tone  meiner  Stimme,  bey  dem  Winken 
meiner  Blicke  das  schwer  zu  fesselnde  Vergnügen  und  die  leicht 
zu  verscheuchende  Freude  ihren  Rosenthron  zwischen  uns  auf- 
stellen; ist  es  nicht  so?  Und  der  Stolze  da  ....  und 
Julanthiskos  wies  auf  Alexis,  der,  sorglos  zwischen  Mitylenis 
und  Eunome  auf  das  Ruhebett  hingegossen,  freundlich  ihm 
gegenüber  mit  der  holden  Wirthinn  und  ihrer  Freundinn  plauderte. 
Dabey  wurde  seine  Stimme  kindlich  schmollend,  und  er  warf 
trutzig  die  zarten  Rosenlippen  schwellend  auf,  das  lockige 
Maiaporhaupt*)  mürrisch  schüttelnd.  Nein;  der  Böse  da,  dem 
ich  freylich  nicht  den  Rang  in  Liebreiz  und  königlicher  Hoheit 
und  städtischer  Bildung  und  mystischer  Weisheit  streitig  machen 
kann,  könnte  doch  fühlen,  wenn  man  ihn  liebt.  —  Und  könntest 
du  dich,  unterbrach  ihn  ungeduldig  seine  Freundinn,  ihm  mit  leiser 
Drohung  einen  kleinen  Schlag  auf  die  Wangen  gebend,  und  mit 
ihrem  schalkhaften  Auge  die  doppelte  Röthe  der  Schaam  auf 
seine  Wangen  verbreitend;  ach!  könntest  du  doch  die  Männer 


')  Anführer  de»  Tanzes. 
-)  Sohn  der  Maja,  Hermes. 


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—   662  — 


kennen  lernen,  die  am  liebsten,  wie  die  Parther,  fliehend  ver- 
wunden, —  und  dabey  stand  sie  auf,  um  sich  unter  die  Schaar 
der  Mädchen  zu  mischen,  die  mit  neidischen  Blicken  die  ver- 
traulich Plaudernden  bewacht  hatten.  Auch  Julanthiskos  erhob 
sich  langsam,  ordnete  das  leichte  Gewand  in  zierliche  Falten, 
und  reichte  seiner  Freundinn  die  Hand  zum  Tanze;  denn  eben 
spielte  das  Chor  eine  leichte,  wirbelnde  Weise,  und  im  schnellen 
Strome  der  raschen  Freude  wollte  er  seine  Laune  verrauschen. 

Aber  Alexis  plauderte  noch  mit  den  vier  reizenden  Jung- 
frauen. Ja,  das  —  das  wollen  wir;  und  dabey  funkelten  doppelt 
schön  in  dem  Glanz  einer  heiligen,  göttlichen  Freude  seine 
langgewimperten  Onyx-Augen,  und  der  gewöhnliche  Stolz  milderte 
sich  zum  Ausdruck  der  fröhlichsten  Schwärmerey.  Auch 
Eunome  und  ihre  Tochter  Agathyllis  haben  viel  durch  des  Orasis 
Verheerungen  gelitten;  —  und  er  legte  drey  kleine  Goldmünzen 
in  den  verschleyerten  Kalathiskos,  den  Alcine,  die  Barmherzige, 
unter  ihren  Gästen  sammelnd  herumgetragen  hatte.  Auch  die 
Überreste  der  Speisen,  sagte  sie,  bekommen  meine  armen 
Arkadischen  Landsleute.  Alexis  flüsterte,  das  Gähnen  mit  dem 
Saum  seiner  Chlamys1)  bergend:  Beim  Anteros!  Julanthiskos 
ist  schön!  der  Myris  ins  Ohr.  Ihr  schwört  bey  dem  rechten 
Eide,  flüsterte  schalkhaft  seine  Nachbarinn  Mitylenis,  denn  du 
bist  jetzt  sein  Priester;  und  —  sein  Opfer?  —  entgegnete,  sich 
unwissend  stellend,  der  verführerischte  der  Männer.  Sprechet 
leise,  lispelte  die  schlaue  erröthende  Eunome  ihrem 
Nachbar  ins  Ohr  raunend:  den  du  lobest  und  doch  so  streng 
mishandelst!  Misbilligend  und  kalt  lächelnd  hüpfte  Alexis  von 
dem  aufschwellenden  Polster,  mit  leichter  Verbeugung  die  vier 
Jungfrauen  grüßend.  Eben  schwiegen  die  Töne  und  die  ermüdeten 
Paare  warfen  sich  hastig  athmend  auf  den  bunten  Teppich  der 
niedern  Periklima*).  Er  ergriff  den  verlegenen  Julanthiskos  bey 
der  weigernden  Hand  und  schwebte  schnell  mit  ihm  den 
weiten  Raum  des  Tanzsaals  auf  und  nieder.  Man  kann  nicht 
immer  tanzen,  nicht  immer  plaudern,  nicht  immer  spielen.  Die 
Lampe  will  Oel  und  die  Freude  Abwechselung,  sagte  er,  nach  einem 
langen  Schweigen,  und  Julanthiskos  nach  einem  langen  Seufzer  — 
„die  Liebe  —  Gegenliebe."  —  Was!  Du  minnest  so?  armer 
Knabe,  unterbrach  ihn  achselzuckend  der  Undankbare,  und  maß 
ihn  mit  zweifelnden  Blicken.  Eine  Taube  wird  es  wohl  seyn, 
Kleiner?  —  Nein,  ein  Pfau!  —  und  die  Jünglinge  trennten  sich 
flugs  mit  Groll  im  Herzen.  Julanthiskos  hat  recht  gesprochen. 
Liebe  stirbt  ohne  Gegenliebe.    Aber  Alexis  sagte  auch  die 


»)  ein  kurzer  Mantel. 

-)  ein  Sofa,  das  an  der  Wand  hinlaufend  das  Zimmer  einfaßt. 


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—    tW3  — 


Wahrheit:  Man  kann  nicht  immer  tanzen,  und  immer  plaudern,  und 
immer  spielen;  denn  die  Langeweile  fing  schon  an  ihre  Giftnebel 
über  die  ermüdeten  Gäste  auszugähnen,  zumal  da  die  entzweyten 
Könige  des  Festes,  jeder  verstimmt  in  seiner  Ecke  schmollte. 
Alles  seufzte,  sich  die  Augen  reibend,  acht  wo  bleibst  du,  holde 
Veränderung?  Aber  sie  blieb  nicht  aus.  Plötzlich  öffneten 
sich  die  cedernen  Pforten  des  Saals.  Das  Katapetasma'V  mit 
Fimbrien*)  und  Scharlach-Säumen  geziert,  rauschte  auf,  und 
athemlos  kam  hereingestürzt  eine  der  Dienerinnen  Alcinens, 
freudig  rufend:  Heute  ist  unserm  Hause  Heil  widerfahren,  und 
das  bey  so  später  Nachtzeit!  Die  göttliche  Alethophone  verlangt 
ein  festliches  Kleid  und  einen  Becher  Wein.  Nachdem  sie  sich 
gewärmt,  ihre  Lyra  gestimmt,  die  Haare  gesalbet  und  mit  Raute 
gekrönt,  entbietet  sie  ihren  Gruß  durch  mich  der  edlen  Wirthinn, 
und  wünscht  ihr  und  den  Gästen  auf  verlangte  Weise  die  Zukunft 
zu  enthüllen.  —  Sie  sey  mir  willkommen!  rief,  der  Räthselhaften 
entgegeneilend,  Alcine.  Alles  schlug  mit  freudiger  Ungeduld  in 
die  Hände,  alles  drängte  sich  jauchzend  und  neubegierig  nach 
der  Pforte;  und  Alexis,  Mitylenis  und  Eunome  raunten  sich 
verstohlen  zu:  Eleusis!  —  Plötzlich  theilten  sich  die  gedrängten 
Haufen.  Freymüthig  und  edel  trat  die  hehre  Demeterissa  in 
den  hell  erleuchteten  Saal  und  grüßte  alle  mit  den  Worten: 

ATAnAN  KAI  QlsiSWAN  <DI4()i2.*) 

Wie  eine  längst  Bekannte  grüßte  sie  alles,  Jung  und  Alt, 
Weib  und  Mann,  Jungfrau  und  Jüngling,  Mädchen  und  Knabe, 
freundlich  nahend,  aber  jedes  Herz  mit  Ehrfurcht  und  traulicher 
Rührung  füllend.  Man  wagte  nicht  zu  fragen,  man  unterstand 
sich  nicht  zu  bitten,  und  alles  schwieg  zagend  und  hoffend;  nur 
die,  welche  Eleusis  geflüstert  hatten,  verbargen  ihre  heftige 
Freude  unter  dem  vielsagenden  Lächeln  der  milden  Geheimniß 
ahndenden  Zuvorkommniß.  Aber  Alethophone  errieth  aller 
Wunsch,  und  setzte  sich,  ihre  Lyra  stimmend,  auf  den  vergoldeten 
Hippogriphen-Sessel  der  freundlichen  Wirthinn.  Ich  kam,  sagte 
die  Vielwissende,  zu  trösten,  zu  warnen;  und  dabey  drückte  sie 
lieblich  mit  ihrer  Wange  Alcinens  Fingerspitzen,  welche  die  hinter 
ihr  stehende  ihr  auf  die  runde  Eburschulter  gelegt  hatte,  und  ihr 
schöner  Mund  umgrübte  sich  wie  zum  Kusse.  Nun  verlangte 
sie  von  jedem  die  Reihe  herum  seine  Lieblingsweise  zu  hören, 
und  sagte  jedem  in  dem  bekannten  Rhythmus  eine  Lehre,  oder 
eine  Weissagung.    Jeder  fühlte  die  Wahrheit;  jede  Wange  färbte 

')  der  die  Thiiren  bedeckende  Vorhang. 
*)  Fransen. 

s)  Eine  freundschaftliche,  glückverheißende  Begriiüungsformel. 


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—    664  — 


sich  vor  Hoffnung  oder  Scham;  aber  alle  schrieben  sich  tief  ins 
Herz,  was  sie  gesungen,  denn  selbst  der  Tadel  der  Holden  war 
schonend  und  schmeichelnd.  Zu  julanthiskos  wandte  sie  sich, 
die  Allwissende,  ihm  einen  Kuß  auf  die  bescheidenen  Wimpern 
drückend: 

Lieblicher,  wohin,  wohin?  — 
Über  Gluthen,  über  Sehnen, 
Über  Küsse,  über  Reize 
Treibet  dich  dein  kühner  Sinn, 
Nach  verbotnem  Himmel  hin. 
Julanthiskos  verbarg  sich  erröthend,  und  ein  Strahl  der 
Hoffnung  erheiterte  sein  trübes  Gemüth;  denn  als  sie  ihn  küßte, 
sagte  sie  ihm  leise:  Treue  siegt.    Aber  als  er  sich  unter  die 
Menge  der  jungen  Arkadierinnen  zurückzog,  warf  ihm  der  stolze 
Alexis  einen  spöttischen  Blick  zu,  der  diesem  aber  einen  strengen 
von  der  alles  bemerkenden  Sängerinn  zuzog. 

Treue  siegt; 
Treu'  erringt  den  schönsten  Preis. 
Laß  dich  nicht  erschrecken 
Durch  des  Stolzen  Kälte; 
Strahlen  folgen  Strahlen 
Bis  die  Wolken  schwinden. 
Und  die  Herzen  der  trauernden  Ungeliebten  füllten  sich 
mit  Hoffnung,  und  ihre  bleichen  Wangen  glänzten  im  Rosenlicht 
der  Ahndung;  aber  Julanthiskos  mußte  seitwärts  treten,  um  seine 
Zähren  zu  verbergen,  und  Alexis  sein  schadenfrohes  Lächeln; 
aber  Cypariß  und  Minoe  drückten  sich  freudig  die  Hände,  sicher 
vor  Älternzwang  durch  Alethophone's  schützende  Gegenwart. 
Noch  manches  sang  die  Demeterissa1),  was  nur  einige  verstanden ; 
dann  hüllte  sie  sich  in  ihre  tausendfaltigen  Schleyer,  und  nach- 
dem sie  jedes  gegrüßt,   und  im  Weggehen  der  Wirthinn  lieb- 
kosend den  schönen  Arm  gereicht  hatte,  und  als  Jung  und  Alt 
sie  lobend  und  dankend  und  preisend,  bis  an  die  Cedernpforte 
des  Saales  geleitete,  wandte  sie  sich  noch  einmal  um,  und  ent- 
hüllte noch  einmal  ihr  hehres  Angesicht.    Dreyfacher  Huldreiz 
verbreitete  sich  über  Alethophone's  göttliche  Züge,  und  indem 
sie  die  glückdeutende  Linke  Jutanthisken  und  die  strafende  Rechte 
Alexis  reichte,  sprach  sie  weissagend  also: 

Wenn  des  Stiers  und  des  Adlers  Geblüt  dich,  König 

der  Berge, 

Netzt,  und  zierliches  Gold  des  Gottes  Wangen  umglänzet, 
Welcher  die  Fluren  beglückt,  die  Wiege  sich  findender 

Geister: 

Dann,  o  Eros,  umarmt  dich  Anteros,  ewig  versöhnet. 
*)  l'riesterin  der  Demeter  oder  Ceres. 


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665  — 


Und  als  die  Kraft  des  heiligen  Ausspruchs  zwey  sich  grol- 
lende Herzen  erweicht  hatte,  verhüllte  sie  sich  wieder,  von  neuem 
ihrer  Wirthinn  Arm  umschlingend.  Plötzlich  verstummte  das 
Chor,  es  erloschen  die  Lampen,  und  jeder  schlich  ermattet  und 
betäubt  zur  Lagerstätte;  aber  nicht  um  zu  schlafen,  nein,  um 
nur  von  Alethophonen  wachend  zu  träumen.  —  Was  Julanthiskos 
geträumt,  ließen  seine  Korallenlippen  und  seine  blassen  Wangen 
ahnden;  auch  Minoens  und  Cyparissens  hoffendes  Nähern  bey 
Pans  Bomos ')  schien  ihrer  Träume  Folge  zu  seyn.  Was  aber 
manchem  andern  erschienen,  wissen  nur  Alethophone  und  die 
alles  ergründenden  Götter;  denn  nicht  alle  waren  zum  Opfer 
geblieben. 


Die  Jagd. 

Zephyros  heulte  durch  die  entblätterten  Wälder,  und 
schwarze  tiefe  Wolken  wälzten  sich  über  die  kalten,  öden,  über- 
schwemmten Auen.  Hier  und  da  fielen  einzelne  schwache  Sonnen- 
strahlen durch  schräge  Regengüsse  und  wirbelnde  Schnee- 
gestöber. Dort  umkreisten  Flüge  von  magern  Raben  hungrig- 
krächzend den  fetten  dampfenden  Rauch  der  sorgfältig  über- 
moosten  Wohnungen,  und  nur  schwach  blöckten  die  eng  zusammen 
gedrängten  Schaafe,  die  trockene  Fütterung  wiederkäuend;  und 
schwächer  möckerten  die  gesonderten  Ziegen,  behaglich  das  ihnen 
dargebotene  Salz  leckend ;  und  um  Stall  und  Hütte  schlichen 
•  in  frühem  Dämmern  des  langen  Abends  ausgehungerte  Wölfe, 
mit  ekelhafter  Gier  den  Auswurf  der  Hütten  erharrend,  und 
hämisch  heulend  und  zähnknirschend  um  die  häßliche  Kost 
streitend.  Von  innen  lagen  die  Hunde  mit  steifen  Ohren,  längs 
den  Schwellen  das  stumme  kampfgierige  Haupt  platt  auf  die 
Erde  gelegt.  Zornig  funkelten  die  treuen  Augen,  und  langsam 
und  rund  bewegte  sich  der  langhaarige  Schweif.  Bey  dem  hell- 
lodernden Feuer  saß  julanthiskos  stumm  und  sehnend,  das  krause 
Haupt  in  eine  phrygische  Mütze  gehüllt,  und  die  betenden  Blicke 
wehmütig  und  fromm  auf  das  schwarz  berauchte  Hermesbild 
geheftet,  bedacht'  er  das  Lied  der  weissagenden  Thrazierinn. 
Sein  Bruder  Barys,  der  rohe  Hipparchos2)  aus  Larissa,  der  ihn 
besucht  hatte,  um  mit  ihm  die  Wölfe  zu  bejagen,  saß,  die  halb- 
garen Rüben  mit  seinem  breiten  geraden  Xiphos3)  in  der  Asche 

')  Altar. 

2)  Anführer  der  Reiterei. 
")  Degen. 


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—    066  — 


wendend.  An  der  Wand  hingen  sein  Schild,  seine  Speere  und 
sein  Helm,  neben  den  Waffen,  dem  Hirtenstab  und  der  Röte 
seines  reizenden  Wirthes.  In  einer  Ecke  glänzten  an  hohen, 
dünnen  Lampadophoren1)  die  doppeltdochtigen  Lampen,  und 
verbreiteten  ihr  ungewisses  Licht  über  die  glatt  getäfelte  Zelle, 
und  in  der  andern  Ecke  saßen  auf  der  niedern  Bank  der  alte 
treue  Myrion  und  der  muntre  Phryx,  der  eine  Kalathisken,  der 
andere  Diktyen  *)  flechtend.  Barys  hatte  genug  von  Schlachten 
und  Gelagen,  Spielen  und  Festen,  Orgien  und  Lampsakalien3) 
gelogen,  worauf  Julanthiskos,  der  minnezerstreute,  nicht  hörte, 
als  er,  das  schwarze,  dick-  und  nahgebraunte  Auge  nach 
dem  Innern  der  Zelle  wendend,  mit  rauher  gebieterischer  Stimme 
rief:  Sklaven,  flugs!  des  besten  Weins  einen  Becher;  einen 
weiten,  tiefen  Becher,  denn  das  Reden  und  der  Rauch  haben  mir, 
beym  Priap!  die  Gurgel  ganz  zugeschnürt;  und  du  Julanthiskos 
bist  so  zerstreut  und  so  wunderlich,  wie  eine  Braut  beym  Gesänge 
der  Paranymphen.')  Kannst  Du  noch  immer  nicht  den  stolzen 
Alexis  vergessen,  und  seine  Sprödigkeit?  Ein  Seufzer  war  die 
traurige  Antwort  des  Hoffnungslosen.  —  Beim  Pan!  so  biete  ihm 
einen  Becher,  oder  einen  schön  geschnittenen  Krug.  —  Ach ! 
was  ich  ihm  biete,  verschmäht  ja  der  Böse.  —  Ey,  so  vergiß 
ihn,  bei  dem  freudebringenden  Gott!  Barys  wollte  noch  etwas 
härteres  sagen,  als  der  dienende  Knabe  mit  den  tiefen,  blinken- 
den Kratern  herein  trat,  und  sie  ihm  lächelnd  darbot.  Der 
durstige  Krieger  trank  hastig,  und  reichte  Phryx  das  leere  Gefäß 
wieder  zurück,  ihm  so  dankbar  die  Wangen  streichelnd,  daß  der 
Knabe  darüber  erröthete.  Dann  sprach  er  mit  ungewischten 
Lippen,  daß  er  dem  Sklaven  mit  dem  getrunkenen  Naß  die  Stirne 
besprützte:  Sing'  mir  ein  Lied,  Bube,  aber  ein  kurzes;  denn  es 
scheint,  als  wittere  der  Hund  einen  Wolf  in  der  Nähe.  Phryx 
spähte  Erlaubniß  in  den  Augen  seines  Herrn,  und  als  Julanthiskos 
traurig  ein  gefälliges,  brüderliches  Ja  nickte,  begann  Phryx  die 
muntere  Weise: 

Wer  sich  wund  gekämpft,  der  trinke; 
Wer  sich  matt  gejagt,  der  trinke; 
Wer  sich  müd'  geküßt,  der  trinke; 
Wer  sich  arm  gespielt,  der  trinke; 
Wer  sich  stumm  gegrämt,  der  trinke! 


»)  Gestell  zur  Befestigung  der  Leuchter. 

*■)  Netze. 

s)  Geheime  und  ausschweifende  Feste  des  Bacchus  und  des 
Gottes  der  Gärten. 

*)  Brautfuhrerinnen. 


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—   667  — 


Und  dabey  reichte  er  einen  kleinern  Becher  seinem  durch 
Zähren  lächelnden  Herrn.  —  Auf  einmal  unterbrach  Melag  und 
Okypos  lauteres  Bellen  Gesang  und  Gespräch.  Hastig  raffte 
der  jagdliebende  Barys  seines  Bruders  Waffen  von  der  Wand, 
und  ungeduldig  schnaubend  durch  die  Kammern,  die  Flur  und 
die  Vorhalle  rennend,  kam  er  an  die  verriegelte  Hausthür,  wo 
die  ungeduldig  kratzenden  Hunde  ihr  Gebell  hören  ließen.  Mit 
einem:  Beym  Priap!  dem  muß  ich  den  Hals  brechen!  riß  er  die 
Thür  auf  und  stürzte  mit  den  wüthigen  Bestien  in  den  beschneieten 
Hof  hinaus,  schwang  sich  über  die  blätterlosen,  bereiften  Hecken 
hinweg,  sah  in  der  Ferne  noch  die  fliehenden  Unthiere,  wollte 
immer  den  Feinden  nach,  und  fiel  —  o  weh!  über  eine  im 
Schnee  versteckte  Pinienwurzel.  Übelgelaunt  und  mit  blutiger 
Nase  hinkte  er  wieder  in  die  warme  Hütte  zurück.  Dem  habe 
ich,  beym  lampsakalischen  Kolosse,  einen  Stich  beygebracht,  an 
den  er  lange  denken  wird,  sagte  er,  die  ungebrauchten  Waffen 
an  die  Wand  hängend.  —  Hat  Dich  der  Wolf  gebissen?  fragte 
spöttisch  Julanthiskos,  als  er  sah,  dass  sich  Barys  das  Blut  mit 
der  Chlamys  abwischte.  Mismuthig  setzte  sich  der  Thessalische 
Held,  und  zog  seine  Mächära1),  nicht  um  den  erlegten  Wolf  zu 
zerstücken,  nein, um  die  angespießten  Rüben  aus  der  Asche  zu  holen. 
Aber  ach!  sie  waren  verbrannt.  Hoch  lachte  Julanthiskos;  mürrisch 
sprang  darob  Barys  auf,  um  in  Morpheus  Armen  zwischen  den 
weichen  Bärenhäuten  des  nächtlichen  Lagers  von  Beute,  Wollust, 
Gewinnst  und  Rausch  zu  träumen;  und  Phryx,  der  schadenfroh 
von  ferne  die  unglückliche  Jagd  belächelt  hatte,  sang  ganz  leise, 
als  er  Barys  den  Schlaftrunk  und  das  rauchende  Melikrama 2) 
reichte: 

Wer  sich  blutig  fiel,  der  trinke. 


Der  Traum. 

Blaue  Sommernebel  überzogen  von  der  Morgengluth 
niedergedrückt  die  tiefen  Kühlen  der  Waldthäler,  die  in  dem 
Schatten  der  hohen  Gebirge  lagen,  welche  ihre  runden  Arme 
um  die  bethaueten  Wiesen  lagerten.  Blöckend  weideten  in  den 
feuchten  Tiefen  Nikrions  dürstende  Heerden;  aber  ihre  bräun- 
lichen Ziegen  hüpften  in  wilden  Schaaren  die  schroffen  Felsen 
am  See  auf  und  nieder,  das  Kaperngesträuch  und  die  wilden 
Weinranken    benagend.     Lykanor,   der   treueste  Diener  der 

')  Schwert. 

*)  Ein  aus  Wein  und  Honig  gemischtes  Getränk. 


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668  — 


schönen  Hirtinn,  lag  im  Schilfe  und  neben  ihm  sein  Hund. 
Lykanor  saß  stumm,  den  braunen  Finger  auf  die  Lippen  geheftet, 
in  der  andern  Hand  die  eben  geschälten  Rohrstängel  haltend, 
die  er  zur  Flöte  für  seine  Gebieterinn  bestimmt  hatte,  deren 
streng  wiederholtes  Pst!  seinen  frohen  Liedern  ein  schnelles 
Ende  gesetzt  hatte;  denn  Nikrion  saß  träumend  im  Schatten 
der  Haselbüsche  am  murmelnden  Bach,  und  stützte  das  matte 
Köpfchen,  die  großen  Feueraugen  halb  schließend  halb  öffnend, 
auf  ihre  Rechte,  mit  der  Linken  den  krummen  Hirtenstab  nachlässig 
haltend.  Zu  ihren  Füßen  im  hohen  Farrenkraut  lag  ihr  mit 
rosenrothem  Rittersporn  und  feuerfarbigem  Mohn  gefülltes  Hüt- 
chen und  auf  der  andern  Seite  stand  ihr  zierliches  Galakterion '). 
Die  reizende  Schwärmerinn  hätte  noch  länger  geträumt  in  dem 
dunkeln  Schatten  der  Haselbüsche,  ihr  lykaonischer  Diener  noch 
länger  stumm  und  müssig  gelegen  im  hohen  flüsternden  Schilfe  des 
Sees,  wären  nicht  die  Freundinnen  Mitylenis  und  Eunome  mit 
ihren  Heerden  durch  die  nämlichen  Fluren  daher  gezogen,  und 
hätten  nicht  die  Weitsehenden  ihre  Vielgeliebte  in  der  Tiefe  der 
düstern  Gesträuche  erspäht.  Wachst  du,  oder  träumst  du, 
kleiner  Liebling  unsrer  Gemüther,  frug  auf  einmal  das  plötzlich 
sich  nahende  Schwesternpaar?  Du  reibst  dir  noch  die  schwarz- 
beschirmten Wimpern;  schnelle  Röthe  bedeckt  deine  Stirn,  und 
du  seufzest  gar  verlegen,  zierliche  Nikrion.  Neckend  ergriff  sie 
Eunome  bey  dem  lieblich  gegrubten  Kinn  und  Mitylenis  bey  den 
rosigen  Fingerspitzen  und  flüsterte  ihr  ein  bedenkliches,  Bist  du 
verliebt?  oder  was  fehlt  dir?  ins  kleine  Ohr.  Also  antwortend 
erhob  sich  die  Schönste  aus  Arkadien,  freudig  die  weit  ge- 
öffneten Augen  gen  Himmel  kehrend,  und  dabey  entschlüpfte 
ihren  Korallenlippen  ein  hoffender  Seufzer:  — 

Langersehnte  Götterbotinnen  seyd  ihr  mir,  ihr  holden  Ge- 
fährtinnen. Ja,  du  traumdeutende  Mitylenis,  du  räthsellösende 
Eunome.  Laßt  euch  umarmen,  ihr  theuern,  holden  Schwestern, 
denn  ihr  kommt  mir  in  einer  herrlichen  Stunde.  Dank  euch, 
Erebos  und  Morpheus;  und  dabei  ergriff  die  Fromme  das  hoch- 
gefüllte Galakterion,  und  besprengte  siebenmal  den  Boden  und 
streute  feuerfarbigen  Mohn  und  Ajax  rosige  Blumen  zu  den 
Füßen  der  Deutung  bringenden  Schwestern;  dann  winkte  sie 
dem  schwarzen  Hirten,  sich  zu  entfernen.  Du  träumtest  also, 
liebes  Mädchen,  fragte  freundlich  nach  kurzem  Nachdenken  die 
edle  Mitylenis;  und  das  nach  der  hohen  Mitte  der  Nacht,  als 
schon  Phosphoros,  der  Liebe-weckende,  dem  argolischen  Meere 
entstiegen  war?  Sage,  wenn  opfertest  du  zum  letztenmal 
Hygiäen  und  den  Nymphen?    Vor  vier  Tagen,  erwiederte  Nikrion, 


,:  Milchgefäü. 


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—   669  — 


sittsam  erröthend.    Was  aßest  du,  ehe  du  einschliefest?  Einige 
Feigen  und  etwas  Melimala ').    Nun  erzähle  und  laß  die  Grillen 
weichen,  denn  die  Allmächtigen  meynen  es  gut  mit  dir,  da  sie 
uns  so  früh  zu  dir  senden.    Wir  kamen,  setzte  die  jüngere 
Eunome  hinzu,  dich  zu  bitten,  uns  das  neue  Lied  zu  lehren, 
welches  jüngst  der  reiche  Alexis  aus  Megalopolis  euch  bey 
Myris  Feste  sang,  und  welches  du  auf  deiner  Flöte  so  zierlich 
begleitetest.    Gern,  holde  Freundinnen,  will  ich  mich  damit 
lösen.    Setzt  euch ;  hier  ist  es  kühl,  weich  und  trocken.  Ge- 
fällig griff  sie  in  ihren  Kalathiskos,  um  die  beschriebenen  Rinden 
zu  suchen,  worauf  sie  Alexis  Lied  gegraben,  ihre  Ungeduld  und 
ihre  Wißbegierde  unterdrückend.    Nein,  bey  den  Nymphen,  sagte 
noch  Eunome,  sich  liebend  an  sie  schmiegend:  erst  erzähle 
deinen  Traum,  denn  darum  sind  wir  doch  hier;  dann  ist  es 
noch  immer  Zeit,  uns  dein  Lied  zu  lehren.    Auch  kommen  wir 
eben  von  jenen  Hügeln,  wo  wir  Julanthiskos  weinend  fanden; 
auch  ihm  brachten  wir  Frieden.  —  Und  mit  welcher  Botschaft, 
fragte  lächelnd  Nikrion,  oder  welchem  weissagenden  Spruch? 
Ei,  beym  Pan!  rief  schalkhaft  Eunome,  was  geht  dich  der 
schöne  Jüngling  an?    Was  er  mich  angeht?  —  Alexis  Lied, 
Julanthiskos  Thränen,  Myris  Feste  ....  Erlaube,  daß  ich  einmal 
errathen  darf.    Vermuthlich  frug  er  euch,  ob  man  ihn  immer 
mishandeln  würde,  und  ob  stets  minnearm  und  schmerzenreich 
seine  Tage  über  ihn  wegschleichen  würden?  —  Errathen!  kleine 
Pythia,  riefen  lachend  die  Freundinnen.    Ja,  der  trostlose  Jüng- 
ling wollte  wissen,  ob  stets  der  spröde  Alexis  ihn  verhöhnen 
würde,  wie  jüngst  an  Myris  Fest.    Wir  sagten:  Wenn  Alexis 
bespritzt   von  dem  feindlichen  Blute  liegt,  hingestreckt  an  des 
Kyllene  gähnendem  Abgrund,  findest  du,  lieblicher  Jüngling,  nach 
dreyßig  Tagen  und  Nächten  Minne  in  Klüften  und  Minne  am 
heiligen  Male;  doch  mußt  du  opfern  das  herrlich  glänzende 
Strephon*)  dem  schützenden  Sohne  der  Maja.  —  Doch  auch  du 
träumtest  von  Julanthiskos?  —  Damit  endigten  die  allwissenden 
Jungfrauen  ihre  vielbedeutende  Rede.    Warum  soll  ich  läugnen, 
sagte  Nikrion,  und  schlug  beherzter  die  Augen  auf.    Ja,  eine 
Art  von  Julanthiskos  war's,  der  mich  führte;  aber  große  Riesen- 
schwingen bogen  sich  noch  über  den  Scheitel  und  die  mächtigen 
Pinnen3)  berührten  die  Erde.    Eburn  und  blendend  die  unver- 
gleichliche GöttergestaJt,  phönix4)  die  serischen ')  Haarschleifen 
auf  der  ehrfurchtgebietenden  Stirn.     Majestätisch   und  voller 
Siegreiz  schwebte  er  daher,  tadellos  und  gewandlos.    Wo  er 
sich  hinwandte  glänzte  Morgenroth;   und  Hyacinthendüfte  um- 


')  Honieräpfel.  —  *)  Halsband.  —  ')  Schwingen.  —  l)  dunkel 
purpurrot.  —  '•)  seidenen. 


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—   670  — 


flössen  ihn  überall,  —  gemischt  mit  des  Euphons  süßem  Getön. 
Mit  der  Flöte,  die  er  hielt,  berührte  er  mir  die  Augen,  und  vor 
mir  lag  eine  Rose,  größer  wie  dieses  Thal  und  schillernd  und 
funkelnd  in  tausend  Farben,  und  aus  der  Rose  sprudelte  ein 
ambrosischer  Lichtstrom,  warm  und  höher  als  der  Olymp  und 
der  Sitz  der  Unsterblichen.  Rechts,  sagte  er  mir,  unter  diesem 
Rosenblatte  ist  Hyacinthos  Grab;  links,  der  Dioskuren  Wiege; 
hier  Orions  Lager,  und  zu  deinen  Füßen  Narcissens  Quelle. 
Plötzlich  entflog  aus  jedem  Lichttropfen  der  Quelle  eine  bunte 
phantastische  Ephemere,  aber  jede  trug  ein  schönes  Kinderhaupt, 
und  küsste  den  nackten  geflügelten  Gott  im  Vorbeyfliegen,  so 
dass  zuletzt  keine  Stelle  seiner  herrlichen  Gestalt  ungeküßt  blieb. 
Ich  erkannte  unter  der  Menge  Julanthiskos  Züge,  menschlicher 
und  arkadischer,  aber  doch  meinem  himmlischen  Führer  ähnlich. 
Die  Julanthiskische  Grille  verschmolz  sich  mit  ihr.  Ihre  Locken 
wurden  brauner  und  ihre  Färbung  menschlicher;  ihre  Schwingen 
und  die  Rose  verschwanden.  Beschämt  und  getäuscht  zog  ich 
die  Hand  zurück.  Eros  wollte  ich  folgen,  aber  nicht  einem 
arkadischen  Flöter.  Und  mit  einem  Schrey  des  Zorns  erwachte 
ich,  und  noch  immer  schwebt  die  entgötterte  Liebe  um  mich 
her,  und  erfüllt  mein  Herz  mit  Scham  und  Groll.  —  Nähre  dieses 
Gefühl,  riefen  begeistert  die  weissagenden  Jungfrauen;  nimm 
diesen  Ring.  Hier  erblicke  den  Käfer  und  drunter  gegraben  die 
Schlange  und  den  Hahn  und  das  Wiesel.  In  Eleusis  wirst  du 
finden,  wonach  du  so  lange  schon  schmachtest.  —  Weiter 
wollten  sie  reden;  aber  Julanthiskos  kam  mit  seiner  Heerde,  und 
die  Schwestern  flüsterten  schalkhaft  der  schönen  Träumerinn  ins 
Ohr:  „Nimm  dich  in  Acht;  da  kommt  der  entgötterte  Eros.« 
Aber  Unwillen  und  Zorn  entschwanden  schnell  aus  Nikrions 
trefflichem  Herzen,  denn  Thränen  des  Unmuths  bedeckten  des 
Jünglings  glühende  Wangen.  „Lieber  Nachbar",  rief  sie,  ihm  mit 
sanfter  Holdseligkeit  die  Flöte  reichend,  „Mitylenis  und  Eunome 
wünschen,*  daß  ich  das  Lied  singe,  das  ich  jüngst  bei  Myris 
bließ.  Bitte,  komm!"  und  er  kam  und  begleitete  sanft  und 
schön  Nikrions  Silberstimme,  daß  die  Vögel  des  Waldes 
schwiegen  und  die  Hirten  und  Hirtinnen  der  Nähe  herzueilten: 

Kennst  du  das  Thal,  der  Vorzeit  Zauberspiegel, 
Wo  ewig  Unschulds-Lilien  blüh'n? 
Es  ist  des  Traumes  Geisterland. 

Kennst  du  das  Thal  —  es  glänzt  in  Phöbos  Strahlen  — 
Wo  üppig  Cypris  Rosen  glüh'n? 
Es  ist  des  Traumes  Geisterland. 


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—   671  — 


Kennst  du  das  Thal,  umstrahlt  vom  Zukunftsterne, 
Wo  singend  jede  Welle  rollt? 
Es  ist  des  Traumes  Räthselland. 

* 

Julanthiskos  Thränen  rollten  in  der  Flöte  sanft  hüpfendem 
Tacte,  und  er  dachte  an  der  Schwestern  tröstende  Weissagung. 
Auch  die  singende  Hirtinn  dachte  an  Eleusis  und  der  heiligen 
Alethophone  Umarmung,  und  ihre  Blicke  verließen  nicht  den 
räthselhaften  Ring,  den  sie  eben  von  den  Freundinnen  erhalten. 
Lange  standen  Julanthiskos  und  Nikrion  in  Gedanken  verlohren, 
und  hatten  nicht  gemerkt,  daß  die  Jungfrauen  der  Wahrheit 
durch  das  Gebüsche  verschwunden  waren.  —  Ich  werde  doch 
endlich  glücklich  lieben,  seufzte  der  hoffende  Jüngling!  In 
Eleusis  werde  ich  Frieden  und  Vollkommenheit  finden!  flüsterte 
Nikrion,  ihren  Ring  küssend;  und  sie  trieben  ihre  Heerden 
weiter  in  den  Wald  hinein,  denn  die  Sonne  glühte  am  hohen 
Mittage. 


Die  Früherndte. 

Bei  Pans  [von  fünf  riesenmäßigen  Feigenbäumen  malerisch 
umstrickten  und  vom  brausenden,  sich  nördlich  in  den  heiligen 
Nymphensee  am  Fuße  des  entfernten  Kyllene  ergießenden  Orasis 
bespülten]  Altare  saßen  die  Schwestern  Myris  und  Alcine  im 
Schatten  mächtiger  Buchen,  um  welche  sich  rothbeeriges  Geisblatt 
und  zierlich  gefächerte  Waldreben,  Kränze  windend,  hinauf 
klammerten,  und  schieden  die  rothwangigen  Gaben  des  Herbstes 
in  hohen  Kalathisken1)  und  auf  breiten  Diskoiden*)  und  in  tiefe 
kleinere  Kraterinen3),  alle  zierlich  und  eng  und  haltbar  aus 
Weiden,  Rohr  oder  Binsen  geflochten.  Neben  ihnen  saßen  die  treuen 
Mägde,  lasen  und  halfen,  säuberten  und  wählten.  Larig  war  die 
Arbeit,  denn  überschwenglich  waren  dieses  Jahr  Pans  frühe 
Wohlthaten.  Zu  ihnen  gesellte  sich  die  muntere  Phylis  und 
Teukrion,  ihr  älterer  Bruder.  Auch  die  Muhme  Lesbia  mit 
ihrem  Bräutigam,  dem  Megalopolischen  Barys,  und  Barys  der 
Jäger,  des  reizenden  Julanthiskos  älterer  Bruder,  und  Kleanth 
mit  Leucinoe,  Melissa  und  Psyche,  alle  Freunde,  oder  nahe  mit 
Myris  und  Alcine  verwandt.  Singend,  plaudernd  und  lachend 
vergingen  die  geschäftigen  Stunden.  .  .  .  Die  Sonne  schien  heiß 
und  feurig  durch  die  welkenden  Blätter,  und  die  jauchzenden, 
naschenden  und  küssenden  Freunde  setzten  sich  eng  und  ver- 


»)  Körbchen.  —  ■)  Schüsseln.  —  ")  Schalen. 


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—    672  — 


traulich  in  die  kühlen  Schatten  der  Stämme  zusammen.  Die 
Mädchen  hatten  gesungen,  und  die  Jünglinge  jeder  sein  Mährchen 
erzählt.  Jetzt  kam  die  Reihe  an  Barys  und  seinen  Bruder 
Julanthiskos.  Barys  ergriff  die  gelbe  Flöte,  nachdem  er  sich  die 
mit  dem  Blute  der  Kirschen  gefärbten  Lippen  abgewischt. 
Julanthiskos  stimmte  die  hohle,  braungefleckte  Zistra  in  den 
weichen  Lydischen  Modus.  Eben  will  er  das  Lied  der  Schwalben 
beginnen,  als  sie  alle  fröhlich  und  begeistert  ausrufen:  „Sieht 
er  nicht  aus,  der  Liebliche,  wie  Hermes-Zistrophoros!" 
Bescheiden  erröthend  verbeuget  er  sich  hold  und  demüthig, 
während  der  ältere  spöttisch  unter  den  tiefgedrückten  Braunen 
zu  ihm  hinaufschielte.  Doch  Julanthiskos  lächelt  dankend  und 
beginnt  das  liebliche  Lied: 

Chelidon,  wohin,  wohin?  — 
Über  Berge,  über  Flüsse, 
Über  Länder,  über  Meere 
Treibet  mich  mein  innrer  Sinn 
Nach  entferntem  Frühling  hin. 

Chelidon,  woher,  woher? 
Über  Meere,  über  Länder, 
Über  Flüsse,  über  Berge, 
Fand  ich's  fremd  und  freudenleer; 
Darum  komm'  ich  reuig  her. 

Chelidon,  so  bleibe  hier; 
In  dem  Schatten  unsrer  Hütte 
Findest  Ruhe  du  und  Minne.  — 
Ewig  rasten  räthst  du  mir? 
Nein;  nur  Wechsel  lieben  wir. 

Nachdem  der  reizende  Sänger  geendet  und  sich  wieder 
zu  den  Rissen  der  holden  Hirtinnen  gesetzt,  begann  von  neuem 
das  muntere  Gespräch.  Nur  ein  Mann  konnte  das  Lied  des 
Wankelmuths  singen,  sagte,  seufzend  Lesbia  —  und  des  Undanks 
dazu,  seufzte  Philis,  —  und  der  Eitelkeit,  lächelte  bitter  Leucinoe. 
—  Aber  Julanthiskos  ist  ja  nicht  alles  dieses?  flüsterte  erröthend 
Alcine.  Auch  wollte  ich  alles  dieses  nicht  rühmen,  antwortete 
der  fein  Hörende;  auch  ich  kenne  mein  Geschlecht,  und  Thränen 
traten  ihm  ins  dunkle  blaue  Auge.  —  Ihr  sehet,  Schwestern, 
daß  euer  Urtheil  den  Holden  betrübt,  und  dabey  hielt  sie  den 
traurigen  Jüngling  zurück.  Er  geht  ja  nicht  mit  seinem  Bruder 
und  den  andern  Männern  zu  den  berauschten  schreyenden 
Winzern,  oder  zu  den  frechsten  Dirnen,  wie  er;  nein,  er  bleibt 
bey  uns,  ob  wir  gleich  ihn  miskannten.     Alle  die  Mädchen 


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—   673  — 


baten  ihn  um  Verzeihung  und  küßten  ihn  zärtlich.  Acine  setzte 
ihm  einen  Kranz  von  Myrthen  und  Spätveilchen  auf  das 
gebückte  Haupt;  und  Myris  und  Melissa  kränzten  mit  Wintergrün 
seine  Chelys,  und  Psyche  salbte  die  Fingerspitzen  mit  köstlicher 
Myrrha;  aber  alle  ernannten  ihn  zum  Könige  des  herbstlichen 
Festes;  und  sie  plauderten  und  sangen  noch  lange,  obgleich  die 
neidischen  Jünglinge  sie  schmollend  verließen,  um  ihren  Groll 
in  dem  berauschenden  Saft  der  Reben  zu  ersäufen.  Julanthiskos 
blieb  bescheiden,  denn  unter  den  Gehenden  war  sein  Bruder.  Jetzt 
tönte  das  ferne  Evoe!  Mein  Bruder  opfert,  und  wir  vergessen 
undankbar,  daß  diese  Schätze  Pans  Gaben  sind.  Sein  Altar 
stehet  leer,  und  wir  sammeln  und  genießen.  Ein  heiliges  Feuer 
begeisterte  alle.  Dankbarkeit  und  Götterfurcht  erfüllten  jedes 
Herz.  Die  Wirthinnen  ergriffen  mit  jungem  Most  gefüllte  Becher 
und  begossen  damit  zur  Weihe  das  unter  den  Feigenbäumen 
errichtete  Mal.  Julanthiskos  bekränzte  die  Zweige  mit  späten 
Blüthen,  und  die  Abendsonne  beschien  lächelnd  das  schönste 
Fest  der  Dankbarkeit.  Aber  der  Mond  beleuchtete  bey  seinem 
Untergehn  die  blassen  Gesichter  der  Männer,  wo  die  Farbe  des 
Ekels  und  des  Nachrausches  schon  lange  die  der  Reue  und  der 
Schaam  verscheucht  hatte.  — 


Die  Hoffnung. 

Der  Herbst  schüttelte  mit  seinen  lohfarbenen  Sperber- 
schwingen feuchte  röthliche  Abendwolken  und  rasselnde  gekrümmte 
Blätter  und  schwärzliche  Schiefersplitter  in  das  trockne  Moos 
und  die  welkenden  Geniststräuche,  über  die  runden  Abfälle  des 
heiligen  Kyllene,  in  die  tiefen  wärmern  Thäler,  die  der  hoch- 
uferige  Orasis  schäumend  laut  durchmurmelt.  Nur  die  immer- 
grünen Eichen,  die  stolzen  kernreichen  Pinien,  die  harzigen 
Mastixbäume,  die  glänzenden  Tinos,  die  korallentragenden  Stech- 
palmen, und  die  Felsen  umklimmenden  Smilaxbüsche  trotzten 
dem  alles  Verheerenden.  Phoibos  streckte  segnend  seine  goldenen 
Arme  über  Arkadien  aus,  und  ruhte  sein  purpurlockiges  Götter- 
haupt an  die  Lazurpfosten  seiner  nächtlichen  Kammer,  eh'  er 
Messenien  und  Elis  sein  Abschiedslied  hören  ließ,  und  bange, 
süße  Ahndung  zirpte  wie  Grillenklang  durch  die  müden  Herzen. 
Julanthiskos  stand  freudenlos  unter  den  hervorragenden  Felsen, 
schlaff  hing  sein  schönes  Haupt  auf  die  matt  wallende  Brust 
herab,  naß  und  ungekräuselt  die  weichen  bräunlichen  Locken  um 
Nacken  und  Schultern.  In  der  unthätigen  Rechten  hielt  er  einen 
Kranz  von  späten  Veilchen  und  Wintergrün,  in  der  Linken 

Jahrbuch  V.  43 


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—    674  — 

* 

schwebte  in  der  unbekümmerten  Fingerspitze  der  schlaffe  Bogen. 
Von  den  weißen  Hüften  war  das  kurze  ätolische  Jagdgewand 
zu  den  Knien  herab  geglitten,  und  zu  seinen  gekreuzten  Füßen 
lag  im  hohen  Moose  der  Vorhöhle  sein  leichter,  pfeilreicher 
Köcher.  Des  schönen  Knaben  treue  Jagdgefährten,  Melos,  Kyanos, 
Okypos,  die  spitznasigen  Verfolger  der  Rehe,  durch  eine  Kuppel 
gefesselt,  schlichen  wähnend,  als  hielte  sie  noch  ihr  träumender 
Herr,  längs  dem  schwärzlichen  Schieferfelsen  mit  tiefstreifenden 
Schnauzen  die  weit  duftenden  Pilze  des  Herbstes  auswitternd. 
—  Aber  der  Unzufriedene  fühlte  nicht  die  kalte  Feuchte  des 
Heiligthums  der  Hamadryaden ;  er  hörte  nicht  das  ängstliche 
Mökkern  eines  zarten  verirrten  Lammes,  das  längs  dem  steilen 
Abhang  der  Untiefen  athemlos  durch  das  welke  Moos  kletterte, 
daß  die  rollenden  Kiesel  und  die  gebröckelte  Erde  raschelnd 
in  die  Felsenklüfte  herabfielen;  und  von  ihm  ungehört  ahmte 
Echo  seine  Seufzer,  und  das  Angstgestön  des  zitternden  Lammes» 
und  das  Rauschen  der  Blätter  und  Steine  nach.  Auch  hörte  er 
nicht  das  entfernte  Rufen  Onikleiens;  er  sah  auch  nicht  in  seiner 
traurigen  Zerstreuung  einen  riesenmäßigen  Lämmergeyer,  der  in 
weiten,  dann  in  engern  und  immer  engern  Kreisen  die  niedere 
Luft  vor  Julanthiskos  düsterm  Schmollwinkel  pfeifend  durch- 
schnitt. Ach!  er  hörte  und  sähe  nichts;  denn  er  träumte  von 
unbelohnter  Freundschaft  und  mordendem  Undank.  —  Auf  ein- 
mal schlugen  dreymal  seine  drey  Gefährten  an.  Durch  den 
wohlbekannten  Ton  schallte  das  ängstliche  Rufen  einer  athem- 
losen  Mädchenstimme.  Sich  selbst  unbewußt,  blickte  er  durch 
die  Zähren  des  Unmuths,  rasch  Bogen  und  Pfeile  ergreifend. 
Er  hörte  noch  einen  krachenden  Fittigschlag  des  gierigen 
Mörders,  und  blutend  rollte  Onikleiens  unschuldiger  Liebling  von 
Felsen  zu  Felsen  in  die  unendliche  Tiefe.  Umsonst  sandt  er 
den  unsichern  Pfeil  von  der  kaum  gespannten  Sehne,  und  eben 
so  umsonst  schallte  das  zürnende  Gebell  seiner  Hunde  in  das 
Thal  hinab.  Der  König  der  Klüfte  hatte  glücklich  gejagt.  Mis- 
muthig  und  ärgerlich  wollte  Julanthiskos  in  seine  Lieblingshöhle 
zurückkehren;  da  lag  hinter  ihm  höher  am  Abhänge  des  Berges 
blaß  und  erstarrt  im  blutigen  Farrenkraut  Onikleia,  die  schönste 
der  Hirtinnen,  das  Gewand  zerrissen,  und  die  schwarzen  üppigen 
Locken  hingen  herab  über  Stirn,  Wangen  und  Busen,  und  die 
grüngelben  Blätter  des  Farrenkrauts  schlugen  hoch,  wie  eine  Laube, 
über  der  lang  hingegossenen  Mädchengestalt  zusammen,  als 
freuten  sie  sich  des  schönen  Fangs.  Julanthiskos  schöpfte 
erweckendes  Kalt  aus  der  nahen  Quelle,  und  bestrich  damit  die 
zarten  Schläfen  der  langsam  Erwachenden.  Ein  sprödes  Ach ! 
entfuhr  den  sich  wieder  röthenden  Lippen,  und  spröder  stieß  sie 
den  verlegenen  Knaben  zurück.    Mit  einem  Ach!  richtete  sie 


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—   675  — 


sich  auf,  in  die  verwirrten  Gewänder  sich  hüllend.  Glücklich 
für  beyde  kam  die  jüngere  Molyssa  herzugestürzt.  Die  undank- 
bare Spröde  befahl  im  kalten  Ton  dem  reizenden  Jäger,  den 
Ort  zu  verlassen.  Er  nahm  bitter  lächelnd  seine  Pfeile,  seinen 
Köcher,  seinen  Bogen,  und  verhüllte  seine  zu  entblößte  Gestalt 
in  das  ätolische  Jagdgewand.  Er  ergriff  schmollend  die  Leitseile 
seiner  schnellfüßigen  Hunde,  und  stieg  den  heiligen  Berg  mit  Groll 
gegen  die  undankbaren  Menschen  im  Herzen  herab;  und  im 
Herabsteigen  hörte  er  noch  lange  das  fruchtlose  Jammergeschrey 
der  trostarmen  Schäferinnen.  —  An  der  Flamme  seines  heimi- 
schen Heerdes  schwur  er  bey  dem  Heiligthum  der  Hamadryaden, 
sobald  nicht  wieder  auf  Männerliebe  und  Mädchendank  zu 
rechnen;  aber  ein  Etwas  stahl  sich  in  ihn  mit  der  leuchtenden 
Wärme,  die  seinen  Körper  durchdrang,  und  lächelnd  grub  sich 
die  Hoffnung  einen  werthen  Namen  in  sein  treues,  zärtliches 
Herz.  Hermes  —  lispelte  er  —  und  ihr  heiligen  Nymphen,  die 
ihr  meines  Unmuths  und  meiner  Wünsche  Zeuginnen  wart!  — 
und  indem  er  so  dachte,  hüpften  seine  Pulse  freudiger;  und 
lächelnd  setzte  er  den  Veilchenkranz  dem  rusigen  Hermeshaupte 
auf,  und  das  Lied  der  Hoffnung: 

Nenne  mir  bey  drohenden  Gefahren 
Jenen  Stern,  der  niemals  sich  verbirgt, 
Dessen  Glanz  das  tödtende  Entsetzen 
Mächtig  in  der  Zukunft  Raum  verbannt. 
Nennen  will  ich  meines  Führers  Namen, 
Hoffnung,  dich,  des  Glückes  Morgenstern  — 

entquoll  seinen  Rosenlippen.  Wie  beschämt  gedachte  er  des 
Eides  bey  der  Hamadryadischen  Höhle,  und  schlug  noch  immer 
die  Cyanen-Augen  von  langen  schwarzen  Wimpern  beschattet, 
in  die  hochrothe  Gluth;  aber  eine  mächtige  Stimme,  wohllautend, 
übermenschlich,  erscholl  durch  die  gemächliche  Hütte,  ihn  nennend. 
Zitternd  sank  er  zu  dem  heiligen  Wunderbilde  der  Vorzeit,  und 
um  den  schlanken  Hals  des  herabblickenden  Gottes  wand  sich 
ein  leuchtendes  Strephon.  Da  gedachte  er  plötzlich  der  tröst- 
lichen Verheißungen,  welche  ihm  die  Jungfrauen  der  Weihe 
gegeben  hatten,  und  die  herrliche  Ahndung,  die  des  Jünglings 
hochklopfendes  Herz  bey  diesem  Gedanken  durchbebte,  täuschte 
ihn  nicht.  Julanthiskos  ward  überzeugt,  daß  kein  Freundschafts- 
bund gedeiht  ohne  Beständigkeit  und  ohne  Majapors  segnende 
Macht;  und  dieses  Bewußtseyn  war  eben  die  Stimme  Hermes 
Philozügetes1),  der  an  jenem  glücklichen  Abend  über  Arkadien 
wegflog. 


)  des  Freunde  verbindenden. 

43» 


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-    676  — 


Die  Erfüllung. 

Du,  Mynion,  bleibst  in  der  Hütte,  und  du,  Limeus,  weidest 
die  leicht  sich  zerstreuenden  Ziegen  längs  der  hohen  Ufer  des 
Orasis;  und  du  endlich,  erfahrner  Phryx,  führst  die  Lämmer 
seitlang  der  lotusreichen  Tiefen  der  warmen  Quellen.  Nimm 
diesen  Kalathiskos  und  pflücke  mit  schonenden  Fingerspitzen 
auf  den  sammtigen  Blättern  mir  die  schwarzen  leicht  zerschmelzen- 
den Beeren  des  Herbsts;  denn  durchnässende  Nebel  umhüllen 
schon  des  Kyllene  Steilen.  Du  aber,  Mynion,  erhalte  das  kleine 
Feuer  und  öffne  klüglich  die  Züge. des  Heerdes,  damit  der  Rauch 
die  Kammern  nicht  verderbe.  Also  sprach  Julanthiskos,  der 
schönste  der  arkadischen  Jünglinge,  die  schwankenden  Speere  von 
der  glattgetäfelten  Wand  herablangend,  und  den  braunen  flachen 
Hut  sich  unter  das  weiche  Kinn  festriemend.  Du,  Phryx,  hefte 
mir  auf  der  linken  Schulter  den  runden  Mantel  deines  Mutter- 
landes. Recht!  Noch  einmal  wandte  er  grüßend  das  bräunlich 
gelockte  Haupt  zu  dem  schützenden  Bilde  des  Gottes,  selbst 
nicht  ahndend,  daß  er  so  bemäntelt  und  behütet  wie  ein  unbe- 
flügelter Hermes  aussah,  und  verließ,  nachdem  er  alles  besorgt, 
schnell  die  älterliche  Wohnung.  Zuerst  eilte  er  durch  den 
schattigen  Gang  der  Reben,  dann  durch  den  Garten  der  obst- 
tragenden Bäume,  dann  über  die  Wiesen  am  Orasis,  dann  bey 
Menalkas  Hütte  und  bey  Grynions  und  Myrtills  Wohnungen 
vorbey,  itzt  bey  dem  Kedrischen  Born,  der  bey  den  Cypressen 
rauscht,  dann  schnellen  Trittes  den  Hügel  hinauf;  jetzt  unter  den 
immergrünenden  Eichen,  dann  bey  dem  Ulmenwalde  vorbey  und 
den  Tinosgebüschen,  dann  bey  den  hohlen  Felsen  der  Schiefer- 
brüche. Jetzt  grüßt  er  Minoe,  die  Neuvermählte;  schäkernd 
hält  sie  ihn  beym  flatternden  Mantel.  Wo  so  schnell  hin, 
Julanthiskos?  Zwar  sind  wir  gewohnt,  daß  du  den  scharfen 
Wurfspieß  dem  krummen  Schäferstab  vorziehst,  doch  nie  sah 
ich  dich  so  schnell  die  Räume  durchschneiden.  Höre,  was  zieht 
dich  den  mit  Herbstnebel  bedeckten  Kyllene  so  unwiderstehlich 
hinauf?  Ich  lasse  dich  nicht  eher  los,  du  sagst  mir  den  Zweck 
deines  Eilens,  oder  du  singst  mir  ein  Lied.  Sagen  kann  ich 
dir  nicht  den  Zweck  meines  Strebens,  denn  ich  weiß  noch  nicht 
die  Beute  der  Jagd,  die  mir  zu  Theil  wird;  aber  singen  will  ich 
dir  wohl  ein  Lied,  und  was  noch  mehr  ist,  das  Liebiingslied 
deines  Cyparissos.  Doch  zuerst  gieb  mir  einen  Kuß.  —  Wenn  du 
gesungen,  so  will  ich  sehen,  ob  es  der  Mühe  lohnt.  Und 
Julanthiskos  stimmte  das  Lied  des  Jägers  Arkas  in  dem  Phrygi- 
schen  Modus  an: 


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—    G77  — 


Beym  kindlichen  Strahl  des  erwachenden  Phoibos 
Ergreifen  wir  Speere, 
Pfeil,  Bogen  und  Hörner, 
Und  folgen  dem  Drange 
Zum  Hayne,  zum  Walde ; 
Und  folgen  dem  Streben 
Nach  Beute,  nach  Ruhm. 

Beym  göttlichen  Glühn  des  alltreffenden  Phoibos 
Verlassen  wir  Speere, 
Pfeil,  Bogen  und  Hörner, 
Und  schleichen  ermüdet 
Zu  kühligen  Grotten, 
Und  folgen  dem  Durste 
Zum  murmelnden  Bach. 

Beym  scheidenden  Purpur  des  segnenden  Phoibos 
Heimkehren  wir  singend. 
Es  klirren  die  Waffen; 
Es  tönen  die  Hörner. 
Wir  folgen  belastet 
Dem  plaudernden  Zuge, 
Mit  Beute,  mit  Ruhm. 

Ehe  er  das  Lied  geendet,  kam  Cypariß  selbst,  und  mit 
dem  letzten  Klange  der  phrygischen  Weise  hielt  Minoe  und  ihr 
Gatte  liebkosend  und  lobend  den  unwiderstehlichen  Jüngling  in 
ihren  Armen;  aber  hochglühend  entwand  sich  der  Reizende,  und 
entfloh  wie  der  unaufhaltbare  Pfeil  den  Hügel  hinauf,  und  durch- 
schnitt den  Raum  und  die  Herbstnebel.  Noch  lange  sprachen 
die  Gatten  von  Julanthiskos,  dem  schönsten  der  Jünglinge,  dem 
vorzüglichsten  der  Sänger,  und  dem  raschesten,  muthigsten  der 
Jäger  aus  dem  kyllenischen  Gau,  ehe  sie  heimkehrend  die 
blöckenden  Lämmer  und  die  hüpfenden  Ziegen  in  ihre 
geräumigen  Hürten  gesammelt  hatten.  Julanthiskos,  von  Kälte 
und  Nebel  durchnäßt,  hatte  umsonst  Wälder  und  Büsche  durch- 
späht, war  umsonst  von  Felsen  zu  Felsen  gehüpft,  denn  heute  war 
der  heilige  Berg  wie  ausgestorben.  Hier  und  dort  hackte  ein 
einsamer  Specht  die  glatte  Rinde  des  Lorbeerbaums,  oder  die 
dicke  Borke  der  Korkeiche,  und  die  nachäffende  Echo  wieder- 
holte den  Einton,  oder  sie  schrie  dem  heisern  Pfeifen  des  gierigen 
Weihe  oder  des  fernhorstenden  Aar  nach,  oder  brüllte  schwach 
und  traurig  wie  der  Büffel  in  moosigen  Klüften.  Alles  war  öde  und 
schauerlich.  Selbst  die  zaghaften  Eidechsen  schlüpften  langsam 
über  die  rothen  Nadeln  der  Pinien  durch  das  welkende  Farrenkraut, 
i.-.*!  c . 2  c.t.ic  i  i*  . —        z...u<*..  i.i  i.iTO  \\ irr* . ^ — - . 2  i»*.w_r!. 

Keine  Grille  wagte  zu  zirpen,  und  Julanthiskos  ahndender  Seui'zer 


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—   678  — 


und  ungeduldiger  Fußtritt  war  der  einzige  Klang,  der  mühsam  die 
dichten,  grauen,  kalten  Nebel  durchdrang.  Doch  wer  hemmt  den 
rastlosen  Schritt  des  spähenden  Jägers?  Wer  vermag  der  suchen- 
den Hoffnung  der  Liebe  einen  neuen  Weg  zu  lehren?  Julanthiskos 
seufzte  sehnend  dreymal:  Alexis.  —  Da  hörte  er  plötzlich  fernes 
ängstliches  Rufen,  und  sein  Alexis  wurde  Gegenruf.  Er  stürzte  von 
Felsen  zu  Felsen,  nur  der  Stimme  der  Ahndung  folgend;  denn 
undurchdringliche  Nebel  und  herbstliche  kalte  Schatten  bedeckten 
die  schlüpfrigen  Schiefer,  und  die  glatten  niedergedrückten  Geniste 
und  Haiden  der  kyllenischen  Einöden.  Itzt  klang  es  wieder  wie 
Hülfe,  Hülfe!  und  Julanthikos  mußte  sich  wenden,  denn  die  Klage- 
stimme kam  von  der  entgegengesetzten  Seite ;  aber  näher  und  ver- 
nehmlicher, bekannter  und  theurer  klang  das  flehende  Hier,  Hier! 
Krampfhaft  schlug  ihm  das  ungeduldige  Herz;  itzt  drängte  er  sich 
durch  die  eng  gepflanzten  Stämme  hoher  Pinien,  dann  wieder  durch 
die  verwirrten  Dornen  der  Kapern  und  Hippophaen,  und  die  wilden 
Gestrüppe  der  Felsen;  zuletzt  schurrte  sein  müder  Fuß  bis  an  den 
jähen  Abhang  einer  schwarzen  Untiefe,  und  durch  den  graublauen 
Schleyer  am  entgegengesetzten  Rande  erkannte  er  die  geliebte 
Gestalt  seines  Alexis.  Die  Freude,  ihn  endlich  zu  treffen,  ver- 
scheuchte schnell  den  innerlichen  Schauder  des  Schwindels.  Bist 
Du  es,  Julanthiskos?  tönte  es  schwach  jenseits  der  Kluft;  bist  Du 
es,  Alexis?  erschallte  es  entzückt,  doch  athemlos  diesseits.  Komm, 
ach!  komm;  —  und  ein  mächtiger  Sprung  über  den  fürchterlichen 
Felsensturz  vereinigte,  die  sich  vielleicht  sonst  nie  gefunden  hätten. 
Der  reiche  Bewohner  des  Kyllene,  Besitzer  der  schönsten  Palläste 
und  Gärten  in  Arkadien,  ja  selbst  im  ganzen  Hellas,  der  stolze 
Jüngling,  um  den  so  lang  der  treueste  der  Hirten  gedient  hatte,  lag 
verwundet  und  matt,  durchnäßt  und  waffenlos  auf  dem  blutigen 
Felsen.  Gejagt  hatte  er  die  brüllenden  Bewohner  dieser  nebelichten 
Höhen.  Der  Wege  unkundig,  von  seinen  Dienern  verlassen,  war 
er  in  die  Irrgänge  der  übereinander  gestürzten  Basaltklippen 
gerathen.  Den  letzten  Wurfspieß  hatte  er  seinem  grimmigen 
Gegner  in  den  feisten  Wanst  gerennt,  und  rollend  und  sinkend 
stürzte  das  gehörnte  Ungeheuer  auf  seinen  Sieger,  ihn  zu 
zerquetschen  drohend;  und  so  fand  ihn  Julanthiskos  verwundet 
und  mit  Blut  bespritzt  neben  dem  noch  röchelnden  Büffel. 
Die  Jünglinge  wurden  endlich  von  Alexis  Sklaven  gefunden,  wie 
sie  Mund  an  Mund  auf  dem  weichen  Moose  einer  der  Kylieni- 
schen Höhlen  schlummerten.  Alexis,  der  Gerettete,  war  nicht 
mehr  undankbar,  und  Julanthiskos,  der  Findende,  nicht  mehr 
unglücklich;  mit  Alexis  Strephon  geschmückt  Julanthiskos,  und 
in  Julanthiskos  Mantel  eingewickelt  Alexis. 


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—   679  — 


Das  Dankopfer. 

Der  nasse  Spätherbst  hatte  sein  schäckiges  Gewand  über 
die  Thäler  gebreitet  und  schier  die  Bäume  entblättert.  Gesammlet 
waren  die  Früchte  in  die  trocknen  Speicher.  Die  blockenden 
Heerden  begnügten  sich  mit  der  dunkeln  Kost  des  Spätjahrs. 
Die  Jungfrauen  bekränzten  sich  die  Stirn  mit  der  blassen  Mutter 
des  Krokus.  Der  buntgefleckte  Sperber  wußte  schon  längst 
nicht  mehr,  was  es  gewesen,  verfolgte  schreyend  durch  das 
rauschende  Laub  die  Pfleger  seiner  nackten  Kindheit,  und  die 
goldgefiederten  Ammern  umkreisten  zwitschernd  die  platten 
Dächer  der  Schäfereyen.  Alles  verfolgte  sich,  aber  nicht  wie 
im  Frühling  zur  Liebe,  sondern  zum  Krieg  und  zum  Mord;  und 
der  arkadische  Jüngling  vertauschte  das  ländliche  Pedum ') 
mit  den  scharfgespitzten  Melien*),  und  die  leichte  Hirtentracht 
gegen  den  wärmeren  phrygischen  Mantel,  und  anstatt  des  glatten, 
beschattenden  Basthuts  hüllte  er  die  krausen  Haare  in  die  sackige 
Mütze  der  Lakonier,  die  doppelten  Riemen  sich  unter  das  Kinn 
schlingend;  denn  frischer  wurden  die  feuchten  nebelichten  Tage, 
traurig  die  langen  düstern  Abende.  Der  hämische  Winter  verließ 
schon  seine  unterirdischen  Schlupfwinkel,  und  Zephyros,  der 
Wolkensammelnde,  verbarg  mit  Eis  und  Schwarz  die  blassen 
Sterne.  Ach,  nur  selten  blickte  Phoibos  über  die  traurige  Flur, 
wenn  er  die  Safran-Rosse  in  dem  Ionischen  Meer  badete,  und  die 
kupfernen  Gewölbe  seiner  westlichen  Halle  von  seiner  Nähe 
erglüh'ten.  —  Seht  ihr,  Brüder,  den  glänzenden  Anblick  des 
sinkenden  Tages,  sagte  Menalkas,  sich  zu  seinen  Brüdern  Mikon 
und  Myrtillos  wendend,  die  mit  Reißig  beladen  ihm  folgten 
schneH  hinab  den  steinichten  Hohlweg  des  steilen  Kyllen's;  seht 
die  goldenen  Streifen,  die  sich  in  das  dunkelblaue  Thal  wie 
Lichtströme  hinabgießen,  wie  sie  kämpfend  mit  dem  kalten 
Nachtnebel  die  runden  Schirme  der  Pinien,  die  Nadeln  der 
Kypressen  und  die  lohfarbige  Krone  der  Nußbäume  vergolden? 
Laßt  uns,  Brüder,  hier  ausruhen  bey  dem  schwarzbeerigen  Kassis, 
den  stachlichten  Kapergebüschen  und  den  braunroth  gefärbten 
Akanthen,  die  üppig  ihre  mächtigen  Ranken  so  frech  um  den 
dunkeln  Hermes  winden.  Als  ich  den  centnerschweren  Aenogyps*) 
mit  den  Pfeilen  erzielte,  schwur  ich's  beym  Maiapor,  dem  Be- 
schützer dieser  Klüfte,  ihm  den  gemordeten  Wütherich  der  Heerden 
zu  opfern;  billig  ist,  daß  ich  das  Gelübde  halte.  Seht,  ihr 
Brüder,  gerade  traf  ich  sein  Herz,  und  der  wiederhakende  Pfeil 
hängt  noch  blutig  in  der  zähen  Haut.    Du,  Myrtillos,  nimm  die 


')  Hirtenstab.  —  *)  Spielten.  —  ■*)  ein  Geier  der  grollten  Art, 
der  Lämmergeier. 


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—   680  — 


eine  der  Schwingen,  und  du,  Mykon,  die  andere,  und  entfernt 
euch  jeder  in  entgegengesetzter  Richtung.  Beym  lampsakalischen 
Gotte!  mehr  als  vier  Orgyen  mißt  seine  Spannung.  Sieh'  die 
fürchterlichen  Krallen.  Gewiß  war  es  dieser,  der  noch  jüngst 
mit  dem  Schlag  seiner  kupferfarbigen  Schwingen  Onikleiens 
geliebtes  Lamm  von  jenem  Felsen  herabstürzte.  Ach!  noch 
weint  sie,  die  Thörinn,  um  den  zerschmetterten  Liebling;  dabey 
gab  er  einen  zürnenden  Schlag  dem  erstarrten  Mörder,  daß  sein 
schlaffes  Riesenhaupt  zurückfiel.  Laut  lachend  legten  die  rüstigen 
Brüder  den  König  der  Vögel  zu  dem  Fuß  des  hundertjährigen 
Bildes.  Zu  groß  für  deinen  Petasus»)  wären  die  schweren 
Flügel  gewiß,  sprach  unverschämt  der  jüngste  der  Brüder;  und 
die  rohen  Gesellen  rannten  mit  frechem  Gelächter  den  Berg 
herab,  daß  die  runden  Steine  ihnen  lärmend  nachrollten.  Von 
weitem  in  den  Myrthengebüschen  versteckt,  hatte  Julanthiskos, 
der  blauäugige,  der  reizendste  unter  den  Kylienischen  Knaben, 
das  ländliche  Opfer  bemerkt.  Leicht  und  schlank  und  braun- 
gelockt,  wie  der  göttliche  Beherrscher  von  Paphos,  hüpfte  er 
aus  den  schwarzgrünen  Gebüschen,  daß  die  bräunliche  Chläna 
um  den  runden  Nacken  flog,  und  die  krausen  Locken  um  die 
schalkhaften  Augen  und  die  durch  den  kalten  Abendwind  hoch- 
gefärbten Wangen.  Nimm  auch,  schönster  der  Götter,  das  Opfer 
eines  dankenden  Gemüths  an;  auch  du,  Leiter  der  Verirrten, 
Beherrscher  der  Schatten,  Wohlthäter  der  Lebenden  wie  der 
Todten,  auch  du  hast  mir  ein  Herz  zugewandt,  was  mich  lange 
mit  grausamer  Härte  peinigte;  und  dabey  hing  der  Glückliche 
ein  goldenes  Strephon  dem  Gotte  um  den  gesenkten  Hals.  — 
Du  hast  mich  gelehrt  den  Weg  bey  Nacht  und  Graus.  Ach! 
und  in  meines  Alexis  prächtiger  Wohnung  fand  ich  mehr  Glück 
und  Wonne,  als  ich  je  geträumt  hatte.  Vor  Freundschaft  glühend 
und  vor  Ehrfurcht  sank  der  liebliche  Beter  zu  dem  Fuße  der 
schlanken  Hermessäule  nieder.  Freundes-Arm  schlang  sich  um 
den  freudebebenden  Julanthiskos.  Alexis,  der  reiche  Bewohner 
des  Kyllene,  war  seinem  neuen  Liebling  nachgefolgt.  Komm, 
sagte  er,  mit  ihm  die  Fingerspitzen  zärtlich  verschränkend  und 
die  Lippen  ihm  auf  die  weißen  Schultern  drückend,  komm,  treues, 
frommes  Gemüth.  Einmal  führtest  du  mich  durch  Irrwege  und 
Dunkel;  itzt  stütze  dich  auf  meinen  Arm,  ich  will  dich  führen. 
Stumm  folgte  der  Überselige  seinem  Beschützer  nach.  Ich  will 
dich  ein  Lied  lehren,  sagte  endlich  Alexis  nach  langem  Schweigen, 
ein  Lied,  das  unsern  düstern  Weg  kürzet.  Kommen  wir  zu  Hause, 
so  schenke  ich  dir  eine  Lyra;  du  rührst  sie  ja.  Julanthiskos,  höre 
t:i:ch,  da  wir  r.ns  kaum  sehen: 


')  üer  beschwingte  Hut  des  Hermes. 


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—    681  — 


Treue  siegt; 

Treu'  erringt  den  schönsten  Preis. 
Laß  dich  nicht  erschrecken 
Durch  des  Stolzes  Kälte; 
Strahlen  folgen  Strahlen, 
Bis  die  Wolken  schwinden. 

Treue  siegt; 

Treu'  erringt  den  schönsten  Preis. 
Laß  dich  nicht  verdrießen, 
Lang  umsonst  zu  dienen. 
Tropfen  folgen  Tropfen, 
Bis  die  Felsen  weichen. 

Treue  siegt; 

Treu'  erringt  den  schönsten  Preis. 

Auch  du  hast  durch  Treue  mein  Herz  erweicht;  ach!  wie 
vermag  ich  dir  zu  lohnen?  —  Ach,  erwiederte  Julanthiskos,  mit 
dieser  Hoffnung  senkte  an  Myris  Feste  Alethophone  einen 
erheiternden  Strahl  in  mein  gekränktes  Herz,  und  mit  eben  diesen 
Tönen,  von  dir  damals  unbeachtet,  begrüßte  mich  die  göttliche 
Seherinn,  welcher  die  Räthsel  der  Zukunft  klar  und  offenbar  sind. 
—  So  sprach  er  dankbar  gerührt,  und  zog  den  Freund  fester  an 
sich,  in  seinen  Arm  sich  schlingend.  Und  so  verschlungen  gingen 
sie  neben  einander,  und  es  wurde  immer  kälter  und  finsterer,  und 
sie  mußten  ihre  Schritte  verdoppeln.  Aber  endlich  wurden  die 
Wege  ebener  und  bequemer  die  Rasenstiege.  Unter  entblätterten 
Granatbäumen  und  durch  Ulmengänge,  die  welker  Wein  umschlang, 
gingen  sie  itzt;  dann  durch  die  niedrige  Befriedigung  aus  glatten 
Quadern,  an  deren  Eingang  zwey  eherne  Karyatiden  standen,  hohe 
Körbe  auf  den  zierlichen  Häuptern  tragend.  Ach,  nun  sind  wir 
h  Hesperiens  Gärten!  rief  der  entzückte  Jüngling,  zog  seinen 
Führer  durch  die  Thymian-  und  Lavendelbüsche  und  durch  die 
starkriechenden  Chirandus-  Gesträuche,  vor  dem  rauschenden 
Wasserbecken  vorbey,  die  fünf  Marmorstufen  hinauf;  denn  finstre 
Nacht  bedeckte  den  zierlichen  Wintergarten  und  die  herrliche 
Wohnung  des  reichen  Alexis,  und  die  Freunde  umarmten  sich  nicht 
eher  als  in  der  räumigen  Stoa;  dann  eilten  sie  zusammen  in  das 
wärmende  Bad,  wo  hochgeschürzte  Korinthierinnen  ihre  erstarrten 
Glieder  mit  köstlichen  Salben  rieben;  dann  zu  der  gewürzten 
Tafel,  und  dann  sanken  sie  schlaf-  und  wonnetrunken  auf  das 
schwellende  Lager,  nachdem  lu'?r»this''r»«  «e«n*r»  Alevi«*  für  ein 
rndcrcs  prächtigeres  Strephon  ;.  •  '  :•.:.  :;]  [  \  j.r... :  ;  .../er 
zärtlich  gedankt,  und  den  Kyileniscnen  Hermes  noen  einmai  ge- 


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—   682  — 


priesen;  und  sie  entschliefen  Hand  in  Hand,  um  sich  nie  zu  ver- 
lassen. Und  noch  hängt  Julanthiskos  Strephon  an  dem  Halse  des 
wunderthätigen  Bildes,  aber  Menalkas,  Mykons  und  Myrtillos 
blutiges  Opfer  ward  bald  die  Speise  der  unreinsten  der  Vögel.  — 


Das  Thal  der  Orakel. 

Phoibos,  der  mächtige  Schützer  der  Eleusinischen  Waller, 
bannte  den  flockigen  Schnee  und  den  schneidenden  Frost,  den 
durchdringenden  Nebel  und  alle  die  erstarrenden  Begleiter  des  Win- 
ters hinauf  zu  den  Eisspitzen  des  Erymanthos,  in  die  Pinienthäler 
des  kältern  Achaiens,  und  der  thauende  Athem  seiner  laut 
wiehernden  Rosse  erfüllte,  warmem  Nebel  gleich,  das  glückliche 
Arkadien;  denn  der  goldgelockte  Herrscher  des  Tages  lächelte 
segnend  den  ungeduldigen  Jungfrauen,  die  enggedrängt  auf  dem 
dicht  verschleyerten^Wagen  von  nichts  als  von  Mysterien  und  von 
Wundern  träumend  plauderten,  und  von  seinen  wärmenden 
Strahlen  getäuscht  die  Byssus-Kalyptrien  von  den  hoffnungglühen- 
den Stirnen  entfalteten.  Itzt  verläßt  der  Zug  der  Eleusinischen 
Neophyten  l)  den  schwarzen,  lautröpfelnden  Wald,  wo  die  grauen 
Vögel  Aphroditens  buhlend  und  zwitschernd  sich  wiegen.  Itzt 
sprengen  die  Reiter  heran,  unter  ihnen  Alexis  der  herrliche,  und 
Julanthiskos,  der  nicht  minder  liebliche,  und  ihre  gleichen 
Scharlach-Chlänen1)  flattern  durch  die  milden  Lüfte  dahin.  Ähnlich 
den  Dioskuren  fliegen  sie  über  das  weiche  Moos.  —  Itzt  halten 
sie,  und  demüthig  trennt  sich  bey  Alethophonens  Namen  die 
harrende  Menge.  „Schweigt,  ihr  Männer,  schweiget,  ihr  Jünglinge," 
so  sprachen  sie  im  festen  Tone,  „daß  kein  beleidigendes  Lied  mit 
dem  Grimm  der  Scham  den  erstummenden  Jungfrauen  die  Brust 
engt.  Alle  sind  Alethophonens  Freundinnen.  Schweigt,  ihr  spotten- 
den Sänger,  wenn  ihr  eure  Rinder  und  eure  Heerden  und  eure  Hütten 
liebt."  Also  sprachen  die  vorüberjagenden  Jünglinge,  und  ruhig 
und  ungestört  rollt  der  Wagen  der  zagenden  Jungfrauen  über  die 
dumpftönende  Brücke  des  Orasis;  und  noch  lange  stehen  mit 
offenem  Munde  die  sonst  so  unverschämten  Spötter  und  wissen 
nicht,  sind  es  Menschen  oder  Heroen,  die  ihren  Mund  also  banneten. 
Ungestört  und  ungehöhnt  blieb  also  das  herrlich  bespannte  Fuhr- 
werk der  werdenden  Demeterissen,  Dank  der  allmächtigsten  der 
Sängerinnen  und  ihren  Gesandten.  Jetzt  zieht  sich  langsam  der 
Zug  längs  den  nassen  Ufern  des  heiligen  Sees,  wo  vor  wenig 


')  Neu-Eingeweihte. 
a)  warine  Mäntel. 


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—    GS3  — 


Monden  Eros  bey  nächtlicher  Weile  zwey  lang  getrennte  Minnende  auf 
ewig  vereint,  dann  an  dem  Fuße  des  Ulmenwaldes,  wo  einst  die 
spröde  Onikleia  das  Lied  der  Bienen  gesungen  und  ihre  Sprödigkeit 
abgelegt,  dann  die  südlichen  immergrünen  Hayne  des  göttlichen 
Kyllene  hinauf.  Itzt  halten  sie  bey  dem  wunderthätigen  Bilde  des 
dort  erzeugten  Gottes,  sein  goldenes  Strephon  bewundernd;  itzt 
steigen  die  holden  Jungfrauen  aus  —  Charikleia,  Mäotis,  Alkmena, 
Charis,  Julanthiskos  Base  Nikrion  und  die  Schwestern,  Alexis  Freun- 
dinnen, die  reichen  Töchter  aus  Mantinäa.  Hier  umarmten  sich  die 
sich  einst  fliehenden  Freunde,  Hermes  und  Anteros  opfernd.  An 
dieser  heiligen  Stätte  fand  jede  Kommende  eine  Gastfreundinn  oder 
eine  Verwandte  unter  dem  versammelten  Hirtengeschlechte,  und 
Küsse  wechselten  mit  Küssen,  und  Gaben  mit  Gaben,  und  herzliches 
Kosen  mit  herzlichem  Kosen.  Nachdem  Minoe  und  Nikrion  sich 
geküßt  und  sich  hundert  Fragen  gemacht  und  beantwortet,  flüsterte 
die  jüngst  vermählte  Hirtinn  ihrer  städtischen  Freundinn  ins  Ohr: 
„Du  weißt  also,  wer  uns  die  schwere  Leyer  brachte?"  Ja,  bey  der 
Weisheit  verwahrenden  Göttinn,  dein  Herz  hat  sich  nicht  geirrt: 
Der  falsche  Jüngling  war  die  Allwissende.  —  Doch  es  flüsterte  durch 
die  Gipfel  der  immergrünen  Eichen  wie  Dämonen-Lied: 

Schweigen  ziemt  der  Wallerinn, 
Schweigen  ziemt  den  Liebenden, 
Schweigen  ziemt  den  Wissenden, 
Schweigen  ziemt  den  Hoffenden, 
Drum  so  schweigt  und  schweigt  und  schweigt. 

Erschrocken  kehrten  die  Freundinnen  zu  den  übrigen  Jung- 
frauen; erblaßt  und  Thränen  in  den  Augen  trennten  sie  sich, 
denn  Ahndung  sagte  ihnen,  daß  sie  sich  nie  wieder  sehen  würden. 

Über  Korinth  ging  der  Zug;  denn  Julanthiskos  Hodoiporos  >) 
und  Alexis  wollten  bey  dem  Bruder  Barys  übernachten ;  auch  waren 
mehrere  der  Jungfrauen  von  der  Reise  ermattet.  Segnend  blickten 
ihnen,  so  lange  sie  konnten,  Minoe  und  Cyparissos  nach;  und  als  sie 
wieder  in  ihre  Hütte  heimgekehrt,  setzte  sich  die  treue  Hausfrau  an 
dem  Heerde  nieder,  wo  sie  einst  Liparos  Ring  vergraben  hatte, 
stimmte  zur  traurigsten  Weise  ihre  Chelys,  und  sang  zum  bebenden 
Saitenklang  das  Lied  der  Trennung: 

Sterne  trennen  sich  von  Sternen, 
Und  der  Thau  benetzt  die  Flur; 

Geister  trennen  sich  von  Geistern, 
Und  es  löschen  Opferpflammen, 


»)  der  Wanderer. 


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—    634  — 


Herzen  trennen  sich  von  Herzen, 
Und  es  löschen  beyder  Leben. 

Sterne  rollen  nah'  an  Sternen, 
Und  es  werden  neue  Sonnen; 

Geister  schmelzen  sich  mit  Geistern, 
Und  es  rauschen  Hekatomben; 

Doch  wo  Herz  von  Herzen  scheidet, 
Giebt  es  weder  Schlaf  noch  Lethe ! ») 

Cypariß,  der  liebende  Hirte,  nahm  die  eburne  Chelys  und 
hing  sie  stumm  an  die  glatt  getäfelte  Wand  des  wirthbaren  Zimmers; 
aber  Minoe,  die  trostlose  Freundinn,  weinte  lang,  ob  es  ihr  gleich 
an  Thränen  gebrach,  denn  sie  wußte,  daß  die  Base  Nikrion  und 
Julanthiskos  Hodoiporos  nicht  wiederkehren  und  daß  sie  in  dem  Thal 
der  Orakel  bald  die  Hirten  und  Arkadien  vergessen  würden;  ach! 
und  Vergessen  ist  Trennung  auf  Ewigkeit,  denn  es  trennt  auf 
Ewigkeit.  — 

Schlaf  und  Hoffen  flohen  die  Arme,  und  nur  ein  trauriges 
Gefühl  erfüllte  ihr  6angendes  Herz,  das,  ihre  Freundinn  nie  wieder 
zu  sehen,  und  eine  Angst,  die,  den  wundersamen  Pilger  oder  Aletho- 
phonen,  die  Allmächtige,  beleidigt  zu  haben.  —  Immer  hörte  sie 
noch  das  Lied,  das  in  dem  Eichenwald  erklang,  als  sie  von  ihrer 
Freundinn  und  von  Alexis  und  von  Julanthiskos  Abschied  genommen. 
Schweigend  saß  sie,  hoffnungslos  und  ahndungslos,  die  Zukunft 
stumm  erwartend. 

[Ein  Pilger  von  Eleusis  mit  Gruß  von  Nikrion,  Minoe's  und 
Julanthiskos'  Base,  nebst  einem  Briefe  von  Minoe  fordert  sie  auf, 
mit  Cypariß  nach  Alsotheonien  zu  wandern,  dem  Lieblingsthale 
Alethophonens,  der  Beschützerinn  Arkadiens]. 

Itzt  umfaßten  Alethophonen  Julanthiskos  und  seine  Base 
Nikrion  und  Chrysotrichiens  kleiner  Bruder  Eranthos,  benetzend 
ihr  leichtes  Gewand  mit  Thränen  des  Dankes,  der  Hoffnung  und 
der  Ahndung.  Aber  Julanthiskos,  lieblicher  Jüngling,  thatst  du 
unrecht,  mein  Lied  nicht  zu  vergessen?  Und  warum  ist  Alexis 
nicht  mit  seinem  Freunde  hier?  Ach!  entgegnete  Alethophonen 
der  überglückliche  Hirt:  Spotte  nicht  länger  über  meine  kindische 
Kleinmuth.  Alexis  blieb  daheim  schamhaft  erstaunend  und  über 
Eros  und  Anteros  Frieden  erröthend.  Die  Thessalische  Jungfrau 
küßte  ihn  auf  die  Korallenlippen.    Ein  herrliches  Gewand  faltete 


';  Dieses  ver.i  Herze,;  auch  komponierte  Lied  vun.lo  bei 
»einem  Begräbnisse  gesungen  [Beck  1  lHtid  Seite  445;  Appun  1900:. 


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-    685  - 


sich  um  seine  majaporische  Gestalt,  und  er  lag  doppelt  reizend  in 
seines  Beschützers  Armen,  der  nicht  gewagt  hatte,  seinen  Wankel- 
sinn der  Allmächtigen  zu  gestehen.  Sie  behielt  aber  die  reizende 
Base  und  den  kleinen  Eranthos  bey  sich.  Julanthiskos  Bruder, 
der  rohe  Jäger,  der  ungebildete  Hipparche,  Barys,  kannte  nicht  den 
Weg  nach  Alsotheonien;  drum  blieb  er  in  Korinth,  um  sich  in  den 
Warfen  Ares  und  Cyprias  zu  üben,  und  wie  sonst  zu  schwelgen, 
zu  buhlen  und  spielen. 

Es  kamen  noch  andere  Arkadier  und  Arkadierinnen  gebessert, 
geheilt,  getröstet  und  beglückt;  aber  alle  kamen,  um  zu  danken,  aus 
ihrer  niedern  Alltäglichkeit  zu  Alethophonen  herauf  getragen.  Ja, 
so  erhebt  Gebet  und  Dank  den  niedern  Bewohner  des  Staubes 
zur  fernen  Gottheit.  Aber  die  bescheidene  Zauberinn  bewunderte 
nur  der  Hirten  Dankgefühl,  wie  die  geringste,  aber  die  seltenste 
der  Tugenden.  Gerührt  wandte  sie  sich  zu  den  neunmal  neun 
verschleyerten  Königinnen:  „Anfangs  des  Jahrs  sang  ich,  und  mein 
weissagendes  Lied  erkaufte  mir  alle  diese  Herzen.  Seyd  so  gütig, 
ihr  Verehrten,  und  singet  mir  ein  Lied  am  Ende  des  Jahrs,  daß  ich 
meine  Erdenbannung  und  meine  Unvollkommenheit  vergesse,  ehe 
mich  Eros  und  Anteros,  die  Versöhnten,  abholen."  Die  neunmal 
neun  Königinnen  sangen  —  doch  die  Welten  und  die  Sonnen 
schwammen  in  unnennbarer  Lust,  und  ihre  Unvollkommenheit 
kleidete  sich  in  Himmelsträume  ein,  und  die  Unermeßlichen,  wie 
das  kleine  enge  Arkadien,  wußten  nicht,  was  die  neunmal  neun 
Königinnen  der  Allmacht  sangen.  Nikrion  vergaß  bald  die  Welt 
und  ihre  unbelohnte  Liebe,  und  der  kleine  Eranthos  lernte  nie 
Männer  hinter  den  purpurnen  Vorhängen  der  krystallenen  Propyläen 
kennen. 


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—   686  — 


A  n  t  e  r  o  s. 


In  düstern  Wäldern,  unschuldsvollen  Auen, 
Erfinden  wir  des  Daseyns  hohes  Ziel.  — 
Bald  werden  wir  vereint  die  Himmel  schauen, 
Vergessen  bald  der  Kindheit  thöricht  Spiel. 

Mir  magst  Du,  Eros,  künftig  immer  trauen ; 
Ich  raube  nicht,  was  einmal  Dir  gefiel. 
Du  kannst  getrost  auf  meine  Allmacht  bauen; 
Ich  täusche  nicht,  verspreche  nicht  zu  viel! 

Wozu  des  kurzen  Truges  mürbe  Binde? 
Wozu  des  Wahnes  matte  Mückenschwingen?  — 
Wir  blenden  nicht  und  wir  verwunden  nicht! 

Und  wenn  ich  hier  auch  Männerherzen  finde, 
So  soll  durch  Dich  das  Bessern  mir  gelingen, 
Wenn  mir's  an  Zauber  und  an  List  gebricht. 


Schlußvignette  der  Novelle  „Kyllenton". 


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Nachwort 

Es  wäre  zu  wünschen,  daß  die  Akten  über  den 
Herzog  August  noch  nicht  geschlossen  sein  möchten,  in 
einer  Zeit  besonders,  welche  erst  beginnt,  den  Regungen 
auch  der  Menschenseele  mit  Vorurteilslosigkeit  nachzu- 
forschen. Solcher  Zeit  wird  die  Aufgabe  zufallen,  den 
Widerspruch  zu  lösen,  welcher  in  der  Beurteilung  dieser 
buntschillernden  Menschen-Erscheinung  durch  zwei  ihr 
nahe  gestandene  Männer  zu  liegen  scheint,  von  denen 
der  eine  sagen  konnte:  „Hätt'  er  ein  Herz,  sein  Dichter- 
kopf wäre  der  größte*  l)  und  der  andere  ein  goldenes 
Herz  entdeckte  mit  den  Worten:  .Wem  vergönnt  war, 
das  innere  Heiligthum  zu  beobachten,  der  schätzte  diesen 
Vorzug;  ein  Blick  in  dasselbe  zeigte  eines  der  edelsten 
Gemüther,  das  je  gewesen.*2) 


Literatur  über  Emil  August. 

„Anekdote".  In:  Zeitung  fllr  die  elegante  Welt.  Leipzig,  Georg 
Voll.    1805.    Nummer  177  vom  28.  September.   Spalte  936. 

Anonym,  Ulrich  Jaspar  Seetzen.  In:  Zeitgenossen.  Biographieen 
und  Charakteristiken.  Leipzig  und  Altenburg,  F.  A.  Brockhaus. 
Zweiten  Bandes  dritte  Abtheilung.  1817  (1818).  Seite  83—106 
[Des  Herzogs  August  wird  Seite  86  und  105  gedacht]. 

A[ppun|(G.),  Ein  Erinnerungsblatt  an  Herzog  August  von  Sachsen- 
Gotha  und  Altenburg  1801—1822.  In:  Gothaischea  Tageblatt, 
52.  Jahrg.  1900.   Nr.  253,  27.  Oktober.    Zweites  Blatt. 

von  Bechtolsheim  (Katharina),  Erinnerungen  einer  Urgroßmutter 
(Katharina  Freifrau  von  Bechtolsheim  geb.  Gräfin  Bueil)  1787 
—1825.  Mit  Originalbriefen  von  Goethe,  Wieland,  Herder, 
Kaiserin  Katharina  II.,  Kaiser  Alexander  I.  und  Kaiserin  Maria 
von  Kuliland,  Herzog  Carl  August  von  Weimar,  Ernst  II.  von 
Sachsen-Gotha,  Frau  von  Staei,  Fürst  von  Ligne,  Graf  Segur, 

l)  Jean  Paul  Friedrich  Richter  an  Villiers  1810  bei  Beck  1 
1868  Seite  418. 

Ä)  von  Wlistemann  1823  Seite  12. 


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FUrst-Primas  von  Dalberg  und  von  anderen.  Herausgegeben 
von  Carl  Graf  Oberndorff.  Mit  12  Illustrationen  und  6  Faesimile- 
Beilagen.  Berlin,  F.  Fontane  &  Co.  1902.  XIV  und  471  Seiten 
in  8«. 

Beck  (August),  Geschiebte  des  gothaischen  Landes.  Gotha,  E.  F. 
Thienemann.  1868.  Band  I.  Geschichte  der  Regenten.  VIII 
und  536  Seiten  in  8°.   Seite  128—451. 

 August:  Emil  Leopold,  Herzog  von  Sachsen-Gotha  und  Alten- 
burg. In:  Allgemeine  Deutsche  Biographie.  Erster  Band. 
Leipzig,  Dnncker  &  Humblot.    1875.   Seite  681—683. 

Döring  (Friedrich  Wilhelm),  Ad  memoriam  tristissima  morte  populo 
suo  nuper  erepti  serenissimi  Saxoniue  ducis  Aemilii  Leopoldi 
Augusti  a.  d.  IV.  Iul.  hora  deeima  summa  pietate  in  Gymnasio 
nostro  celebrandam  omni,  qua  decet,  verecundia  invitat  Fridericus 
Guilielmus  Doering  Gvmnasii  Gothani  director.  Gothae  literis 
Reyherianis.   MDCCCXXII.    12  Seiten  in  4°. 

 Frid.  Guil.  Doeringi  Commentationea  Orationes  Carmina  latino 

sermone  conscripta.  Accedunt  Friderici  Jacobsi  Epistola  ad 
Doeringium  senera  felicissimum  et  E.  F.  Wuestemanui  Oratio  in 
Doeringi  memoriam  habita.  Norimbergae.  Sumtibus  Friderici 
Campe.  1839.  XL  und  308  Seiten  in  8°.  Enthält:  1.  Oratio 
in  memoriam  serenissimi  ducis  Aemilii  Leopoldi  Augusti  habita 
4  Jul.  1822.  Seite  147 — 155,  IL  —  2.  Pompam  solemnem  qua 
prineeps  juventutis  Serenissimus  Aemilius  Augustus  Leopoldus 
cum  nova  conjuge  serenissima  Luisa  Charlotta  ducis  serenissimi 
Suerino-Megapolit.  filia  urbem  ingressus  est  celebrat  Gymnasium 
illustre  Gothanum.  Elegia.')  Seite  197—200,  I.  —  3.  Prineipi 
juventutis  serenissimo  Aemilio  Leopoldo  Augusto  cum  nova 
conjuge  serenissima  Carolina  Amalia  serenissimi  terrarum 
Cattiacarum  prineipis  filia  faustissimis  auspieiis  urbem  ingre- 
dienti  pietatem  suam  reverenter  declarat  Gymnasium  illustre 
Gothanum.0)   Seite  201—202,  11. 

Düring  und  K  r  i  e  s ,  Reden  bey  der  zum  Andenken  des  Hochsei.  Her- 
zogs Herrn  Herrn  Aerail  Leopold  August  im  Gymnasium  zu  Gotha 
den  4.  Jul.  1822  angestellten  Todtcnfeyer  gehalten  von  Friedrich 
Wilhelm  Döring,  Director  des  Gymnasiums  und  Friedrich  Kries 
Professor.  Auf  Allerhöchsten  Befehl  dem  Druck  Ubergeben. 
Gotha,  Reyher.    38  Seiten  in  8°. 

')  Kditio  prima  mcn.«c  Novt'inbri  l~J7.  *  pg.  in  4". 
*)  Kdilio  prima  menso  Maj.  18o2.   8  pg.  iu  4°. 

.Talirbucb  V.  44 


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—   690  — 

Eichstädt  (Heinrich  Carl),  Memoria  Augusti  Ducis  Saxonia» 
Principis  Gothanoruin  atque  Altenburgensium.  Scripsit  Henr. 
Carolus  Abr.  Eichstadius.  Editio  altera  auctior  et  emendatior. 
Gothae  in  libraria  Henningsiana.  1828.  VIII  und  74  Seiten 
in  4°. 

 Henr.  Car.  Abr.  Eichstadii  Opuscula  Oratoria.  Orationes 

Memoriae  Elogia  quorum  duo  inedita  Schilleri  et  Ludenii 
memoriae  dicata.  Collectioneni  ab  auctore  inchoatam  post  eius 
mortem  absolvit  indices  adiecit  Herrn.  Jo.  Chr.  Weissenborn. 
Jenae  in  libraria  Maukiana.  MDCCCXLIX.  XXXU  und  804 
Seiten  in  8°.  Enthält:  1.  Parentalia  serenissimo  nuper  principi 
ac  domino  Augusto  duci  Saxoniae  principi  Gothanorum  atque 
Altenburgensium  sacra  in  templo  Paulino  academico  rite  concelr- 
branda  indicuntur.  Seite  14—15.  —  2.  Oratio  de  felicitate 
Acaderaiarum  ex  virtutibus  principum  oriunda  in  parentaübua 
academiciB  Augusto  duci  Saxoniae  die  XXX  Jim.  a.  MDCCCXXIl 
celebratis  in  templo  Paulino  dicta.  Seite  16 — .HO.  —  3.  Memoria 
Augusti  ducis  Saxoniae  principis  Gothanorum  atque  Alten- 
burgensium.   Seite  31 — 95. 

Förster  (Friedrich),  Preußens  Helden  in  Krieg  und  Frieden.  Eine 
Geschichte  Preußens  seit  dem  großen  Kurfürsten  bis  zum  Ende 
der  Freiheitskriege.    In  Biographien  seiner  großen  Männer. 
Berlin,  Gustav  Hempel. 
Dritter  Band,  1847,  Seite  684;  Seite  787. 
Vierter  Band,  18-54,  Seite  834. 

 Kunst  und  Leben.  Aus  Friedrich  Förster's  Nachlaß.  Heraus- 
gegeben von  Hermann  Kletke.  Berlin,  Gebr.  Paetel.  1873. 
VIII  und  240  Seiten  in  8°. 

G.  (D.),  Emil  Leopold  August,  Herzog  zu  Sachsen-Gotha  und 
Altenburg.  In:  Deutscher  Ehren-Tempel.  Bearbeitet  von  einer 
Gesellschaft  Gelehrter  und  herausgegeben  von  W.  Hennings, 
Herzoglich  Sächsischem  Geheimen  Legations-Rath.  Gotha, 
Hennings.  Zwölfter  Band.  1832.  41  Seiten  in  4°  mit  dem 
Kupferstich  „August,  Herzog  zu  Sachsen-Gotha  u.  Altenburg*'. 

Gallttti  (Johann  Georg  August),  Geschichte  Thüringens.  Gotha 
beym  Verfasser  und  Ettinger.  6  Bände  in  8°.  Sechster  und 
letzter  Band.  1785.  XVI  und  392  Seiten  nebst  4  Geschlechts- 
tafeln.   Seite  237;  246;  257  und  336. 

 In  SächsischeProvinzialblätter,  Mai  1 822  (nach  Beck  1868 1 S.  428). 

 Geschichte  und  Beschreibung  des  Herzogthums  Gotha,  Gotha, 

C.  W.  Ettinger.  4  ältero  Theile:  1779-1781.  —  Theil  V  1824. 
116  Seiten  in  8".   S.  25-47. 


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—   691  — 


von  Goethe  (Johann  Wolt'gang),  Tag-  und  Jahres-Hefte  als  Er- 
gänzung meiner  sonstigen  Bekenntnisse  (1749 — 1822).  In  : 
Goethe's  Werke.  Nach  den  vorzüglichsten  Quellen  revidirte 
Ausgabe.  27.  TheiL  1.  Abtheilung.  Berlin,  Gustav  Hempel 
(Ohne  Jahr).  Seite  1—291;  Anmerkungen  von  W.  Frh.  v. 
Biedermann  Seite  359—548.   Register  Seite  638. 

Heid ler  (Carl),  Blüthen  der  Phantasie.   Zeitz  1819. 

Hempel  (Friedrich  Ferdinand),  Herzog  August  von  Sachsen- Alten- 
burg und  Seine  Bauern,  eine  erfreuliche  Geschichte  unsrer 
Tage.  Altenburg,  Verlag  der  Kedaction  der  Osterländischen 
Blätter.    1819.    92  Seiten  in  4°. 

Hennings,  siehe  D.  G. 

von  Hoff  (Karl  Ernst  Adolph),  Aufsätze  in  „Jenaische  allgem. 
Litter.-Zeitung,  Mai  1822,  oder  Gothaische  privilegirte  Zeitung 
1822,  Nr.  100"  (nach  Beck  1868  I  Seite  428  Fußnote  236).  In 
der  vier  Bänden  „Jeuaische  allgemeine  Literatur- Zeitung" 
19.  Jahrgang,  1822,  fand  ich  nichts  über  den  Herzog  August; 
in  dem  Exemplar  „Privilegirte  Gothaiscbe  Zeitung.  Auf  das 
Jahr  1822."  der  Berliner  Königlichen  Bibliothek  fehlt  die  auf 
der  4.  (unpaginierten)  Seite  der  Nr.  100,  26ste  Woche,  Frey  tags 
den  21.  Junius,  angekündigte,  den  Nekrolog  des  Herzogs  August 
Durchl.  betreffende  „Extra-Beylage." 

Jacobs  (Friedrich),  Nekrolog.  Emil  Leopold  August,  Herzog  von 
Sachsen-Gotha  und  Altenburg.  In:  Allgemeine  Literatur- 
Zeitung.  Vom  Jahr  1822.  Halle  und  Leipzig.  Zweyter  Band. 
May  bis  August.  —  Julius  1822,  Nummer  172.   Spalte  497—504. 

 Vermischte  Schriften  von  Friedrich  Jacobs.  —  Erster  Theil, 

Gotha,  Ettinger,  1823.  XXVIII  und  546  Seiten.  —  Sechsler 
Theil,  Leipzig,  Dvk,  1837.  XXXII  und  592  Seiten.  —  Siebenter 
TheiL  Leipzig,  Dyk.  1840.  XXVIII  und  620  Seiten  in  12°.  - 
Inhalt:  Theil  I:  Rede  zum  Andenken  Herzog  Ernst  des  Zweyten 
im  Gymnasium  zu  Gotha  in  Gegenwart  des  regierenden  Herzogs 
August  gehalten  den  9ten  Junius  1804.  Seite  1  —  86,  1  (ttb«  r 
Emil  August  Seite  81—86). 

Theil  VI:  Zerstreute  Blätter:  3.  Allotria.  1828.  Seite451— 463: 
Romantische  Studien  des  Herzogs  August  Emil  Seite  456.  — 
Erklärung  einer  Inschrift  S.  458—463.  —  4.  August  Emil  als 
Schriftsteller.  1823.  S.  464-473:  Das  Kyllenion  Seite  464.  - 
Polyneon  Seite  466.  —  Roman  ohne  Titel  Seite  467.  —  Erailia- 
nische  Briefe  Seite  468—470.  —  Briefe  eines  Kartheusers  Seite 
471—473.  —  Anmerkungen.  Seite  474—492.  —  Sonnette 
durch  das  Kvllenion  veranlaßt  Seite  475—479.  —  Terzinen  auf 

44* 


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—    092  — 


Pin  Gemiihlde  von  Grassi  Seite  480.  —  Sonnette  und  Elegien. 
Seite  485 — 191.  —  Verbesserungen   S.  592. 

Theil  VII:  Personalien  gesammelt  von  Friedrich  Jacobs.  Mit 
dem  in  Stahl  gestochenen  Bildnisse  des  Verfassers.  —  August 
Emil,  Herzog  von  Gotha.  Seite  170—179.  —  50.  Herzog 
August  Emil.  Seite  517—521.  —  51.  August  Emils  Brief  im 
Pius  VII.  Seite  522-520. 
Kletke,  siehe  Förster. 

Klinge  mann  (August).  Ein  Jahr  in  Arkadien.  In:  Zeitung  (Vir 
die  elegante  Welt.  I^eipzig,  Georg  Voß.  1805.  Nummer  115 
vom  24.  September.  Spalte  918. 

Jean  Paul,  siehe  Richter. 

von  Lupin  auf  Illerfeld  (Fr.),  Biographie  jetzt  lebender,  oder 
erst  im  Laufe  des  gegenwärtigen  Jahrhunderts  verstorbener 
Personen,  welche  sich  durch  Thaten  oder  Schriften  denkwürdig 
gemacht  haben.  Stuttgart  &  Tübingen,  J.  G.  Cotta.  Erster 
Band.  1826.  VIII  und  718  Seiten  in  8°.  August  (Emil  Leopold ; 
Seite  70—75. 

Menzel  (Wolfgang),  Deutsche  Dichtung  von  der  ältesten  bis  auf 
die  neueste  Zeit.  In  drei  Bänden.  Stuttgart,  Ad.  Krabbe. 
1858-1859.   8".   3.  Band  1859  Seite  71. 

von  Metzsch-Schilbach  (Wolf),  Briefwechsel  eines  deutschen 
Fürsten  mit  einer  jungen  Künstlerin  (Herzog  August  von  Sachsen- 
Gotha  und  Altenburg  und  Fräulein  aus  dem  Winckel).  Mit  zwei 
Porträts.   Berlin,  Karl  Siegismund.  1893.   908  Seiten  in  8°. 

Mosengeil  (Friedrich),  Briefe  Uber  den  Dichter  Ernst  Wagner: 
enthaltend :  Lebensgeschichtliche  Nachrichten ;  Mittheilungen  aus 
dem  handschriftlichen  Nachlasse  des  Dichters:  Auszüge  aus 
Briefen  von  ihm  selbst;  vom  Herzoge  August  von  S.  Gotha; 
Jean  Paul  Friedrich  Richter;  Fichte  u.  A.  herausgegeben 
von  Friedrich  Mosengeil.  Schmalkalden,  Varnhagen.  1 82G. 
228  und  164  Seiten  in  kl.  8".  [Zweites  Bändchen  Seite  17—70; 
Seite  91). 

Graf  Obern  dorff  (Carl),  siehe  von  Bechtolsheim. 

Perthes  (Clemens  Theodor),  Friedrich  Perthes  Leben.  Nach  dessen 
schriftlichen  und  mündlichen  Mittheilungen  aufgezeichnet.  Gotha, 
Perthes.  3  Bände  1848—1852—1855  in  8V)  —  Ucber  Herzog 
August:  III  Seite  IG— 17. 

M  Acht--  (Jubiläum«.. iAus(?ube.    A  Hänik-.    (iotlia   18%.    8".  —   Band  A  8«?ite 


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—    003  — 


Reichard  (Heinrieh  August  Ottokar),  Gotha.  Aus  dem  Briefe 
eines  Reisenden  im  Junius  dieses  Jahres.  In :  Beilage  zur  All- 
gemeinen Zeitung.  Donnerstag  4.  Jul.  1822.  Nr.  109.  Seite 
133—434  (nach  Keichard:  H.  A.  0.  Reichard  1877,  Seite  503» 
von  ihm  verfaßt,  ebenso  ein  mir  unbekannt  gebliebener  Aufsatz 
über  den  Herzog  August  in  der  „Staatszeitung'4). 

 H.  A.  O.  Reichard    (1751-1828).     Seine  Selbstbiographie 

Uberarbeitet  und  herausgegeben  von  Hermann  Uhde.  Stuttgart, 
J.  G.  Cotta.    1877.   VI  und  554  Seiten  in  8°. 

Richter  (Jean  Paul  Friedrich),  JeanPaul's  Freiheits-Büchlein;  oder 
dessen  verbotene  Zueignung  an  den  regierenden  Herzog  August 
von  Sachsen-Gotha;  dessen  Briefwechsel  mit  ihm;  —  und  die 
Abhandlung  Uber  die  Prelifreiheit.  Tübingen,  J.  G.  Cotta. 
1805.    128  (nicht  138)  Seiten  in  8°. 

Seid ler  (Louise),  Erinnerungen  und  Leben  der  Malerin  Louise 
Seidler  (geboren  zu  Jena  1786,  gestorben  zu  Weimar  1866). 
Aus  handschriftlichem  Nachlaß  zusammengestellt  und  bearbeitet 
von  Hermann  Uhde.  Berlin,.  W.  Hertz.  1874.  X  und  480  Seiten 
in  8°.  —  Zweite,  umgearbeitete  Auflage.  1875.  X  und 
396  Seiten. 

von  Sternberg  (Alexander),  Jena  und  Leipzig.  Novelle  in  zwei 
Theilen.  Berlin,  Leseeabinet.  1814.  282  und  274  Seiten.  — 
lieber  den  Herzog  ohne  Namennennung  U  Seite  3 — 5  und  8 — 11. 

v.  S  t  g.  (A.  v.  Sternberg),  Aus  der  guten  alten  Zeit.  Nr.  2.  Fürst- 
liche Sonderlinge.  In :  Die  Gartenlaube.  Leipzig,  Ernst  Keil. 
1857,  Nr.  7.  Seite  93—95.  Mit  einem  Textbilde  ».Herzog 
August  von  Gotha  als  Griechin"  Seite  93. 

„Todesfälle44.  In:  Allgemeine  Literatur-Zeitung.  Vom  Jahre 
1822.  Halle  und  Leipzig.  Zweyter  Band.  May  bis  August. 
Nummer  165.   Julius  1823.    Spalte  147. 

Uhde  (Hermann),  siehe  Reichard  und  Seidler. 

von  Weber  (Max  Maria),  Carl  Maria  von  Weber.  Ein  Lebensbild. 
Leipzig,  Ernst  Keil.   3  Bände.    1864—1866  in  8°. 

von  Wüstem  an  n  (Ernst  Friedrich),  Gothaischer  genealogischer 
Kalender  auf  das  Jahr  1823.  Sechzigster  Jahrgang.  Gotha, 
Justus  Perthes.  —  Ueber  Herzog  August' Seite  7—22;  Seite  34. 


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7.Mademoiselle  Maupin  ( 1 673—  1 707) 


„ —  je  suis  d'un  troisiöino  scxe  u  part  ijui 
n'a  pas  encore  de  nom:  au  dessus  ou  au 
dessous,  plus  dttfectueux  ou  superieur"  .  .  . 
Thäophile  Gautier: 
„Mademoiselle  de  Maupin"  (1835). 

„  M  ademoiselle  Maupin"  war  die  Tochter  des 
Herrn  d'  Aubigny,  eines  Sekretärs  des  Grafen 
d'Arraagnac.  Geboren  im  Jahre  1673  wurde  sie  in 
sehr  früher  Jugend  und  wohl  gegen  ihre  Neigung  mit 
eiuem  Herrn  Maupin  aus  Saint-Germain-en  Laye  ver- 
heiratet, lebte  aber  nicht  mit  ihrem  Manne  zusammen, 
sondern  erlangte  für  ihn  eine  Anstellung  in  den  Filialen 
der  Provinz.  Sie  besaß  eine  natürliche  leidenschaftliche 
männliche  Vorliebe  für  den  Gebrauch  der  Waffen  und 
als  sie  während  der  Abwesenheit  ihres  Gatten  die  Be- 
kanntschaft des  Fechtmeisters  S {»ranne  machte,  ent- 
sprach es  ihrem  natürlichen  Triebe,  sich  an  diesen,  der 
an  ihren  weiblichen  Reizen  Gefallen  fand,  eng 
anzuschließen  und  bei  ihm  Unterricht  in  der 
Fechtkunst  zu  nehmen ;  dabei  zeigte  sie  eine  solche 
Geschicklichkeit  und  machte  so  schnelle  Fortschritte, 
daß  sie  bald  ihren  Lehrmeister  überholte  und  imstande 
war,  es  mit  dem  geschicktesten  Fechter  aufzunehmen. 
Ihrem  Lehrer  und  Liebhaber  folgte  sie  nach  Marseille. 
Hier  zwang  die  Not  des  Lebens  das  Paar,  noch  von 


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—   695  — 


anderen  ihrer  natürlichen  Anlagen  als  dem  Fechttalent 
Gebrauch  zu  machen,  und  da  beide  eine  gute  Stimme 
besaßen,  so  wurde  es  ihnen  nicht  allzuschwer,  an  der 
Marseiller  Oper  Beschäftigung  zu  finden.  Als  Sängerin 
wollte  Frau  Maupin  nicht  Madame  Maupin  sein,  sondern 
nannte  sich  Mademoiselle  Maupin  und  sie  wurde  wegen 
ihrer  hervorragend  schönen  Stimme,  einem  Konteralt, 
der  ausgesprochene  Liebling  des  Publikums.  Indes 
nicht  lange  sollte  diese  Oper  des  Besitzes  der  Maupin 
sich  erfreuen  und  die  Schuld  daran  trug  ein  Liebes- 
abenteuer. 

Der  Maupin,  die  es  liebte,  Männerkleidung  zu  tragen, 
hatte  sich  als  einer  neuen  Sappho  eine  so  zärtliche  Zu- 
neigung zu  einer  jugendlichen  Marseillerin  (aus  guter 
Familie)  bemächtigt,  daß  die  Eltern  des  jungen  Mädchens 
es  für  nötig  hielten,  ihr  Kind  vor  den  gefährlichen  Ein- 
flüssen der  Sängerin  zu  schützen  und  in  einem  Kloster 
von  Avignon  zu  verbergen.  Allein  die  Leidenschaft 
macht  verwegen.  Der  Maupin  gelang  es,  den  Zufluchts- 
ort ihrer  Angebeteten  zu  ermitteln  und  schnell  ent- 
schlossen meldete  sie  sich  im  Kloster  zu  Avignon  als 
Novizin  an  und  ward  unter  ihrem  Mädchennamen  als 
Demoiselle  d'Aubigny  aufgenommen.  Ungeachtet  sie  hier 
völlig  ungestört  ihrer  Liebe  leben  konnte,  scheint  der 
dauernde  Aufenthalt  im  Kloster  ihr  doch  wenig  behagt 
zu  haben;  denn  als  gelegentlich  eine  Nonne  gestorben 
und  eben  begraben  war,  verfiel  die  Maupin  auf  einen 
höchst  abenteuerlichen  Gedanken,  den  sie  auch  zur  Aus- 
führung brachte.  Sie  grub  in  der  Stille  den  Leichnam 
der  Nonne  aus,  schleppte  ihn  in  das  Bett  ihrer  Geliebten, 
steckte  Bett  und  Zimmer  in  Brand  und  benutzte  den 
durch  die  Feuersbrunst  (welche  das  Kloster  in  Asche 
legte)  entstandenen  Wirrwarr,  mit  ihrem  Herzblatt  un- 
bemerkt zu  entfliehen.  Als  dann  später  nicht  nur  die 
Flucht  entdeckt,  sondern   auch   die  näheren  Umstände 


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—    696  — 


derselben  durchschaut  wurden,  machte  man  der  Demoi- 
selle  d'Aubigny  den  Prozeß;  es  ward  zunächst  versucht, 
das  jugendliche  Opfer  ihren  Händen  zu  entreißen  (ein 
Versuch,  welcher  zwei  Gerichtsdienern  das  Leben 
kostete);  nachdem  aber  alle  Schritte  als  vergeblich  sich 
erwiesen  hatten,  wurde  sie  zum  Scheiterhaufen  verurteilt, 
ohne  daß  sie  vor  Gericht  erschienen  wäre  [par  contumace]; 
doch  dieser  Gerichtsspruch  ward  wieder  aufgehoben,  als 
eines  Tages  die  junge  Marseillerin  bei  ihren  beglückten 
Eltern  wieder  auftauchte. 

Inzwischen  hatte  unsere  Heldin  in  der  Provinz  ein 
unstätes  Leben  voller  Abenteuer  geführt;  sie  war  aus 
der  Männertracht^  die  sie  vorzüglich  kleidete,  nicht  her- 
ausgekommen. Auf  ihren  Irrfahrten  gelangte  sie  endlich 
auch  nach  Paris.  Hier  debütierte  sie  unter  dem  Namen 
ihres  Mannes  als  Mademoiselle  Maupin  im  Dezember 
1690  in  der  Oper  des  Palais  Royal.  In  Lully's  Oper 
„ Cadmus  et  Hermioue*  sang  und  spielte  sie  die  Rolle 
der  „Pallas".  Mit  ihrem  seltenen  Konteralt  bei  hervor- 
ragender schauspielerischer  Begabuug  erntete  sie  bei 
ihrem  ersten  Auftreten  allgemeinen  Beifall;  um  ihre  Er- 
kenntlichkeit den  Beifall  klatschenden  Zuschauern  kund 
zu  tun,  erhob  sie  sich  in  ihrem  Wagen  und  begrüßte 
das  Publikum,  indem  sie  ihren  Helm  vom  Kopfe  nahm: 
neues  Beifallklatschen!  Wirklich  war  sie  sehr  hübsch, 
besaß  prachtvolles  Haar  und  eine  Adlernase,  und  voll- 
kommen schön  waren  auch  ihr  Mund,  ihre  Zähne  und 
ihr  Buseu.  Ob  sie  gleich  nicht  eine  Note  kannte, 
wußte  sie  durch  ein  erstaunliches  Gedächtnis  sich  zu 
helfen.  So  konnte  sie  ein  und  ein  halbes  Jahrzehnt  hin- 
durch —  freilich  nicht  ohne  freiwillige  Unterbrechung 
ihrerseits  —  auf  der  Pariser  Oper  in  den  ersten  Rollen 
verwendet  werden. 

Wenn  die  Maupin  in  Paris  Lust  verspürte,  für  ihr 
angetane  Beleidigungen  sich   zu  rächen,  oder  wenn  sie 


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verliebten  Abenteuern  nachgehen  wollte,  so  vertauschte 
sie  ihr  Frauenkleid  mit  Mannestracht. 

So  war  sie  von  einem  männlichen  Kollegen  an  der 
Oper,  dem  Sänger  Dura^ni  *),  beleidigt  worden  und 
wartete  seiner  eines  Abends  auf  der  Place  des  Victoires; 
in  ihrer  Männerkleidung  unerkannt  geblieben,  wollte  sie 
dem  Ankömmling  den  Degen  in  die  Hand  zwingen,  um 
sich  mit  ihm  zu  schlagen ;  da  er  aber  sich  weigerte,  so 
gab  sie  ihm  eine  Tracht  Prügel  und  entriß  ihm  Tabaks- 
dose und  Uhr.  Am  nächsten  Morgen  gab  Dum£ni  bei 
der  Probe  sein  Abenteuer,  das  viel  Aufsehen  erregt  hatte, 
zum  besteu;  allein  er  erzählte  es  nicht  dem  wahren  Vor- 
gange gemäß,  sondern  mit  andern  Umständen,  indem  er 
sich  rühmte,  am  Abend  vorher  von  drei  Straßenräubern 
überfallen  worden  zu  sein  und  sich  tapfer  zur  Wehre 
gesetzt  zu  haben;  die  Uebermacht  aber  habe  ihn  über- 
wältigt und  ihm  Uhr  und  Tabaksdose  entrissen.  Nach- 
dem Dumdni  die  Erzählung  seiner  Großtaten  beendigt, 
trat  die  Maupin,  welche  unter  seinen  Zuhörern  sich  be- 
funden hatte,  vor  und  rief  ihm  zu:  „Da  hast  du  mal 
schön  gelogen!  Du  bist  nichts  weiter  als  ein  feiger 
Maulheld,  denn  ich,  ich  ganz  allein,  habe  dich  verhauen; 
hier  hast  du  Uhr  und  Tabaksdose  wieder;  sie  sollen  als 
Beweis  für  meine  Behauptung  dienen."  Ein  anderer 
Kollege  der  Maupin,  der  Sänger  Gabriel  Thdveuard  *), 
der  sie  ebenfalls  beleidigt  hatte,  fürchtete  nach  dem  Bekannt- 
werden dieses  Streiches  der  Sängerin,  daß  ihm  Aehnliches 
bevorstehe ;  er  fand  es  für  gut,  drei  Wochen  hindurch  dem 
Palais  Royal  fern  zu  bleiben,  und  um  sich  ganz  aus  der 

•)  Dumcni,  oder  Dumeanil,  starb  1715;  seine  Glanzrollen 
waren:  Atys,  Mödor,  Phaeton,  Renaud,  Araadis. 

2)  Thevenard  starb  1741,  72  Jahre  alt,  ein  schöner  Baryton- 
Tenor;  er  Hang  zehn  Jahre  hindurch  mit  der  Rochois,  im  ganzen 
vierzig  Jahre  (bis  1730),  und  trank  so  gut  wie  er  sang  („il  buvoit 
aussi  bien  qu'il  chantoit."  Anecdotes  dramat.  III  1775  S.  472). 


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—   698  - 


Klemme  zu  ziehen,  wählte  er  schließlich  den  Ausweg, 
die  Maupin  um  Verzeihung  zu  bitten. 

Unter  den  Besuchern  des  Wintergartens  befand  sich 
auch  ein  gewisser  Baron  de  Servan,  ein  Geck  und  Prahl- 
hans von  grenzenloser  Eitelkeit.  Dieser  Mann  besaß  einen 
wahrhaft  herkulischen  Körperbau  und  eine  schallende 
Stimme,  zeigte  ein  anmaßendes  Benehmen  und  prahlte 
gern  mit  den  vielen  Duellen,  die  er  hervorgerufen 
haben  wollte.  Eines  Abends  ging  er  wieder  sein  Ver- 
zeichnis all  der  Schönen  durch,  welche  der  Leidenschaft 
für  ihn  zum  Opfer  gefallen  sein  sollten,  und  redete  bei 
diesem  Anlaß  abfällig  von  einer  jungen  Balletttänzerin , 
einem  Fräulein  Pdrignon,  deren  untadelhafte  Aufführung 
jeglicher  Verleumdung  trotzte.  Ein  allgemeines  Gemurmel 
der  Mißbilligung  einer  so  unedlen  Leistung,  welches  durch 
den  Garten  lief,  hinderte  den  Baron  nicht  an  der  Fort- 
setzung seines  albernen  Geschwätzes.  Da  erhob  sich  die 
Maupin,  welche  in  einer  Ecke  des  Saales  auf  einem 
Polster  geruht,  schweigend  gelauscht  und  den 
Baron  hatte  ausreden  lassen,  trat  plötzlich  hervor  und 
wandte  sich  stolz  dem  Schwätzer  zu;  in  ihrem  männlichen 
Lieblingsge wände  sah  sie  aus  wie  ein  stattlicher  junger 
Kavalier.  „Wahrhaftig*,  rief  sie,  „ich  wundere  mich  über 
die  Geduld  der  Anwesenden !  Ihre  dreisten  und  dummen 
Fälschungen  fordern  nicht  allein  Zurückweisung,  sondern 
sofortige  und  ganz  exemplarische  Züchtigung.  Sie  sind  ein 
ehrloser  Lügner,  und  ich  bin  es,  der  Ihnen  dieses  ins 
Gesicht  sagt."  „Aber  bitte,  wer  sind  Sie,  mein  Herr?" 
fragte  vor  Wut  bebend  der  Baron.  „Der  Chevalier  de 
Raincy  —  ein  weit  besserer  Edelmann  als  Sie  und  bereit, 
Ihnen  eine  nützliche  Lehre  zu  erteilen,"  antwortete  die 
Maupiu  mit  verächtlicher  Gebärde.  Ihre  Lehre  aber  war 
von  durchschlagender  Wirkung.  Der  Baron  erhielt  einen 
Pistolenschuß  in  den  Arm,  welcher  eine  Amputation 
unumgänglich   nötig    machte.     Und  als  er  erfuhr,  daß 


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—   699  — 


die  Hand  eines  Weibes  ihn  so  zugerichtet,  verfiel  der 
Herkules  in  eine  unbeschreibliche,  unbändige  Wut; — er 
verließ  Paris  und  zog  sich  auf  seine  Güter  zurück. ') 

Der  eigenartige  Liebestrieb  dieses  Weibes  zu  Personen 
des  eigenen  Geschlechts  war  so  stark,  daß  die  Maupin 
von  dieser  Seite  häufig  Unannehmlichkeiten  sich  aussetzte,  • 
zumal  sie  es  an  aller  Vorsicht  fehlen  ließ.  So  belästigte 
sie  durch  die  zärtlichsten  Zudringlichkeiten  die  jugend- 
liche Opernsängerin  Mademoiselle  Moreau,  wurde  von 
dieser  aber  abgefertigt.  Auf  einem  von  dem  einzigen 
Bruder  des  Königs  Ludwig  des  Großen  in  dem  Palais 
Royal  gegebenen  Ballfest  hatte  sie,  nach  ihrer  Gewohn- 
heit als  Mann  gekleidet,  sich  dazu  hinreißen  lassen,  einer 
Dame  Anträge  zu  stellen,  welche  seitens  des  männlichen 
Begleiters  der  Dame  als  die  größte  Beleidigung  aufgefaßt 
wurden.  Drei  von  den  Freunden  dieser  beleidigten  Dame, 
über  die  Handlungsweise  der  Maupin  entrüstet,  beschlossen, 
sie  auf  der  Stelle  dafür  abzustrafen,  und  lockten  sie  auf 
den  Hof;  mutig  trat  sie  heraus,  griff  zum  Degen,  schlug 
alle  drei  Gegner  zu  Boden  und  kehrte,  als  sei  nichts 
geschehen,  in  den  Ballsaal  zurück.  Bei  dem  hohen  Ball- 
geber, dem  dieser  Vorfall  zu  Ohren  kam,  brachte  die 
Maupin  es  fertig,  daß  er  Gnade  walten  ließ. 

Mitten  in  ihrem  glänzendsten  Erfolge  als  Opern- 
sängern! kam  die  Maupiu  auf  den  Einfall,  Paris  zu  ver- 
lassen und  nach  Brüssel  überzusiedeln.  Hier  wurde  sie 
die  Maitresse  des  Kurfürsten  von  Baiern,  der,  nachdem 
er  ihrer  überdrüssig  geworden,  sie  im  Stiche  ließ,  um 
seine  Gunst  der  Gräfin  d'Arcos  zuzuwenden.  Behufs  Ab- 
findung sandte  er  der  Maupin  eine  Börse  mit  40  tausend 

l)  Ellen  Clayton  I  1863  Seite  56-57.  Für  diese  Geschichte 
mit  dem  Baron  de  Servan,  deren  Quelle  die  Clayton  nicht  angibt, 
habe  ich  eine  französische  Urquelle  nicht  aufgefunden  und  schliefe 
daraus,  daü  mir  doch  noch  eine  auf  die  Maupin  bezügliche  UrqueUo 
niuU  entgangen  sein. 


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—    700  — 


Franken  und  den  Auftrag,  Brüssel  sofort  zu  ver- 
lassen. Als  Ueberbringer  dieses  Auftrages  und  der  Geld- 
summe war  kein  andrer  als  der  Graf  d'  Arcos  selbst 
bestimmt  worden.  Die  Maupin  empfing  den  Abgesandten, 
wie  man  einen  Diener  empfangt;  sie  nahm  die  Börse  und 
warf  sie  ihm  an  den  Kopf  mit  den  Worten,  das  sei  der 
Lohn  für  einen  Geschäftsmann  wie  er.  So  verließ  sie 
Brüssel  mit  einer  vom  Kurfürsten  von  Baiern  ihr  zuge- 
standenen Pension  von  jährlich  2  tausend  Franken. 

Die  Erzählungen  von  dem  wunderbaren  Spanien, 
welche  ihr  zu  Ohren  gekommen  waren,  erregten  ihre 
Einbildungskraft  und  sie  redete  sich  ein,  daß  in  diesem 
angenehmen  und  glücklichen  Lande  ein  Erfolg  ihrer 
Kunst  ihr  sicher  sei.  Allein  schon  bald  sah  sie  sich 
grausam  enttäuscht  und  ging  in  ihren  Vermögensverhält- 
nissen schnell  so  zurück,  daß  sie  gezwungen  wurde,  eine 
Stelle  als  Kammerzofe  bei  der  Grätin  Marino,  der  Gattin 
des  Ministers,  anzunehmen.  Diese  Dame  war  äußerst 
verdreht  und  eigensinnig;  die  arme  Soubrette  hielt  dennoch 
lange  ohne  Murren  bei  ihr  aus,  da  sie,  bei  allen  ihren 
Fehlern,  eine  sehr  gute  Natur  besaß  und  eines  sorglosen 
Temperaments  sich  erfreute;  zuletzt  aber  war  dennoch 
auch  ihre  Geduld  erschöpft  und  sie  entschloß  sich,  das 
ihr  lästige  Amt  aufzugeben,  jedoch  nicht,  ohne  vor  ihrem 
Weggang  für  alles,  was  sie  hier  erduldet  hatte,  sich  zu 
rächen.  Als  sie  eines  Tages  die  Gräfin  für  einen  Hofball 
zu  putzen  hatte,  brachte  die  mutwillige  Exsängerin  beim 
Ordnen  der  Coiffure  ihrer  Dame  eine  Anzahl  kleiner 
roter  Radischen,  von  ihren  ßlättchen  umrahmt  und  mit 
großen  schwarzen  Nadeln  befestigt,  im  Nackenhaare  ihrer 
Gebieterin  an;  Stirn  und  Schläfen  bedeckte  sie  zur  Her- 
vorbringung einer  bezaubernden  Wirkung  mit  Federn  der 
Unterschwanzdecken  des  Marabut  (einer  äthiopischen 
Storchart,  Leptoptilus  crumenifer  Lesson).  Die  so  ge- 
schmückte Grätin  warf  eineu  wohlgefälligen  Blick  in  den 


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.—    701  — 


Spiegel  und  begab  sich  in  gehobener  Stimmung  auf  den 
Ball,  woselbst  der  eutscheidende  Eindruck,  den  sie  dort 
hervorrief,  sie  in  eine  Aufregung  wonniger  Eitelkeit  ver- 
setzte, bis  ein  vorsichtiger  Freund  ihr  die  Wahrheit  ge- 
stand. Schleunigst  verließ  sie  rot  vor  Schani  und  vor 
Wut  fast  erstickend  in  ungestümer  Hast  den  Ballsaal. 
In  fliegendem  Zorn  erreichte  sie  ihre  Wohnung,  um  ihn 
an  der  verräterischen  Kammerzofe  auszulassen;  aber  es 
war  zu  spät  —  diese  hatte  klugerweise  ihre  Rück- 
reise nach  Paris  bereits  angetreten.1) 

In  Paris  trat  sie  wiederum  bei  der  Oper  ein,  ohne 
jedoch  ihre  großen  Erfolge  der  früheren  Zeit  wieder 
erriugen  zu  können.  Sie  schloß  sich  nun  dem  Grafen 
d'Albert  an,  einem  ehrlichen  Liebhaber,  der  sie  schon 
einmal  umworben  hatte,  anscheinend  der  einzige  Mann, 
dem  die  Maupin  eine  gewisse  Anhänglichkeit  bewahrte. 
Auf  einmal  aber  gab  ihre  Laune  ihr  ein,  sich  von  allen 
ihren  Liebhabern  loszusagen,  mit  den  außer  ihrer  Gage 
allein  ihr  verbleibenden  Mitteln  des  Kurfürsten  von  Baiern 
ein  regelmäßiges  Leben  zu  führen,  ihren  bis  dahin  ver- 
nachlässigten Ehemann  nach  Paris  kommen  zu  lassen  und 
mit  diesem  in  vollständigster  Einigkeit  bis  zu  seinein  im 
Jahr  1701  erfolgenden  Tode  zu  leben. 

Endlich  um  die  Mitte  des  Jahres  1705  —  die  Maupin 
war  jetzt  32  Jahre  alt —  entstand  bei  ihr  der  Plan,  auch 
dem  Theater  zu  entsagen.  Da  sie  nichts  Folgenschweres 
zu  unternehmen  pflegte,  ohne  ihres  redlichsten  Liebhabers, 
des  Grafen  d'Albert,  Rat  einzuholen,  für  den  sie  so  viel 
Achtung  wie  aufrichtige  Freundschaft  empfand,  so  schrieb 
sie  diesem,  teilte  ihm  ihren  Entschluß,  sich  von  der  Welt 
zurückzuziehen,  mit  und  bat  ihn  um  seine  Ansicht  darüber; 
sie  erwarte,  daß  er  diesen  ihren  Entschluß  billige,  um 

')  Elim  Cluyton  1  Seite  59—00.  Auch  von  diesem  Passus,  dem 
Aufenthalt  der  Maupin  in  Spanien,  gilt  das  in  der  Fußnote  Seite 
G99  dieser  Arbeit  Gesagte. 


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—   702   — . 


ihu  mit  desto  größerem  Vertrauen  unternehmen  zu  können. 
Das  Schreiben  der  Maupin  war  der  Anlaß  zu  einer  Ant- 
wort des  Grafen,  welche  von  dem  starken  und  nachhaltigen 
Eindruck  Zeugnis  gibt,  den  die  Maupin  auf  den  Grafen 
gemacht;  der  erhaltene  Teil  dieser  Antwort  lautet: 

„ Bedenken  Sie  auch,  an  wen  Sie  sich  wenden?  Ist 
es  meine  Religion,  die  Sie  auf  die  Probe  stellen  wollen, 
mein  Herz,  meine  Gefälligkeit?  Und  rechnen  Sie  etwa 
darauf,  indem  Sie  mich  um  Rat  befragen,  daß  ich  Herr 
genug  meiner  eigenen  Empfindungen  sei,  um  Sie  in  den 
Ihrigen  bestärken  zu  können?  Haben  Sie  die  Vorstellung 
von  dem  gänzlich  verloren,  was  ich  Ihnen  gegenüber  bin  ? 
Man  will  mich  zwingen,  mein  eigenes  Unglück  gut  zu 
heißen  —  heißt  das  nicht,  mich  zu  all'  meinem  Unglück 
noch  beschimpfen?  Und  verdienten  nicht  Sie,  für  Ihre 
Ungerechtigkeit  dadurch  gestraft  zu  werden,  daß  ich 
gegen  Sie  Partei  für  die  Welt  nähme  ?  Dessen  bin  ich 
gewiß,  daß  bei  Ihnen  kein  Zweifel  besteht  über  den  An- 
teil, den  ich  an  allem  nehme,  was  Ihr  Glück  bewirken 
kann;  allein  übersehen  Sie  dabei  nicht,  daß  Sie  das,  was 
Sie  erstreben,  nur  auf  Kosten  meiner  Wünsche  erreichen 
können  und  nicht  ohne  daß  es  mir  meine  Ruhe  raubt? 
Müssen  Sie  nicht  furchten,  indem  Sie  mich  nötigen,  für 
das,  was  Sie  treiben,  mich  zu  interessieren,  daß  ich  mir 
alle  Mühe  gebe,  Ihnen  den  geplanten  Schritt  zu  wider- 
raten? Und  können  Sie  sich  verständigerweise  einem 
Manne  anvertrauen,  dem  es  unmöglich  ist,  ohne  Verrat 
an  seinen  eigenen  Interessen,  ehrlich  und  aufrichtig  zu 
raten?  Das  alles  wissen  Sie;  in  dem  Augenblick,  in 
welchem  Sie  der  Welt  entsagen,  gehen  unsere  Wege  aus- 
einander. Welch  einen  Koloß  von  Güte  machen  Sie  aus 
mir,  damit  ich  der  guten  Meinung,  welche  Sie  von  mir 
hegen,  entsprechen  könne!  Und  wie  schwer  kommt  es 
mir  zu  stehen,  daß  ich  Sie  von  meiner  Aufrichtigkeit 
überzeugt  habe!    Es  fehlt  nur  noch,  daß  ich  mich  von 


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—   703  — 


mir  selbst  loslöse,  um  mich  ganz  Ihnen  anzupassen;  daß 
ich  alle  Gefühle  von  Empfindlichkeit  und  Zärtlichkeit 
ersticke;  daß  ich  endlich  Ihnen  gegenüber  eine  Sprache 
führe,  welche  den  wahren  Regungen  meines  Herzens 
schnurstracks  zuwider  läuft,  und  daß  ich  mich  opfere,  um 
Ihnen  zu  gefallen.  Niemals  wirkt  die  Vernunft  so  mächtig 
auf  die  Natur.  So  setzen  Sie  denn  auf  dieses  Opfer  den 
vollen  Lohn,  den  es  wert  ist;  es  ist  das  größte,  welches 
ich  gebracht  habe  und  je  in  meinem  Leben  bringen 
kann/  Im  Verlaufe  des  Schreibens  entwickelte  der  Graf 
d' Albert  der  Maupin  alle  Gründe,  welche  sie  veranlassen 
könnten,  der  Welt  weiter  anzugehören,  ohne  ihr  zu  ver- 
schweigen, daß  noch  triftigere  Gründe  ihr  die  Weltent- 
sagung nahelegten,  und  konnte  so  nicht  umhin,  die  Mau- 
pin in  ihrem  Beschlüsse  zu  bestärken.  Und  die  Maupin 
führte  ihren  Entschluß  auch  aus;  sie  zog  sich  in  ein 
Kloster  zurück,  in  welchem  sie  (im  Gerüche  besonderer 

Heiligkeit)  schon  im  Jahre  1707  verstarb. 

*  * 

Karl  Heinrich  Ulrichs  hat  die  Absicht  gehabt, 
in  seiner  geplanten  Zeitschrift  „Uranus"  unter  den  „histo- 
rischen Urninginnen  *  zuerst  der  „Fechtmeisterin  Maupin* 
ein  Biogramm  zu  widmen1);  diese  Absicht  hat  er  leider 
nicht  ausgeführt;  es  ist  hier  der  Versuch  gemacht  worden, 
das  Versäumte  nachzuholen. 

Aus  den  im  Literatur-Anhänge  aufgeführten,  die 
Maupin  betreffenden  wenigen  Schriften  sind  hier  die 
französischen  Quellen  zu  Grunde  gelegt;  das  der 
englischen  Quelle  Entnommene  ist  besonders  ange- 
geben. Zusätze  der  deutschen  Darstellung,  deren 
Quellennachweis  ich  nicht  führen  kann,  sind  durch  eine 
runde  Klammer  (      )  kenntlich  gemacht. 

■)  K.  H.  Ulrichs:  „Prometheus",  Leipzig,  Serbe,  1870,  Seite  SO» 
unter  9). 


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—   704  — 


Es  wäre  im  höchsten  Grade  verwunderlich,  wenn  der 
reiche  Romanstoff  dieses  kurzen  Menschenlebens  nicht 
einen  Nachdichter  gefunden  hätte.  Er  ist  ihm  auch  ge- 
worden: in  der  Person  des  französischen  Schriftstellers 
T lyophile  Gautier(1811 — 1872),  welcher  in  seinem 
kecken  Roman  „Mademoiselle  de  Maupin*1)  die  Natur 
unserer  Heldin  in  durchaus  selbständiger  Erfindung  durch 
Umgestaltung  in  eine  Art  Zwitterwesen  mit  Beibehaltung 
ihres  Namens  verwendet  hat.  Er  läßt  sie  in  der  Gesell- 
schaft unter  dem  Namen  Madelaine  de  Maupin  als  Weib 
und  unter  dem  Namen  Theodore  de  S<?rannes  als  Mann 
auftreten  und  legt  ihr  selbst  ein  unzweideutiges  Bekennt- 
nis ihrer  Zwitternatur  in  den  Mund:  ,In  Wirklichkeit, 
weder  das  eine  noch  das  andere  der  beiden  Geschlechter 
Mann  und  Weib  ist  mein  Geschlecht,  ich  besitze  weder 
die  schmähliche  Unterwürfigkeit,  noch  die  Aengstlichkeit, 
noch  die  Kleingeistigkeit  des  Weibes;  ich  habe  auch  nicht 
die  Fehler  der  Männer,  ihre  widerliche  Schlemmerei  und 
ihre  rohen  Triebe:  —  ich  gehöre  einem  dritten  Sonder- 
Geschlecht  an,  das  einen  Namen  noch  nicht  erhielt :  höher 
oder  tiefer  stehend,  mangelhafter  oder  vollkommener*); 

l)  Theophile  Gautior,  Modenioiselle  de  Maupin,  Paris, 
E.  Renduel,  183b.  8°.  —  Nouvelle  edition,  Paris,  G.  Charpentier  Co., 
1885,  1  vol.,  421  Seiten. 

A.  B.,  La  preface  de  Mademoiselle  de  Maupin  dans  l'edition 
originale  et  dans  les  editions  actuelles.  in:  La  Curiosite  litteraire 
et  bibliographique,  premiere  serie,  Paris,  1.  Liseux,  1880.  Seite  159 
bis  104. 

Ein  Porträt  der  Maupin  habe  ich  leider  nicht  aufgetrieben. 
Der  Homan  Gautier's  aber  scheint  auf  die  Phantasie  darstellender 
Künstler  mehrfach  befruchtend  eingewirkt  zu  haben;  so  bringt 
Aubrey  Beardsley  in  seinem  „The  later  work.  With  upwards 
of  170  designs,  including  11  in  photogravure  and  3  in  colour.4' 
London  1901  in  4°,  als  Frontspice  ein  Phantasiebild  der  „Mademoi- 
selle de  Maupin'4  in  Männertracht. 

a)  Dieses  ist  die  Uebersetzung  des  Motto  Seite  094  dieser 
Arbeit. 


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—    705  — 


mir  ward  der  Leib  und  die  Seele  eines  Weibes,  der  Geist 
und  die  Kraft  eines  Mannes  und  ich  habe  zu  viel  oder 
nicht  genug  vom  einen  und  vom  andern,  um  mit  einem 
von  beiden  mich  paaren  zu  können."1) 


Literatur  über  die  Maupin. 

a.  Die  französischen  Quellen: 

Anco  dolos  Dramatiques.   Tome  troisieme.   Paris,  Duohesne. 

1775.    Article  „Maupin".   Seite  328—334. 
Biographie  universelle  ancienne et  moderne.   Nouveile  Edition. 

Paris,  C.  Deplaces.   Tome  XI.    1852.   Article  „Dumeni  ou 

Dumcsnil"  par  Z.   Seite  515.  —  Tome  XXV II.    1860.  Article 

„Maupin"  par  A.  B-t.   Seite  881—332. 
Biographie  universelle    des   MusicienB   et  Bibliographie 

generale  de  la  Musique.   Deuxieme  edition.   Par  F.  J.  Fetis. 

Paris  (8  Bände  und  2  Suppleinentbände).   Tome  VI.  1870. 

Seite  36—37. 

Bibliotheque  historique  illustre.  L'ancienne  France.  Le 
Theatre:  Mysteres  —  Tragüdie  —  Comedie  et  la  musique: 
instrumenta  —  Ballet  —  Opera  jusqu'en  1789.  Ouvrage  illustre 
de  22*  gravures  et  d'une  Chromolithographie.  Paris,  Firmin- 
Didot  &  Cie.  18*7.  Auch:  Le  Theatre  et  la  Musique.  304 
Seiten  in  8°. 

Dictionnaire  des  Operas  par  Felix  Clement  et  Pierre  La- 
rousse.  Paris,  Administration  du  gnind  Dictionnaire  uuivereal. 
Ohne  Jahr.   Article:   „Cadmus  et  Hermiono".   Seite  128. 

b.  Die  englische  Literatur: 
Clav  ton  (Ellen  Creathone):  Queens  of  Song:  boiog  memoire  of 
some  of  the  most  celebrated  teruale  Vocalists  who  havo  appe- 
ared  on  the  lyric  »tage,  from  the  earliest  days  of  Opera  to  the 
present  time.  To  which  is  added  a  chronological  list  of  all 
the  operas  that  have  been  perforraed  in  Europe.  By  Ellen 
Creathone  ('layton.  In  two  Volumes.  London,  Smith,  Eider 
&  Co.  18M  in  8°.  With  six  portraits.  Vol.  I.  With  2 
portraits.  XVI  und  382  pg.  —  Vol.  iL  With  4  portraits. 
452  pg.  —  Urber  die  Maupin  handelt  Band  I  Seite  52—61. 

')  Theophile  Oautier,  Mademoisellc  de  Maupin,  nouveile 
edition,  Paris,  1885,  Seito  398. 


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—   706  - 

c.  Die  deutsche  Literatur: 

Schilling  (Gustav):  Encyclopädie  der  gesammten  musikalischen 
Wissenschaften  oder  Universal-Lexikon  der  Tonkunst  Neue 
Ausgabe.  Stuttgart,  Franz  Heinrich  Köhler.  IV.  Band.  1840. 
Seite  606—607. 

Allgemeines  Theater-Lexikon  oder  Encyklopädie  alles 
Wissenswerthen  für  Bühnenkünstler,  Dilettanten  und  Theater- 
freunde. Herausgegeben  von  R.  Blum,  K.  Herloßsohn,  H. 
Marggraff.  Altenburg  und  Leipzig,  Expedition  des  Theater- 
Lexikons  (H.  A.  Pierer,  C.  Heymann).  Band  V.  1841.  Ar- 
tikel „Maupin":   Seite  258-259. 

Paul  (Oscar):  Handlexikon  der  Tonkunst.  2  Bände.  Leipzig, 
Heinrich  Schmidt.  1873.  Zweiter  Band.  Artikel  „Maupin": 
Seite  86. 


Berichtigung  einiger  Druckfehler: 

Seite  508  Zeile   4  von  oben  ist  zu  lesen:  zu  dieser  Schrift  —  statt: 

diese  Schrift 

„    545    „     13    „       „     „    „      „     Flav.  Philost. 

„    548   „     10   „      „     „    „      „     durchaus — statt :  duchaus 


557    „       1    „      „     „    „   ergänzen:  5. 


„    616   „     18   „      „     „    „   lesen:  1801  —  statt:  1802 


628  ist  in  Fußnote  B)  vor  Appun  zu  ergänzen:  Rcichard  1877 
Seite  502; 

649  muß  es  in  Zeile  5  der  Fnßnote  ')  heißen:  Jacobs  VI  1837 
(1828)  Seite  456— 4fi8;  (1823)  Seito  464—492. 

657  Zeile  1  der  Fußnote  e)  ist  zu  lesen:  griechische  —  statt: 
griebische 

701  Zeile  1  der  Fußnote  ')  ist  zu  lesen:  Mademoiselle  —  statt: 
Modomoiselle 


Druck  von  G.  Reichardt,  Groitzsch. 


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