Jahrbuch für sexuelle
Zwischenstufen mit besonderer ...
Magnus Hirschfeld, Wissenschaftlich-Humanitäres
Komitee (Berlin, Germany)
Boston
Medical Library
8 The Fenway.
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Jahrbuch
für
sexuelle Zwischenstufen
mit besonderer Berücksichtigung: der
Homosexualität.
Herausgegeben
unter Mitwirkung namhafter Autoren
im Namen des
wissenschaftlich-humanitären Komitees
von
Dr. med. Magnus Hirschfeld,
piakt. Arzt in Charlottenburg.
V. Jahrgang I. Band.
Leipzig.
Verlag von Max Spohr.
1903.
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Inhalts-Verzeichnis.
Ursachen und Wesen des Uranismus. Von Dr. Magnus
Hirsch fei d- Charlottenburg (auch separat unter dem
Titel: „Der urnische Mensch" erschienen) ... 1
I. Das urnische Kind # 0 47
II. Das Harmonische der urnischen Persönlichkeit 67
HI. Die Unausrottbarkeit der Homosexualität 104
IV. Die Naturnotwendigkeit der Homosexualität . 125
V. Heredität und Homosexualität . .138
Anhang. Lebensgeschichte des urnischen Arbeiters S. 159
Einige psychologisch dunkle Fälle von geschlechtlichen Ver-
irrungen in der Irrenanstalt. Von Medizinalrat Dr. P.
Näcke-Hubertusburg 194
Chirurgische Überraschungen auf dem Gebiete des Schein-
zwittertums. Von Dr. med. Franz Neugebauer-
Warschau 205
Brief Wolfgang von Goethes über die mannmännliche Liebe
in Rom 425
Felicitas von Vestvali. Von Rosa v. Braunschweig . 427
Quellenmaterial zur Beurteilung angeblicher und wirklicher
Uranier. Von Professor Dr. F. Kar sc h -Berlin . . 445
4. Heinrich Hößli (1784—1864) .... 449
5. Franz Desgouttes (1785—1817) . . .557
6. Herzog August der Glückliche (1772—1822) . 615
7. Mademoiselle Maupin (1673—1707) . .694
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Richard Freiherr von Krafft-Ebing
geb. 14. August 1840 in Mannheim, gest. 22. Dezember 1902 in Graz.
c.H
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Ursachen und Wesen
des
Uranismus.
Von
Dr. Magnus Hirschfeld.
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Nietzsche: Fröhliche Wissenschaft. Aph. 7:
Alle Arten Passionen müssen einzeln durchgedacht
werden, einzeln durch Zeiten und Völker, groiie und
kleine Einzelne verfolgt werden; ihre ganze Vernunft
soll ans Licht hinaus!
Thoraas Carlyle:
Jedes Gute, das irgend möglich, wird einst wirklich
sein; »o tief und traurig wir es empfinden, dall wir noch
in finsterer Nacht stehen, so fest und unerschütterlich
ist unser Vertrauen, daß der Morgen nicht ausbleiben
wird. Schon sehen wir, vorausblickend, im Aufgang
Streifen der Dämmerung. Wenn die Zeit erfüllt ist,
wird der Tag anbrechen.
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„Beobachten, meine Herreu, beobachten!" mit diesen
Worten begann und schloß raein verehrter Lehrer, Frei-
herr von Recklinghausen, von der Universität Straßburg,
fast jede seiner Unterrichtsstunden. Kr zeigte sich mit
diesen Worten, deren Inhalt dem geistvollen Mann ganz
in Fleisch und Blut übergegangen war, als echter Schüler
Virchows und jener Richtung, welche in den ersten Jahr-
zehnten des letzten Jahrhunderts ihr Hauptaugenmerk
daraufrichtete, mit den naturphilosophischen Spekulationen
früherer Zeiten aufzuräumen, anstelle theoretischer Erwä-
gungen exakte Ermittelungen zu setzen. Nicht vergilbte
Pergamente, nicht der tote Buchstabe, die lebendige Natur
selbst sollte die einzige Quelle der Naturerkenntnis sein.
Es galt als Erfordernis der Wissenschaftlichkeit, mit oder
ohne Zuhilfenahme von Instrumenten, selbständig Einzel-
beobachtungen zu sammeln, aus ihnen Schlüsse zu ziehen,
die um so zwingender waren, je größer das zugrunde gelegte
Material war. Auch der Uranismus ist eine Erscheinung,
die sich nicht bei der Studierlarape, sondern nur am Objekt
ergründen läßt. In den letzten Jahren haben viele Männer
über ihn geschrieben, die Literaturkenntnis und Sach-
kenntnis, Geschichtsforschung und Naturforschung für
gleichbedeutend hielten. Was würden wir wohl von einem
1*
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— 4 —
Autor halten, der über die Ursachen der Tuberkulose
schriebe, ohne je einen Schwindsüchtigen untersucht zu
haben, der vom Wesen des Weibes spräche, ohne eins
zu kennen? Kürzlich wandte sich ein Gelehrter, der
mancherlei über die Homosexualität veröffentlicht hatte,
mit der Bitte an mich, ihm doch Homosexuelle vorzu-
stellen, da er bisher nicht Gelegenheit gehabt habe, solche
persönlich kennen zu lernen. Ein anderer Autor, Dr. Iwan
Bloch, ein um die Geschichte der Medizin sehr verdienter
Forscher,1) berichte^ wo er von der nach seiner Meinung
sehr großen Seltenheit der Homosexualität spricht, von
Effertz,*) daß dieser, — wir zitieren wörtlich — „aus
dessen Buche eine große Erfahrung spricht, noch
niemals einen echten Homosexuellen gesehen haben will."
Wenn aber irgendwo, so führt auf dem Gebiete des Ura-
nismus nur das Kennen zum Erkennen, nur die objektive
Beobachtung, Untersuchung und Vergleichuug zum rich-
tigen Verständnis.
Man hat der exakten Methode nicht ganz mit Unrecht
vorgehalten, daß sie zu ausschließlich mit den Sinnes-
organen arbeite, Dinge, die diesen nicht direkt zugänglich
seien, hintansetze, in der Erforschung des Menschen über
dem Zellenleben das Seelenleben vernachlässigt habe.
Demgegenüber ist zu betonen, daß auch der Einblick in
Geist und Seele des Menschen nur durch zahlreiche
exakte Einzelbeobachtungen gewonnen werden kann! Nur
wer eine große Menge — sagen wir, mindestens hundert —
Homosexuelle eingehend und sorgsam persönlich erforscht
hat und zwar solche aller Altersstufen und Gesellschafts-
schichten, solche, deren Eindruck nicht durch akzidentielle
Krankheiten und Konflikte verwischt ist, wird mit voller
*) Dr. med. Iwan Bloch: Beiträge zur Ätiologie der Psyeho-
pathia sexualis. I. Teil. Dresden, Verlag von Dohm, 1902. Seite 218.
*) 0. Effertz: Über Neurasthenia sexualis. Ne\v-Yorkl894. S.192.
■
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— 5 —
Klarheit inne werden, daß das Wesen des Uraniers nicht
mit der Richtung seines Geschlechtstriebes erschöpft ist.
Wie man beim Mann den männlichen, am Weibe den
weiblichen Charakter als Hauptsache empfindet, so steht
auch beim Urning die urnische Art, sein Gesamtcharakter
im Vordergrund, diese eigentümliche Mischung männ-
licher und weiblicher Eigenschaften, welche zwar für die
Fortpflanzung nicht geeignet, aber darum noch nicht
unfruchtbar ist. Wer raeint, homosexuell sein heiße ledig-
lich, sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlen, oder
gar, homosexuell sei jemand, der sexuelle Handlungen
mit Personen desselben Geschlechts vornimmt, müßte
folgerichtig definieren : Ein Mann ist jemand, der ein Weib
liebt und umgekehrt, als ob nicht zur männlichen und
weiblichen Beschallen hei t eine Unmenge anderer geistiger
und körperlicher Kriterien gehörten.1)
Es würde uns in diesen Jahrbüchern sehr wenig
interessieren, ob und wie ein Urning sich betätigt, wenn
nicht von den Gegnern immer auf den Akt das Haupt-
gewicht gelegt werden würde und — wenn nicht Menschen-
gesetze vorhanden wären, die Naturgesetze wegdiktieren
zu können glauben. Die Wachenfeld*) und Bloch
*) Es würde sich daher auch empfehlen, das schon sehr weit
verbreitete Wort Homosexualität möglichst oft durch das umfassen-
dere Uranismus zu ersetzen. Homosexualität, gebildet aus dem
griechischen fyiof, gleich, und dem lateinischen sexus, Geschlecht, ist
nicht nur in der Form eine Monstrosität, sondern auch im Inhalt,
denn in Wirklichkeit liebt der Urning nicht das gleiche, sondern
ein anderes Geschlecht. Ein nicht unbekannter Schriftsteller bemerkte
in der Beantwortung unseres Fragebogens: „Am Weibe stiitlt
mich das Gleichgeschlechtliche ab." Das neuerdings in
Süddeutachland mehrfach gebrauchte Wort „Freundling" ist schon
deshalb ungeeignet, weil es nicht die Ableitung anderer Worte
gestattet, was bei Urning (urnisch, Uranismus, Urningtum, Urninde
etc.) in reichlichem Matte der Fall ist.
9) Prof. Dr. Wachenfeld: Homosexualität und Strafgesetz.
Leipzig 1901.
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— 6
denken, wenn sie von Homosexuellen reden, immer nur
an bloße sinnliche Handlungen, an die „Mechauik
der Liebe", sie übersehen, daß es eine reine Liebe gibt,
es ist ihnen entgangen, daß Homosexuelle vorkommen —
wir kennen nicht wenige derart, die sich auch als homo-
sexuell bekannten — die keusch leben. Das hängt nicht
mit der Richtung, sondern mit der Stärke des Triebes und
des Willens zusammen. Wie es frigide Frauen, asexuelle
Männer gibt, so auch leidenschaftslose Urninge, die sich
naturgemäß am ehesten beherrschen können. Die Art
der geschlechtlichen Betätigung Erwachsener sollte dritten
Personen wirklich gleichgültig sein. Etwas anderes ist
es mit der Kenntnis des Uranismus überhaupt. Diese
scheint uus für jeden, der im Menschen nach Goethe
„das höchste Studium* sieht, ganz unerläßlich zu sein.
Noch ist der Beweis nicht erbracht, welche Rolle der
Uranier in der Entwickelungsgeschichte der Menschheit
gespielt hat, aber er wird erbracht werden. Dieser Zweck
der Jahrbücher steht uns viel höher, als die Abschaltung
des § 175, die Wachenfeld1) ihnen als einzige Tendenz
unterschiebt; denn diese hat doch nur dann einen Zweck,
— Vorgänge in straffreien Ländern haben es zur Evidenz
erwiesen — wenn die öffentliche Meinung das Wresen der
homosexuellen Individualität erfaßt hat, die — wir be-
tonen das ausdrücklich und wiederholt — gewiß nicht
besser ist, wie der männliche und weibliche Komplex,
aber auch nicht geringwertiger.
Wie das Wesen, so kann man auch die Ursachen
der konträren Sexualempfindung nur auf dem Boden
eines großen Tatsachenmaterials stehend aus direkt Ge-
seheuem ableiten. Wie will man beispielsweise ein Urteil
darüber fällen, ob dieser Trieb eine Degenerations-
') Wachenfeld: Zur Frage der .Strafwürdigkeit des homo-
sexuellen Verkehrs, in Goltdaramers Archiv f. Strafrecht. 11)02. .8. 38.
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— 7 —
erscheinung ist, wenn man nicht zum mindesten einige
Dutzend damit Behafteter eingehend auf körperliche und
geistige Degenerationszeichen untersucht hat. Es ist recht
bedauerlich, daß ein so fleißiger wissenschaftlicher Arbeiter,
wie Iwan Bloch, diesen allein rationellen Weg der Objekt-
forschung nicht eingeschlagen hat. Es wären ihm dann
viele sachliche Irrtümer nicht unterlaufen. Um an dieser
Stelle nur einen zu erwähnen, so hebt Bloch mehrfach
die große Seltenheit der Homosexualität unter den Juden
rühmend hervor. Er sagt (S. 60), wo er von dem prä-
ventiven Einfluß der Ehe auf die Entstehung geschlecht-
licher Anomalien spricht, wörtlich: „Ein treffendes Bei-
spiel hierfür liefern die Juden, in deren mustergültigem
Familienleben und tief innerlicher Auffassung der Ehe
seit ihrer Zerstreuung in alle Länder die Hauptursache
zu suchen ist, daß sexuelle Perversionen, insbesondere
Homosexualität, bei ihnen kaum vorkommen/
Hätte Bloch die Homosexualität an den Quellen studiert,
so wären ihm in Berliner Urningskneipen jüdische Volks-
typen, wie die , Rebekka" und die „Rahel", ebensowenig
entgangen, wie die zahlreichen israelitischen Urninge im
Gelehrtenstand oder in der Damenkonfektion, vielleicht
auch nicht jener alte jüdische Antiquitätenhändler, der
die Urninge der hohen Aristokratie mit abgekürzten Vor-
namen anzureden sich gestatten darf. Ich selbst sah
unter ca. 1500 Homosexuellen, die ich im Laufe der
letzten 7 Jahre sorgfältig beobachtete, 43 Juden und
11 Jüdinnen, also 54 auf 1500 oder 3,6 %; am 1. De-
zember 1900 zählte Deutschland 590000 Juden unter
56 345 014 Einwohnern, mithin 1,0%. Aus diesen Zahlen geht
mit Sicherheit hervor, daß jedenfalls der Anteil der Juden
kein geringerer ist, als der der übrigen Bevölkerung.
Die jüdischen Urninge sind in christlichen Ländern nur
in dem Sinne selten, wie die protestantischen, von denen
man Gleiches behauptet hat, in katholischen Gegenden.
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— 8 —
Im Gegensatz zu den Juden soll nach Bloch ') und
Wachenfeld2) die Homosexualität unter den Romanen
besonders stark verbreitet sein. Letzterer schreibt: „Auch
ohne statistische Belege ist es sicher, daß in den romani-
schen Ländern, die keinen Urningsparagraphen kennen,
namentlich in Italien, die Homosexualität in einer Weise
verbreitet ist, wie man sie in Deutschland nicht ahnt".
Wir haben, um die Verbreitung des Uranismus unter
den verschiedenen Völkern, Rassen und Ständen ver-
gleichsweise zu ermitteln, eine völlig unparteiisch ge-
haltene Anfrage bei einer beträchtlichen Anzahl uns als
urnisch bekannter „ Globetrotters" veranstaltet. Es gibt
unter den Urningen viele, die ihr ganzes Leben von
Lande zu Lande ziehen. Unter 40 einwandsfreien Aut-
worten sprechen sich 18 dahin aus, daß sie die Homo-
sexualität überall in gleicher Ausdehnung gefunden hätten,
sämtliche andere betonen, daß sie bei den germanischen
und angelsächsischen Völkern verhältnismäßig mehr Homo-
sexuelle vorfanden, wie bei den Romanen. Ein abwechselnd
in Italien und Deutschland lebender Arzt schreibt: „Die
rein germanische Rasse weist mehr wirklich Homosexuelle
auf, als die lateinische." Ein vielgereister Kaufmann be-
richtet: „Ich habe die Erfahrung gemacht, daß gleich-
geschlechtliche Liebe in Frankreich, Spanien, Italien und
der Türkei weniger vorkommt, als in Deutschland,
Schweden und Dänemark.- Ein Schriftsteller bemerkt:
„In Italien, einem Lande, das ich durch fünfjährigen
Aufenthalt kennen lernte, sah ich die Gleichgeschlechtlich-
keit viel weniger hervortreten, als in Deutschland." Ein
anderer Schriftsteller antwortet: „Homosexualität kommt
im Norden mehr vor, wie im Süden ; besonders ist sie in
England sehr häufig. In Italien geben sich zwar junge
l) Blochs Beiträge etc. S. 10 ff.
*) Wachenfeld in Goltdammers Archiv S. ö7 ff.
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— 9 —
Leute für Geld zu allem her, es gibt aber weniger
eigentliche Urninge dort.* Ein Mitglied der hohen
Aristokratie endlich, das ganz Europa kennt, antwortet
in etwas ironischer Form: „Wenn die Homosexualität
für einen Staat den Niedergang politischer Machtstellung
bedeutet, so werden England und Deutschland und in
Deutschland Preußen ganz sicherlich zuerst untergehen.*
Sieben Experten heben hervor, daß in Paris trotz der
Straffreiheit der homosexuelle Verkehr viel weniger häutig
sei, wie in Berlin. Drei weisen auf die große Häufigkeit
der Homosexualität in den russischen Ostseeprovinzen hin,
die auch wir auf grund ausländischer Korrespondenz-
eingänge bestätigen können. In einer Antwort heißt es:
„Ungewöhnlich groß scheint die Zahl der Urninge unter
den Kurländern deutschen Stammes zu sein.* Ein Herr
kennt in Riga persönlich einige hundert Uranier. Ein
Dolmetscher endlich, welcher mehrere Erdteile durchzogen
hat, teilt mit: „Autfallend viel fand ich in dem niederen
Volke Oberbayerns, das doch wirklich ein kräftiges und
gesundes ist" Wir sehen also auch hier mit Sicherheit, zu
welchen Trugschlüssen theoretische Erwägungen über Ein-
fluß des warmen Klimas, Rassenentartung etc. führen
können oder auch vereinzelte Beobachtungen, die ein Autor
ohne Nachprüfung dem andern entnimmt.1)
Immerhin müssen wir den genannten Autoren
dankbar sein, daß sie sich bemühten, wenn auch mit
unzureichenden Hilfsmitteln, der Sache auf den Grund
zu kommen. Schließlich und endlich ist doch jede
Wissenschaft nichts anderes, als Erforschung der Kau-
salitätsgesetze. Für den Uranismus hat aber die Er-
J) Bloch stützt sich beispielsweise wiederholt auf A. Ferguson,
dessen Werk 1768 in Leipzig erschien, auf Doppet, welcher
seine Studien veröffentlichte, von zahlreichen noch älteren Autoren
ganz zu schweigen.
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— 10 —
kenntnis der Ursachen nicht nur einen theoretischen,
sondern auch einen eminent praktischen Wert in
kritischer, forensischer und therapeutischer Hinsicht.
Kritisch insofern, als die gelehrten und ungelehrten Stände
den Homosexuellen ganz anders beurteilen werden, wenn
sie seinen Zustand als einen ihm von Geburt an mit-
gegebenen ansehen, als wenn sie glauben, er sei durch
Onanie (Bloch S. 135 ff.) oder Vielweiberei (Bl. S. 170.)
entstanden. Gelingt es uns, dem Volke unzweifelhaft zu
beweisen, daß niemand homosexuell werden kann, der es
nicht ist, daß äußere Umstände weder einen Homosexuellen
normal noch einen Normalsexuellen konträr machen können,
daß die Urninge ihrer ihnen eingeborenen Natur nach
nicht widernatürlich handeln, so wird sich, wie es bereits
vielfach geschehen, Haß und Hohn in Milde, Mitleid und
Achtung verwandeln.
Auch für den Strafrichter wird es ein wesentlicher
Unterschied sein — wir stimmen hier Wachenfeld ■) völlig
bei — ob die Neigung des Homosexuellen „als ein ihm
in die Wiege gelegtes Mißgeschick oder als Folge seines
Lebens wandels* zu gelten hat. Hans Groß2) behauptet
zwar: „Für uns Kriminalisten ist die Frage, ob ange-
boren oder erworben, gleichgiltig, weil die Frage der
Strafbarkeit hiervon nicht abhängig sein kann", und auch
Moll8) vertritt in einer seiner letzten Veröffentlichungen
denselben Standpunkt, indem er meint, daß man dann
auch mit demselben Recht behaupten könne, Leute mit
angeborenem Blödsinn müßten straffrei, Leute, die an
erworbenem Blödsinn leiden, bei gleichen kriminellen
*) Goltdaimners Archiv, 49. Jahrgang. 1. und 2. Heft. S. 40.
s) Im Archiv für Kriminalanthropologie, 10. Band. 1. und 2.
Heft. 8. 195. Bei Besprechung von Blochs Beiträgen zur Ätiologie.
3) Albert Moll: Sexuelle Zwischenstufen, in der Zukunft,
10. Jahrgang 1902. Nr. 50. S. 427.
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— 11 —
Handlungen strafbar sein. Dem ist aber entgegenzu-
halten, daß wohl schwerlich eiu Gesetzgeber auf den
Gedanken gekommen wäre, die „widernatürliche Unzucht"
unter Strafe zu stellen, wenn er nicht in Verkennung der
Motive geraeint hätte, die zu Bestrafenden hätten den
ihnen natürlichen Gebrauch des Weibes verlassen (Römer-
brief I. 24 ff.). Derselbe Umstand, welcher zum Erlaß
des Paragraphen geführt hat, ist auch die Ursache seines
Bestandes: mangelnde Kausalitätserkenntnis. Unwissen-
heit hat aber von jeher mehr Verheerungen angerichtet,
wie Böswilligkeit.
Für den Strafzweck ist die richtige Beurteilung des
Urnings gleichfalls von Belang. Handelt es sich um ein
angeborenes, unheilbares Leiden, so wird nur die Un-
schädlichmachung in Frage kommen. Dann würde es
folgerichtig sein, den unverbesserlichen Schädling entweder
zum Tode zu verurteilen oder ihn lebenslänglich in einer
geschlossenen Anstalt unterzubringen. Hierzu wird sich
der Staat allerdings im Hinblick auf die Qualität und
Quantität der Uranier schwerlich entschließen. Liegt
aber nur als Grund „Wüstlingtum* (Bloch S. 171), „ge-
wohnheitsmäßiger Alkoholgenuß* (Bl. S. 55) oder Einfluß
der „modernen Frauenbewegung4 (Bl. S. 248) vor, so
wird man auch den Zweck der Abschreckung und Besserung
nicht außer Acht lassen dürfen.
Ähnliche Gesichtspunkte kommen auch bei der Be-
handlung der Homosexualität in Betracht. Sehr richtig
hat dies schon Schrenck-Notzing ') erkannt. Er sagt :
„Für die Beurteilung der konträren Scxualempfindung,
namentlich in Bezug auf Prognose und Therapie, ist ihre
Ätiologie von ausschlaggebender Bedeutung" und an
l) Dr. A. Freiherr v. Schreuck-Notzing: Die Suggestions-
therapie bei krankhatten Erscheinungen des Gesehlechtssinnes etc.
Stuttgart, 1892. S. 127 und 8. 119.
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- 12
anderer Stelle: „Je mehr sich die Zahl der Fälle häuft,
in denen bleibende therapeutische Resultate erzielt worden
sind, um so geringer erscheint nach unserer Meinung der
Anteil, den die erbliche Disposition in der Entstehung
dieser Anomalie beanspruchen kann/ Gewiß sind die
Aussichten, einen Trieb durch äußere Einflüsse zu ver-
lieren, wesentlich größer, wenn derselbe durch äußere
Anlässe, wie fehlerhafte Erziehung (Schrenck-Notzing
S. 167 ff.), hervorgerufen ist. Wir werden freilich später
— wenn wir von der Festigkeit der uniischen Indi-
vidualität reden — klarzulegen haben, daß die hypnotische
Heilbarkeit noch keineswegs das Erworbensein eines Zu-
standes beweist.
Solange das Problem der Homosexualität wissen-
schaftlich erörtert wird, streitet man darüber, ob ihre
Grundursachen vor oder nach der Geburt liegen. Auf
der einen Seite befinden sich die Forscher, welche über
ein sehr großes Beobachtungsmaterial verfügen, vor allen
Krafft-Ebing, Moll und ich selbst. Diese legen auf die
eingeborene Anlage das Hauptgewicht und messen occa-
sionellen Momenten demgegenüber nur untergeordneten
Wert bei. Wie Gelegenheitsursachen aller Art den nor-
malen Trieb auslösen, erwecken auch äußere Einwirkungen
oft den schlummernden, aber doch deutlich vorhandenen
homosexuellen Trieb. Diese Anlässe sind jedoch sekuudärer
Natur, das Primäre bleibt die besondere Beschaffenheit
des Individuums, seines Gehirns, seines Geistes und
Körpers. Ein hervorragender, selbst urnischer Psychiater,
ein Muster gewissenhaften Arbeitens, stimmt uns in
folgenden Worten bei: „Ich kann und muß erklären, daß
ich niemals einen Fall von Homosexualität kennen gelernt
habe, dem ich nicht das Prädikat „angeboren" hätte bei-
legen müssen. In allen von mir untersuchten Fällen —
sobald die Betreffenden sich nur natürlich gaben und
ihren äußerlich zur Schau getragenen „Normal menschen 41
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— 13 —
bei Seite ließen — war die Homosexualität etwas so sehr
dem ganzen Wesen des Einzelnen Entsprechendes, dem
Individuum Adaequates, daß mir jede andere Auffassung
als die einer angeborenen sozusagen psychisch konstitu-
tionellen Anlage geradezu unmöglich erschien."
Auf der andern Seite stehen eine nicht unbeträcht-
liche Anzahl von Gelehrten (Tarnowsky, Schrenck-
Notzing, A. Hoche, A. Cramer, K. Kautzner, Sänger,
Meinert, Wollenberg, Rosenbach, Siemerling u. A.), welche
den entgegengesetzten Standpunkt vertreten. Sie glauben
mit Bloch1): „Ein völlig heterosexueller Mensch kann
in ein typisch homosexuelles Individuum umgewandelt
werden." Der Verfasser dieser These bespricht eingehend
über 60 verschiedene Ursachen, welche Homosexualität
erzeugen. Es ist wohl kein Zufall, daß vielleicht mit
Ausnahme von Schrenck-Notzing alle Autoren der Erwerbs-
theorie zusammengenommen nicht soviel beobachtete Fälle
aufzuweisen haben, wie ein jeder der drei obengenannten
Ärzte. Auf einem Gebiete, das dem subjektiven Empfinden
der meisten so fern liegt, ist es aber sicherlich von Be-
deutung, ob sich ein objektives Urteil auf 1500, 150, 50
oder 5 Fälle stützt. Bloch hat viel Zustimmung gefunden;
so sagt Prof. Dr. Eulenburg in der Vorrede, welche er
dem Blochschen Werke widmet: „Die Lehre von dem
„Angeborensein* der sexuellen Perversionen, zumal der
Homosexualität, muß also fallen gelassen oder doch er-
heblich eingeschränkt werden. Wir Arzte sind freilich
die Letzten, um ihr eine Träne nachzuweinen ; denn wenn
wir es mit erworbenen und zwar zumeist auf grund
äußerer occasioneller Veranlassung erworbenen oder durch
die Verhältnisse künstlich gezüchteten Übeln zu tun
haben, werden wir uns weit mehr als bisher in der Lage
') Dr. J. Bloch: Zweiter Teil der Heiträge zur Ätiologie der
Psychopathia sexualia. Dresden 1<J03. Vorwort S. XVIII.
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- 14 —
fühlen dürfen, ihnen kurativ und vor allem präventiv,
prophylaktisch wirksam entgegenzutreten." Ein Jurist aber,
Dr. jur. L. Kuhlenbeck, bespricht in der von ihm heraus-
gegebenen „Juristischen Wochenschrift" ') Blochs Buch
äußerst anerkennend und fügt hinzu: „Die Hauptsache
ist, keine unzeitige Nachsichtigkeit zuzulassen gegenüber
Bestrebungen, die das Leben an seinem Ursprung ver-
giften und die bereits unter Namen wie Homosexualismus
oder sexuelle Zwischenstufen literarisch mit einer Scham-
losigkeit das Haupt zu erheben wagen, die selbst dem
entarteten Altertum fremd gewesen zu sein scheint, ob-
wohl schon der Apostel Paulus ihre Widernatürlichkeit
als eine der schlimmsten Früchte der verfallenden heid-
nischen Zivilisation kennzeichnen mußte." So Kuhleubeck
im Jahre 1902.
Es stehen sich also zwei Ansichten mit großer Ent-
schiedenheit gegenüber. Bloch sagt (Bd. I. S. 11): „Die
„angeborenen" Fälle von Homosexualität existieren wohl
überhaupt nicht" Wir sagen: „Nur aus dem geborenen
Urning, aus dem urnischen Kinde kann sich der homo-
sexuelle Mann und das homosexuelle Weib entwickeln."
Bloch behauptet: (Bd. I. S. 215.): „In der großen Mehr-
zahl der Fälle entspringt die gleichgeschlechtliche Liebe
äußeren occasionellen Momenten, eine originäre Anlage
zu derselben ist sehr unwahrscheinlich, jedenfalls sehr
selten." Wrir behaupten: „Es kann sich wederein männ-
liches oder weibliches Wesen in ein gleichgeschlechtlich
empfindendes verwandeln, noch ist das Umgekehrte
möglich." Bloch meint, die Gründe der Homosexualität
liegen fast stets außerhalb, wir meinen, sie liegen aus-
nahmslos innerhalb der menschlichen Organisation, sie
wächst aus dem Innern des Menschen heraus.
>) Nr. 55 und 56. Berlin, 15. August 1902. Verlag W. Moeser.
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- 15 —
Es sollte selbstverständlich sein, muß aber nament-
lich Wachenfelds *) Einteilungsversuchen gegenüber noch
eigens betont werden, daß homosexuell nur jemand ist,
der homosexuell empfindet, ob er sich dabei homo-
sexuell betätigt oder nicht, ist vom naturwissenschaft-
lichen, wenn auch nicht vom juristischen Standpunkt
nebensächlich. Ein Normalsexueller, der sich homo-
sexuell betätigt, ist normalsexuell, ebenso wie ein Homo-
sexueller, dem es gelingt, mit dem anderen Geschlecht
zu verkehren, trotzdem gleichgeschlechtlich ist8) Bei
beiden handelt es sich nicht um Liebe und Geschlechts-
trieb, sondern um mehr oder weniger der Onanie ver-
wandte Manipulationen. Die Zahl und Bedeutung der
Normalsexuellen, die nach homosexueller Art verkehren,
wird vielfach sehr überschätzt. Sie gingen uns in diesen
Jahrbüchern, die den sexuellen Zwischenstufen gewidmet
sind, überhaupt nichts au, wenn sie nicht von den An-
hängern des § 176 mit Vorliebe ins Feld geführt werden
Hürden. Aus welchen Gründen tun diese etwas ihrer
Natur Widersprechendes? Wir können hier drei Gruppen
unterscheiden :
a) solche, die aus Eigennutz gleichgeschlechtlich
verkehren : Prostituierte, Chanteure ;
b) solche, die es aus Gefälligkeit, Gutmütigkeit,
Dankbarkeit, Mitleid, Freundschaft etc. tun;
c) solche, die aus Mangel andersgeschlechtlicher
Personen dazu greifen, wie in Internaten, Schulen,
Klöstern, Gefängnissen, Kasernen, Schiffen etc.
') Vgl. Jahrbach, IV. Band. Numa Prätorius, Widerlegung
Wachenfelds.
9) Die in manchen urnischen Kreisen übliche Einteilung trifft
besser den Kern der Sache, wie Wachenfelds Unterscheidung
„Homosexueller" und „Kontrasexneller." Diese teilen die ihnen be-
kannten Personen vielfach ein in na. s." (auch so), „m. m.u, (macht
mit) und „t. u." (total unvernünftig.)
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— 16 —
Alle diese haben das gemeinsam, daß der homo-
sexuelle Verkehr für sie nur eine vorübergehende Episode
darstellt, daß sie völlig normalempfindend bleiben und,
sobald ihnen Gelegenheit geboten ist, ehelich oder auch
außerehelich mit dem Weibe verkehren. Betrachten wir
die Mitglieder dieser drei Abteilungen noch etwas näher.
Die Gründe, welche junge Männer veranlassen, sich
gewerbsmäßig den Homosexuellen für Geld hinzugeben,
sind dieselben, die bei weiblichen Prostituierten in Be-
tracht kommen, wie überhaupt beide Arten gewerblicher
Unzucht in ihren Erscheinungen sehr viel Gemeinsames
aufweisen. Auch für den Mann liegen die Ursachen, sich
zu prostituieren, teils in seiner inneren Veranlagung, einer
ererbten oder anerzogenen großen Willensschwäche, Hang
zum Müßiggang und Wohlleben, teils in den äußeren
Verhältnissen. Aus letzterem Grunde rekrutieren sich
die männlichen Prostituierten in der großen Anzahl aus
ärmeren Kreisen. So unglaublich es klingt, es gibt Eltern,
die nicht davor zurückschrecken, ihre Söhne — nament-
lich wenn sie durch ein schöneres Aussehen dazu geeignet
erseheinen — ebenso wie ihre Töchter anzuhalten, sich
diesem traurigen Beruf in die Arme zu werfen. Von
einem der bekanntesten Berliner Prostituierten wird zu-
verlässig berichtet und von ihm bestätigt, daß seine
eigenen Eltern ihn bereits in seinem 14. Jahre in diese
Laufbahn brachten. In den weitaus meisten Fällen sind
jedoch die treibenden Motive die Not, demnächst schlechtes
Beispiel und Verführung. Nur ausnahmsweise kommt es
vor — und solche Fälle können nicht scharf genug ver-
urteilt werden — daß ein Homosexueller einen Burschen
zur Prostitution verführt, indem er ihn dem Geschäfte,
in welchem er arbeitet, entzieht. Häufiger schon kommt
es vor, daß ein junger Mann, welcher außer Stellung ge-
raten sich vergebeus abmüht, wieder in Brot zu
kommen, die Bekanntschaft eines Urnings macht, mit dem
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— 17 —
er gegen Entgelt intim verkehrt. Dieser gibt ihm Essen
und Kleidung, behandelt ihn gut, führt ihn in bessere
Kreise ein, was seiner Eitelkeit schmeichelt. Der be-
queme Verdienst, der ihm, falls er selbst homosexuell
veranlagt ist, noch dazu Vergnügen bereitet, das Faulenzer-
leben werden ihm so sehr zur Gewohnheit, daß er nicht
mehr davon lassen kann, auch wenn ihm Gelegenheit ge-
boten würde, in ein ehrliches, arbeitsames Leben zu-
rückzukehren. Sehr oft spielt sich der Vorgang etwa
folgendermaßen ab: Ein armer, zerlumpter, hungernder
und frierender Junge steht obdachlos an einer Ecke der
Friedrichstraße. Bald wird er die feinen, geschminkten
„Herrchen" gewahr, die Nacht für Nacht von 10 Uhr
ab stundenlang die Straße auf- uud abschlendern, bis sie
ein vornehmer Herr anspricht, mit dem sie erhobenen
Hauptes von dannen ziehen. Er macht zuerst schüchterne,
dann kühnere Versuche, es dem Vorbilde nachzutun und
eines Tages glückt es ihm auch. Denn manche der vor-
nehmen Herren lieben gerade diese ärmlichen Jungen mit
ihren schmutzigen Kragen und Schuhen, den faden-
scheinigen Röcken und zerrissenen Beinkleidern. Ist es
ihnen einmal gelungen, dann halten sie ihre Position fest,
es ist ihnen gar zu schlecht gegangen, als daß sie zurück-
tauschen möchten. Mit den sozialen Ursachen der männ-
lichen Prostitution hängt es auch zusammen, daß sich
manche besonders schlecht bezahlte Berufsklassen diesem
Gewerbe im Nebenberuf ergeben. So kann es als ver-
bürgt gelten, daß sich in Paris unter den jungen Ange-
stellten des Telegraphendienstes viele befinden, die ihr
spärliches Einkommen (50 — 60 Frcs. monatlich) durch
einen solchen Nebenverdienst aufzubessern suchen. Ahnlich
ist es in London mit den Messengerboys. Ich verdanke
diese und andere Mitteilungen Uber die männliche Pro-
stitution einem äußerst zuverlässigen urnischen Gewährs-
mann, der sich Pherander nennt. Derselbe hat die ein-
Jahrbuch V. 2
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— 18 -
schlägigen Verhältnisse in sehr vielen Großstädten Europas
sowie Indiens einem sehr eingehenden Studium unter-
zogen. Er unterscheidet heterosexuelle und homosexuelle
Prostituierte. Unter den ersteren, die schon durch den
Verkauf ihres Leibes trotz gegenteiliger Naturanlage ein
besonders hohes Maß von Verkommenheit bekunden,
finden sich naturgemäß die meisten Erpresser. Es steht
außer Zweifel, daß der § 175 des R.-St.-G.-B. eine her-
vorragend schlimme Seite der männlichen Prostitution,
wenn nicht großgezogen, so doch gewaltig gefördert hat :
Das Erpre8sertum, die Chantagc. Obwohl man nicht be-
haupten kann, daß es ohne dieses Gesetz keine Erpresser
mehr geben würde, denn die Länder, wo kein derartiges
Verbot homosexueller Betätigung existiert, beweisen das
Gegenteil, so ist doch mit Bestimmtheit anzunehmen, daß
die Chantage nach Aufhebung des Strafparagraphen auf
ein sehr geringes Maß herabgedrückt, ja nach Aufklärung
der Massen über Ursachen und Wesen des Uranismus
völlig verschwinden wird. Die zweite Kategorie der Pro-
stituierten, die selbst homosexuell veranlagten, teilt Phe-
rander in zwei Unterabteilungen, diejenigen, welche nicht
nur mit den ihrem Geschmack entsprechenden verkehren,
die also, trotzdem sie selbst junge Leute lieben, sich doch
mit älteren Männern einlassen, und diejenigen, die nur
ihrer Neigung folgen, beispielsweise feminine Jünglinge,
die sich zu älteren hingezogen fühlen. Es ist durchaus
nicht leicht zu entscheiden, welcher Kategorie die sich
auf den Straßen und in Lokalen Feilbietenden angehören,
sehr viele, die absolut normal sind, spielen sich auf „echt*
heraus, weil dies die „Freier" unbesorgter macht. Als
besonders geschickte Schauspieler gelten die „petits Je*sus*
in Paris, die fast alle nicht urnisch sind. Die Menge der
sich in den Straßen von Paris, namentlich auf den großen
Boulevards, herumtreibenden Prostituierten ist verhältnis-
mäßig nicht so groß wie in Berlin. Pherander zählte auf
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den Boulevards des Italiens und Montmartre während
der besten „Geschäftszeit" 20 — 30 käufliche "Männer,
während er zu derselben Zeit in dem belebtesten Teil der
Berliner Friedrichstraße 50 — 60 beobachtete. Übrigens
stellen die Prostituierten keineswegs das Hauptkontingent
zu den Erpressern. Selbst die heterosexuellen unter
ihnen nehmen in der Regel nicht gerade zu Erpressungen
ihre Zuflucht, weil sie sich dadurch leicht ihr „Geschäft"
verderben. Auch herrscht unter den männlichen Pro-
stituierten ein gewisser Korpsgeist, der es verhindert, daß
einzelne Mitglieder sich gar zu viel erlauben. Häufiger
und gefährlicher sind diejenigen Chanteure, welche ge-
legentlich einmal — oft ohne daß sie selbst die Gelegen-
heit suchten — mit einem Homosexuellen verkehrt haben,
dann sich selbst als den „unschuldig Verführten-, ihren
Gegenpart als den „gemeinen Wüstling" hinstellen und
ihn mit einer Anzeige oder Kompromittierung bedrohen,
wenn er nicht eine bestimmte Summe zahlt. Sie kommen
immer wieder, hängen sich nicht selten wie die Kletten
an ihre Opfer und lassen sie oft nicht eher los, bis sie
den Urning pekuniär und sozial ruiniert haben. Eine
weitere Klasse wird von den ganz berufsmäßigen Chan-
teuren dargestellt, die von den Prostituierten selbst sehr
gefürchtet sind. Diese lauern vorsichtig ab, bis sich
ein Herr mit einem der ihnen dem Aussehen nach wohl-
bekannten „ Strichjungen" einläßt, folgen unbemerkt, warten,
bis der Homosexuelle die Wohnung des Prostituierten
wieder verläßt, und machen sich dann an das völlig ver-
dutzte Opfer mit ihren Drohungen und Forderungen
heran.
Je größer eine Stadt ist, umso umfangreicher ist die
männliche Prostitution. In Deutschland sind Berlin, Ham-
burg, München, Dresden, Leipzig, Breslau und Köln die
Hauptzentren, welche aus diesem Grunde auch häufig von
Urningen aus kleineren Städten oder vom Lande aufge-
2*
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- 20 -
sucht werden. Mit Vorliebe werden auch von der männ-
lichen, wie von der weiblichen Halbwelt Abstecher nach
Orten gemacht, wo sich viele Fremde zusammenfinden.
So berichtet Pherander: „In Kiel hatte sich während
der sogen. Kieler Woche, wo alle möglichen Regatten
abgesegelt werden, im Sommer 1902 aus Hamburg eine
Reihe männlicher Prostituierter eingefunden, um auf Faii£
und auf Erpressung auszugehen. Das große Publikum
hat gewiß nichts davon bemerkt, während ich selber nach
wenigen Tagen ihre Anzahl, die sich auf zwölf belief,
festgestellt hatte, und zwar alle in der Düsternbrocker
Allee gegenüber den Anlegebänken für Marineboote."
Uber Berlin schreibt unser Gewährsmann: Unter allen
Großstädten Deutschlands nimmt Berlin eine Ausnahme-
stellung mit Bezug auf die männliche Prostitution ein.
Man kann mit Fug und Recht behaupten, daß sie hier
in einem solchen Grade vorkommt, wie nirgends anders,
nicht nur in Deutschland, sondern Uberhaupt in Europa,
vielleicht mit Ausnahme Londons, dessen diesbezügliche
Verhältnisse ich nur aus Schilderungen und nicht aus
persönlicher Anschauung kenne. Es gehört ein förmliches
Studium dazu, auch nur annähernd aus dem Wirrwarr
der verschiedensten Arten der Berliner männlichen Prosti-
tution klug zu werden. Sie tritt hier so frei und offen
hervor, daß sie selbst dem Unaufgeklärten auffallen muß.
Reine Prostituierte, die ganz von ihrem „Beruf" leben,
berechnet Pherander auf 400, die Anzahl der Halbprosti-
tuierten dagegen auf 10—12,000. Unter Halbprostituierten
versteht er solche, welche sich ebenfalls für ihre „Liebe"
bezahlen lassen, dabei aber meist einer inneren Neigung
folgen. Sie haben gewöhnlich irgend eine Beschäftigung,
leben vielfach im Hause ihrer Eltern oder bei Verwandten,
sind in keiner Weise angewiesen, ihren Körper zu ver-
kaufen, betrachten aber die Geldgeschenke ihrer Gönner
als angenehme Nebeneinnahme, um allerhand Wünsche
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zu befriedigen. Viele von ihneu — soweit sie hetero-
sexuell sind — könnten ebensogut in unsere zweite Gruppe
gerechnet werden.
Sehr bezeichnend ist das Verhältnis der männlichen
Prostitution zu ihrer weiblichen Konkurrenz. Von eigent-
licher Konkurrenz zwischen weiblichen und männlichen
Prostituierten kann ja kaum die Rede sein, da die betref-
fende Kundschaft eben grundverschieden ist. Wer Wei-
bern den Vorzug gibt, wird die jungen Männer im allge-
meinen unbeachtet lassen und umgekehrt „Deshalb stehen
sioh die beiden Arten der Prostitution auch keineswegs
feindlich gegenüber, im Gegenteil, ich habe häutig zu beob-
achten die Gelegenheit gehabt", schreibt Pherander, „daß
sie sich gegenseitig helfen und unterstützen, so gut sie
können."
Das Alter der männlichen Prostituierten ist selten unter
16, fast nie über 25 Jahre.
Einigen bringt ihr Erwerb so viel ein, daß sie sich
recht luxuriöse Wohnungen leisten können. Je teurer
und eleganter sie wohnen, desto größere Ansprüche stellen
sie auch an die Börse ihrer Kunden. Manche erwerben
sich durch hohe Preise und Erpressungen ein kleines
Vermögen, wovon sie auf ihre alten Tage leben können.
Ein sehr berüchtigter und bekannter Berliner „Strichjunge*
aus guter Familie, dessen Hauptgeschäft hinter ihm
liegt und der den Eindruck eines vollkommenen Kava-
liers macht, wohnt jetzt sehr komfortabel und fein in einem
Appartement, das durch seine Ausstattung beweist, wie
sehr es sein Besitzer verstanden hat, seine „Ersparnisse"
gut anzuwenden. Er soll früher einen ganz enormen
Einfluß auf seine Kollegen vom Fach ausgeübt haben
und sein Name wird noch mit einer Art Ehrfurcht unter
den Berliner Strichjungen genannt.
„Ich habe manche andere Wohnung der Prostituierten
gesehen*, schreibt unser Gewährsmann, „und mich dabei
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vom Augenschein überzeugt, daß das Geschäft mehr ein-
bringen muß, als man denken sollte. Es kommt häufig
vor, daß sich zwei oder mehrere junge Leute zusammen-
tun. Vielleicht sind sie von Liebe zu einander entbrannt
oder verkehren, was sehr oft vorkommt, mit einer im
Hause wohnenden weiblichen Konkurrentin. "
Allmählich kommt die Zeit heran, wo der Prostituierte
dem Alter seinen Tribut zollen muß, meist viel früher,
wie für die weibliche Rivalin. Alles Rasieren und .Zurecht-
machen" hilft nichts mehr. Es finden sich zwar noch
einige, die den vollentwickelten Mann dem Jüngling vor-
ziehen, aber davon kann man nicht existieren und muß
wohl oder übel einen anderen Beruf ergreifen.
Hat mau Ersparnisse gemacht, so eröffnet man ein
kleines Geschäft oder eine Restanration und wird ein
sogenannter ordentlicher Mensch.
Viele aber können sich nicht mehr an ein regel-
mäßiges Leben gewöhnen und werfen sich schließlich
ganz dem Verbrecher- oder Zuhältertum in die Arme,
zu dem sie auf grund ihrer Veranlagung und ihres
Milieus höchst wahrscheinlich auch ohne ihre Prosti-
tuiertenjahre gekommen wären.
Eins läßt sich deutlich verfolgen. Kein hetero-
sexueller Prostituierter erwirbt durch Gewohnheit gleich-
geschlechtliche Triebe, ebensowenig wird ein homosexuell
Veranlagter aus Übersättigung am Manne heterosexuell.
Eine zweite, nicht unbeträchtliche Gruppe von Normal-
sexuellen, die vorübergehend zu homosexueller Betätigung
gelangen, sind die meist jugendlichen Personen, welche
den Gegenstand homosexueller Liebe bilden. Es ist
zweifellos, daß, während viele Homosexuelle ebenfalls
urnisch Empfindenden bei weitem den Vorzug geben und
manchen es in ihrer Neigung keinen Unterschied macht,
ob die Betreffenden konträr fühlen oder nicht, eine ganze
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Anzahl von Urningen ausschließlich zu normalsexuellen,
kraftvollen Naturen neigen. Oft sind ihnen die Gleich-
fühlenden direkt antipathisch, sie sind ihnen „zu weibisch"
oder zu verwandt. „Wir sind zu gleichartige Naturen,
die passen nicht für die Liebe, wohl aber für Freund-
schaft" erwiderte eine berühmte urnische Schauspielerin
einer Kollegin, welche ihr ihre Liebe erklärte.
Nun verkehren allerdings viele Homosexuelle mit
den Jünglingen oder Männern, in die sie sich verliebt
haben, überhaupt nicht geschlechtlich, sie verzehren sich
zwar vor innerer Sehnsucht, aber sie haben nicht einmal
den Mut, den Geliebten zu küssen. Die Angst, sich zu
verraten, den Freund zu verlieren, hält sie zurück. Der
Normale, tiefgerührt vou der zu allen Opfern bereiten,
hingebenden Freundschaft, ahnt so wenig wie seine Um-
gebung, daß es sich auf der andern Seite um eine ganz
andere Empfindung, um Liebe handelt. Ich habe bei
meinen Klienten mehr als einmal die qualvollen Depressions-
zustände beobachtet, die ungeheuren Seelenschmerzen,
welche sich einstellten, wenn der Heterosexuelle »seinem
besten Freund unter strengster Diskretion zuerst seine
heimliche Verlobung anvertraute.*
Bei manchen liebenden Uraniern kommt es zu sexuellen
Orgasmen, ohne daß der Normale es bemerkt. Ich kenne
einen allerdings sehr neurasthenischen Studenten, der seit
vier Jahren ein festes Verhältnis mit einem anderen
Studenten hat Letzterer kennt zwar den Zustand seines
Freundes, doch gewinnt dieser es nicht über sich, trotz-
dem sie zusammen wohnen, eine sexuelle Handlung vor-
zunehmen. Er meint, die Poesie ihrer Freundschaft
könnte darunter leiden. Dagegen hat er nicht selten
Ejakulationen, wenn der Freund sich ihm auf den Schoß
setzt, was bei gemeinschaftlicher Arbeit häufig vorkommt.
Durchaus nicht so rar sind auch die eigentümlichen
Fälle, in denen sehr feminine Uranier — meist Gynäko-
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mästen — mit Normalsexuellen verkehren, ohne daß die
Betreffenden wissen, daß ihr Partner „ein Mann* ist.
Ein ungemein weiblich aussehender Opernsänger berichtet
folgendes : Er geht als elegante Dame an einem Sonntag
Abend spazieren. In einem Parke verfolgt er einen
Unteroffizier mit Liebesblicken. — Daß sie Unteroffiziere
lieben, ist für gewisse Feminine charakteristisch. Gemeine
Soldaten pflegen dieser Spezies „zu jung*, Offiziere „zu
fein geschniegelt" zu sein. — Der Unteroffizier reagiert, er
reicht der Dame den Arm, welche vorschlägt, in einem
Restaurant zu Abend zu essen, doch nur unter der Be-
dingung, daß sie bezahlen darf. Der Soldat nimmt an.
Sie verleben einige vergnügte Stunden und schließlich
fährt er mit ihr in ihre elegante Wohnung. Im dunklen
Schlafzimmer legt der Sänger sein weibliches Nacht-
gewand an und der Unteroffizier kehrt am frühen Morgen
in die Kaserne zurück, ohne daß ihm auch nur im ent-
ferntesten äer Gedanke gekommen ist — die Schilderung
der Details möge man uns erlassen — daß er wenn auch
imbewußt etwas Ungesetzliches verübt hat.
Wir kommen nun zu den Verhältnissen Homosexueller
mit Normalen, in denen es zu sexuellen Akten kommt,
meist mutueller Onanie, also einer nicht strafbaren Tat.
Meist pflegt sich der Urning, wenn es sich nicht um ganz
flüchtige Beziehungen handelt, des von ihm Geliebten mit
großer Treue anzunehmen, er fordert und unterstützt ihn,
hält ihn in beiderseitigem Interesse von der Automastur-
bation zurück, steht ihm in jeder Beziehung zur Seite,
läßt ihn oft ausbilden und sorgt häufig auch noch für
seine Angehörigen. Solche Fälle sind ungemein häufig.
Gewöhnlich pflegt der Nutzen größer zu sein, wie ein
etwaiger Schaden, den der Urning zufügt. Die Normalen
empfinden diese Episode später durchaus nicht als unan-
genehme Erinnerung, was sie allerdings nicht hindert, auf
die Päderasten zu schimpfen, von denen sie sich eine ganz
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andere Vorstellung machen. Ein urnischer Leutnant
schrieb uns vor einiger Zeit: „Warum bekümmert man
sich denn immer um den Schw .... stall des dritten
Geschlechts, man betrete endlich auch unsere gute Stube,
man wird staunen, welche Schätze dort herumstehen."
Häufig enden die zuletzt geschilderten Verhältnisse mit
der Verlobung des Normalen. Der Urning fungiert meist
als Trauzeuge oder Ehrengast bei der Hochzeit, bleibt
der Freund der Familie, wird Taufpate der Kinder, von
denen eins oft seinen Namen erhält, und ist in Notfällen
bei der Hand. Die Freundschaft des Normalen hält sehr
oft länger vor, wie die Liebe des Urnings. Eine urnische
Frau liebte aufs zärtlichste ein gleichaltriges normales
Fräulein, viele Jahre, sie war glücklich, litt aber auch sehr
viel, jetzt ist sie abgekühlt, aber die Freundin schreibt
ihr noch täglich und kann nicht „auf die ihr so wertvolle
und liebe Verbindung verzichten". Ahnliches kommt
oft vor.
Ich will als Paradigma dieser Gruppe noch die
Schilderung eines Oberlehrers angeben, welche auch in
anderer Hinsicht beachtenswert ist.
„Aus guter Familie stammend", so berichtet er, „sorgsam er-
zogen, hielt ich die Liebe zum Weibe, nach allem, was ich hörte
und las, fttr etwas ganz Selbstverständliches. Die Idee, daü meine
sehr starke Vorliebe für besondere hübsche Schulkollegen einen
erotischen Beigeschmack haben könne, ist mir nie gekommen.
Auch fiel es mir nicht auf, daß es mir unmöglich war, in ihrer
Gegenwart die Toilette zu benutzen. Als Sekundaner vollzog
ich deu ersten C'oitus mit der einzigen Prostituierten meiner kleinen
Heimatstadt, bei der fast sämtliche meiner Landsleute seit 20
Jahren fiir eine Mark den ersten Coitus vollzogen hatten. Kurze
Zeit darauf suchte ein älterer Herr, von dem ich jetzt weili, dali
er „auch so" ist, mich unzüchtig zu berühren ; ich versetzte ihm
eine schallende Ohrfeige, die einzige, welche ich in meinem Leben
ausgeteilt habe. Sehr bestürzt bat er mich auf den Knieen 11111
Verzeihung und Verschwiegenheit. Auf der Universität verkehrte
ich alle zwei bis drei Monate mit dem Weibe, ich war immer
froh, wenn ich die Sache hinter mir hatte, doch befremdete mich
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meine Gleichgültigkeit ebensowenig wie mein großes Interesse
flir die hübschen Füchse unserer Korporation. Ich zog mir einen
Schanker mit Bubonen zn und schwängerte ein Dienstmädchen.
So verlief alles normal, bis ich mit 20 Jahren — ich war bereits
im Beruf — einen siebzehnjährigen Jüngling kennen lernte, dessen
Schönheit und wunderbares Wesen — eine prachtvolle Mischung
von Kraft und Anmut — mich völlig gefangen nahm. Seit ich
ihn sah bis heute, fast 8 Jahre, war er täglich mein erster und
letzter Gedanke. Ich ging ganz in ihm auf, widmete mich seinen
Interessen und sah in ihm die höchste Vollendung. Er war ein
außerordentlich befähigtes, völlig normalsexuelle», recht leicht-
sinnig veranlagtes Menschenkind. Es ließ sich einrichten, daß ich
7 Jahre fast täglich mit ihm zusammen war. Sexuelle Akte blieben
nicht aus. Er hatte sich sehr schwer zu dem Opfer entschlossen,
tat es aber schließlich doch, wie er sagte, aus Freundschaft und
Erbarmen. In seinem eigenen Empfinden blieb er sich in den
Jahren unseres geschlechtlichen Verkehrs stets gleich. Wiederholt
geschah es, daß er sich in ein Mädchen verliebte. Ich litt un-
säglich imter der Eifersucht. Dann tröstete er mich und sprach:
„Wenn ich zu wähleu hätte zwischen ihr und Dir, möchte ich
lieber sie verlieren. Ein Mädchen finde ich alle Tage wieder,
einen Freund wie Dich niemals. Sie nimmt, Du gibst, Du löst
in mir den guten Menschen aus." Eines Tages aber lernte er Eine
kennen, die liebte er so rasend, wie ich ihn. Unser Verhältnis
wurde unhaltbar. Mit wie furchtbaren Schmerzen ich Verzicht
leistete, vermögen Worte nicht auszudrücken. Noch habe ich es
nicht Uberwunden, aber ich werde es Uberwinden und Ersatz
suchen in meinem Beruf und der Arbeit für das öffentliche Wohl.
Zu den Enterbten des Liebesglücks kann und will ich mioh nicht
rechnen, denn ich habe ja das irdische Glück genossen, gelebt
und geliebt."
Wir sehen an diesem Fall zweierlei, einmal, wie bei
dem Urning, trotz energischen Zurückweisens eines homo-
sexuellen Angriffs, trotz normalgeschlechtlicher Betätigung
vorher und nachher, der homosexuelle Trieb zum Durch-
bruch kam, und anderseits, wie der Normalsexuelle trotz
homosexueller Verführung völlig heterosexuell blieb. Die
Richtung der sexuellen Ergänzung ist eben eine viel zu
fest normierte, von der ganzen Persönlichkeit abhängige,
als daß sie in ihr Gegenteil umschlagen könnte. Ich habe
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bei mehreren durchaus vertrauenerweckenden urnischen
Greisen angefragt, ob je Lieblinge von ihnen, die zum
Weibe inklinierten, homosexuell geworden sind, nicht ein
einziger Fall ist zu meiner Kenntnis gelangt. Wir
möchten diesen Abschnitt aber doch mit der Empfehlung
schließen, daß Eltern, wenn sie ihren Kindern, sei es
selbst, sei es durch ihre Ärzte, die in vieler Hinsicht so
notwendige sexuelle Aufklärung geben, auch auf die Er-
scheinung des Uranismus hinweisen, damit die Söhne und
Töchter Begegnungen derart klarsehend gegenüberstehen.
Als weitere Ursache für gleichgeschlechtlichen Ver-
kehr wird von vielen Autoren !) Weibermangel angegeben.
Offenbar liegt auch hier nicht Homosexualität, sondern
eine Abart der Onanie vor, selbst wenn, was ausnahms-
weise wohl einmal vorkommt, immissio in corpus statt-
hat. Wie wenig diese Personen einen solchen Notbehelf
dem natürlichen Verkehr gleich setzen, zeigte mir einmal
eine Antwort, die mir in einer urnischen Soldatenkneipe
Berlins, die ich mir ansah, ein reicher Bauernsohn gab,
') Beispiele finden sich:
a) Aus Schalen bei Hoche, Neurologisches Zentralblatt Bd. 15
(1896) S. 66. Moll, Die konträre Sex. S. 874. Note 2 mit Mit-
teilung von Dr. Bahrdt. Rohleder, Die Masturbation (1891»
S. 111 u. ff., welcher u. a. hierfür Rousseau, Salzmann, Chevalier,
Fournier, Blasemann, Flirbringer zitiert.
b) Aus Klöstern bei Doppet, Das Geilieln und seine Einwirkung
auf den Geschlechtstrieb.
c) Aus Schiffen bei Elbs und Symonds, Das konträre Geschlechts-
geflihl (1896) S. 11, Note 1.
d) Aus Gefängnissen bei Wey, zitiert bei Ellis n. Symonds S. 13.
e) Aus Kasernen. Tarnowsky, Die krankhaften Erscheinungen
des Geschlechtssinns (1886) S. 66. Elbs und Symonds S. 10.
Note 1. Raffalovich, Entwicklung der Homosexualität (1895)
S. 12.
t) Aus der französischen Fremdenlegion. Gramer, Berliner klinische
Wochenschrift Bd. 34. S. 962 (1897) und Gerichtliche Psychiatrie
S. ->H[ (1900).
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der bei den Dragonern diente. Auf nieine Interpellation,
weshalb er mit Männern verkehre, erwiderte er: „Um
meiner Braut treu zu bleiben/' Ich besitze namentlich aus
Kadettenhäusern eine Reihe von Berichten, die bekunden,
daß, trotzdem leider wechselseitige Onanie in ausgiebiger
Weise geübt wird, nur ein ganz kleiner Bruchteil konträr-
sexuell wird, nämlich solche, die nachweislich nicht voll-
männlich, sondern urnisch sind. Ich will den von anderen
veröffentlichten Beispielen einen recht lehrreichen Bericht
aus einem katholischen Waisenhause hinzufügen. Ich
verdanke die Mitteilung einem mir bekannten sehr zu-
verlässigen Beobachter K. A., der daselbst 10 Jahre lang
unter 120 Mitschülern erzogen wurde.
„Ich war 8 Jahre alt, als ich in dies«'* Institut kam. Da ich
schon früher gerne mit Knaben zusammen war, hatte ich mir die
ersten Tage etwas Heimweh und fühlte mich sehr bald wühl unter
den 120 Knaben im Alter bis äu 14 Jahren, nur wenige waren
15 und 16 Jahre alt. Der freundschaftliche Verkehr unter diesen
Knaben war ein so inniger, daß man glauben mußte, lauter Urninge
vom reinsten Wasser vor sich zu haben. Fast alle von den
älteren suchten sich unter den jüngeren Knaben einen Freund,
den sie alsdann hegten und schützten. Dieses war für denjttugeren
Teil nicht gerade unangenehm, denn unter soviel Knaben haben
die kleineren gewöhnlich manchen Stoß auszuhalten, hatte er aber
einen älteren zum Freunde, so durfte keiner es wagen, ihn hart
anzufassen, beide Uberboten sich gegenseitig in Erweisungen von
Zärtlichkeiten. Als ich selbst 9 Jahre alt war, geschah es, daß
2 ältere auf einmal um mich warben und keiner dem anderen
weichen wollte. Es wurde dann durch einen Kampf unter den beiden
entschieden, die anderen stellten sich herum, damit die Wärter
nichts sehen sollten, und schauten zu, bis einer kampfunfähig
wurde, der Sieger hatte alsdann ein öffentliches Anrecht auf mich.
Dieser war mein Freund fast ein ganzes Jahr lang, bis er bei
seinem 14. Jahre aus der Anstalt entlassen wurde. An seine
Freundschaft erinnert mich noch heute ein ziemlich großer Buch-
stabe, der Anfangsbuchstabe seines Namens, den wir uns gegen-
seitig damals mit chinesischer Tusche und einer Nadel in den
Oberarm tätowierten. Da dies sehr oft vorkam, besaßen einige
darin eine ziemliche Fertigkeit. Ich erinnere mich noch heute,
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wie glücklich ich damals war, fUr meinen Freund diese Nadel-
stiche ertragen zu dürfen. Dieser Junge war von einer solchen
Liebe zu mir beseelt, daß er mir alles tat, was er an meinen
Augen absehen konnte. Da er vermögend war und seine Familie
in der Nähe wohnte, bekam er jede Woche einmal Besuch und
wurde dann mit allem möglichen beschenkt ; hatte er diesen Be-
such empfangen, so kam er gewöhnlich immer erst, wenn wir
schon im Bette lagen, dann war sein erstes, an mein Bett zu
kommen und seine Schätze vor mir auszubreiten, und hatte
oft Mühe, ihn zu bewegen, daß er selbst auch etwas davon nahm.
Er unterließ es nie, wenn wir abends zum Schlafsaal geführt
wurden, einen günstigen Moment abzuwarten, mir gute Nacht zu
sagen und mich zu küssen. Hatte man also einen Jungen ge-
funden, der einem besonders gefiel, so warb man um ihn, man
verfolgte ihn auf Schritt und Tritt und suchte überall sich ihm
angenehm zu machen, man machte ihm Geschenke oder bat einen
Kameraden, den Vermittler zu spielen. Ein eigenartiges Mittel
wandte einmal ein Junge mir gegenüber an, den ich übrigens
auch schon lange im Stillen gern hatte, der aber so hübsch war,
dali ich eine Erwiderung für ausgeschlossen hielt, und mich keiner
Demütigung aussetzen wollte, denn einen Korb zu bekommen
galt als sehr schimpflich. An einem Abend nun kam er während
der Vorlesung neben mich und wir setzten zu zweien auf seine
Anregung hin ein Spiel in Szene, wobei man auf die Hand des
anderen einen Schlag zu versetzen sucht, der andere muß dabei
sehr auf der Hut sein, da die Schläge sehr empfindlich sind, und
deshalb seine Hand schnell fortziehen. Nachdem er nun an die
Reihe kam, hieb er nur ganz leise und lässig zu, und als ich ihn
nach dem Grunde fragte, sagte er mir, er könne mir nicht wehe
tun, er hätte mich zu gerne. Ich war glücklich; wir küßten uns
und erzählten uns gegenseitig, wie wir uns schon so lange gern
gehabt. Solche Freunde tauschten dann mittags bei Tisch ihre
Teller und ihr Besteck, weil es ihnen ein besonderes Wohlgeftihl
war, aus Gegenständen zu essen, die der Freund früher benutzt
hatte. Derjenige, der das Amt hatte, bei Tisch zu bedienen,
mußte sich deshalb immer auf dem Laufenden erhalten und war
genau unterrichtet von jedem neuen Freundschaftsverhältnisse
und sorgte genau und gewissenhaft, daß jeder die Gegenstände
«eines Freundes bekam, ebenso wußte er, wenn ein Verhältnis sich
löste, er gab alsdann jedem sein richtiges Besteck wieder, welches
aber alsdann selten von diesem wieder bonutzt wurde, die Teller
zerbrach man gewöhnlich und das Besteck warf man in den
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Schmutzkasten und kaufte neue. Ebenso hatte jeder Knabe im
Winter Beinen bestimmten Shawl, man trug aber stets den des
Freundes, da derselbe in so enger Berührung mit dessen bloßem
Halse gewesen. Das Tätowieren der Arme mit den Anfangs-
buchstaben des Freundes war an der Tagesordnung, jedoch
mußte man bei dem allen sehr vorsichtig sein, damit die Lehrer
nichts merkten. Sahen diese von zweien eine besonders zärtliche
Freundschaft, so wurde ihnen strenge verboten, weiter miteinander
ssu verkehren, doch tat man es alsdann um so lieber, und bekam
man Strafe, so war man glücklich, für den anderen leiden zu
können. Hatte einer einen Streich gespielt, so geschah es oft,
dall der Freund die Tat auf sich nahm, der andere dies aber nicht
litt und der Lehrer alsdann 2 Missetäter vor sieh stehen sah und
nicht wußte, wer der eigentliche war. Bekam der Freund Prügel,
so ging das dem andern so nahe, daß er mit weinte. Diese
kleinen Einzelheiten zeigen, wie der Freund einem alles war, welche
Innigkeit in dieser Freundschaft lag. Daß dabei der ge-
schlechüiche Verkehr nicht ausblieb, ist selbstverständlich. Ich
war 9 Jahre alt, als ich die Onanie kennen lernte, manche noch
jünger. Besonders bot der Winter zum geschlechtlichen Verkehr
viel Gelegenheit, man ging abends unter dem Vorgeben, austreten
zu müssen, hinaus, der Freund folgte einige Minuten später und
draußen war man dann ungestört, wenn dies auch hauptsächlich
geschah, um sich küssen und umarmen zu können, in der Er-
regung blieb dann das andere nicht aus. Dann fand der Verkehr
auch viel nachts in den Betten statt. Natürlich mußte auch vor
den übrigen Knaben dies verheimlicht werden, da ja leicht hätte
ein Verräter darunter sein können. Ich glaube bestimmt, daß
dabei nur Onanie getrieben wurde. Kam ein neuer in die Anstalt,
so wurde sofort darauf geachtet, ob er hübsch war, und dauerte
es auch nicht lange und der oder jener hatte sich mit ihm ange-
freundet, wobei es oft nicht ohne heftige Eifersuchtsszenen ab-
ging. Es würde zu weit führen, noch mehr Einzelheiten anzu-
geben. Man findet ja in allen Instituten, daß die Knaben ge-
schlechtlich miteinander verkehren, aber wohl selten so allgemein.
Diese leidenschaftliche Liebe, so aufopfernd und hingebend, wo
man glaubte, alles sei tot für einen, wenns dem Freunde einfiel
zu schmollen, und man toll eifersüchtig sein konnte, wenn man
einen anderen bevorzugt glaubte, müßte auf das junge Knaben-
gemttt verhängnisvoll wirken ; wenn man von einem Anerziehen
der Homosexualität sprechen könnte, so müßte sich dies hier doch
bewahrheiten, besonders da die meisten wenigstens 3 bis 4 Jahre,
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einige bis zu 8 Jahren in der Anstalt verblieben und so lange
diesem Einflüsse ausgesetzt waren. Wie mir genau bekannt
ist, verkehren alle meine Mitschüler jetzt sehr rege
mit dem Weibe. Ich selbst interessierte mich schon vor
meinem 8. Lebensjahre, also bevor ich in dieses Institut kam,
Mir Männer, sogar geschlechtlich, und bin daher auch nachher
nicht anders geworden. Besonders will ich 2 Knaben erwähnen,
der eine war 16, er kam als einjähriges Kind dorthin, der andere
9 Jahre in der Anstalt, beide haben damals sehr stark flir den
Freund gefühlt und sehr viel mit ihm geschlechtlich verkehrt und
fühlen heute nur für das Weib. Daß grade diese Anstalt einen
so starken Freundschaftsverkehr aufwies, führe ich darauf zurück,
daü die Knaben außer der Schulzeit und den Stunden, die nicht
durch Gebet, es wurde viel gebetet, ausgefüllt waren, zuviel
auf sich selbst angewiesen waren. Die Anstalt war streng
katholisch und glaubte man durch vieles Beten die Knaben er-
ziehen zu künnen, doch wir langweilten uns nur bei dem ewigen
Einerlei des Rosenkranzes und benutzten die Zeit, geschlechtlichen
Gedanken nachzuhängen. Für Sport und Turnen war kein Inter-
esse vorhanden, sogar im Schulstundenplan war kein Turnen an-
gesetzt. Baden galt für unsittlich; man fürchtete die Kinder da-
durch auf unsaubere Gedanken zu bringen. Von der Außenwelt
war man vollständig getrennt. Das Haus lag vor der Stadt und
war mit hohen Mauern umgeben, nur Sonntags wurde man einige
Stunden ins Freie geführt. Die Bücher waren einer strengen
Zensur unterworfen, es genügte schon eine kleine unschuldige
Uebesgescbichte, um dieselben uns zu verbieten.
Der Verfasser dieses Berichts hat stark gegen seinen
Zustand angekämpft, auch eine hypnotische Kur durch-
gemacht Es ist ihm nur einmal in seinem Leben geglückt,
mit dem Weibe zu verkehren und zwar in der Karnevals-
zeit mit einem jungen Mädchen, das Knabenkleider trug;
er schreibt darüber, „sie sah aus, wie der reizendste
Junge, der Akt vollzog sich in voller Kleidung, ob es
mir sonst möglich gewesen, kann ich nicht sagen."
Wir sehen hier also, daß von 120 Waisenknaben, die
unter genau denselben Verhältnissen erzogen wurden und
fast sämtlich stark der solitären und mutuellen Mastur-
bation ergeben waren, nur ein einziger homosexuell ge-
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— 32 —
worden ist. Hat nun Schrenck-Notzing, der in der Er-
ziehung, Schimmelbusch, der in der Onanie die Ursache
der Homosexualität erblickt, Recht, oder diejenigen, welche
in der angeborenen Beschaffenheit des Gehirns deu
Grund dieser Erscheinung suchen?
Außer diesen drei Kategorien sind es besonders die
heterosexuellen Wüstlinge und Rouos, von denen man
annimmt, daß sie „aus Verlangen nach Variationen", aus
„Reizhunger", Übersättigung, Raffinement schließlich auf
das eigene Geschlecht verfallen. Dieser Glaube ist nicht
nur im Volke weit verbreitet, er findet sich auch bei
vielen Ärzten und Juristen. So beruft sich Bloch1) auf
Wollenberg*), der die Homosexualität in den meisten
Fällen als das Endprodukt eines lasterhaften Geschlechts-
lebens betrachtet. Und Wachenfeld8) sagt: „Den Verkehr
mit dem gleichen Geschlecht als einen spezifisch stärkeren
Reiz sucht der Roud, der nach Durchkostung aller natür-
lichen und unnatürlichen Genüsse am Weibe übersättigt
ist.* Ich habe mir große Mühe gegeben, diese „Wüstlinge"
ausfindig zu machen, es ist mir nicht gelungen. Unter
der großen Anzahl Homosexueller, die ich beobachtete,
war nicht ein vom Weibe Übersättigter, die meisten wären
froh gewesen, wenn sie überhaupt nur vom Weibe hätten
„kosten" können, geschweige denn, daß sie satt geworden
wären. Zweifellos hätten homosexuelle Jünglinge, die
eine Vorliebe für ältere Männer haben, solche Roues
kennen lernen müssen. Sie stellen ihr Vorkommen ent-
schieden in Abrede. Ich habe es mich auch nicht ver-
drießen lassen, männliche Prostituierte und Chanteure, so-
wohl homosexuelle als heterosexuelle, zu interpellieren,
') S. 235 a. a. 0.
a) Wollenberg. Über die Grenzen der strafrechtlichen Zu-
rechnungsfäbigkeit bei psychischen Krankheitszuständen, im Neu-
rologischen Zentralblatt 1899. No. 9.
8) A. a. 0. in Goltdammers Archiv S. 4H.
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- 33 -
von welchen Leuten sie lebten. Sie gaben übereinstimmend
eine Antwort, die in die wissenschaftliche Sprache über-
tragen lauten würde: »Ausschließlich von gleichgeschlecht-
lieh Veranlagten." Es müßte nach Analogie dieser Lebe-
männer doch auch einmal ein homosexueller Lebemann
— und es gibt deren genug — aus Reizhunger auf
das Weib verfallen. Es wäre dann damit vielleicht
ein therapeutischer Weg gegeben. Aber es kommt
nicht vor. Ich halte nach meinen Forschungen diese
Wüstlingspäderasten für ebensolche Fabelwesen, wie die
Hexen, von deren Aussehen, Sitten und Gewohnheiten
man zur Zeit der Hexenprozesse auch so ausführliche
Schilderungen zu geben wußte. Man erinnere sich nur
der köstlichen Hexenszenen in Goethes Faust. In ähn-
licher Weise erzählt sich das Volk auch heute noch
allerlei von dem stieren Blick der warmen Brüder, ihrem
ganz kleinen oder sehr langen dünnen Geschlechtsteil; wie
eine Art Ungeheuer halten sie sich mit Vorliebe im Dickicht
versteckt, jeden Augenblick bereit, über einen Knaben
herzufallen u. dgl. Noch ein neuerer Schriftsteller1)
schildert das Auge der „Anhänger der eigengeschlecht-
lichen Liebe" folgendermaßen: »Sein feuchter Glanz ist
erloschen; es blickt verschleiert, gläsern. Außerdem hat
sich die Lidspalte fast durchweg verengt, so daß nur ein
kleiner Teil des Augapfels sichtbar geblieben ist. Vor-
nehmlieh der Urning im mittleren und reifen Alter leidet
daran; den Greis läßt dieses Kainszeichen nicht mehr los.*
Man vergleiche mit dieser Beschreibung die beigefügte
Photographie eines urnischen Arbeiters. Wenn man
überhaupt hier von einem Typus reden kann, so ist
dieses große, träumerische Auge — der genaue Gegensatz
des geschilderten — in viel höherem Grade als charakte-
ristisch für den Urning anzusehen.
') M. BrauDschweig. Das dritte Geschlecht. Beiträge zum
homosexuellen Problem. Halle a. S., Carl Marhold. 1902.
Jahrbuch V. 3
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— 34 —
Ist mithin diese vielgenannte Menschenklasse der
vom Weibe Ubersättigten Homosexuellen empirisch nicht
nachweisbar, so ist sie auch theoretisch höchst unwahr-
scheinlich. Wessen Naturtrieb mit elementarer Gewalt
zum Weibe neigt, kann, wenn er auch noch so wüst ge-
Th. Widdig, urnischer Arbeiter.
lebt hat, nicht plötzlich den Manu begehren. Groß1^ hat
vollkommen Recht, daß ein solcher Umschlag der Ge-
schmacksrichtung in das Gegenteil außer aller Logik und
') Groll: Archiv f. Ktimiiialanthropülojrk'. Hand. 1. u 2.
Heft. S. 195.
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— 35 —
Wahrscheinlichkeit liegt. Das Variationsbedürfnis hat
wohl auf die Art der Betätigung einen Einfluß, nicht
aber auf die Neigung des Geschlechtstriebes an und für
sich. Dieser Trugschluß dürfte auf die Annahme zurück-
zuführen sein, daß der Homosexualismus dem Maso-
chismus, Sadismus, Fetischismus und ähnlichen Störungen
gleichzusetzen sei, mit denen er seit Krafft-Ebing so oft
gemeinsam dargestellt ist. Bei letzteren handelt es sich
um etwas ganz anderes, nämlich um krankhafte Hyper-
trophieen normaler Triebe, nicht etwa um sexuelle Zwischen-
stufen (Mischung männlicher und weiblicher Eigenschaften),
wie manche Autoren in völligem Mißverständnis des von
uns gewählten Titels glauben. Jeder Liebende will die
Geliebte erobern, der Sadist will sie unter seine Gewalt
bringen; der Liebende will ihr gefälliger Diener, der
Masochist ihr Sklave, ihr „Hund" sein; der Liebende
legt sich die Locken seines Mädchens ins Medaillon, der
Fetischist bewahrt sich Weiberzöpfe in der Schublade
auf. Selbstverständlich kann ausnahmsweise ein Homo-
sexueller ebenso wie ein Heterosexueller Sadist, Masochist,
Fetischist sein, vielleicht alles zugleich, aber niemals kann
ein Homosexueller ein Heterosexueller sein oder umge-
kehrt. Groß1) bemerkt: „Der sogenannte sexuell Über-
sättigte ist aber nicht übersättigt, sondern er empfindet
nur, daß von den zwei Wegen, die seiner Natur offen
standen : dem heterosexuellen und dem homosexuellen —
der erstere für ihn nicht der richtige war und so gelangt
er auf den zweiten Weg."
Der Autor fühlt hier ganz richtig heraus, daß es
namentlich die psychischen Hermaphroditen oder Bi-
sexuellen sind, die von vielen als Roues oder zum min-
desten als Meuschen angesehen werden, die willkürlich
das Weib verlassen. Ich gestehe offen, daß ich auf grund
») Archiv f. Kr.-A. S. 105.
3*
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— 36 —
meines Beobachtungsmaterials noch nicht in der Lage bin,
über das Vorkommen, die Häufigkeit und Bedeutung der
Bisexuellen ein abschließendes Urteil zu fällen. Früher
hielt ich sie für eine weit verbreitete Gruppe. Aber die
gewissenhafte Exploration vieler verheirateter Urninge
hat mich schwankend gemacht. Kratfl-Ebing hob, als
er die psychische Hermaphrodisie als erste Stufe der
angeborenen konträren Sexualempfindung beschrieb1), her-
vor, daß in diesen Fällen die Neigung zum andern Ge-
schlecht viel schwächer und episodischer sei, „während
die homosexuale Empfindung als die primäre und zeitlich
wie intensiv vorwiegende in der vita sexualis zu Tage
tritt. ■ Um hier, wie in der ganzen Frage klar zu sehen,
muß man unbedingt den Geschlechts trieb von den ge-
schlechtlichen Handlungen, die möglich sind, unterscheiden.
Nur der natürliche Trieb ist das Ausschlaggebende. Mau
glaube nur nicht* daß wer mit beiden Geschlechtern ver-
kehren kann, auch beide liebe. Wer urnische Ehe-
männer befragt* wird meist hören, daß sie entweder in
völliger Unkenntnis ihres Zustandes heirateten oder weil
sie meinten, von ihrem sie quälenden Triebe loszukommen.
Betrachten wir einmal die Verhältnisse, wie sie wirklich
sind. Ein junger Uranier wächst heran. Von allen
Seiten hat er die Liebe zum Weibe preisen hören, sie
erscheint ihm als das begehrenswerteste Ziel. Die ganze
heterosexuelle Umgebung wirkt auf ihn wie eine mächtige
Suggestion. Die erwachende und erstarkende Sinnlichkeit
führt ihn, indem sie ihn dein allgemeinen Triebe der
Kameraden folgen läßt, zu einer Art Schwärmerei für
weibliche Personen. Vom Uranismus weiß er nichts; die
Päderastie hält er, nach allem, was er gehört hat, für
etwas Abscheuliches. Es kommt die Zeit, wo ihm „nur
noch die Frau fehlt.* Mau macht ihn auf ein Mädchen
») Psych, »ex. S. 251.
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— 37 —
aufmerksam, die für ihn wie geschaffen ist oder er lernt
eine kennen, die ihm .sympathisch" ist, gewöhnlich eine,
die ihrer äußeren Erscheinung und inneren Veranlagung
nach viel männliche Eigenschaften aufweist. Die Unter-
scheidung von Liebe und Freundschaft ist durchaus nicht
leicht; so geht er in allen Ehren die Ehe ein und voll-
zieht „pflichtschuldigst11 vielleicht die Woche einmal den
Geschlechtsverkehr, vielfach — wie es in einem Volks-
lied heißt, — .nicht um der schnöden Wollust willen,
um Gottes Willen zu erfüllen". Seine Ehe ist sogar
harmonisch, während es ringsherum viele unglückliche
Ehen gibt, in denen die Männer ihre Sinnlichkeit an
fremden Frauen befriedigen. Er aber begehrt nicht nach
des Nächsten Weib. So stirbt er, ohne sich seines Irr-
tums bewußt geworden zu sein; denn gar viele Menschen
verbringen ihr Leben in einer Art Dämmerung, automatisch
folgen sie den andern, individuelle Regungen halten sie
für .Schwächen," alles, selbst das komplizierte spielt sich
nur in ihrem Unterbewußtsein ab. Ihre Seele funktioniert
reflektorisch. Sie kommen aus einem dumpfbriitenden Zu-
stand trotz aller scheinbaren Aktivität nicht heraus.
Vielen aber geht doch schließlich — ein Licht auf, das
Oberbewußtsein hat über das Unterbewußtsein den Sieg
errungen. Aber oft kommt dann die Erkenntnis zu spät.
„Seit ich wissend bin, schreibt uns ein hoher Staatsbeamter,
kleide ich die Freundschaft zu meiner Frau in das Ge-
wand der Liebe und die Liebe zu meinen Lieblingen in
das Gewand der Freundschaft, und so schreite ich mit
einer Täuschung meiner Umgebung — ursprünglich selbst
getäuscht — weiter durch das Leben."
Sehr fein hebt Krafft-Ebing !) hervor, daß es sich
bei sexueller Frigidität in Wirklichkeit um psychische
Hermaphrodisie handeln kann. Auf die Dauer dürften
') A. a. 0. 8. 252.
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— 38 —
aber doch nur mit sehr schwachem Geschlechtstrieb be-
gabte Personen diesem Irrtum verfallen. Viele soge-
nannte Bisexuelle müssen sich zum Coitus stark mecha-
nisch erregen lassen, andere bedürfen psychischer Kunst-
hilfe. Ich will zur Charakterisierung dieser Gruppe eine
Auswahl von Antworten wiedergeben, welche ich von
Bisexuellen über die Art ihres „normalen" Geschlechts-
verkehrs erhielt. Ein verheirateter Universitätsprofessor
berichtet: „Ich bin zum Coitus mit dem andern Geschlecht
ohne besondere Vorstellungen und Kniffe fähig, habe
keinen Widerwillen dagegen, aber auch keinen Genuß
davon." Ein Fabrikant schreibt: „Hätte ich vorher die
über die Homosexualität aufklärende Lektüre gekannt,
ich hätte nicht das Unglück der Ehe über mich herein-
gebracht Es war gewissermaßen ein Verzweiflungsakt
in dem törichten Wahn, ich könnte mich doch vielleicht
ändern; ich habe mich aber nur doppelt unglücklich ge-
macht und leider noch dazu eine gute Frau, die ein
anderes Glück verdient hätte, als einen Urniug zum
Manne zu haben. Der Akt ist möglich, ich bringe es
zur Ejakulation, aber ganz ohne Wonnegefühl und bin
nachher sehr angegriffen. Mir bei dem mir widersprechenden
Verkehr eine edle Jünglingsgestalt vorzustellen, bringe
ich nicht fertig.* Ein Offizier teilt mit: „Ich habe viele
Bordells besucht, und mit Erfolg, d. h. ich blamierte mich
nicht. Ich sagte den Damen immer, daß sie bald wieder
einen ordentlichen Lebenswandel führen sollten und sie
versicherten mir noch uie einen solchen braven Herrn
gesehen zu haben. Vor dem Beginn habe ich meistens
gezittert, aber es galt meinen guten Ruf zu erhalten und
nachher triumphierte ich wie ein Feldherr nach ge-
wonnener Schlacht." Ein Dolmetscher gibt an: „Ich habe
auch viel mit Weibern verkehrt, aber nur im angetrunkenen
Zustand." Ein Arbeiter, der Frau und Kinder hat, gibt
folgende Schilderung: „Ich führe den Beischlaf aus, aber
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mit größtem Widerwillen und fühle mich dabei zum
Sterben unglücklich; am liebsten möchte ich unmittelbar
darauf den Akt mit einem Manne ausführen können/4
Ein Jurist antwortet: „Ich gehe seit vielen Jahren alle
zwei bis drei Wochen ins Bordell. Mit anderen Frauen
als Dirnen habe ich nie verkehrt. Manche anständige
Mädchen gefallen mir wohl, aber da der Mann mich doch
intensiver anzieht und ich nach dem Verkehr mit dem
Wreibe mich nach männlicher Umarmung sehne, nehme
ich mir nicht die Mühe, mich den langen Präliminarien
zu unterziehen, die nötig sind, Mädchen, die keine Dirnen
sind, zu gewinnen. Sentimentale Liebe habe ich abgesehen
von einer Tanzstundenschwärmerei im 17. Lebensjahre
für Frauen nie empfunden, für Männer dagegen in den
letzten zehn Jahren drei heftige Leidenschaften." Ein
Kaufmann erwidert: «Ich kann mit Frauen den Verkehr
ausüben, aber nur durch den Gedanken an den, der vor
mir das Weib besessen hat." Ein junger Berliner Arbeiter
erzählt: „Als ich siebzehn Jahre alt war und sich alle
gleichaltrigen Kollegen Verhältnisse und Bräute an-
schafften, nahm ich mir auch mein Mädchen. Da ich mir
meines eigenartigen Wesens nicht bewußt war, so war es
mir selbstverständlich, daß ich mir auch später als Mann
eine Frau anschaffen mußte. Beim Geschlechtsakt mußte
der sinnliche Keiz stets durch psychische Mittel herbei-
geführt werden. Nachher war ich durch die große An-
strengung sehr abgespannt und ich schwur mir, mich nie
wieder auf derartiges einzulassen. Ich fühlte mich damals
zu einem Verwandten sehr hingezogen. Ich als der
Ältere und bei den Weibern Einflußreichere mußte für
ihn immer die Mädchen beschwatzen und so haben wir
oft nach einander den Akt vollführt. Die Beobachtung
seines heißen Temperamentes reizte mich bis zum äußersten
und war mir dann die Ausführung des Verkehrs ein
leichtes." Ein anonymer Briefschreiber meldet: „Ich
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verkehre auch mit Weibern, aber nur mit einfachen
Mädchen nicht über 20 Jahr; wirklich erregt hat mich
nur eine Polin, die kein Korsett und kurze Haare trug
und sehr jungenartig war." Ich will diese Paradigmata
aus dem Leben mit den Angaben eines Patienten schließen,
der mich kürzlich wegen sexueller Hyperästhesie konsul-
tierte, die so stark war, daß er beim Überschreiten der
Berliner Schloßbrücke angesichts der Jünglingsstatuen
Erektionen bekam. Es war ein jüdischer Kaufmann von
42 Jahren. Um die potentia coeundi zu erlangen, genügte
es nicht, an einen ihm sympathischen Mann zu denken,
sondern er mußte von ihm sprechen, etwa so: „Erinnerst
du dich an den Diener des Grafen, der Vormittag die
Waren abholte ? Hat er dir gefallen ? Ein sauberer
Bursche, nicht wahr? Seine Livree schien neu zu sein?
Fandest du nicht, daß sie ihm etwas eng saß? Für wie
alt hälst du ihn?" Nur, wenn er solche Gespräche mit
seiner Frau führte, deren Absicht zu verdecken großes
Geschick erforderte, gelang es ihm, zu ejakulieren und
— Kinder zu zeugen, deren er drei besaß. Ist das nicht
wahre Widernatürlichkeit? Dieser Herr reiste etwa alle
Vierteljahre einmal aus der Provinz nach Berlin, um hier
mit einem Soldaten zu verkehren; er gehörte mithin zu
den „periodischen Päderasten" von denen Tarnowsky1)
und mit ihm Bloch2) annehmen, daß es von Geburt normal-
sexuelle seien, die nur von Zeit zu Zeit einen Anfall von
Homosexualität bekommen, der dem „periodischen Irrsein"
gleichzusetzen sei. In Wahrheit sind es aber einfach
Homosexuelle, die auch heterosexuell verkehren können.
Das eine ist ihnen Natur, das andere Kunst. Als Bisexuelle
können wir sie so wenig betrachten, wie etwa die ge-
schilderten Heterosexuelleu, die auch im homosexuellen
') Benjamin Tarnowsky, Syphilidologe in Petersburg: Die
krankhaften Erscheinungen des Geschlechtsinns. Berlin 1880. Seite 43.
«) Bloch, a. a. 0. S. 15.
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Verkehr ejak ulier en können. Personen, die mit allen
Zeichen der Verliebtheit einmal vom Weibe, ein anderes
Mal vom Manne gefesselt werden — das wären wirkliche
Bisexuelle — habe ich nicht ermitteln können. Am ehesten
scheint mir noch ein annähernd gleich starkes Empfinden
für beide Geschlechter bei Fetiscbisten, Masochisten und
Sadisten vorzukommen. So kenne ich einen Mundfeti-
schisten, der fast in gleicher Weise zu beiden Geschlechtern
neigt und eine Sadistin, die feminine Männer ebenso gern
peinigt, wie normale Mädchen. In solchen Fällen ist die
Perversion als solche so vorherrschend, daß sie sich über
ein bestimmtes Geschlecht hinwegzusetzen scheint; die
Perversion hebt dann die Inversion auf. Theoretisch könnte
man wohl bei den sexuellen Zwischenstufen das Auftreten
der Bisexualität für naheliegend ansehen, wenn man die
Vereinigung männlicher und weiblicher Eigenschaften be-
rücksichtigt, die beide nach einer gewissen Ergänzung
streben. Anderseits ist aber zu bedenken, daß jeder
einzelne Geschlechtscharakter, zu denen doch auch schließ-
lich der Geschlechtstrieb gehört, sich entweder nach
männlicher oder weiblicher Richtung gestaltet, nicht nur
die einfach auftretenden, sondern auch die bisymmetrischen,
wie die Keimdrüsen. Daraus könnte man folgern, daß
das auch für das sexuelle Triebzentrum der Fall ist. Jeden-
falls halte ich einen ausgesprochenen unkomplizierten
Trieb zu beiden Geschlechtern für unwahrscheinlich, doch
wiederhole ich, daß ich in dieser Frage ein abschließendes
Urteil noch nicht abgeben möchte.
Viele H.-S. halten sich für bisexuell, bis sie von
einer „grande passion" befallen werden, an der sie den
Unterschied zwischen „lieb haben" und „lieben" gewahr
werden. Ich erinnere an den obengeschilderten Fall des
Oberlehrers. Es wurde bereits darauf hingewiesen, wie
schwer die Selbsterkenntnis des urnischen Seelenzustande*
ist, von dem man garnichts oder doch nur ganz Nach-
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— 42 —
teiliges gehört hat Selbst wenn die Erkenntnis allmählich
aufdämmert, sträubt sieh bei den meisten der Verstand
mit aller Kraft gegen das Gefühl. Mehr wie einmal habe
ich aus körperlichen und geistigen Stigmen die Früh-
diagnose der Homosexualität stellen können, bei Personen,
die über ihre urnische Natur keine Ahnung hatten; spätere
Tatsachen bestätigten die Richtigkeit der Diagnose. So
fällt mir ein Herr ein, mit dem ich vielfach auf Gesell-
schaften zusammentraf. Einmal erzählte er mir von einem
uns beiden bekannten Selbstmörder und fügte ziemlich
wegwerfend hinzu „er soll mit Männern geschlechtlichen
Umgang gehabt haben." Ich konnte mich nicht enthalten,
ihm zu erwidern: „Wissen sie wer ebenso empfindet?
Sie selbst ; Ihre keusche Kameradschaftlichkeit dem Weibe
gegenüber, Ihre langjährige so starke Schwärmerei für
den Bildhauer X., Ihre weiblichen Charaktereigenschaften
und Bewegungen, Ihre Kunstfertigkeit die berühmte
Sängerin X. in Stimme und Haltung zu kopieren, sagen
genug." Er wies meine Annahme in breiten Auseinander-
setzungen mit großer Entschiedenheit zurück. 'Nach
längerer Zeit sah ich ihn wieder, glücklich über die endlich
erlangte Klarheit und innere Ruhe, die im Anschluß an
meinen berechtigten Hinweis bei ihm eingetreten waren.
Ist es schon schwierig, über die eigene Natur ein
* richtiges Urteil zu gewinnen, so schwer, daß manche
Unglückliche sich ihr ganzes Leben schuldig fühlen, ohue
es zu sein, so nimmt die Schwierigkeit noch zu, wenn es
sich darum handelt, die Ursachen eines von der Norm
abweichenden Seelenzustandes richtig zu bewerten. Jeder
Arzt weiß, wie unzuverlässig die Angaben eines Patienten
über, den Grund eines körperlichen Leidens sind, wie oft
für ererbte und bazilläre Krankheiten, beispielsweise
tuberkulöse, ein Trauma, eine Erkältung, Anstrengung oder
Aufregung als Ursache angegeben werden, während wir
doch genau wissen, daß keiner dieser Anlässe eine causa
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sufficiens abgeben kann, daß die Hauptbedingung vorher
da sein muß. Ist das schon auf körperlichem Gebiet
möglich, wie viel mehr auf geistigem. Der Laie führt
uervöse und psychische Störungen fast nie auf innere
Anlage, sondern stets auf äußere Ereignisse zurück.
Selbstverständlich wird daher ein geschulter und gewissen-
hafter Arzt alle Angaben seiner Klienten kritisch und
vergleichend würdigen müssen. Einem Arzt Leicht-
gläubigkeit vorzuwerfen, wie es in der Frage der Homo-
sexualität wiederholt geschehen ist, heißt ihn der Kritik-
losigkeit zeihen, und das bedeutet ein arges Mißtrauensvotum
in Bezug auf seine fachliche Tüchtigkeit. Ebenso arg ist
es aber auch, die Homosexuellen für verlogen zu erklären.
Schrenck-Notzing *) meinte, daß „die Selbstbekenntnisse der
Urninge nur mit großer Reserve zu berücksichtigen" seien.
Nur in einem mißt dieser Autor ihren Aussagen vollen
Glauben bei, nämlich in dem, was sie über den Heilerfolg
der Hypnose berichten, trotzdem es doch bekannt ist, wie
oft gerade Hypnotisierte dem um sie bemühten Arzt „par
complaisance" die Unwahrheit sagen. Während aber
Schrenck und Gramer*) nur unbewußte Autosuggestion
unter dem Einfluß diesbezüglicher Lektüre annehmen,
geht Bloch 8) bedeutend weiter, er spricht von subjektiven
Täuschungen und Fälschungen, die sich die Urninge
in ihren Autobiographieen zu schulden kommen ließen.
„Die kritiklosen Theorien eines Ulrichs," so meint Bloch,
„wurden von vielen Urningen für Wahrheit genommen
und auf deu eigenen Zustand übertragen." Und an einer
späteren Stelle 4) fügt er hinzu „Ulrichs Schriften, die von
') A. a. O. 8. 19f>.
9) A. Cramer. Die konträre Scxuulempfindung in ihren Be-
ziehungen zum § 175 des R.-Str.-(i.-B. Berliner klin. Wochenschrift
1897. N. 13. Seite 964.
') A. a. 0 S. 13.
») A. a. 0. S. 198.
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obscönen Details wimmeln, sind in den Händen aller
Urninge." Wie wohl wäre Ulrichs gewesen, wenn diese
Angabe auch nur durch hundert geteilt der Wahrheit
entspräche. In meinen Händen befindet sich ein Brief,
den Ulrichs aus Aquila am 6. Februar 1892, also drei
Jahre vor seinem Tode und zirka 30 Jahre nach dem
Erscheinen seiner eisten Bücher „über das Rätsel der
mannmännlichen Liebe/' an einen Bekannten in Deutschland
richtete. Er schildert in dem höchst interessanten aus-
führlichen Schriftstück seine Lage und bemerkt dann
wörtlich :
„Ihre Absicht, in anderer Weise etwas für mich zu
tun, ist sehr, sehr freundlich. Gewiß, aber setzt mich in
Verlegenheit, weiß nicht, was dazu sagen, wie mich dem-
gegenüber verhalten. Ein gewisses Schamgefühl hält mich
zurück, während ich Abonnements auf mein Blatt rück-
haltlos annehmen könnte. Mein lateinisches Blatt ist eine
kleine Uuterhaltungsschrift für lateinkundige Gebildete,
die sich nicht auf ein bestimmtes Feld beschränkt, vor-
zugsweise Prosa, doch auch kleine Poesien bringend ; er-
scheint etwa alle zwei Monat einmal. In meinen Schriften
habe ich wiederholt solche Gedanken ausgesprochen, wie
den Ihrigen, der mich erfreut hat, daß wir einen großen
unsichtbaren Bund bilden. Daß ich Heimat und Vater-
land hätte verlassen müssen, ist irrig. Niemand zwang
mich, Deutschland zu verlassen und jeden Augenblick
könnte ich zurückkehren. Die Schriften, die
Schriften sind es, die mich an den Bettelstab
gebracht haben, indem sie mir nichts ein-
brachten. Sie hätten längst neue Auflagen erleben
müssen. Statt dessen — o! Es ward mir so schwer,
überhaupt nur Buchhändler für diese Werke zu finden.'*
So schreibt der Mann, dessen Schriften sich in den
Händen jedes Urnings befinden sollen, freilich wird Bloch
diese Angaben nicht glauben, denn Ulrichs war ja ein
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— 45 -
Urning. Mit großer Entschiedenheit hat bereits Krafft-
Ebing den so bequemen Einwurf „er sei beschwindelt
worden" zurückgewiesen ,). Neuerdings ist auch Möbius *)
auf diese Beschuldigung eingegangen; er schreibt: „Die
Behauptung, diese Leute lögen oder machten sich selbst
etwas weiß, ist nicht haltbar, denn auch, wenn sie hie
und da zutrifft, bleiben so viele unantastbare Biographien
übrig, daß an der Ursprünglichkeit, der Macht und der
Dauer der abnormen Gefühle nicht zu zweifeln ist" Wir
möchten gegenüber dem schweren Vorwurf Blochs gegen
die Homosexuellen noch hervorheben, daß die große
Ubereinstimmung zahlloser Anamnesen von Urningen aller
Stände, namentlich auch von urnischen Arbeitern, die nie
ein Buch über den Gegenstand gelesen haben, die Wahr-
haftigkeit des Gesagten über allen Zweifel erhebt) ferner,
daß diese Angaben in einer sehr großen Zahl der Fälle
von den Angehörigen, Vätern, Müttern und Bekannten
bestätigt wurden, — erst vor kurzem konsultierte mich
ein protestantischer Geistlicher mit einem urnischen Sohn,
der ebenfalls Theologie studierte und sagte: »Er war von
Anfang an anders, wie meine 5 anderen Söhne.* Endlich
rühren die Mitteilungen oft genug von Urningen her, die
sich nie in ihrem Leben homosexuell betätigten, Leute von
unantastbarer Integrität, für die auch nicht der mindeste
Grund besteht, die Unwahrheit zu reden. Ich habe von
den vielen uns zur Verfügung stehenden Selbstbiographien
nur eine einzige im Anhang wiedergegeben, sie rührt von
einem ganz einfachen Arbeiter her, ist nicht einmal
orthographisch richtig geschrieben, aber für die Wahrheit
dessen, was dieser schlichte Mann aussagt, stehe ich ein,
wenn es überhaupt noch Treue und Glauben gibt Man
') In der Schrift „Uber sexuelle Perversionen" bei Urban und
Schwarzenberg. 1901. Seite 130.
*) Dr. P. J. Möbius in Leipzig. Geschlecht und Entartung
bei Marhold in Halle 1903. S. 30.
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— 4(5 —
lese dieses Lebensbild, wo kann da von einem Variations-
bedürfnis, von Reizhunger, der leichten Beeinflußbarkeit
des Geschlechtstriebes durch äußere Einwirkungen, von
Suggestion, Nachahmung oder choc fortuit die Rede sein?
Enthält nicht allein diese eine Biographie eine ganz
furchtbare Anklage gegen die Wachenfeld und Bloch,
welche in einer so wichtigen Frage vom grünen Tisch
ihr Urteil fällen, ohne die, welche sie richten, gesehen,
gehört, beobachtet und untersucht zu haben?
Es genügt natürlich nicht, die Lebensgeschichte der
H.-S. zu durchforschen, sondern ein jahrelanges Beob-
achten vieler Urninge aller Altersstufen und Stände,
ihrer Lebensäußerungen und Lebeusgewohnheiten ist not-
wendig, um sich über die Gesamtpersönlichkeit ein Urteil
bilden zu können. Diese Aufgabe wird dadurch er-
schwert, daß vielen Urningen nach Lage der Verhält-
nisse durch Selbsterziehung und Gewohnheit manches
zur „zweiten Natur- wird, was ihnen ursprünglich nicht
zukommt. Man wird bei der psychologischen Erkenntnis
nicht nur auf positive Äußerungen zu achten haben, sondern
auch auf negative Züge, so ist beispielsweise bei manchen
Uraniern die sexuelle Negierung des anderen Geschlechts
viel vorherrschender, als die durch intensive Geistes-
tätigkeit abgelenkte oder zum Schweigen gebrachte posi-
tive Neigung zum gleichen Geschlecht.
Sehr wesentlich wird die Exploration und Beob-
achtung unterstützt durch die Körperuntersuchung mög-
lichst zahlreicher Zwischenstufen aller Art. Den Sektionen
H.-S. können wir hingegen vorderhand noch keine so
hohe Bedeutung beimessen, solange das sexuelle Centrum
im Gehirn noch nicht ermittelt und wir über die Ge-
schlechtsunterschiedc zwischen männlichen und weiblichen
Gehirnen noch so wenig unterrichtet sind. Der von
Rüdinger gefundene und neuerdings von Waldeyer be-
stätigte Satz, daß die Windungen des Stirn- und Schlaf cn-
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- 47 —
lappeos beim Weibe schwächer entwickelt sind, wie beim
Manne stützt sich auf ein zu geringes Vergleichsmaterial,
als daß er eine Grundlage für die anatomische Unter-
suchung urnischer Leichen abgeben könnte, ebensowenig
wie die Geschlechtsunterschiede im Kleinhirn, auf die
wir später noch eingehender zurückkommen.
Wir sind mit den angegebenen Mitteln ohnedies in
der Lage, sofern nur eine genügende Zahl von Einzel-
beobachtungen vorliegt, ausreichende Schlüsse zu ziehen,
wir werden als Endergebnis dieser Objektforschungen den
sicheren Beweis erbringen können, daß der Uranismus
und das gleichgeschlechtliche Empfinden d. i. die Homo-
sexualität niemals durch äußere Ursachen erworben, nie
anerzogen, sondern stets angeboren ist.
I. Das urnische Kind.
Für das Angeborensein einer Eigenschaft ist es in
hohem Maße bezeichnend, wenn dieselbe, soweit die Er-
innerung reicht, nachweisbar ist. Bereits V. Magnan,
der große französische Psychiater, welcher die konträre
Sexualempfindung noch zu den Geistesstörungen der Ent-
arteten zählt, sagt:1) „Sie zeigt sich oft schon in früher
Jugend und gerade das ist charakteristisch ; nichts spricht
deutlicher für die ererbte Beschaffenheit dieser Anomalie,
als ihr frühzeitiges Auftreten." Und zwei Jahre zuvor
bemerkt derselbe in einer audcren Vorlesung: „Es handelt
sich bei dem Zustand, den Westphal konträre Sexual-
empfindung nannte und Charcot und ich als Verkehrung
des geschlechtlichen Empfindens (inversion du sens genital)
') Psychiatrische Vorlesungen, 11,111. Heft übersetzt von Möbius
Leipzig bei Thieme 1892 in der 11. aus dem Jahre 1887 stammenden
Vorlesung Seite 2G und in der III. über geschlechtliche Ab-
weichungen und Verkehrungen vom Januar 1885.
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beschrieben, um ein ab ovo krankhaftes Gefühl, denn die
Störung macht sich schon in früher Jugend, zuweilen vom
fünften Jahr an geltend, also bevor fehlerhafte Erziehung
oder lasterhafte Gewohnheit den Menschen verderben
können.* Ganz vortrefflich meint auch Schrenek-Notzing:*)
„Sehr wichtig für die originäre Anlage zur konträren
Sexualempfindung ist der Nachweis, daß der weibliche
Typus im männlichen Kinde schon vor der Zeit der
ersten sexuellen Regungen (nicht der Pubertät)
charakterologisch sich entwickeln und daß aus diesem
weiblichen Charakter, als eine folgerichtige Teilerscheinung,
weibliches Geschlechtsgefühl entstand ohne den Zwang
äußerer Verhältnisse.1* Schrenck hielt 1892, als er dies
schrieb, diesen Nachweis nicht erbracht, heute scheint es
mir sicher zu stehen, daß der Uranier von vornherein den
Stempel seiner körperlichen und geistigen Eigentümlichkeit
trägt. Seine Besonderheit ist von frühester Jugend vor-
handen, während sie bei anderen beispielsweise bei Ge-
schwistern trotz gleicher Erziehung und gleichem Milieu
fehlt Jeder Homosexuelle erinnert sich, daß er anders
geartet war, als die gewöhnlichen Knaben. Sehr oft war
ihm die Tatsache, wenn auch nicht die Ursache,
schon während der Schulzeit klar. Weniger von ihm
selbst, umsomehr aber von den Angehörigen und Fern-
stehenden wird in dieser Eigenart das Mädchenhafte er-
kannt. Wir geben einige Urteile der Umgebung wieder,
die in größter Mannigfaltigkeit vorliegen. Ein homo-
sexueller Schriftsteller schreibt: „Das Wort: „Du wärst
besser ein Mädchen geworden," habe ich unendlich oft
hören müssen. Als fünfjähriger Junge nahm ich oft ein
Tuch und schlug es um, sodaß es schleppte, und sagte:
nun bin ich ein Mädchen; das war mein größtes Ver-
gnügen! Von Knaben zog ich mich zurück, ohne aber
*) A. a. 0. S. 194. Aus dem Jahre 1882.
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damals einzusehen, daß ich anders geartet war." Ein
urnischer Chemiker, der sich noch nie in seinem Leben
betätigte, berichtet: „Ich war als Kind sehr artig und
habe im Gegensatz zu meinen Brüdern von meinen Eltern
nie Prügel bekommen. Onanie ist mir unbekannt. Die
wilden Knabenspiele waren mir zuwider, ich schloß mich
mit Vorliebe an Mädchen an und hatte deswegen viel
Neckerei und Spott zu erdulden; das war mir
sehr unangenehm, doch konnte ich nicht dagegen an.
Ich liebte zu nähen, zu stricken, beim Kochen und Backen
zu helfen und mich mit Bändern wie ein kleines Mädchen
zu schmücken. Es ist mir jetzt immer sehr peinlich,
wenn diese Jugenderinnerungen von Angehörigen ausge-
kramt werden." Andere Mitteilungen von Urningen lauten:
„Im Kadettenkorps hieß ich die keusche Jungfrau." „In
der Schule nannte man mich allgemein Fräulein." „Als
ich 13 Jahre alt war, sagte unser Hausarzt, ich sei kein
Kerl, sondern ein hysterisches Frauenzimmer." „Mein
Vater rief mich Wilhelmine." „In der Tanzstunde nannten
mich die Damen: Willy mit den Mädchenaugen." „Schon
zu Hause, wie später in der vornehmen Gesellschaft führte
ich den Spitznamen: Die Baronesse." „Wenn ich einen
Stein in die Luft warf, sagten die Jugendgespielen: Dä
Widdigs Jong wirft grad wie ein Mädchen" „Meine
Mutter sagte oft von mir, er ist meine kleine Tochter."
„Von mir und meiner ältesten Schwester hieß es stets,
wir seien verwechselt worden." „Man meinte stets, meine
Schwester hätte der Junge und ich das Mädel werden
sollen." „Als Kind schon hieß ich Mademoiselle." „Zu
Hause nannte man mich den Träumer.* „Als ich klein
war kämmte man mir die Haare ins Gesicht und freute
sich: der Junge sieht wie eine kleines Mädchen aus.* „Es
wurde oft gesagt, er ist kein Junge." „Meine Stiefmutter
meinte: er ersetzt mir mehr als eine Tochter." Urnische
Damen berichten: „So lange ich denken kann, wurde ich
JahrUicb V. 4
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boy genannt". Eine andere: „Schon als Kind trug ich
mit Vorliebe Mütze und Rock meines Vaters, kletterte
auf die höchsten Bäume und wurde immer Junge gerufen."
Oft nutzen die Angehörigen die Veranlagung urnischer
Kinder aus. Die Väter fühlen sich zu urnischen Töchtern
besonders hingezogen — man denke an das der Wirk-
lichkeit fein abgelauschte Verhältnis zwischen Bildhauer
Kramer und seiner Tochter Michaelina in Gerhardt Haupt-
manns Michael Kramer — die Mütter hingegen lieben
besonders ihre urnischen Söhne, welche sie gern zu
allerlei häuslichen Beschäftigungen, wie Beaufsichtigung
der Geschwister, verwenden. Man glaube nur nicht, daß
erst durch die Erziehung diese femininen oder virilen
Eigenschaften hervorgerufen werden, bei einem nicht
urnischen Knaben würde die Mutter überhaupt nicht
solche Verwendung- Versuchen. Auch hier noch zwei
Beispiele. „Meme 'neue Mama — schreibt W. v. S. —
ließ sich die Vorzüge meiner angeborene^ Mädcheunatur
wohl gefallen, ich Verstand im Haushak IÜ1 es so gut, daß
sie sich um nichts zuhämmern brauchte, ihre Toiletten
lagen vollendet bereit zu jeder Gelegenheit des Tages,
das Haar wurde frisiert, die Hüte auf das modernste
garniert^ die Wirtschaft besorgt, Menüs bestellt und über-
wacht, eigenhändig die Tafel dekoriert, und kam ich
dann zu den Gästen in den Salon, hieß es zu nicht
geringem Erstaunen der Anwesenden: „So jetzt ist meine
Tochter fertig, nun kann der Sohn uns etwas vorsingen."
Gute Alte, ich höre sie noch und habe sie so lieb, wie
ich ihr aber letztes Jahr die Augen öffnete über die
Tochterschaft ihres vermeintlichen Sohnes, litt und kämpfte
sie sehr, leider vergeblich.* Ein junger Leutnant erzählt:
„Sobald ich dem Schulzimmer entflohen war, eilte ich zu
raeinen Freundinnen; ich galt überhaupt bei Bekannten
und Lehrern als Musterknabe. Meine Mutter liebte es,
mich zu ihren Geschäftsgängen mitzunehmen und fragte
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mich dann bei Einkäufen, wie mir dieses oder jenes
gefiele. Bei jedem neuen Hut, den sich meine Mutter
kaufte, wurde ich als Modell verwandt, das heißt, mir
wurden die verschiedenen Damenhüte auf den Kopf
gesetzt und der mich am besten kleidete, den erkor
meine Mutter für sich. „Du siehst wie ein kleines Mäd-
chen aus, sagte mir meine Mutter häufig bei der Hut-
probe, schade, daß du kein Mädel geworden bist." Der-
selbe Gewährsmann gibt noch folgende sehr bezeichnende
Schilderung: „Mein Vater war Offizier und seinem
Willen gemäß sollten seine drei Söhne auch Offiziere
werden. Ich stand im 13. Lebensjahr, als ich zum
Kadettenkorps einberufen wurde. Von meinen Vorge-
setzten habe ich nur Gutes erfahren, da ich selbst ein
recht braver Schüler war und zum Tadeln wenig Veran-
lassung bot. An den wilden Jugendspielen beteiligte ich
mich wenig und nur auf höheren Befehl, mein liebstes
waren Plauderstündchen mit gleichgesinnten Kameraden,
die wilden mied ich, eines Tages aber konnte ich die
Erfahrung machen, daß ein solch wilder Bursche eine
besondere Zuneigung zu mir faßte, mich öfters mit Kleinig-
keiten beschenkte und mir half, wo er helfen konnte,
dabei bemerkte er, ich besäße ein so „ätherisches Wesen",
das gefiele ihm so, er behauptete, ich duftete immer nach
Vanille. Im Singen war ich die Säule des Soprans, wie
der Lehrer sich ausdrückte, und als in der Literatur-
stunde Schillers Jungfrau von Orleans mit verteilten
Rollen gelesen werden sollte, und es sich um die Be-
setzung der Jeanne d'Arc handelte, da war raein Lehrer
keinen Augenblick im Zweifel und übertrug dieselbe mir
unter allgemeiner Akklamation der Kameraden. Von da
ab behielt ich im Korps den Titel: „Jungfrau von
Orleans" oder auch „Fräulein Johanna."" Die Vorliebe
der normalsexuellen für den urnischen Mitschüler, dessen
weibliche Grundnatur sie instinctiv herausfühlen, ist sehr
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charakteristisch ; so berichtet ein anderer Offizier, der auf
einer Ritterakademie erzogen wurde, daß, als er 13 Jahre
alt war, fast alle älteren Knaben in ihn verliebt waren.
Mit der Mädchenhaftigkeit hängt es auch zusammen,
daß urnische Knaben oft eine sehr große Ähnlichkeit mit
der Mutter haben, bei manchen wird auch die auffallende
Übereinstimmung mit der Großmutter hervorgehoben.
Doch ist beides durchaus nicht durchgängig der Fall, viel-
mehr zeigt die Erfahrung, daß ebenso wie die männlichen
und weiblichen auch die urnischen Kinder körperlich und
geistig unter dem Einfluß der gemischten und latenten
Vererbung stehen. Viele scheinen in der Jugend mehr
der Mutter, später mehr dem Vater zu gleichen.
Von manchen Seiten, besonders von Tarnowsky, ist
vorgeschlagen, Knaben, welche zu weiblichen Beschäfti-
gungen neigen, recht zu verspotten, um so der Entwick-
lung homosexueller Triebe vorzubeugen. Es heißt die
Macht der Erziehung weit überschätzen, wenn man an-
nimmt, daß eine so tief in der Persönlichkeit wurzelnde
Triebkraft dadurch nennenswert beeinflußt werden könnte.
Wir halten diese prophylaktische Maßnahme nicht nur
für wirkungslos, sondern auch für verhängnisvoll, weil sie
geeignet ist, das ohnehin schüchterne, empfindsame, zum
Weinen geneigte urnische Kind noch zaghafter und scheuer
zu machen. Diese Kleinen spüren es instinktiv, daß sie
eigentlich weder zu den Knaben, noch zu den Mädchen
gehören, ihr Selbstvertrauen leidet unter diesem Zwiespalt,
sie nehmen alles tiefer und ernster wie die gleichaltrigen
Kameraden. Unter den jugendlichen Selbstmördern, die
sich wegen gekränkten Ehrgeizes ein Leid antun, befinden
sich gewiß relativ viel urnische Knaben. Eine wohl-
bedachte Erziehung sollte das psychologische Erfassen der
Kindesseele zur Grundlage haben, sie sollte individuali-
sieren, indem sie die vorhandenen guten Keime in die
rechten Bahnen leitet, die schlechten Anlagen liebevoll
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hemmt. Statt dessen wird in völliger Unkenntnis der
Kindesnatur von Eltern und Lehrern nur zu oft generali-
siert. Gerade die urnische Kindesseele, welche sich schon
deutlich von der Knabenseele durch eine größere Rezeptivi-
tät, von der Mädchenseele durch stärkere Produktivität
unterscheidet, enthält viele Keime, deren sorgsame Pflege
sich außerordentlich verlohnen würde.
Die meist in hohem Maße vorhandene geistige Be-
fähigung urnischer Kinder wird durch eine gewisse Unsicher-
heit und Verträumtheit, oft auch durch Zerstreutheit
infolge allzureger Phantasie wesentlich beeinträchtigt, doch
kommen die meisten recht gut in der Schule mit, eine
besondere Vorliebe besteht für schöngeistige Fächer,
namentlich Literatur, für Geschichte und Geographie,
Musik und Zeichen, etwas weniger für Sprachen, dagegen
zeigen sich von 100 urnischen Kindern 90 ungewöhnlich
schwach für Mathematik veranlagt. Merkwürdig erscheint
es demgegenüber, daß von den übrig bleibenden 10°io
jedoch 4 eine weit über dem Durchschnitt stehende mathe-
matische Befähigung aufweisen. So schreibt ein urnischer
Ingenieur: „Ich habe auf dem Fragebogen meine geistigen
Fähigkeiten als m hervorragend* bezeichnet, denn ich darf
ohne Uberhebung sagen, daß ich als Knabe das Durch-
schnittsinaß sicherlich ganz erheblich überragte. Ich war
vor allen Dingen als guter Rechner und Mathematiker
bekannt und von den Kameraden war meine Hülfe bei
ihren Arbeiten stark gesucht. Vokabeln lernte ich spielend
leicht. Zu Hause zu arbeiten, hatte ich überhaupt nicht
nötig, ich lernte alles bei der ersten Durchnahme in der
Schule. Das sogenannte Präparieren und Repetieren
kannte ich überhaupt nicht, ich extemporierte stets, ob
es sich um lateinische, griechische, französische oder
englische Klassiker handelte. In Mathematik überraschte
ich meine Lehrer häufig durch rasche, elegante Lösung
der Konstruktionsaufgaben und fand ein großes Vergnügen
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daran, meine Lehrer selbst gelegentlich „hineinzulegen."
Den Primusplatz hatte ich bis in die oberen Klassen
inne." Was die übrigen Fächer anbelangt, so besteht um
die Reifezeit herum bei urnischen Knaben oft eine starke
religiöse Schwärmerei, zum Turnen mangelt es oft an
Muskelkraft und Mut, doch wird dieser Ausfall durch
Geschicklichkeit, ästhetisches Wohlgefallen an den körper-
liehen Übungen der Mitwirkenden und Eifer, es ihnen
nachzutun, ausgeglichen.
Das Interesse für den Unterrichtsgegenstand steht
bei vielen im engsten Zusammenhang mit der Person des
Lehrers. Die Verehrung urnischer Knaben für manche
Lehrer, diejenige urnischer Mädchen für bestimmte
Lehrerinnen und Erzieherinnen trägt oft den Charakter
hochgradiger Schwärmerei. Daneben geht neben einer
Zurückhaltung vor den übrigen Mitschülern meist eine
heftige Zuneigung zu einem Kameraden, dessen Gesichts-
typus besonders reizt; vielfach ist derselbe aus einer
anderen Klasse oder Schule. Masturbiert der urnische
Junge, was häufig der Fall ist, so geschieht es ohne
Phantasiegebilde oder unter Vorstellung männlicher
Personen, manche haben Abneigung vor solitärer, dagegen
Hang zu mutueller Onanie. Im Traum spielen lange vor
dem Erwachen des eigentlichen Geschlechtstriebes hübsche
Kameraden eine große Rolle. Ein Urning teilt uns mit:
„Es bestanden schon sehr frühe schwärmerische, unbewußt
gleichgeschlechtliche Empfindungen, eine besondere Vor-
liebe hatte ich für schöne Ministranten und das schon
mit 8, 9 Jahren. Ich konnte mich nicht satt an ihnen
sehen, im Traume schwebten sie mir wieder und wieder
vor." Die leidenschaftliche Zuneigung uruischer Kinder
für Personen desselben Geschlechts ist von den kamerad-
schaftlichen Verhältnissen normaler Knaben, die auch oft
einen erotischen Beigeschmack haben, wesentlich ver-
schieden, indem es sich bei letzteren oft nur um einen
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starken Freundschaftsenthusiasmus, oft um das instink-
tive Herausfühlen des Andersgeschlechtlichen, Mädchen-
haften im Urningsknaben, oder auch um rein onanistische
Manipulationen handelt Ich halte die namentlich von
Professor Dessoir vertretene Auffassung, daß der präpu-
bische Geschlechtstrieb undifferenziert ist, nur insofern
für richtig, als er nach der Reife erst klarer ins Bewußtsein
tritt. Wie alle Geschlechtszeichen bereits vor ihrer Ent-
faltung latent einen bestimmten Charakter tragen, so auch
der Trieb. Nur so sind die vom heterosexuellen Kinde
sichtlich abweichenden Ereignisse zu verstehen, die sich
im Urningskinde abspielen, von denen ich noch einige
recht anschauliche Belege geben will; die ersten drei
Schilderungen rühren von Edelleuten, die vierte von einem
Kaufmann her.
1. Als Kind lebte ich in Märchenphantasieen und bekam
häufig Schelte, weil ich mir mit den Spielsachen meiner Schwester
lieber zu schaffen machte, als mit Peitsche, Schaukelpferd und
Zinnsoldaten. 1870 — ich war 8 Jahre — kam ein Wirtschafts-
inspektor zu uns, der mich Willig bezauberte. Ich starrte diesen
Mann bei Tische so unablässig an, daß mein Vater mich fragte,
was ich an ihm habe, worauf ich erwiderte, sein rötlicher Bart
gefiele mir Uber alles. Verabschiedete siob dieser Herr am Abend
von meinen Eltern, lief ich ihm auf den Korridor des Hauses
nach und erbettelte einen Kuß von ihm. Hatte ich einen solchen
erlangt, drückte ich diesen Kuß in meine Linke, ballte diese zur
Faust und nahm den Kuß so mit zu Bett, um in der Dunkelheit
die Hand immer wieder zu küssen, bis ich einschlief. Sehr liebte
ich es auch, den Inspektor Sonntags in seinem Zimmer zu be-
suchen und, wenn er auf dem Sofa lag, mich neben ihm hinzu-
strecken.
2. Ich haßte Knaben und Knabenspiele; das größte Glück
war mir und meiner um 1 V« Jahr jüngeren Schwester unser
gegenseitiges, überaus inniges Verhältnis. Wir waren beide Uber-
all die Lieblinge, sie brünett, graziös und energisch, ich blond,
sinnend, träumerisch, am glücklichsten waren wir ohne andere
Menschen. Meine Schwester war mein alter ego, während mein
1H Jahre älterer Bruder, ein sehr schöner Mann, mein lojähriges
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reines, unschuldiges Herz furchtbar verwirrte. Ich habe ihn weit
mehr seiner Schönheit, als seiner guten Eigenschaften wegen an-
gebetet. Dabei wurde ich äußerlich immer schroffer gegen ihn.
Mit 10 Jahren weinte ich eine ganze Nacht, als ich mich in seiner
mir schaurig-süßen Gegenwart zur Ruhe habe begeben müssen.
Ich empfand ein Schamgefühl, wie ich es in Vaters, Muttern und
Schwester» Gegenwart nicht kannte. Ich erinnere mich genau,
daß im 6. oder 7. Jahr vorübergehend meines Bruders Schönheit
mir wie ein geoffenbartes Mysterium durch Mark und Bein zitterte.
Klar und bewußt, natürlich als tiefstes Geheimnis zumal vor ihm,
habe ich ihn vom 10. bis 15. Jahr angebetet, am höchsten stand
diese Verehrung vom 10. bis 12. Jahr, als er sich verheiratete.
Ich war totunglücklich, daß er uns dadurch ferner rückte und
empfand es als etwas Entsetzliches, daß er, wie ich glaubte, nun
seine Jungfräulichkeit einbüßte.
3. Ich bin auf dem Lande unter denkbar günstigen Verhält-
nissen aufgewachsen als achtes Kind unter neun Geschwistern,
von denen eine Schwester früh am Scharlach starb, zwei erlagen
der Schwindsucht während ihrer Brautzeit. Erwiesenermaßen ist
die Krankheit vom Bräutigam erst auf die eine, dann auf die
andere übertragen worden. Dies sind die einzigen Piüle von
Lungenschwindsucht, die überhaupt in unserer Familie vorge-
kommen. Meine Brüder und meine übrigen Geschwister sind das
Bild der Gesundheit, wie ich selber. Von Kinderkrankheiten hatte
ich nur Masern und Keuchhusten, neigte aber bei den geringsten
Erkältungen sehr leicht zu Jieber, was sich aber seit meinem
zehnten und elften Jahre gänzlich gegeben hat.
Das Entzücken meiner Kindheit war das Puppenspiel. Mit
ausschweifendster Phantasie begabt, zeichnete und schrieb ich, so
gut als ich es damals vermochte, Modejournale für meine Lieb-
linge. Ich erfand zum Entsetzen meiner jüngsten Schwester,
meiner Spielgefährtin, die abnormsten Kostüme, ineist Schlepp-
te wänder aus zarten, durchsichtigen Stoffen und Schleiern; insze-
nierte Tauf- Sterbe- und Heiratszenen, ich hielt Reden, bei denen
ich mich selber zu Tränen rührte.
Ich lernte sehr rasch und leicht, hatte aber ein sehlechtes
Gedächtnis für Zahlen, während ich frühzeitig Liebe und Talent
für lebende Sprachen entwickelte, bei deren Erlernung sich stets
mein Gedächtnis als treu und fest erwies. Mit ziemlichem Wider-
willen dagegen betrieb ich Griechisch und Lateinisch. Mathematik
ist stets meine größte Schwäche gewesen, und bin ich darin,
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trotzdem ich seinerzeit die Abitnrientenprüfung in allen Khren
bestanden, unglaublich unwissend.
Prtih hatte ich ein leidenschaftliches Verlangen selbst schrift-
stellerisch tätig ku sein« Mit acht Jahren verfaßte ich ein Lust-
spiel, das als Kuriosum noch bis heute in unserer Familie erhalten
blieb. Ohne je einen Roman gelesen zu haben, schrieb ich etwa
ein halbes Mutzend so betitelter Sachen in meinem zehnten, elften
und zwölften Jahre. Ich habe einiges davon autbewahrt, und lese
manchmal noch mit stiller Freude gewisse Stellen, die ich mir in
absoluter Unkenntnis des sexuellen Lebens geleistet. So lasse ich
denn unter anderem ein Paar Zwillinge Uber Nacht im Bett des
Vaters zur Welt kommen. Am Morgen bemerkt der Entzückte
die Überraschung, und beeilt sich, der ahnungslosen Mutter die
Freudenbotschaft zu Uberbringen.
Da es mir verboten war, andere Sprachen, als die in der
Schule gelehrten zu betreiben, so verfaßte ich heimlich eine eigens
erfundene Sprache mit besonderen Buchstaben. Ich schrieb eine
eigene Grammatik, in der Regeln mit den ungeheuerlichsten Aus-
nahmen vorherrschend waren; ich verfaßte Übungsbücher und
Lexika. Ein Resultat der Stunden der physikalischen Geographie
waren eigens gezeichnete, gemalte und geschriebene Karten von
unseren Buchten und inselreichen Seen, zu einer Zeit, wo ich mir
das Wasser als Land und das Land als Wasser dachte. Ja ich
schrieb sogar eine Geschichte der damals dort lebenden Völker
und deren tragischen Untergang infolge vulkanischer Eruptionen,
welche dann schließlich die heutige Gestalt der Erdoberfläche zur
Folge hatten.
Üie ersten noch unbewußten Regungen des homosexuellen
Lebens fallen etwa ins zehnte und elfte Jahr. Wir hatten einen
Kutscher, einen schönen und kräftig gebauten Menschen mit
dunkelm, langem Schnurrbart. Es machte mir stets Vergnügen,
um ihn zu sein und ihn in seinen hohen Stiefeln, Lederhosen und
Livreerock oder Winters in seinem russischen Schafpelz zu
betrachten. Ich hatte schließlich das unwiderstehliche Verlangen,
ihn zu umarmen, da das aber schwer anging, so schlich ich mich
öfters, wenn ich ihn bei der Arbeit wußte, in seine Wohnung,
schlüpfte in seine riesigen Stiefel, hing seinen Rock oder Pelz um
mich und hatte ein Gefühl des seligsten Wohlbehagens. Ich
drückte die Kleidungsstücke fest und krampfhaft an mich, und
der Geruch der Lederstiefel und der ledernen Hosen, welche ich
auf meinem Schoß hielt und öfters an mich drückte, verbunden
mit dem Gedanken an den schönen groß gebauten Kutscher, den
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ich mir dachte, indem ich die Kleidungsstücke an meinem Körper
befühlte, verursachten mir heftige Erektionen, über die ich jedes-
mal, ohne mir bewußt zu sein infolge wovon sie entstanden, ent-
setzt war, da ich sie für eine krankhafte Erscheinung hielt.
Eines Tages, nach reiflichem Hin- und Herdenken, wußte ich mit
Hilfe meiner Kameraden, Knaben, die mit mir erzogen wurden,
eine Szene ins Werk zu setzen, bei welcher der Kwtscher veran-
lagt wurde, mich zu sioh emporzuheben. Diese Gelegenheit
benutzte ich nun, da meine Kameraden mich ihm entreißen wollten,
meine Wange an sein bärtiges Gesicht zu legen, meinen Arm um
seinen Nacken zu schlingen und meine Beine fest an seinen Körper
zu pressen. Ich schloß die Augen und verspürte ein Gefühl
schwindelnder Wunne.
Im Sommer pflegten wir ein Haus am Strande zu beziehen.
Dicht an der Veranda, zwischen Haus und Meer, führte eine
Straße vorbei, auf welcher zu gewissen Stunden die Strandgen-
darmen vorbei patroullierten. Ich fühlte mich sofort zu
den strammen Kerlen mit hohen Stiefeln, straffer Uniform und
gebräunten Gesichtern mit flottem Schnurrbart, hingezogen. Bald
konzentrierte sich all mein Denken auf sie. Abends im Bett, vor
dem Einschlafen, malte ich mir die ungeheuerlichsten Szeneu aus:
Es klopft ans Fenster, ich öffne neugierig, da langt plötzüch eine
braune Hand, ein Arm herein, an dessen Ärmel ich die mili-
tärischen Aufschläge und Knöpfe wahrnehme. Ehe ich mich
umsehe, werde ioh hinausgezogen. Unter dem militärischen Mantel
geborgen, an der Brust eines Mannes Hegend, den ich fest, fest
umklammere, ho daß ich mein und sein Herz zusammen schlagen
höre, werde ich eilenden Schrittes davongetragen. Dazu höre ich
den Säbel klirren, empfinde den festen Tritt der derben Stiefel
und den Ledergeruch, den sie ausströmen. In eine Hütte tief
im Walde bringt mich der Gendarm, er legt mich in sein Bett,
küßt mich und legt sich dann mir zur Seite, ich klammere mich
fest nn ihn — und bin endlos glücklich, selig. Resultat
dieser Phantasien waren die Träume, in denen sie fortgesponnen
wurden, wobei ioh zum erstenmal Pollutionen hatte, bei denen ich
stets erwachte und entsetzt war über die merkwürdige Erschei-
nung, die ioh für eine Krankheit hielt.
Schließlich verspürte ich ein riesiges Verlangen, diese Phan-
tasien zu verwirkuchen. — Abends wenn es bereits dämmerte,
versteckte ich mich im Walde hinter einen Busch an der Straße
auf welcher der Gendarm vorbei kommen mußte. Wie klopfte
mein Herz, wenn ich seine Schritte hörte Oft ging er so nahe
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vorbei, daß ich nur meine Hand hätte auszustrecken brauchen,
um «eine Füße zu berühren — aber ich tat nichts dergleichen —
in einer Art Starrkrampf lag ich da, mit geschlossenen Augen, in
der Hoffnung, er würde mich entdecken, unter seineu Mantel stecken
und mit mir davon gehen — wie im Traum. Da das zu meinem
unendlichen Kummer nie geschah, gab ich die vergeblichen Ver-
suche schließlich auf und tröstete mich in meinen Phantasien. —
Meinen Angehörigen teilte ich nie etwas von meinen Gedanken
und Gefühlen mit — nicht weil ich etwas Unrechtes zu tun
glaubte, aber doch wohl, weil ich mir schon damals unwillkürlich
werde bewußt gewesen sein, etwas zu empfinden, das nur mir
selber verständlich war. — —
Ein anderes Erlebnis Bteht lebhaft in meiner Erinnerung.
Es ist ein wolkenloser, sonnig klarer Herbsttag. Das Getreide
ist geschnitten und liegt in schimmernden Garben auf dein Stop-
pelfelde. Das Laub der Bäume in den Alleen und Gärten schim-
mert gelblich, rötlich, und in der Ferne, vom dunkelsten Grün
bis in die hellsten Schattierungen des Blau, dem Himmel gleich,
»ich verlierend, die endlosen Wälder meiner Heimat. Wir Jungens
sind auf der Jagd nach Feldmäusen, die wir unter den Getreide-
haufen hervorscheuchen. Da ein heller, schallender Ton, der mich
aufhorchen macht — und in der Richtung, wo er herkommt, da
blitzt und glitzert es. Die Musik wird lauter — und das Blitzen
und Funkeln, das auf der Landstraße näher und näher kommt,
ist ein Trupp Soldaten mit blinkenden Säbeln und Flinten. Jetzt
biegen sie von der Straße ab und marschieren über die Wiese,
die sich längst dem Felde hinzieht, auf dem wir uns befinden.
Den Soldaten voran marschiert ein Offizier, der erste, den ich
in meinem Leben gesehen. — Er ist groß und kräftig, mit blon-
dem Schnurrbart und blauen, froh leuchtenden Augen. Jede
Bewegung an ihm ist Kraft und Leben und Freude mir ist,
als wäre er die lustige Militärmusik, die ich hörte, als wäre er
der klare wolkenlose Himmel und die reine, köstliche Herbstluft,
die mich umgab. Es überkommt mich ein Gefühl großer endloser
Freude, ein Gefühl edler Taten- und Schaffensfreudigkeit und
zugleich eines schrecklichen, mich erstickenden Sehnens, so daß
ich unwillkürlich die Hände emporstrecke — und dann zu weinen
beginne — mir selber nicht bewußt warum. — Die anderen Knaben
waren den davonmarschierenden Soldaten nachgelaufeu, so war ich
unbeachtet geblieben. — Zu Hause angekommen, erfuhr ich, daß
der Offizier unser Gast war. — Aus welcher Veranlassung damals
sich dvr kleine Trupp Soldaten in unsere welteutlegene Wald-
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einsamkeit verirrt hatte, vermag ich heute nicht zu sagen.
Im Vorhause entdeckte ich den Säbel und Mantel des Offiziers.
Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, den Säbel zu
befühlen, und meinen Kopf in den Mantel zu stecken, wobei mir,
mit den peinlichsten Erektionen verbunden, deutlich die Szene auf
dem Felde vor Augen stand. — Bei Tisch, wo ich kaum meine
Augen zu erheben wagte, fesselten die strammen Heine unseres
Gastes meine Aufmerksamkeit. Ich hätte diese Beine, in der
kleidsamen Uniform sitzend, umarmen und drucken mögen. Beim
Abschiede bängte mir der Offizier ein goldenes Kreuzchen, an
einer braunseidenen Schnur, um den Hals. Ich war damals, wie
wenigstens meine älteren Geschwister behaupten, ein ausnehmend
hübscher Junge. — Das Geschenk machte mich selig. Man stelle
sich daher meinen Schmerz und meine Wut vor, wie meine streng
orthodoxe, evangelisch-lutherische Mutter mir verbot das Kreuz
zn tragen, weil es ein nach griechisch-katholischem Muster
geformtes war, und es mir einfach fort nahm. Ich heulte, aber
was half es! Noch Jahre ist der Besitz dieses Kreuzes «las höchste
Ziel meiner Wünsche gewesen, ja ich ging sogar einmal mit dem
Gedanken um, den Schreibtisch meiner Mutter zu erbrechen, um
mich so in den Besitz des Heiligtums zu bringen. Aber die
Jahre vergingen, und das Kreuz ist in Vergessenheit geraten.
1. Mein Vater las und studierte viel, zum Landwirt war er
garnicht geeignet. Störungen liebte er garnicht. Wenn wir zu
laut wurden, und dann sein Befehl „Ruhe* bis in die Kinderstube
drang, wurden wir sofort vor Schreck mäuschenstill. Wir mieden
die Zimmer, in welchen er sich aufhielt, tunlichst und waren ihm
eigentlich stets merkwürdig fremd geblieben. Um mein Seelen-
leben hat er sich nie recht bekümmert. Mein weibliches Wesen,
meine mädchenhaften Eigenheiten entgingen selbstverständlich
ihm ebensowenig, wie Anderen. „Der Junge ist das richtige
Mädel", äußerte, er Hich zu meinem Ärger oft Fremden gegenüber.
Mit Zinnsoldaten spielte ich nur, weil ich als Junge doch eigent-
lich mußte. Das war der Beginn meines Urningschicksals: im
Leben stets Komödie spielen zu müssen, beständig etwas Anderes
vorstellen zu müssen, als man in Wirklichkeit gern möchte.
Am liebsten stellten meine Schwester und ich erwachsene
Herren und Damen dar. Meiner Schwester imponierten die
schwarzen Husarenoffiziere der Gurnison, die ständige Besucher
unseres gastlichen Elternhauses waren und sich manchmal auf
Bällen den Scherz machten, die kleine Dame zu einer Extratour
zu engagieren. Sie umgürtete sich mit einer Elle als Säbel,
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stülpte einen ausrangierten, altmodischen mütterlichen Muff auf
den Kopf, machte sich aus Blumendraht ein Monokel und stellte
den Herrn Leutnant vor. — Ich entlehnte dem Wäschekasten
eine gebrauchte Kuchenschürze, die ich verkehrt umband, um die
Schleppe zu markieren, hing mir Mamas alte Mantille um und
setzte den Gartenhut meiner Schwester, dem ich durch einen
Fliederzweig oder eine dem Gärtner entwendete Rose mehr Chic
zu geben suchte, kokett auf den Hinterkopf, um vorn Raum genug
ilir die „Stirnlöckchen" zu haben, und bildete mir ein, nun eine
sehr schöne und vornehme Dame zu sein. „Gnädiges Fräulein
haben beute wieder ganz wun-der-bare Toilette gemacht", näselte
dann meine Schwester, die Hacken zusammennehmend. „Ach,
Herr Leutnant, es ist nur ein ganz einfaches Kleid," flötete ich,
meiner Meinung nach sehr distinguiert die Augen aufschlagend,
indem ich die Kattunschleppe meiner imaginären Seidenrobe
möglichst graziös aufraffte und mir mit einem grollen Klettenblatt,
welches den Fächer vorzustellen hatte, Kühlung zuwehte. Als
ich in der Stadt zur Schule kam, fingen meine Leidensjahre an.
Ein nicht normal veranlagtes Kind sollte man nicht nach der
Schablone erziehen. Für mich hätte ein einsichtsvoller Privat-
lehrer ein Segen soin können. Das Gymnasium, zu dessen Zierden
ich fortan zählen sollte, war für mich — in den ersten Jahren
wenigstens — einfach eine Marter. Wenn man ein kleines,
schüchternes Mädchen in eine Klasse von 40 bis 50 wilden Jungen
steckt, wird es sich unter diesen sioher nicht behaglich fühlen,
und es hat doch wenigstens den Vorteil voraus, gleich äußerlich
als andersartig gekennzeichnet zu sein. Ich arme, scheue, länd-
liche Mädchenseele im Knabenkörper, befand mich nun plötzlich
inmitten eines halben Hundert derber Grollstadt jungen. Ich hatte
grolle Hoffnungen auf die Schule, angenehme Lehrer und liebe
Mitschüler gesetzt; ich sollte grälllich enttäuscht werden. Von
all den Jungen hätte ich nicht einen zum Freunde haben mögen,
ebenso hätte sich wohl ein Jeder von ihnen für meine Freund-
schaft bedankt. Wir waren gar zu verschieden geartet und erzogen.
Mein Lehrer war ein Mensch, der gern durch unzarte
Scherzchen Uber meine Zimperlichkeit den Hohn meiner MitschlUer,
die ohnedies zu Hänseleien nur zu sehr geneigt waren, heraus-
forderte. Zimperlich war ich, das steht fest, heute mull ich selbst
darüber lachen. Als ein Beweis meiner übergrollen Schamhaftig-
keit, die vielleicht durch meine Veranlagung bedingt wurde, sei
erwähnt, dall ich es Jahre lang nicht über mich gewinnen konnte,
den gemeinsamen Abort zu benutzen.
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Mit einigen meiner Mitschüler wurde ich genauer bekannt.
Für einen schönen Polen, ein Bild von einem Menschen, inter-
essierte ich mich Behr; er war, wenn ich es recht bedenke, meine
erste Liebe. Küssen durfte ich ihn bei allen möglichen Anlässen
ohne Auffälligkeit, da es ja bei den Polen sehr üblich ist. Ich
machte ihm kleine Geschenke, erwies ihm, so oft es anging, Auf-
merksamkeiten, um wieder geküßt zu werden; zu meinem Leid-
wesen tat er es ganz leidenschaftslos. Er war jünger als ich,
und meine Klassenkollegen verdachten es mir sehr, daß ich mit
dem Jungen umging und sie vernachlässigte. Meine Neigung war
ho groß, daß ich mir nichts daraus machte und die Unliebens-
würdigkeiten, die das im Gefolge hatte, willig ertrug. Er besaß
die den meisten Polen eigene oberflächliche Liebenswürdigkeit;
sehr tief war seine Neigung zu mir nicht, es schmeichelte ihm,
von dem Schüler der oberen Klasse bevorzugt zu sein. Ge-
schlechtliche Annäherungen haben weder mit ihm, noch mit
anderen Schülern stattgefunden ; ich ergab mich stillen Ergüssen.
Als ich meinen Adonis nach Jahren wiedersah, hatte er viel von
seiner Schönheit eingebüßt, war ein großer Mädchenjäger ge-
worden und litt an einer Geschlechtskrankheit
Bemerkenswert ist noch ein Traum, der ganz homosexueller
Natur war, obgleich ich damals von gleichgeschlechtlicher Liebe
nicht die geringste Ahnung hatte. Dieser Traum ist für mich der
untrüglichste Beweis, daß mein Urningtum angeboren ist: Einer
meiner Lehrer, ein hübscher, unverheirateter Herr, war mein Ideal.
Bei ihm hatten wir Geographie und Geschichte, meine Lieblings-
fächer. Um ihm zu gefallen, bereitete ich mich für seine Stunden
mit der größten Sorgfalt vor und blieb selten eine Frage schuldig.
Von ihm träumte mir nun, und zwar so lebhaft, daß ich noch
beim Aufwachen das deutliche Gefühl davon hatte, er läge bei
mir im Bett. Der Traum war ungeheuer wollüstig und bewirkte
eine Ejakulation. Ich mußte sehr oft daran denken, sprach aber
zu Niemandem davon, weil ich mich schämte. Als ich nach dem
Abiturienten-Examen bei ihm, der mir in der letzten Zeit keinen
Unterricht mehr erteilt hatte, meine pflichtschuldige Visite machte,
küßte er mich glückwünschend und abschiednebmend auf die
Stirn. Dieser Kuß erregte mich so stark, daß ich an mich halten
mußte, ihm nicht um den Hals zu fallen. Heute bedaure ich, es
nicht getan zu haben; ich glaube, er hätte mir meine Dreistigkeit
verziehen.
Die letzten Schuljahre waren besser als der unglückselige
Beginn. Meine Zeugnisse waren befriedigend, und die Lehrer
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— r)3 —
lobten mein musterhaftes Betragen — ein Wildfang war ich ja
nie gewesen. Während der letzten drei Jahre war ich sogar
Primus und meine Mitschüler gestanden mir aus eigenem Antriebe
eine gewisse Autorität zu. Ich konnte also sagen: „Ende gut,
alles gut!" Diese Vergeltung war mir das Schicksal in Anbetracht
der vielen vorherigen, ich kann wohl sagen — unverdienten Qualen,
die mir die Kindheit vergifteten, schuldig. Der Eindruck, den
die Leiden der Knabenzeit auf mich machten, war so gewaltig,
daß ich selbst jetzt noch, „im Schwabenalter" bisweilen von
bangen Schulträumen heimgesucht werde; ich erwache beängstigt,
um dann aufzuatmen mit dem erhebenden Bewußtsein, daß diese
Kümmernisse zum Glück längst nicht mehr der Wirklichkeit
angehören.
Von hohem psychologischen Interesse ist auch folgende
Schilderung:
Ich habe mein Leben lang ein so zartes Schamgefühl be-
sessen, wie es nur wenigen Menschen eigen zu sein pflegt. Dieses
Schamgefühl äußerte sich spontan und unwillkürlich immer nur
allein dem männlichen Geschlecht gegenüber. Mädchen gegen-
über befliß ich mich zwar gleichfalls eines züchtigen und scham-
haften Benehmens, aber ich befliß mich desselben eben, ich folgte
einem Gebot der Sitte, es war nicht ein natürlicher Instinkt, von
dem ich mich angetrieben fühlte. Noch erinnere ich mich lebhaft
daran, wie einst, als eine Blatternepidemie ausgebrochen war, der
Arzt erschien, um in der Schule zu impfen. Die Knaben mußten
die Röcke ausziehen und den Herodärmel zurückschlagen. Darüber
war ich nun völlig empört und ich wollte heimlich davon-
schleichen. Ich gab meinen Unwillen und meine Befangenheit iu
so deutlicher Weise kund, daß ich dem Lehrer auffiel. Von ihm
befragt, äußerte ich, daß ich mich vor den anderen Knaben nicht
mit entblößten Armen sehen lassen wollte. Es nutzte freilich
nichts, ich mußte. Aber als ich an die Reihe kam, brannte das
Glicht mir heiß vor Scham und das Herz pochte mir hörbar vor
Aufregung. Hätte ich mit den Mädchen zusammen mich entblößen
müssen, es wäre mir vollständig gleichmütig gewesen. Ich hatte
nicht die leiseste Spur irgend eines Gefühls der Unlust oder der
Scham in mir wahrgenommen. So aber ging ich nach beendigter
Impfung gekränkt und in meinem kindlichen Gemüt aufs tiefste
verletzt von dannen. — Ich hätte um alles in der Welt niemals
mit anderen Knaben zusammen gebadet oder mich auch nur mit
offenem Hemd vor ihnen gezeigt. Ich hatte deshalb viel von
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meinen Kameraden zu leiden und wurde oft bis zur Unerträgliohkeit
geneckt. Auch am Gymnasium ging es mir nicht viel besser.
Als einst der Religionslehrer vom heiligen Aloysius erzählte und
erwähnte, daU dieser es nicht einmal Uber sich gebracht habe,
barfnll vor irgend jemand sich sehen zu lassen, da ging ein
kicherndes Gemurmel durch die ganze Klasse, aus dem deutlich
mein Name herauszuhören war, und von den verschiedensten
Seiten richteten sich die Blicke auf mich. Am Schluß der Stunde
traten einige besonders übermütige Jungen an mich heran und
apostrophierten mich: „Heiliger Aloysius, bitt für uns!" — Als
einst in die Wand zwischen dem Abort unserer Klasse und dem
eines anderen Kursen der Unterhaltung wegen ein Loch gebohrt
worden war, wagte ich zwar nicht Anzeige zu erstatten, da ich
dabei verlacht zu werden fürchtete, aber ich nahm nun stets, was
flu- ein Bedürfnis ich auch zu befriedigen haben mochte, ein
Blatt Papier und eine Stecknadel mit mir, so lange, bis das Loch
vom Schuldiener bemerkt und Abhilfe geschaffen worden war. —
Als ich zum ersten Mal — ich war etwa 16 Jahre alt — von deu
Sitten und Gebräuchen der Kaserne erzählen hörte, war ich
darüber so entrüstet, daU mich ein völliger Hali gegen den ganzen
Militarismus erfaüte. Ich erblickte in ihm eine Negation meiner
Natur und meines Empfindens, einen Hohn auf meine Gefühle.
Und ich bin seither dem Militarismus nie wieder hold geworden.
Der Tag, an dem ich mich selber stellen inulite — ich war nur
einmal dazu genötigt — ist mir einer der qualvollsten meines Lebens
gewesen. Dagegen empfinde ich, wie gesagt, dem weiblichen
Geschlecht gegenüber nichts, was Über ein bloües Anstandsgefühl
hinausginge. Ein eigentüohes Schamgefühl dem Weib gegenüber
kenne ich nicht. Es ist mir vollkommen fremd.
Diese lebenswahren Schilderungen, herausgegriffen
aus einer größeren Anzahl ähnlicher, gewähren einen höchst
wertvollen Einblick in die Psychologie der urnischen
Kindesseele.
In der Reifezeit zeigen sich bei urnischen Knaben
und Mädchen allerlei von der Norm abweichende Er-
scheinungen. Der Stimmwechsel tritt oft überhaupt nicht
ein, manchmal erstreckt er sicli über eine lange Zeit, nicht
selten macht er sich verhältnismäßig spät mit 19 oder
20 Jahren bemerkbar; sehr viele haben nach der Mutation
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noch die Neigung, Sopran oder Fistelstimme zu singen,
andere, die nicht mutiert haben, sind imstande, durch
methodische Übungen ihr Organ wesentlich zu vertiefen.
So berichtet W. v. S., ein ganz hervorragender Baryton-
sänger (mit Tenorqualitäten), dessen Bild in Herren — und
Damentracht wir beifügen1): „Meine Stimme hat nie einen
merklichen Umschlag oder Übergang gehabt, mit 23
Jahren konnte ich Sopran singen, und kann es noch
heute (30 J.), tiefere Sprech- und Singtöne habe ich erst
durch Schule und Übung erlangt." Während die Ver-
größerung der Stimmbänder ausblieb, vergrößerten sich
während der Reife um so mehr die Brüste, die noch jetzt,
wie ich mich durch Inspektion und Palpation überzeugte,
einen vollkommen weiblichen Charakter tragen. Oft
werden junge Urninge wegen ihrer hohen hellen Stimme
geneckt, so schreibt ein urnischer Arbeiter: „Meine
Stimme ist nicht gebrochen, man nannte mich in Arbeiter-
kreisen mit 19 Jahren wegen meiner hellen Stimme:
„Gretchen." Bei vielen bleibt die Stimme ohne männ-
liche Kraft. Urnische Mädchen bekommen zur Zeit der
Pubertät oft eine tiefere Stimmlage. Ich kenne einen
derartigen Fall, wo ein Spezialarzt für Halskrankheiten,
weil er Kehlkopfkatarrh annahm, mehrere Monate pinselte.
Eine urnische, jetzt 25 jährige Journalistin berichtet : „In
der Reifezeit trat der Adamsapfel stärker bei mir hervor.
Ich bekam eine Singstimme, die sich nur bis zum c
zwischen der dritten und vierten Linie erstreckt, dagegen
das tiefe c des Basses umfaßt. Ich pflege Lieder und
anderes stets in der tieferen Oktave des. Soprans, also im
Tenor zu singen. Man sagt allgemein, ich hätte auch
einen Tenorklang." Der Bartwuchs stellt sich bei urni-
schen Jünglingen oft sehr spät, oft auch recht spärlich
und ungleich ein. Dagegen ist ein hie und da mit
') Siehe Tafel 1 in Anlage.
Jahrbuch V. 5
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Schmerzhaftigkeit verknüpftes Anschwellen der Brüste
zur Reifezeit ein bei urnischen Knaben durchaus nicht
seltenes Vorkommen, während hingegen urnische Mädchen
recht häufig sehr mangelhafte Brustentwickelung darbieten.
Bei urnischen Knaben scheint mir endlich nicht selten
ein besonders üppiger an das Weib erinnernder Wuchs
des Haupthaares vorzukommen, hingegen weist die Körper-
behaarung urnischer Knaben oft feminine, die urnischer
Mädchen oft virile Anklänge auf. Von pathologischen
Störungen findet man bei urnischen Söhnen verhältnis-
mäßig häufig Migräne und Chlorose, zwei Krankheiten,
von denen sonst mit Vorliebe das weibliche Geschlecht
heimgesucht wird.
Sind diese letztgenannten Zeichen auch durchaus
nicht in jedem Fall nachweisbar, und läßt sich aus ihnen
auch nicht mit unbedingter Sicherheit auf homosexuelles
Empfinden schließen, so wird die Diagnose im Verein
mit den vorher geschilderten psychischen Symptomen
doch eine völlig sichere.
Ich habe wiederholt bei 10 bis 14jährigen Kindern
die Diagnose Uranismus gestellt So konsultierte mich
eine Mutter mit einem 12jährigen Knaben, der an
Migräne litt, sehr schreckhaft war und viel weinte. Er
wurde von seinen Mitschülern, an deren Treiben er sich
nicht beteiligte, viel gehänselt, war am liebsten mit einer
Cousine zusammen und besaß einen Freund, den er in
der Sommerfrische kennen gelernt hatte, mit welchem er
täglich korrespondierte. Er liebte besonders Blumen und
Musik, dagegen konnte er Mathematik „ nicht kapieren.*
Die Untersuchung des bei großer Liebenswürdigkeit außer-
ordentlich schamhaften Knaben ergab einen noch völlig
unentwickelten Genitalapparat, der Penis glich dem eines
4jährigen Kindes, dagegen zeigte sich eine Beschaffenheit
der Mammae wie bei Mädchen im Beginn der Pubertät.
Ich stellte die Diagnose auf Uranismus und klärte die
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Kitern entsprechend auf. In diesem und 2 ähnlichen
Fällen ist die Zeit noch zu kurz, sodaß eine postpubische
Bestätigung ermangelt. Dagegen habe ich bei einem jetzt
18jährigen ausgesprochen homosexuellen Photographen
bereits vor 4 Jahren, ehe derselbe entwickelt war,
Uranismus diagnosti eieren können. Noch eine weitere
Beobachtung gehört hierher. Ich erinnerte mich aus
meiner Gymnasialzeit an einen Knaben, der von den
Mitschülern „ Mieze" genannt wurde. Neben anderen
femininen Eigenschaften besaß er eine besondere Kunst-
fertigkeit im Kochen und der Verwendung von Flicken,
die er Papierpuppen sehr geschickt aufnähte. Er war
der vorjüngste von sieben Geschwistern, meistens Knaben,
die alle dieselbe strenge Erziehung genossen. Der Vater
wurde, als der Sohn in Quarta war, versetzt und so war
mir dieser Mitschüler völlig entschwunden. Bei meinen
Zwischenstufen-Studien fiel er mir ein und ich forschte
nach mehr als 20 Jahren, was aus ihm geworden
sei. Ich erfuhr, daß er Damenhutmacher sei, ledig
geblieben war und seit Jahren ein anscheinend sehr ideales
Verhältnis mit einem von ihm überaus verehrten Freunde
hatte, auch lagen andere Anzeichen vor, die über seine
Geschlechtszugehörigkeit keinen Zweifel ließen. Aus dem
urnischeu Kinde war ein homosexueller Mann geworden
mit derselben Naturnotwendigkeit, mit der sich aus dem
Normalkinde ein heterosexueller Mensch entwickelt.
IL Das Hartnonische der urnischen
Persönlichkeit.
Es spricht ganz außerordentlich für das Angeborensein
einer Eigenschaft, wenn diese mit der ganzen Persönlich-
keit aufs innigste verknüpft ist, mit ihr in völligster
Übereinstimmung steht, sozusagen aus der Tiefe der
ganzen Individualität emporsteigend mit elementarer Ge-
5*
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— 68 —
walt hervorbricht. Das ist bei der Homosexualität in
höchstem Grade der Fall. Wären die gleichgeschlechtlich
Empfindenden körperlich und seelisch in Nichts vom weib-
liebenden Mann unterschieden, wären sie dieselben kraft-
voll erobernden, selbstbewußt berechnenden, mutig wollen-
den Menschen, wären die homosexuellen Frauen die
gefühl- und stimmungsvollen, anschmiegenden, zurück-
haltenden, von Kindessehnsucht und Mutterliebe erfüllten
Wesen, die Gegner hätten Recht: diese Menschen, die
zu einer Wiederholung ihrer selbst Neigung verspürten,
böten etwas Disharmonisches, Monströses dar. Es gereicht
der Menschheit zur Ehre, daU ihr so kraÜe Inkonsequenzen
nicht eigen sind, der Mann, der Männer liebt, die Frau,
welche Frauen begehrt, sind nicht Männer und Frauen
im landläufigen Sinn, sondern ein anderes, ein eigenes,
ein drittes Geschlecht. Naturgesetze werden durch
mangelndes Naturverständnis nicht Naturwidrigkeiteu,
eine Erscheinung, deren Sinn wir nicht erfassen, ist darum
noch nicht sinnlos, so wenig etwas, dessen Zweck uns nicht
klar, zwecklos ist. Bei der Beurteilung eines Naturrätsels
dürfen wir uns freilich nicht an Teile halten, sondern
müssen das Ganze zu ergründen suchen, ein körperlicher
Teil kann irreleiten, das psychische, dessen Bedeutung in
unserer materialistischen Zeit so sehr unterschätzt wurde,
bringt uns dem Ding an sich schon näher. Martials
Pentameter, „pars est unapatris, caetera matris habet/ nur
ein Teil ist männlich, alles übrige weiblich, paßt auch
noch heute auf sehr viele Menschen. Wenn man auch
diesen Teil als den Geschlechts teil xat f'iox^v bezeichnet,
so bleibt er doch immer nur ein Teil. Die Auffassung
mancher Gelehrter über die Geschlechtszugehörigkeit einer
Person erinnert lebhaft an den Vorschlag, den ich als
Sachverständiger vor Gericht wiederholt von Laien hörte,
man möchte doch den Menschen, die sich gegen § 175
vergingen, den Penis abschneiden, dann würden sie ja
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ganz brauchbare Bürger sein. Ich erwiderte einmal, man
täte dann besser, ihnen den Kopf abzuschneiden, denn
dieser, nicht das membrum, sei der Teil, „mit dem sie
sündigten.* Tiefer in den Kern der Sache drang schon
eine Antwort, die ich bei einer andern Gerichtsverhandlung
hörte, zu der ich als Gutachter zugezogen war. Als der
Vorsitzende die Zeuginnen fragte, was sie denn von «lern
Angeklagten gedacht hätten, der beschuldigt war, Männer
belästigt zu haben, welche mit ihnen im Dunkel des Tier-
gartens den Koitus vollzogen, entgegnete eine der Pro-
stituierten unter großer Heiterkeit des Gerichtshofes:
„Wir glaubten, es sei ein Weib iu Männergestalt.* Jeden-
falls können die primären Geschlechtscharaktere allein
nicht den Ausschlag geben, das Zentrum ist so wichtig,
wie die Peripherie; da es mehr als zwei Geschlechter
gibt, ist die innere Empfindung, nicht allein die äußere
Erscheinung das Entscheidende.
Die Äußerungen dieser inneren Empfindung be-
schränken sich allerdings keineswegs auf rein geschlecht-
liche Handlungen. Die Sexualpsyche im weiteren Sinn
beherrscht mehr oder weniger unbewußt die ganze Lebens-
führung und Geschmacksrichtung einer Person. In einem
auch nicht im entferntesten geahnten Umfange senden
die Schicksale und Werke der Menschen ihre geheimnis-
volle Hauptaxe in das Geschlechtszentrum hinein. Würden
wir bei der Beurteilung und Abschätzung eines Menschen
seiner Sexualpsyche mehr Berücksichtigung zu Teil werden
lassen, wir würden die Gestalten und Geschehnisse der
Weltgeschichte ganz anders zu verstehen im Stande sein,
wie es bisher der Fall ist. Mit Recht sagt Nietzsche:
„Grad und Art der Geschlechtlichkeit eines Menschen
reicht bis in den letzten Gipfel seiues Geistes hinauf"
und der Dichter Przybvszewski hebt seine Totenmesse
(1893) mit den gewichtigen \Yrorten an: „Am Anfang war
das Geschlecht, nichts außer ihm, alles in ihm."
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— 70 -
Deshalb ist es auch für das Verständnis hoher und
führender Menschen von so unschätzbarem Wert, ihre
Sexualpsyche richtig zu erfassen. Man meine doch nicht,
— ich bemerke das besonders gegenüber Fuld — daß,
wenn wir in diesen Jahrbüchern große Geister sexual-
psychologisch analysieren, damit zwecklose Indiskretionen
begangen werden; so fern es uns liegt, wenn von Bismarcks
männlicher Kraft, von der Weiblichkeit der Königin
Louise die Rede ist, an heterosexuelle Handlungen zu
denken, ja so abstoßend der bloße Gedanke daran ist,
genau so niedrig sollte es sein, homosexuelle Akte im
Auge zu haben, wenn von Michelangelos oder des großen
Friedrich Urningtum gesprochen wird. Der Betätigung
— das kann nicht oft genug wiederholt werden — ist
nur ein ganz untergeordneter, höchstens symptomatischer
Wert beizumessen gegenüber der Gesamtheit der psychi-
schen Sexualität.
Wenn wir im folgenden von der Urningspsyche eine
Schilderung entwerfen wollen, so sind wir uns voll be-
wußt, nur ein Schema geben zu können. Denn ist es
schon schwierig, das Charakteristische der männlichen
und weiblichen Seele klar zu fassen, das individuelle von
dem gemeinsamen, das nebensächliche vom wichtigen zu
trennen und zu unterscheiden, was vom Geschlecht, was
vom Alter abhängig ist, was Natur, was Kunst bewirkte,
so erhöhen sich diese Schwierigkeiten ganz ungemein bei
dem Urning, wo der innere und äußere Zwang ein un-
gleich größerer ist. Die meisten bemühen sich, wesent-
liches in ihrer Natur zu unterdrücken, anders zu erschei-
nen, als sie sind; viele sind stolz darauf, wenn sie ihre
männliche oder weibliche Rolle so gut spielen, daß „ihnen
keiner etwas anmerkt."
Es kommt hinzu, daß die Typen Mann — Urning —
Urninde— Weib nicht fest normiert einander gegenüber-
stehen, sondern daß es naturgemäß zwischen diesen auch
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wiederum t Hergänge gibt. Die weiblichen Rudimente,
die in jedes Mannes Geist und Körper nachweisbar sind,
tinden sich in geringerem und höheren Grade, bis ihre
Summe so stark ist, daß für den Geschlechtstrieb nicht
mehr in dem Weibe, sondern in dem Jüngling die Er-
gänzung empfunden wird. Das ist die Grenze, von wo
ab wir den Mann als Urning bezeichnen, in dem auch die
männlichen und weiblichen Eigenschaften verschieden
stark auftreten, bis sie ganz allmählich, in fast lücken-
loser Linie über das urnische Weib, die mehr oder weni-
ger männliche Frau zum Vollweibe führen. Würden wir
also Mann — Urning— Weib als drei Geschlechter scharf
getrennt und umgrenzt gegenüberstellen, so verfielen wir
in den früheren Fehler. Wie von Mann und Weib
können wir auch vom Urning nur einen Durchschnittstypus
geben.
Wenn wir die Wesenheit der reinen Mannesseele in
der Aktivität, die der Frau in der Passivität zu erblicken
haben, so läßt sich von der Urningsseele sagen, daß sie
viel aktiver, wie die weibliche, aber nicht so aktiv wie
die männliche ist, ferner, daß sie viel passiver, wie die
männliche, aber bei weitem nicht so passiv wie die weib-
liche Psyche erscheint.
Äußere Eindrücke wirken auf den Urning ungleich
stärker ein, als auf den Mann, sein Gemüt ist weniger
widerstandsfähig, weicher, empfindsamer, die Bestimmbar-
keit größer, die Stimmung wechselnder. Freude, Hoffnung,
Begeisterung heben ihn höher, Schmerz und Leid drücken
ihn viel tiefer darnieder. Oft besteht eine ausgesprochene
Neigung, sich Stimmungen hinzugeben; so berichtet ein
Urning, er schlösse sich mit Vorliebe Leichenbegängnissen
an, um weinen zu können.
Demzufolge treten auch das Mitgefühl, das Mitleid,
die Hülfsbereitschaft stärker hervor. Der erbitterte Kon-
kurrenzkampf, das energische Eintreten für gewöhnliche
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Interessen, das Kriegführen, Schießen und Jagen liegen
dem Urning im allgemeinen nicht, auch ist der Haug zu
verbrecherischen Handlungen — selbstverständlich zu
wirklichen Verbrechen — bei ihm ganz außerordent-
lich selten. Zum strengen Vorgesetzten ist er nicht
recht geeignet. Sehr bezeichnend ist folgende Schilderung
eines urnischen Offiziers: „Meine Leute hatten mich gern;
ein junger Rekrut, dem infolge Blutvergiftung der Arm
amputiert werden mußte, wünschte ausdrücklich, daß ich
bei der Operation zugegen sein sollte. Der Arzt will-
fahrte seinem Wunsche; ich reichte ihm die Hand vor
der Narkose und so schlief er ruhig ein. Nach der < >pe-
ration verließ ich auf kurze Zeit das Krankenzimmer —
da hörte ich vom Nebenzimmer aus meinen jungen Rekru-
ten, der soeben wieder erwacht war, die Worte aussprechen:
„Wo ist denn mein Leutnant?" Sofort erschien ich wie-
der am Krankenlager, reichte meinem armen Patienten,
der mich traurig anblickte, die Hand. Ich nahm mich
meiner Rekruten in jeder Weise an, die Leute gingen für
mich durchs Feuer, vermied übermäßigen Drill, war stets
in der Kaserne, da ich am Wirtshausleben keinen lieiz
fand — so fiel die Rekrutenvorstellung glänzend aus und
dank auch meiner guten theoretischen Kenntnisse gewann
ich das besondere Lob meines Kommandeurs."
Man kann häufig beobachten, daß in exklusiven Ver-
bänden, namentlich in militärischen und studentischen
Korps, urnische Mitglieder wegen ihres höflichen, ge-
fälligen, aufopferungsfähigen Wesens anfangs sehr wohl
gelitten sind, im Laufe der Jahre aber Schwierigkeiten
haben, weil sie sich nicht in die strenge Etiquette fügen
können und mit Außenstehenden freundschaftliche Be-
ziehungen auknüpfen. Ebenso erwachsen ihnen oft auch
mit ihren Familien Unannehmlichkeiten, weil sie in Krei-
sen verkehren, die diesen nicht standesgemäß erscheinen.
Die Unterschiede des Standes, der Religion, der Rasse
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— 73
und Nationalität spielen bei dem Urning nicht im ent-
ferntesten die Rolle, wie bei dem normalen Manne.
Er besitzt nicht den Stolz, das Selbstbewußtsein, den so
häufigen Dünkel des Vollmannes. Für den strengen Ehr-
begriff fehlt ihm das Verständnis. Wohl ist er empfindsam
und leicht verletzt, aber die Fähigkeit zu hassen scheint ihm
abzugehen. Er ist eben nicht das, was man „einen ganzen
Kerl" nennt. Eine Beleidigung durch eine andere, stärkere,
zu erwidern ist ihm nicht gegeben. Findet sich doch schon
in der Grettissaga (28) der kriegerischen Wikinger der
bezeichnende Spruch: „Der Sklave rächt sich, der Arge
(d. i. der Urning) nie." Weniger aus Feigheit, als weil
ihm das Gefühl der Rachsucht mangelt, zieht er sich
lieber zurück, meist ohne Groll. Immer wieder zum
Verzeihen geneigt, oft in zu hohem Maße versöhnlich, ist
er im Gegensatz zum Weibe gewöhnlich weder nachtragend
noch kleinlich. Die Gutmütigkeit vieler Uranier geht so
weit, daß es ihnen unmöglich ist, eine Fliege umzubringen.
Selbst seinen ärgsten Feinden, den Erpressern und Dieben
gegenüber, bewahrt der Homosexuelle ein sympathisches
Gefühl. Was von Leonardo da Vinci berichtet wird, daß
er den Lieblingen, die ihn bestahlen, nie seine Liebe entzog,
klingt durchaus glaubwürdig. Die Großmut, welche der
Urning Feinden gegenüber zu zeigen imstande ist, ist oft
geradezu erstaunlich. Freier von Vorurteilen als der
Durchschnittsmann, ist er meist unfähig, ein hartes Urteil
zu fällen. Alle diese Eigenschaften befähigen ihn ungemein
zum Altruisten und Vermittler, zum Friedensstifter und
Uberwinder sozialer Gegensätze. Dabei beschränkt sich
sein philantropischer Zug fast nie auf seine Klasse oder
gar seine Familie, sondern geht auf die große Menge.
Ein urnischer Arbeiter schreibt : „Dort wo es gilt, Ideale
zu erkämpfen, wo es sich darum handelt, die schlummern-
den Geister aufzurütteln, die starre Masse eine Stufe
weiterzubringen zur Veredelung und X'ermenschlichung,
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dort bin ich der höchsten Begeisterung fähig und möchte
Schulter an Schulter vorwärts stürmen mit den edlen
Kämpfern für Wahrheit und Recht." Ein anderer streng
katholischer Urning aus Arbeiterkreisen: „ich möchte alle
Menschen glücklich sehen, alle sollten sie die Allmacht
Gottes preisen, ich möchte ein Bild malen, alles in Nebel
gehüllt, darüber eine leuchtende Sonne, die mit Gewalt
die Nebel zerteilt." Urnische Fabrikbesitzer geben wieder-
holt an, daß sie einen förmlichen Drang haben, für die
ihnen unterstellten Arbeiter zu sorgen, Wohlfahrts-
einrichtungen zu schaffen.
Oft fehlt es jedoch an Mut und Beständigkeit, das
gute Vornehmen in die Tat umzusetzen. Der Wille ist
beim Urning durchaus nicht so schwach, aber es besteht
daneben vielfach ein beträchtlicher Hang zur Bequemlich-
keit und Scheu vor der Menschen Gerede. Jedenfalls
zieht ihn im allgemeinen die geistige Arbeit mehr an als
die körperliche. Es kommt das instinktive Bestreben
hinzu, etwas zu leisten, was auf Personen desselben Ge-
schlechts Eindruck macht, sie fesselt und erfreut. Von
vielen wird auch die Arbeit als große Trösterin empfunden.
Der Trieb, andere geistig zu befruchten, ist häufig sehr
ausgesprochen. Es resultiert daraus eine bei Urningen
weit verbreitete Befähigung zum Pädagogen, zum Volks-
erzieher im engeren und weiteren Sinne. Unterstützt
wird dieser Drang durch den mehr oder weniger unbe-
wußten Ehrgeiz, sich geistig vor der Umgebung auszu-
zeichnen. Besonders an urnischen Bauern und Arbeitern
fällt es auf, wie sehr sie ihr Milieu überragen. Mit
diesem Ehrgeiz verbindet sich oft starke Empfänglichkeit
für Beifall und Bewunderung, die aber fast immer in
eigenartiger Weise mit einer gewissen Bescheidenheit und
Scheu verknüpft ist. Der Urning schafi't fast stets aus
dem Gefühl heraus. Das zielbewußte, verstandesgemäße
Arbeiten des Mannes ist ihm nicht eigen. Das Zahlen-
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— 75 —
gedächtnis ist vielfach sehr schwach, Mathematik ist der
Mehrzahl geradezu „ein Gräuel." Vorerst kommt bei
ihm der Trieb zu empfangen, aufzunehmen, und erst aus
der Empfängnis heraus formt und gestaltet er. Seinem
starken Gefühlsleben entsprechend ist das ästhetische
Empfinden, der Sinn für schöne Formen in Natur,
Kunst und im täglichen Leben hochgradig entwickelt.
In erster Reihe steht das Verständnis für Musik, fast
ebenso groß ist die Freude an der Plastik, der sich die
an der Malerei und Architektur anschließt; auch das
Interesse für Schauspielkunst, Litteratur, Blumenpflege
ist ein lebhaftes. Für alle „schönen Künste", von der
Kochkunst und Kunststickerei bis zur Bildhauerkunst,
Hiulen sich starke Talente im Urningtum. Dabei zeigt
die von der Sexualpsyche abhängige Geschmacksrichtung
meist eine eigentümliche Mischung männlicher und weib-
licher Tendenzen, die im großen und kleinen deutlich zu
Tage tritt; beispielsweise ist das in der Kleidung der
Fall, viele halten das antike griechische Gewand für das
schönste, ein urnischer Künstler bemerkt : „Ich schwärme
für lange, wallende Gewänder, trotz der Gewöhnung eines
halben Menschenalters schäme ich mich in der gewöhn-
lichen Männerkleidung, ohne langen Mantel betrete ich
nie die Straße, am meisten geniere ich mich im Frack
bei Ausübung meines Berufs auf dem Podium, zu Hause
trage ich nur schleppende Gewandung." Ein anderer
h.-s. Künstler äußerte sich: „Ich liebe Kleidung die das
Geschlecht nicht erkennen läßt, weil diese meinem
eigentlichen Wesen entspricht." Und ein urnischer Eisen-
bahnarbeiter schreibt : „Es tut mir leid, daß der Pelerinen-
mantel altmodisch wurde. Ein schöner Jüngling sollte
jedoch stets einen glatten Überzieher tragen." Wir lassen
noch einen eingehenden Bericht eines 31jährigen homo-
sexuellen Chemikers folgen, der die urnische Geschmacks-
richtung charakterisiert : „Die Vorliebe, die ich als Kind
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für Nähen und Sticken hatte, ist glücklicherweise ge-
schwunden. Mein Talent zum Kochen, wozu ich als
Junggeselle manchmal gezwungen bin, wird allerdings
von meinen Freunden sehr gerühmt. Doch wäre ich
ganz froh, wenn es mir jemand abnähme. Wirkliches
Vergnügen macht es mir dagegen, wenn ich Gäste habe,
alles, Tisch u. s. w., hübsch anzuordnen und zu schmücken.
Blumen habe ich von jeher sehr geliebt und habe großes
Geschick, Blumensträuße geschickt zu arrangieren. Von
Sport liebe ich nur das Bergkraxeln, doch entspringt dies
mehr der Freude an der Natur, ich wandere manchmal
während meines Sommerurlaubs wochenlang allein in den
Bergen; das gehört zu meinen höchsten Freuden. Ein-
samkeit bedeutet für mich nicht Langeweile, ich ziehe sie
der Gesellschaft nüchterner Alltagsmenschen und Stamm-
tischphilister vor. Ich interessiere mich sehr für Politik,
namentlich innere Politik, für Theater und vor allem für
Musik. In Theatern fesseln mich sowohl die Klassiker
als auch die Modernen, dagegen langweile ich mich in
Lustspielen ä la Blumenthal-Kadelburg. Ich bevorzuge
in der Kunst überhaupt im allgemeinen die düstere
Färbung, doch erfüllt mich auch der Humor der Meister-
singer mit sonniger Freude. Außer für Naturwissenschaft,
speziell Chemie, die ich erwählt habe, fühle ich Neigung
für Philologie."
Sehr häufig tritt bei dem Uranier eine Vorliebe für
„neue Richtungen* hervor. Wenn es ihm seine Mittel
verstatten, unterstützt er gern junge aufstrebende Künstler.
Während ihn der übliche gesellschaftliche Verkehr mit
den Festessen, Tischdamen, dem vielen Trinken, Rauchen,
Kartenspielen vielfach abstösst, liebt ei" die ungebundene
Geselligkeit, wie sie sich beispielsweise in dem Treiben
der Boheme sowie oft in Wirtschaften niederer Gattung
kundgiebt. Kr geht gern auf Abenteuer aus, liebt es,
immer neues kennen zu lernen, ist oft sehr reiselustig
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— 77 —
und fast nie einseitig. Un verhältnismässig viel Urninge
interessieren sich deshalb für Entdeckungsreisen, Völker-
kunde, Tiefseeforschungen.
Daneben findet sich ein Hang zum Aufstöbern und
Sammeln von Büchern, Kunstwerken uud Antiquitäten
aller Art. Viele Urninge eignen sich dadurch mit der
Zeit eine tiefe, umfassende Bildung an, wobei ihnen ihr
gutes Gedächtnis und ihre leichte Auffassungsgabe zu
Hilfe kommt.
Hält man gewöhnlich schon eine einzige der vielen
genannten Eigenschaften, beispielsweise die musikalische
Befähigung, für angeboren, um wie viel mehr diesen
ganzen in sich durchaus nicht disharmonischen Komplex,
der von der männlichen und weiblichen Natur so deutlich
abweicht und stets mit einer gewissen Kindlichkeit ver-
knüpft ist, nicht solcher, in der wir ein Zurückgebliebensein
zu erblicken haben, sondern jenen ungekünstelten, naiv-hei-
teren, harmlosen, offenen Art> welche leider so oft und schwer
durch die Verhältnisse beeinträchtigt wird, indem diese
den Urning mißtrauisch, unwahr und verschüchtert machen.
Der geschilderte Komplex befähigt die Urninge hoher
Kreise besonders auch für den Dienst in der Diplomatie.
Ein aristokratischer Gewährsmann, über dessen Glaub-
würdigkeit auch nicht der leiseste Zweifel bestehen kann,
teilt uns mit, daß er Homosexuelle besonders zahlreich
in der Diplomatie gefunden hat, am meisten in England,
dann in Kußland und Deutschland. Derselbe gibt noch
folgende interessante Einzelheiten : „Persönlich kenne ich
neun deutsche Prinzen aus regierenden Häusern, sechs
aus andern souveränen Staaten. Aus reichsunmittelbaren
Familien sind mir 14 bekannt. Vier Botschafter und
höchste Hofbeamte kenne ich, deren Anlage mir bis ins
Detail bekannt ist. Mir ist ein preußisches Kavallerie-
regiment bekannt, in dem neun Offiziere homosexuell
sind. Stets fand ich, daß es fast durchweg reizende,
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— 78 —
intelligente Menschen waren, die viel Interessen hatten
und der Menschheit zur Zierde gereichten."
Mau kann leicht konstatieren, daß der Homosexuelle
in den Kreisen, in denen er verkehrt, und über diese
hinaus meist sehr beliebt ist. Als vorzüglicher Gesell-
schafter ist er überall gern gesehen. Schon als Kinder
sind sie ihres ruhigen und geschickten Wesens wegen
die Lieblinge der Eltern und Geschwister. Erst, wenn
den Angehörigen eine mehr oder weniger klare Er-
kenntnis ihrer Abweichung aufgeht, macht sich eine gegen-
seitige Entfremdung und Verstimmung geltend. Fängt
die weitere Umgebung an, allerlei zu vermuten und zu
flüstern, wird der an sich schon ängstliche Uranier ver-
bitterter und scheuer. Viele Edeluranier ziehen sich
schließlich ganz in die Einsamkeit zurück und leben
gänzlich isoliert mit ihren Büchern und geistigen Inter-
essen, vielleicht auch „mit einer trauten Seele, die sie
versteht." Kommt es zum Skandal, ist das Erstaunen
der Verwandten und heterosexuellen Freunde sehr groß.
Man kann das Unfaßbare nicht glauben, man hielt den
so zartbesaiteten, hochgeschätzten Freund, der fast nie
das sexuelle Thema berührte, für „asexuell". Schließlich
finden sich doch allerlei Anhaltspunkte, die für die Rich-
tigkeit des Unglaublichen sprechen und man entsetzt sich
über diesen Menschen, dem man etwas so Gräßliches am
allerwenigsten zugetraut hätte. Noch ist die Geschichte
der Urningsverfolgungen nicht geschrieben, wie zwei
Geschlechter ein drittes in seinem Heiligsten zu unter-
drücken suchten, aber sie wird geschrieben werden und
sich als einer der dunkelsten Abschnitte der Menschheits-
geschichte erweisen.
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- 79
Genau so wie in geistiger Hinsicht stellt der er-
wachsene Homosexuelle auch in körperlicher Hinsicht
eine innige Mischung männlicher und weiblicher Eigen-
schaften dar, von der es an und für sich schon ausge-
schlossen ist, daß sie künstlich erworben sein kann. Diese
somatischen Stigmata sind wie die psychischen bald mehr,
bald weniger deutlich ausgesprochen, fehlen aber bei
sorgsamer Beobachtung niemals. Allerdings ist der
Nachweis nicht immer leicht. Vieles Charakteristische
wird man nur bei großer Übung herausfinden können.
Wer hunderte von Urningen und Urninden gesehen hat,
wird nicht zweifeln, daß sie ganz bestimmte Gesichtstypen
aufweisen. So schwer es sich aber definiren läßt, was
im Gruude den männlichen oder weiblichen Gesichts-
ausdruck ausmacht, so wenig kann man dem Laien das
Eigentümliche klar machen, das dem Kenner oft schon
beim Anblick der Photographieen in die Augen fällt.
Würden die Geschlechter dieselbe Kleidung tragen, hätte
man sich vermutlich gewöhnt, die Übergangsstufen leichter
herauszukennen, so beeinflußt die Verschiedenheit im
Anzug und in der Haartracht das Urteil ganz außer-
ordentlich. Doch kommt es auch so noch oft genug vor,
daß urnische Männer für verkleidete Mädchen und u mische
Damen für verkleidete Herren gehalten werden. Lassen
sich Urninge, selbst solche, die recht männlich erscheinen,
den Bart abnehmen und legen weibliche Kleidungsstücke
an, so ist es meist geradezu verblüffend, wie sehr der
weibliche Typus, namentlich in der Augenpartie, zum
Vorschein kommt. Ich befand mich einmal mit einem
urnischen Gelehrten in dem seiner Volkstrachten und
Volkssitten wegen hochinteressanten Fischerdorf Volendam
am Zuidersee. Wir betraten des Studiums halber eine
der eigenartigen Behausungen. Im Laufe der Unter-
haltung setzte sich mein Begleiter eine der ortsüblichem
Frauen hauben auf. Der Erfolg war überraschend. Die
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braven Fischerfrauen konnten sich über die Verwandlung
garnicht beruhigen und riefen ein über das andere Mal:
„wie ein Mädchen, wie ein Mädchen." Auch ich selbst
konnte seitdem nicht mehr den weiblichen Eindruck los-
werden, der mir in dem Gesichte des Forschers, weil ich
darauf nicht achtete, zuvor nie aufgefallen war. Viele
Homosexuelle sehen „als Weib bedeutend besser aus, wie
als Mann.* Ich erinnere mich eines urnischen Aristokraten,
den ich Jahre lang nur in Damentoilette gesehen hatte,
in der er sich höchst elegant ausnahm. Als er mich das
erste Mal im Herrenanzug besuchte, erkannte ich ihn
kaum wieder, so zu seinen Ungunsten verändert sah er
aus. Bei manchen tritt das undefinierbar Weibliche erst
im Affekt stärker hervor. Ein Richter schreibt, sein
Gesicht sei scharf geschnitten, doch sei ihm von Damen,
die seine homosexuelle Natur nicht kannten, bemerkt
worden, wenn er lächle, habe er die Augen eines Weibes.
Ein urnischer Offizier, der sich durch eine „martialische"
Erscheinung (bei etwas breiten Hüften) auszeichnet, teilt
mir mit, daß, wenn er sich in Erregung befände, seine
sehr großen, blauen träumerischen Augen von gänzlich
unbefangener Seite als weiblich erkannt worden seien.
Die Körperkonturen des Urnings sind nicht ganz so
abgerundet und weich wie beim echten Weibe — das
urnische Weib ist meist hager — aber äußerst selten so
hervortretend, wie beim Mann. Diese Rundung beruht
auf stärkerer Fettablagerung, die mit der größeren Passi-
vität des Urnings im Zusammenhang steht. Ganz beson-
ders auffallend ist diese Konturierung bei den passiven
Pvgisten, die daher ein geübter Beobachter unter den
übrigen Homosexuellen leicht herauserkennt. Sehr wichtig
ist es, auf das Verhältnis der Schulterdurchschnittslinie
zur Beckendurchschnittslinie zu achten, welches am geeig-
netsten mit dem bei gynäkologischen Untersuchungen
üblichen Beckenmesser festgestellt wird. Während beim
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D'Eon de Beaumont
Kopie von Angelika Kauffmann,
nach einem Bilde von Latour aus der Sammlung des üeorge Keate, Esq.
Ritter D'Eon de Beaumont, geb. am 5. Oktober 1728, als Knabe erzogen, schon
früh Neigung in Frauenklcidern zu gehen; 1755 am russischen Hofe als Dame
vorgestellt.
('ha i;ij>-(;i.NKViKVF.-Loris-Arui'sri:-ANiMu':-riMOTHi'i;
Cll.\ It I.OTT K-(;KKK\TKVK-Lori8A-Ar*;i\<TA.AXPIu'K-TlMOTHl':i>MAIHl;
D'EON DE BEAUMONT.
Doctor ol Civil nud of Canon Law, and Advoeate of the Parliainent
of Paris.
(Vnfor Royal for Hiftory and Belles-Lettres.
Sent to Rul'fia, Urft feeretlv, then offieially, with the Chevalier Douglas
tor tiir Piwpofe ol i-«--«*ri:vl»lil*l»iii'_r frieudlv Relation* lutween tliat Country
and Francr.
Seeretary of the Emhaffy Extraordinary at the Court of Her Imperial
Majefty, the Emprel'f Elizabeth.
Captain of Drajroons and Aide-de-Cainp to Marflial the Duke and
to the Connt de Hro^lio.
Seeretary of the Einbafly Extraordinäre froiu France to (ireat Hritain
for concliulin«; tlu* Feaee ot 17C»:t.
Kui«;ht of the Royal and Militarv Order of Saint Loui>.
Refident, and afterwards Minifter Fl rni potent tarv
froin Franee to l ireat Hritain,
and, finally,
a Lady at the Court of Marie Antoinette,
and an oeeafioual and lionoured Ininate
at
1,'AKbaye Royale des Damen de Haute* Briiyeres.
Maifon des DemoiMIcs de St. Cyr,
und at the
Monaltt'ie lies Filles de Ste. Marie.
1
I
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- 81
normalen Mann die Schulterlinie um einige Zentimeter
länger ist als die Beckenlinie, und beim Weibe letztere
viel breiter als die Schulterlinie, ist beim Urning
der Unterschied meist sehr gering, oft überhaupt
nicht vorhanden, und nicht selten umgekehrt, sodaß es
schon dem Laien, namentlich den Schneidern beim Maß-
nehmen, auffällt. Urnische Arbeiter haben mir wieder-
holt erzählt, daß sie die Beinkleider über den Hüften
bequem ohne Hosenträger tragen können. Ein Urning
berichtet, bei der militärischen Einkleidung habe der
Vorgesetzte gesagt „er habe wohl bei der Verteilung des
Gesäßes zweimal ,hier* gerufen."
Die Hände und besonders die Füße des Urnings sind
im Verhältnis zu der Figur oft klein, die Hände fühlen
sich zumeist eigentümlich weich an. Die Haut ist fast
stets bedeutend zarter, glatter und weißer wie beim Manne,
wenn auch selten in so hohem Grade wie bei der Frau.
Die Blutgefäß- und Tastpapillen der Haut sind gewöhnlich
sehr affizierbar, was sich einerseits in erhöhter Schmerz-
empfindlichkeit zeigt, anderseits in sehr leichtem Erröten
und Erblassen. Mündliche und schriftliche Mitteilungen,
wie die eines Schriftstellers: „Ich erröte mädchenhaft
leicht bei jedem kleinen obszönen Witz* oder die eines
Geistlichen: „Ich erröte, wenn ich öffentlich auftreten
muß, ganz außerordentlich" sind sehr häufig. Nicht recht
erklärlich ist das entschieden geringere Wärmebediirfnis
vieler Uranier. Sehr zuverlässige Selbstbeobachter heben
das hervor, so gibt einer derselben an, daß er Sommer
und Winter stets bei offenem Fenster schlafe, ohne Unter-
bett, nur bei tüchtiger Kälte mit zwei leichten Decken
bedeckt. Es gibt allerdings auch Ausnahmen, doch faßt
sich die Haut der Urninge meist wärmer an, wie die
ihrer Umgebung. Ich glaube, daß die im Volke ver-
breitete Bezeichnung „warmer Bruder" (auch das Wort
schwul — schwül meint ähnliches)jn dieser Erscheinung
Jahrbuch V.
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seine physiologische Begründung hat, während der römische
Ausdruck homo mollis, weicher Mann, auf die Weichheit
der Haut und Muskulatur zurückgeführt werden dürfte.
Die Haare des Urnings sind meist feiner und weicher,
wie die männlichen, am Kopfe oft ungewöhnlich üppig,
der Bart ist vielfach, aber keineswegs immer, schwach
entwickelt. Viele empfinden den Bart als etwas Unange-
nehmes, ebenso wie die Urninden das lange Kopfhaar.
Lucians1) Erzählung von der Megilla, die von ihren
Freundinnen mit männlichem Namen gerufen zu werden
wünschte, Demonassa ihre Gattin nannte und sich die
Haare wie ein Athlet schor, und dann rief: „Hast
du je einen so schönen Jüngling gesehen wie mich," ist
recht charakteristisch.
Die Muskeln der Uranicr sind schwächer wie die
männlichen, wenn auch selten so schwach wie die weib-
lichen. Infolgedessen besteht meist ein natürlicher Trieb
zu ruhigeu Bewegungen, wie Fußtouren, Wandersport,
Bergsport, Radfahreu, Schwimmen und Tanzen. Wo die
Körpermuskulatur zu wünschen übrig läßt, zeigt gewöhn-
lich die Zungenmuskulatur eine stärkere Aktivität, und
so finden wir denn, daß bei den Urningen, ähnlich wie
bei den Frauen, die Redseligkeit oft eine recht beträcht-
liche ist. Einer bemerkt: »Plappern kann ich für zwei,
aber nur mit Damen oder Gleichgesinnten, Herren dagegen
genieren mich/
Von jeher haben Kenner den Gang und die übrigen
Bewegungen des Homosexuellen als kennzeichnendes
Merkmal hervorgehoben. Es finden sich kleine, trippelnde,
tänzelnde, schlürfende, oft geziert erscheinende Schritte,
auch ein leicht schwebender Gang, dabei leichte drehende
Bewegungen in Schulter- und Beckengürtel; der Rumpf
') Luciaui Samosatenis opera ex recenaione, ö. Dindorfii.
Parisiia 1890. Dialogi meretricii 8. 671.
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ist vielfach ein wenig vornübergeneigt, der Kopf erseheint
unruhiger, als dies beim ausgesprochen männlichen Indi-
viduum der Fall ist. Die Gangart ist so charakteristisch,
daß ich sehr oft von meinem Sprechzimmer aus am Auf-
treten erkannte, wenn ein Urning ins Wartezimmer kam.
Ein urnischer Pastor gibt folgende Schilderung von sich :
„Es besteht Neigung zu wiegenden Bewegungen, ich suche
jedoch diese Neigung so gut als möglich zu tiberwinden,
da ich mich äußerst beschämt fühle, wenn jemand etwas
Damenhaftes an mir entdeckt. Trotzdem ist letzteres
dann und wann schou vorgekommen. Besonders mein
Gang wurde schon öfters „damenhaft* gefunden. Die
Schritte sind mehr klein, mitunter schlürfend, die Schultern
wiegen sich beim Gehen etwas hin und her, wenigstens,
wenn ich mir keine Gewalt antue, auch die Art und
Weise, wie ich mich niedersetze, ist schon aufgefallen.*
Ein homosexueller Polizeibeamter erzählt, daß eine Dame
stets von ihm sagte: „Der Kommissar mit dem leichten
Mädchenschritt/ Der Gang eines Menschen ist von
anatomischen und psychischen Faktoren abhängig. Ich
meine, daß die somatischen Verhältnisse des Urnings, die
Breite der Hüften, die infolgedessen stärker konvergierenden
Oberschenkel, die schwache Entwickeluug der Beuge- und
Streckmuskeln auf den Gang nicht ohne Einfluß sein
können, daß aber auch seelische Einwirkungen in Frage
kommen. Dafür spricht, daß Urninge, die sich, um sich
nicht zu verraten, ruhigere, gravitätischere Schritte ange-
wöhnen, leicht bei Erregungen, oft schon beim Laufen
iu ihre natürliche Gangart verfallen. Der eben zitierte
Polizeikommissar bemerkt: „Meine Schritte waren sehr
klein und hüpfend, ich habe es mir aberzogen, es tritt
aber immer wieder hervor, sobald ich neben jungen
schönen Herren gehe." Auch die urnischen Armbe-
wegungen sind meist typisch — man vergleiche das
Jugend-Bildnis König Ludwigs II. — insbesondere sind
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es auch diejenigen Bewegungen, aus denen die Handschrift
resultiert, welche von ähnlichen körperlichen und psychischen
Momenten abhängig ist wie der Gang. Dieselbe zeigt.
bei Urningen oft einen
durchaus weiblichen, bei
Urninden einen männ-
lichen Charakter, bei bei-
den nicht selten auch
einen solchen, den die
Graphologen als ge-
schlechtslos zu bezeich-
nen pflegen. Daß die
Brust- und Stimmbe-
schaffenheit häufig Ab-
weichungen aufweist, habe
ich bereits bei Besprech-
ung der uruischen Puber-
tätszeit erwähnt, hier will
ich noch bemerken, daß
König Ludwig II. von Bayern bei den erwachse nen Ho-
in stark femininer Haltung. ,, «. n
* mosexuellen selten volle
Umkehrungen dieser sekundären Geschlechtszeichen son-
dern gewöhnlich nur Mittelstufen konstatierbar sind.
Wie in seelischer, so zeigt auch in körperlicher Hin-
sicht der Urning und die Urninde eine bemerkenswerte
Jugendlichkeit. Viele haben kleine, zarte, ihrem Alter
nicht entsprechende Figuren. Ein hervorragender, mir
persönlich bekannter Schriftsteller, der jetzt Mitte der 40
ist, sagt von sich, daß er den Kürperbau eines etwa
15jährigen Jungen habe. Das ist natürlich ein sehr
extremer Fall, aber Tatsache ist, daß die Urninge meist
für viel jünger gehalten werden, wie sie sind. Ist die
Uranierin unverheiratet, so bildet sich bei ihr viel weniger
der bekannte Typus der alten Jungfer heraus, in der wir
ein verkümmertes Geschlechtswesen zu erblicken haben.
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Die Urninde bewahrt sich im Gegensatz zum nor-
malen Weibe bis ins hohe Alter eine erstaunliche Frische
und Elastizität. Ebenso treten auch beim urnischen
Junggesellen weniger wie beim normalsexuellcn Hugestolz
die Griesgrämigkeit und die anderen Eigentümlichkeiten
des ledigen Standes hervor. Im allgemeinen erfreut sich
der Urning eines guten Gesundheitszustandes, die Wider-
standsfähigkeit seines Nervensystems ist in Anbetracht
dessen, was er durchzumachen hat, eher als günstig zu
bezeichnen. Neben der früher bereits genannten Chlorose
und Migräne finden sich nicht selten hysterische Störungen
verschiedener Art, besonders hervorzuheben sind die
Affektionen, welche an die weiblichen Menstruationen
erinnern. Ein mir seit einer Reihe vou Jahren bekannter
femininer Urauier leidet seit seinem 14. Lebensjahr alle
28 Tage an Migräne, zugleich an heftigen Kücken- und
Kreuzschmerzen. Dieselben waren Veranlassung, daß
seine Stiefmutter, bereits als er 20 Jahr war, bemerkte
»das ist ja bei dir, wie bei uns." Eine Untersuchung
des Urins auf Blutkörperchen hat leider nicht statt-
gefunden. Neuerdings — Patient ist jetzt 30 Jahr —
haben die Erscheinungen wesentlich nachgelassen, doch
tritt immer noch vierwöchentlich eine hochgradige Mattig-
keit auf.
Der Urning ist im allgemeinen wohlgestaltet,
sein meist sympathisches Außere trägt viel zu seiner
Beliebtheit bei, keinesfalls ist er häßlicher — Möbius1)
sieht in der Häßlichkeit ein Hauptzeichen der Entartung
— wie der Durchschnitt der Normalen. Ich hebe dies
besonders Wachenfeld und Bloch gegenüber hervor, welche
auf diesen Puukt in ihrer Ätiologie der Homosexualität
Wert legten. Wachenfeld2) sagt: „ Mißgestaltete Personen,
') Stach vologie S. 186.
*) A. a. 0. S. 49.
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— 86
die einen naturgemäßen ehelichen Genuü nicht erhoffen
können, neigen eher zur Homosexualität, als solche, die
dem Weibe begehrenswert erscheinen," und Bloch *) ver-
tritt sogar die kühne Hypothese, daß Michelangelo wegen
seiner Häßlichkeit homosexuell geworden sei. Er sagt
wörtlich: „Michelangelos Häßlichkeit war so groß, daß
er in jungen Jahren nie die Liebe kennen lernte und zu
homosexuellen Neigungen, die sich in seinen Sonetten an
Tommaso Cavalieri, Luigi de Riccio, Cecchino ßracci
kundgaben, gedrängt wurde." Diese Angaben beruhen
auf völliger Unkenntnis des einschlägigen Materials.
Man hat eingewandt, daß es Männer gibt, die sehr
feminin erscheinen und gleichwohl völlig normal em-
pfinden. Das mag vorkommen, ebenso wie es vorkommt,
daß manche homosexuelle Männer einen durchaus männ-
lichen Eindruck machen. Es ist jedoch zu bemerken, daß
derartige Urteile meist nach dem Äußeren ohne die un-
bedingt erforderliche Körperuntersuchuug abgegeben
werden und daß in solchen Fällen der sorgsame Expert
stets psychische Zeichen finden wird, welche die Ubergangs-
stufe charakterisieren. Einen Homosexuellen, der sich körper-
lich und geistig nicht vom Vollmann unterscheidet, habe
ich unter 1500 nicht gesehen und glaube daher an sein
Vorkommen nicht eher, bis ich ihn persönlich kennen
gelernt habe.
Was neben den bisher genannten Symptomen den
Urning und die Urninde nun aber in ganz hervorragen-
dem Maße vom Vollmann und Vollweib unterscheidet,
ist, daß ihnen der Trieb der Arterhaltung gänzlich
mangelt. Diese negative Seite der Erscheinung, die zum
mindesten so wichtig ist, wie die positive, die gleich-
') a. a. 0. S. 2Ä. Bd. I.
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geschlechtliche Anziehung, haben die Autoren, welche im
Variationsbedürfnis, in Verführung oder ähnlichem die
Ursache der Homosexualität erblicken, fast nie beachtet.
Wenn nicht äußere Einflüsse und Rücksichten den Aus-
schlag gäben, würde kein Urning überhaupt je auf den
Gedanken kommen, eine Familie zu gründen. Sehen wir
von denjenigen ab, die aus Zweckmäßigkeitsgründen Ehen
eingingen, so haben nur 3% den Wunsch, Kinder zu be-
sitzen, und zwar sind dies ganz besonders feminin oder
sehr pädagogisch Veranlagte. Die ersteren wünschen aber
dann selbst zu gebären, so schreibt ein urnischer Freiherr:
„Ich möchte ein Kind bekommen, aber selbst nach Art
einer Frau" und ein anderer bemerkt: „Ein Kind möchte
ich haben, doch muß ich es selbst zur Welt bringen und
der Vater müßte schön und gut sein." Umgekehrt ruft
eine sehr virile Urninde aus: „Ich möchte ein Kind be-
sitzen, doch natürlich nur, wenn ich der Vater wäre.*
Die pädagogische Gruppe der Uranier wünscht sich stets
einen Knaben, den sie heranbilden und erziehen kann.
Die urnischen Ehefrauen fühlen sich oft überaus unglück-
lich, wenn sie gravid werden, es mangelt ihnen der
mütterliche Instinkt meist gänzlich und sie sucheu nach
Möglichkeit einer Empfängnis vorzubeugen oder gar die
geschehene zu an ullierei). Mir sind drei verheiratete
homosexuelle Damen bekannt, von denen zwei bekannte
Namen tragen, die wegen ihrer Schwangerschaft vorüber-
gehend maniakalische Erregungszustände mit Suicidiul-
ideen bekamen. Bei vielen kommt es überhaupt niemals
zum Koitus. Nicht selten schreitet man dann zur Ehe-
scheidung, die früher, als man noch „gegenseitige Ab-
neigung" als Scheidungsgrund gelten ließ, wesentlich
leichter war. Die urnischen Frauen, welche eine Ehe
eingehen, für die sie nicht geschaffen sind, versündigen
sich schwer, wenn auch unwissentlich, an den normal-
sexuellen Frauen, denen sie die für sie bestimmten Männer
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rauben. Jährlich bleiben so und soviel heiratsfähige
Töchter sitzen, weil zur Fortpflanzung ungeeignete Urninden
heiraten. Mir ist eine urnische Dame bekannt, die mit
17 Jahren „eine sehr gute Partie machte," weil man ihr
allgemein zuredete und sie sich wohl selbst durch den
Antrag des angesehenen Mannes geschmeichelt fühlte.
Als sie sich nach der Hochzeit den sexuellen Annäherungen
desselbe aufs energischste widersetzte, ließ der Gatte
schließlich die Schwiegermutter kommen, damit diese ihr
Kind über die „eheliche Pflicht" aufklärte. Die junge
Frau erwiderte darauf der Mutter: „Wenn das meine
eheliche Pflicht ist, so wäre es Eure elterliche Pflicht
gewesen, mir das vorher zu sagen, denn wenn ich das
gewußt hätte, hätte ich nie und nimmer geheiratet."
Die Dame blieb fest und acht Jahre lang setzte der
Mann mit immer längeren Unterbrechungen die Versuche
fort — er liebte seine Frau sehr — bis er schließlich in
die Trennung willigte. Die Frau lebt jetzt seit mehreren
Jahren mit einer Freundin beisammen, der Mann ist un-
verheiratet geblieben. Der aus Frankfurt a. O. berichtete
Fall ") in dem sich eine Frau in der Nacht nach der
Hochzeit aus einem Hotelfenster stürzte, weil sie sich
der ehelichen Vereinigung schämte, dürfte wohl eine ähn-
liche Grundursache haben. Wir lassen noch den hierher
gehörigen Bericht eines urnischen Ehemanns folgen, den
wir einer großen Menge ähnlicher entnehmen. Der aus
besten Kreisen stammende Herr schreibt:
Als die Meinen in mich drangen, mich zu verheiraten, ent-
schloß ich mich zn diesem Schritt, frug um die Hand einer jungen,
sympathischen Dame aus bester Famlie, die mich schon vielfach
ausgezeichnet und erhielt ihr Jawort. Wir verlobten uns, heirateten
nach einigen Monaten, anscheinend einer glücklichen Zukunft
entgegengehend, die jedoch mehr oder weniger durch meine
*) Prof. G. Hennan: „Genesis", Das Gesetz der Zeugung.
V. Band. S. 118. Leipzig, bei Arwed Strauch.
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Schuld zur Hölle für uns werden sollte. — Ich hatte mich grenzen-
los getäuscht über die Macht der mir offenbar angeborenen Triebe.
Trotz Aufbietung meiner gesamten Willenskraft konnte ich den
Horror, den ich stets gegen geschlechtlichen Verkehr mit dem
Weibe empfimden, auch der mir angetrauten, lieblichen Gattin
gegenüber nicht Uber winden; die Hochzeitsreise nach dem sonnigen
Italien wurde zu einer seelischen Marter für uns Beide und tief
verstimmt und einander entfremdet kehrten wir zurück in unser
Heim, das, von treuer Eltern- und Geschwisterliebe reizend aus-
geschmückt, unser wartete.
Seither sind lange 15 Jahre vergangen ; meine Frau und ich
leben neben-, aber nicht für einander und führen in den Augen
der Welt eine musterhafte Ehe! Über den schweren, delikaten
Punkt haben wir nie mehr gesprochen, seitdem ich ihr Trennung
anbot, damit sie an der Seite eines ihr würdigeren Mannes ein
glücklicheres Dasein finden könne. Sie, die von meinem Zustand
keine Ahnung hat und meint, es liege demselben ein organischer
Fehler bei mir zu Grunde, erklärte mir, mich nicht verlassen zu
wollen, da sie mich trotz Allem liebe. — Wie sehr ich unter dem
Schuldbewußtsein leide, ein so edles weibliches Wesen an mein
elendes Schicksal gekettet zu haben, kann ich nicht beschreiben!
Mein Dasein ist eine endlose Kette geheimer Seelenqualen und
Ängstigungen : ich lebe immer in Furcht, meine Leidenschaft
könne offenkundig werden, namentlich erst recht seit dem Skandal-
proseß, der sich erst vor wenig Monaten in den hiesigen Mauern
abgespielt und in welchem durch eine Bande schrecklicher Er-
presser mehrere Herren aus der besten Gesellschaft öffentlich
bloßgestellt und unmöglich gemacht worden sind, dank der uns
immer noch verfolgenden öffentlichen Meinung.
Die sexuelle Gleichgültigkeit des Homosexuellen
gegen das andere Geschlecht ist fast stets eine vollkommene,
bei sehr vielen ist die Abneigung vor dem Akt, nament-
lich, wenn sie ihn erst kennen gelernt haben, ganz unge-
mein groß; manchen steht der vorgenommene Versuch
als ein schreckliches Ereignis in der Erinnerung, andere
geben an, sie hätten auf Rat eines Arztes den Verkehr
vollziehen wollen, es aber höchst lächerlich gefunden,
wieder andere sprechen von dem Gefühl tiefster Eruiede-
rung, das sie dabei verspürten, während bei einer nicht
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unbeträchtlichen Zahl schwere Nervenstörungen post
coitum aufgetreten sind. Wir geben einige Mitteilungen
wieder, die zeigen, wie sehr die Urninge die Fortpflanzung
und den Geschlechtsverkehr mit dem Weibe, wohl ge-
merkt nur diesen, perhorrescieren. Ein 31 jähriger Land-
wirt schreibt: .Familiensinn ist bei mir nur insoweit vor-
handen, als ich meine Eltern zärtlich liebe, auch zu
meinen Geschwistern fühle ich mich hingezogen. Der
Gedanke, selbst eine Familie zu gründen, existiert für
mich nicht, weil er mir schaudererregend ist. Geschlechts-
verkehr mit dem Weibe ist mir ganz unmöglich, ich fühle
mich von Ekel erfüllt, wenn ich nur an die Möglichkeit
denke. Versuche, den normalen Akt auszuüben, habe
ich nie angestellt und werde es voraussichtlich, weil der
Widerwillen zu groß ist, niemals können Weil mir junge
Damen unheimlich waren, nahm ich schon keine Tanz-
stunde, ich besuche keine Bälle und meide möglichst Ge-
sellschaften, zu denen junge Damen herangezogen werden.
Meine Unbehülflichkeit jüngeren Mädchen gegenüber
scheint man, ohne Argwohn zu schöpfen, bemerkt zu
haben, denn es ist mir neuerdings angenehm aufgefallen,
daß man mich zwischen bejahrte setzt, mit denen ich
mich zwanglos, gern und rege unterhalte." Ein anderer
berichtet: „Meinem Freunde zu Liebe besuchte ich das
erste Mal das Bordell. Ich war entsetzt, daß es mir
nicht gelang, den Coitus zu vollführen, jeglicher Sinnes-
regung baar lag ich in den Armen des Weibes. Außer
mir vor Scham sprang ich endlich auf und markierte den
Betrunkenen. Ich habe mich wohl ein Dutzend Mal für
junge Mädchen interessiert, es fielen aber dabei nur ihre
geistigen Eigenschaften ins Gewicht, ein Geschlechts-
verkehr ist mir dabei nie wünschenswert erschienen. Diese
meine sogenannten Geliebten waren meist Mädchen von
auffallender Häßlichkeit, während ich mit einem häßlichen
Kameraden nie gern verkehrte. Ein besonderes Ver-
Digitized by Google
Ol -
gnügen bereitete es mir von meiner Gymnasiastenzeit an,
Brüderschaften zu trinken, da das dabei vorkommende
dreimalige Küssen mir höchst angenehme Gefühle ver-
ursachte. Dagegen beteiligte ich mich höchst ungern an
Pfänderspielen, bei denen die Gefahr bestand, Mädchen
küssen zu müssen." Ein urnischer Hotelier, den seine
Bekannten „die wissenschaftliche Köchin" nennen, bemerkt:
„Ich begreife den normalen Akt ebensowenig, wie ein
normaler Mensch den meinen begreift, ich war verlobt,
merkte aber noch rechtzeitig, daß es sinnlos wäre, ihr
und mein Unglück, da machte ich uns wieder frei."
Ein Franzose von 38 Jahren gibt an: „Ich habe nie mit
einem Weibe zu tun gehabt und könnte es nicht um alles
in der Welt. Hübsche Gesichtszüge bewundere ich so
vorübergehend bei einem Weibe, wie man ein hübsches
Bild betrachtet, sollte ich dasselbe Weib aber nackt vor
mir sehen, oh, mon dieu! ich würde die Flucht ergreifen."
Ähnlich erzählt ein Schweizer: „Vor dem intimeren Ver-
kehr mit weiblichen Personen empfinde ich einen unüber-
windlichen Abscheu und habe daher nie ein Weib be-
rührt. Der Umgang mit Damen ist herzlich, so lange
sie keine wärmeren Gefühle für mich zeigen, geschieht
dies, so erwacht ein Unlustgefühl und ich ziehe mich so
bald wie möglich zurück." Ein 26 jähriger Arbeiter be-
richtet: „Als ich, 17 Jahre alt, einmal von einem älteren
Freunde verleitet wurde, mit einem Weibe geschlecht-
lichen Umgang zu pflegen — ich wußte damals noch
nichts von meiner urnischen Natur — empfand ich einen
derartigen Ekel, daß ich Erbrechen bekam. Seitdem hatte
ich eine heilige Scheu vor der Berührung mit dem Weibe,
bis ich vor wenigen Wochen, zur Verzweiflung getrieben,
mit meiner Natur zu brechen suchte, vergebens, es trat
weder eine richtige Erektion noch Ejakulation ein, dagegen
habe ich mir infolge der vergeblichen Anstrengungen eiue
Gliedentzündung zugezogen." Endlich ein Kaufmann
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aus Bayern: „Die Folgen des wiederholten Verkehrs mit
dem Weibe waren schwere Nervenstörungen, starkes Un-
wohlsein mit Erbrechen und tagelange Migräne. Der
Geruch, welchen das Weib ausströmt, verursacht mir das
größte Unbehagen, ich bin unfähig, ein Weib zu befriedi-
gen, wogegen die Umarmung eines Soldaten mir ein un-
aussprechliches Wonnegefühl verschafft und mich kräftigt
und stärkt." Es ist durchaus nicht selten, daß Urninge
die erste Kenntnis ihrer Homosexualität von Prostituierten
erhalten. Einen bezeichnenden Fall berichtet mir ein
herrschaftlicher Diener, welchem von einem Arzt, den er
wegen Impotenz konsultierte, nach längerer Anwendung
des elektrischen Stroms geraten ward, einen Kohabitations-
versuch vorzunehmen. Als die Prostituierte in ihrer
Wohnung sich vergeblich bemüht hatte, ihn sexuell zu
erregen, betrachtete sie sich ihn etwas genauer und sagte
dauu in unverfälschtem Berliner Dialekt: „Weeste denn
nich, daß Du en Warmer bist, ick werde Dir meenen
Luden (Zuhälter) rufen, paß uf, mit dem kannste.* Der
Vorschlag wurde von den drei Beteiligten erfolgreich
in die Tat umgesetzt und der Diener wußte seitdem über
sich Bescheid.
Schrenck-Notzing hat in seinem Werke ') den Homo-
sexuellen die Eheschließung und einen geregelten Ge-
schlechtsverkehr mit dem Weibe geraten, wobei er sogar
empfiehlt, unter Umständen bei den ersten Debüts die
Alkoholwirkung zu Hilfe zu nehmen. Der Vergleich mag
etwas kraß erscheinen, aber mir kommt dieser Vorschlag
nicht viel anders vor, als wenn ein Arzt einem Normal-
sexuellen, der ein Mädchen unglücklich liebt, raten würde,
er solle, um seinen Trieb loszuwerden, sich berauschen
und mit einem Manne sexuell verkehren.
M a. a. 0. S. 205 ff.
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Die Abneigung vor dem zur Erhaltung der Art ge-
eigneten Verkehr ist bei fast allen Urningen eine so
tiefgehende, ich möchte fast sagen selbstverständliche, daß
sich daraufhin unter der Mehrzahl von ihnen die Mei-
nung gebildet hat, die Natur wolle durch sie einer Über-
völkerung vorbeugen. Nun bin ich zwar auch der An-
sicht Nückes, daß man die ganze Homosexualität weder
mit theologischen noch mit teleologischen Augen ansehen
dürfe, sondern nur mit nüchtern naturwissenschaftlichen,
ich möchte aber doch dieser weitverbreiteten Anschauung
gegenüber geltend machen, daß, wenn das Aussterben
eines Stammes der Hauptzweck der Homosexualität wäre,
es völlig unnötig erscheinen würde, der negativen eine
positive Gefühlsrichtung entgegenzusetzen. Ich meine, daß
letzterer wohl auch ein positiver Zweck entsprechen dürfte,
nämlich der, daß der homosexuelle Trieb, welcher wie der
heterosexuelle, mit dem ganzen Fühlen und Wollen so
fest verknüpft ist, auch wie dieser Anstoß und Kraft zu
nutzbringender Betätigung der Persönlichkeit geben soll.
Wenn es für den Menschen einen Daseinszweck gibt, so
ist es jedenfalls die Liebe an und für sich, die stets frucht-
bar ist, auch wenn sie nicht der Erzeugung wieder er-
zeugender Wesen dient. Die Liebe ist eine Triebkraft,
die sich immer in produktive Arbeit umsetzt zur Gestal-
tung und Weiterbildung von Menschen und zwar nicht
nur in körperlichem Sinn. Tolstoi sagt einmal: „ Lieben
ist Streben nach dem Wohle anderer," ein Wort, das wie
der Bibelspruch, daß Gleichgültigkeit alles tot, Liebe alles
lebendig macht, eine unantastbare Wahrheit enthält.
Würden die von der Fortpflanzung ausgeschlossenen
Menschen überhaupt keine Liebe fühlen, ihre egozentrische
Interessenlosigkeit würde eine Gefahr für die andern be-
deuten. In den Uranfängen der Sprache erhellen sich
oft durch Gewohnheit verdunkelte Begriffe. Das Wort
Sexus ^ Geschlecht kommt von sequi — folgen, der Ge-
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— 94 —
schlechtstrieb ist ursprünglich nur der Trieb zu folgen,
sich andern anzuschließen, und damit ist er der freilich
oft nur leise durchschimmernde psychologische Hintergrund
jeder sozialen Regung. Der Monosexuelle folgt nur sich
allein; die wenigen Monosexuellen, die ich persönlich ge-
sehen habe, es waren drei zur Einsamkeit und Eigen-
bewunderung neigende Onanisten mit ausgesprochener
Antipathie gegen beide Geschlechter, zeichneten sich durch
den denkbar größten Indifferentismus nicht nur allen
Menschen, sondern auch allen Dingen gegenüber aus.
Daß es sich aber bei der homosexuellen Empfindung
um wirkliche Liebe handelt, die in allen ihren Details ein
vollkommenes Äquivalent der heterosexuellen Liebe dar-
stellt, darüber kann für den Kenner auch nicht der ge-
ringste Zweifel obwalten. Auch Krafft-Ebing hat auf
die absolute Analogie hingewiesen welche sich in der
Entfaltung der normalen und conträren Vita sexualis
findet; diese Übereinstimmung ist, wie allerdings nur eine
sehr lange und genaue Beobachtung erweisen kann, in der
Tat in allen physiologischen und pathologischen Einzel-
heiten eine so eminente, daß es eigentlich nur zwei Mög-
lichkeiten gibt, entweder sind beide Triebe als integrierender
Bestandteil der Persönlichkeit eingeboren oder es ist auch
die Liebe zwischen Mann und Weib kein eingeborener
Naturtrieb, sondern eine durch äußere Ursachen im Ver-
laufe des Lebens erworbene Eigenschaft.
Wie bei den Heterosexuellen, so gibt es auch bei den
Homosexuellen solche, bei denen der Geschlechtstrieb im
engeren Sinn nur eine mehr oder weniger untergeordnete
Rolle spiel^ und andere, die von ihrer Leidensehaft völlig
beherrscht werden. Man hat den Urningen dann und
wann vorgeworfen, daß ihre sinnliche Neigung sie in viel
höherem Maße erfülle und beschäftige wie die Normalen.
») Über sexuell« IVrveraionen S. 129.
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— 95
Doch ist hier zu bedenken, daß letztere in der glücklichen
Lage sind, ihre Frauen und Mädchen so oft um sich zu
sehen, wie sie wollen. Sinnesregungen, denen bequem,
jeder Zeit und ohne Gefahr Genüge geleistet werden kann,
sind nicht dazu angetan, die Seele sonderlich in Anspruch
zu nehmen. Anders bei dem Uranier, der denselben Trieb
meist nur mit den größten, oft seine ganze Existenz be-
drohenden Schwierigkeiten, nach langer Zurückhaltung
seiner Gelüste befriedigen kann. Immerhin gibt es ge-
nug Urninge, die die Kraft völliger Entsagung besitzen,
es wäre aber verfehlt, wollte man daraus den Schluß
ziehen, daß sich alle anderen ebenso gut beherrschen
könnten, so wenig man außereheliche Abstinenz verlangen
wird, weil ein gewisser Prozentsatz sie innehält. Mir
fallen dabei die Worte ein, welche mir einmal ein wegen
seiner Neigung gemaßregelter Offizier in begreiflicher
Aufwallung schrieb: „Die Herren der Schöpfung sollten
wissen, was es heißt, wegen irgend einer erotischen Lappalie
ewig boykottiert zu sein. Drehe man einmal den Spieß
um und stelle einen Gesetzesparagraphen hin , nach dem
jeder außereheliche Beischlaf mit Zuchthaus oder mit
Gefängnis und mit Aberkennung der bürgerlichen Ehren-
rechte zu bestrafen sei. Selbst wenn solcher Paragraph
nur ein Jahr in Kraft wäre, was würde die Welt für ein
herzzereißendes Schauspiel erleben; wieviel Existenzen
würden vernichtet werden, wieviel junge Leute sich dem
freiwilligen Tode weihen; aber wir Uraniden würden ge-
rächt sein für die unendliche Schmach, die man seit
Jahrtausenden über unser Haupt heraufbeschworen hat."
Hören wir einige Berichte keuscher Homosexueller.
Ein urnischer Student von 23 Jahren schreibt:
„Ich habe keinerlei geschlechtlichen Verkehr gepflegt. Der
Geschlechtstrieb ist sehr stark, die Selbstbeherrschung jedoch
ebenfalls stark. Daß ich mich auf Kosten der Gesundheit be-
herrsche, ist mir völlig klar. Der Kampf hat mich schon so er-
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mattet, daß ich zusammenstürzte. Der Gedanke an die Blöße
eines Weibes ist mir so verhaßt, daß es mir absolut unmöglich
ist, auch nur an den Versuch eines normalgeschlechtlichen Aktes
zu denken. Mich fesseln nur hochgebildete, vornehme Naturen,
die ich am höchsten stelle, wenn sie sanftmütig und kraftvoll
zugleich sind. Ärzten und Offizieren gebe ich den Vorzug. Beide
Typen sind gebildet und stehen im freien, tatigen, gesunden
Leben. Bei beiden ist das Moment der Bewegung, da» mir auch
die Musik zur liebsten Kunst macht. Von meinem 15. bis 22. Jahr
war mein Leben beherrscht von einer nie zu beschreibenden
idealen Liebe zu einem jungen Mediziner, einem trotz seiner
Jugend — er ist jetzt 26 — ganz eminenten Kopfe. Ks ist eine
schlanke, strenge Gestalt, mit einem Empirekopfe, durchaus
normalempfindend und ein harter Charakter. Im ersten Jahr
unserer Bekanntschaft war er mir freundschaftlich außerordentlich
zugetan. Damals war ich ganz glücklich, ganz wunschlos und
bemitleidete alle Könige der Welt ob ihrer Armut. Ich verband
raeinen Freund in mystischer Weise mit meinem Gottes! »egriff ;
mein Leben hatte als Pole: „Christus" — „Lothar." Als mir
nach l»/2 Jahren klar wurde, daß — um mit Platen zu sprechen
— der schöne Spröde seine Seele mir nie oflenbaren würde, ver-
lor ich damals schon viel, ja das eigentliche Wesen meines
Himmels. Ich kämpfte hart, auch mit ihm und namentlich wegen
seiner irreligiösen Lebensauffassung. Vor einem Jahre verlobte
er sich, ich war nicht eifersüchtig, ich war nur wie tot; nur mein
Gedanke, ins Kloster zu gehen, hielt mich aufrecht. Ich sagte
ihm damals alles — er nahm es kalt, wissenschaftlich, nicht ohne
etwas Roheit auf. Seit einem Jahre sah ich ihn nicht mehr,
korrespondiere auch nicht mehr mit ihm. Wachend fühle ich auch
keine Sehnsucht mehr nach dem einstigen Geliebten, die hat sich
in Jahren au seinem Kgoistnus und seiner materialistischen
Lebensautfassung verblutet. In längeren Abschnitten träume ich,
daß er zu mir kommt und mich küßt und dann weine ich im
Schlaf. Im Leben hat er mich nie geküßt."
Ein sehr intelligenter Akademiker von 39 Jahren,
der die große Merkwürdigkeit aufweist, daß bei ihm
überhaupt noch nie eine Ejaculatio seminis stattgefunden
hat, giebt folgende Schilderung:
„Meiue Leidenschaft ist keine gewaltig lodernde Flamme,
die über mein ganzes Denken und Sinnen zusammenschlägt und,
wenn sie keine Nahrung findet, alles Glück verzehrt, Bondern ein
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glimmendes Feuer, das nur von Zeit zu Zeit stärker emporwogt.
Ich kann nicht sagen, daß mit der Unmüglichkeit, Liebe zu finden,
„all mein Glück dahin" ist. Ich habe noch so viele Interessen und
Ideale in der Freude an der herrlichen Natur und an der Kunst,
»laß ich bis jetzt ein im ganzen glückliches Leben geführt habe,
jedenfalls intensiver genießend, als mancher normale Mann, der
außer im Geschlechtsleben die Kulmination seiner Freuden ain
Stammtisch findet. Nur bisweilen, wenn meine Leidenschaft,
stärker erregt, vergebens nach Befriedigung ringt, drückt mich
meine Dornenkrone stärker. Einst liebte ich einen Mann von
meinem Alter, an Bildung weit unter mir stehend, den ein kühler
Beobachter kaum schön genannt haben würde. Meine Neigung
wurde erst zur Leidenschaft, als ich ihn persönlich kennen lernte
und fand, daß er einen sehr ehrenwerten Charakter, gute Manieren
und einen auffallenden Bildungsdrang hatte. Ich unterstützte
seine Lernbegierde und seinen Eifer, seine Fortschritte versetzten
mich manchmal in Begeisterung, dann schien er mir geradezu
schön zu sein. Er sah in mir seinen Freund und Wohltäter, ich
liebte ihn nicht nur geistig, sondern mit allen meinen Sinnen und
oft kostete es mir meine ganze Willenskraft, mich zu beherrschen.
Jede Gelegenheit suchte Ich, um seine Hand zu berühren oder
gar neben ihm sitzend, den Arm vertraulich um seine Schulter
zu legen. Ob ich ihm nicht mitunter in meinem Benehmen etwas
auffällig vorkam, ich weiß es nicht. Jedenfalls blieb er immer
gleichmäßig freundlich. Alle Qualen der Eifersucht habe ich
durchgemacht, wenn ich einmal zu bemerken glaubte, daß er
gegen jemand anders freundlicher war, als gegen mich. Es wider-
strebt mir, näher auf dies Verhältnis einzugeben, ich möchte nur
bemerken, daß es durchaus ideal geblieben und nie Uber die er-
wähnten Vertraulichkeiten hinausgegangen ist.
Noch „platonischer* ist die homosexuelle Liebe in
eiuem dritten Fall:
„Kurz bevor ich meine Natur entdeckte, indem mir ein
Kollege, der mich über sich Selbst aufklären wollte, den Moll in
die Hand gab, hatte ich mein Hera an einen Unteroffizier der
Artillerie verloren, einen Mann von stolzer, herrlicher Schönheit.
Er wohnte ganz in meiner Nähe. Als ich ihn zum ersten Male
auf der Straße sah, blieb ich wie festgewurzelt stehen und blickte
ihm nach, bis er mir entschwand. Von nun an sah ich ihn öfter
und wie sehnte ich mich nach diesen Begegnungen, und wenn er
kam, wie stockte mir der Atem, die Kehle war mir wie zuge-
Jahrbuch V. 7
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schnürt! Gingen wir entgegengesetzt, dann kehrte ich um und
folgte ihm, mit den Blicken die wunderbare Gestalt verschlingend.
Ich fand bald heraus, um welche Zeit er ungefähr abends aus der
Kaserne nach Hause kam. Ich sali dann am Fenster und wartete
geduldig, ein moderner Toggenburg, um ihn blos flir einige
Sekunden zu sehen. Wenn sich seine Heimkehr verzögerte, saß
ich so wohl eine Stunde und länger, ein Buch oder eine Zeitung
in der Hand, bei jedem Säbelklirren zusammenfahrend. Oft
fürchtete ich, er könne mein Benehmen bemerken, aber nein,
gleichgültig streifte mich sein Blick wie jeden beliebigen anderen
Menschen, wenn ich an ihm vorüberging. So ging es viele Jahre,
ohne daß ich je gewagt hätte, seine Bekanntschaft zu machen."
Wie die Sehnsucht, so trägt auch die mit ihr so
oft verschwisterte Eifersucht bei beiden, der anders- und
gleichgeschlechtlichen Triebrichtung einen vollkommen
entsprechenden Charakter. Ein urnischer Militär— Inten-
dantur-Beamter erzählt, dass er aus Eifersucht einem
norraalsexuellen Freunde, den er „wahnsinnig" liebte, alle
Mädchen „ausspannte," in die dieser sich „vergafft* hatte.
Unter den Homosexuellen findet man geuau wie unter
den Heterosexuellen polygame Don Juan-Naturen, deren
Liebe sich bald diesem, bald jenem zuwendet, und mono-
game, deren beharrliche Treue jedem Ehebündnisse zur
Ehre gereichen würde. Auch hier zwei Beispiele. Ein
homosexueller Buchhändler von 33 Jahren erzählt:
„Als ich 20 Jahre alt war, lernte ich einen 17jährigen Jüng-
ling kennen. Ohne von meiner Veranlagung zu wissen, fühlte
ich mich zu ihm unaussprechlich hingezogen. Da er vollständig
weibliebend war, konnte er meine Liebe nur mit Freundschaft
erwidern. Ich nahm den Jüngling zu mir und arbeitete und darbte
flir ihn. Auch er hing an mir mit einer Freundesliebe, die ihres
gleichen suchte. Ich verlebte selige, glückliche Zeiten. Nach drei
bis vier Jahren aber kam das Unglück, in ihm erwachte jetzt die
Liebe zum Weibe. Er konnte es nicht verstehen, daß es mich
schmerzte, wenn er sich in den Armen eines Mädchen befriedigte.
Ich rang und kämpfte mit mir selbst, ich wollte fühlen lernen wie
andere Menschen. Mein Herz sträubte sieh, daß mein Liebling
nicht mehr ganz meiu eigen sein sollte, wenn er mir auch sagte,
daß er mich noch eben so lieb hätte wie früher. Damals war ich
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noch sehr religiös, ich flehte zu Gott, aber mir wurde keine Hilfe,
keine Rettung. Mein Freund wußte mir keinen andern Rat zu
geben, als es auch mit Weibern zu versuchen. Ich glaubte ihm
und ging eines abends mit zu einer Maitresse. Aber sobald ich
bei ihr im Zimmer war, bebte ioh an allen Gliedern, an geschlecht-
liche Erregung war kein Gedanke, kurz entschlossen lief ich nach
Hause und ließ dort meinen Tränen freien Laut. Jetzt war ich
mir klar, daß ich nicht wie andere Menschen war. Bald nahte
die Stunde der Erlösung. Ich kaufte „die Enterbten des Liebes-
glücks" und wie Schuppen fiel es mir von den Augen. Ich
wuüte nun, daß ich mit meinen Gefühlen nicht allein auf der
Welt war; der Schmerz war stark, wie ich mich jetzt ganz er-
kannte, aber ich segne die Zeit, wo ich Aufklärung fand. Durch
sie lernte ich auch Nachsicht mit den Gefühlen meines Freundes
haben. So sind die Jahre dahingegangen und noch heute nach drei-
zehn Jahren wandle ich mit meinem Liebling, den ich als siebzehn-
jährigen Jüngling kenneu lernte, Hand in Hand durch dieses
Leben. Mit meinem Schicksalf) zufrieden, die heilige Urnings-
liebe im Herzen, denke ich mir oft, der glücklichste Mensch auf
Erden zu sein. Selbst nicht die harten Urteile der Menschen über
unsere Liebe sind mehr im Stande, die Zufriedenheit und Ruhe
meines Herzens zu erschüttern. Ich denke: „Sic sind wie Kinder
und wissen nicht was sie tun." Meine grenzenlose Liebe hat in
den violen Jahren nicht vermocht, in meinem Liebling auch nur
eine Idee von dem Triebe zum Weibe auszulöschen, obwohl ich
stets von Zeit zu Zeit mit ihm geschlechtlich verkehrte."
Im Gegensatz zu diesem Fall will ich die Auf-
zeichnungen eines polygamen Homosexuellen wiedergeben.
Es ist derselbe, den wir schon früher als urnischen Knaben
kennen lernten und den im weiteren Verlaufe des Lebens
der Fluch seiner orthodoxen Familie durch alle Welt
jagte. Er schreibt:
„Ich habe mich, um meinen geschlechtlichen Reiz zu befriedigen,
in der Folge wohl hunderten von Leuten der verschiedensten
Nationen hingegeben. Dabei habe ich aber absolut meinen eigenen
Geschmack gewahrt, denn mit einem mir physisch unsympatischen
Menschen ist es mir Uberhaupt nicht möglich, geschlechtlich zu
verkehren. Männer, die ich geliebt habe, hatten immer etwas
von der Idealgestalt meiner Jugend. Dahin gehören männlich
aussehende, kräftige Gestalten und Gesichter, frische, gesunde
Farben, fröhliche, wenn möglich, blaue oder graue, treuherzige,
7*
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offene Augen, ein frischer Mund, schöne Zähne und möglichst
großer Schnurrbart. Schöne Männer, die sich weibisch benehmen,
sind mir ekelhaft. Junge Leute, oder auch ältere ohne Schnurr-
bart kann ich nicht leiden, ebenso ist mir jeder Bart außer dem
Schnurrbart höchst unsympathisch. Schöne Gestalton sind mir
lieb, aber das Gesicht ist ausschlaggebend. Jn Deutschland sind
es Soldaten, Unteroffiziere, Offiziere, Schaffner, Schutzleute, Post-
beamte, Droschkenkutscher, Portiers, Maurer, Arbeiter, besonders
in hohen Stiefeln und Lederhosen, unter denen ich die mir sym-
pathischen Erscheinungen meistenteils gefunden. Selbstverständ-
lich kann ein solches Verhältnis nie von Dauer sein, da nur das
rein sinnliche Element dabei in Betracht kommt, doch momentan,
noch kürzlich, konnte ich mich für einen schönen Ulanenunter-
offizier dermaßen interessieren, daß ich ihm stundenlang nachge-
laufen bin, bis es mir gelang, eine Gelegenheit auszunützen, bei
der ich in unauffälliger Weise mich eng an ihn schmiegen konnte.
Ich entdeckte in ihm einen Gleichgesinnten und längere Zeit war
dieses Verhältnis im Stande, mich völlig auszufüllen. Unter den
höheren Ständen finde ich viel seltener mir körperlich sympathische
Leute, dagegen unterhalte ich mich oft und gerne mit ihnen und ver-
kehre in ihren Kreisen. — Ich finde überhaupt, daß im Vergleich
mit dem wirklich gebildeten Amerikaner, Irländer oder Engländer
der Deutsohe, was männüche Erscheinung und männliches Wesen
anbelangt, oft einen gezierten, fast weibischen Eindruck macht.
Im homosexuellen Verkehr ist mir der Franzose am unange-
nehmsten. Er hat eine mir abscheuliche Art und Weise hundert
Küsse zu geben, die nicht einen wert Bind. Er ist in seinen
Liebesbezeugungen von einer hastigen, affektierten Leidenschaft.
Den Italiener ziehe ich bedeutend vor, er ist wirklich leiden-
schaftlich empfindend und in seiner Art sich zu geben liegt etwas
tieferes, ernsteres. Mit Spaniern ging es mir ebenso. Am liebsten
hatte ich den Irländer, es ist entschieden die männlichsto Nation,
die ich kenne. Wenn er jemand wirklich zugetan ist, so ist er
treu und aufopferungsfähig wie kein anderer. Amerikaner und Eng-
länder waren mir meist angenehm — oft aber etwas zu kühl und
geschäftsmäßig. Dänen, Norweger und Schweden fand ich oft
geziert. Rein sinnlich beim Akt, den Reiz oft bis zum Wahnsinn
steigernd, sind die slavischen Völker. Mit Negern, außer Misch-
lingen mit rein kaukasischer Gesichtsbildung und ohne Wollhaar,
habe ich nie zu tun gehabt, obwohl sie vielfach ihrer stark aus-
gebildeten Genitalien wegen beliebt sind. Sie sind feurig, fast
tierisch wild, wenn sinnlich erregt. Vor den asiatischen Rassen
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habe ich stets Abscheu empfanden, mit Ausnahme von Türken
und Persern, mit denen ich nie homosexuell verkehrt habe.
Wenn ich die frischen Lippen eines Mannes aus dem Volke
kilsse, und seine feste Gestalt umfasse, dann erwacht jedesmal
in mir die Sehnsucht, auch Geist und Verständnis, mit dem was
mich körperlich reizt, vereinigt zu finden. Im Grunde ist es doch
immer unwillkürlich die mit den Augen des phantastischen
Knaben geschaute und wohl in der Erinnerung idealisierte Ge-
stalt jenes Offiziers, nach der ich rastlos jage und suche unter
allen Nationen, in den verschiedensten Klassen der Bevölkerung,
die zu finden ich jetzt fast aufgegeben habe, ohne das Sehnen
danach lassen zu können.
Bei der Diagnostik der echten Homosexualität legt
Näcke l) mit vollem Recht besonders Wert auf den Nach-
weis, daß auch, ebenso wie der Heterosexuelle hetero-
sexuell träumt, das Traumleben der Homosexuellen von
seiner Triebrichtung beherrscht wird. Wie eine sehr
große Anzahl von Einzelmitteilungen zeigt, ist dies tat-
sächlich durchgängig der Fall. Dabei erscheint es mir
beachtenswert, daß die angenehmen Träume der Urninge
auch schon vor Eintritt der Reife von gleichgeschlecht-
lichen Vorstellungen erfüllt sind,2) sowie daß nicht ero-
tische Träume qualvoller Art durchaus nicht selten durch
normale Cohabitationsversuche hervorgerufene Beängsti-
gungen zum Gegenstande haben. Ein Urning gibt an:
„Ich träume oft, ich bin verlobt oder verheiratet. Dabei
habe ich das Gefühl furchtbarer Beklommenheit und
einer undefinierbaren Angst." Hie und da kommt es
') Näcke: Kritisches zum Kapitel der normalen und patho-
logischen Sexualität. Archiv f. Psych. Bd. 82. Heft 1. (1899.)
Näcke: Die forensische Bedeutung der Träume. Archiv f.
Kriminalanthr. 1900. 3. Bd.
Näcke: Probleme auf dem Gebiet der Homosexualität in der
H. Laehrschen Zeitschrift f. Psychiatrie etc. 59 Bd. S. 812. 818
und 825.
*) Man vergl. das bei der Schilderung des urnischen Kindes
Angeführte.
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vor, daß Urninge sich scheuen, mit Angehörigen das
Zimmer zu teilen, weil sie befürchten, sie könnten durch
„Sprechen aus dem Schlaf" ihre homosexuellen Neigungen
verraten. Ähnlich wie im Traum dokumentiert sich auch
in der Trunkenheit deutlicher die geschlechtliche Tendenz,
indem ja der Alkohol durch Lähmung des kritischen
Oberbewußtseins das Gefühlsleben mehr hervortreten
läßt. Uberhaupt tritt das Elementare und Natürliche
der urnischen Liebe überall da besonders deutlich her-
vor, wo die Hemmungsvorstellungen in stärkerem Grade
ausgeschaltet sind. Ein älterer urnischer Staatsbeamter
teilte mir mit, daß er einem lang gehegten Wunsche
entsprechend vor einiger Zeit in seinen engeren Kreisen
einen jungen Konträrsexuellen von etwa 20 Jahren kennen
lernte. Er berichtet darüber: »Der betreffende Jüngling
ist bereits in seinem Äußern, vollständig aber in seinem
Fühlen und Denken, feminin. Erst seit kurzem unter-
richtet, daß es Konträrscxuelle gäbe, war er über sich
selbst noch nicht klar. Ich hatte ihn eingeladen, mich
auf einige Tage zu besuchen und als ich ihn des Abends
in sein Schlafzimmer geleitet und ihm gute Nacht ge-
wünscht, war er so ungeheuer erregt, daß er mir wortlos
in die Arme fiel. Wenn man solche hervorbrechende
Leidenschaft mit dem Worte Unnatur abtun will, so
haben die Leute, deren Urteil leider heute noch maß-
gebend ist, niemals ein solches Menschenkind in dem
Augenblicke gesehen, in dem mit so elementarer Macht
zum ersten Male die Liebe gebieterisch ihr Recht ver-
langt und zwar in einer für das betreffende Individuum
normalen Form.* —
Durch die Hebung der ganzen Persönlichkeit er-
klärt es sich, daß trotz der beispiellosen Widerwärtig-
keiten, denen die Homosexuellen ausgesetzt sind, 90 von
hundert keine Änderung ihres Zustandes wünschen, d.-i*
Hest dieselbe auch fast ohne Ausnahme nur aus sozialen,
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nicht aus persönlichen Gründen erstrebt. Trotzdem alle
sich zeitweise höchst unglücklich fühlen, mehr als 50%
vorübergehend an Selbstmord ideen litten, mehr als 10%
Selbstmordversuche vorgenommen haben, fühlen fast sämt-
liche den homosexuellen Trieb so sehr als einen Teil
ihrer selbst, daß sie sich ohne denselben kaum vorstellen
können und meinen, mit demselben eines wesentlichen
Lebensguts beraubt zu werden. Ein urni scher Student,
den ich wegen Schlaflosigkeit hypnotisierte, nahm mir
einmal ein förmliches Versprechen ab, daß ich ihm in der
Hypnose nicht an seiner Homosexualität 9 herumsuggeriere. *
Ich gebe noch einige Bemerkungen Homosexueller wieder,
die sich auf diesen Punkt beziehen. Ein Psychiater
schreibt: „Meine Natur hätte mir von vorn herein klar
sein müssen. Nur künstliche Konstruktionen auf Grund
anerzogener Begriffe konnten über sie hinwegtäuschen,
sie aber nicht im Geringsten unterdrücken. Eine Um-
änderung meiner Veranlagung wünsche ich nicht, da ich
damit meine ganze Persönlichkeit negieren würde." Ein
Richter äußert sich: „Ich verspürte schon lange vor jeder
körperlichen Berührung ein so inniges Glücksgefühl durch
meine Neigung, sie war so sehr ein Teil meines innersten
Wesens, daß ich nur dann anders sein möchte, wenn ich
wüßte, wie ich mich alsdann fühlen und befinden würde.14
Ein alter Pfarrer bemerkt: „Sollte ich noch die Aus-
merzung des § 175 erleben, so würde nichts zu meinem
Glücke fehlen. Ich bin der festen Überzeugung, daß mir
der sogenannte anormale Zustand vom Schöpfer gegeben
ist und für mich gerade so normal ist, als der gewöhn-
liche Sexualzustand für die übrigen Menschen. Ich be-
neide sie nicht im geringsten um das Kleinod, welches sie im
Weibe besitzen, sondern danke Gott, daß ich meine Liebe
und Zuneigung einem Jüngling schenken kann." So sehen
wir, daß wie der Heterosexuelle nicht homosexuell, auch
der Homosexuelle nicht heterosexuell empfinden möchte.
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— 104 —
Diese absolute Kongruenz, die sich ausnahmslos auf
alles erstreckt, was es in der Liebe und im Geschlechts-
trieb Physiologisches und Pathologisches, Hohes und
Niederes, Gutes und Böses, Schönes und Häßliches gibt,
ist nur begreiflich und erklärlich, wenn es sich um zwei
völlig analoge, nebengeordnete und auch in ihren Ursachen
gleichgeartete Gefühlsrichtungen handelt.
III. Die Unausrottbarkeit der
Homosexualität.
Es ist anzunehmen, daß ein Trieb angeboren ist, wenn
äußere Einflüsse nicht imstande sind, denselben umzu-
wandeln; wenn Homosexuelle durch Umstände irgend
. welcher Art im Verlaufe ihres Lebens normal fühlend
werden, so würde das sehr dafür sprechen, daß es sich
um eine erworbene Eigenschaft handelt. Schrenck-Notzing,
der unter denjenigen, die Näcke neuerdings ') als wirkliche
Sachverständige in dieser Frage bezeichnete, der einzige
Vertreter der Erwerbstheorie ist, sagt mit einem gewissen
Recht8): Je mehr sich die Zahl der Fälle häuft, in denen
bleibende therapeutische Resultate erzielt worden sind, um
so geringer erscheint nach unserer Meinung der Anteil,
den die erbliche Disposition in der Entstehung dieser
Anomalie beanspruchen kann." Die Therapie, von der
hier die Rede ist, ist die hypnotische Suggestionsbehand-
lung. Aber gerade die Wirksamkeit dieses Heilmittels
kann nach allem, was verbürgt über die Erfolge der Hyp-
nose auch bei angeborenen Eigenschaften berichtet ist?
hier als beweiskräftig nicht herangezogen werden.
*) Nücke, Probleme auf dem Gebiete der Homosexualität, in
der AUg. Zeitschr. f. Psychiatrie etc. S. 809.
*) S. 149 a. a. 0.
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Wenn es möglich ist, durch Beeinflussung der Psyche
körperliche Veränderungen wie Brandblasen hervorzu-
rufen, wenn man Blindheit und Taubheit, Anosmie und
Ageusie suggerieren konnte, wenn man in der Hypnose
tiefgreifende Wirkungen auf die Menstruationen und
Pollutionen ausüben kann, Medien zu veranlassen ver-
mochte, nach dem Erwachen „ etwas zu sehen, was nicht
da war, etwas nicht zu sehen, was da war/ wenn man
alte Leute davon überzeugte, sie seien wieder Kinder ge-
worden, warum soll es denn etwas Ungewöhnliches sein,
Homosexuellen Genuß am Weibe zu suggerieren? Es
Anme rkung. Man vergleiche über die hypnotische Behand-
lung der Homosexualität neben von Schrenck-Notzing: DieSug-
gestionatherapie bei krankhaften Erscheinungen des Geschlechtssinns
und Krafft- Ebing: Psychopathia sexualis S. 303 ff. besonders
Fuchs: Therapie der anormalen Vita sexualis 1899, S. 45; Wetter-
strand: Der Hypnotismus und seine Anwendung in der prak-
tischen Medizin, 1891, p. 52 ff.: Bern heim: „Hypnotisnie", Paris,
1891. S. 38.
Über Beeinflussung und Umwandlung angeborener Eigenschaften
durch Hypnose findet man Berichte ausführlich angeführt in:
1. Jame-Braid: Neurypnology or the rationale of nervous
sleep considered in relation with animal magnetisme. London.
ChurchhiU. 1843.
2. A. Li£bault: Du sorameil et des etat« analogue», considerOs
surtout au point de vue de l'action du moral sur le physiqne. Paris.
Masson, 1866.
3. A. Liebault: Le sommeil provoque et les etat« analogues.
Paris. Doris, 1889.
4. H Bern heim: De la Suggestion dans IVtat hypnotique et
dans l'etat de veüle. Paris, 1884.
5. H. Bernheim: Do la Suggestion et de ses applications ä
la therapeutique. Paris, 1886.
6. H. Bernheim: Hypnotisme, Suggestion, Psychotherapie.
Etudes nouvelles. Paris, 1891.
7. R. Haidenhain: Der sogenannte tierische Magnetismus.
Physiologische Beobachtungen. Leipzig. Breitkopf & Härtel. 1880.
8. Albert Moll: „Der Hypnotismus". Berlin. Kornfeld. lKxi».
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— 106 -
würde sicher in ähnlicher Weise auch gelingen — ob
derartiges bereits versucht wurde, ist uns nicht bekannt
— Heterosexuellen homosexuelle Libido einzuflößen.
Würde man nun aber aus der Umwandlung heterosexueller
Empfindungen den Schluß ziehen, daß der Trieb der
Männer zum Weibe nicht angeboren, sondern erworben
sei? Mit nichten, ebensowenig kann man es dann aber
auch aus den hypnotischen „Heilungen* Homosexueller.
Ich teile nicht die pessimistische Ansicht Binswangers J)
9. A. Forel: Der Hypnotismus, seine psychologische, medi-
zinische, strafrechtliche Bedeutung etc. Stuttgart. Enke. 1895.
(III. Aufl.)
10. Ewald Hecker: Hypnose u. Suggestion im Dienste der
Heilkunde. Wiesbaden. Bergmann. 1898.
11. Otto Stoll: Suggestion und Hypnotismus in der Völker-
psychologie. Leipzig. Koehler. 1894.
12. Wetterstrand: „Der Hypnotismus". Wien und Leipzig.
1891. S. 31.
18. J. M. Charcot: „La foi c|ui gucrit". Revue hebdomadaire.
Tome VII. Dec. 1892.
14. K ein hold Gerling: Der praktische Hypnotiseur. Berlin.
Müller. III. Aufl. 1902.
15. Zeitschrift für Hypnotismus. Seit dem Jahre 1893
herausgegeben von A. Forel u. O. Vogt Leipzig. Barth.
Wie weit sich unter bestimmten Verhältnissen die ganze Per-
sönlichkeit unter hypnotischem Einfluß umgestalten kann, zeigt
die noch so geheimnisvolle Erscheinung des doppelten Bewußtseins.
Man findet darüber näheres in:
1. Max De8soir: Das Doppel-Ich. Leipzig, Günther. lti'MK
2. Azam: Hypnotisrae et double conscience. Paris. Alcan. 1H93.
3. Uson Osgood: „Duplex personality" Joura. nerv, and
raent. diseases. Spt. 1893.
4. Freiherr v. Schrenck- Notzing: Über Spaltung der
Persönüchkeit etc. Wien, Hölder, 1896.
Endlich auch in:
Robert Macnish: „The philosophy of sleep", Glasgow und
London.
') Biuswanger: Verwertung der Hypnose in Irrenanstalten.
Therap. Monatshefte 1892. Heft 3 u. 4, S. 167.
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— 107
„daß den Aussagen der an perverser Sexualempfindung
Leidenden über Erfolge in der Hypnose kein Glauben
beizumessen sei," umsomebr stimme ich aber Kratft-Ebing,
der — gleich groß als Kenner der Hypnose und der
Homosexualität — erklärt, 1 ) daß selbst die dauerndsten
Erfolge der Hypnose „ nicht auf wirklicher Heilung,
sondern auf suggestiver Dressur beruhen1*; „es seien
bewunderungswürdige Artefakte hypnotischer
Kunst, keineswegs Umzüchtungen der psychosexualen
Existenz." Krafft-Ebing führt, als bezeichnend dafür,
den glänzendsten freile rfolg Schrenck-Notzings an, dessen
Repräsentant nach vollendeter .Heilung* von sich selbst
sagte: „Ich fühle immer eine gewisse, nicht zu über-
windende Schranke, die nicht auf moralischen Gründen
basiert, sondern, wie ich glaube, direkt auf die Behandlung
zurückzuführen ist.* Der Verfasser der Psychopathia
sexualis schließt diese Bemerkungen mit dem Satze:
.Jedenfalls beweisen solche „Heilungen- (die hier und
vorher bei diesem Wort angebrachten Anführungsstriche
finden sich im Original) nichts gegen die Annahme des
originären Bedingteeins der konträren Sexualempfindung. •
Ich selbst habe sehr viele Urninge gesehen, die sich ver-
geblich hypnotischen Kuren unterzogen haben. Mir ist
ein Jüngling im Gedächtnis von so femininer Beschaffen-
heit, daß außer dem eigentlichen Genitalapparat auch
nicht das geringste männliche an ihm zu entdecken war.
Derselbe hatte sich über ein Jahr erfolglos bei einem
süddeutschen Kollegen hypnotisieren lassen. Ich kenne
persönlich nur einen Homosexuellen, der mir mitteilte,
daß er sich durch die suggestive Behandlung des Kollegen
Fuchs in Wien von seinem gleichgeschlechtlichen Triebe
befreit fühle. Doch, wie gesagt, wenn auch hundert
solcher Heilberichte vorliegen würden, sie würden nicht
') Psychop. »ex. S. 311 ft'.
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— 108 —
das Erworbenseiii der konträren Sexualempfindung er-
weisen, abgesehen davon, daß die Realsuggestionen, die
das Leben dem homosexuell Veranlagten erteilt, die Auto-
und Fremdsuggestionen, die fortgesetzt auf ihn wirken,
viel stärker sind, als die Verbalsuggestionen eines noch
so befähigten Arztes. Wären äußere Einflüsse imstande,
die Triebrichtung zu ändern, so müßte der gleich-
geschlechtliche Trieb längst erloschen sein.
Wie sehr ist die ganze Erziehung darauf gerichtet,
aus dem u mischen Knaben einen Vollmann zu entwickeln;
zu Hause und in der Schule wird er genau so wie die
anderen normalen Kinder erzogen, schon früh wird ihm
alles förmlich als Schande, zum mindesten als Unschick-
lichkeit, ausgelegt, was man als dem anderen Geschlechte
zukömmlieh ansieht. Fangen dann die Kameraden oft
schon mit dreizehn, vierzehn Jahren an, für das Weib
zu schwärmen, so gibt sich der homosexuelle Jüngling
die größte Mühe, es den andern nachzutun, er schämt
sich förmlich, daß er noch „ keine Flamme" hat und ihm
kein Name einfallen will, wenn es im Rundgesange heißt:
„Bruder, Deine Liebste heißt?" Sehr häufig tritt auch
die erste sexuelle Verführung von weiblicher Seite,
namentlich durch Dienstmädchen, ein. Aber so wenig
ein Heterosexueller durch die ebenfalls nicht seltene erste
geschlechtliche Erregung einer männlichen Person homo-
sexuell wird, ebenso wenig wird ein Homosexueller dadurch
weibliebend. Eine ganze Reihe von Urningen erklären
auf das allerbestimmteste, daß sie sich genau erinnern^
daß die erstmaligen Erregungsversuche vom. anderen Ge-
schlecht ausgingen. So schreibt einer unserer bedeutenderen
Schriftsteller: „Ich lege das Hauptgewicht darauf, daß,
trotzdem der erste sexuelle Anstoß weiblicher Art war
— eine Kindsmagd verführte mich — , trotzdem mir das
weibliche Geschlecht durch ' Erziehung von Jugend an
sozusagen auf dem Präsentierteller gereicht wurde und
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— 109 —
meine Lektüre nur die Weiberliebe verherrlichte — die
Neigung zum männlichen Geschlecht doch eintrat, sobald
ich des Zwanges ledig war." In der Tat ist auch die
Suggestionskraft der gesamten Literatur, die in ihren
Romanen und Epen, ihren Dramen und lyrischen Gedichten
nahezu ausschließlich die normale Liebe zum Mittelpunkte
hat, nicht imstande, den Trieb auf das Weib zu richten,
seine Richtung ist unerbittlich und unveränderlich. Wenn
es dem jungen Mann allmählich klar wird — was meist
um das zwanzigste Jahr herum der Fall ist — daß sich
sein Begehren von dem seiner Umgebung wesentlich unter-
scheidet, beginnt gewöhnlich ein Kampf gegen sich selbst,
der an Stärke wohl kaum seines gleichen hat. Ein homo-
sexueller Künstler berichtet: „Ich habe ganz furchtbar
gekämpft mit Aufgebot meiner ganzen Willenskraft; ver-
gebens; ich habe so gelitten, daß ich eine langjährige
Nervenkrankheit bekam. Kaum genesen, begann der
aufreibende Kampf von neuem. Als ich merkte, daß sich
die ureigenste Natur nicht umwandeln läßt, verfiel ich
in eine tiefe, lange Melancholie, die sich — obwohl ich
nie äußere Konflikte hatte — bis zum ärgsten Lebens-
überdruß steigerte etc." Ein Schweizer Uranier schreibt:
„Von Jugend an bin ich hartnäckig gegen mich ange-
gangen und habe mir die größte Mühe gegeben, meine
Neigungen zu beherrschen. Es gelang mir hie und da,
aber leider machte ich stets dieselbe Erfahrung; je länger
ich anscheinend siegreich den Trieb unterdrückte, um so
heftiger kehrte er auf einmal zurück. Hauptsächlich ge-
schieht dies nachts beim plötzlichen Erwachen, wenn die
Willenskraft durch den Schlaf vermindert ist. Was habe
ich nicht alles angewandt : feste Entschlüsse und Gelübde,
Ärzte zu Rate gezogen, Wasserkuren, Hypnose und
Elektrizität, systematische Ablenkung der gefährlichen
Gedanken durch körperliche Übungen, Ackerbau, Reisen,
Militärdienst, Studien, Lesen etc. Ich opferte geliebte
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— 110 —
Gegenstände ; weder Religion noch Philosophie waren mir
behülflich. Ich litt stark an Lebensüberdruß. Vier Jahre
war ich leidenschaftlich in einen jungen Mann gleichen
Alters verliebt, bis derselbe im 24. Jahre starb, ohne daß
ich ihm jemals eine Äußerung machen durfte. Es war
ein Höllenleben." Noch einen urnisch en Arbeiter wollen
wir hören: „Ich hatte von meinem 19. — 21. Jahr ein sehr
inniges und ideales Freundschaftsverhältnis, mein Freund
war ein Jahr jünger als ich, von großer Lebhaftigkeit^
Natürlichkeit und Fröhlichkeit. Nichts wäre imstande
gewesen, uns zu trennen. — Da entdeckten seine Eltern
in ihm den Urning und jagten ihn mit Schimpf und
Schande aus dem Hause. Er ging nach Paris und ist
seit 4 Jahren verschollen. O, diese elterliche Unvernunft!
Damals lernte ich erkennen, daß auch ich voll und ganz
zu jenen von der ehrbaren Welt Ausgeschlossenen gehöre,
öfter als einmal war ich nahe daran, diesem jammervollen
Leben ein Ende zu machen. Was ich infolge meiner
urnischen Natur gekämpft und gelitten, vermag ich auch
nicht annähernd zu schildern. Wenn ich nicht los-
knallte, so ist es wahrhaftig keine Feigheit gewesen,
sondern allein die Erkenntnis hielt mich ab, daß ein
größerer Mut dazu gehört, auszuharren, und daß nicht
die Natur, sondern die kurzsichtige Menschheit in Ver-
blendung den Fluch über uns geschleudert hat, welcher
— ich sage leider — hundertfach auf sie zurückfiel, indem
sie tausende von Menschen, deren geistige Tätigkeit für
sie von größtem Nutzen gewesen wäre, zur Verzweiflung
und in den Tod getrieben hat."
Unter den Mitteln, die angewandt wurden, den homo-
sexuellen Trieb auszurotten, steht die Religion obenan.
Sehr viele Urninge haben jahrelang auf den Knieen ge-
legen und Gott um „Errettung" angefleht. Eine nicht un-
beträchtliche Anzahl hat mitgeteilt, daß sie in diesem
langen vergeblichen Ringen schließlich ihren Glauben
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— 111 —
verloren haben. Ich zitiere zwei. Der eine — ein Arbeiter
— schreibt: „Durch meine sehr fromme Mutter stark zur
Religion erzogen, habe ich nach Erkenntnis meines see-
lischen Zustandes Gott in heißen Gebeten angefleht, er
solle mir in meiner Not einen Ausweg zeigen. Als ich
sah, daß sich trotz eiserner Beherrschung und ungeheurer
Kämpfe mein Zustand nicht änderte, habe ich mein Gott-
vertrauen verloren." Ein zweiter berichtet: .Ich rang
zu dem Gott, der mir in der Schule gelehrt war, mich
von dem gleichgeschlechtlichen Triebe, den ich für sünd-
haft hielt, zu befreien. Der Himmel aber blieb taub. Ich
kam mir oft vor wie ein Schiff, das mitten auf dem
Ozean den Wellen preisgegeben ist. Obwohl ich in
solchen Stunden dann niederkniete und im Gebete um
Erlösung schrie, blieb ich verlassen. Schließlich gerieten
darüber alle meine religiösen Anschauungen ins Wan-
ken. Jetzt glaubte ich an nichts mehr. Ich kann
nicht mehr glauben. Äl) Einige stark religiöse Naturen
') Anmerkung: Vor kurzem schrieb mir zu diesem Punkt ein
Ordensgeistlicher folgendes: Ich zweifle nicht daran, dass zahlreiche
Urninge um ihrer Geschlechtsnatur willen den Glauben verlieren. Sie
kommen allmählich dazu, sich selbst als lebendige Argumente wider die
Bibel und wider die Lehron der Kirche zu betrachten. Man geht
sicher nicht fehl, wenn man annimmt, dass der Anteil des Uranismus
an dem Kampf gegen das kirchliche Prinzip von jeher ein sehr be-
trächtlicher gewesen ist. Andere werden Zweitier und Grübler.
Auch homosexuelle Geistliche, und vielleicht diese gerade am
meisten, gehen oft ihrer Glaubensfreudigkeit verlustig und kämpfen
ihr Leben lang mit schweren Zweifeln. Je mehr die Reflexion Uber
sich selbst ihr Innenleben beherrscht, um so schwerer wird es
ihnen, die religiöse Disziplin ihrer Gedanken aufrecht zu erhalten.
Wieder andere, und dahin dürften wohl ganz vorzugsweise Theologen
gehören, regt das (Jeheimnis, das auf dem Grund ihrer Seele liegt,
zu positiver Geistesarbeit an. Die Argumente aus dem Consensus
communis und aus der Auctoritas doctrinalis, denen der Urning
überhaupt mit einem für ihn naturgemäßen Skeptizismus gegen-
übersteht, werden ihnen zum Gegenstand der Kritik und sie fangen
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— 112 —
kommen nach langen vergeblichen Kämpfen zu der
Überzeugung, daß ihr Zustand von Gott gewollt sein
muß. Ein katholischer Graf sagt: „Die Annahme, meine
Gleichgeschlechtlichkeit sei Sünde, Laster, Unnatur, er-
scheint mir als Beleidigung des allweisen Weltenschöpfers."
Und ein protestantischer Pfarrer meint: „Wenn ich um
meines mir eingepflanzten Triebes willen ein Verbrecher
bin, dann ist es der Schöpfer, der mich als Verbrecher
erschaffen hat. Das aber heißt doch, den Schöpfer einer
Untat bezichtigen. Gott erschafft niemand als Verbrecher.
Wer das sagt, lästert Gott." Einige wenige endlich be-
sitzen die Kraft, sich durch die Religion zur Abkehr
durchzuringen. Im unklaren über die Natur ihrer
Neigungen, die sie als niedrige Fleischeslust empfinden,
gelangen sie schließlich — meist nach Ablegung von
Keuschheitsgelübden — zum Enthaltsamkeit^ und Sittlich-
keitsfanatismus. Ich behandele ein 25 Jahre altes Mit-
glied des weißen Kreuzes an hochgradiger Neurasthenie,
an dessen Uranismus nicht der mindeste Zweifel besteht.
Er zeigt die vier charakteristischen Stigmata, somatische,
psychische Zeichen, große Abneigung gegen das Weib,
das er noch nie berührte, und einen Freundschafts-
enthusiasmus, über dessen geschlechtlichen Grundcharakter
er nicht unterrichtet ist. Nachdem er viele Jahre mastur-
bierte, hat er das Gelübde der Keuschheit abgelegt, das
er seit drei Jahren durchführt.
an, energisch zwischen Dogma und Sehulmeinung, zwischen kulturell
bedingter äusserer Form und wesentlichem Inhalt, zwischen objek-
tivem und subjektivem Christentum zu unterscheiden. Sie betonen
das Recht der Naturwissenschaft und der weltlichen Wissenschaft
überhaupt sowie die Notwendigkeit des Anschlusses an sie, sie ver-
urteilen die übertriebene Berücksichtigung d«r Tradition und ihrer
Auffassungen, sie bekennen sich zum Grundsatz „des durch das
Naturgesetz verbürgten Hechtes auf die ganze Wahrheit", sie
werden notwendig dahin gedrängt, wo das Losungswort „Reform"
und „Fortschritt" ausgegeben ist.
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— 113 —
Noch weniger wie die Religion ist das Gesetz im
Staude, die Homosexualität nennenswert einzuschränken.
Selbst die drohende Todesstrafe, die in einigen Ländern
früher auf dieser Art der Liebe ruhte, vermochte die
Urninge trotz ihrer Ängstlichkeit nicht abzuschrecken.
Die Ubereinstimmende Erfahrung von Leuten, die wirklich
im Stande sind, darüber ein Urteil abzugeben, stellen es
ganz außer Zweifel, daß homosexuelle Handlungen in
gleicher Häufigkeit vorkommen, ob Gesetze bestehen
oder nicht; so sind diese Akte in Deutschland und
England keinesfalls seltener, nach Ansicht vieler Ur-
ninge sogar eher häufiger als in Holland und Frank-
reich, wo die entsprechenden Paragraphen gestrichen
sind. Mir teilten Homosexuelle mit, daß ihr Haupt-
gedanke im Gefängnis die Sehnsucht nach dem Freunde
war, durch dessen Umgang sie ihre Freiheit ver-
loren hatten. Wiederholt habe ich von urnischen
Richtern gehört, wie sehr sie gerade unter dem Konflikt
zwischen ihren Berufspflichten und den eigenen Trieben
zu leiden hatten. Ein noch junger Jurist schrieb mir:
„Einmal hatte ich, selbst homosexuell, als Staatsanwalt
gegen Homosexuelle zu plaidiren, einmal als Richter
über einen Homosexuellen zu urteilen, einmal über mir
bekannte Homosexuelle, darunter war ein guter Freund
und einer, mit dem ich oft geschlechtlich verkehrt, als
Richter mitzuurteilen wegen Vergehen gegen § 175.
„Letztere Zwangslage wurde mir erspart, indem ich mich
durch einen anderen Richter vertreten ließ."
Auch der Verlust der Lebensstellung nützt nichts,
ebenso wenig schützen die Erpressungen, von deren
Furchtbarkeit und Ausdehnung sich niemand eine Vor-
stellung machen kann, da ja nur ein ganz verschwindender
Bruchteil an die Öffentlichkeit gelangt. Es ist das Gleiche
wie mit venerischen Ansteckungen, unehelichen Schwänge-
rungen etc. der Heterosexuellen, von denen wir ja auch
Jahrbuch V. 8
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— 114 —
wissen, daß sie trotz der entstehenden Unannehmlichkeiten,
vor Wiederholung normalsexueller Akte mit zweifelhaften
Personen selten abhalten.
Der Konflikt mit der Familie, unter dem der ge-
fühlvolle Urning ganz besonders heftig leidet, vermag
ebenfalls nichts. Am ehesten scheinen noch die Mütter
für das abweichende Empfindungsleben der Söhne Ver-
ständnis zu haben. Ein Urning erzählte mir einmal, daß,
als seine Mutter auf dem Sterbebette lag und ihre fünf
Kinder mit dem Gatten um sich versammelt hatte, sie
als letzten ihn zu sich herabzog, ihn länger umarmte als
alle andern und mit sterbender Stimme sagte: „Grüße
mir Deinen Freund." .An dem Blick, mit dem sie mich
dabei ansah/1 schloß der Mann, „merkte ich, daß meine
Mutter, mit der ich nie darüber gesprochen, alles wußte."
Als eines der wirksamsten Mittel zur Bekämpfung
homosexueller Triebe wird von manchem der Geschlechts-
verkehr mit dem Weibe und die Eheschließung angesehen.
Schrenck-Notzing rät *) sogar : „Man bestimme solche In-
dividuen (gemeint sind Urninge) temperamentvolle Frauen
mit lebhaftem Geschlechtstrieb zu heiraten." Ich kenne
unter vielen Hunderten auch nicht einen einzigen, der
durch den heterosexuellen Verkehr seines Triebes Herr
geworden wäre, im Gegenteil, der inadäquate, oft er-
zwungene Verkehr scheint oft einen Anreiz zu geben, die
subjektiv natürliche Befriedigung zu suchen. Es stimmt
diese Erfahrung damit überein, daß von Normalsexuellen
den Urningen gegenüber oft angegeben wird, ein homo-
sexueller Akt reize sie zu heterosexuellem Verkehr.
Die Regelung der Lebensweise sowie physikalische,
diätetische und pharmakologische Medikationen sind wohl
imstande, hie und da das Beherrschungsvermögen, die
Willenskraft, die Triebstärke günstig zu beeinflußen, nie
») a. a. 0. S. 205.
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— 115
aber den Trieb selbst in seiner Richtung abzuändern.
Auch in Spezialheilanstalten, die Bloch und andere für
Homosexuelle vorschlagen, dürfte schwerlich jemand „ge-
heilt" werden. Mir ist ein junger Kollege bekannt, der
auf Veranlassung seines Vaters, der ebenfalls Arzt ist,
zur Behandlung in eine geschlossene Anstalt ging, nach
einigen Wochen aber bereits vom Chefarzt gefragt wurde,
ob er nicht lieber als Assistenzarzt der Heilanstalt ange-
hören wolle, ein Vorschlag, der acceptiert wurde. Ich
kenne Homosexuelle, die aus therapeutischen Gründen
eine sehr energische Sportstätigkeit entfalteten, andere,
die Vegetarier, wieder andere, die alkoholabstinent wurden,
ohne daß sie die Richtung ihres Triebes im geringsten
beeinflußen konnten.
Als ein etwas besseres Mittel wirkt intensiv geistige
Arbeit, durch die viele sich zu betäuben suchen. Daß
zwischen geistiger und geschlechtlicher Betätigung eine
Art Gegensatz besteht, ist ja seit langem bekannt.
Besonders scheint die rein verstandesgemäße Tätigkeit,
wie sie sich beispielsweise bei den großen Philosophen
vorfindet — man denke an das große Dreigestirn
des XIX. Jahrhunderts, Kant, Schopenhauer, Nietzsche
— die Asexualität zu begünstigen; eine dauernde
Unterdrückung oder Ablenkung des Geschlechtstriebes
gelingt aber nur verschwindend wenigen, ja es scheint,
als ob gewisse Arten geistiger Produktion, die mehr im
Gefühlsleben wurzeln, also künstlerische, sogar einer
Steigerung der Libido eher förderlich sind.
Alles in allem kann man sagen, daß der homo-
sexuelle Trieb durch gewisse Urnstände wohl in seiner
Gewalt beeinflußbar, aber an und für sich völlig un-
ausrottbar ist, geschweige denn, daß es möglich ist,
ihn in einen heterosexuellen umzuwandeln.
So wenig äußere Faktoren den homosexuellen in
einen heterosexuellen Trieb abändern können, genau so
8*
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- 116 —
wenig können sie aber auch den Heterosexuellen — wie
es die Anhänger der Erwerbstheorie glauben — homo-
sexuell machen. Die von uns angeführten Tatsachen
stehen im denkbar größten Widerspruch zu der Meinung
Blochs, daß der Geschlechtstrieb durch Gelegenheitsur-
sachen ganz außerordentlich bestimmbar sei und daß wir
im Variationsbedürfnis das ,Ur- und Grundphänomen des
Geschlechtslebens" zu suchen haben.1) Geben äußere
Einwirkungen für psychologische Zustände fast niemals
einen zureichenden Erklärungsgrund, beruhen, wie — wenn
ich nicht irre — Möbius einmal sagt, a Erklärungen aus
dem Milieu fast stets auf Oberflächlichkeit", so trifft dies
in hervorragendem Maße bei einem Triebe zu, der, wie
wir sahen, aufs innigste mit der ganzen Persönlichkeit
verwachsen ist, der vielleicht sogar die Basis aller übrigen
psychischen Erscheinungen bildet Die zuerst von ßinet
in der Revue philosophique (Paris 1887. Nr. 8) aufge-
stellte, später in ähnlicher Weise oft wiederholte Ver-
mutung, daß die konträre Sexualempfindung durch „patho-
logische Associationen* in frühester Kindheit, durch „einen
„choc fortuit", ein psychisches Trauma bedingt sei, ist
eine bisher durch kein Tatsachenmaterial erhärtete Hypo-
these. Wenn es wirklich lediglich darauf ankäme, ob
jemand die erste Erektion durch ein Weib oder durch
einen Mann gehabt hat, dann müßte die Zahl der Homo-
sexuellen weit größer sein, da nachweislich in den Schulen
sehr viele zuerst gleichgeschlechtlich erregt werden. WTie
soll aber ein derartiger choc die doch meist im Vorder-
grunde stehende negative Seite der Erscheinung, die Ab-
neigung gegen das Weib, erklären und wie vor allem soll
er imstande sein, eine solche Umgestaltung der ganzen
körperlichen und geistigen Beschaffenheit hervorzurufen,
wie sie doch beim Homosexuellen die Regel bildet? Ich
") a. a. 0. Band II. S. 364.
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— 117
erinnere mich der Bemerkung eines Kollegen, dem ich
einmal einen Homosexuellen vorstellte, der in jeder Linie
seines Gesichts, in der kleinsten Bewegung, in der Stimme
und im ganzen Gebaren den geborenen Urning verriet.
Der Kollege rief mit feiner Ironie aus: »Wie stark muß
bei dem Manne der choc fortuit gewesen sein!"
Würden wir übrigens annehmen, was ich für ganz aus-
geschlossen halte, daß eineoccasionelle Ideenassociation post
partum den Geschlechtstrieb so fest zu determinieren und
die ganze Individualität dementsprechend umzugestalten
imstande wäre, so würde das nach allem früheren die Auf-
fassung nicht beeinträchtigen können, daß es sich hier um
eine unveränderlich normierte und unverschuldete Eigen-
schaft handelt. Im Widerspruch mit der soeben erwähnten
Theorie steht die Ansicht derer, welche glauben, daß nicht
sowohl der erste Eindruck, sondern mehr die Sucht nach
Abwechslung, das Bedürfnis nach dem Neuen unter
dem Einfluß »äußerer Reize" das Entscheidende sei
(Bloch, II. B., S. 260 u. 364). Beide Ätiologieen haben
das gemeinsam, daß sie Gelegenheitsursachen für Grund-
ursachen, Anlässe für Bedingungen halten. Die geschil-
derten Reize sind gänzlich wirkungslos, wenn nicht die
angeborene Anlage als das wahre ätiologische Moment
vorhanden ist. Bloch hat das Verdienst, in seiner fleißigen
Arbeit eine Reihe von Umständen zusammengestellt zu
haben, die zur Manifestation des Triebes den Anstoß geben,
von dessen Stärke es abhängig sein wird, ob er selbständig
hervorbricht oder Gelegenheiten bedarf, die ihn aus dem
Latenzstadium erwecken. Daß die zahlreichen angeführten
Gründe — über 60 unmöglich als ausreichend ange-
sehen werden können, geht mit Sicherheit daraus hervor,
daß es wohl Uberhaupt keinen Menschen gibt, der nicht
im Leben einem oder mehreren der genannten Faktoren
nachdrücklichst und wiederholt ausgesetzt war. Tatsäch-
lich wird von diesen aber nur ein ganz kleiner Teil homo-
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— 118 —
sexuell. Derselbe Reiz läßt den einen vollständig kalt
oder beeinflußt ihn nur ganz vorübergehend, für eiuen
andern bildet er das höchste Lustgefühl, und er beginnt
sich dauernd homosexuell zu betätigen. Der Grund hier-
für kann nur in der verschieden gearteten Psyche
der Beteiligten gefunden werden, nur die unterschiedliche
Konstitution kann bewirken, daß sich Menschen denselben
Umständen gegenüber so unterschiedlich verhalten. Deß-
halb ist das wesentliche die angeborene Be-
schaffenheit. Gerade daß diese äußeren Eindrücke,
wie Bloch meint, mit solcher Leichtigkeit Homosexualität
erzeugen, beweißt ja, eines wie geringen Anstoßes es be-
darf, den vorhandenen Trieb zu erregen.
Es gibt nach Blochs Ätiologie der Psychopathia
sexualis fast nichts, was nicht als Entstehungsursache
der Homosexualität in Betracht gezogen werden müßte;
es hat förmlich etwas Rührendes, zu beobachten, wie sich
dieser eifrige Autor abmüht, alle nur möglichen äußeren
Anlässe zusammenzutragen, und dabei an dem ausschlag-
gebenden inneren Faktor gänzlich vorübersieht. Unter
den Dingeu, die allein durch ihre Einwirkung Homo-
sexualität erzeugen sollen, befinden sich vielfach die voll-
kommensten Gegensätze. So führt Bloch als Ursachen
der Homosexualität an zu heißes (Bd. I. S. 21 u. 174) und
zu rauhes (S. 33) Klima, Askese (S. 97) und Über-
sättigung (S. 67, S. 221), Ehelosigkeit (S. 61) und Viel-
weiberei (S. 170), Jugend (S. 52) und Greisenalter (S. 53),
mangelnden (S. 38) und übermäßigen (S. 68) Geschlechts-
trieb, Verehrung (S. 74) und Verachtung (S. 96) der
Körperschönheit, Anblick des bekleideten (S. 141) und
des nackten Körpers (S. 185, 221). Leben in Arbeiter-
wohnungen (S. 179) und bei Hofe (S. 179), in Fabriken
(S. 184) und auf dem Lande (S. 51).
Als weitere ätiologische Momente, welche bei normal-
sexuellen gesunden Menschen zur Homosexualität führen
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— 119 —
sollen, nennt Bloch Berufe, die mehr dem weiblichen
Charakter entsprechen wie die der Köche, Friseure,
Damenschneider, Damenkomiker (S. 65), sehr lebhafte
oder irregeleitete Phantasie (8. 70) besonders beim Künstler
(S. 74), religiösen Affektzustand1) (S. 78 ff). Abnormitäten
der Genitalien *) (S. 126), übermäßige Kleinheit des
membrum virile, abnorme Weite oder Kürze der
Vagina (S. 127), Gonorrhoe (S. 127), Kastraten- und
Eunuchen tum (S. 128), körperlichen Hermaphrodit ismus
(S. 130), Onanie (S. 132), chronischen Alkoholismus8)
^Anmerkung: Bloch erwähnt die mohamedanische Sekte der
Sutis und zitiert F. v. Hellwald*), welcher berichtet, daß Tagy-
äldyn-Kaschy zu beweisen versuchte, daß nur ein Päderast ein
großer Sufi sein könne. Bloch fügt diesem Zitat wörtlich hinzu:
„Hier haben wir also bereits ein typisches Beispiel einer rein reli-
giösen Entstehung und Ausübung der homosexuellen Befriedigung
des Geschlechtslebens.44 Diese kühne Hypothese erinnert stark an
die später (S. 117) ebenfalls von Bloch erwähnte Vermutung von
Baas**), daß die Beschneidung weniger eine hygienische Maßregel
sei als vielmehr in der fetischistischen Verehrung der Präputien
(„Fetischoperation") ihren Grund habe. Von S. 120 ab verbreitet
sich der Autor noch ausführlich über die „religiöse Homosexualität"
und gibt der Meinung Ausdruck — ohne sie allerdings durch Tat-
sachen zu begründen — daß man anfangs wohl weibische, homo-
sexuell empfindende Menschen gern zu Priestern bestimmt habe,
deren Neigungen dem primitiven Menschen als etwas besonders
Dämonisches erschienen seien, später habe man wohl auch solche
künstlich gezüchtet, besonders in gewissen Sekten religiöser
Fanatiker.
*) Hellwald: Kulturgeschichte. Augsburg 1875. S. 611.
**) H. Baas: Die geschichtliche Kntwickelung des ärztlichen
Standes. Berün 18%. S. 7.
*) S. 126 heißt es wörtlich: „Auch die Phimose kann direkt
homosexuelle Zustände erzeugen."
*) S. 137 heißt es: „Es ist sehr bezeichnend, daß in Zansibar
das Suaheli-Wort „Walevi44 = Säufer direkt für Päderast gebraucht
wird.'*
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— 120 —
(S. 137), Opiumgenuß (S. 138) *), Haschischgebrauch (S. 138),
Effemination in Tracht und Sitte (S. 161), Bedürfnis nach
Variation in den sexuellen Beziehungen, welches sich
zum geschlechtlichen Reizhunger steigern kann (8. 1G6),
Wüstlingtum, Don-Juanismus, Mtissiggang und Blasiert-
heit (S. 171), direkte Verführung, besonders durch Auf-
sichtspersonen (S. 174) und in Bordellen (S. 177), sowie
durch andere Urninge (S. 238), Zusammenwohnen gleich-
geschlechtlicher Personen in Kasernen (S. 179), Schulen,
Pensionaten (S. 180), Kadettenhäusern, Harems (S. 182),
Mönchs- und Nonnenklöstern, Gefängnissen (S. 183),
großen Hdtels (S. 184) und Theatern (S. 185), die öffent-
lichen Bedürfnisanstalten (S. 185), den Anblick tierischer
Geschlechtsakte sowie das intime Zusammenleben mit
Tieren (S. 186), die erotische und obscöne Litteratur1)
(S. 188), auch nicht obscöne Werke wie die Bibel und
die Schriften der Kirchenväter (S. 189), den Anblick ge-
schlechtlich erregender Kunstwerke (S. 200), die Betrach-
tung des eigenen Spiegelbildes tt) (S. 201), obscöne Photo-
graphien (S. 202 ff. und Bilder4) (8.302), obscöne Täto-
') S. 138 sagt Bloch: „H. Libermann (les Fumeurs d'Opinm en
Chine. Etnde medicale Paria 1862. S. 63 ff.) flihrt daher wohl
nicht mit Unrecht die Verbreitung der Homosexualität in China auf
den Opiumgenuß zurück."
«) S. 196 heißt es: „Die ätiologische Bedeutung derartiger
Lektüre für die Genesis geschlechtlicher Verirrungen wird vor allem
dadurch erwiesen, daß die meisten geschlechtlich abnormen Indi-
viduen eifrige Leser solcher Werke sind."
•) S. 201 : „Unter Umständen kann die Darstellung des eigenen
nackten Ich im Spiegelbilde die Phantasie in abnormer Hichtiuiir
beeinflußen, besonders bei noch undifferenziertem geschlechtlichem
Empfinden und bei Unkenntnis des anderen Geschlechts."
4) S. 208 erklärt Bloch wörtlich, „daß die große Verbreitung
der obseönen Bilder mit ihren Darstellungen aller geschlechtlichen
Verirrungen, perversen Akte und scheußlichster Unzucht einen un-
verhältnismäßig größeren Anteil an der Genesis und zunehmenden
Häufigkeit der sexuellen Perversionen hat, als irgend eine ange-
borene oder auch nur durch Krankheit erworbene Anlage."
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— 121 —
wirungen (S. 210), ferner den Besuch von Museen mit an-
tiken und modernen Statuen, noch mehr aber der soge-
nannten anatomischen Museen mit plastischenNachbilduugen
männlicher und weiblicher Geschlechtsteile (S. 210), so-
wie der öffentlichen Kunstausstellungen (S. 212), auch
Ballette, Tänze, gewisse Darbietungen im Zirkus, Spe-
zialitätentheater, lebende Bilder, Poses plastiques heroischer
oder idyllischer Natur, sowie den Anblick von Männern
in Damen- und Mädchen in Männerkleidern (S. 214),
weiterhin die zufällige Beobachtung männlicher Genitalien
z. B. des väterlichen Membrums (S. 221), eigene ab-
stoßende Häßlichkeit (S. 222), Furcht vor venerischen
Leiden (S. 223), abnorme Beschaffenheit der Analgegend
(S. 224), Analmasturbation (S. 224). J) Flagellation der
Analgegend (S. 227), Annahme männlicher Lebensführung
namentlich bei Prostituierten (S. 232), umgekehrt weib-
liche Angewohnheiten bei Männern *) (S. 233), die
Mysogynie des Lebemannes (S. 235), die männliche
Prostitution (S. 241). Als besondere Ursachen der
weiblichen Homosexualität führt Bloch an einmal die
„mutuelle Masturbation der Clitoris cum digito et lingua"
(S. 244), »den Überdruß am Manne, den Widerwillen gegen
den Verkehr mit dem Manne" (S. 244 und 245), den
Wunsch mancher Männer, besonders der voyeurs (S. 247)
') S. 226 beruft sich Bloch auf Leo Taxil, der in seinom
Buche „La corruption fin-de-siecle Paris 1894 S. 245 berichte, „es
gäbe Subjekte, die sich in coitu cum femina von deren Zuhältern
gleichzeitig pädicieren ließen" und fugt dann seinerseits wörtlich
hinzu: Hieraus entwickelt sich dann naturgemäß häufig genug ein
gleichgeschlechtlicher Verkehr, der den ehemals heterosexuellen
Wüstling zu einem typischen Urning stempeln kann."
») S. 233 behauptet Bloch: „Der wirkliche „Weibling" wird
meist künstlich gezüchtet" und 8. 235: „Es ist kein Zufall, daß
Komiker, die Frauenrollen darstellen, fast stets homosexuell sind.
Diese scheinbar rein äußerliche Effemination vermag eben den
ganzen inneren Menschen umzuwandeln."
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— 122 —
und last not least die moderne Frauenbewegung (S. 248),
von der er sagt: „ Einen meines Erachtens nicht unbe-
denklichen ätiologischen Faktor in der Genesis der
Tribadie bildet die moderne Frauenbewegung, die das
Weib auf sich allein stellt, männlich empfindende Charaktere
züchtet etc.* — Bloch beschließt seine sorgsame Auf-
zählung, in der wohl nichts Ubergangen ist, was für die
Erwerbstheorie in Frage kommen konnte, mit dem Satz
(S. 249): „Wir haben erfahren, daß in der großen Mehrzahl
der Fälle die gleichgeschlechtliche Liebe aus äußeren
occasionellen Momenten entspringt, daß eine originäre
Anlage zu derselben sehr unwahrscheinlich, jedenfalls sehr
selten ist".
Der Beweis, daß diese „äußeren occasionellen Mo-
mente" unmöglich für die Entstehung der Homosexualität
genügen können, ist sehr leicht zu erbringen. Man kann
die von Bloch aufgeführten Erwerbsmöglichkeiten unschwer
in drei Gruppen teilen.
In der ersten Abteilung sind die zahlreichen
Dinge unterzubringen, die viel zu allgemein verbreitet
sind, um überhaupt als einigermaßen vollgiltiger Grund
in Frage kommen zu können. Da Millionen und aber
Millionen Menschen tierische Geschlechtsakte erblicken
oder eine Bedürfnisanstalt benutzen, unter hundert
Menschen aber nur einer homosexuell ist — nach Bloch
sind es noch viel weniger — so kann nach allen Gesetzen
der Logik hier unmöglich ein Causalnexus statuiert werden.
Wenn von den vielen, die im heißen oder rauhen Klima,
in Arbeiterwohnungen oder bei Hofe leben, die eine sehr
lebhafte Phantasie oder ein sehr religiöses Gemüt besitzen,
die öffentliche Kunstausstellungen oder Museen aufsuchen,
in Schulen und Pensionaten zusammenwohneu oder sich
nackt im Spiegel erblickt haben, dur ein ganz ver-
schwindend kleiner Prozentsatz Urninge sind, so müssen
die genannten Umstände einer anderen Causalität gegen-
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- 123 —
über völlig irrelevant sein. Dasselbe gilt auch von der
Onanie. Berücksichtigen wir, daß sich unter 100 Per-
sonen 99 Onanisten befinden, unter diesen 99 aber nur
ein Homosexueller, so werden wir niemals die Onanie als
hinreichenden Grund für den homosexuellen Trieb ansehen
dürfen. Es sei hier übrigens angesichts der immer wieder-
kehrenden Betonung dieser angeblichen Entstehungs-
ursache betont, daß der wohl größte Sachverständige auf
diesem Gebiet, Rohleder, in seiner trefflichen Monographie :
„Die Masturbation" die Onanie wohl als eine Folgeerschei-
nung der konträren Sexualempfindung hervorhebt, von einer
Entwickelung der letzteren aus der Onanie aber nichts
zu berichten weiß ,).
Wir sind damit bei der zweiten Gruppe augelangt,
bei den nicht weniger zahlreichen Momenten Blochs, bei
denen die Verwechslung von Ursache und Wirkung un-
verkennbar ist. Nicht aus der Ehelosigkeit oder Impotenz
eines Menschen entsteht seine gleichgeschlechtliche Neigung,
sondern diese hat seine Ehelosigkeit zur Folge, ebenso
ist der Widerwillen der Frau vor dem Manne nicht die
Ursache, sondern eine Wirkung ihrer homosexuellen
Natur. Auch bedingt nicht die weibliche Kleidung eine
Umgestaltung des inneren Menschen, sondern der innere
Mensch verschafft sich die Kleidung, die ihm zusagt.
Die Ursache des Charakters liegt also nicht in der Tracht,
sondern die Ursache der Tracht im Charakter des Menschen.
Ebenso ist es mit dem Beruf des Urnings. Er wird nicht
feminin, weil er Frauenrollen spielt, sondern, weil er
feminin ist, bevorzugt er Frauenrollen. An homosexuellen
Kunst- und Literaturwerken wird nur derjenige Interesse
nehmen, der dafür empfänglich ist. Dem Normalsexuellen
*) Dr. med. Hermann Kohleder. Die Masturbation, eine Mono-
graphie für Ärzte und Pädagogen. Berlin. Fischer» mediz. Buch-
handlung 1899. Seite 65 und 287.
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— 124
wird ein urnischer Kornau gleichgültig oder abstoßeud
sein. Wer keine JUnglingsphotographieen liebt, wird sich
auch keine kaufen.
Die dritte Rubrik endlich umfaßt alle jene Behaup-
tungen, die gänzlich eine Kenntnis des Homosexuellen
vermissen lassen. Wenn Bloch nur 200 Homosexuelle
untersucht haben würde, hätte er ganz sicherlich nicht
geschrieben, daß Abnormitäten der Genitalien, abnorme
Beschaffenheit der Analgegend, abstoßende Häßlichkeit
oder gar chronischer Alkoholismus zur Homosexualität
führen können. Es entspricht einfach nicht den Tat-
sachen, daß der Durchschnitt der Homosexuellen häßlicher,
trunksüchtiger oder im höheren Maße mit Genitalanomalien
behaftet ist, wie der Durchschnitt der Normalsexuellen.
Manche der angegebenen Gründe lassen sich unter zwei
Gruppen rubrizieren. So sind die Anhängerinnen der
Frauenbewegung viel zu zahlreich im Verhältnis zu der
Menge urnischer Frauen, als daß dieser Emanzipations-
kampf — so sehr er immerhin in der Häufigkeit sexueller
Zwischenstufen seine Stütze findet einen ausreichenden
Erklärungsgrund abgeben könnte, andererseits besitzen
allerdings gerade die homosexuellen Frauen Eigenschaften,
die sie zu besonders aktiven Vorkämpferinnen für die
Rechte der Frau befähigen. Diese Qualifikation ist aber
nicht die Ursache, sondern lediglich die Folgeerscheinung
ihres Uranismus. Daß aus der Verführung, dem Variations-
bedürfnis und dem Wüstlingtum nie ein homosexueller
Geschlechtstrieb entstehen kann, haben wir bereits oben
sehr eingehend auseinandergesetzt. Wenn übrigens Bloch,
Hoche u. a. so oft betonen, daß ein Normalsexueller aus
jReizhunger" homosexuell werden könne, so bleiben sie
stets den Beweis schuldig, worin denn die Reizsteigerung
hier bestehen soll. Welche Vorteile oder Vorzüge bietet
denn dem Homosexuellen der Verkehr mit demselben
Geschlecht, welcher doch im Gegenteil an seine psychische
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— 125 —
Potenz mindestens so hohe Anforderungen stellt, als der
Umgang mit dem Weibe?
So gelangen wir denn auch, indem wir sämtliche
Ursachen, die für das Erworbensein der c. S. in Betracht
kommen, leicht als nicht stichhaltig oder nicht ausreichend
widerlegen können, per exclusionem zu dem Schlüsse, daß
die Homosexualität nicht erworben, sondern nur in der
angeborenen Konstitution des Menschen begründet sein kann.
IV. Die Naturnotwendigkeit der
Homosexualität.
Es ist ein Beweis für das Natürliche und Ursprüng-
liche einer Erscheinung, wenn sich dieselbe in eine fort-
laufende Reihe verwandter Naturerscheinungen so ein-
fügt, daß ihr Mangel geradezu einen Ausfall in der
lückenlosen Linie bedeuten würde. Für die Erscheinung
der Homosexualität trifft dies im vollsten Umfange zu.
Es wäre sehr merkwürdig, wenn von den fließenden
Übergängen, die sich an jedem Organ, an jeder Funktion
von einem zum anderen Geschlechte führend nachweisen
lassen, der Geschlechtstrieb ausgenommen wäre. Wenn
sämtliche männliche Eigenschaften gelegentlich vereinzelt
oder in größerer Anzahl bei einem Weibe und umgekehrt
sämtliche weiblichen beim Manne auftreten können,
woran auch nicht mehr der mindeste Zweifel bestehen
kann, so würde es etwas ganz Außerordentliches sein,
wenn der Geschlechtstrieb hier die einzige Ausnahme
bilden sollte. Das Nichtvorhandensein der Homosexualität
würde ein viel größeres Wunder gewesen sein, wie ihre
Existenz, die vielen befremdlicher und naturwidriger er-
scheint, wie das gelegentliche Vorkommen eines wohl
entwickelten Bartes beim Weibe oder milchgebender
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— 126 —
Brüste ') beim Manne. Wie man nach den Atomge-
wichten die im periodischen System der Elemente noch
fehlenden Stoffe vorausberechnen konnte, ehe man sie fand,
wie man aus den Abständen der Planeten die Stelle und
die Umlaufsbahn des Neptun beschrieb, ehe man ihn
entdeckte, wie man die Zwischenstufen zwischen den
Vögeln und Reptilien eingehend schilderte, ehe man im
Solenhof er Kalkschiefer auf den Archaeopteryx stieß, so
hätte ein gescheiter Kopf die Homosexuellen nachweisen
können, ehe er sie von Angesicht zu Angesicht sah.
Keine Erscheinung steht in der Natur isoliert da, jede
zeigt, die vielseitigsten Verbindungen mit den übrigen
Naturkörpern, überall gibt es Übergänge; wie zwischen
dem Kinde und dem Erwachsenen der Jüngling und
die Jungfrau, so bildet zwischen Mann und Weib der
Urning und die Urauierin eine Naturnotwendigkeit. Man
hätte vermutlich diese Übergangsreihen viel eher er-
kannt und gewürdigt, wenn sie sich nicht auf jeden Ge-
schlechtscharakter für sich beziehen könnten, ohne daß
entsprechend die anderen miteinbezogen sind, dadurch
entsteht ja eben die ungeheure Variation und kaum zu
übersehende Mannigfaltigkeit. Im Grunde genommen ist
jeder Mensch erst durch das ihm innewohnende Mischungs-
verhältnis männlicher und weiblicher Teile verständlich.
Selbst im gröberen ist die Verschiedenartigkeit und Menge
der Abweichungen so groß, daß alle Versuche, die
körperlichen und geistigen Zwischenstufen iu eine be-
stimmte Ordnung zu bringen, 2) gescheitert sind. Zwischen
') Milchgebende Männer werden bereits von Alexander von
Humboldt und Bonpiandt erwähnt in der „Reise in die Aquinoctial-
gegenden des neuen Kontinents in den Jahren 1799 — 1804. 2. Teil.
Stuttgart und Tübingen 1818. S. 40 ff.
") Derartige Klassifizierungs- Versuche wurden unternommen von :
1. Leonidas, Chirurg in Alexandrien, im 3. Jahrhundert, dessen
Werke verloren sind; seine Einteilung wird angeführt von Aetius,
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127 —
den echten, Pseudo- und psychischen Hermaphroditen,
den scheinbar rein somatischen und anscheinend rein
geistigen Formen sind keine sicheren Grenzen zu ziehen.
Mit der Menge wissenschaftlicher Beobachtungen hat
sich das System mehr und mehr kompliziert, um sich
schließlich dahin zu vereinfachen, daß im Grunde ge-
nommen jeder Fall in der Unsumme der Zwischenstufen
einen Fall für sich, eine Klasse für sich, ein Geschlecht
für sich bildet
Der Vollmann und das Vollweib sind in Wirklichkeit
nur imaginäre Gebilde, die wir nur zu Hilfe nehmen
müssen, um für die Zwischenstufen Ausgangspunkte zu
der in der Mitte des 6. Jahrhunderts in Mesopotamien lebte. Seine
Angaben finden sieh zitiert bei Haller • Bibliotheea Chirurg. Basil.
1774. T. L. p. 79.
2. Ulisse Aldrovandi, Monstrornm historia, Bononiae 1642, von
Ambrosini veröffentlicht. Früher hatte Aldrovandi, der 1605 starb,
erklärt, eine Klassifizierung der Hermaphroditen sei wegen der von
den Antoren beschriebenen großen Zahl und Verschiedenheit der
Formen unmöglich. Einer seiner Vorgänger. Argelata Pietro, Venezia
1499, erklärte in seiner Chirurgia den Hennaphroditismus ftlr eine
„unerklärliche und abscheuliche Affektion bei den Menschen".
3. Pierre Dionis, Conrs d'operations de Chirurgie. Bruxelles
1708, p. 197. Er befürwortete das auch noch im 19. Jahr-
hundert wieder vorgebrachte Gesetz, daß die Hermaphroditen sich
filr eins der beiden Geschlechter entscheiden, und es ihnen verboten
sein sollte, das nicht gewählte zu gebrauchen.
4. Albrecht v. Haller, Comm. Göttingen. 1752. T. I. 1751
hatte Haller eine Schrift verfaßt: An dentur hermaphroditi ?
5. H. A. Wrisberg, Commentatio de singulari genitalium de-
formitate in puero hermaphroditum mentiente cum quibusdam obser-
vationibus de hermaphroditis. Göttingen 1796. Par. 19. S. 541— 542.
6. J. Fr. Meckel, Handbuch der pathologischen Anatomie.
Zwitterbildung, Leipzig, 1816. Bd. 2, Abt. 1, S. 196—221.
7. R. Lippi, Bizarre formi degli organi della riproduzione di
due individui della specie umana. Firenze 1826.
8. Johannes Müller, Bildnngsgeschichte der Genitalien. Düssel-
dorf 1830.
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— 128 —
besitzen. Einen hundertprozentigen Mann gibt es nicht,
solange noch jeder die Brustwarzenrudimente und den
Uterus masculinus aufweist, wohl aber einen, der zu 95,
94, 93 etc. % männlich, zu 5, (>, 7 etc. % weiblich ist,
die männlichen Qualitäten nehmen ab, und wir erreichen
die Stelle, wo 50% männliches und 50% weibliches in
einem Körper verbunden sind, von nun ab überragen die
weiblichen Charaktere die männlichen bis wir ganz all-
mählich dicht an den Typus des Vollweibes gelangen, an
dem vielleicht nur noch die Paradidymis an den Mann
erinnert. Es ist durchaus nicht gesagt, daß ein Indivi-
duum, das zu 75% weiblich, zu 25% männlich ist „ein
Weib" sein muß, es kann ebenso gut „ein Mann" 6ein,
an dem alles, abgesehen von dem Membrum und seinen
Adnexen, weiblich ist
Was von dem Ganzen gilt, [gilt auch von seinen
Teilen. Wenn die Zellen des weiblichen und männlichen
9. E. F. Gurlt (Berlin), Lehre von der pathologischen Anatomie.
1832. S. 183 (34 Tafeln).
10. Isidore Geoffroy de St. Hilaire, Histoire des anomalies de
l'organisation. Paris, 1846. T. II, p. 36.
11. Carlo Cotta, Alcune ideo suirermafroditisrao. Hilano 1844.
(Gazz. medico d. Milano.) T. III, S. 205.
12. A. Forster, Die Mißbildungen des Menschen. Jena 1861.
18. Edwin Klebs, Handbuch der pathologischen Anatomie.
Berlin 1876. Bd. 1, Abt. 2, S. 786.
14. E. F. Gurlt, Über tierische Mißgeburten. Berlin 1877.
15. F. Ahlfeld, Die Mißbildungen des Menschen. 2. Abschn.
Leipzig 1880. S. 243.
16. G. Pozzi, De l'ennaphroditisme. Gaz. hebdom. 1890.
Nr. 30, p. 351.
17. Cesare Tarufti, Herinaphrodismus und Zeugungsfähigkeit,
deutsch von Dr. R. Teuscher. Berün 1903 (Barsdorf).
18. Die psychischen Hermaphroditen klassiözicrte Krafft-Ebing.
Psychopathia sexualis. Auch seine Klassen gehen unabgegrenzt in-
einander über, ebenso wie die von Ulrichs aufgestellten Gruppen
der Mannlinge und Weiblinge.
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männlicher Typus
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Organismus in ihrer Größe und Konsistenz Unterschiede
aufweisen, was durchaus wahrscheinlich ist, so können
wir sicher sein, daß es zwischen der einen und anderen
Durchschnittsform zahllose Abstufungen gibt. Man mag
jedes beliebige Stück am Menschen herausgreifen, stets
wird man diesen ganz allmählichen Übergang leicht wahr-
nehmen können. Nehmen wir die kräftige, derbe Hand
des Vollmann-Typus und die relativ und absolut kleinere,
zartere, weichere Hand des weiblichsten Weibes, zwischen
beiden gibt es eine Legion unmerklich in einander über-
gehender Formen. Das Durchschnittsbecken des Weibes
und des Mannes weisen wesentliche Differenzen auf und
doch sind auch hier die Zwischenforraen so zahlreich, daß
es bei ausgegrabenen Becken häufig sehr schwer hält, zu
sagen, ob es ein männliches oder weibliches war, viele
Becken, die der Gynäkologe als „allgemein verengte*
bezeichnet, sind tatsächlich nur virile Becken. Dasselbe
gilt vom Schädel, von den weiblichen und männlichen
Brüsten, von der Schrift und Gangart der Geschlechter,
von ihrem Fühlen, Denken und Wollen, stets wird man
zwischen der spezifisch männlichen und typisch weiblichen
Form die Zwischenstufen, die Überbrückung der Gegen-
sätze ohne Schwierigkeiten entwickeln können.
Auch der Geschlechtstrieb besitzt eine männliche,
also auf das Weib gerichtete und eine weibliche, also dem
Manne zugeneigte Form. Die Reize der Außenwelt, die
Objekte, die den Geschlechtstrieb passieren, sind an sich
gleich, der Eindruck, den sie auf die Nervenendorgane,
von wo sie hirnwärts projiziert werden, machen, ist der-
selbe; das von der hübschen Frau auf der Netzhaut
entstehende Bild, die Klangwirkung ihrer Stimme auf
das Gehör, die Fortleitung ihrer Ausdünstung auf das
Geruchsorgan sind nicht verschieden. Auch die sen-
siblen Nerven, die von diesen, wie von allen Punkten
der Körperoberfläche durch das centrum libidinosum
Jahrbuch V. 9
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— 130
Urnischer Arbeiter
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ziehen, sind anatomisch und physiologisch identisch, aber
dieses Zentrum selbst muß verschieden bei Mann und
Weib konstruiert sein. Auch der Urning sieht das
Weib nicht „mit anderen Augen" an, sondern mit
einem anders gearteten
Zentralorgan. Die motori-
schen Nervenbahnen, die
von diesem Zentrum peri-
pheriewärts ziehn, dürften
ebenfalls bei beiden Ge-
schlechtern nicht wesent-
lich von einander ab-
weichen. Daß bestimmte
Sinneseindrücke, die von
dem erregenden Objekt
ausgehen, bei manchen mit
besonders starken Lustge-
fühlen verknüpft sind —
die besonders vom Ge-
sichts-, Gehörs- und Ge-
ruchssinn ausgehende feti-
schistische, sowie die vom
Hautsinn wahrgenommene
masocilistische Reizung ge-
hören hierher — sind ange-
sichts der spezifischen Er-
regung des bestimmten
Zentrums durch ein be-
Allgemein verengtes weibliches stimmtes Geschlecht von
Becken. ebenso untergeordneter Be-
deutung wie die zentri-
fugale im Sadismus zum Ausdruck gelangende gelegentliche
Steigerung und Störung sexueller Motilität. Worin die
verschiedene Beschaffenheit des zentralen Organs ana-
tomisch liegt, können wir um so weniger sagen, als ja
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- 133 -
der Sitz desselben noch nicht lokalisiert ist. Vielleicht
sind es auch nur Größenunterschiede, wie bei allen andern
Geschlechtscharakteren, sodaß also etwa das Organ von
einer bestimmten Größe nur durch weibliche Reize in
Mitschwingungen versetzt wird, während in anderer Aus-
dehnung männliche Reize wirksam sind. Doch das sind
natürlich nur Hypothesen, immerhin ist eine wenig be-
achtete Mitteilung Galls, *) des neuerdings wieder von
Möbius und Bunge9) zu Ehren gebrachten genialen Forschers
bemerkenswert, daß er „bei Männern, die eine Abneigung
gegen das andere Geschlecht an den Tag legten, ein be-
sonders schwach entwickeltes Kleinhirn gefunden habe."
Bekanntlich nahm Gall an, daß das Kleinhirn der Sitz
des Geschlechtstriebes sei und zwar stützte er sich dabei
im wesentlichen auf folgende Argumente:
I. Das Kleinhirn ist bei Neugeborenen im Ver-
hältnis zum Gesamthirn schwach entwickelt, wie 1 : 9 — 20.
Es wächst am stärksten nach der Pubertät, besonders im
18. Lebensjahr, und ist beim Erwachsenen dann das Ver-
hältnis wie 1 : 5 — 7.
II. Die individuellen Verschiedenheiten in der Ent-
wickelung des Kleinhirns sind sehr groß. Der Grad der
Entwickelung ist beim lebenden Menschen äußerlich
kenntlich an dem Abstand der Processus mastoidei. Je
weiter diese von einander abstehen, je breiter und stärker
ist die Nackenmuskulatur. Gall will nun an einem sehr
umfassenden Material beobachtet haben, daß Personen
•) Franz Joseph Gall. Anatomie et Physiologie du Systeme
nerveux. 4 Bände. Paris 1810—18. Die uns interessierenden Stellen
fioden sich Vol. III. P. 85—138.
*) P. J. Möbius: Über Franz Joseph Gall. Schmidts Jahr-
bücher. Bd. 262. S. 260. 1899. G. v. Bunge -Basel. Lehrbuch
der Physiologie des Menschen. Leipzig bei Vogel 1901. I. Band
16. u. 17. Vortrag S. 222 u. ff. besonders auch S. 2.%.
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mit breitem muskulösen Nacken einen besonders starken
Geschlechtstrieb haben.
III. Das Kleinhirn ist beim Manne durchschnittlich
stärker entwickelt als beim Weibe. Diesen Unterschied
fand Gall in der ganzen Säugetierreihe von der Spitz-
maus bis zum Elephanten bestätigt.
IV. Werden Menschen und Tiere vor der Pubertät
kastriert, so bleibt das Kleinhirn in seiner Entwickelung
zurück.
V. Wird nur ein Hoden exstirpiert, so atrophiert
nur die eine Hälfte des Kleinhirns und zwar an der ge-
kreuzten Seite. Gall will dies nicht nur bei Tieren,
sondern in mehreren Fällen bei zufälligen Verletzungen
am Menschen beobachtet haben.
VI. Der Mensch, in welchem der Geschlechtstrieb
das ganze Jahr über rege ist, hat ein stärker entwickeltes
Kleinhirn als die Tiere, bei denen sich der Geschlechts-
trieb nur zur Zeit der Brunst regt.
Galls bestechende Behauptungen entbehren vielfach
einer exakten zahlengemäßen Grundlage, sie sind daher
auch vielfach bestritten und heftig angegriffen — der
edle Gelehrte hatte unter dem Haß der Kirche und dem
Neid der Fachgenossen namenlos leiden müssen — sie
sind aber noch keineswegs widerlegt. Für seine Annahme
spricht die neuerdings festgestellte Tatsache, daß sich die
sensiblen Nervenbahnen von der ganzen Körperoberfläche
her bis zum Wurm des Kleinhirns verfolgen lassen, und
zwar reichen die ersten Neurone bis zu den Clarkeschen
Säulen, von wo aus sie auf den Kleinhirnseitenstrangbahnen
weiter ziehen.
Mag das Geschlechtstriebzentrum nun im Klein-
hirn oder anderswo seinen Sitz haben, jedenfalls ist
nach dem Gesagten mit Sicherheit anzunehmen, daß es
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einen männlichen oder weiblichen Typus trägt und weiter-
hin, daß auch hier wie bei allen anderen männlichen und
weiblichen Teilen fortlaufende Übergänge vorhanden sind
und zwar selbständig, ohne daß eine Ubereinstimmung
mit den übrigen Sexualcharakteren unbedingt erforderlich
ist. Theoretisch ist zuzugeben, und ich selbst habe diese
Meinung früher vertreten,1) daß das Centrum libidinosum
aus zwei Teilen zusammengesetzt ist, indem den stets
vorhandenen körperlichen und geistigen Rudimenten
des anderen Geschlechts auch ein Triebrudiment von
verschiedener Stärke entsprechen muß, so daß dann
eine doppelseitige Erregbarkeit in verschieden hohem
Grade möglich wäre. Wäre dies der Fall — wie oben
bereits auseinandergesetzt, bin ich mit der Fülle des
Materials schwankend geworden — so würde das für das
häufigere Vorkommen der ßisexualität sprechen, aller-
dings nur bei einer gewissen Größe des Rudiments. Die
sexuelle Erregbarkeit durch beide Geschlechter läßt sich
ohne weiteres noch nicht in diesem Sinne verwenden, denn
abgesehen von Suggestivwirkungen handelt es sich hier
oft nur um mechanische Reizungen, rein spinale Reflexe,
im Gegensatz zu den viel komplizierteren und zweckent-
sprechenderen zentralen Reflexen, die von der Psyche
ihren Ausgang nehmen und für deren Beschaffenheit das
allein Entscheidende sind. Darum sind auch gerade die
Träume für die Richtung oder besser gesagt die männ-
liche oder weibliche Qualität des Triebzentrums von so
hohem Wert, weil im Schlaf zahlreiche Assoziationen in
Wegfall kommen, die im wachen Zustand modifizierend
und störend eingreifen.
Zwei Umstände machen die große Häufigkeit der
sexuellen Übergänge und Zwischenformen erklärlich und
l) Dr. med. Hirschfeld, Sappbo und Sokrates etc. II. Aufl.
1902, S. 8 ff.
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- 136 —
wahrscheinlich. Einmal die Tatsache, daß jedes Individuum
mit beiden Geschlechtern in unmittelbarem Erbschafts-
verhältnis steht. Der männliche Sproß erbt nicht nur von
seinem Vater, sondern auch von der Mutter und diese ge-
mischte Vererbung wird noch wesentlich erweitert durch die
latente Vererbung, nach deren Gesetzen auch die Mütter
und Großmütter väterlicher- und mütterlicherseits an jedem
Knaben partizipieren. Gewiß wird dieser Einfluß durch
die sexuelle Vererbung, nach der Knaben gewisse väter-
liche, Mädchen bestimmte mütterliche Eigenschaften er-
halten, durchkreuzt, aber doch nicht in dem Grade, daß
die vorher genannten wichtigen Gesetze der Heredität
ausgeschaltet werden. Es hat vieles für sieb, daß bei
der Vereinigung der weiblichen und männlichen Keim-
zelle von vornherein ein bestimmtesMischungsverhältnis au-
gelegt ist, sodaß bereits die befruchteten Eier in männ-
liche, weibliche und gemischte zerfallen würden. Diese
sehr variable Mischung legt als Sexualbasis, vielleicht
sogar als Sexualzentrum in der Hauptsache den Körper
und Geist des Individuums für die Dauer seines Be-
stehens fest
Der zweite Umstand, welcher die Häufigkeit der
Zwischenstufen so naheliegend erscheinen läßt, ist der,
daß alle qualitativen Unterschiede der Geschlechter in
Wirklichkeit nur quantitative sind. Alle sexuellen
Charaktere verharren eine gewisse Zeit im neutralen Zu-
stand, dann findet bei allen in einem bestimmten Alter
vor oder nach der Geburt ein gemeinsamer Anlauf statt,
der bei manchen Teilen früher, bei anderen später sein
Ende erreicht, indem die unbekannte Zentrale auf das
Wachstum der einzelnen Organe bald hemmend, bald
fördernd einwirkt. Von dieser Wachstumsenergie ist es
abhängig, ob ein Stück männlich oder weiblich geartet
erscheint; gänzlich schwindet keins dieser Stücke, selbst
beim Vollweibe ist alles männliche in mehr oder weniger
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großen Resten vorhanden, so wenig die Spuren alles
weiblichen bei keinem Manne fehlen. Bei dieser nur gra-
duellen Verschiedenheit der Individuen und Geschlechter
kann es nicht "Wunder nehmen, daß eine Verwischung
der Grenzen so häufig ist.
Man hat wohl behauptet, daß die Trennung der Ge-
schlechter umso schärfer sei, je höher ein Lebewesen
stehe, daß die Natur auf eine immer größere Differenzierung
der Geschlechter hinarbeite. Das entspricht durchaus
nicht den Tatsachen. Die Geschlechtsunterschiede sind
bei den niederen Tieren viel größer, als bei den höheren,
so sind bei manchen Insekten die Männchen und Weibchen
so verschieden gestaltet, daß man sie lange als Glieder
derselben Art garnicht erkannt hat. Selbst bei den
meisten Säugetieren unterscheidet sich das Männchen
mehr vom Weibchen, als beim Menschen. Dabei ver-
halten sich die sexuellen Geschlechtscharaktere sehr
stabil, der weibliche Typus, der männliche und der der
Zwischenstufen hat sich soweit unsere Kenntnisse reichen
weder bei den Tieren noch beim Menschen nach Ort
und Zeit erheblich verändert. Namentlich sind die Über-
gangstypen unter den Menschen zu allen Zeiten und in
allen Zonen nachweisbar. Schon aus diesem Grunde er-
scheint es nicht gerechtfertigt, im Uranismus einen Atavismus
zu erblicken, wie es wiederholt geschehen ist Gewiß ist
die Geschlechtseinheit im Naturreich das Ursprünglichere,
die zwei Geschlechter stellen eine höhere Stufe der Ent-
wickelung dar. In den Zwischenstufen tritt uns aber
kein Rückschritt zum eingeschlechtlichen, sondern viel
eher ein Fortschritt zum mehrgeschlechtlichen entgegen.
Das dritte Geschlecht stellt nichts einfacheres, sondern
eher etwas komplizierteres dar. Mit ihm gestaltet sich
die Menschheit nicht einförmiger, sondern reichhaltiger
und vielseitiger. Läge wirklich eine immer schärfere
Differenzierung der Geschlechter im Plane der Natur, so
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müßten die Männer immer männlicher, die Frauen immer
weiblicher, die Kluft zwischen beiden Geschlechtern mithin
immer größer und klaffender werden. Wir vermögen darin
weder etwas Zweckmäßiges, noch etwas Segensreiches
zu erblicken.
V. Heredität und Homosexualität.
Angeboren ist nicht immer ererbt. Wäre beispiels-
weise unsere Vermutung richtig, daß das Männliche und
Weibliche im Menschen von dem Mischungsverhältnis
der männlichen und weiblichen Zeugungsstoffe abhängig
ist, so wäre der homosexuelle Trieb wohl eingeboren,
aber nicht ererbt im eigentlichen Sinne des Wortes. Genau
genommen kann man nur etwas erben, was die Eltern
besitzen. Demnach müßte von den Eltern eines urnischen
Kindes zum mindesten eines urnisch sein. Das ist aber
verhältnismäßig sehr selten der Fall. Der wissenschaft-
liche Sprachgebrauch hat allerdings den Begriff der Ver-
erbung wesentlich erweitert, und nennt ererbt auch
solche Eigenschaften, deren Auftreten erfahrungsgemäß
von gewissen oft ganz anders gearteten Zuständen der
Eltern hereditär beeinflußt wird, so nennen wir die
Skrophulose ererbt, wenn das Kind einer tuberkulösen
Familie entstamm^ die Epilepsie ererbt, wenn der Vater
ein Trinker war, die Taubstummheit ererbt, wenn die
Eltern blutsverwandt waren. Auch die Definition von
Möbius1): „Entartete sind die, welche vermöge krank-
hafter Zustände ihrer Erzeuger mit einem krankhaften
Geisteszustände zur Welt kommen*, gehört hierher. Rich-
tiger wäre es in allen diesen Fällen nur im allgemeinen
von ererbter Belastung oder von Belastung allein zu reden.
») V. Magnan: Psychiatrische Vorlesungen; in der Einleitung
von Möbius S. VI.
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— 139 —
Die Forscher, welche die Überzeugung vertreten, daß
die Homosexualität angeboren sei, haben unseres Er-
achtens dieser erblichen Belastung einen zu hohen Wert
beigelegt und zwar dürfte die Überschätzung des hereditären
Einflusses mit der Besonderheit des verarbeiteten Materials
zusammenhängen. Sie berücksichtigten zu wenig, daß fast
alle Konträrsexuellen, die zu ihnen als hervorragenden
Nervenärzten kamen, sich subjektiv leidend fühlten und
objektiv oft in indirekter Verbindung mit ihrer Homo-
sexualität meist an Neurasthenie litten, einer ebenfalls viel-
fach auf neuropathischer Heredität basierenden Störung.
Meist handelt es sich auch um Patienten aus besseren
Ständen, in denen es wohl kaum noch eine Familie gibt,
bei der nicht unter den Augehörigen Abweichungen zu kon-
statieren sind, etwa Migräne der Mutter, Selbstmord eines
Vetters, die sich im Sinne psychopathischer Disposition
verwenden lassen. Wer sehr viele gesunde Homosexuelle
exploriert hat, wird erstaunt sein, wie häufig hereditär
belastende Umstände — auch bei weitester Fassung
des Begriffs der Erblichkeit — fehlen. Von denen, die ich
beobachtete, stammen mindestens 75% von gesunden
Eltern aus glücklichen, oft sehr kinderreichen Ehen.
Nervöse oder geistige Anomalien, Alkoholismus, Bluts-
verwandtschaft, Lues sind in der Aszendenz keineswegs
häufiger, wie unter den Vorfahren normalsexueller Per-
sonen. In der Mehrzahl der Fälle heirateten Vater und
Mutter aus Neigung, sehr viele Urninge heben das be-
sonders glückliche Zusammenleben ihrer Eltern hervor.
Der Altersunterschied der beiden Eltern weist große
Schwankungen auf, im Durchschnitt ist der Vater 5 bis
10 Jahre älter wie die Mutter, in einem Falle betrug der
Altersunterschied 45 Jahre, der Vater war 64, die
Mutter 19 Jahre, als das urnische Kind, welches das
einzige blieb, geboren wurde. Unehelich geborene Homo-
sexuelle kenne ich 8. Wiederholt schien es mir, daß die
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- 140 —
Mutter eine mehr aktive, der Vater mehr eine passive
Natur war, ohne daß eins von beiden direkt urnisch
gewesen wäre. Das von manchen als ätiologisch be-
deutsam angegebene Moment, daß die Mutter sich ein
Kind entgegengesetzten Geschlechtes gewünscht habe,
entbehrt einer statistischen Unterlage. Die Mutter eines
urnischen Leutnants teilte diesem auf seine Anfrage mit,
daß sie sich allerdings vor seiner Geburt — er ist der
dritte Sohn — eine Tochter gewüuscht habe, noch mehr
aber habe sie dies vor der Geburt des vierten Knaben
getan, aus dem ein scharf heterosexueller Frauenfreund
und Familienvater geworden ist. Bei den 20 — 25% der
Homosexuellen, wo erbliche Belastung vorlag, fanden sich
fast durchgängig Zeichen der Degeneration,
die von der Homosexualität als solcher unabhängig waren.
Sind also in 8/4 der Fälle »krankhafte Zustände der
Erzeuger* bei gewissenhafter Nachforschung nicht zu
eruieren, so gibt es doch eine Tatsache, aus der sich mit
Sicherheit schließen läßt, daß eine Familienanlage zur
Homosexualität bestehen muß, wenn auch keine krank-
hafte. Dieses Faktum ist das verhältnismäßig sehr häufige
Vorkommen homosexueller Geschwister. Unter 100
Urningen finden sich durchschnittlich 8, deren Bruder
oder Schwester ebenfalls homosexuell sind. Diese Zahl,
die mit der Gesamtmenge der Urninge in gar keinem
Verhältnis steht, kann kein Zufall sein, auch ist der Ein-
fluß der gleichen Erziehung oder psychischer Ansteckung
auszuschließen, denn meist haben diese Personen noch
eine ganze Reihe normalsexueller Geschwister, die in dem-
selben Milieu aufgewachsen sind und in nahezu der Hälfte
der Fälle handelt es sich um Bruder und Schwester, auf
die, wenn sich Homosexualität züchten ließe, ganz ent-
gegengesetzte Faktoren eingewirkt haben müßten, denn die
Umstände, die den Sohn eifeminierend beeinflussen könnten,
müßten die Tochter erst recht weiblieh machen und um-
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— 141 —
gekehrt, es sei denn, daß Eltern absichtlich ihre Söhne
nach weiblicher, ihre Töchter nach männlicher Art er-
ziehen, was schwerlich vorkommen dürfte. Oft sind auch
die urnischen Geschwister getrennt von einander aufge-
wachsen. So berichtet ein höchst femininer Urning von
russischer Abkunft, der in Deutschland erzogen wurde:
„Meine einzige Schwester, von der ich seit Kindheit ge-
trennt bin, hat fast alle Vorzüge eines Mannes, sie studiert
in Petersburg Medizin, raucht und treibt sehr viel Sport;
sie schwärmte in der Schule sehr für ihre Lehrerin und
lebt mit einer Studiengenossin in enger Freundschaft zu-
sammen.*' Unter 58 urnischen Geschwistern, die mir per-
sönlich oder dem Namen nach bekannt sind, finden sich
26 mal Bruder und Schwester, 21 mal homosexuelle Brüder,
darunter 2 mal Zwillingsbrüder, 3 mal homosexuelle Schwe-
stern, 6 mal 3, 1 mal 4, lmal 5 urnische Geschwister.
29 mal sind sämtliche (2, 3 und 5) Kinder homosexuell,
in 7 Fällen hat sich ein Bruder wegen Homosexualität
das Leben genommen. Verhältnismäßig häufig finden sich
auch. Homosexuelle in der Vetterschaft. In einer euro-
päischen Fürstenfamilie, welche im Jahre 1880 14 männ-
liche Mitglieder zählte, fanden sich nachweislich vier,
wahrscheinlich sogar sechs Urninge. In den Fällen, wo
mehr als zwei Kinder homosexuell sind, scheint mir eine
psychopathische Belastung häufiger vorzuliegen, soweit
sich dies bei dem relativ spärlichen Material sagen läßt.
Im Falle der 4 urnischen Geschwister waren der Vater
und der Großvater mütterlicherseits Brüder, in dem der
5 Geschwister berichtet der älteste Bruder, ein mir auch
persönlich bekannter tüchtiger Schriftsteller : „Meine vier
jüngeren Geschwister, eine Schwester und 3 Brüder, sind
wie ich veranlagt. Mein 2. Bruder nahm sich im 28. Jahr
das Leben. Er verlobte sich, glaubte aber nach kurzer
Zeit das Mädchen nicht wirklich lieben und befriedigen
zu können, wurde krankhaft mißtrauisch gegen seine
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— 142 —
Umgebung, von der er sich in seiner Anomalie durch-
schaut glaubte und erhängte sich in einem Sanatorium.
Wir Geschwister sind sämtlich von der Mutter her sehr
musikalisch und schöngeistig veranlagt, die Mutter war
eine kluge energische Frau von vorzüglichen Gemüts-
eigenschaften. In ihrem Gesicht lag ein männlicher Zug.
Sie starb im 50. Jahr an Unterlcibskrebs. Der Vater
war skrophulös, schwerhörig, willensschwach, er starb im
58. Jahr nach langjährigem Rückenmarksleiden. Die
Mutter meines Vaters hatte in ihrem Tun etwas ent-
schieden Männliches und hatte im Alter einen Hart."
Ich bemerke, daß der Berichterstatter körperliche und
geistige Degenerationszeichen aufweist (u. a. unregelmäßige
Zahustellung, verbildete Zehen, allerlei Absonderlichkeiten
und Exzentrizitäten neben hoher geistiger Befähigung,
Zwangsvorstellungen, so ist es ihm unmöglich rechts von
jemandem zu gehen, exhibitionistische Anwandlungen etc.).
Es handelt sich hier also um einen erblich belasteten
Homosexuellen, der zugleich ein Degenerierter ist.
Die Frage zu entscheiden, wie gesunde Eltern zu
homosexuellen Kindern kommen, werden wir schwerlieh
im Stande sein, bevor wir nicht wissen, wovon es ab-
hängt, daß das eine Mal Knaben, ein anderes Mal Mädchen
geboren werden. Vorläufig können wir nur die uns in
ihren Gründen völlig unklare, aber höchst weise Tatsache
konstatieren, daß in Deutschland wie fast in ganz Europa
auf 100 Mädchen durchschnittlich 10Ö Knaben zur Welt
kommen. Wir werden kaum fehlgehen, wenn wir hieraus
und aus der Erfahrungstatsache, daß — soweit unsere
Kenntnis reicht — überall Homosexuelle in gleicher
Menge vorhanden sind, folgern, daß auf ein bestimmtes
Quantum Knaben und Mädchen ein konstanter Prozent-
satz urnischer Personen geboren wird. Die Größe desselben
auch nur annähernd anzugeben, besitzen wir keine exakten,
einwandfreien Grundlagen; sie zu beschaffen, dürfte
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— 143 —
eine der wichtigsten Aufgaben des wissenschaftlich-humani-
tären Komitees sein. Als statistisch erwiesen dürfen wir
dagegen ansehen, daß die Homosexuellen in der Mehrzahl
der Fälle nicht erblich belastet sind, wie es bisher meist
geglaubt wurde. Diese Feststellung spricht wesentlich
dagegen, daß es sich in allen Fällen von Homosexualität
um eine Degenerationserscheinung handelt. Bekanntlich
waren die Psychiater, die sich zuerst mit der konträren
Sexualempfindung beschäftigten, namentlich Magnan und
Krafft-Ebing auf Grund ihres Materials zu dieser Über-
zeugung gelangt. Magnan ') hatte gesagt: „Die Ver-
kehrung des geschlechtlichen Empfindens ist nicht eine
Krankheit für sich, sondern das Zeichen eines allge-
meinen krankhaften Zustandes, ein Syndrom im Bilde
der ererbten Entartung." Krafft-Ebing4) gelangt haupt-
sächlich unter Berücksichtigung der „in fast allen Fällen
vorhandenen neuropathischen Belastung* zu dem Schlüsse,
„daß diese Anomalie der psychosexualen Empfindungs-
weise als funktionelles Degenerationszeichen klinisch an-
gesprochen werden muß.* Mit der Menge der zu seiner
Beobachtung gelangenden Homosexuellen hat er aller-
dings diesen Standpunkt wesentlich eingeschränkt und in
seiner Arbeit im III. Bande dieser Jahrbücher (S. 6) er-
klärt er ausdrücklich : „Daß die konträre Sexualempfindung
an und für sich nicht als psychische Entartung oder
gar Krankheit betrachtet werden darf." Neuerdings hat
Möbius in der geistvollen Schrift: „Geschlecht und Ent-
artung"3) die Anschauung vertreten, daß die Homo-
sexualität stets eine Form angeborener Entartung sei,
er beruft sich dabei besonders darauf, daß stets erbliche
Belastung nachzuweisen sei und daß stets auch außer-
halb der Geschlechtlichkeit liegende körperliche und
') Magnan. Psychiatrische Vorlesungen, IV. V. Heft. S. 38.
?i Psychop. sex. S. 209.
*) S. 28 ff.
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— 144 —
geistige Zeichen der Entartung vorhanden wären. Wir
sahen bereits, daß die erste Voraussetzung nicht zutrifft,
und werden erfahren, daß auch die zweite Prämisse einer
Massenbeobachtung gegenüber nicht Stich hält. Übrigens
rechnet Möbius ') (S. 36) die Homosexuellen „nur zu den
Leichtentarteten oder wie man gewöhnlich sagt, zu den
Nervösen." Ein anderer sehr erfahrener Psychiater —
selbst Urning — schreibt: „Meine Studien haben mir kein
positives Resultat ergeben. Wohl fand ich in einzelnen
Fällen von Homosexualismus hereditäre Einflüsse, die
aber bei anderen fehlten. Allerdings fand ich unter
Homosexuellen Typen mit ausgeprägten psychischen und
körperlichen Degenerationszeichen, andererseits fand ich
aber wieder so kerngesunde, harmonische Naturen, daß
sich für mich trotz eifrigsten Bestrebens nichts Eindeutiges
zur Entscheidung dieser Frage ergab. Allerdings ist ein
so verhältnismäßig kleines Material, wie es bisher jedem
auch dem bedeutendsten Forscher vorgelegen hat, nicht
geeignet, absolut einwandfreie Schlüsse zu ziehen. Ein
entscheidender Beitrag zur Lösung dieser Frage ist wohl
nur von der Bearbeitung des großen einschlägigen Ma-
terials, das dem wissenschaftlich-humanitären Komite" zur
Verfügung steht, zu erwarten.*
Vor kurzem hat sich auch Näcke*) zu der Frage ge-
äußert und zwar in dem Sinne, daß die Homosexualität
allein für sich bestehend noch keine Entartung ausmacht,
') Möbius sagt in dieser Broschüre S. 40: „Auch ich bin der
Meinung, daß die Abschaffung des § 175, dessen Wirkung haupt-
sächlich in Erpressungen und weiterbin in Selbstmorden besteht,
dringend zu wünschen sei." Wir betonen dies Bloch gegenüber,
der sich gegen die Aufhebung dieses § ausspricht und sich dabei
auch (B. I. S. 252) auf frühere Ausführungen von Möbius stützt. Auch
die zwei anderen Hauptgewährsmänner von Bloch: Eulenburg und
v. Sohren ck-Notzing haben die Petition unterzeichnet, welche für
die Beseitigung dieser verhängnisvollen Strafbestimmung eintritt.
*) In Laehrs Allg. Zeitschrift f. Psychiatrie 1902. S. 827.
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- H5 ~
daß es geistig und körperlich völlig normale Homo-
sexuelle gibt, daß man dagegen die Homosexualität als
ein Stigma neben anderen gelten lassen kann, wenn auch
nicht als ein so schweres, wie es vielfach hingestellt .
wurde. Ich habe in Gemeinschaft mit dem Kollegen
Dr. Ernst Burchard, mehrjährigen psychiatrischen Assi-
stenten, die Beziehungen zwischen Degeneration und
Homosexualität einem eingehenden Spezialstudium unter-
zogen und können wir den Thesen Näckes voll und ganz
beipflichten.
Wir legten uns zuvörderst die Frage vor, inwieweit
die Homosexualität als Teilerscheinung bei Persönlich-
keiten auftritt, die ihrer gesamten körperlichen und
geistigen Veranlagung nach als Entartete zu bezeichnen
sind. Wir gingen dabei von dem jetzt allgemein gültigen
Grundsatze aus, daß ein vereinzeltes Degenerationszeichen
noch kein Beweis von Entartung ist, daß es in jedem
Fall des Zusammentreffens mehrerer solcher Eigenschaften
bedarf, von denen Möbius sagt: „Wo sie sind, da ist
Entartung, wo ihrer viel sind, viel, wo ihrer wenig, wenig.*
Auszuschließen waren bei dieser Untersuchung von vorn-
herein psychische und somatische Erscheinungen, welche
mit der Homosexualität in unmittelbarem Zusammenhange
standen. Wenn beispielsweise Möbius ') sagt: „ Kinder-
liebe ist ein wesentlicher Zug des weiblichen Geistes;
wenn ein Mann seine Kinder abscheulich findet, so erregt
das kein Bedenken, tut es ein Weib, so ist sie mit Be-
stimmtheit als entartet zu bezeichnen", so trifft dies für
ein normalsexuelles Weib gewiß zu, nicht aber für eine urni-
sche Individualität, zu deren Gesamtbild diese Abneigung
gegen Fortpflanzung und Kinder als Teilerscheinung ge-
hört. Ebensowenig werden wir bei einem homosexuellen
Manne sehr weiche Hände oder starke Brustentwickelung
») Staohyologie S. 176.
Jahrbuch V. 10
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— 146 —
oder Bartlosigkeit als Stigma der Degeneration, sondern
vielmehr als urnisches Stigma ansehen dürfen. Von
körperlichen Degenerationszeichen hatte Kollege Burchard
folgende für unseren Zweck zusammengestellt:1)
Abnormer Kopfumfang
Asymmetrie des HirnschädeK
Asymmetrie des Geaichtsschädels.
Abnorme Häßlichkeit.
Mikro- und Anophthalmus.
Fehlen, Colobom der Iris.
Farbenungleichheit der Iris.
Ektopie und Ungleichheit der Pupillen.
RetinitiB pigmentosa.
Angeborene Kataract
Cysten der Augenhöhle.
Schielen, Nystagmus.
Die zahlreichen Anomalien im Bau des äußeren Gehörorgans
(wie Spitzohr, Darwinsches Knötchen, Ubermäßig große,
sehr stark abstehende Ohren).
Fisteln der Ohrmuschel.
Anhänge der regio auricnlaris und regio colli.
Kiemengangcysten.
Gesichtsspalten.
') Es wurden besonders folgende Werke berücksichtigt:
Morel: Degenerescences de Tespeoe humain, Paris 1856.
Magnan: Psychiatrische Vorlesungen, Deutsch von Möbius,
Leipzig 1891.
Fcre: Nervenkrankheiten und ihre Vererbung. Deutsch von
Schnitzer, Berlin 1896.
Möbius: Über Entartung, Wiesbaden 1900.
Nordau: Über Entartung, Berlin 1893.
Arndt: Biologische Studien (II. Artung und Entartung,
Greifswald 1895).
Rhode: Über den gegenwärtigen Stand der Frage nach der
Entstehung und Vererbung individueller Eigenschaften und Krank-
heiten, Jena 1895. (Mit eingehender Litt erat ur angäbe über Ver-
erbung bis 1895.)
Cohn: Ein Beitrag zur Lehre von der Vererbung. — Deut-
sche medicinische Presse.
Fuhrmann: Das psychotische Moment, Leipzig 1903.
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— 147 —
Hasenscharten.
Cysten des Zwischenkieferspalts.
Anomalien der Zahnstellung und des Zahnbaus.
Hoher und spitzer Gaumen.
Spaltungen des Gaumens.
Auffallend massiver Unterkiefer.
Mikro- und Makroglossie.
Anomalien des Zungenbändchens.
Stottern, Stammeln.
Angeborene Abweichungen der Wirbelsäule.
Fehlen von Extremitäten undfceinzelnen Gliedern.
Entwicklungshemmungen in der Länge der Finger und Zehen.
Polydaktylie, Syndaktyüe.
Schwimmhäute.
Zu harte knochige, zu breite tatzenartige, zu weiche, wie
knochenlose, Übermäßig feuchte kalte Hand.
Klumpfuß, Pferdefuß etc.
Hammerartige Mißbildungen der großen Zehe.
Angeborene Luxationen, Neiguog zu Luxationen.
GrOßenmißverhältnissc der Extremitäten zum Rumpf.
Riesen-, Zwergwuchs.
Angeborene Exostosen.
Akromegalie.
Spina bifida.
Mangelhafte Mnskelentwickelnng.
Fehlen einzelner Muskeln.
Starke Fettleibigkeit.
Multiple Lipome.
Hämophilie.
Situs inversus.
Neigung zu Krampfadern.
Aplasie der Arterien.
Pigraententartung der Haut (Flecken etc.).
Albinismus.
Hornartige Gewächse der Haut
Mangelhafte und abnorme Behaarung.
Vorzeitiges Ergrauen.
Doppelter Haarwirbel.
Ungenügendes Wachstum der Haare.
Zartheit der Nägel.
Brüche, Bruchanlage.
Atresie, Prolapse des Mastdarms.
10*
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— 148 —
Abnorme Länge de« proz. vermiformis.
Neigung zu Appendicitis.
Überzählige BrUste.
Pfleudo-Hermapuroditismus.
Kryptorchismus. Ektopie der Testikol.
Hypospadie. Epispadie.
Phimose.
Natürlich sind die einzelnen Stigmata in ihrer Be-
deutung sehr verschieden zu bewerten, so werden vor-
zeitiges Ergrauen, Neigung zu Appendicitis, zu Krampf-
adern und -Bruchanlage zusammengenommen weniger zu
besagen haben als eine Verbindung von Hasenscharte
und Polydaktylie. An die körperlichen Entartungszeichen
schließt sich die Neigung zu bestimmten konstitutionellen
Erkrankungen an, die man ebenfalls als Entartungszeichen
ansieht. Im Wesentlichen sind es Rachitis, Tuberkulose,
Skrophulose, Diabetes und die Krankheiten der arthriti-
schen Gruppe. Die Anlage zu gewissen nervösen Er-
krankungen, der man eine gleiche Bedeutung beilegt, zur
Chorea, Basedowschen, Parkinsonschen, Thomsenschen
Krankheit, Muskelatrophie, Migräne, Neuralgieen, Epilepsie,
Hysterie und Neurasthenie leitet uns auf das Gebiet der
psychischen Degenerationszeichen Uber. Hier kommt es
für uns weniger auf die ausgesprochen pathologischen
Zustände des sogenannten Entartungsirreseins an, die
ohnehin von den übrigen endogenen Psychosen schwer
zu trennen sind, als vielmehr auf jene psychischen Stigmata,
die außerhalb eigentlicher Geistesstörungen den Entarteten
charakterisieren. Es sind dies nach Fi're": Extreme Reiz-
barkeit des Charakters, Veränderlichkeit der Gefühle und
Neigungen, Absonderlichkeit des Geschmacks (z. B. im
Alkuholismus und Morphinismus hervortretend), damit
im Zusammenhang steht die für den Entarteten charakte-
ristische Tatsache, daß bei ihm der Impuls zum Handeln
stärker ist, als es nach den bestimmenden Motiven der
Fall sein sollte. Magnan stellt in den Vordergrund die
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— 149 —
verringerte Fähigkeit sich geistig konzentrieren zu können
nebst der Unfähigkeit, lästige Gedanken zu bannen, was
zu Zwangshandlungen führt (Platzfurcht, Onomatomanie,
Arithmomanie, Selbstmordmanie etc.). Möbius endlich
sieht das wesentliche in der psychischen Unbeständigkeit
und Disharmonie, die in Gleichgewichtsstörungen zum
Ausdruck gelangt. Wichtig für die Bewertung psychischer
Entartungszeichen ist der Satz, daß diejenigen, welche
unter gleichen Lebensbedingungen stehen, wissen werden,
was an dem Betreffenden atypisch ist. Hier ist jedoch
wieder zu berücksichtigen, daß dem Normalsexuellen
vieles atypisch erscheinen wird, was dem spezifisch homo-
sexuellen Empfinden entspringt und mit der urnischen
Natur vollkommen harmoniert, sodaß von diesem Gesichts-
punkt aus von einer Disharmonie der psychischen Persön-
lichkeit nicht die Rede sein kann. Weiterhin sind auch
die nervösen Stigmata in Abzug zu bringen, welche als
unmittelbare Folgeerscheinungen der homosexuellen
Triebrichtung aufzuladen sind. Wenn wir uns vergegen-
wärtigen, welchen gewaltigen Faktor die homosexuelle
Leidenschaft im individuellen Leben ausmacht, so werden
wir begreifen, daß stärkere Alterationen dieser Sphäre
auf das ganze mit dem Sexualtrieb so eng verknüpfte
Nervensystem besonders nachteilig wirken werden. Un-
glückliches Lieben steht unter den Ursachen der Neu-
rasthenie obenan und man sollte nie versäumen, wenn man
bei Patienten die mit erhöhter Erregbarkeit verbundenen
nervösen Depressionen findet, das Sexualleben im weitesten
Sinn als ätiologisches Moment in Betracht zu ziehen.
Gilt das schon für Normalsexuelle, um wie viel mehr für
Homosexuelle, deren innere Angst und Erregungszu-
stände, deren so oft zu Selbstmordversuchen führende
Liebeskonflikte, deren qualvolle Unterdrückungskämpfe
oft eine fortlaufende Reihe psychischer Traumen darstellen.
Wir müssen also bei unseren Untersuchungen die auf dem
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— 150 -
Boden der Entartung und die auf dem der Homosexualität
entstandene Neurasthenie wohl unterscheiden.
Wenn wir uns nun nach Auschluß der mit dem homo-
sexuellen Triebe im unmittelbaren Zusammenhang stehen-
den Stigmen die Frage vorlegen: Bestehen bei Homo-
sexuellen die körperlichen und geistigen Entartungszeichen
in höherem Prozentsatz als bei Normalsexuellen?, so
lautet die Antwort: Nein. Burchard und ich fanden
unter 200 beliebig ausgewählten Homosexuellen 32 mit
ausgesprochenen Degenerationszeichen also ca. 16% und
zwar waren diese fast sämtlich erblich belastet.
Stände die Homosexualität im unmittelbarem Zu-
sammenhang mit der Degeneration, so müßten die Zeichen
der Entartung nicht nur bei Homosexuellen, sondern auch
die Homosexualität in größerem Umfange bei schwerer
Degenerierten nachzuweisen sein. Auch das trifft nicht
zu. Man vergleiche die im II. Aufsatz dieses Bandes
von Näcke mitgeteilten Beobachtungen aus der Irren-
anstalt Hubertusburg, auch Dr. Burchard sah während
seines mehrjährigen Aufenthalts in der Heilanstalt Ucht-
springe unter dem dortigen überaus zahlreichen Material
von Degenerierten schwerster Art nur einen Fall aus-
gesprochen homosexueller Veranlagung (bei einem Epi-
leptiker.)
Tritt also die Homosexualität in gut 4/5 der Fälle
bei völlig Gesunden und nur in knapp Vs De* Degene-
rierten auf, steht sie demnach keineswegs so oft in Ver-
bindung mit sonstigen Zeichen der Degeneration, daß sie
notwendig mit ihr verknüpft erscheint, so bleibt noch der
Einwand übrig, und dieser ist erhoben worden, daß die
Homosexualität allein für sich ihren Träger zum Degene-
rierten, zu einem minderwertigen Repräsentanten der
Gattung Mensch stempelt. Auch Möbius scheint dieser
Meinung zuzuneigen. Er sagt (Stachyologie S. 132) einmal :
„Mit der Zivilisation wächst die Entartung, d. h. die Ab-
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— 151 —
weichung von der ursprünglichen Art — Eine der
wichtigsten Arten geistiger Abweichung besteht darin,
daß der Geschlechtscharakter an seiner Bestimmtheit ver-
liert, daß beim Manne weibliche Züge, beim Weibe
männliche auftreten.* Man mißt dabei diesen Zügen, deren
Symptomenkomplex doch zweifellos eine Einheit bildet,
eine Bedeutung bei, die man keinem anderen Stigma zu-
erkennt, und setzt sich in Widerspruch mit dem von den
Psychiatern allgemein angenommenen Satz, daß es zur Fest-
stellung der Entartung stets mehrerer Degenerations-
zeichen bedarf. Um zu entscheiden, ob die Homosexualität
für sich eine Entartung bedeutet, muß man sich vor
allem über diesen Begriff Klarheit verschaffen, eine
durchaus nicht leichte Aufgabe, denn die Erklärung:
„Entartung ist ein krankhafter Geisteszustand auf Grund
krankhafter Zustände der Erzeuger", sowie die andere
Definition: „Entartung ist eine ererbte Abweichung vom
Typus, die die durch die Variabilität gezogenen Grenzen
übersteigt", rufen sofort die Gegenfragen wach: was ist
krankhaft? was ist der Typus? was ist die Norm? welches
sind die Grenzen physiologischer Varietät? Wir können
doch unmöglich Lombroso beipflichten, der auf die tele-
graphische Anfrage des New York Herald: Was ist ein
normaler Mensch? antwortete: „Ein Mensch, der über
einen gesegneten Appetit verfügt, ein tüchtiger Arbeiter,
egoistisch, geschäftsklug (routin£) geduldig, jede Macht-
sphäre achtend . . ein Haustier."
Gewiß stellt der Homosexualismus die Minorität des
geschlechtlichen Empfindens dar, sodaß man ihn ver-
gleichsweise als von der Norm abweichend und in
diesem Sinne als abnormal bezeichnen kann. Sieht
man aber von Vergleichen ab und betrachtet ihn ganz
objektiv, rein für sich, als etwas einmal Bestehendes,
so bildet er in sich etwas so Ubereinstimmendes, die ihm
eigenartige Geschlechtsempfindung entspricht so sehr
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— 152 —
seinem ganzen Wesen und zeigt so bis ins einzelne
gehende Analogieen mit der heterosexuellen Geschlechts-
empfindung, daß man bei ihm wohl von einer besonderen
Art> einem besonderen Geschlecht absolut gesprochen,
aber nicht von einer Anomalie im pathologischen Sinne
reden kann. Das Disharmonische, die Störung der nor-
malen geistigen Proportionen (desequilibration), auf welche
die Psychiater mit Recht hohen Wert legen, ist beim
Homosexuellen nur scheinbar vorhanden. Die Ansicht
Molls, welche er in einer seiner letzten Arbeiten *) mit
den Worten vertritt: „Zu den krankhaften Erscheinungen
rechne ich unter allen Umständen die ausgeprägte Homo-
sexualität. Wo ein solches Mißverhältnis zwischen Körper-
bildung und seelischer Verfassung besteht, haben wir
einen pathologischen Zustand vor uns,* diese Ansicht
wäre richtig, wenn der Homosexuelle körperlich und
geistig so konstituiert wäre, wie der Normalsexuelle. Wir
haben ausführlich dargetan, daß ein derartiges Mißver-
hältnis in Wirklichkeit nicht besteht. Nicht ohne
Berechtigung schreibt ein homosexueller Gelehrter:
„Wenn jemand, der sonst gesund ist, durch die Be-
friedigung eines Triebes Glück empfindet, dürfte doch
das Prädikat „krankhaft" widerlegt sein. Ich verspüre
nach jeder Auslösung meines Triebes ein so erhöhtes
Kraftgefühl, soviel innere Harmonie, eine so arbeitsfrohe
Stimmung, daß seine völlige Unterdrückung für mich
eine kontradiktio in — subjekto bedeuten würde." Die
Pathologen verstehen unter Krankheit eine den Körper
schädigende, meist auch unangenehm empfundene Er-
scheinung. Die Homosexualität an und für sich verschafft
ihren Trägern aber weder Schaden noch Unannehmlich-
keiten, diese erwachsen ihnen nur aus den Verhältnissen.
Auch der häufige Mangel hereditärer Belastung spricht
») Zukunft: Sexuelle Zwischenstufen. S. 438. 1902.
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sehr dagegen, daß die homosexuelle Empfindung als solche
ein Degenerationsphänomen ist, ebenso der Umstand, daß
sich die Homosexuellen sehr oft einer erstaunlichen
körperlichen und geistigen Gesundheit, Kraft und Zähig-
keit erfreuen; erst kürzlich besuchte mich ein siebzig-
jähriger Uranier, der mir mitteilte, daß er nie krank ge-
wesen sei und es im alpinen Sporte, dem er mit Eifer
huldigte, noch jetzt mit jedermann aufnehmen könne.
Eulenburg ') und Bloch meinen, daß die Ubiquität der
Homosexualität, ihre Unabhängigkeit »von Zeit und Ort,
von Rassenverhältnissen und Kulturformen" gegen die
Annahme einer Degenerationserscheinung spräche, doch
ist dem mit Hecht entgegenzuhalten, daß es tiberall Ent-
artete geben kann. Richtig ist, daß Kultur und Civilisation
sowie „das Zeitalter der Nervosität" nicht verantwortlich
zu machen sind und es freut mich, nach so vielen
Meinungsverschiedenheiten hierin mit Bloch überein-
stimmen zu können, wennschon ich gewünscht hätte, da Li
der Autor aus dem Ergebnis seiner historischen For-
schungen: Die Homosexualität kann kein „ Kulturprodukt *
sein, den Schluß gezogen hätte: Dann wird sie wohl ein
„Naturprodukt* sein.
Manche erblicken in der relativen Fortpflanzungs-
unfähigkeit der Homosexuellen einen Beweis ihrer Krank-
haftigkeit. So sagt Wachenfeld4): „Die Homosexualität
kann nichts rein Natürliches, Physiologisches sein; denn
sonst würde die Natur die homosexuelle Befriedigung,
ebenso wie die heterosexuelle, in den Dienst der Fort-
pflanzung und Arterhaltung gestellt haben." Auch Kraft't-
Ebing schwebte wohl diese negative Seite des homosexu-
ellen Triebes vor Augen, als er sagte8): „Die Verletzung
') Eulenburg in der Vorrede zu Blochs Beiträgen z. Ätiol. d.
Psych, sex. S. IX u. Bloch ibidem S. 3 u. ff.
•) A. a. 0. S. 38.
3) Pa. sex. 8. 248.
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— 154 —
von Naturgesetzen ist anthropologisch und klinisch als
eine degenerative Erscheinung anzusprechen.* Wie aber,
wenn hier gar kein Naturgesetz verletzt würde, wenn es
im Plane der Natur gelegen hätte, Wesen hervorzubringen,
für die es nicht normal ist, sich fortzupflanzen? Unter-
scheiden wir recht genau die Gesetze, welche wir schufen
und die Gesetze, welche uns schufen.
Gewiß ist der geschlechtliche Verkehr die Ursache
der Fortpflanzung, diese ist seine Folge, eine — wie die
Erfahrung zeigt — oft nicht einmal erwünschte Begleit-
erscheinung. Auch ohne daß wir bisher über den Prozent-
satz der Homosexuellen zur Gesamtbevölkerung genaue
Angaben machen können, dürfen wir behaupten, daß der
im homosexuellen Verkehr der Fortpflanzung entgehende
Zeugungsstoff prozentual verschwindend ist gegenüber dem
im normalen Geschlechtsverkehr bewußt und unbewußt
verschwendeten. Die schöpferische Natur geht mit dem
Zeugungsstoff allüberall in ungemein verschwenderischer
Weise um. Es genügt ihr, wenn von diesem Stoff' nur
ein ganz ungeheuer geringer Prozentsatz der Befruchtung
dient Der Anatom Henle1) berechnete die Zahl der
Eier in dem Eierstock eines 18 jährigen Mädchens auf
36000, in beiden Ovarien zusammen also auf 72 000. In
den 30 Jahren von der ersten Periode bis zum Klimacte-
rium werden davon nur 30 X 12 = 360 Eier abgestoßen.
Und von diesen werden selten mehr als 10 befruchtet
Unvergleichlich größer noch ist die Verschwendung des
männlichen Zeugungsstoffs. 500 Millionen Samenzellen
füllen den Raum einer einzigen Kubiklinie aus;2) be-
l) J. Henle: Handbuch der systein. Anatomie des Menschen
Bd. 2 S. 483. Braunschweig, Vieweg 1866.
') Man vergl. Bunges Physiologie Band I 1901 8. 344 u. Bd. 11
S. 100. Über die Speraiauienge bei einer Ejakulation finden sioh
Angaben bei :
1. William Acton: The functions and desorders of the repro-
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— 155 —
rücksichtigen wir nun, daß die bei einer Entleerung ab-
gegebene Spermamenge c. 10 gr. beträgt daß 50 — 100
Eskalationen im Jahr gewiß nichts seltenes sind, so kann
man getrost sagen, daß von vielen Milliarden männlicher
Keimzellen kaum eine den Keim zu einem neuen Menschen
legt. Sterben doch die direkten Nachkommen fast jedes
einzigen Menschen — man vergleiche die genealogischen
Tafeln — nach wenigen Generationen aus. Der natürliche
Mensch denkt beim Geschlechtsverkehr auch gar nicht
an die Fortpflanzung. Für ihn ist der Geschlechtsverkehr
nicht Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck. Vollzieht
er den Geschlechtsakt zum Zwecke der Fortpflanzung,
so handelt er aus Reflexion. Von den beiden Kompo-
nenten des Geschlechtstriebes, dem Kontrektations- und De-
tumescenztriebe Mo Iis, dem Ergänzungs- und Geschlechts-
befriedigungstrieb, hat der erstere mit der Fortpflanzung
direkt überhaupt nichts zu tun. Dabei ist er für den
Charakter und die Richtung des sexuellen Triebes das
wesentlichere. Es ist auch sehr wahrscheinlich, daß, wenn
die Fortpflanzung beim Menschen, wie bei so vielen
Lebewesen, ungeschlechtlich wäre, der Gefühlskomplex,
der in der geschlechtlichen Zuneigung zum Ausdruck ge-
äugt, nicht völlig aus der Welt verschwände. Das, was
wir im weiteren Sinne Herdentrieb, im engeren Sinne
Ergänzungstrieb (Kontrektationstrieb) nennen, würde sicher-
lich auch dann noch fortbestehen. Denken wir uns den
Ergänzungstrieb vom Geschlechtsbefriedigungstrieb los-
gelöst, so wird es uns nicht mehr so rätselhaft erscheinen,
ductive Organs etc. III. ed. London. Churchhill 1802 p. 151. (A.
nimmt 8—10 gr. an.)
2. Dr. J. Marion Sims: „Klinik der Gebärmutterchirurgie"
deutsch von H. Beigel. Aufl. 8. Erlangen. Enke 1873. S. 317.
(c. 10 gr.)
3. Paolo Mantegazza: Sullo sperma umano. Reale istituto
Lombardo di scienze e letere. Rendiconti Vol. III 1866. p. 184.
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— 156
daß das Objekt dieses Ergänzungstriebes, der Gegenstand
der Liebe, auch eine Person sein kann, mit der ein neues
Wesen zu zeugen nicht möglich ist Andererseits wird
es uns auch verständlicher werden, daß sich der Ge-
schlechtsbefriedigungstrieb (Detumescenztrieb) demjenigen
Objekt zuwendet, auf das der Kontrectationstrieb gerichtet
ist. Der Detumescenztrieb ist, so groß seine praktische
Bedeutung sein mag, dabei doch nur untergeordnet, sekun-
där, und man sollte ihm daher bei einer objektiven Beur-
teilung der Homosexualität nicht die erste Rolle zuweisen,
wie es vielfach geschieht.
Der Geschlechtsverkehr beansprucht für die Er-
haltung der Arten keineswegs die Bedeutung, welche
ihm mit dem Gegenstand nicht Vertraute zuerkennen.
Bunge sagt in seinem meisterhaften Lehrbuch der Physi-
ologie *) : „Die Konjugation, die geschlechtliche Zeugung
ist flir die Fortpflanzung unwesentlich. Das Wesentliche
ist die Zeugung durch Teilung einer Zelle, die vom
Wachstum nicht verschieden ist. Welche Bedeutung
die geschlechtliche Zeugung hat, wissen wir
nicht."
Das Ausschlaggebende bei der Fortpflanzung, die
Befruchtung, die Vereinigung der Keimstoffe, ist ja über-
dies ein völlig gefühlloser Vorgang, von dem wir ebenso-
wenig wie vom Wachsen das geringste merken. Bunge
hat vollkommen recht: „Wachstum und Fortpflanzung sind
im Grunde genommen ein und dasselbe. Wachstum ist
Fortpflanzung innerhalb der Grenzen des Individuums.
Fortpflanzung ist Wachstum über die Schranken des
Individuums hinaus*; auch der Mensch, der über
sich hinaus wächst, der durch neue Gedanken
und Windungen seine und des anderen Gehirn-
oberfläche vergrößert, p fla nzt sich f ort. Vom
>) 1. Aufl. im erschienen. *
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— 157 —
Wachstum zur ungeschlechtlichen Fortpflanzung, von
dieser zur geschlechtlichen Zeugung führen alle nur er-
denklichen Übergänge. Gerade die imposante Vielseitige
keit, die unendliche Mannigfaltigkeit, mit der die Natur
an der Erhaltung und Vervollkommnung ihrer Geschöpfe
arbeitet, sollte uns vor der Vermessenheit schützen, der
Natur ins Handwerk zu pfuschen. Wie können wir es
verantworten, dem Menschen ein Recht abzuerkennen, das
keinem anderen Lebewesen vorenthalten ist. Die ge-
schlechtlichen Beziehungen erwachsener und zurechnungs-
fähiger Wesen gehen wahrlich keinen dritten etwas an.
Wie, wenn der Zweck des Geschlechtstriebes nur die
Liebe wäre, die Liebe, die stets fruchtbar ist, zeugt und
gebiert, auch wenn ihr keine neue Lebewesen entsprießen?
Man kann auch produktiv sein, ohne sich fortzupflanzen.
Wenn Möbius die Fortpflanzung als wichtigsten Natur-
zweck1) bezeichnet, so setze ich dem Leipziger Psychiater
den Leipziger Psychologen entgegen, Wundt, den man
den größten Philosophen der Jetztzeit genannt hat. Dieser
stellt als mittelbaren und unmittelbaren Zweck des Lebens
die Erzeugung geistiger Schöpfung hin.2) Haben denn
Michelangelo, Beethoven und Friedrich der Große ihren
Naturzweck verfehlt, weil sie keine Kinder zeugten? Ich
meine, sie bedeuten der Menschheit mehr, als 100 ihrer
Zeitgenossen, die 1000 Kinder hinterließen. Nicht um-
sonst hat man von geistiger Befruchtung und Zeugung
gesprochen. Genie kommt von ytv«w-zeugen und die
Spenderin der Wissenschaften nennt man alma mater,
nährende Mutter. Die Erzeugnisse des Geistes, die Ge-
') Jn dem Aufsatz „Uber diu Vererbung künstlerischer Talente"
sagt Möbius (Stachyologie S. 123): „Das Talent ist dem wich-
tigsten Xaturzweck, der Fortpflanzung, nicht förderlich.
Gerade unter den grollen Talenten finden wir viele kinderlose Leute."
a) Kisler. Wilh. Wundts Philosophie und Psychologie in ihren
Grundlagen dargestellt. Leipzig. Barth 1902. S. 188.
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— 158 —
danken, sind Taten, treibende Kräfte, Entwickeier der
Menschheit, Vorkämpfer besserer Zeiten. Wer neue
Wahrheiten entdeckt und verbreitet, neue Gestalten bildet
und formt, ist ein zeugender und säugender Förderer.
Tolstoi ruft einmal aus: „Möchten doch die Menschen
begreifen, daß die Menschheit nicht durch tierische Er-
fordernisse, sondern durch geistige Kräfte fortbewegt
wird.* Das Leben absolut schön zu schaffen, reich, reif
und rein, das ist der Arbeit Ziel, des Daseins Zweck.
Bis aus Ideen dieses Ideal entsteht, wird noch manche
Generation dahingehen, manche Denkerstirn sich furchen
und manche Arbeitskraft erlahmen. Nur der Tatenlose
ist nutzlos, zwecklos nur, wer nicht am gemeinsamen
Werke der Erziehung, Weiterbildung, Vervollkommnung
mitarbeitet Der Wert eines Menschen hängt von den
Werten ab, die er erzeugt. Hand in Hand mit den
beiden anderen Geschlechtern hat der Uranismus trotz
allem und allem Werte und Werke geschaffen für den Ein-
zelnen und die Gesamtheit. Das war des Uraniers, wie
jedes Menschen Zweck und Pflicht
Und nun schlagen wir die Brücke vom Erkennen
zum Leben. Groß sagt einmal:1) „Heute sperren wir die
Homosexuellen ein und geschieht es ohne Berechtigung,
so wurden eben so und so viele Menschen ungerecht
ihrer Freiheit beraubt und etwas Ärgeres können wir
überhaupt nicht tun/ Und ich füge hinzu, — indem
ich vor meinem Geiste noch einmal die vielen hunderte
von Uraniern vorüberziehen lasse, vom Prinzen zum
Tagelöhner, die ich in sieben Jahren sah, diese hülf-
losen Arzte und Priester, diese angsterfüllten Staats-
anwälte und Richter, diese bedeutenden Gelehrten und
Künstler, die braven Offiziere, die pflichttreuen Be-
amten, die tüchtigen Kaufleute , Landwirte, Studenten,
') Archiv flir Kriminalanthrop. 10. Band 1 u. 2 H. S. 195.
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— 159 —
Arbeiter alle, alle stigmatisiert, verstümmelt, getroffen
in ihrem Heiligsten, — : Solange Staat und Gesell-
schaft in diesen von der Fortpflanzung, nicht aber von
der Liebe Ausgeschlossenen Verbrecher sehen, hat das
Mittelalter sein Ende noch nicht erreicht Ich für mein
Teil werde nicht aufhören, für das Recht dieser Unter-
drückten zu kämpfen, nicht aus Ruhmbegier, sondern
weil ich es nicht ertragen könnte, untätig Mitwisser eines
so gewaltigen Unrechts zu sein.
Anhang:
Lebensgeschichte des urnischen Arbeiters Franz S.,
von ihm selbst erzählt
Als Kind armer Eltern — mein Vater war Schreiner — kann
ich im Allgemeinen auf meine Jugendzeit eigentlich nioht als auf
eine goldene Zeit zurückblicken, zumal da meine Mutter frühe starb
und wir 2 Brüder, die wir von 5 Geschwistern zurückgeblieben
waren, bald eine Stiefmutter bekamen. Unsere Stiefmutter, die noch
heute lebt und unseren Vater in der Folge noch mit 2 Söhnen be-
schenkte, war eine äußerst rechtschaffene Frau und uns eine liebe-
volle Pflegerin, die uns gewiß in jeder Beziehung die rechte Mutter
zu ersetzen bemüht war. Allein die dürftigen Verhältnisse unserer
Familie brachten es mit sich, daß wir schon als Jungen zum Lebens-
unterhalt mit beitragen mußten. Der rücksichtslose Kampf ums
Dasein warf schon frühe seine grauen Schatten in den Sonnenschein
unserer Jugend. Die Stunden, wo ich frei mich meinen Alters-
genossen zugesellen durfte, waren mir bedeutend knapper zuge-
messen als allen anderen Kindern. Um so eifriger und in steter
Angst, daß der Ruf meiner gestrengen Mutter mich, ach nur zu
frühe, wieder abrufen würde, gab ich mich den Kinderspielen mit
meinen — Kameradinnen hin. Freilich, Kameradinnen, denn Mädchen
waren damals meine liebsten und fast ausschließlichen Spielgefährten.
Ich fand bei ihnen stets wilüge Annahme und war ihnen offenbar
ein angenehmer Spielgenosse. Abhold jenen lärmenden, wilden
Knabenspielen zog ich es vor, in Gemeinschaft mit gleichaltrigen
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— 160 —
Mädchen der Nachbarschaft mich an Pappenwagen, Puppenstuben,
Kochherd u. s. w. zu ergötzen. Dort war ich in meinem Element.
Keine meiner Gespielinnen konnte die kleinen Möbel und Sächelchen
des PappenheimB so schön zurechtstellen, die kleinen Betten und
Deckohen so glatt falten, keine konnte so schöne Chokoladen- und
Milchsuppen zurcchtpantschen, ho delikate Mohrrüben mit Zucker
einmachen, als ich. Deshalb mußte ich auch meistens bei den
Spielen die Mutter markieren, obwohl mitunter von einer neidischen
Kleinen Einspruch dagegen erhoben wurde, wobei man lakonisch
auf meine Hosen als unzweifelhafte Qualifikation zur „Vaterschaft0
hinwies. Zuweilen mischte sich auch die Mutter Derjenigen, in deren
Behausung wir spielten, dazwischen, um uns auf diese Umkehrung
der Begriffe aufmerksam zu machen. Die Majorität der kleinen
Schar entschied meistens, nach einigen Wenn und Aber, doch für
meine „Mutterschaft." Und zwar vornehnüich im Hinblick auf die
Chokoladensuppe und die eingemachten Rüben. Und um auch
etwaigen Nörgeleien wegen der „Hose" zu begegnen, wurdo oft ein
altes Umschlagtuch nebst dem Häubchen der Mutter herbeigeschafft.
Angetan damit war ich glücklich, meine Rolle bis zu Ende des
Spiels durchführen zu können. —
Welch rosiger Hauch holder Unschuld lag Uber diesen naiven
Jugendspielen ausgebreitet! Und doch — wenn der Forscher den
Schleier jugendlicher Naivität durchdrang, bot sich ihm nicht schon
in dem Verhalten de« Kindes manch deutliches Merkmal psycho-
logischer Abnormität? — Weiter aber: Je älter ich wurde, um so
deutlicher entwickelten sich meine Neigungen zu allen möglichen
weiblichen Beschäftigungen. Meine Stiefmutter bemerkte sehr bald,
mit welchem Geschick ich stets die kleinen Hilfeleistungen ausführte,
welche sich auf den Haushalt bezogen.
Bald wurde ich von ihr mit Vorliebe zu solchen Arbeiten
herangezogen. Und ich erinnere mich lebhaft jener freudigen Ge-
nugtuung, dio ich empfand, als anläßlich der Geburt meines jüngsten
Bruders, ich hatte eben mein zehntes Lebensjahr Ubersehritten —
schon ein großer Teil der häuslichen Verrichtungen mir Ubertragen
wurde. Körperlich entwickelte ich mich recht langsam, dafür wurde
mir aber öfter eine gewisse, nach innen gekehrte geistige Reg-
samkeit nachgesagt. Mit dem elften Jahr hörten die Spielereien
mit den Mädchen nach und nach auf. Die Personen der kleinen
Mädchen hatten ja bei den vorbenannten Spielen wenig oder keine
Anziehungskraft ausgeübt. Es war nur immer die Art des Spieles,
die mich festhielt. Eine auffallende, offen und naiv ausgedrückte
Vorliebe für schöne Formen und Linien wurde schon frühe boi mir
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— 161 —
von meiner erwachsenen Umgebung bemerkt und als ein besonderes
Kuriosum an mir belächelt. Gelegentlich eines Wohnungswechsels
meiner Eltern wurde mein Geschick allgemein bewundert, mit dem
ich in der neuen Wohnung Bilder, Spiegel und sonstige Sächelchen
an den Wänden geschmackvoll zu arrangieren wußte. Vom elften
Jahre an gab ich mich nun mehr und mehr mit Knaben meines
Alters ab, doch war die Art des Verkehre wiederum sehr bald
Gegenstand vieler Bemerkungen, namentlich der Mütter, die ja
überhaupt mehr Gelegenheit nehmen, das Tun und Treiben als das
ganze Wesen ihrer Kinder zu beobachten. Man fand meine Art,
mit den Freunden sich abzugeben, komisch, so „eigentümlich," „so
anders,'1 garnicht jungenhaft. Wenn ich mit Knaben spielte, so
kamen die sonst übüchen Katzbalgereien, Gezänke und Feindselig-
keiten, die ja sonst unter Jungen gang und gäbe sind, garnicht
vor. Ich wußte immer alles gleich wieder zu arrangieren und zu
versöhnen, so daß jeder zu seinem Rechte kam. Nahm auch wohl oft
den Rest auf meine Kappe, damit sie nur alle „wieder gut" wurden,
paukte mich mit den Einzelnen nie, gab immer, oft mit tränenden
Augen nach und war froh, wenn sie mich nur leiden mochten, wenn
ich ihnen nur immer gut sein durfte. Deutlich erinnere ich mich
noch, wie mich oft meine Mutter schalt wegen meines duckmäuse-
rischen, mädchenhaften Benehmens und mir einschärfte, daß ich mich,
wenn ich im Rechte sei, zu wehren hätte und mir nicht „alles ge-
fallen lassen dürfte"! Gewöhnlich ohne Erfolg. Soldaten-, Krieg-
und Räuberspiele, die bei allen Jungen doch die begehrtesten Spiele
sind, mir waren sie ein wahrer Horror. Ich erinnere mich, nur ein
einziges Mal das Spiel „Indianer und Pflanzer" mitgemacht zu
haben, aber bloß unter der Bedingung, daß mir dabei die An-
fertigung der phantastischen Lendengürtel und Kopfputze über-
tragen wurde, bei welcher Beschäftigung ich dann eine geradezu
abenteuerliche Phantasie entwickelte. An den Spielen selbst hatte
ich nur insofern ein Interesse, als ich dabei mit kritischem Bück die
äußeren Erscheinungen der verschiedenen Knaben in Vergleich bringen
konnte. Gewöhnlich lief ich neben und hinter den einherstürmenden
Knaben und weidete meine Augen an dein schlanken Oberkörper,
den üppigen Lenden, den glühenden Wangen und den funkelnden
Augen desjenigen, der meinen Schönheitsbegriffen besonders ent-
sprach. Schöne, lebhafte, sprechende Augen liebte ich schwärmerisch,
und wenn ihr Besitzer gar womöglich noch leichtgelocktes Haar
hatte, dann wars immer um raeine Ruhe geschehen. So einer durfte
unbeschränkt über mich verfügen. Ich suchte auf alle mögliche
Art seine Gunst zu erwerben, war glücklich, wenn ich in seiner
Jahrbuch V. 1 1
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Nähe weilen oder gar seine Hände fassen durfte. Ein solcher
Knabe, Willy M , zwei Monate jünger als ich, doch bedeutend
kräftiger entwickelt, war es denn auch, für den mich bald eine
heftige und tiefe Zuneigung ergriff. Er war es, für den ich meine
ersten „Liebesscbmerzen" erduldete. Jenes oben genannte Spiel,
„Indianer und Pflanzer," hatte uns näher zusammengeführt. Ich
hatte bei dem Spiel die mehr passive Rolle unter den indianischen
Kriegern übernommen. Ich mußte die gemachten Gefangenen be-
wachen. Willy geriet ebenfalls, nach heldenmütiger Gegenwehr
gegen die Übermacht der Wilden, in ihre Gefangenschaft und wurde
mir im Triumph zugeführt, damit ich ihn bewache, bis die even-
tuellen Sieger in den „Wigwam" zurückkehrten, um ihn dem qual-
vollen Tode am Marterpfahl zu überantworten. Schweigend nahm
ich ihn in Empfang und schweigend betrachteten wir uns eine Weile
gegenseitig. Er nahm seine Rollo sehr ernsthaft und betrachtete
mich mit ungeheurer Verachtung. Ich nahm meine Rolle weniger
gewissenhaft, sondern musterte seine äußere Erscheinung mit heim-
licher Bewunderung.
So wie wir uns später oft einiger an sich unbedeutender Epi-
soden unserer Jugend lebhaft bis ins hohe Alter hinein erinnern,
mit derselben Lebendigkeit, als sei es gestern geschehen, erinnere
ich mich noch heute jener unsagbar wonnigen, süßen Freude,
die ich damals empfand, als dieser Knabe, gefesselt, in seiner
stolzen Hilflosigkeit vor mir stand. Im Stillen dankte ich es
meinem gescheiten Einfall, daß ich mich hatte zum Wächter der
Gefangenen benutzen lassen. War ich doch nun in die glückliche
Situation gekommen, meinen geliebten Freund vollständig in meiner
Gewalt zu sehen. Mein erster Gedanke, nachdem wir allein gelassen,
war, ihn in seiner Hilflosigkeit in meine Anne zu schließen, um ihn
nach Herzenslust abzuktbsen und an mich zu drücken. Was
wollte er machen; er war gebunden, konnte sich nicht wehren und
mußte sich meine Liebkosungen gefallen lassen. Allein die Furcht
vor seiner wirklichen Verachtung hielt mich davon ab. Wonne-
trunken saß ich eine Weile neben ihm und bewunderte verstohlen
den schlanken Körper, den schönen Kopf meines Gefangenen.
Willy war in der Tat eine außerordentlich schöne Jugenderscheinung.
Tannenschlank gewachsen, waren Kopf und Gliedmaßen geradezu
klassisch zu nennen im Ebenmaß ihrer Formen. Den schönen Kopf
schmückte eine Fülle seidenweichen, blonden Haars, das in leichten
natürlichen Kräuseln die blendend weiße Stirn umrahmte und ein
paar große, wunderbar sprechende Augen, stahlgrau und von langen
dunklen Wimperhaaren beschattet, strahlten aus diesem schönen
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Gesicht mir entgegen. An ihnen konnte ich mich nie satt sehen.
Möglich, daü sich die Erscheinung Willys in meiner jungen Seele
in übertriebenen Reflexen widerspiegelte. Ich weitt mich aber
noch genau zu entsinnen, wie ich damals nicht begreifen konnte
und wie ich eigentlich jedem Menschen böse war, der ihn sah und
nioht dabei ausrief: „Wie unendlich schön ist dieser Knabe!44 Ich
muß betonen, datf ich niemals dabei in meiner ganzen Knabenzeit
sexuelle Regungen empfand, das geschah erst in und nach der Ent-
wicklung meiner Pubertät.
Das Ende jenes Spiels aber war ausschlaggebend geworden
für unsere nachherige Freundschaft. Willy hatte bei jener Gelegen-
heit mein Mitgefühl nicht umsonst benutzt, indem er behauptete,
die Fesseln seien „zu fest44 und täten wehe, und ich war nur zu
bereit, diese etwas zu viel zu lockern, und war auch nachher gerade
nicht allzusehr erschrocken, als plötzlich mein Gefangener in grossen
Sätzen entwischte. Das Spiel, hiess es, „gilt nicht,*4 ich wurde tüchtig
wegen meiner Unzuverläliigkeit ausgescholten. Und als ich dabei
noch obendrein meinen Freund Ausreisser in Schutz nehmen wollte,
geschah, was oft zu Ende solcher Spiele zu geschehen pflegt,
irgend jemand bekam seine Hiebe und hier in diesem Falle war ich
es, der seine schöne Tracht Prügel von seinen Kriegsknmpanen ein-
heimsen miwste. Das waren meine ersten „Liebesschmerzen.4'
Und Willy machte nicht einmal Miene, mich zu trösten oder nur zu
bedauern. Und doch ist eben dieses Jugendspiel der Grundstein
zu unsrer langjährigen innigen Freundschaft geworden. Es mochte
Willy doch wohl leidgetan haben, dass ich seinetwegen so jämmerlich
gepufft worden. Er liess sich von da an öfter vor dem Hause, wo
meine Eltern wohnten, sehen. Ach und ich, mir fuhr jedesmal ein
Wonneschauer durch die Brust, wenn ich ihn nur erblickte. Heisse
Blutwellen schössen mir ins Gesicht und mehr stürzend rannte ich
auf ihn los, um seine Hand zum „guten Tag" zu fassen, die ich
dann oft überlange festhielt, in seinen Anblick versunken und ohne
zu hören, wenn er mich nach diesem und jenem frug. Von nun an
begann die schönste Zeit meiner Jugend. Ich war Uberglücklich,
dass Willy anfing, sich mit mir zu beschäftigen. Nun bot ich alles
auf, ihn an mich zu fesseln. Wir besuchten uns gegenseitig und
wenn ich einmal von der Mutter einen freien Nachmittag erhielt,
dann wusste ich's trefflich einzurichten, ihn von den wilden Spielen
mit den andern Jungen abzuhalten und ihn zu überreden, mit mir
zusammen in der Umgegend nmberznstreifen. Er tat mir auch öfter
den Gefallen und ging mit, trotzdem die Neigung dazu bei ihm nicht
sonderlich gross zu sein schien. Dann lagen wir oft an einem kleinen
11*
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Abhang oder im Gebüsch versteckt und lauschten dem Gesänge
der Lorchen über unseren Häuptern und folgten ihren Bewegungen,
wenn die kleinen Sänger jubelnd in den blauen Äther aufstiegen.
Zuweilen war Willy, den Kopf in meinem Schoss ruhend, sachte
eingeschlafen, während ich meiner Lieblingsbeschäftigung oblag,
grosse Mengen von Blumen zu allerlei Kränzen, Sträussen und
Guirlanden zu verarbeiten. Dann hielt ich ab und zu inne und
lauschte auf seine tiefen Atemzüge, betrachtete zärtlich sein schönes
Haupt von allen Seiten und versenkte heimlioh und schüchtern
meine Uppen in das tippige Haar des Lieblings. Fortan gab ich
mich dieser berauschenden Zuneigung mit einer Inbrunst hin, die
bald mein ganzes junges Dasein ausfüllte.
Wo ich ging und stand, begleiteten mich die Gedanken an ihn.
Ich mischte mich jetzt nur noch »ehr selten unter die anderen
Knaben, wenn „er" nicht unter ihnen war, sondern streifte allein
umher oder ging zu ihm, und wenn ich ihn nicht zu Hause traf,
setzte ich mich iu irgend eine Ecke, um auf ihn zu warten. Schalten
schon trüber meine Eltern öfter über mein „närrisches" Wesen, so
war ich nun völlig ein Träumer geworden. Stundenlang sass ich oft
in der Kammer in einer Ecke und sann und sann und suchto nach
einem Mittel, wie ich meinem schönen Freund noch mohr wie bisher
meine Liebe beweisen könnte. Allerlei abenteuerliche Pläne wogten
in meiner Seele auf und nieder. Ich stellte mir vor, wie das Haus,
in dem Willy wohnte, plötzlich in Brand geriete und Willy darin
in grosser Lebensgefahr sich befinden würde. Ich würde dann, das
gelobte ich mir, sofort mich in die Flammen stürzen, würde ihn
natürlich „ganz gewiss" in meinen Armen aus dem Feuermeer er-
retten u. s. w. So brachte ich oft die Zeit bin in solchen für mich
wundersttssen Träumen.
Immerwährend hungrig nach irgend einer Gunstbezeugung
von seiner Seite, war im Gegensatz dazu Willy eigentlich recht
sparsam damit. Willy war im Ganzen ein herzensguter Junge.
Jedoch geschlechtlich offenbar nonnal veranlagt, konnte er mir
gewiß keine anderen Gefühle entgegenbringen, als er für mich eben
hatte. Nämlich jenes Gemisch von Anhänglichkeit und Dankbarkeit,
das er mir ja auch bereitwilüg zugestand, wohl mit dem dunklen
Bewusstsein, daas er an mir einen Freund besass, von dem er alles
verlangen konnte. Was aber in meinem kaum 13jährigen Herzen
schon damals brannte und wühlte, war eben etwas anderes als
kameradschaftliche Zuneigung. Es waren die ersten steigenden
Funken jenes gewalligen unterirdischen Feuers, jener leidenschaft-
lichen Glut, die mau Liebe nennt. Blieb dem Dreizehnjährigen, in
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keuscher Unschuld, auch die erotische Natur dieser Empfindungen
noch uubewusst, so stieg mir doch bereits die dunkle Ahnung: empor,
dass diese Liebe ebensolche, gleich heisse und stürmische Leiden-
schaftlichkeit von dem anderen fordern ralisse. Ich war nicht damit
zufrieden, dass er mich viel aufmerksamer und rücksichtsvoller,
sanfter behandelte wie die anderen, mich auch wohl mal spassend
sein „Puppchen" nannte, meine Hände packte und mit mir im Kreise
herumjagte, mich plötzlich losliess und dann schnell hinzusprang und
mich auffing, wenn ich, schwindlig geworden, zu stürzen drohte ;
war auch nicht zufrieden, wenn ich seinen Kopf dann und
wann an meinen Busen drücken durfte, ihm Ilaar und Wangen
zu streicheln. Nein, freiwillig sollte er selbst dergleichen auch mit
mir tnn, sollte meinen schüchternen Knss erwidern. Täglich in den
Stunden, wo wir nicht beisammen waren, waren doch meine Ge-
danken bei ihm. Dann stellte ich mir in meiner Phantasie vor,
wie er mich innig umarmte, an sich drückte und küsste. Bei solchen
Träumen stieg mir immer der Schlag meines Herzens gleichsam bis
zum Hals herauf und ich wäre in solchen Augenblicken nicht im
stände gewesen, wenn mich Jemand überrascht hätte, auch nur ein
Wort hervorzubringen. Fest hing ich mich dann im Geiste an ihn,
um ihn nie, nie mehr loszulassen, er sollte mich tragen, weit, weit
fort, irgendwohin, wo wir immer, immer beisammen sein dürften.
Wie geistesabwesend sass ich dann oft in einein Winkel und rührte
mich nicht. Oft traf mich meine Mutter so und riss mich scheltend,
unsanft aus meinen süssen Träumen. So viel ich nun auch von
solchen Umarmungen träumte, Willy tat nie etwas dergleichen, und
ich musste mich weiter mit den kärglichen Gunstbezeugungen dieses
wild umherstürmenden Knaben begnügen. Und doch — bald sollte
ein Teil meiner heimlichen Träume in Erfüllung gehen. Wie ich
schon eingangs meiner Zeilen bemerkte, waren meine Eltern arme
Leute, die schwor um die rechtschaffene Erhaltung unserer zahl-
reichen Familie kämpfen mussten. Mit Eintritt in mein 13. Lebens-
jahr machte sich, hervorgerufen durch lange Krankheit meines
Vaters, auch für mich die Notwendigkeit geltend, nun dauernd zum
Unterhalt der Familie mit beizutragen. Ich war im Ganzen etwas
zart, aber sonst kerngesund und leidlich wohlgebaut. So erhielt ich
denn eine Stelle in einem grossen Speditionsgeschäft, als sogenannter
— Rollmops, so wurden jene halbwüchsigen Jungen geuanut, welche
den Rollkutscher auf dem schwerbeladenen Speditionswagen zu be-
gleiten hatten, vom Güterbahnhof durch die Stadt, wo die Kisten
und Ballen bei den verschiedensten Firmen abgesetzt wurden. Hier
begann nun eine sehr trübe Periode meiner Jugend, und doch fiel
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in sie der erste Sonnenstrahl eines reinen zarten Liebesglückes.
Der Leser mag mir gestatten, hier die kleinen, an sich ja recht un-
bedeutenden Vorkommnisse dieses meines jungen Daseins etwas
ausfuhrlicher zu erzählen. Denn es bieten sich in ihnen, meiner
allerdings laienhaften Auffassung nach, wohl für den Forscher alle jene
charakteristischen Merkmale dar, die schon den Knaben in seiner
ganzen psychologischen Entwicklung als ausgesprochenen Homo-
sexuellen erscheinen lassen. — Meine ganze körperliche und seelische
Verfassung stand eigentlich im Widerspruch zu meinem neuen Tätig-
keitsfelde. Die ganze Umgebung, in die ich nun plötzlich hinein-
kam, behagtc mir schon von Anfang an nicht. Und doch war
ich uun verpflichtet, täglich von '/«2 bis meistens Abends nach
10 Uhr in dieser neuen, für mich so ungünstigen Atmosphäre zu-
zubringen, unter der ich ungemein litt. Meinen geliebten Willy
sah ich jetzt nur noch selten, denn ich hatte ja nun in der Woche
Uberhaupt keine freie Zeit mehr. Mein ganzes Wesen sträubte sich
gegen die Art meiner nunmehrigen Beschäftigung. Der Umgang
mit den Pferden, das An- und Ausspannen, FUttern und Tränken
derselben, sowie das Streumachen, alles dieses gehörte zu den Ob-
liegenheiten eines ordentüchen „Rollmopses" und war mir ein
Gräuel. Dazu kam, daß ich unter dem ungemein rohen Tun und
Treiben der Kutscher zu leiden hatte. Das beständige wüste Ge-
fluche, die brutalen gemeinen Späßo flößten mir Abscheu ein.
Scheu und furchtsam tat ich, was mir geheißen wurde und hatte in
Folge dessen auch noch die frechen Sticheleien meiner neuen
„Kollegen", deren es eine Menge auf dem Speditionshofe gab, ein-
zustecken.
Mit Wehmut dachte ich an die schöne Zeit, wo ich mit Willy
zusammen so glücklich war. Ach wie sehnte ich mich so furchtbar
nach diesem meinen liebsten, meinem einzigen Freund. Und fast un-
bewusst lenkte ich meine Schritte nach jener Strasse, in der er
wohnte, drUckte mich in irgend eine Ecke, von wo aus ich seine
Fenster sehen konnte, und blickte unverwandt hinauf. Meistens
war es schon immer nach 10 Uhr und meine geheime Hoffnung,
Willy vielleicht noch treffen und sprechen zu können, war immer
vergeblich. Fast verzehrte mich die Sehnsucht nach ihm und un-
sagbare Traurigkeit erfüllte meine Seele. Ich dachte mir dann
meinen Liebling hinter jenem Fenster, vielleicht schon friedlich in
seinem Bette schlummernd, er dachte am F^nde gar nicht mehr an
mich, seinen Freund, ja, hatte vielleicht don ganzen Tag, die ganze
Zeit, wo wir uns nicht gt-sehen, nicht mehr an mich gedacht, hatte
mich wohl gar schon ganz vergessen. 0 dann fühlte ich mich so
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furchtbar einsam und verlassen auf der Weit und fing an bitterlich
in mich hinein zu weinen. Ich war tief unglücklich und langsam
schlich ich nach Hause. — Solche Abende wiederholten sich oft.
— Und doch sollte mir hier gerade die gliioklichste Stunde meines
jungen Dasein's schlagen. Was ich mit meinen glühendsten Phanta-
sien bis dahin mir heimlich ausgedacht, nie aber verwirklicht zu
glauben gewagt, das wurde mir an einem Abende zuteil. Ich hatte
mich, wie oft, nachdem die Feierabendstunde für uns geschlagen,
verstohlen vom Speditionshof davon gemacht, um nicht mit den
anderen Burschen auf der Strasse zusammen zu geraten. Träumend
trabte ich durch die Strassen und stand auch bald wieder vor dem
Hause meines Freundes. Ich hatte ihn fast 3 Wochen lang nicht
gesehen und bildete mir ein, Willy mtisste nun doch unbedingt auch
nach mir ausschauen. Meine unendliche Zuneigung konnte sich nicht
damit abfinden, dass er so ganz und gar nicht an mich denken sollte.
Lange wartete ich vergeblich, dass er vielleicht zufällig irgendwo
noch sichtbar würde. Schliesslich ging ich, da ich nun das Tor
zufällig diesmal noch offen fand, durch den Hausflur und lungerte
wartend und missmutig auf dem mir wohlbekannten Hof umher.
Im Hause wohnte ein Lohnkutscher, der in den Seitengebäuden,
Reinigen und Ställen mit seinen Kaleschen, Droschken, Pferden und
allerlei Gerätschaften den ganzen Hof beherrschte. Ich kannte
jeden Winkel, denn ich hatte mich mit Willy zusammen manches
liebe Mal hier umher getummelt. Ich setzte mich auf einen umge-
stülpten Wassereimer, am Eingang einer offenstehenden Wagenremise
und starrte nun eine Weile nach dem Küchenfenster der Wohnung
meines Freundes hinauf. Eine Weile hatte ich so gesessen, schwer-
mütig seufzend, den Kopf in die Hände gestützt, als ich plötzlich
aus dem Innern des Schuppens, wo einige Bündel Stroh, Futtersäcke
u. s. w. lagen , meinen Namen flüstern hörte. Ich bekam einen ge-
waltigen 8chrecken , sprang auf und lausehte. Hinter dem Bündel
Stroh regte sich etwas, kam vorsichtig näher und mit freudigem
Erstaunen erkannte ich nun — Willv, meinen sehnlichst erwarteten
Freund. Er liess mir aber keine Zeit zum langen Fragen, zog mich
am Arm in den dunklen Winkel zurück und erzählte mir flüsternd
und mit vor Angst zitterndem Athem, wie er in dieses Versteck
gekommen sei und wie er sich, aus Furcht vor dem strafenden Ann
seines sehr strengen Vaters, nicht hinauf getraue. Es war eine
lanjfe Geschichte. Willy hatte offenbar wieder einmal bei einem tollen
Knabenstreich die Hauptrolle gespielt. In Gesellschaft mit anderen
Knaben hatte er einer in der Nähe wohnenden Grünkramhändlerin
einen Schabernack zugedacht. Das Geschäftslokal dieser Frau befand
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sich unterhalb der Strassenfront , die Treppe ging von der Strasse
aus nach unten, und die bösen Buben hatten nun einen grossen Blech-
topf mit Wasser herbeigeschleppt und hatten diese Pandorabüchse
jene Treppe hinunter „fallen lassen". Das Wasser war natürlich in
den Laden geflossen und hatte die alte, etwas korpulente Frau sehr
in Bewegung gesetzt. Nach vollbrachter Tat fliehend, waren jedoch
einige der übeltater erkannt worden. Und gegen Abend nahte die
rächende Nemesis in Gestalt der sehr rabiaten Grünkraiufrau. Sie
kam in die Wohnung der Kitern, strengste Strafe heischend für den
„ungeratenen Bengel widrigenfalls sie sich bei der Polizei be-
schweren wolle, da das schon „öfter vorgekommen". Willy beteuerte
mir allerdings, daas er diesmal „wirklich und wahrhaftig- gänzlich
schuldlos sei, indem die anderen den ganzen Koup ausgeheckt und
vollbracht hätten, er aber nur „zugeguckt" hätte. Mit pochendem
Herzen hatte ich seinem Bericht gelauscht. Mitleid erfüllte meine
Seele und ich überlegte bereits, wie ich meinem Freunde helfen
könnte. Ich riet ihm zunächst, hinauf zu seinen Kitern zu frühen,
denn, da er „nichts dafür" könnte, so setzte ich ihm auseinander,
war doch keine Strafe zu erwarten. Allein mit der gänzlichen Un-
schuld mochte es wohl seinen Haken haben, und ich konnte ihn
nicht dazu bewegen, hinauf zu gehen. Schliesslich erklärte er
schluchzend, er wolle „in's Wasser" gehen, denn sein Vater »ei „zu
strenge". Entsetzt packte ich seinen Arm, als müsste ich ihn fest-
halten. So Saasen wir eine Weile stumm nebeneinander. Seine
Angstlaiite schnitten mir in's Herz und ich zermarterte mein arm-
seliges Hirn nach irgend etwas, womit ich ihn retten könnte. Denn
helfen iuusste ich ihm, so viel war sicher. Mit einem Male kam
mir auch ein trefflicher Gedanke, ja so iuusste es gehen, so konnte
ich ihn vielleicht von der drohenden Strafe befreien. Ich überlegte
garnicht erst, ob auch alles, was er mir erzählt hatte, wahr sei und
ob er wirklich nur „zugeguckt" hätte. Schnell sprang ich auf,
flüsterte ihm hastig ein paar Worte über meinen Rettungsplan zu
und ehe er ein Wort erwidern konnte, rannte ich über den Hof,
die Treppe zur Wohnung seiner Eltern hinauf und schellte. Beim
schrillen Klang der Schelle aber erschrak ich doch heftig über meine
Kühnheit und mir war auf einmal sehr bange. Aber hier blieb mir
keine Zeit mehr zum Überlegen, denn im nächsten Moment stand
ich schon vor dem gestrengen Herrn Vater meines Freundes.
Stockend begann ich nun zuerst und zähneklappernd vor Angst
und Aufregung eine umständliche Erzählung, wie ich Willy vorhin
getrotfen hätte, wie er auf der Brücke am Kanal gestanden, sich
nicht nach Hause getraue, in's Wasser wolle aus Angst vor der
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Strafe und wie er so geweint habe, weil er diesmal „garnichts ge-
macht", sondern bei der ganzen Sache „nur zugeguckt" und dass
ich es „ganz genau" gesehen, wie ein andrer Junge den Topf mit
dem Wasser in den Keller gestürzt, Willy aber nur in der Nähe
gewesen sei und eben nur zugeguckt habe. Das alles hatte ich „ganz
genau gesehen" u. s. w. Ich log das Blaue vom Himmel und iuuss
wohl in der Hitze in meine Rede „dramatisches Leben" gebracht
haben, denn Geschwister und Mutter meines Freundes standen um
mich hemm und lauschten athemlos. Warum sollte es auch nicht
so gewesen sein? Es war schon ziemlich spät, man war bereits
unruhig geworden, da sich Willy noch nicht hatte blicken lassen.
Also klang meine Erzählung nicht unwahrscheinlich und die Mutter
fing bereits zu jammern an um „den armen Jungen"; man dran«? in
mich, ich sollte ihn holen oder wenigstens sagen, wo er stecke, es
solle ihm nichts geschehen u. s. w. Mir aber, angesichts des uner-
warteten schnellen Erfolges, schwoll gewaltig der Kamin, ich ting
an, mit meinen höheren Zwecken zu wachsen und erklärte achsel-
zuckend, das Versteck Willy's nicht verraten zu können, bevor man
nicht Straflosigkeit vollkommen einwandsfrei zusichere. Plötzlich
fiel mir der Vater, der mich während des ganzen Auftritt« aufmerk-
sam beobachtet hatte, gelassen mit der Frage in's Wort, ob nicht
wohl ich der wirkliche Täter sei, denn da ich alles so genau wüsste,
müsse ich doch zum mindesten dabei gewesen sein. Verdutzt
senkte ich die Augen zu Boden, nun hatte mein schönes Lügen-
gewebe ein ziemliches Loch bekommen, schnell aber besann ich
mich, schmolz flugs Dichtung und Wahrheit zusammen und erklärte
prompt, dass ich, auf dem Rollwagen sitzend, zufällig alles mit an-
gesehen hätte. Die Sache schien plausibel, Willy s Mutter nament-
lich glaubte alles und suchte ihren Geraahl von der Möglichkeit der
Wahrheit meiner Angaben zu überzeugen. Dieser war nun freilich
nicht so schnell von der Unschuld seines Sprossen überzeugt,
namentlich wollte ihm der Passus von dem „blossen Zugucken"
nicht recht einleuchten. Die ganze Geschichte schien ihn aber
endlich zu amüsieren, da ich nicht aufhörte fortwährend die Engel-
reinheit seines Sohnes zu beteuern. Schliesslich meinte or, man
könnte es ihm ja diesmal schenken, obgleich es eigentlich um jeden
Hieb schade sei, der vorbei ginge u. s. w. Mein Herz hüpfte vor
Freuden und als der grosse bärtige Mann wohlwollend lächelnd
meinte, ich sei ja ein verteufelt eifriger Fürsprecher und wir hielten
wohl „dicke Freundschaft", da ward ich Uber und Uber rot und
konnte kein Wort mehr sagen. Ich erhielt nun beim Fortgehen noch-
mals den dringenden Auftrag von der Mutter, den Sohn sofort
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hinauf zu schicken. Nochmals nahm ich ihr die Zusicherung ab,
dass ihm nichts passieren dürfe, flog die Treppe hinunter, Uber den
Hof und teilte meinem Freunde triumphierend die Freudenbotschaft
mit. Willy - traute jedoch dem Frieden noch nicht so recht und
zögerte. Nun versprach ich, bereits mit tränenden Augen, mitzu-
gehen und nochmals alles zu bekräftigen in seiner Gegenwart, da
ich sah, dass er meinen Worten nicht glauben wollte. Ich musste
nun nochmals mit hinein und das Damoklesschwert Uber dem teuren
Haupte meines Freundes wurde glücklich beseitigt. Als mich
Willy nachher hinausbegleitete, um mir das Tor aufzuschliessen,
— da es mittlerweile spät geworden war — , blieb er auf dem
Hausflur plötzlich vor mir stehen, fasste meine Hand, sah mich
eine Weile an und meinte dann in seiner treuherzigen Weise: „Du
bist aber furchtbar gut, weisst Du, und was Du für Courage hastl
Wärst Du nun nicht gekommen, hätte ich immer noch die schreck-
liche Angst." Ich konnte nichts erwidern, sondern drückte nur
leise seine Hand. Er aber, wohl in unmittelbarer Aufwallung seines
dankbaren Herzens, schlang nun seine Anne fest um meinen Hüls
und küsste mich dreimal herzhaft auf die Wange, indem er mich
seinen liebsten Freund nannte. — Ich war wie betäubt. Die
schnelle, unerwartete, zärtliche Berührung Willys raubte mir fast
die Sinne. Mein Kopf glühte plötzlich wie Feuer, und das Hera
drohte mir zu zerspringen, so stürmisch begann es zu pochen.
Ein unbeschreibliches Gefühl durchrieselte meine Adern und im
Übermass seligen Entzückens erbebte mein ganzer Körper. Nun
konnte ich mich nicht mehr halten. Zitternd hing ich am Halse
meines Freundes und bedeckte sein Antlitz mit tausend leiden-
schaftlichen Liebkosungen. Der erste Strahl heisser Sinnlichkeit
dnrehschoss meinen Körper. War das nicht die Erfüllung meiner
seligsten Träume, die ich so oft im stillen Winkel, immer und
immer von neuem, geträumt? Nun sagte er es mir selbst, dass ich
sein liebster Freund sei — minutenlang war ich nicht imstande,
einen Laut von mir zu geben.
Dann aber, unter neuem langen Kuss, gab ich mein süsses, so
lange bewahrtes Geheimnis preis. Leise kam es von meinen Lippen.
Ich bin dir ja so schrecküch gutl „Ich dir auch", beteuerte Willy
überzeugungsvoll. Und nun lösten sich die Zungen, innig um-
schlungen gaben wir uns gegenseitig das Versprechen unverbrüch-
licher Treue. Nichts sollte uns mehr trennen, nie, nie wollten wir
uns böse werden, wie es „die andern" so oft gegenseitig täten.
Willy schwor hoch und teuer, er wolle jedem die „Knochen kaput
schlagen", der mich beschimpfen oder mir gar „was tun" wollte.
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Meinen glühenden Kopf an seine Brust gelehnt, erzählte ich dann
von meinem Missgesohick auf dem Speditionshof, von den Burschen,
die mir immer nachstellten und von all den kleinen Sorgen und
Kümmernissen dort. Kr versprach mir, mich zu schützen, wo er
nur könnte. So schwatzten wir noch lange von Diesem und Jenem
und konnten nicht voneinander kommen. — Weshalb ich dies
alles so breit und ausführlich schilderte? — Weil ich diese für
mich so bedeutsamen Momente meines ersten Liebeslebens nie und
nimmer vergessen kann und mag. Weil die unendliche Gewalt
der Liebe mir in jenen Tagen zum ersten Male wirklich bewusst
wurde. Und liegt nicht ein unbeschreiblich poetischer Hauch Uber .
diesem Stückchen Jugendidyll ausgebreitet, der in seiner schuld-
losen Naivität das Herz jedes Menschenfreundes bezaubern rauss?
Was wussten wir von der Welt, was von der rauben Wirklichkeit
mit ihren Regeln und Gesetzen? Was für Begriffe macht sich
ein IS1/, jähriges Gemüt von dem starren Sitten- und Moralkodex
der Kulturgesellschaft? Ach, keine! Aus dem reinen Lebensimpuls,
aus dem sprudelnden Quell lebendiger Jugendkraft und Fülle
schöpfte ich dieses unendlich schöne Empfinden, diesen unwider-
stehlichen Drang nach innigster Vereinigung des Körpers und der
Seele. Immer und immer wieder presste ich den Körper Willys
fest an mich, streichelte seine blühenden Wangen, liebkoste die
strahlenden Augen dieses Knaben, den ich Uber alles liebte. Ich
ahnte noch nicht, dass in diesem ewigen stürmischen Verlangen
bereits die schwellenden Keime einer „naturwidrigen Perversität"
emporsprossten. Dass diese meine Zuneigung zu dem Wesen meines
eigenen Geschlechts bereits alle Merkmale einer verbrecherischen
Leidenschaft aufwies, die der Paragraph so und so mit Gefängnis,
Zuchthaus und Ehrlosigkeit bedroht, was wusste der Knabe von
alledem? Mit kindlicher Sorglosigkeit gab ich mich dieser Liebe
hin, ging ganz in ihrem Gegenstand auf und konnte Uberhaupt
garnicht anders, weil es eben meinem natürlichen Wesen entsprach.
Ein hohes Glück fand ich in dem stolzen Bewusstsein, von Willy,
dem schönsten, dem unbändigsten unter den ganzen Kameraden,
geliebt zu werden. Er hatte es mir ja selbst gestanden, weil ich
„so gut und so tapfer" war. Ach, mit meiner Tapferkeit war es
sonst nicht weit her. Aber eben, für ,,lhn", meinen Geliebten,
wäre ich noch aller möglichen Thorheiten fähig gewesen. Kastlos
nährte und pflegte ich meine Liebe. Über die nun folgende trübe
und doch so glückliche Zeit meiner Jugend will ich schweigend
hinweggehen. Sie flog schnell genug hin und aus den Knaben
wurden Jünglinge. Willy und ich, wir waren und blieben die
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zwei Unzertrennlichen. Beide mussten wir ein Handwerk lernen
and nachdem wir die Lehrzeit absolviert, blieben nnsre Verhält-
nisse und unser beiderseitiger Wohnort vorerst noch so, dass wir
immer zusammen sein konnten. Willy hatte sich schnell zu einem
wohlgewachsenen, blendendschönen jungen Mann herausgewachsen.
Ich waV mit meinen 17'/2 Jahren immer noch eine recht knaben-
hafte, unreife Erscheinung, wenigstens musste es nach dem Urteil
meiner Umgebung wohl so sein. Zart und schwächlich gebaut,
mit blassem Gesicht, sprach ich noch hell und sang einen tadellosen
Sopran. Wir waren uns noch immer in treuer Freundschaft zuge-
tan. Ich mit immer wachsender leidenschaftlicher Glut, Willy mit
immer gleichmässiger ruhiger Treue imd Anhänglichkeit.
Mir genügte natürlich diese ruhige, platonische Liebe durch-
aus nicht. Ich verlangte gleiche, heisse Leidenschaftlichkeit. Aber
bald sollte ich inne werden, dass er mir das, was ich von ihm
verlangte, eben nicht gewähren konnte. Gutmütig lächelnd, dul-
dete er wohl meistens meine heftigen Liebkosungen, wehrte auch
mitunter sanft ab mit der Bemerkung, er sei ja doch wohl kein
Mädchen. Dann ward ich böse, nannte ihn einen kalten Frosch,
eine Fischnatur und schmollte. Er nahm meine Ausfalle gelassen
hin und tat im übrigen nichts, meine Ansicht zu entkräften. Wenn
ich ihn dann aber einmal Tage nicht gesehen, hielt ich es nicht
mehr aus, ging wieder zu ihm und alles war gut. Ich liebte ihn
zu sehr und seine Abwesenheit aus meiner Lebenssphäre war fiir
mich ein un tassbarer Begriff.*
In dieser Zeit begann ich natürlich auch, poetische Erzeug-
nisse von mir zu geben. Unendlich lange Verse entrangen sich
meiner Feder. Sie alle waren an „ihn" gerichtet. Er hat die
ersten nie zu Gesicht bekommen. Später wurde ich hartnäckiger
und dichtete ein riesiges Epos, das ebenfalls auf „ihn" Bezug hatte.
Dieses liess ich Willy „zufällig finden". Er las es im Schweisse
seines Angesichts und staunte mich an ob meines „Genies", wollte
aber, zu meinem heimlichen Verdruss, durchaus nicht merken, dass
dieses alles nur ihn selbst zum Gegenstande hatte. Unsere sonn-
täglichen Vergnügungen waren auch durchaus von denen der
meisten unsrer Kameraden, die ja alle, wie wir, dem Handwerker-
stande augehörten, verschieden. Während diese sich in Rudeln
Sonntags in den Strassen herumtrieben oder in Kneipen „Schafs-
kopp" oder Billard spielten, verachteten wir beide natürlich solche
„barbarischen" Genüsse. Wir gingen gewöhnlich ins Theater oder
in Konzerte und nahmen nachher das Dargebotene häufig gar
superklug unter die kritische Lupe.
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Allein bald sollte unser schönes Verhältnis einen jähen Riss
bekommen. Wir gingen nun bereits dem 19. Jahre entgegen und mir
fing es an, aufzufallen, dass Willy nicht mehr seine freie Zeit ganz und
gar mit mir teilte. Es kam erst einige Male, dann sehr oft vor, dass
er, wenn ich Sonntags zu ihm kam, um ihn abzuholen, schon fort war
oder sich bei mir entschuldigte. Er liess mich ruhig Öfter allein aus-
gehen und kam auch immer seltener zu mir. Die Liebe ist wachsam und
bald erkannte ich, dass er mir auswich, die Gesellschaft einer an-
deren Person mir vorzog. Sachte schlich sich ein unbehagliches
Gefühl bei mir ein, das immer stärker und stärker wurde. Es tat
meinem Herzen immer weher und weher und frass mit züngelnden
Flammen an meiner Seele. Ich war eifersüchtig, rasend eifersüchtig
geworden. Er kam immer seltener, und wenn er kam, war er
nicht mehr bei mir, sondern schien immer etwas anderes vorzuhaben.
Und wenn ich ihn dann in alter Liebe zärtlich begrüssen wollte,
wehrte er ab mit den Worten: „Ach lass doch, wir sind doch
keine Kinder mehr!" Eisig kalt schoss es mir dann durchs Herz,
ich fühlte, ich war im Begriff, ihn zu verlieren. Still und in mich
gekehrt sass ich dann neben ihm und hörte nur halb auf seine
Erzählungen. Bald kam er dann aber auch auf die Weiber zu
sprechen und dann wurde er immer sehr aufgeräumt und begann
begeistert ihr Lob zu singen. Wütend biss ich mir die Lippen
blutig und machte boshafte Anspielungen. Freimütig gab er dann
zu, sich da und dort mit andern Freunden in „Damengesellschaft
köstlich amüsiert" zu haben und beschrieb mir umständüch die
„feinen Mädels". Und wenn ich höhnisch bemerkte, dass er mich
mit so was garnicht interessieren könne und mich verschonen
möge, dann lachte er mich aus, nannte mich ein „Bählümmchen",
das in Damengesellscbaft nicht „Zip" sagen könne und meinte, ich
würde wohl einmal bei Muttern hinterm Ofen versauern. Dann
wurde ich furchtbar aufgebracht und schalt ihn einen Schürzen-
jäger und Pantoffelhelden. Er antwortete prompt, ich sei wohl
neidittch und bot mir an, mit ihm zu gehen, er wollte michs auch
lehreu, wie man die Mädels „rumkriegen" könnte. Giftig spuckte
ich dann aus und vermass mich bei allen Heiligen, „so was" könne
mir nicht einfallen. Zankend schieden wir dann jedesmal von
einander, ohne den üblichen Händedruck. Einsam blieb ich zurück.
Das also war es. Die Weiber hatten ihn mir entrissen. Ihnen
folgten meine schwärzesten Flüche, meine ärgsten Verwünschungen,
die ich schliesslich in Tränen ohnmächtiger Wut erstickte. Mit der
ungemeinen Lebhaftigkeit meines ganzen Naturells nahm ich diesen
ersten wirklich grossen Liebesschmerz auf. Traurig ging ich umher.
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Wie grauer Nebel senkte siehs herab auf die Träume meiner Liebe,
auf alle jugendfrohen Pläne und Hoffnungen. Ach, und wir hatten
so schöne Pläne mit einander geschmiedet! Wollten bald in die
Fremde gehen, wollten auf der Wanderschaft Welt und Menschen
kennen lernen! Natürlich gemeinschaftlich! Hatten wirs uns nicht
damals gelobt, dass wir uns nie, nie trennen wollten? 0, ich hatte
es noch nicht vergessen! Und da wir uns die gemeinschaftliche
Reise schon in allen Details ausgemalt, trug ich nun seit
längerer Zeit eine geheime Hoffnung mit mir herum, eine Hoffnung
auf Erfüllung des höchsten Wunsches meiner Liebe, den ich bisher
nie gewagt vor Willy auch nur anzudeuten, ja ich hatte in meinen
stillen Gedanken kaum den Mut, mir selbst diesen Wunsch einzu-
gestehen. Und doch verfolgte mich dieser Gedanke seit Langem,
wenn ich still und einsam meinen Gedanken nachhing, in langen,
schlaflosen Nächten, im Beisammensein mit Willy, Uberall hin verfolgte
mich dieser Wunsch, ich wurde ihn nicht los, wollte ihn auch gar-
nicht los werden. Alles hatte ich mir bereits ausgemalt: Per pedes
die Welt durcheilen, Städte und Dörfer, ja vielleicht fremde Länder
sehen und immer beieinander sein können ! Mussten wir nicht auf
unsern Reisen in Herbergen übernachten :' So würden wir dann
gewiss auch Nachts im Schlummer bei einander weilen können
auf gemeinschaftlicher Lagerstätte, an seiner Brust ruhend, könnte
ich selig dem neuen Tag entgegenschlummern. — Wie fest und
innig wollte ich mich an ihn schmiegen, wollte den Geliebten an
mein brennendes Herz pressen! In unmittelbarer zärtlicher Be-
rührung mit dem biUten weissen Körper meines Freundes würde ich
der höchsten Seligkeit einer mächtigen Liebe teilhaftig werden,
das süsseste Glück meines Daseins gemessen können, das ich bis
jetzt vergebens erhofft hatte! — War dieses Begehren etwa ans
den Abgründen verbrecherischer Phantasien eines Ubersättigten
Lüstlings geboren? — Ach nein, ich war als 18 jähriger Jüngling
in der Blüte meiner Jugendkraft, weder geschlechtlich übersättigt,
noch war meine Begierde auf irgend eine bewusste oder bestimmte
geschlechtliche Handlung gerichtet. War ich doch damals noch
ein in geschlechtlichen Dingen vollständig unerfahrener, unwissender
Bursche. Gewiss hatte ich wohl, wie das bei allen jungen Leuten
der Fall, viel abenteuerliches Zeug von Geschlechtsakten zwischen
Mann und Weib gehört, und heute noch lächelt man über alle die
unmöglichen und ungeheuerlichen Vorstellungen, die wir uns als
junge Burschen auch von den Geburtsvorgängen machten.
Ich hatte eine Art mystische Scheu vor allen diesen Dingen
und heillose Furcht vor den Folgen geschlechtlicher „Yerirrungen".
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Inzwischen war jedoch der Knabe zu einem vollkommenen Ge-
schlechtswesen herangereift, in dem sich bereits der mächtige Drang
nach Ergänzung regte. Was Wunder, wenn sich dieser Drang mit
Gewalt auf jene Wesen richtete, die von Jugend auf mein ganzes
Sein beherrscht hatten. Die gewaltige Liebe des Geschlechts
konzentrierte sich ganz von selbst und ohne sieh klar bewußt zu
sein auf das eigene Geschlecht.
Damit war aber, weil der unerbittliche Sittenkodex dieser Zeit
darin die Momente einer verbrecherischen Handlung erblickt, der
Fluch der Gesellschaft auf das Haupt des Liebenden gefallen, dem
nur noch recht und billig geschah, wenn er au» der Gemeinschaft
aller anständigen Menschen verbannt wurde. Jener Fluch sollte
auch mir später im reichsten Maße zu Teil werden. Zu jener Zeit
aber, da sich in mir die ersten Blüten des Geschlechtsbewusstseins
eben erschlossen hatten, ahnte ich von alldem noch nichts. Niemand
hatte mir noch bis dahin jemals etwas davon gesagt. Wie konnte
ich selbst etwa dies edle Feuer in meiner Brust verdammen, da es
doch ein Element von meinem ureigenen Selbst war und zwar ein
gar gewaltiges ? — 0 nein, ich konnte nicht« Unmoralisches darin
finden, dachte gar nicht daran, daß wohl irgend Jemand kommen
könnte und sagen : „Deine Gefühle sind verbrecherisch" ! Ich hätte
ihn schön abfahren lassen. Denn heilig war mir meine Liebe zu
Willy, sie, die mich Bchon als Knabe für alles Edle begeistert hatte.
Heilig war mir auch die Person meines Freundes. Ich hatte ja zu
dieser Zeit nicht die geringste Ahnung von irgend einem bestimmten
Geschlechtsakt, irgend einer Form sexueller Befriedigung zwischen
Männern. Konnte mir gar keinen Begriff davon machen und dachte
auch niemals an etwas dergleichen, da ich bis dahin von solchen
Dingen noch nichts gehört. Und doch ist die Tatsache nicht zu
leugnen, sie war vorhanden, es zog mich mit unwiderstehlicher
Gewalt nach der körperlichen Bertthrung mit meinem Freund. Was
war es denn nun, das mich immer und immer wieder mit magischer
Gewalt hinzog, mich ewig drängte und trieb, seine Nähe zu suchen?
Ach, ich machte mir keine langen Gedanken erst über die etwaige
Unnatur meiner Empfindungen. Unbewußt gab ich mich ihrem
Zauber hin. Ja es war ein Reiz ohne Ende, der von der Person
diese» wunderschönen Jünglings ausstrahlte. Alles liebte ich an
diesem Körper, dies schöne blonde Haupt mit der blendend weißen
Stirn, die herrlichen Augen, die mir so oft treuherzig entgegen
gestrahlt, die frischen Wangen, die roten Lippen so schön ge-
schwungen, auf die ich schon als Knabe so oft im schüchternen
Kuß die meinen gedrückt, die kräftigen Hände und die hohe breite
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Brust, an der ich so oft geruht, und alles was diese teure Brust
umschloß, dieses stolze und doch so gute Herz, das sinnige Gemüt,
olle», alles Hebte ich an diesem teuren Wesen und ging völlig in
ihm auf. Aber auch das Verlangen nach innerer Gemeinschaft
brannte in meiner Seele. Die Gleichheit des geistigen Daseins, das
lneinandertauchen beider Herzen war es, was ich erstrebte. — Ich
kehre zum Faden meiner Erzählung zurück. Willy konnte mir nicht
das gewähren, was ich glaubte von ihm verlangen zu dürfen. Ganze
Hingabe, so wie meine Liebe zu ihm mein ganzes Wesen beherrschte,
so sollte es auch bei ihm sein. Die Natur meiner Empfindun-
gen duldete nicht, daß ich seine Zuneigung mit andern teilen
sollte. Unser gegenseitiges Verhältnis wurde deshalb in der Folge
merklich kühler. Willy suchte immer mehr der Richtung seiner
Entwicklung nachgehend, Verkehr mit dem weiblichen Geschlechte.
Ja er wurde sehr bald ein von den Damen viel umworbener Don
Juan, der eben dank der äußeren Vorzüge, die ihm Mutter Natur
verliehen, diese Holle mit sehr viel Geschick Uberall durchzuführen
verstand. Trauernd stand ich abseits und verfolgte trotzdem mit
Beharrlichkeit sein Tun und Treiben. Ich war nur noch das fünfte
Rad, das „liebe alte Haus", das er noch für würdig genug hielt,
ihm alle seine neuen Interessen und zarten Geheininisse anzuver-
trauen. All' die kleinen pikanten Sächelchen, die ein rechter Don
Juan vor don Augen der Welt verbirgt, ich wußte sie, mir vertraute
er sie an, ohne daß ich danach frug. Und wenn er mir dann all*
diese kleinen Intimitäten unbefangen mitteilte, zerriß unsagbarer
Schmerz mein Innerstes und blutenden Herzens gestand ich es mir
in der Stille meiner Einsamkeit, daß ich ihn verloren hatte, ihn,
den ich vergötterte, der mein Alles war auf dieser Welt, dem ich
alles, was mir heiüg, geweiht hatte! Ich kannte meinen Willy bald
nicht mehr wieder. Aus dem sinnigen, treuherzigen Jungen war
bald ein pomadisierter Weiberfex geworden, der aus dem Füllhorn
seiner Wohlgestalt Kapital schlug. Aber ich konnte und konnte
noch immer nicht von ihm lassen, obgleich sich alle meine Empfin-
dungen gegen sein nunmehriges Wesen aufbäumten. Ein weiteres
Jahr war dahin und aus unserer phantasieumwobenen Wander-
schaft war natürlich nichts geworden. Willy hatte dazu die Lust
verloren, ihm schien es so am Besten zu gefallen und mir war durch
den Tod meines Vaters eine neue Pflicht erwachsen. Ich mußte in
Gemeinschaft mit meinem ältesten Bruder für die Mutter und zwei
noch unerwachsene Brüder sorgen. Obwohl das Verhältnis zwischen
Willy und mir immer mehr verflachte, kamen wir doch noch
sehr häufig zusammen. Ich konnte eben dieses Wesen, das ich
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mehr wie mich selbst geliebt, nicht so ohne weiteres aus meinem
Herzen reißen. Leider sollte auch dieser Zustand nicht lange dauern,
und Willy selbst war es auch hier wieder, der, wohl unbewußt
meinem Herzen den letzten brutalen Stoß gab. Eines Tages kam
Willy zu mir, nahm mich auf die Seite und vertraute mir ein
neues Geheimnis an. Diesmal war es ernster Natur. Er hatte sich
im sorg- und schrankenlosen Geschlechtsverkehr infiziert, hatte die
Sache vertrödelt und frug mich nun, da die Geschichte schlimm zu
werden drohte, um meine Meinung. Er behauptete, daß er sich bei
einer Prostituierten den Schanker geholt und war nun in großer
Angst, wie er „das Ding" los werden möchte. Zum Arzt zu gehen,
wozu ich ihm riet, hatte er keine rechte Lust. Es sei ihm „zu
schenant" und koste auch gleich zu viel, meinte er. Es war das
erste Mal in meinem Leben, daß ich eine Geschlechtskrankheit mit
all' ihren widerlichen Begleiterscheinungen kennen lernte. Begreif-
licher Abscheu erfüllte mich und da er die unbedingte Notwendig-
keit einer ärztlichen Behandlung nicht gleich einsehen wollta, so
konnte ich ihm natürlich sonst weiter keinen Rat geben und begriff
überhaupt nicht, wie er sich in diesem Fall an mich wenden konnte,
da er doch in solchen Dingen zum mindesten mehr Erfahrungen
hatte als ich. Ich hielt es viel mehr für angebracht, ihm allerlei
Vorhaltungen zu machen. Er verteidigte sich so gut er konnte
und da er trotzdem bei mir kein Verständnis fand, nannte er mich
einen närrischen Kauz und gab mir schließlich den wohlgemeinten
Rat, mich nicht so von allem zurückzuhalten, sondern mitzutun.
„Das Leben ist so schön", rief er aus, „und man soll es genießen,
so lange man jung ist, dazu hat man ein Recht". Dann bedauerte
er mich mit meinen „ewigen Ansichten", wurde sehr heiter und bot
sich an, mich in lustige Gesellschaft einzuführen , da sollte ich das
Leben erst kennen lernen, fühlen, was überhaupt leben heiBst. Und
hätte ich erst das „himmlische Manna" der Liebe geschmeckt, dann
würde ich schon ein Anderer werden, darauf schwur er einen heiligen
Eid. Er nannte mich schliesslich seinen lieben alten Freund, mit
dem er gern „alles teilen" wolle, schwatzte noch eine ganze Weile
auf mich ein und rückte zuletzt in freundschaftlichem Eifer mit
folgendem Vorschlag heraus. Er wollte mir ja gern, um es mir
leicht zu machen, sein neuestes „Verhältnis", eine dralle Küchen-
jungfer, die in der Nähe bedienstet war, „überlassen". Das Mädel
sei „ganz doli", immer zu haben und nehme es auch nicht so genau.
Er habe schon einige Mal daran „genascht" und da es mit ihm doch
nun gegenwärtig nicht ginge, so wollte er mich mit ihr bekannt
machen. Sprachlos starrte ich meinen ehemals Vielgeliebten an.
Jahrbuch V. 12
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War das mein Willy noch, der einzige geliebte Mensch, dem ich mit
Freuden mein Leben zu Füssen legen wollte? So weit war es also
mit ihm gekommen, so jung, so schön und eine solche Auffassung,
solche Achtung vor den heiligsten Empfindungen der Menschen,
das Gefühl, in dem selbst das Tier geadelt wird? Ein Gefühl end-
loser Leere überkam mich. Eine solche unsäglich geraeine Denk-
und Handlungsweise musste ich bei dem erleben, der bis dahin
in meinem Ideenkreis den vornehmsten Platz eingenommen.
Von nun an war ich bemüht, sein Bild gewaltsam aus meiner
Seele zu reissen. Ich behandelte ihn kalt, ging nie mehr zu ihm
und wenn er, was auch nur noch selten geschah, zu mir kam, stahl
ich mich leise aus dem Hause und überliess ihn meinen Brüdern,
an die er sieh bald enger anschloss. Jn meinem zortretenen Herzen
hat es noch lange getobt und geschrieen, ehe dies schönste Bild
meiner Jugendträume daraus entwich. Später, nachdem wir auch
örtlich von einander getrennt, hörte ich nur noch durch meine Brüder
von ihm. Er hat schliesslich die Tochter eines wohlhabenden
Kaufmanns heimgeführt und ist heute selbst als Inhaber eines
renommierten Geschäftshauses in Leipzig ein wohlhabender Mann, der
sich kaum noch seines einstigen Jugendfreundes erinnert. Wohl
weiss ich, dass er von meinen ferneren Schicksalen durch meine
Familie unterrichtet wurde, ich habe jedoch von ihm kein Lebens-
zeichen mehr erhalten. Er ist eben schnell in den Hafen der
gesellschaftlichen Behaglichkeit eingelaufen. Ihn haben die konven-
tionellen Lügen dieser Kulturgesellschaft weiter nicht behelligt —
Über die nun folgende Periode meines Lebens will ich mich
bemühen weniger ausführlich zu sein. Ich begann alsbald ein
höchst unsolides Leben zu führen. Im Taumel aller möglichen
tollen Vergnügungen suchte ich Zerstreuung, Vergessen. Eine
wilde Flucht vor der gähnenden Leere, die in meinem Inneren zu-
rückgeblieben war, begann nun. Und von dem ungeheuren Wust
der widerstreitendsten Empfindungen, die mich dann wieder plötz-
lich durchtobten, hin- und hergeschlendert, tappte ich suchend, wie
ein Blinder. Die tollste und ausgelassenste Gesellschaft ward mir
bald die liebste. Eine schon ziemlich früh erwachte Vorliebe für
dramatischo Kunst und ein bescheidenes Talent in derselben, führte
mich bald in Gesellschaften ein. In Dilettantenvereinen übte ich
mit grottcr Hingabe meine kleinen Fähigkeiten und so bekam ich
auch leicht Verkehr mit vielen jungen Leuten beiderlei Geschlechts.
Ich wurde ziemlich schnell gewandt in allen Eigenschaften, die dazu
gehören, in der Gesellschaft etwas zu scheinen, was man nicht ist.
Ich wollte ja durchaus das „himmlische Manna" der Liebe schmecken,
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wovon mir Willy so begeistert erzählt hatte. Ich gab mir denn
auch die grösste MUhe, bei den Damen den Schwerenöter zu
spielen. Denn, so dachte ich, was alle Anderen mit so viel Ge-
schick und Erfog betrieben, warum sollte ich es auch nicht können,
schliesslich lag es am Ende bloss an meinem Mangel an Talent, die
Gnnst der Damen zu erwerben. 80 warf ich mich denn gewaltig
in die Brust, um mich endlich zur Mannbarkeit aufzuraffen und den
Hänseleien der Anderen zu entgehen, die mich nur „den zarten
Franz" nannten. Und um auch auf den zahlreichen Kränzchen und
Bällen der Vereine in Gesellschaft der Damen bestehen zu können,
ging ich auch noch in die Tanzstunde und verliebte mich —
in den jungen Kellner des betreffenden Restaurants. Er war ein
bildhübscher Bursche mit pechschwarzem gekräuselten Haar und
ein Paar kohlschwarzen Augen, die wie Diamanten funkelten. Ich
hatte nur noch Blicke für ihn und wenn ich die Tanzerei noch
mitmachte, so geschah es nur, um in seiner Nähe bleiben zu können.
Ich suchte Annäherung und mit überraschend schnellem Erfolg.
Neue Seligkeit zog in mein Herz ein. In kurzer Zeit waren
wir vertraut mit einander. Hier war ich wieder in meinem Element,
hier durfte ich lieben, das fühlte ich sofort. Welch ein Unter-
schied ! Während ich in Gesellschaft junger Damen mich mit meiner
Rolle des Schwerenöters mühsam abquälte, trat hier wieder sofort
das echte Feuer natürlicher Leidenschaft hervor. Hier gab echte
Liebe das von selbst, wonach ich dort mühsam den Plan absuchte,
um einen gequälten Abklatsch des „himmlischen Mannas" zu er-
halten, was ich garnicht himmlisch fand, um mich künstlich und
scheinbar daran zu ergötzen, zu dem Zweck, vor den Augen der
Welt als das zu gelten, was ich nicht war. Als ich die ersten
schüchternen Liebkosungen wagte, fühlte ich, dass sie ihm nicht
unempfindlich waren. Er erwiderte sie und jubelnd ahnte ich in
meinem Liebling eine verwandte Seele. Ich widmete ihm all die
Hingabe, deren nur die echte Liebe fähig ist. All die kleinen
Aufmerksamkeiten, in der die Liebe so selbstlos, so erfinderisch
ist, tauschten wir nun gegenseitig aus. Doch das Auge des Ge-
setzes wacht und der beleidigte Sittenkodex der „Normalen" im
Land schrie nach Sühne. Unvorsichtig und tollkühn ist die Liebe.
Eines Abends spät ereilte uns das Verhängnis, das für mein Leben
so folgenschwer werden sollte. Wir wurden beide vom Wirte in
einem hinteren Zimmer bei frischer Tat ertappt. Die Situation
war über jeden Zweifel erhaben und wir konnten uns auch nicht
mehr retten, da wir ganz unvermutet überrascht wurden. Ein un-
beschreiblicher Skandal folgte. Man brüllte nach dem Arm des
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Gesetzes. Ich wurde festgehalten und musste noch mit ansehen,
wie der Wirt meinen Liebling brutal misshandelte. Wahnsinniger
Schmerz durchtobte mein Innerstes und zitternd bat ich um Scho-
nung fUr den Armen. Willig folgte ich dann dem Diener der
heiligen Gerechtigkeit. Ich befand mich in einer Art Traumzustand,
sah und hörte kaum, was um mich herum geschah. Wie in
nebelhafter Ferne erschien mir alles. Und immer weiter und weiter
rückten Welt und Menschen von mir ab, so daas ich sie nicht mehr
erkennen konnte. Zwei Monate sass ich in Untersuchung, ich be-
griff nicht, weshalb, da ich alles eingestanden hatte. Was ich in
dieser Zeit einsamer Zellenhaft ausgestanden, genügte, um mich
vollständig niederzuschmettern. Mit all ihrer Schärfe hielt die be-
leidigte Moral ihr Strafgericht über mich. Nichts blieb mir an De-
mütigungen erspart. Schon auf dem Polizeipräsidium schallte mir
die Stimme des diensttuenden Beamten entgegen: „Ein Päderast!
Ein Päderast! In Einzelhaft mit dem!" Ich hatte keine Ahnung
von der Bedeutung dieses Wortes. Aber die Art, wie mir dies
offenbar inhaltsschwere Wort entgegengeschleudert wurde, Hess
mich ahnen, welch ein verabscheuungswürdiger Verbrecher ich sein
musste. In ohnmächtiger Verzweiflung wand ich mich auf dem
Boden meiner einsamen Zelle. War ich denn wirklich eine so
schändliche Kreatur ? Wen hatte ich denn beleidigt, wem etwas ge-
nommen, wem hatte ich ein Leid zugefügt? In meiner hilflosen
Verwirrung vermochte ich keinen klaren Gedanken zu fassen.
Verbrecher, Verbrecher, Päderast ! höhnte es mir nur immer in die
Ohren. „Bedenke doch, was du nun geworden bist!" so hiess es
in dem Briefe, den mein ältester Bruder unter dem Eindruck der
Nachricht meiner Verhaftung an mich geschrieben und in dem er
sich im Namen der ganzen Familie von mir lossagte. In meiner
grenzenlosen Verzweiflung Uber alles dieses reckte ich schliesslich
die Arme gen Himmel und erflehte von Gott irgend eine Gewiss-
heit, wio weit die Grösse meines Verbrechens reichte. Aber der
Himmel rührte sich nicht und ich fand nicht einmal Trost in der
tränenvollen Busse und Reue, der ich mich in kraftloser Zerknirschung
nun hingab, ich wusste ja nicht, was ich eigentlich büssen sollte,
bei wem ich um Verzeihung für zugefügte Schmach betteln sollte.
Die Stunde meiner Aburteilung schlug und hier sah ich meinen
Liebling wieder. Bei seinem Anblick brach ich in Tränen aus.
War er es am Ende, dem ich Beleidigung und Schande zugefügt?
Aber, o Wunder, als wir beide vor der Ballustrade neben-
einander Htauden, um unseren Richtern Rede und Antwort zu
stehen, fühlte ich plötzlich seine Hand in der meinen, die er einen
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Moment zärtlich und verstohlen drückte. Da zog es einen Augen-
blick wie stiller Friede durch meine Seele und ruhig und gefasst
antwortete ich auf die Fragen des Präsidenten. Freilich, nur einen
Augenblick bewahrte ich meine Fassung, dann war es wieder vor-
bei, als der Herr Staatsanwalt für mich, als den Verführer, nach
§ 175 des St.-G.-B. eine empfindliche Strafe verlangte. Ich bat
und flehte und erklärte unter Schluchzen, dass ich meinem Freund
niemals etwas habe „zu Leide tun" wollen. Und die Herren Richter
lächelten über meine naiven, fortwährenden Beteuerungen. Ich
wurde schliesslich unter Annahme von mildernden Umständen zu
6 Monaten Gefängnis verurteilt. Adolf kam, weil er nur der dul-
dende Teil und der von mir „Verführte" war, mit 7 Tagen davon.
Ausserdem wurde auch wohl auf seine Jugend Rücksicht genommen,
er war noch nicht ganz 16 Jahre alt Ich hatte mich um das Alter
meines Freundes nie bekümmert, hielt ihn aber für bedeutend älter.
Er machte in jeder Beziehung den Eindruck eines mindestens
18 jährigen, war ebenso gross wie ich und körperlich viel mehr ent-
wickelt. Die Täuschung Uber sein Alter mochte um so leichter
sein, als er auch die Entwicklung zur Pubertät bereits hinter sich
hatte. Ich konnte deshalb auch mit gutem Gewissen dem Herrn
Präsidenten auf seine Frage antworten, dass ich mich im Alter
meines Freundes getäuscht hätte. Das hatte mir denn aber weiter
nichts genutzt, am Urteil änderte das ja nichts. Ich wurde wieder
abgeführt und hatte gerade noch so viel Zeit, einen letzten Scheide-
gruss von ihm aufzufangen, einen stillen Blick liebevoller Teil-
nahme für mich. Diesen stummen Blick habe ich ah einzigen Trost
mit in mein Gefängnis genommen. Ihn, das wusste ich nun, hatte
ich nicht beleidigt, er grollte mir nicht. Ich habe ihn nie wieder-
gesehen, diesen herzigen, schwarzäugigen Jungen, meine späteren
Nachforschungen nach ihm blieben resultatlos. Ich bin überzeugt,
er hat nur gut von mir gedacht. — Der Mensch fügt sich in alle»,
auch in das anfänglich Unl'assbare. Ich ertrug meine G monatliche
Einzelhaft verhältnismässig gut und wurde zuletzt von dem Auf-
seher des „Flügels A der ein halben Jahr mein Domizil war, mit
einigen wohlwollenden Worten entlassen und mit dem guten Rat,
mich fUrderhin „in Obacht zu nehmen," damit ich nicht zu bald wieder
käme. Gerührt drückte ich dem alten Manne die Hand und trat in
die goldne Freiheit mit dem festen Vorsatz, nun ein „Anderer,"
„Besserer41 zu werden. Hatte ich nicht in der langen Zeit der Sühne
bewiesen, wie man sich beherrschen kann? Hatte ich nicht die
6 Monate vollständig keusch zugebracht V — Ich kannnte die
Onanie sehr wohl, doch nicht ein einziges Mal war ich ihr in de;
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ganzen Zeit zum Opfer gefallen. Ja, ich wollte und musste wieder
ein guter Mensch werden. Hätte ich nur damals schon klar genug
die unabweisbare Bestimmung meiner Geschlechtsnatur begriffen,
ich hätte wohl in jenen oft durchwachten Nächten im Gefäng-
nisse die Kraft gefunden, ein Ende zu machen mit einem Dasein
so dunkel und reuevoll bis auf den heutigen Tag.
In wie weit ich später ein besserer, anderer Mensch geworden,
mag der Leser aus dem weiteren Fortgang meines Lebens entnehmen.
Meine Familie nahm mich in Gnaden wieder auf, man verzieh
mir, wie man sagte, um meinetwillen. Ja, mein ältester Bruder
hielt es von da ab für eine Art väterlicher Pflicht, mich wieder
auf den rechten Pfad der Sitte und Tugend sorgsam zurückzu-
führen. Er fing an, mich auf Schritt uud Tritt zu bewachen. Er
hatte das Glück, eine vermögende Frau zu bekommen und nun
ging seine brüderliche Fürsorge so weit, im Einverständnis mit den
Verwandten seiner Frau mir einen kleinen Geschäftsbetrieb einzu-
richten, der in mein Fach schlug. Ich nahm alles dankbar an,
geschah doch alles zu meinem Besten. Die Sache klappte auch
im Anfaug ganz gut. Ich fühlte mich bald wieder und gefiel mir
in meiner Eigenschaft als selbständiger Geschäftsmann, war fieissig
und suchte mein Geschäft hochzubringen. Doch ich hatte meine
Rechnung ohne mich selbst gemacht Abgesehen davon, das» es
ja an und tür sich schon ein Missgriff war, einem jungen Men&ohen
von kaum 21 Jahren Führung und Verantwortung über ein Ge-
schäft anzuvertrauen, mit deren fachgemässer Leitung eine ge-
reiftere Manneskraft vollauf zu tun gehabt hätte, so war ich doch,
meiner ganzen natürlichen Veranlagung nach, viel zu sehr Ge-
fühlsmensch, als dass ich auf die Dauer einen brauchbaren Ge-
schäftsmann abgegeben hätte. Wohl hatte ich so etwas wie eine
dunkle Ahnung davon, dass auf mich noch kein Verlass war.
Wohl meinte ich im Stillen dies und das, aber sollte ich meinem
Bruder meine eigene Unfähigkeit und Schwäche eingestehen, sollte
ich ihm offen sagen, dass mir diese seine Wohltat im Grunde
eigentlich Plage sei? Welche Antwort hätte ich bekommen V Sie
konnte nicht zweifelhaft sein. Und hatte ich überhaupt eine Meinung
zu haben V Als ein in Gnaden wieder aufgenommener Missetäter
musste ich dankbar und froh sein, dass mir mein liebevoller Bruder
Gelegenheit verschafft hatte, mich wieder „ins Geleise4' hinein zu
bringen. Er meinte es zweifellos gut mit mir, also hatte ich, das
fühlte ich wohl, die Pflicht, mich zu fügen. Ich musste stillhalten
und mich bescheiden, denn sie alle waren „besser' als ich. Mein
Bruder Hess es sich angelegen sein, über mein Schicksal zu wachen.
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Er achtete beständig und sorgtältig darauf, dass ich meine ge-
schäftlichen Pflichten nicht versäumte und ich gab mir die grösste
Mühe, ihm keinen Anlass zur Unzufriedenheit zu geben. Aber
weiter hinaus ging auch sein Einfluss nicht, weiter reichte die
Kraft meiner Autorität nicht. Er war wohl in der Lage, mich auf-
merksam zu bewachen, aber einsperren konnte er mich füglich
nicht und mir, dem 21jährigen, das fühlende Herz aus dem Busen
zu reissen, das vermochte er freilich auch nicht. Und so kam es
denn, wie es wohl kommen rausste.
Ich hatte natürlich nicht die Kraft, lange mit mir allein her-
umzulaufen, mein Herz verlangte nach einem Wesen, das ich lieben
könnte. Bald fand ich es in der Person des jungen Angestellten
eines benachbarten Geschäftes. Es dauerte auch gar nicht lange,
so hatten wir Freundschaft geschlossen. Die fürsorglichen Schwieger-
eltern meines Bruders, in Gemeinschaft mit meiner guten Mutter,
hatten zwar bereits für eine „passende" Partie gesorgt und ich hatte
mir*« auch zur Pflicht gemacht, dieser jungen Dame recht fleissig
den Hof zu machen. Das Mädchen war sonst nicht Übel, hatte etwas
Vermögen, mit diesem sollte sie „ins Geschäft hineinheiraten", so hatten
es meine Verwandten beschlossen. So schnell, wie ich hior eine Braut
angewiesen bekam, wäre ich niemals imstande gewesen, mir selbst eine
zu erobern das fühlte ich, darum war ich auch eifrig dabei, ich hatte es
mir ja selbst gelobt, den „dunklen Fleck" aus meiner Vergangenheit
möglichst zu tilgen. Ich war sehr aufmerksam gegen meine Braut,
sagte ihr viel Artigkeiten und machte ihr Geschenke. Das hinderte
mich aber durchaus nicht, mich mit meinem neuen Freund viel mehr
abzugeben als mit meiner Braut. Er war ein ausgezeichneter junger
Mann mit guten Manieren und einem natürlichen Wesen. Im trauten
Beisammensein mit ihm entschädigte ich mich für alle Beklemmungen
und Unbehaglichkeiten, die ich stets in Gesellschaft meiner „Ange-
beteten" empfand. Ich will kurz sein. Die Sache gedieh so weit,
dass uns eines Tages ein argwöhnisch gewordener Nachbar, in
meinem eigenen Geschäftslokal, durch den Türspalt beobachtet hatte.
Der Manu schlug Lärm und benachrichtigte sofort meine Familie.
In kopfloser Bestürzung floh ich, so wie ich ging und stand, zum
nächsten Bahnhof und fuhr zu Verwandten meines Vaters nach M.
Diese telegraphierten an meinen Bruder und verlangten Aufklärung,
da ich jede Auskunft verweigerte. Bald erschien mein Bruder, setzte
meine Verwandten von allem in Kenntnis, sagte sich abermals und
diesmal für immer von mir los, indem er mich einen Ehrlosen und
Undankbaren nannte, der nicht wert sei der Achtung anständiger
Mensehen. Meine Verwandten taten ein Übriges, man überliess mir
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ans Menschlichkeitsrücksichten eine kleine Summe Geldes und so
musste ich augenblicklich das Haus verlassen.
Planlos irrte ich eine Zeit lang in der fremden Stadt umher.
Die Angst vor Verfolgung trieb mich wieder zum Bahnhof und so
floh ich mit dem nächsten Zug über die holländische Grenze, kam
bis Amsterdam und irrte, der Sprache des Landes nicht mächtig,
hilflos umher. Von jeder Verbindung mit der Welt losgerissen stand
ich nun da und fing an zu Uberlegen. Die Liebe zum Leben trieb
mich weiter. Ich fing nun an, zu Fuss durch endlose Schnee be-
deckte Felder und Wiesen, Uber zugefrorene Kanäle, von Ort zu
Ort zu wandern, mir durch stummes Betteln weiter helfend. In
Gr , einer mittelgrossen, holländischen Stadt geriet ich, halb
verhungert, von Allem entblösst, todesmüde in einen Gasthof, wo
viele Deutsche verkehrten, hier vernahm ich die süssen Laute meiner
Muttersprache wieder. Es schien ein Labsal von zweifelhafter
Qualität zu sein, denn es stellte sich heraus, dass die Inhaberin und
die weibliche Bedienung meist spät nachts allerlei Gäste empfingen,
mit denen bis zum hellen Morgen wüste Orgien gefeiert wurden,
wobei die Wirtin mit ihren Helferinnen anscheinend gute Geschälte
machte. Ich hatte Gnade vor den Augen der fetten Inhaberin
dieser Höhle gefunden. Sie schien Mitleid mit meiner Lage zu
haben und da sie auch etwas deutsch sprach und ich ihr einen
ganzen Roman von der Ursache meiner Anwesenheit vorgelogen
hatte, so konnte ich vor der Hand dableiben als Hausbursche, Gläser-
spüler u. s. w. Mir war alles egal, nur weiter leben, mochte
kommen was wollte. Das Leben, wie es sich nun hier in der Folge
vor meinen Augen abspielte, lieferte mir einen ungefähren Begriff,
in welch' unsägüch niedriger Weise sich oft das normale Geschlechts-
leben der Menschen abspielt. Beispielloser Ekel erfaaste mich hier
vor der Art, mit der hier die Menschen sich der „normalen" Liebe
hingaben. Ich war der einzige männliche Bedienstete im Hause,
und hatte bald heraus, dass meine würdige Herrin mehr von mir
verlangte als blosse Dienste für das Haus und die Gäste. Ein
fürchterlicher Schrecken packte mich bei dieser Erkenntnis. Mir
schauderte vor dem Gedanken, längere Zeit hier unter diesen Men-
schen weilen zu müssen. Aber ich hatte gar keine Ursache, mich
zu beklagen, war ich doch selbst ein aus der Gesellschaft aller
anständigen Menschen Ausgeschlossener. Wohin sollte ich auch in
dieser fremden Welt, in der ich vollständig einsam stand. Ohne
irgend welche Mittel konnte ich doch überhaupt nicht weiter kommen.
Und als Landstreicher würde ich sehr bald in die Hände der Polizei
geraten. Dann aber wnr es doch sicher um mich geschehen, denn
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wenn jener menschenfreundliche Nachbar die Sache angezeigt, so
war sicher ein Steckbrief hinter mir; welche Aussichten eröffneten
sich da für mein Leben! — Und zum Sterben war ich zu feige.
Sterben, wenn man noch so jung ist. War nicht die Welt trotz
alledem schön V Ich fügte mich deshalb, so gut es ging in meine
Lage, wich den zudringlichen Freundlichkeiten meiner Herrin ge-
schickt aus und war nur still und zähe darauf bedacht, etwas Mittel
in die Hand zu bekommen um möglichst bald fort zu kommen aus
dieser Höhle, in deren Pesthauch ich zu ersticken fürchtete. Nach
14 wöchentlichem Aufenthalt war ich denn auch wieder unterwegs.
Ich hatte mir in dieser traurigen Zeit unter allerlei Entbehrungen
von meinem geringen Lohn, eine kleine Summe erübrigt mit der
ich hoffte irgend eine Küstenstadt zu erreichen. Dort wollte ich
mich als Kohlenzieher oder sonst als dienstbarer Geist auf irgend
einem Schiff ohne weitere Barmittel nach Amerika hinüberarbeiten.
Ich hatte diesen Plan in meinen einsamen, oft schlaflosen Nächten
sorgsam durchdacht. Ich hatte in Erfahrung gebracht, dass in
Küstenstädten sogenannte „Heuerbaasse" ihr Wesen treiben, die ein
schwunghaftes Geschäft daraus machten, Auswanderungslustigen
mit Rat und Tat an die Hand zu gehen in der Erlangung günstiger
Überfahrtgelegenheit. Auch solche Leute, die in ähnlicher Lage,
wie ich, sich befanden, „verheuerten" diese Leute auf irgend ein
Schiff, damit sie so ohne grosse Baarmittel das „gelobte Land,u
nach der Versicherung dieser Heuerbaasse, sicher erreichten. Dort
in dem freien Lande, in der neuen Welt, wollte ich dann abermals
ein neues Leben, ein „besseres" beginnen. Von Neuem hatte ich
mir selber hoch und teuer zugeschworen, nunmehr meiner unseligen
Leidenschaft zu entsagen. Zähneknirschend verfluchte ich meine
erbärmliche Schwäche, die mich hatte zum Sklaven einer Neigung
werden lassen, die alle Welt als verbrecherisch bezeichnete. Ich
glaubte ihnen, wenn sie sagten, es sei ein Verbrechen, sich mit
„so was" zeitlebens unglücklich zu machen. Hatte ich nicht den
Frühling meines Lebens damit zerstört V — Sprach doch Jeder-
mann mit Verachtung und Hohn von diesem abscheulichen Laster
für das manche die Prügelstrafe empfahlen. Wie ungeheuer schlecht
und erbärmlich kam ich mir vor. Nun aber sollte, nun musste das
alles anders werden, wenn ich erst „drüben" sein würde. Dort, wo
mich Niemand kannte, wollte ich versuchen auf andere Art vielleicht
wieder glücklich zu werden wie tausend Andere. Mit gutem Ge-
wissen darf ich sagen, ja ich habe es redlich versucht ein „Anderer"
zu werden. Ich bin es nicht geworden. Bin bis heute der Alte
geblieben. Gefängnis, Flüche, Tränen, Gebete, Schwüre, Hunger
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und Entbehrungen, ja selbst die letzte, tiefste Erniedrigung, die
einem Mensehen widerfahren kann, körperliche Misshandlungen, die
mir auf jener schrecklichen Ozeanfahrt nicht erspart geblieben sind,
sie alle hatten nicht vermocht, die Liebe zu meinem eigenen Ge-
schlecht zu ertöten. Und ob alle diese unsäglichen Leiden, Geist
und Seele in beispiellosem Maasse quälten und folterten, der ge-
waltsam hin- und hergehetzte Körper, schier bis auf den Rest aus-
gemergelt wurde, siegreich ist die Natur über dies alles hinweg-
geschritten und verlangt nach wie vor, gebieterisch die Erfüllung
ihrer Rechte.
Ich will den Leser nun nicht mehr allzulange mit den Einzel-
heiten meiner weiteren Erlebnisse ermüden. Die körperlichen und
seelischen Qualen, die ich auf all' den Irrfahrten zu erdulden ge-
habt, alle ausführlich zu schildern, fühle ich mich ausser Stande.
Sie haben bei mir den Grundstein gelegt für eine stete nervöse
Emplindliohkeit, unter der Körper und Seele fortgesetzt zu leiden
haben. Namentlich war es der fürchterliche, wenn auch nur kurze
Aufenthalt auf jenem Schiffe, auf welchem mich ein schuftiger
Heuerbaas als Kohlenzieher verdingt hatte, der nach meiner Über-
zeugimg ein bis heute regelmässig wiederkehrendes Leiden (Rheuma-
tismus) in meinem Körper zurückgelassen hat. Mein Vorhaben, nach
Amerika auf diesem Schiffe zu kommen, war gescheitert. Ich war
zu dumm und unerfahren für solche Finessen und musste die Reise
unfreiwillig als Kohlenzieher wieder zurück machen. Kaum an
deutschen Gestaden angelangt, entfloh ich, halb wahnsinnig von
den unmenschlichen Strapazen und beispiellos roher Behandlung
bei Nacht und Nebel, von dieser schwimmenden Hölle. Von einer
zweiten solchen Reise nach Amerika war ich gründlich geheilt.
Ich hätte dem denn doch den Tod vorgezogen. Ruhelos zog ich
nun wieder durchs Land, von Ort zu Ort, was nun mit mir ge-
schehen würde, war mir gleichgültig. Ich blieb jedoch während
meiner ganzen Wanderzeit von der Polizei unbehelligt, ein Steck-
brief gegen mich existierte wohl demnaoh nicht. Nachdem ich auf
meinen Irrfahrten in unzähligen Städten und Ortschaften mich durch
allerlei Beschäftigungen redlich arbeitend durchgeschlagen und meinen
äusseren Menschen wieder in Ordnung hatte, konnte ich endlich
wieder in meinem jetzigen Aufenthaltsort festen Fuss fassen. Jahre
waren darüber hingegangen und raeine Familie hatte bis dahin kein
Lebenszeichen von mir erhalten. Wieder in meinem erlernten Ge-
schäft tätig, erlangte ich nach und nach eine gewisse Sicherheit.
Ich lebte still und zurückgezogen für mich hin, ging fast nie aus
und beschäftigte mich in meinen vielen einsamen Stunden damit,
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alles zu lesen, was mir nur in die Hände fiel. Ieh führte so mit
meinen Büchern im stillen Stilbchen ein beschauliches Dasein.
Aber nicht lange dauerte dieser Zustand. Wohl hatte ich mir
vorgenommen, fürderhin die Gesellschalt der Menschen möglichst
zu meiden, namentlich war ich ängstlich bemüht, nicht mit jungen
Leuten meines Geschlechts zusammen zu kommen. Darin lag ja
nun freilich die einfachste Bestätigung meines noch völlig unver;
änderten Geschlechtszustandes. Aber statt durch fleißiges, rück-
sichtsloses Nachdenken zur endlichen Klarheit über meine ge-
schlechtliche Verfassung, zu kommen und in deren Konsequenz
wenigstens einigermaasen raein Leben einzurichten, vermied ioh es
vielmehr nun ängstlich, an alle diese Dinge auch nur einen Augen-
blick zu denken. Ich glaubte durch die eiserne Standhaftigkeit,
mit der ich das Denken und die Gelegenheit von mir fern hielt,
das beste Schutzmittel gewonnen zu haben, durch das ich von
fernerem Unglück bewahrt blieb. So verbiss ich mich in einem
fortwährenden Abwehrkampf gegen meine Leidenschaft. Ich hatte
mich noch nicht soweit zur geistigen Freiheit durchgerungen, daas
ich mich hätte von der üblichen Meinung der grossen Masse
emanzipieren können. Ich fühlte mich abhängig von ihr und hielt
in Wahrheit meine Neigung für verbrecherisch, so dass ich glaubte,
sie mit diesen Mitteln erfolgreich bekämpfen zu können. Die
äusseren Umstände schienen mir günstig in meinem Vorhaben. Ich
kam durch einen Kollegen, der mich einst zur Kirmess in sein
Heimatsdorf lud, mit dessen Familie in nähere Berührung. Das
kleine Dörfchen lag in reizender, romantischer Umgebung an dor
Weser hingestreut, war von der Stadt, wo ich wohnte, nicht allzu-
weit entfernt und mit der Bahn allsonntäglich bequem zu erreichen.
Als schwärmerischen Naturfreund zog es mich mächtig hin zu
diesem kleinen idyllischen Nestchen. Ich fing an, regelmässig
dies Dörfchen aufzusuchen und lernte nun hier in der Familie
meine* Kollegen, dessen Schwester kennen. Sie führte, da die
Mutter unlängst gestorben war, dem Vater den Haushalt. Die
Familie war gross. 3 erwachsene Geschwister arbeiteten in der
Umgegend und 3 unerwachsene hatte sie im Hause zu überwachen.
So lernte ich dies echte Naturkind kennen, wie es treu und um-
sichtig waltete in dem kleinen Anwesen; es war ihrem Vater und
den zahlreichen Geschwistern eine sorgsame Hausfrau und liebe-
volle Pflegerin. Eine ungemein frische, sympathische Erscheinung,
gefiel sie mir mit der Zeit immer mehr. Ich genoss bald das Ver-
trauen der Familie und ging darin ein und aus. Es gefiel mir so
unendlich wohl in diesem kleinen Ort, inmitten der herrlichen
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Natur. Ich streifte in dem nahen Walde umher, lag stundenlang
an dem Ufer der Weser, oder machte mir im Garten und Feld zu
schaffen. Und wenn Sonntags nachmittags Vater und Brüder das
Gasthaus im Dorfe aufsuchten, dann leistete ich der Schwester
meines Kollegen Gesellschaft, wenn sie einsam zu Haus die jüngeren
Geschwister hütete. So lernte ich auch Wesen und Charakter dieses
trefflichen Mädchens kennen, an denen ich schliesslich nur ange-
nehmes finden konnte. Ich war nie im Leben eiu fanatischer
Weiberfeind und wusste Schönheit, Tugend und natürliche Anmut
beim Weibe wohl zu schätzen. Hier aber fand ich alles in seltenem
Masse vereinigt. In der Person dieses Mädchens schien mir
plötzlich ein Fingerzeig gegeben, meinem ferneren Leben sitt-
lichen Halt wiederzugeben. Ich hatte zur Zeit keinen männ-
lichen Verkehr und war, seit ich diesen Ort entdeckt, ganz stadt-
fremd geworden, arbeitete nur noch in der Stadt und lebte auf
dem Lande. Hier in der Stille der Natur unter den Kindern der
Natur hatte ich den langersehnten Frieden wiedergefunden. Ich
wurde der Freund und Berater Mathildens, half ihr getreulich bei
allen möglichen häuslichen Angelegenheiten. Bald war es im Dorfe
ausgemachte Sache, dass ich Mathildens Mann werden würde, und
ich tat niohts, um diese Meinung zu entkräften, im Gegenteil, sie
schmeichelte meiner Eitelkeit und ich war fest Uberzeugt, Mathilde
würde meine Hand nicht abweisen. Ich war stets artig und takt-
voll in meinem Benehmen ihr gegenüber und hielt mich körperlich
in respektvoller Entfernung von ihr, was mir leider nicht schwer
fiel. Ich genoss deshalb ihr unbegrenztes Vertrauen, wir waren
wie Geschwister und ich war in die Angelegenheiten der Famiüe
bald besser eingeweiht, als selbst ihre Geschwister. Ach, hätte sie
mir nie dieses Vertrauen geschenkt, hätte sie mich abgewiesen, ihr und
mir wäre wohler gewesen. Ich aber bildete mir ein, dieses Mäd-
chen zu Ueben, redete mir selbst beständig zu mit allen möglichen
Phrasen vom häuslichen Herd und Geldeswert — belog mich selbst,
indem ich vor meinen eigenen schüchternen Bedenken behauptete,
dass diese Heirat der einzige Weg sei, um im Leben noch einmal
glücklich zu werden. Was habe ich mir nicht alles vorgelogen,
um endlich den vermeintlichen Frieden zu finden, nach dem ich
mich so sehr sehnte. Ich liess nun ein erstes I^benszeichen an
meine Famiüe daheim gelangen, indem ich einen langen de- und
wehmütigen Brief an mein Mütterchen richtete. Sie war nur meine
Stiefmutter, aber ieh hatte ihr stets eine innige Liebe und Anhäng-
lichkeit bewahrt. Ich gab in dem Brief einen ungefähren Überbück
meiner Schicksale von jenem Tage an, da ich sie verlassen musste, bat
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alle um Verzeihung, und wenn es ihnen möglich sei, mich wieder
als Mitglied der Familie anerkennen zu wollen: teilte auch,
nicht ohne einiges Selbstbewusstsein mit, dass ich mir jetzt eine
achtbare Existenz begründet, und im Begriff stände, — mich zu
verloben, und bat schliesslich um ihren Rat und um ihren mütter-
lichen Segen. Nach kurzer Zeit erhielt ich Antwort von meinem
Bruder. Alles war hocherfreut von meinem Lebenszeichen und
namentlich von meinem Entschluss. Man gratulierte mir, wünschte
mir Glück, alles sollte vergessen und vergeben sein, denn ich hätte
ja nun bewiesen, dass ich ein andrer geworden. Mein Bruder gab
mir den Rat, ja nicht mehr länger mit der Heirat zu warten,
kündigte mir an, mich baldmöglichst aufzusuchen, um sich von
meinem Glück zu überzeugen. „Du glaubst nicht, wie ich mich
freue," so hiess es am Schluss seines Briefes, „dass wir Dich als
einen Menschen wiedergefunden, der nun wieder als vollberechtigtes
und nützliches Glied in die Gesellschaft aufgenommen werden
kann. Dadurch, dass du dich der Liebe zu einem Weibe hin-
gegeben, hast du deinen Beruf als Mann und Geschlechtswesen
der Gesellschaft gegenüber erfüllt, und hast ein Recht, wieder
unter Menschen zu erscheinen." (!!!) Wenn ich ehrlich sein will,
so kann ich nicht sagen, dass dieser Brief meines Bruders in
meinem Herzen einen völlig harmonischen Wiederhall gefunden
hätte. Es lag in ihm etwas, was ich nicht recht definieren konnte.
Nur soviel wusste ich, damals, als ich Willy und nachher Adolf
liebte, war ich doch auch gewissermassen ein Mensch gewesen. Aber
immerhin, der Brief freute mich sehr und beseitigte meine letzten
Bedenken. Ich verlobte mich. Und als ich bald darauf im näheren
Umgang mit meiner Braut ein leidenschaftliches, heissbegehrendes
Weib vorfand, dessen jungfräuliche Liebesglut mir den normalen
Koitus leicht machte, da freute ich mich ganz unbändig und war
nicht wenig stolz auf raeine Manneskraft. Um endlich zum Schluss
dieser Bekenntnisse zu gelangen: Mathilde ist mein Weib ge-
worden, und so lange wir nun nebeneinander durchs Leben
wandeln, bin ich ihr nicht einen Augenblick treu geblieben. Das
bischen Reiz war bald entschwunden. Er war bewusst und plan-
mässig herbeigezogen und künstlich genährt, war eine Art Onanie,
war nicht die Liebe, das grosse, heilige Feuer, das aus den dunklen
Tiefen der Mensehenseele emporlodert, mächtig und unmittelbar,
mit leuchtenden Flammen das geliebte Wesen gleichsam verklärt
und mit heissem Odern erwärmt. Ein elender Abklatsch, ein
Popanz war es, der sich heuchlerisch Liebe nennt und im Grund
nur Eigenliebe ist, die für ihren feigen Schwindel eine legitime
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Unterlage benötigt. O ja, ich leugne es nicht, ich war feige, un-
endlich feige, dass ich der lügnerischen Ehrenretterei das Glück
meines Lebens zum Opfer brachte und schlecht dazu, dass ich ein
rechtschaffenes, braves Menschenkind damit au mein Dasein kettete
und auch ihm die Blüten seines Lebenslenzes stahl.
Allzu langsam ist mir der Schleier von den Augen gesunken
und als ich endlich nun mein eigenes Selbst im Lichte der Er-
kenntnis sah, da war es leider zu spät. Neue Fesseln habe ich mir
durch diesen unseligen Schritt auferlegt, ein Zurück gibt es
nun nicht mehr und vorwärts? — wo wollt ich denn da hin? Da
müsste ich ja erst ein .Anderer" werden. Wer ratet mir? Soll ich
meinem armen Weibe, das mir rechtschaffen und treu bis jetzt ge-
dient, „reinen44 Wein einschenken? Die sorgsame Hausfrau und
die zärtliche Mutter meiner Kinder hinaus stosseu in die Welt, in-
dem ich das Band gewaltsam durchschneide, das uns vor den
Augen der Welt bindet. Solche gigantische Kraftleistung ma^ man
von mir nicht eher verlangen bis man mir sagen kann, was damit
für uns Beide, für unsere Kinder gewonnen. Unsere Kinder, jawohl,
zwei herzige kleine Wesen sind diesem Scheinbunde entprossen.
Jeder Homosexuelle, der los und ledig ist, mag sich wundern, wie
ein Homosexueller dazu kommen kann. Aber Jeder, der in ähnlicher
Lage sich befunden, wird nichts Verwunderliches darin finden. Ich
liebe ineine Kinder, die beide aus den ersten 2 Jahren meiner Ehe
stammen und umgebe sie mit aller Sorgfalt, die in meinen Kräften
steht; sorge für raein Weib nach bestem Können. Und doch inuss
ich sie ständig betrügen. Uberall gelte ich als der beste Gatte und
Vater meiner Familie. Und beständig breche ich die Ehe. Habe
ich das Glück, einen jungen, starken, edlen Freund zu treffen, dann
kennt meine Freude keine Grenzen. All' mein Leid, all' die düstren
Tage, die ich auf dem qualvollen Weg meines Lebens, an der Seite
eines hochgeachteten, aber ungeliebten Weibes durchwandern muss,
sie sind vergessen. Vergessen ist meine Gefangenschaft, in der ich
mein Dasein vertrauern muss im Kreise meiner „Familie44, vergessen
alle Gesetze der moralischen Gesellschaft. Ich schreite unaufhaltsam
weiter auf der Bahn des — „Verbrechens44. Denn ich kann ja nicht
anders das Glück wirklicher Liebe finden als im „Verbrechen'4. Wo
ich hinblicke nichts als Sünde, und wollte ich diesem unsäglichen
Zustand ein ewiges Ziel setzen, dann erst wird mir der Fluch, Ver-
brecher, noch übers Grab geschleudert werden. Was also kann
ich tun? Ich werde weiter zu leben versuchen, um weiter zu sündigen.
Die Liebe ist so gross, so erhaben, so edel, sie vermag alles
und sie gibt auch mir immer wieder von neuem die Kraft des
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in
Lebens wieder. Ja der Eindruck, den die lieht- und kraftvolle
Gestalt eines edlen Jüngling auf mich hervorzubringen vermag,
lockt sogar noch hier und da ein paar einfache und schlichte Töne
von meiner längst verrosteten Leier.
So erst vor Kurzem als ich auf einem Abendessen einen jungen
Handwerker kennen lernte: Ein schöner Jüngling mit seltenen
Geistesgaben, wie er mir ähnlich immer im Geiste vorschwebte.
Er zeigte sogleich am Abend unserer Bekanntschaft tieferes Ver-
ständnis als alle Anderen flir meine bescheidenen Darbietungen,
durch die ich zur Unterhaltung der Gesellschaft beizutragen suchte.
Wir kamen in ein kleines Gespräch und ich war überrascht und
erstaunt über die Tiefe seiner Begriffe über Ästhetik und Kunst
sowie Uber die Kraft seiner Lebensanschauung. Ich war sofort von
diesem starken Charakter gefangen. Selbst Arbeiter, war ich freudig
bewegt, auch unter meines Gleichen, einen so fein empfindenden
und edel denkenden jungen Mann entdeckt zu haben. Ich suchte
näheren Verkehr, besuchte ihn in seiner Wohnung, wo ich ihn stets
lesend oder malend, auch musizierend — er spielte gut die Klari-
nette — antraf. Ich war entzückt und verliebte mich unsterblich
in dieses herrliche Wesen. Eine neue Sonne schien über mein
düsteres Dasein aufgegangen. Ich hatte nur noch Gedanken, Sinne,
Interesse, Zeit, für ihn. Mein armes Weib, die von dieser neuen
Liebe, mit der ich sie betrog, natürlich keine Ahnung hatte, konnte
garnicht begreifen, was in mich gefahren war. Ich vernachlässigte
alle meine sonstigen Obliegenheiten. Ich suchte ihm erst zu ver-
heimlichen, dass ich verheiratet sei, bald jedoch tilgten es die Um-
stände, dass ich ihm die Wahrheit sagen musste. Lächelnd meinte
er, es täte ihm leid, dass er das nun wüsste. Denn nun könne er
doch raeine Zeit, mein Interesse für ihn nur in halben Portionen in
Anspruch nehmeo, die grössere Hälfte gehöre meiner Familie. Und
als ich ihm eifrig erwiderte, das käme garnicht in Betracht, da
schaute er mich lange an und warf die Worte still und leicht hin
„Hättest dich nicht verheiraten sollen" — ich war fassungslos,
durchschaute er mich, hatte er in meiner Seele zu lesen verstanden?
Hier, fühlte ich, war ich der Schwächere, aber gerade deswegen
liebte ich ihn umsomehr. Lange haben wir an jenem Abend noch
zusammen gesessen und langsam aber sicher bin ich in seine Seele
eingedrungen. Und als ich bald darauf das erste Zeichen der Liebe,
den Kuss von ihm begehrte, lehnte er zuerst ruhig und bestimmt
ab, und ich hatte zu viel Achtung und Respeckt vor seiner Person,
als dass ich hätte weiter in ihn dringen wollen. Später hat er mir
dies Zeichen gern und freudig gewährt. Fester und immer fester
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schlössen wir uns dann zusammen. In ungetrübter Harmonie gingen
unsre Seelen in einander auf. Als Geschlechtswesen normal, bat
er mir doch in hingebender Freundschaft das höchste Gluck der
Liebe gewährt. Er fühlte sich nicht dadurch mit Schmach und
Schande bedeckt. Er war frei und unabhängig genug im Geiste,
meine Empfindungen, meinen Zustand zu begreifen. Und konnte
er auch meine leidenschaftliche Liebe nicht mit derselben Glut er-
widern, so war er doch sichtlich bemüht, durch verdoppelte treue
Anhänglichkeit, durch wahrhaft hochherzige Freundschaft und Teil-
nahme für meine traurige Lage, diesen Mangel wett zu machen.
Leider währte mein Glück nicht lange. Durch mein Verhältnis mit
ihm drohte mir ein ernster Konflikt mit meiner Familie. Ich ver-
wendete natürlich meine freie Zeit nur für ihn. Seine Person be-
herrschte nur noch allein meinen Ideenkreis. Ich tiberliess Frau und
Kinder sich selbst, sorgte nur materiell für sie, und war im übrigen
stets bei meinem Ludwig anzutreffen. Er selbst hat mich im Kreise
meiner Familie nur ein einziges Mal besucht Er hatte, feinfühlend
wie er war, die Situation bald begriffen und achtete darin gewiss
nur die Meinen. So war ich denn stets bei ihm. Wir musizierten,
lasen, studierten und philosophierten miteinander. Die Sache
wurde zu auffällig und Ludwig bat mich, meine Besuche einzu-
schränken. Dazu war ich natürlich nur in ganz geringem Masse
im Stande. Meine Frau musste mich Öfter aus seiner Wohnung
abholen lassen. Kur/um, es gab ernsthafte Auseinandersetzungen
zwischen mir und meiner Frau. Dies alles merkte Ludwig, und
eines Tages überraschte er mich mit der Mitteilung, dass er die
Stadt verlassen wolle. Seine Eltern hatten geschrieben, er solle
in die fteimat zurückkehren. Ich war wie vom Schlage gerührt,
mich von diesem Menschen trennen, das war ja rein unmöglich.
Mein erster (Jedanke war — ich scheue mich nicht, ihn hier nieder-
zuschreiben — ich wollte ihn begleiten und sprach diese Absicht
sofort aus. Ruhig und bestimmt verbot er uairs und brachte mich
durch sein liebevolles Zureden wieder zur Vernunft zurück. Nur
seiner ruhigen, festen Besonnenheit habe ich es zu danken, dass
es keine Katastrophe gab. Er versicherte mir zuletzt, dass er mir
dann seine Freundschaft und Achtung versagen müsse, wenn ich
ihm folgen wollte. Das half, und still ergab ieh mich in diese
Trennung. 14 Tage noch war es mir vergönnt, ihn zu sehen. Ich
half ihm bei seinen Vorbereitungen zu der weiten Reise. Ludwig
hatte in Jütlaud seine Heimat. Er war mit 17 Jahren in die Fremde
gegangen, hatte Dänemark, Deutschland und die Schweiz schon be-
reist und hatte sich auf seinen Reisen, die er meistens zu Fuß ge-
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macht, 2 fremde Sprachen augeeignet (Deutach und Französisch),
die er beide geläufig sprach; für einen mittellosen Handwerks-
gesellen eine zweifellos ausserordentliche Leistung. Dabei stand
er erst im 22. Lebensjahre. Und von diesem herrlichen Jüngling sollte
ich mich trennen. Ich konnte mich mit dem Gedanken garnicht
vertraut machen. Aber was half es. Nach 5 monatlichem sonnen-
vollen Glücke ist nun wieder die düstere Öde meines Daseins
über mich zusammengebrochen. Niemals im Leben ist es mir je
vergönnt gewesen, einen edleren Menschen an mein Herz drücken
zu dürfen, als diesen dänischen JUngling. Nie ist mir eine Scheide-
stunde qualvoller erschienen, als die des Abschiedes von ihm.
Immer und immer wieder musste ich dieson Kopf an mich pressen,
immer wieder in diese dunklen, tiefen Augen blicken.
Wenn je einem Homosexuellen seine Gefühle zum Fluch
seines ganzen Lebens geworden sind, so bin ich es. Und
wenn je Anstrengungen gemacht wurden, um diese Empfindungen
loszuwerden, ihnen eine andere „normale" Richtung zu geben, so
habe ich es getan. Und doch musste ich bei meinem Ver-
hältnis zu Ludwig erkennen, dass mein Geachlechtszustand heute
homosexueller denn je ist. Der Zustand, in dem ich mich ge-
rade ihm gegenüber befand, mag die Art und Weise dartun,
mit der ich von ihm Abschied nahm. Wir hatten den ganzen
Abend vor seiner Abreise auf seiner Stube zusammen verbracht,
und ich hatte schliesslich weinend unter unzähligen Umarmungen
mieh von ihm losgerissen. Buhelos lief ich durch die Strassen und
konnte es nicht fertig bringen, nach Hause zu gehen. Ich kehrte
schliesslich zurück, um meinen Freund noch einmal zu sehen. Er
war bereits zur Kühe gegangen. Dumpf vor mich hinbrütend,
setzte ich mich auf den Flur vor seiner Tür bin und schlief, den
Kopf an die Tür gelehnt, schliesshch ein. So wurde ich mitten in
der Nacht von ihm aufgefunden. Liebevoll bereitete er mir eine
Stätte neben sich. So habe ich dann die letzten Stunden dieser
letzten Nacht an seiner Brust zugebracht. Noch in der letzten
Minute unseres Beisummenseins klagte ich mich an Uber mein un-
vernünftiges Verhalten. Er tröstete mich und versicherte mich seiner
treuen Freundschaft, auch in der Ferne. So ward aucli dieser mir
entrissen. Einsam und trauernd lebo ich nun wieder für mich hin
und denke daran, welche Leiden mir wohl noch im Schoosse der
Zukunft zugedacht sind.
Erlöst uns, nehmt uns die Fesseln ab : der Kultur wird es nicht
zum Schaden, der Menschheit aber wird es zur Ehre gereichen.
Jahrbuch V.
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Einige psychologisch dunkle Fälle
von geschlechtlichen Verirrungen in der Irrenanstalt.
von
Medizinal rat Dr. P. Näcke
in Hubertusburg.
Es ist eine bekannte Tatsache, dass sexuelle Perversi-
täten aller Art im Irrenhause häutiger als sonst sich
finden. Statistische Untersuchungen hierüber in streng
wissenschaftlicher Weise giebt es aber leider nur ganz
wenige. Ausser meiner hieher gehörigen grossen Arbeit1)
kenne ich nur eine solche von Meilhon2) aus der Irren-
anstalt zu Aix und eine Notiz vou Pelanda3), die zu
Verona betreffend. Während Meilhon unter 83 Geistes-
kranken 18 Sodomiter, IG Ouanisten und 8 Exhibitio-
nisten faud, notierte Pelauda unter 240 Männern 12 mit
„veränderter" Sexualität (ohne nähere Angabe). Ich
habe dagegen das bisher grösste Material verarbeitet,
nämlich 1481 Geisteskranke (darunter r>09 M.) der Irren-
anstalt zu Hubertusburg. Berücksichtigt habe ich hierbei
die isolierte und mutuelle Onanie, den Exhibitionismus,
•) Nücke: Die sexuellen Perversitäten in der Irrenanstalt.
Psychiatrische en Neurologische Bladeu 1KW. Nr. '2. und in „Wiener
klinische Rundschau" 1899, No. 27 — HO.
-) Meilhon: Nach Referat in: Archives d'anthropol. eriin, etc.
1898. p. 360.
l) Pelanda: Ernie ed anoraalie sessuali. Archivio delle
psic< patie sessuali, 1890.
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die aktive Päderastie und endlich die Fellatures und die
Schmierer. Tabellarisch wurden die einzelnen Prozent-
sätze für die Gesamtheit und für die einzelnen Krank-
heitsformen berechnet Speciell betone ich hierbei, dass
je nach den einzelnen Anstalten diese Prozentsätze ver-
schieden ausfallen werden, da ausser vielen andern
Momenten insbesondere die Anzahl der aufgenommenen
Krankheitskategorien eben überall sehr schwankt und es
ferner hierbei sehr wesentlich erscheint, ob die Kranken
mehr vom Lande, oder aus der Stadt, oder gar der
Grossstadt sich rekrutieren. Unsere Ermittelungen können
daher nur einige allgemeine Züge mehr oder minder
wahrscheinlich machen.
An unserem Material stellte ich fest, dass alle
Perversitäten bei Männern häufiger waren, als bei den
Frauen. Leider musste aber sogleich hinzugesetzt werden,
dass es bei Weibern viel schwieriger ist Näheres zu
erfahren, als bei Männern, so dass sämtliche Prozentsätze
bei ihnen noch viel mehr Minima darstellen, als bei
Jenen. Onanie fand sich am häufigsten vor — wiederum
scheinbar mehr bei Männern — , Exhibitionismus dagegen
nur selten (blos bei 3 Männern!), bei den Frauen doppelt
so häutig, während öfter homosexuelle Handlungen statt
fanden, die bei den Paralytikern ganz fehlten. Unter
den gleichgeschlechtlichen Handlungen war die gegen-
seitige Onanie am häufigsten (sicher oder sehr wahr-
scheinlich bei ca. 3ü/0 der M. und bei ca. 0,5°/n der W.)
Fellatores gab es nur 2 <M). Wirkliche Päderastie
endlich fand sich bei 1% der M. vor, viel häufiger als
bei Frauen und bei beiden Geschlechtern wieder in erster
Linie bei den Imbezillen. Letztere und die Idioten
weisen überhaupt die Höchstziffer aller Perversitäten auf.
Daher kommt es hauptsächlich, dass je mehr diese Art
von Kranken und auch Epileptiker in einer Anstalt sich
ansammeln, urn so mehr die Zahl aller sexuellen Ver-
la*
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irrungen zunimmt. Leider waren unter meinen Kranken
nur sehr wenige Epileptiker vorhanden und gerade hier
wäre eine diesbezügliche Untersuchung an grossem
Materiale deshalb sehr erwünscht.
Unter unseren 509 Mäunern wurden 5 Personen bei
eigentlicher Pädicatio betroffen (= l°/0) und zwar 4
Idioten und 1 Paranoiker. Rein passiv verhielten sich
hierbei 2 Idioten, aktiv und passiv zugleich die 2 andern. Alle
vier onanierten zugleich, zum Teil auch mutuell. Der Eine
(ein älterer Mann) ist auch Fellator. Die Passiven sind mehr
apathische Naturen. Der Päderastie sehr verdächtig war
ein Verrückter, — daher oben mitgezählt — , der, wenn er
erregt war, in das Bett Anderer kroch. Unter den 972
Frauen exhibitionierten 16 (der einfachen Seelenstörung
angehörig); der gegenseitigen Onanie sehr verdächtig waren
4 andere, 2 weitere endlich der aktiven Päderastie. Cunni-
lingae fehlten ganz. Erwähnen will ich schließlisch, daß fast
stets bei allen unsern männlichen und weiblicheu Kranken
Onanie die Vorstufe zu deu übrigen sexuellen Abweich-
ungen bildete, ohne daß damit aber irgend ein Zusammen-
hang zwischen Beiden statuiert sein soll (siehe später!).
Diese obigen Zahlen habe ich nur mitgeteilt, um
zu zeigen, daßalle sexuellen abnormen Praktiken
im Irrenhause doch meist viel seltener sind}
als der Laie, ja sogar viele Aerzte sich dies
vorstellen. Wegen aller weiteren Details muß ich schon
auf raeine angeführte Arbeit verweisen, die außerdem
auch versucht gewisse Akte dem Verständnisse psychologisch
näher zu bringen.
Jedenfalls ersieht man aus Vorstehendem, daß homo-
sexuelle Akte nicht häufig waren, am seltensten
die eigentlichen Päderasten und Fellatores, dass weiter
die Seh wach- und Blödsinnigen auch hier den
höchsten Prozentsatz zeigten. Es erhebt sich nun
hier vorab die Krage, ob wir in diesen Fällen echte
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Inversion vor uns haben oder nicht. In allen Fällen, glaube
ich, müssen wir eine wirkliche Homosexualität ablehnen,
trotzdem nähere anamnestische Daten vollständig fehlen.
Es handelt sich hier nur um homosexuelle Handlungen, faute
de mieux, um Surrogatshandlungen, wie ich dies nannte.')
Die Verführung meist durch Schwachsinnige, spielt die
Hauptrolle dabei. Das Gros der Irren allerdings be-
friedigt den Geschlechtstrieb nur durch Onanie, die hier
gleichfalls, besonders bei Verheirateten, meist nur als
Surrogat auftritt. Immerhin mag sie öfter auch central
bedingt sein, durch stärkeren centralen Reiz auf die
Genitalsphäre, wofür namentlich die bisweilen frenetisch
ausgeübte Masturbation bei tief Verblödeten oder ganz
Benommenen spricht, was in anderen Fällen viel weniger
wahrscheinlich ist. Schon daß unsere Päderasten neben
der paedicatio noch alle isolierte und gegenseitige
Onanie betreibeu, z. T. auch gleichzeitig Fellatores sind,
spricht einigermassen gegen echte Inversion. Das Haupt-
argument liegt aber in der Tatsache, dali die Betreffenden
in der Zwischenzeit den Partnern gegenüber sich völlig
kühl verhielten, sie nie umschmeichelten etc., bis auf
Aborten, in dunkeln Ecken, in Gegenwart apathischer
Schwachsinniger oder sekundär Dementer etc. der
raptus sie überkam und sie die Andern mißbrauchten.
Wären ihnen Frauen zur Wahl belassen worden, so
hätten sie sich wohl sicher auf sie gestürzt. Auch sonst
sprach bei ihnen alles gegen echte Homosexualität und
nie zeigte sich effeminierter Typus. Eher könnte schon
bei den Frauen Von Inversion die Rede sein.
Mag dem nun aber sein, wie ihm wolle, so glaube ich
aus meinen Erfahrungen schließen zu dürfen, daß in den
unteren Volkschich ten — aus solchen rekrutiert sich
') Näcke: Einige Probleme auf dem (iehiete der Homo-
sexualität. Lahrs Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie u. s. k.
1902. 59. Bd.
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vorwiegend unser Material — wahre Homosexualität
ganz abnorm selten ist. Aehnliches wird sich im
ganzen wohl auch bei anderen Irrenanstalten herausstellen.
Sehr beachtlich ist aber weiter die Tatsache, daß unter
einer so grossen Masse von Entarteten — wenn
mau nicht gar, wie manche wollen, alle Geisteskranken
überhaupt dazu rechnen will — wahrscheinlich kein
einziger echter Invertierter sich befand, trotzdem
die Inversion gerade bei Entarteten so häufig sein soll.
Jedenfalls ist sie bei den schwer Entarteten,
wie man die meisten unserer Kranken wohl bezeichnen
kann, sehr selten. Somit bleibt nur die andere Mög-
lichkeit übrig, daß sie nämlich bei leichter Entarteten
aller Art auftritt, oder gar vielleicht bei völlig Normalen
(in der gewöhnlichen Gesundheitsbreite sich bewegenden).
Letzteres halte ich sehr wohl für möglich, ja sogar für
gar nicht so selten, wie ich dies in meiner 2. zitierten
Arbeit des näheren auseinander setzte. Endlich möchte
ich noch hervorheben, daß trotz der häufigen und jahre-
lang geübten Onanie, welche besonders bei Imbezillen,
Jugendlichen oder sekundär Verblödeten nicht selten
beobachtet wird, diese doch nicht in einem einzigen Falle
zu Inversion oder nur zu homosexuellen Handlungen
geführt hatte, die sich vielmehr meist als Produkt der
Verführung darstellten, und als Surrogathandlungen auf-
traten. Schon daraus ersieht man, daß Onanie an sich
kaum je Homosexualität erzengt.
Hier will ich nun einige psychologisch dunkle und
interessante Fälle sexueller Abnormitäten besprechen,
die ich in der letzten Zeit in hiesiger Anstalt zu beob-
achten Gelegenheit hatte. Es handelt sich um 3 Fälle
von homosexuellen Handlungen und 5 Fälleu von Exhi-
bitionismus.
1) E., 07 Jahre, Händler, ledig. Seit 3 — 4 Jahren
oi krankt, halberregt, verschwenderisch, Spieler. Senile De-
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menz mit Erregtheit Kam hier noch hypomanisch an, be-
ruhigte sich aber relativ bald und ist jetzt ruhig, fleißig aber
schwatzhaft. In seinem hypomanischen Zustande steckte
er viel mit Idioten und Jugendlichen zusammen, ward
wiederholt bei gegenseitiger Onanie betroffen und auch,
wie er am Penis eines jungen Katatonikers saugte, was
er aber, sogar in flagranti ertappt, leugnete. Durch den
Pfleger auseinander gebracht, ging er immer wieder wie
besessen auf seinen Kumpanen los. Nie aber ward er
bei der Päderastie betroffen. Seit seiner Beruhigung hat
er sich nichts mehr zu schulden kommen lassen.
Da in der Anamnese nichts auf Inversion bezügliches
sich vorfindet, Pat. auch jede homosexuelle Neigung stricte
leugnet, so ist er wohl sicher kaum eigentlicher Homo-
sexueller. Es ist anzunehmen, daß er in seiner hypo-
mnnischen Unruhe von Anderen zu homosexuellen Hand-
lungen verleitet ward und Geschmack daran fand. Er
gab der Versuchung um so eher nach, als einerseits durch
sein Senium gewisse Hemmungen gelockert waren, anderer-
seits durch die Erregtheit vielleicht die libido sexualis ge-
steigert wurde, und endlich günstige Gelegenheit sich
anbot. Nach Abklingen der Hypomanie hat er alles bei-
seite gesetzt und damit eben gezeigt, daß er kein Homo-
sexueller ist.
2) S., ca. 27—28 Jahre alt, Musiker. Dementia
präcox; total verwirrt und scheinbar verblödet, zeitweis
gewalttätig unter dem Ansturm von Sinnestäuschungen
und Wahnideen. Im Mai und Juni dieses Jahres ward
wiederholt gesehen, wie er sich auf den Bauch eines
sekundär verblödeten jungen Mannes, der sich in einer
dunklen Ecke auf die Diele ausgestreckt hatte, der
Länge lang legte und ihn längere Zeit so fest mit
den Armen umklammert hielt, daß er einmal nur
mit grosser Gewalt von dem Andern losgerissen
werden konnte. Dabei waren weder seine noch des
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Anderen Genitalien entblößt und jede koitusartige Be-
wegung fehlte. Die beiden glichen Fröschen in der Co-
pulation. S. erschien dabei aber durchaus nicht geschlecht-
lich erregt. Zu anderen Zeiten exhibitionierte er vor
Frauen und riss Zoten.
Bei seinem total verwirrten Zustande fehlt uns jede
Angabe über dieses auffällige Benehmen. Nur während
zweier Monate zeigte er diese merkwürdige Art der
Beschlafung. Sexuelle Erregung schien abgängig zu sein.
Er empfand sonst durchaus heterosexuell, wie seine
Exhibition vor Frauen bewies. Er ist also kein Inver-
tierter. Nie hat er seinen Partner sonst aufgesucht und
sich ihm freundschaftlich genähert. Wahnideen und
Sinnestäuschungen können nicht wohl mit im Spiele ge-
wesen sein, eher schon Zwangsimpulse. Vielleicht war
es aber nur ein rein automatischer Akt, der jedoch
möglicherweise nicht ganz eines sexuellen Hintergrundes,
wenn auch unbewusst, entbehrte. Denkbar wäre es end-
lich, daß hierbei Erinnerungen an normalem Coitus mit
unterliefen. Jedenfalls ist gerade dieser Fall psychologisch
ganz dunkel, aber interessant und lehrreich.
3) O., tiefster Idiot und taubstumm, Ende der
zwanziger Jahre. Stösst nur unartikulierte Töne aus.
Ich ertappte ihn kürzlich, als er einen andereu Idioten
beim Kopfe festhielt, ihn wiederholt auf den Mund
— doch ohne sichtliche Zeichen geschlechtlicher Er-
regung — küsste und ihn am Ohre streichelte. Der Kuss
ward erwidert Nach Aussage des Oberpflegers soll
dieser O. sehr verschiedene Kranke in ähnlicher Weise
liebkosen, wobei aber nie Onanie bemerkt ward.
Ist hier etwa Inversion im Keime vorhanden? Ich
glaube es kaum, da eben Zeichen des Orgasmus fehlten
und die verschiedensten Personen so traktiert wurden.
Ich möchte vielmehr glauben, daß es hier nur eine Be-
tätigung von Anhänglichkeit und Gutmütigkeit war, ohne
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sexuellen Anstrich. In meiner erwähnten 2. Arheit machte
ich darauf aufmerksam, daß bisweilen — immerhin sehr
selten — bei Irren Freundschaftsbündnisse sich heraus-
bilden. Diese sind entweder völlig harmlos oder aber der
homosexuellen Handlungen sehr verdächtig. Letzteres —
anscheinend das häutigere — war bei uns nur bei Idioten
oder Verrückten der Fall, wobei der eine der aktive
Teil ist. Aber auch bei ganz harmlosen Verhältnissen
sieht man, wie es vorwiegend der eine ist, der den
andern liebkost, unterstützt etc. Obigen Fall möchte ich
nun zu dieser harmlosen Kategorie zählen, abgesehen
davon, daß hier kein eigentliches Freundschaftsbündnis
bestand. Es giebt nicht selten gerade Idioten, die ihre
Liebe zu Eltern, Geschwistern, Pflegern etc. durch Küssen,
Streicheln u. s. f. rudimentär bezeugen, und dies dann
in andern Verhältnisse auf andere Personen tibertragen,
und zwar unterschiedslos männlichen oder weiblichen
gegenüber, und ohne Zeichen von libido.
Die folgenden Fälle betreffen Exhibitionisten.
4) PI., Paralytiker, 42 Jahre alt, ganz dement und
meist ruhig. Als er noch leidlich bei Kräften war, lief
er einmal 2 Tage lang — sonst nie wieder! auf dem
Korridore mit heraushängendem Gliede meist in
dunkeln Ecken stehend und ganz benommen. Niemand
sah ihn dabei onanieren, was er später, als er bettlägerig
wurde, öfter tat.
5) L.j berühmter Pianist, Ende der Vierziger, ganz
dementer Paralytiker, stand monatelang während des
Gartengangs mit der ganzen Vorderseite des Körpers
fest gegen die Hauswand gedrückt, mit entblößtem Gliede,
ohne Masturbation, und ging so auch dann auf seine
Station zurück. Ließ sich nie davon abbringen.
6) Sehl, 35 Jahr alt. Totale Verwirrtheit und Ver-
blödung nach dementia praecox ; lief sehr oft mit ent-
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blüßtem Penis auf dem Korridore herum und ließ sich
gleichfalls davon nicht abbringen. Im Garten wurde es
nur einmal beobachtet. Er lebte ganz in seinem Sinnes-
traum und in seiner Wahnwelt befangen.
7) Sch., dem. praecox, Mitte der 20 er, ganz verwirrt
und schon verblödet, entblößte wiederholt sein Glied und
spielte daran herum.
8) Gr., 29 Jahre alt, verblödet und verwirrt nach
dem. praecox, trägt wegen steten Zerreiß ens seit Monaten
den sog. (unzerreißbaren) Göttinger Anzug. Läßt aus
dem Schlitz stets den Penis herabhängen und ist davon
nicht abzubringen.
Diese Entblößer haben zunächst das Gemeinsame,
daß sie dem jüngeren und mittleren Alter angehören, aus
Paralytikern und jugendlich früh Verblödeten bestehen und
bis auf die sehr mobilen Nr. 7 und 8 ganz in sich ver-
sunken, tief benommen waren. Homosexuelle Exhibition
ist hier sicher auszuschließen, schon weil die Betreffenden
keine Invertierten waren und nur zeitweise und oft bloß
in dunkeln Ecken exhibitionierten. Siehe namentlich
Nr. 5. Sexualerregung schien dabei bei Niemandem zu
bestehen und nur bei Nr. 7 ward Spielen an den Genita-
lien beobachtet.
Was war nun der Grund zur Entblößung? Man
könnte zunächst daran denken, daß dies der Abkühlung
halber geschah, sei es nun, daß gewisse lokale Reiz-
vorgänge an den Geschlechtsteilen bestanden, oder
central bedingte brennende oder sonstige unangenehme
Gefühle am Penis, die durch Aussetzen des Gliedes an
der Luft Linderung ergaben. Lokale Reizzustände fehlten
aber, ebenso wie die dadurch oft bedingte Masturbation
und für die andere Erklärung liegt auch kein Beweis
vor. Man könnte ferner auch an Druckwirkung des
Göttinger Anzuges in Nr. 8 denken, doch muß man diese
Erklärung hier fallen lassen, da bei den meisten Kranken
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— 203 —
im „Göttinger* Exhibition nicht bemerkt wird. In dem
Falle 8 kam mir dagegen eine andere ErklärungsroÖglich-
keit in den Sinn. Ich sah den Pat. nämlich einmal heftige
seitliche Hüftbewegungen machen, wobei der lange Penis
hin- und herpendelte. Vielleicht war ihm gerade dies
pendelnde Gefühl angenehm. Bei unserm Kranken muti
man feruer als etwaigen Grund Wahnideen, Zwangs-
impulse oder Sinnestäuschungen wohl ziemlich sicher
ausschließen, ebenso einen central bedingten Reizzustand
der Geschlechtssphäre, da nie Zeichen von libido sich dar-
boten, das Glied stets schlaff herabhing und nie masturbiert
wurde. Es bleibt also fast nur übrig an einen rein
automatischen Mechanismus zu denken, auf
Grund dunkler organischer Reizungen oder unbewußter
Vorstellungen. —
Auf alle Fälle ist in allen unsern mitgeteilten Bei-
spielen jede beabsichtigte Befriedigung der libido ausge-
schlossen, im Gegensatze zu der gewöhnlichen Exhibition.
Auch in der Irrenanstalt sieht man letztere nicht selten
vor dem andern Geschlecht eintreten und besonders
Frauen entblößen sich gern vor Männern. Vor dem
gleichen Geschlecht geschieht es aber, abgesehen von
Invertierten, höchstens nur dann, wenn tiefe Verachtung
dem Andern gegenüber kundgegeben werden soll, manch-
mal auch der Abkühlung halber, oder aus Wahnideen,
Sinnestäuschungen, Zwangsimpulsen bei mehr oder minder
erhaltenem Bewußtsein. Tief Benommene endlich, ent-
blößen sich auch, wie unsere obigen Fälle zeigen; sicher
ist dies aber keine homosexuelle Exhibition. Ob diese
überhaupt, wie Braunschweig1) behauptet, so häufig bei
Homosexuellen stattfindet, möchte ich um so mehr be-
zweifeln, als hierüber in der Literatur wohl nur wenig
bekannt ist.
•) Braunschwei«,': Das«. Geschlecht. Halle. Marhold. 1902.
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204
Zum Schluße möchte ich endlich auf eine Erklärung
des gewöhnlichen Exhibitonismus aufmerksam machen,
die ich für die meisten Fälle für richtig halte und
es auch schon klar aussprach1). Ich sehe nämlich in der
Entblößung nur eine Abart des Sadismus. Der
Exhibitionist weidet sich am Schreck, Unwillen oder an
der Verlegenheit der Zuschauerinnen, was sexuell erregend
auf ihn wirkt, zumal wenn jene junge Mädchen sind.
Die andere Erklärung dagegen, daß der Exhibitionist sich
geschlechtlich aufrege, weil er die libido im andern geweckt
hätte, dürfte nur in den seltensten Fällen und nur bei
depravierten Mädchen oder Frauen zu beobachten sein.
Eher könnte dies im Irrenhause stattfinden, wo durch die
Psychose einerseits gewisse Hemmungen ganz oder teil-
weise beseitigt sind, wodurch der Geschlechtstrieb freier
sich zeigen kann, anderseits durch die Krankheit immer
oder zu gewissen Zeiten die Geschlechtssphäre direkt
gereizt wird, was in concreto freilich schwer zu beweisen
sein dürfte. So beobachteten wir kürzlich einen älteren
Paranoiker, der öfter dort exhibitionierte, wo die Bretter-
wand des Frauengartens an die Stacketwand des Männer-
gartens stiess und hier die Gelegenheit sich bot die
Frauen, welche den dort in der Ecke belegeneu Abort
aufsuchten, zu sehen. Wiederholt drückte er hierbei
seinen Penis durch das Stacket ^hindurch und forderte
eine ältere, total verwirrte Frau auf, denselben in die
Hand zu nehmen, was diese dann auch unter Streicheln
und Bewunderung des wohl geformten Organs tat!
So kamen Beide in sexueller Hinsicht mehr oder weniger
auf ihre Kosten.
Hubertusburg, Nov. 1902.
') Siehe meine 2. angezogene Arbeit.
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Chirurgische Überraschungen
auf dem Gebiete des Scheinzwittertums.
Kasuistik von 134 Beobachtungen mit 54 Fällen
irrtümlicher Geschlechtsbestimmung
größtenteils durch das Skalpell der Chirurgen erwiesen.
(Mit zahlreichen Abbildungen im Text.)
Mitgeteilt von
Dr. med. Franz Neugebauer.
Vorstand der gynäkologischen Abteilung des Evangelischen
Hospitals in Warschau.
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Es sei mir gestattet in diesem Jahrgange des Jahr-
buches der Frage des Scheinzwittertumes von einer rein
praktischen Seite näher zu treten. Es soll hier die
Kasuistik derjenigen Fälle synoptisch zusammengestellt
werden, wo der Chirurg in Beziehungen zu dem Pseudo-
hermaphroditismus trat. Der Leser wird überrascht sein
von der großen Anzahl von Fällen, wo das Skalpell des
Chirurgen eine „Erreur de sexe* feststellen durfte!
Doch abgesehen davon gibt es eine große Reihe von
Beobachtungen, wo bei richtiger Geschlechtsbestimmung
der Chirurg Gelegenheit hatte aus der oder jeuer Ur-
sache einzugreifen und zu höchst überraschenden und
lehrreichen Resultaten gelangte. Die im folgeuden zu-
sammengestellten Beobachtungen entstammen der bisher
von mir gesammelten Gesamtkasuistik von 910 Fällen
von Scheinzwittertum. Im Interesse der Leser des Jahr-
buches werde ich, soweit dies wichtig erscheint, bei den
einzelnen Beobachtungen auch dem psychosexuellem Em-
pfinden der einzelnen Individuen Rechnung tragen, so-
weit darüber Notizen vorliegen. Doch gehen wir gleich
in medias res vor. Ich beginne mit einer Reihe von
sogenannten Bruchoperationen bei männlichen Schein-
zwittern, welche irrtümlich als Mädchen getauft und als
solche erzogen worden waren, ja, einige dieser Individuen
waren bereits als Frauen verheiratet.
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— 208 —
Erste Gruppe.
38 Bruch-Leistenschnitte bei als Mädchen erzogenen
Individuen mit Feststellung: von Hoden als Bruchinhalt.
Ich muss hier bemerken, daß die Bezeichnung Bruch-
operation nicht für alle diese Fälle zutreffend ist, da in
manchen Fällen operirt wurde ohne auch nur einen Bruch
zu vermuten wie z. B. in einem Falle um eine angeblich
vereiterte Drüse aus der Leistengegend zu entfernen
— richtiger wäre es von Operationen mit Jnguinoscrotal-,
resp. Inguinolabial-Schnitt zu sprechen, also einfach ge-
sagt mit Leistenschnitt.
I) Alexander [Deutsche Medizinische Wochen-
schrift 1897 No.: 38 pg. 307 1 beschrieb folgende inte-
ressante Beobachtung aus der chirurgischen Abteilung des
Dr. Hahn im städtischen Allgemeinen Krankenhause am
Friedrichshain in Berlin: Am 8. Juni 1897 trat die
16jährige Klara D. wegen eines Leistenbruches in das
Hospital ein. Der Bruch war ein linksseitiger. Vor drei
Jahren hatte Dr. Erasmus bei ihr eine rechtsseitige
Bruchoperation vollzogen, beschrieben von Jordaeus.
Vor 8 Tagen wurde die Patientin während eines Spazier-
ganges plötzlich von starken Schmerzen in der linken
Leiste befallen, kurz darauf bemerkte sie selbst eine
Anschwellung, einen Bruch, der sich als irreponibel erwies.
Man diagnosticierte einen linksseitigen Leistenbruch mit
fraglichem Inhalte und verordnete zunächst Huhe. Da
sich hierbei das Befinden besserte, beschloss man, sich
abwartend zu verhalten. Sobald jedoch das Mädchen das
Bett verlassen hatte, trateu die heftigsten Schmerzen auf
und es wurde deshalb von Dr. Hahn die Herniotomie
vollzogen. Ein 5 Centiineter langer Bruchsack ver-
schmälerte sich nach oben zu gegen den Leistenkanal hin.
In dem jeder Flüssigkeit haaren Bruchsacke fanden sich
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in dessen oberer Hälfte ein eiförmiges Gebilde von
Kirschgröße und zwei kleinere rundliche Gebilde von
drüsenartigem Aussehen. Alle drei Körperchen hatten
eine glänzende Oberfläche, wiesen Verwachsungen mit
dem Bruchsacke auf und wurden entfernt. Die mikros-
kopische Untersuchung machte Professor Hansem ann;
Hoden und Nebenhoden konstatiert. Erst nach einem
so unerwarteten Operationsbefunde betrachtete man mit
grösserer Aufmerksamkeit die äußere Erscheinung des
Mädchens. Die Brüste sowie das subcutane Fettpolster
waren sehr schwach entwickelt, das Haupthaar in Zöpfen
angeordnet. Die Oberlippe wies etwas Bartanrlug auf, die
äußeren Schamteile waren absolut weiblich gebildet.
Möns Veneris schwach behaart, große und kleine
Schamlippen wenig ent wickelt im Verhältnis zur allgemeinen
Körpergröße. Clitoris 2 Cent, laug und b" MilL dick,
Präputium clitoridis verschieblich. Der Penis hvpo-
spadiaeus wies eine Lacuna Morgagnii von drei Milli-
meter Sondentiefe in der gespaltenen Harnröhre auf; unter-
halb der weiblichen Harnröhrenmündung lag der Introitus
vaginae von halbmondförmigem Hymen garniert. Fossa
navicularis und Frenulum labiorum normal weiblich
gebildet. Keine Spur von Uterus oder Tuben per rectum
getastet, ebensowenig eine Prostata.
Die Scheide endete in der Höhe von drei Zentimetern
blind. Becken nach Gestalt und Maaßen männlich. Nach
dem unerwarteten Ergebnis der mikroskopischen Unter-
suchung der exstirpierten Gebilde wurden nunmehr auch
die früher rechtsseitig von Erasmus entfernten Gebilde
untersucht und ergaben sich gleichfalls als Hoden und
Nebenhoden [siehe Jord actis: Inhalt einer Leisten-
hernie bei Mißbildung der Genitalien — Festschrift zur
Feier des ">< »-jährigen Bestehens der Gesellschaft
der Arzte des Regierungsbezirks Düsseldorf 18^5. 1
Damals existierte noch kein Leistenbruch linkerseits,
.Tiihrl.il h V. I i
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— 210 —
sondern nur der rechtsseitige. Man fand als Inhalt des
Bruchsackes den processus vaginalis peritonaei ohne flüssi-
gen Inhalt. In dem Bruchsacke lag ein birnförmiges
Gebilde von der Grotte einer welschen Nuß, weich von
Konsistenz und nicht mit dem Bruchsacke verwachsen.
Der Tumor hatte eine glänzende Oberfläche uud enthielt
zwei Gebilde von drüsigem Aussehen, die nach obeuzu
in eine Art gegen den Leistenkanal hin ziehenden Strang
übergingen. Da die Reposition nicht gelang, hatte man
diese Gebilde operativ entfernt. Linkerseits war neben
Hoden und Nebenhoden auch eine Samenblase ent-
fernt worden, rechterseits auch ein vas deferens. In
keinem der Hoden Spermatogenese nachgewiesen, also
atrophischer Zustand. Am 27. Juni 1895 war Klara D.
aus dem Hospitale entlassen worden, am 30. Januar 1800
trat sie wieder ein wegen Scheidenausflusses und schmerz-
hafter Anschwellung in beiden Leistengegenden. Die
Schmerzen waren die Folge eines Coitusversuches mit
einem Manne. Der Beischlaf kam nicht zu Stande wegen
Schmerzhaftigkeit, wohl aber acquirierte Klara D. einen
Tripper mit nachgewiesenen Diplokokken. Am 10.
Februar wurde Patientin nach längerer Kur entlassen.
Klara D. hatte weder jemals die Regel gehabt noch
irgendwelche Molimina, es handelte sich einfach um ver-
späteten Herabtritt der beiden Hoden. Die angeblichen
Leistenbrüche veranlagten die operative Entfernung der
Gebilde, die sich unter dem Mikroskope als Hoden und
Nebenhoden etc. erwiesen, also eine erreur de sexe
aufklärten. Zur Zeit der ersten Operation war Klara 13
Jahre alt, zur Zeit der zweiten 16.
2) Henry Avery (Philadelphia Med. and. Surg.
Reporter 1808 XIX. 8. pg. 144) entfernte bei einem 24-
jährigen aus Xeuschottland stammenden Mädchen, AnnyC.
auf dessen Verlangen hin und auf Grund einer Konsulta-
tion mit noch zwei anderen Aerzten einen Tumor aus
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— 211 —
einer Leistengegend. Der Tumor erwies sich als Hoden.
Allgemeinaussehen, Stimme und Brüste männlich. Die
Scheide endete in der Tiefe blind. Kein Uterus getastet.
Clitoris zwei und einen halben Cent. lang. Hypospadiasis
penoscrotalis mit einseitigem Kryptorchismus.
3) Brycholow [siehe: Garin: Wjestnik Obszczest-
wennoj Gigjeny, Ssudebnoj i Prakticzeskoj Mediciny
[Russisch] — T. XXIX. Kniga II. Februar 1896 — und
Protokoly Anthropologiczeskawo Obszczestwa 1894 No.: 1
pg. 29 No.: 207.J Die 14jährige Marie X. trat in das
Petersburger Marienspital ein wegen doppelseitigen Leisten-
bruches. Die operativ aus den beiden Brüchen entfernten
Gebilde erwiesen sich als Hoden. Beide hatten in den
Schamlefzen gelegen, waren also voll herabgestiegen.
Kein Uterus vorhanden, wohl aber neben den großen
auch kleine Schamlippen. Die Vulva sah absolut weib-
lich aus bis auf die infolge ihres Inhaltes strotzenden
Schamlefzen. Während der Operation konstatirte man
Erektionen des hypospadischen Penis; zur Zeit der
Operation noch keinerlei Geschlechtstrieb vorhanden nach
Aussage des Kindes.
4) Briuchano w [Ein Fall von Pseudohermaphroditis-
mus masculinus externus Bolnicznaja Gazeta Botkin'
a [Kußisch | Petersburg 1899 No.: 44.J Bei einem 14jährigen
Mädchen mit absolut normalem weiblichen Ausseheu der
Vulva wurde ein doppelseitiger Leistenbruch operiert:
die hierbei exstirpierten Gebilde erwiesen sich als Hoden :
„Erreur de sexe*. Ich weiß nicht anzugeben, ob diese
Beobachtung nicht etwa identisch ist mit der vorher-
gehenden, die Jahreszahlen 1894 und 1899 scheinen
dagegen zu sprechen.
5) Buchanau (in Glasgow) [Medical Times, 14
February 1885 siehe: Centralblatt für Gynäkologie
1885 pg. 40 1| beschrieb ein 9jähriges Mädchen von knaben-
haftem Aussehen. In der rechten Schamlefze tastete er
14*
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ein härtliches, durch einen Strang mit dem Leistenkanale
in Verbindung stehendes Gebilde; links der gleiche
Befund, nur der Leistenkanal etwas weiter klaffend.
Grotte und kleine Schamlippen, Clitoris und Hymen
normal, ßuchanan glaubte, es handle sich gleichwohl
nicht um ektopische Ovarien, sondern um Hoden und
zwar wegen des deutlich ausgesprochenen Cremasteren-
reflexes. Bei der Untersuchung sub narcosi fand der Finger
eine Vagina von normaler Länge, aber in ihrem Grunde
statt einer Vaginalportion eines Uterus ein sagittales
Septura, welches den Scheidengrund in zwei seitliche
Taschen teilte von je Fingerhutgröße. Jederseits vom
Scheideneingange fand Buchanan je eine feine Oeffuung.
Er sprach diese Oeffnungeu als Mündungen der Ductus
ejaculatorii resp. Vasa dcferentia an. In der Voraus-
setzung, die in den Schamlefzen liegenden Gebilde könnten
in Zukunft Ursache von Beschwerden werden, s«?ien sie
nun ektopische Ovarien oder Hoden, entfernte er sie
operativ. Die mikroskopische Untersuchung [siehe auch:
Pull mann] ergab, daß es die Hoden waren: man hatte
also das Kind, einen verkannten Jungen, kastriert.
<>) Chambers |Transactions of the Obsterical Society
of London 1859 eitirt von Munde1] beschrieb ein
24-jähriges Mädchen von weiblichem Allgemeinaussehen,
dessen Genitale ebenfalls einen weiblichen Aspectus bot,
jedoch war die Scheide in der Höhe von drei Ceutinietern
blind geschlossen und keine Spur von Uterus, Tuben
oder Ovarien zu tasten. Zwei in den Schamlefzen tast-
bare härtliche Gebilde wurden operativ entfernt und er-
gaben sich als Hoden. Ob Spermatogenese nachgewiesen
wurde, ist nicht erwähnt.
7) Clark |„A case of spurious hermaphroditisnie,
hypospadias and undescended testes in a subjeet, who
') Munilr : Centralbl. f. Gyn. 1887. N. 42. f. 671: Va-ina
blind endend.
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had been brought up as a female and had been married
for sexteen". — Lancet 1898. Vol. I pg. 616] beschrieb
eine 42-jährige Frau, welche vor 16 Jahren geheiratet
hatte und zur Zeit als Witwe in seine Behandlung
gekommen war. Die Vulva sah echt weiblich aus, die
geräumige Vagina war in der Tiefe blind geschlossen
und nichts von inneren Genitalien zu tasten. In jeder
Leistengegend eine Anschwellung; die linksseitige sehr
druckempfindlich bei der leisesten Berührung Mammae
weiblich, Areolae kaum ausgesprochen, Warzen atrophisch.
Kehlkopf vorstehend, männlich. Hände groß, Scham-
behaarung sehr spärlich, im Gesicht keine Spur männ-
licher Behaarung. Vom 12. Lebensjahre an sollen Blutungen
aus dem Genitale stattgehabt haben, anfangs unregelmäßig,
aber vom 25. bis 38. Jahre regelmäßig aller vier Wochen
je 24 Stunden andauernd. Die Frau hatte vor einigen
Tagen einen schweren Gegenstand aufgehoben und war
sofort von starken Schmerzen in den beiden Leisten
befallen worden, es waren plötzlich Leistenbrüche aus-
getreten. Clark glaubte, es handle sich um einen
Descensus retardatus testiculorum, wurde jedoch in dieser
Voraussetzung wieder schwankend angesichts der vonpder
Frau betonten regelmäßigen Blutausscheidungen aus dem
Genitale. Er wollte also eine solche Genitalblutung ab-
warten, die Menstruation: das Warten erwies sich jedoch
als vergeblich — , so schritt er denn zur beiderseitigen
Bruchoperation: es wurde jederseits ein Hoden nebst
Samenstrang entfernt, keine Spermatozoiden nachgewiesen.
Da die Scheide blind endete und keine Spur eines Uterus
zu tasten war, so kann man natürlich nicht anders als
mit Unglauben der Angabe der Frau bezüglich jener
regelmäßigen Genitalblutungen gegenübertreten, wie denn
in der Kasuistik des Scheinzwittertunis so mancher Fall
sich findet, wo von dem Individuum die Unwahrheit
ausgesagt wurde aus dem oder anderen Grunde. Die
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Frau hatte mit ihrem Manne stets im besten Einvernehmen
gelebt. Clark sah keine Veranlassung, dieser Person
Mitteilung von der konstatierten Erreur de sexe zu
machen, umsomehr als sie seiner Zeit Witwe war.
8) Green [„Hypospadias" Quarterly MedicalJournal
1898 Vol. I. pg. 169]. Ein 24jähriges Dienstmädchen
meldete sich mit der Frage, warum die Periode bei ihm
noch ausstehe? Die Untersuchung ergab Hypospadiasis
peniscrotalis eines männlichen Scheinzwitters mit je einem
Hoden in jeder Schamlefze. Trotz Konstatierung der
Erreur de sexe wollte das Mädchen absolut nichts von
einer Änderung seines bisherigen sozialen weiblichen Standes
wissen und verlangte durchaus die Entfernung der beiden
Hoden. Green folgte dem Wunsche des Mädchens, voll-
zog die Operation de complicite* und schrieb: „The
question now arrose, as to what should be done, as the
patient in mind and habit is more a woman than a man.
and is illegal for him to remain as he is in female attire,
„he expressed a desire to have the testicles removed and
continue a woman and it seems to me, that is the best
Solution of the difficulty". — Die mikroskopische Unter-
suchung ergab, daß normal funktionierende Hoden entfernt
worden waren. Nach Entlassung aus dem Hospital nahm
diese Person sehr bald wieder einen Dienst als Dienst-
mädchen an. Green hatte dieses Individuum kastriert
„at his own urgent request!"
9) G r i f f i t h [„ Hermaphroditismus transversus virilis"
Journal of Anatomy and Physiology. January 1894] be-
schrieb ein 23jähriges Individuum mit weiblichen Brüsten,
weiblichem Möns Veneris und blind endender Scheide.
Man tastete in der Beckenhöhle ein Gebilde, das man
für einen Uterus ansah mit zwei seitlichen Gebilden und
tastete auch zwei Gebilde in den Schamlefzen, die exstir-
piert, sich als Hoden erwiesen. Cremasterreflex beider-
seits ausgesprochen, aber keine Samenstränge getastet.
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— 215 —
10) Groß [MonthlyJourn.forMedical Sciences. Dezem-
ber 1852-Referat: Casper's Vierteljahrschrift 1853 III.
pg 208: „Ein Fall von Hermaphroditismus mitCastration*]
Osterlen gibt im III. Bande des von Maschka heraus-
gegebenen Handbuches der gerichtlichen Medicin (pg 83)
folgende Einzelheiten dieses Falles an: Ein dreijähriges
Kind, als Mädchen erzogen, verriet schon vom zweiten
Lebensjahre an knabenhafte Neigungen und Liebhabereien.
Statt einer Clitoris fand sich ein Penis, statt einer Scheide
eine seichte mit Schleimhaut ausgekleidete Grube ohne
irgend eine Öffnung in der Tiefe. Harnröhrenöffnung
normal weiblich, kleine Schamlippen kümmerlich gebildet,
jede Schamlefze enthielt ein härtliches Gebilde, einen wohl-
gestalteten Hoden. Groll fragte sich, ob es nicht richtig
sei, diese Gebilde zu entfernen, welche im geschlechtsreifen
Alter Geschlechtstriebe hervorrufen könnten und eventuell
eine Verheiratung herbeiführen, aus der nur Kummer
und Verdruß resultieren werde, ja sogar der Tod. Dem-
gemäß entfernte er im Einverständniß mit den Eltern
diese Gebilde, die Hoden und Samenstränge, am 20. Juli
1849 unter Assistenz zweier Kollegen. Diese Organe
erwiesen sich als normal gebildet. Von dem Moment der
Operation an soll das Kind sein Gebahren geändert haben
und fortan nur weibliche Neigungen aufgewiesen haben,
die auch nach zwei Jahren noch weibliche geblieben
waren. Das Kind macht mit Vorliebe weibliche Hand-
arbeiten, reitet nicht mehr auf dem Spazierstocke seines
Vaters und spielt nicht mehr mit Knaben. Osterlen
unterzog das Vorgehen des amerikanischen Kollegen unter
Paragraph 224 D. S. G. der österreichischen Gerichts-
ordnung — als „Beraubung der Zeugungsfähigkeit" des
deutschen Strafkodex und unter Paragraph 169, welcher
Gefängnisstrafe verlangt „für vorsätzliche Veränderung
oder Unterdrückung des Personenstandes eines Anderen".
— C asper verurteilt ebenso das Vorgehen von Groß,
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umsomehr, als jener gar nicht die Sicherheit haben konnte,
daß das Kind großjährig werden wird, ob eine Ehe
geschlossen und ob sie unglücklich ausfallen werde.
Weiterhin könne doch Groß nicht dafür einstehen, daß
diese Person, als Mädchen erzogen, sich nicht dereinst
mit einem Manne verloben und verheiraten werde. Diese
Worte schrieb Österlen im Jahre 1882, heute verfügt
die Kasuistik über eine große Reihe ähnlicher, eigentlich
unberechtigter Kastrationen, wie des Weiteren gezeigt
werden soll.
11) Hallopeau [»Androgyne* Gazette medicale de
Paris 1895 N:15 — siehe — Referat: Centralblatt für
Gynäkologie 1895 N:43 pg. 1125]: „Erreur de sexe".
Männlicher Scheinzwitter mit Hypospadiasis penoscrotalis>
irrtümlich als Mädchen erzogen. Die Scheide ließ einen
kleinen Finger eiu, zwei aus den Schamlefzen entfernte
Gebilde erwiesen sich als Hoden. Patientin verlangte,
nachdem ein Hoden entfernt worden war, auch die Ent-
fernung des anderen und daß man sie in einem weiblichen
Krankensaale unterbringe. Sowie das Referat lautet,
scheint man bereits vor der Operation die erreur de
sexe erkannt zu habeu (?) —
12) Heuck [siehe: H. Braun: „Ein Fall von Pseudo-
hermaphrodittsmus masculinus externus" — Aus dem
Mannheimer Krankenbause. Zeitschrift für Geburtshülfe
und Gynäkologie 1894 Bd. 28. pg. 375— 382J: Ein 28 jäh-
riges Dienstmädchen aus der Stadt Nipperg trat im Januar
1893 in das Hospital ein wegen Eiterung geschwollener
Halsdrüsen. In letzter Zeit hatten die Inguinaldrüsen
so an Volumen zugenommen, daß daraus Arbeitsbehinde-
rung resultierte. Man fand einen Leistenbruch und ver-
mutete Netz als Inhalt, Am 17. Februar vollzog Heuck
die Herniotomie rechterseits und fand in dem Bruche
Hoden und Nebenhoden. Da es nicht gelang diese Organe
in die Bauchhöhle zurückzudrängen [wozu denn?- - X.J,
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so wurden sie abgetragen. Bei der Operation hatte man
auch den Samenstrang gefunden. Linkerseits lag der
Hoden noch im Leistenkanale. Da die Extraktion aus
demselben nicht gelang, stieß Heuck den Hoden in die
Bauchhöhle hinein und vernähte die gesetzte Wunde.
Kurz darauf kamen jedoch die Beschwerden linkerseits
wieder. Heuck wiederholte linkerseits die Operation
und entfernte jetzt auch den linken Hoden. Nach Aus-
sage der Mutter der Patientin sollen beide Brüche bereits
im ersten Lebensjahre entstanden sein und zwar infolge
von Hustenanfällen. Dieses Mädchen hatte bereits mehrere
Male mit Männern kohabitiert, aber dabei niemals ein
angenehmes Gefühl empfunden. Niemals Menstruation
oder Tormina menstrualia. Allgemeinaussehen und ebenso
der Gesichtsausdruck weiblich. Langes weibliches Haupt-
haar, aber Kehlkopf und Stimme männlich. Mammae
mäßig entwickelt, Hände groß. Fast gar keine Scham-
behaarung vorhanden. Möns Veneris fettarm, die kärglich
entwickelten großen Schamlippen bedeckten nicht die
kleinen, Clitoris von normaler Größe, die Harnröhre öffnete
sich im Scheidenvorhofe. Keine Prostata zu tasten,
Hvmenalreste vorhanden, die Vagina läßt zwei Finger
zugleich 7 Centimeter tief ein und endet in der Tiefe
blind. Sehr deutlich tastete man ein Ligamentum vesicoum-
bilicale medium. Per rectum tastete man etwas wie eine
Duplikatur des Bauchfells jederseits von der Mittellinie.
Der rechte Hoden war 5 Cent, lang und zwei und einen
halben Cent, dick, der Nebenhoden anderthalb Cent, breit.
Der linke Hoden makroskopisch einem Ovarium ähnlich
war 5 Cent, lang und zwei Cent, breit, der Nebenhoden
zwei Cent lang. Vasa deferentia wurden nicht gefunden.
13) Jablonski [Un caso di ermafroditismo BBolletino
delle levatrice" 23 Maggio 1893 Anno. I Fascicolo 5 pg.
228]: Die 28jährige Anna Luise G. hatte eine weibliche
Erziehung erhalten. Im Alter von 10 Jahren erschien
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bei ihr männlicher Hartwuchs, die Periode aber wurde
vergeblich erwartet und kam überhaupt nicht. Die drei
Centimeter lange Clitoris wurde sub erectione 10 Cent,
lang (!) Die rechte Schamlefze enthielt ein hodeuartiges
Gebilde. Vor 8 Jahren hatte man linkerseits eine Hernio-
toinie vollzogen und nach Angabe der Patientin damals
eine Ovarialektopie konstatiert. Nach Ansicht von
Jablonski hatte man den Hoden für ein ektopisches
Ovarium angesehen, trotzdem bei der Operation die Ge-
schlechtsdrüse bloßgelegt worden war. Ob eine mikrosko-
pische Untersuchung der vor H Jahren in Brüssel ent-
fernten Geschlechtsdrüse seiner Zeit vorgenommen wurde,
ist nicht bekannt. Falls Jablonski wirklich einen Hoden
tastete, so dürfte wohl auch jenes ektopische Ovarium
einfach ein Hoden gewesen sein.
14. Dixon- Jones |„ Double inguinal Hernia in a
hermaphrodite* — Medical Record XXXVIII — 27.
XII. 1890 pg. 724): Die 27jährige Emma M. meldete
sich am 2. December 1888 wegen bisheriger Amenorrhoe
uud beiderseitigen Leistenbruches, beiderseits sehr stark
empfindlich. Weder jemals Tormina menstrualia noch
vicariirende Blutungen. Von 7 Schwestern der Patientin
sollen zwei ebenso wie sie mißgestaltet sein, bei einer der
Schwestern hatte Dr. Webber Maugel des Uterus und
Amenorrhoe konstatiert. Allgemeinaussehen, Stimme und
Brüste weiblich. Die Schamteile weiblich gebildet, aber
wie in der Entwicklung zurückgeblieben. Clitoris
kleiner als normal — !!!!!!! — Scheidenöffnung sehr
eng, Hymen vorhanden. Die Scheide endet in der Höhe
von zwei Zoll blind. Weder Uterus noch Tuben oder
Ovarien getastet per vaginam oder per rectum. Kleine
härtliche Gebilde in den beiden Schamlefzen wurden für
die ektopischen Ovarien angesehen; sie waren äußerst
druckempfindlich und ließen sich nicht in die Bauchhöhle
zurückdrängen. Sehmerzen in beiden Leistengegenden.
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— 219 —
Nach Einschnitt in die Schamlefzen fand man keine
Kommunikation der Bruchsäcke mit der Bauchhöhle.
Man fand nur jederseits je einen bindegewebigen Strang
von dem in der Schamlefze enthaltenen Gebilde nach dem
Leistenkanale zu verlaufend. Dixon fügte den Bauch-
schnitt hinzu, indem er in der Linea alba einschnitt, um
sich zu überzeugen, ob er bei Entfernung der in den
Schamlefzen enthaltenen Gebilde nicht Organe, welche
in der Bauchhöhle liegen, beschädigen würde, fand aber
in der Bauchhöhle auch nicht diejSpur von inneren weib-
lichen Genitalorganen, sondern nur jederseits einen Binde-
gewebsstrang vom Leistenkanal in die Beckentiefe
verlaufend. Er schloß also die Bauchwunde und exstirpierte
die in den Schamlefzen enthaltenen Gebilde, welche sich
als Hoden erwiesen. Das Becken war weiblich. D i x o u -
Jones vermutet gleich mir, daß in vielen Fällen von
Ovariocele wahrscheinlich Erreurde sexe bestehe, also
ein Hoden des männlichen Scheinzwitters, der irrtümlich
als Mädchen erzogen wurde, irrtümlich für ein ektopisches
Ovarium angesehen wurde. Ich habe die bisherige
Kasuistik angeblicher Ovarialektopie bereits gesammelt,
jedoch noch nicht die Zeit gefunden, dieselbe einer Kritik
zu unterwerfen, jedoch, was noch nicht geschehen ist,
wird geschehen, sobald es meine Zeit erlaubt. —
DixonJones vollzog in seinem Falle die Kastration,
nachdem er zuvor einen diagnostischen Leibschnitt dem
beiderseitigen Leistenschnitte hinzugefügt hatte, ähnlich
wie auch Snegirjow und Pe*an in je einem Falle.
15. Kociatk iewicz- Neugebauer: Dr. Kociat-
kiewicz bat mich für den 13. VII. 1897 zu einem
Konsilium betreffend ein junges Mädchen von 21 Jahren,
Josephine K. Das Mädchen hatte sich in Begleitung
seines Vaters und Bräutigams im Hospital gemeldet und
verlangte eine operative Entfernung der Gebilde, welche
in den Leisten vorhanden seien und ihm Schmerzen
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— 220 —
bereiten. Allgemeinaussehen weiblich, große, weibliche
Brüste, dabei hängend, weibliche Stimme, weibliche
allgemeine und Schambehaarung, weiblicherj Charakter
und weibliches geschlechtliches Empfinden.
Diese Beobachtung kommt auf Konstatierung einer
erreur desexe heraus, bei einem als Mädchen erzogenen
und mit einem Manne verlobten männlichen Scheinzwitter
von 21 Jahren — die Kastration durch Dr. Kociatkiewicz
vollzogen ergab normale Hoden mit normalem Sperma. —
Die Einzelheiten habe ich in meinem Aufsatze im vorigen
Jahrgang dieses Jahrbuches bereits veröffentlicht.
16. Lannelongue: [Siehe Fieux: „Anomalie du
(teveloppement des Organes genitaux" — Journal de
Me*decine de Bordeaux — 1871 — pg.502]. La nnelongue
vollzog eine Operation bei einem jungen Mädchen wegen
Schamlefzentumors, welchen er zunächst wegen vorhandener
Fluktuation für eine Cyste angesehen hatte: es lag auf
derselben Seite ein Leistenbruch vor. Zwischen der Cyste
und dem Bruchsacke fand sich sub operatione eine Gebilde,
das sich unter dem Mikroskop als Hoden erwies, also
„erreur de sexe*! Keine Spur eines Uterus getastet.
In dem Bruche fand sich auch ein Teil des Omentum
majus. — Die Operierte genas. Vulva normal, weiblich,
ebenso Brüste und Gesichtsausdruck. Niemals Regel,
Scheide in der Tiefe blindsackartig geschlossen. Bei Druck
auf die Gegenden, wo normal die Ovarien liegen, große
Empfindlichkeit.
17. Levy [.Ueber ein Mädchen mit Hoden und
über Pseudohermaphroditisinus* Hegaus Beiträge zur
Geburtshülfe und Gynäkologie. Leipzig 1901 Bd. IV.
Heft III pg. 317 — 360] beschreibt zwei Beobachtungen
von Scheinzwittertum aus der Tübinger Klinik, eine davon
betrifft eine von Döderlein an einem Mädchen aus-
geführte Castration — es wurden die Hoden entfernt
durch Leistenschnitt. Die 19jährige Näherin Ch. L.
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221 -
trat in die Klinik ein wegen Beschwerden, welche her-
vorgerufen wurden durch von ihr bemerkte Tumoren.
Bis jetzt hatte Patientin weder jemals die Regel noch
auch Tonnina menstrualia gehabt. Als sie 15 und ein
halbes Jahr alt war, bemerkte sie zum ersten Male in der
rechten Leistenbeuge ein Knötchen von Kirschengrösse,
welches damals noch keine Schmerzen veranlasste. In den
letzten zwei Jahren jedoch wurde dieser Knoten immer
mehr schmerzhaft, gleichzeitig bemerkte Patientin ein
ebensolches Gebilde in der anderen Leiste. Endlich wurde
Patientin infolge dieser steten Schmerzen arbeitsunfähig,
sie hatte früher in einer Druckerei gearbeitet, später als
Näherin. Ein von ihr konsultierter Arzt hatte ihr eine
Salbe zum Einreiben verschrieben, zugleich aber ihr die
Weisung gegeben, sie solle niemanden etwas davon sagen,
„dali sie solche Dinger im Leibe habe!" Der All-
gemeinzustand der Patientin wurde in der Folge immer
schlimmer, Erbrechen trat hinzu, sehr hartnäckige Ver-
stopfung etc., endlich gestand die Tochter der Mutter
ihr Leiden ein und die letztere veranlasste die Auf-
nahme in die Tübinger Klinik behufs Entfernung jener
schmerzhaften Gebilde in den Leisten. Das Mädchen ist
von großem Wuchs, 168 Centimeter, aber so abgemagert,
dal) es nur 84 Pfund wiegt. Knochen und Muskelsystem
schwach entwickelt, zart, Haupthaar lang, keine Spur von
männlicher Gesichtsbehaarung, Kehlkopf vorspringend,
männlich, Brüste gut entwickelt, Becken weiblich wie
das Höntgenskiagramm erwies. Jederseits in der Leisten-
gegend ein walzenförmiges elastisches Gebilde, verschieblich
vom Leistenkanal zur grossen Sehamlefze herabreichend.
Diese Gebilde machen den Eindruck von Hoden und
Nebenhoden; die linksseitigen Gebilde sind grösser als
die rechtsseitigen. Schambehaarung weiblich, grosse und
kleine Schamlippen existieren. Die linke grosse Scham-
lippe ist 11 Centimeter lang, die rechte nur b\ Das linke
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— 222 —
labiura pudendi majus, pigmentirt, macht wegen seiner
runzeligen Oberfläche mehr den Eindruck einer Scrotal-
hälfte. Die Gebilde in den Leistengegenden lassen sich
aber nicht in die Bauchhöhle hineindrängen. Frenulum
labiorum vorhanden. Die kirschengrosse Clitoris erinnert
an einen penis fissus rudimentarius. Harnröhrenöffnung
weiblich, unterhalb die Öffnung der Vagina von einem
Hymenalsaume umgeben. Die rudimentäre Vagina
läßt eine Sonde vier Zentimeter tief eindringen. Per rectum
tastete man selbst unter Narkose weder einen Uterus
noch dessen Anhänge. Döderlein vermutete männliches
Scheinzwittertum und entfernte wegen deren Schmerzhaf-
tigkeit die in den Leistengegenden liegenden Gebilde am
13. Januar 1901 mit dem Ligamentum Poupartii parallel
verlaufenden Hautschnitten von je 5 Centimeter Länge.
Nach Durchschneidung der Hautdecken und der Fascie,
der Mm. obliqui externi abdominis, eröffnete das Messer
jederseits eine Höhle, die nicht mit der Bauchhöhle
kommunicierte, die Höhle der Tunica vaginalis. Man
fand jederseits Hoden uud Nebenhoden und Vas deferens.
Der Samenstrang wurde unterhalb der Oeffnung des
Leistenkanals jederseits durchtrennt und der Stumpf in
den Leistenkanal in der Wunde versenkt unter Vernähung
mit dem Muskelrande, die Hautdecken wurden darüber
geschlossen. Prima reunio vulnerum. Die Kranke, ein
kastrierter männlicher Scheinzwitter, irrtümlich als Mädchen
erzogen, verließ nach einem Monate, von ihren Beschwer-
den befreit, die Klinik, um nunmehr als Mädchen weiter zu
gelten. Der linke Hoden war 6 Centimeter lang und 2
breit, anderthalb dick, der rechtsseitige Hoden etwas
kleiner. Auf dem Durchschnitte typischer Hodenbau
sichtbar; man fand aber in der ausgepressten Flüssig-
keit keine Spermazoiden aber Wucherung des interstitiellen
Gewebes an einen rudimentären Hoden erinnernd. Man
fand ferner Spermatogonien, Spermatocyten, cylindrisches
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— 223 —
Epithel des Sanienausführungsganges etc. Nirgends eine
Spur von Ovarialgewebe in den exstirpierten Gebilden,
deren Schnitte von Professor Heiden haiu geprüft wurden.
Die Maße der einzelnen Knochen mit der Tabelle von
Rauber verglichen, ergaben männliche Knochenmaße. Die
Geschlechtsdrüsen und die Maße der Knochen waren in
diesem Falle männlich, alle sekundären Geschlechts-
charaktere aber weiblich mit Ausnahme des Kehlkopfes
und der Stimme. Der Charakter war weiblich, sympatisch.
Die Beschwerden waren oftenbar die Folgen eines ver-
späteten Descensus testiculorum. Soweit eine Ejakulation
möglich war, hätte dieses Individuum eventuell ein weib-
liches Individuum befruchten können.
18) August Martin [siehe: Kochenburger:
„Ein Fall von H ermaph roditismus transversus
vir i Iis* Zeitschrift für Geburtshülfe und Gynäkologie.
Vol. XXVI. pg. 73 und Zentralblatt für Gynäkologie
1892 pg 9S3J operierte eine 33jährige, seit 10 Jahren
verheiratete Frau, welche ihn wegen Schmerzen in den
Leistengegenden konsultiert hatte. Die Schmerzen waren
zunächst linkerseits aufgetreten und zwar im Anschluß
an einen Fall im 12. Lebensjahre. Niemals Regel, nur
ein einziges Mal im 25. Lebensjahre eine kleine Blutung.
Coitus stets schmerzhaft und ohne die geringste Annehm-
lichkeit für die Patientin. Allgemeinaussehen ganz weib-
lich. Clitoris normal, Vagina 5 Cent, lang, blindsack-
förmig endend. Per rectum tastete man ein elastisches
Gebilde von Haselnußgröße, welches aber in keiner Ver-
bindung mit der Vagina zu stehen schien. In jeder
Schamlefze lag ein sehr druckempfindliches Gebilde.
Martin sah diese Gebilde für ektopische Ovarien an
und entfernte sie operativ mit jederseitigem Leistenschnitte
am 24. September 1892. Das Mikroskop erst erwies,
daß er unbewußt Hoden entfernt hatte, daß also diese
verheiratete Frau ein männlicher Scheinzwitter war. Keine
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— 224 -
Spermatogenese konstatiert in den herausgeschnittenen
Hoden.
Martin glaubte auch nach der Operation zunächst
ektopische Ovarien exstirpiert zu haben und zwar
follikelhaltige, ja, er glaubte sogar an einer Stelle ein
corpus luteum gesehen zu haben; erst das Mikroskop
wies nach, daß sowohl die klinische Präsurnptivdiagnose
falsch war als auch die makroskopische Beurteilung des
anatomischen Charakters der exstirpierten Geschlechts-
drüsen.
19) A. Martin |siehe: Anton Hengge: „Pseudo-
hermaphroditismus und secundäre Geschlechtscharaktere,
ferner drei neue Beobachtungen von Pseudohermaphro-
ditismus beim Menschen"] operirte die 19jährige Martha
W., Hausmädchen dem Berufe nach. Die Eltern hatten
(3 Kinder, von denen die vier mittleren normal gebildet
waren, zwei Töchter aber, die älteste jetzt 32 Jahre alt,
und die jüngste jetzt 19 Jahre alt, mißgestaltet. Der Vater
starb an Starrkrampf. In der Familie bisher keinerlei
Mißbildungen verzeichnet. Von den drei Schwestern
sind drei verheiratet und haben Kinder, ein Bruder,
verheiratet hat ebenfalls Nachkommenschaft. Martha VV.
ist von sehr hohem Wüchse (178 Centimeter) und wurde
von der Krankenkasse am 28. I. 1902 in die Greifs walder
Klinik gesandt. Seit dem 14. Lebensjahre hatte sie alle
4 Wochen 1 Tag Kopfschmerzen, Schwindel, Brechreiz
und bis Oktober 1901 bei diesen Anfällen regelmäßig
etwas Nasenbluten. Seit vier Monaten treten diese Anfälle
alle 8 Tage auf und sind so sehr quälend, daß Martha
nicht mehr arbeitsfähig war. Das Nasenbluten hat sich
seit vier Monaten verloren. Niemals menstruelle Blutung.
Patientin hat keine andere Krankheit bisher durchgemacht
als Bleichsucht im 15. Jahre.
Das Gesicht rötet sich auffallend leicht. Mammae
gut entwickelt, aber hängend. Wenig Fettgewebe, aber
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— 225 —
viel Drüseugewebe darin. Auffallend ist, daß die Be-
haarung des Möns Veneris und in den Achselhöhlen nur
aus wenigen blonden Haaren besteht. Die Besichtigung
der äußeren Genitalien erinnert
an das Bild einer doppelseitigen
Leistenhernie, wobei die rechts-
seitige etwas größer ist als die
linksseitige, sonst ist die Bildung
der Schani eine echt weibliche.
Möns Veneris fettarm, Clitoris
absolut nicht vergrößert, ihre
Glans kaum etwas entblößt. Die
Vulv aerscheint geschlossen, die
kleinen Schamlippen enden nach
unten zu an dem auffallend
kurzen Damm. Das rechte
Labium majus erscheint als
hühnereigroßer Wulst, in dem
man einen pflaumengroßen
elastischen ovalen Körper tastet,
dem von untenher ein zweites
festeres Gebilde von Kastanien-
größe anhaftet: von diesen Ge-
bilden, die gleich gut nach oben
und nach unten zu verschieblich
sind, zieht ein etwa zwei Milli-
meter dicker , Strang in den
Leistenkanal hinauf. Das linke
Labium majus kleiner, nicht so „.
.. ... . „ Fi£. 1. 19 lahnges Mädchen,
vorgewölbt, linkerseits findet 8ub iierni0tomia als männ-
sich dicht unterhalb der Mün- licher Scheinzwitter erkannt,
dung des Leistenkanales ein
wenig unter der Haut verschiebliches, unebenes Gebilde
von der Größe einer welschen Xuß. Auch hier läßt sich
ein gegen den Leistenkanal hin verlaufender Strang tasten,
Jahrbuch V. lä
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— 22«) —
wenn mau diese Gebilde etwas nach unten horabdräugt.
Die beiden Gebilde rechts und links sind mäßig druck-
empfindlich. Vestibulum vaginae normal, sowie auch die
Urethralmündung, Hymen und die Vaginalöffnung;
Hymen nicht eingerissen, aber deflorirt; die Scheide lätft
zwei Finger zugleich ein und ist in der Höhe von einigen
Fig. 2. ÄuUore Genitalien oines 1<J jiibr. als Mädchen erzogenen
männlichen Schein/, witters. Beobachtung von A. Martin.
Centimetern blind geschlossen ; man fühlt im Scheidengrundu
etwas wie eine Art querverlaufender Raphe. Mündungen
von Vasa deferentia nicht aufzufinden. Per rectum tastet
man sub narcosi nur einen Strang von der Dicke eines
dünnen Bleistiftes, etwa zwei Zentimeter über dem
Scheidengrunde. | Siehe Fig. 1 u. 2.]
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— 227 —
Nach diesem merkwürdigen Befunde wurde auch
die allere Schwester untersucht: 32 Jahre alt und seit
9 Jahren kinderlos verheiratet und niemals menstruirt.
Allgemeinaussehen und Entwickelung der Geschlechts-
organe fast genau so wie bei der jüngeren Schwester.
Kräftiger Knochenbau; Körperhöhe 169 Zentimeter;
schlechter Ernährungszustand. Im rechten Labium majus
Gebilde getastet, die sich genau wie Hode und Neben-
hode präsentieren, links liegt ein Gebilde vor der Oeff-
n ung des Leistenkanales, ist aber kleiner als das entsprechende
bei der jüngeren Schwester und läßt sich iu den Leisten-
kanal hineinschieben. Scheide in der Höhe blind geschlossen ;
im Scheidengrunde etwas wie eine schräg verlaufene Raphe
zu tasten; keine inneren Geschlechtsorgane tastbar. Die
ältere Schwester klagt nur ab und zu über Kopfschmerzen
und Schwindel, ist sonst ganz gesund. Sie übt den
Beischlaf nicht gerade oft, aber regelmäßig aus und
eigentlich mehr dem Manne zu Gefallen als um des eigenen
Vergnügens willen, doch empfindet auch sie manchmal
dabei Befriedigung und sexuelle Wollust. Irgend welche
Sekretausscheidungen niemals bemerkt. Wegen andau-
ernder Allgemeinbeschwerden und großer lokaler Schmerz-
empfindlichkeit der in den Labien enthaltenen Ge-
bilde entfernte A. Martin dieselben operativ bei
der jüngeren Schwester. Nach Längsspaltung des rechten
Labium entfernte er dessen Inhalt nach Unterbin-
dung und Durchschneidung jenes Stranges unterhalb
des Leistenkanales: Etagennaht der Wunde: prima reunio;
ähnlich war die Operation linkerseits. Die entfernten
Gebilde erwiesen sich unter dem Mikroskop als Hoden
und Nebenhoden, es wurde aber keine Spermatogenese
konstatiert. Diese Organe waren atrophisch. Linkerseits
fand sich eine Cyste im Kopfe des Nebenhodens, sein
Schwanz war fibrös entartet. Am 21. II. wurde Martha W.
geheilt entlassen. Während des Aufenthaltes in der
15*
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— 228 —
Klinik traten die Wallungeu nach dem Kopfe noch
wiederholt auf, dagegen stellten sich die sonstigen
Allgemeinbeschwerden nicht mehr ein. Rechterseits fand
man am Präparate auch ein Stück eines Yas deferens.
Ks ergab sich also, daß Martha W. ein männlicher
Scheinzwitter war; per analogiam wurde auch die ältere
verheiratete Schwester jetzt für einen männlichen Schein-
zwitter angesehen; sie wurde nicht operiert, da keine
Beschwerden entsprechender Art vorlagen. Trotz Gegen-
wart von Hoden waren alle secundären Geschlecht «-
charaktere bei beiden Schwestern rein weibliche, auch
die Stimme war weiblich, es fehlte jede Spur männlicher
Gesichtsbehaarung. Beide hielten sich für Frauen und
hatten keinen ausgesprochenen Begattungstrieb und wohl
auch kein normales Wollustgefühl, doch ließ sich bei der
älteren Schwester durch Reibung der Clitoris Wollust-
gefühl wecken; die jüngere Schwester machte dabei
unregelmäßige Angaben, zeigte aber ein gut ausgeprägtes
Schamgefühl. Eigentümlich sind bei der jüngeren Schwester
die allmonatlich auftretenden speeifisch weiblichen Be-
schwerden: Kopfschmerz, Schwindel, Wallungen. Heugge
erklärt sich diese Beschwerden als auf suggestivem Wege
entstanden. Martha lebte mit einer vier Jahre älteren
noch unverheirateten Schwester längere Zeit ständig
zusammen. Jene Schwester litt au Dysmenorrhoe und
klagte dabei alle vier Wochen über starke Molimina,
Unterleibsschmerzen etc. Die jüngere Schwester erwartete,
sie werde auch die Regel bekommen und fing an ähnliche
Tormina zu empfinden, indem ihre Gedanken ständig
darauf gerichtet waren, daß die Periode endlich kommen
werde. Mir erscheint diese suggestive Deutung etwas
gewagt: weil die ältere Schwester dysmenorrhoische
Beschwerden angab, die jüngere Schwester stets Zeugin
dieser Leiden war, soll sie selbst ähnliche Beschwerden
empfunden haben ! 1 1 e n gge macht unter anderen folgende
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— 229 —
Schlußfolgerung: »Die operative Entfernung der Ge-
schlechtsdrüsen bei Scheinzwittern ist nur dann statthaft,
wenn durch dieselben starke Beschwerden verursacht
werden und zugleich eine volle geschlechtliche Funktion
dieser Drüsen durch den Mangel der entsprechenden
Begattungsorgane unmöglich gemacht wird." — In dem
Aufsatze von Hengge fehlt eine Angabe, die mich
interessieren würde. Ich wünschte zu wissen, ob Professor
Mart in zur Operation schritt mit der Überzeugung, daß
jene Körperchen Hoden seien oder ob man an ektopische
Ovarien gedacht hatte, ob die Diagnose der erreur
de sexe schon vor der Operation gestellt war, oder erst
nach der Operation, bez. nach der mikroskopischen Unter-
suchung der entfernten Gebilde?
20) Cristopher Mar t in [The British Gynaecological
Journal. Part. 37. May 1894. pg 35j trug am 8. III. 1894
in der Britischen Gynäkologischen Gesellschaft einen Fall
vor, welcher beweist, wie ungemein schwierig unter Um-
ständen eine richtige Geschleohtsbestimmung sein kann.
Ein 20 jähriges Kindermädchen, niemals menstruiert, hatte
sich vor 12 Monaten wegen rechtsseitigen Leistenbruches
einer Radikaloperation unterzogen. Die Operation war
mit bestem Erfolge von einem anderen Arzte gemacht
worden. Jener Arzt fand in dem Bruche ein Gebilde,
welches er für ein ektopisches Ovarium ansah und in
die Bauchhöhle zurückstieß. Im Januar 1894 war nun
auch linkerseits ein Leistenbruch entstanden. Diesmal kam
die Patientin nicht zu dem früheren Arzte, sondern zu
C h r i st o p h e r Martin und zwar sowohl wegen Schmerzen
in der Leiste als auch beunruhigt durch die bisherige
Amenorrhoe. Gesichtsausdruck, Stimme und Brüste weib-
lich, auch das Allgemeinaussehen weiblich, keine Spur
männlicher Behaarung im Gesichte. Möns Veneris aus-
gesprochen, aber ohne Spur von Behaarung, ebenso die
ganze Schamgegend unbehaart. In der rechten Leisten-
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— 230 —
gegend sieht man eine postoperative Narbe ohne Spur.
Reeidiv eines Bruches. Linkerseits in der Leistengegend
ein ovaler nicht sehr harter sehr druckempfindlicher
Tumor. Dieser Tumor lag direkt vor der äußeren Öffnung
des Leistenkanales, war irreponibel und schien ein solider
Tumor zu sein. Das äußere Genitale dieser Person sah
genau aus wie dasjenige einer Nullipara, Große und
kleine Schamlippen regelrecht gebildet, Clitoris von natür-
licher Größe, keineswegs einem Penis ähnlich! Harnröhren-
Öffnung weiblich. Die Scheide ließ nur eine Fingerkuppe
ein, indem sie in der Höhe von dreiviertel Zoll blind
abschloß. Keine Spur von Uterus zu tasten. Harnröhre
anderthalb Zoll lang, ohne Spur einer Prostata. Zwischen
Finger und Katheter in Vesica tastete man keinerlei Ge-
bilde, die als Uterus oder Prostata gedeutet werden
kounten. Martin entschloß sich zur Exstirpation des
Leistentumors wegen der großen durch seine Gegenwart
verursachten Schmerzen. Der Leistenschnitt wurde ge-
macht; man fand einen serösen Sack, der ein solides Ge-
bilde enthielt, einen ovalen Körper, man fand den Hoden
mit seiner Tuuica vaginalis testis. Ein deutlich sichtbares
Gubernaculum Hunteri verlor sich unterhalb in den
Geweben der Schamlefze. Nach Isolierung entfernte
Martin den Hoden. Der durch den Leistenkanal in
die Bauchhöhle eingeführte Finger tastete in derselben
keine Spur eines Uterus, konnte aber den Verlauf eines
Vas deferens bis an die Seiten wand der Harnblase ver-
folgen. Dieser Verlauf ließ sich leicht kontrollieren, wenn
man den Samenstrang etwas nach außen zu anzog. Die
Operation wurde radikal vollzogen, die äußere Wunde
vernäht. Genesung. Professor Allan fand bei mikro-
skopischer Untersuchung in den entfernten Gebilden den
Hoden, Nebenhoden und Samenstrang, die Tunica vaginalis
testis und Tunica albuginea, Samenkanälchen von ver-
schiedenen Entwickelungsgraden und in einigen Tubuli
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— 231 -
vollständig ausgebildete Spermatozoiden. Interessant war
besonders, daß eine ältere Schwester dieses Mädchens
sich gleichfalls als männlicher Hypospade erwies mit Hypo-
spadiasis penoscrotalis, descensus retardatus testiculorum,
rudimentärer Scheide bei allgemeinem weiblichem Körper-
aussehen, kindlich gebildeten Brüsten und absoluter
Amenorrhoe, völlig unbehaarten Genitalien und blind
endender Scheide. Diese Schwester war zwei Jahre älter.
Der Vater dieser beiden Mädchen war zur Zeit der
Schwängerungen seiner Frau geisteskrank . . Die von
Christopher Martin vollzogene Operation wies also
eine „erreur de sexe" nach und ist diese Beobachtung
besonders dadurch interessant, daß der Arzt, welcher die
erste Bruchoperation hier vollzogen hatte, sogar nach
Bloßlegung des Hodens ihn doch noch für ein ektopisches
Ovariura gehalten hatte, welches er in die Bauchhöhle
zurückstieß. — Ein Fall, der wie aus meinem heutigen
Beitrage ersichtlich ist, durchaus nicht einzig dasteht
und zur größten Zurückhaltung in der sofortigen Be-
urteilung des anatomischen Charakters der exstirpierten
Gebilde sub operatione auffordert!
|Paul Munde* hatte in einem eigenen Falle der
Köchin Marie O' Xeill eine diagnostische Incision
der Schamlefzen vorgeschlagen um festzustellen, ob die
in ihnen getasteten fremden Gebilde Ovarien oder Hoden
seien, indem er Hoden vermutete. Patientin ging jedoch
auf diese Operation nicht ein. Sie war niemals menstruiert
gewesen, und hatte einen beiderseitigen Leistenbruch.
Nach Reduction eines jeden Bruches tastete man jederseits
Hoden, Nebenhoden und Samenstrang. Hymen intakt*
Scheide in der Höhe von 8 Zentimeter blind geschlossen,
keine Spur von Uterus getastet. — Vulva normal, Clitoris
nicht vergrößert.]
21) Pech („Auswahl einiger seltener und lehrreicher
Fälle, beobachtet in der chirurgischen Klinik der chirurg.-
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— 232 —
med. Akademie zu Dresden* — Dresden 1858) Maria
Rosina Göttlich, der spätere Gottlieb Göttlich,
machte seiner Zeit in ganz Europa viel Aufsehen und
wurde deshalb vielfach beschrieben. Da ich im vorigen
Jahrgange dieses Jahrbuches die bezügliche Krauken-
geschichte in extenso berichtet habe, führe ich hier nur
die heute in Frage kommenden Einzelheiten an. Maria
Rosina wurde am 6. März 1798 in Görlitz geboren und
als Mädchen getauft. Bereits im 6. Lebensjahre fand man
einen Leistenbruch von der Größe einer Nuß rechterseits.
Das Kind vertrug ein ihm verordnetes Bruchband absolut
nicht und riß es stets wieder herab, sodaß die Mutter
statt desselben eine Leinenbinde anfertigte. Im IG. Jahre
war der Bruch hühnereigroß geworden, gleichzeitig hatte
sich schon damals ein stark ausgesprochener Geschlechts-
trieb eingestellt und zwar als Neigung zum Geschlechts-
verkehr mit Männern. Vom 16. — 18. Jahre nahmen die
Brüste ganz bedeutend an Umfang zu, später trat wieder
Schwund ein. Rosina kohabitierte schon im IG. Jahre
lebhaft mit Männern, wobei die allmälig bedeutend
erweiterte Harnröhre die Stelle der fehlenden Scheide
vertrat. Gleichzeitig rühmte sich das Mädchen, daß es
sowohl mit Männern als auch mit Frauen kohabitieren
könne, ziehe es jedoch vor mit Männern zu tun zu haben,
weil es Frauen gegenüber für sie beschämend sei, ein so
kleines „ Organ " zu haben. Im 20. Lebensjahre entstand
ein Leistenbruch links. Für den rechtsseitigen Bruch
empfahl abermals ein Arzt ein Bruchband. Vom 16. — 24.
Jahre hatte Rosine alle Monate etwa drei Tage lange
diverse Beschwerden nach Art der Tormina meustrualia,
allgemeines Mißbehagen, empfand jedoch während dieser
Zeit keinerlei Schmerzen in den Leistenbrüchen, ebenso-
wenig schwollen in jenen Tage die Brüche an, woraus
man vielleicht auf ektopische Ovarien hätte schließen
können. Niemals war die Periode eingetreten, wohl
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233 —
aber öfters Nasenbluten. Rosine huldigte viele Janre
lang der freien Liebe und erkrankte im 28. Jahre an
einem Ulcus molle; eine große Narbe hinterblieb nach
einem eröffneten Bubo inguinalis. Damals will Rosine
zum ersten Male Blutspuren auf ihrer Wäsche nach einem
Beischlafe mit einem Manne bemerkt haben. Der links-
seitige Bruch begann vom 28. Jahre an sich so zu ver-
größern, daß er im 32. Jahre beinahe zweifaustgroß war.
Rosine diente damals als Dienstmädchen, hatte aber
jetzt so starke Bruchbeschwerden, daß sie den Dienst
aufgeben und in das Hospital eintreten mußte. Man
vollzog in Dresden linkerseits die Bruchoperation, fand
jedoch weder Netz noch Darm im Bruche vor, sondern
nur eine Hydrocele und konstatierte dabei das Vorhanden-
sein eines Hodens in dem vermeintlichen Bruche, also
„erreur de sexe*. Rosine verlangte nun durchaus
die Ausführung der Operation recht erseits: die Aerzte
verweigerten jedoch diese Operation, weil keine Indikation
dazu vorliege. Rosine nahm nun ihren Dienst wieder
auf und ergab sich auch von Neuem wieder der Prosti-
tution. Im 33. Jahre trat sie wegen Verstauchung eines
Beines abermals iu das Dresdener Hospital ein und
machte jetzt hier eine autisyphilitische Kur durch, später
ging sie in ein Hospital nach Leipzig, endlich nach Halle
mit der Bitte, man solle den rechtsseitigen Bruch operieren,
wurde aber Uberall abgewiesen. Von 1832 bis 1848 reiste
nun Rosine in Frankreich, Deutschland und England
umher und zeigte sich für Geld als Hermaphrodit bis
sie schließlich im 59. Jahre infolge Einklemmung des
nicht operierten rechtsseitigen Bruches starb. Das Allge-
meinaussehen dieses männlichen Hypospaden war ein rein
männliches, auch die Gesichtsbehaarung, nur war das
Haupthaar weiblich gekämmt Andromastie mit behaarten
Biustwarzen, der hypospadische Penis war anderthalb
Zoll lang, mit faltiger, gerunzelter Vorhaut. In der linken
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— 234 —
Hälfte des gespaltenen Scrotum fand man bei der Sektion
Hoden, Nebenhoden und Samenstrang, rechterseits die
gleichen Gebilde, ferner einerseits einen Leistenbruch
mit Darminhalt. Hodensack sehr spärlich behaart. Die
Scheide, an der Mündung von einem harten Ringe umgeben,
endete in der Höhe von sechs und einem halben Centi-
raeter blind. Nur auf der hinteren Scheiden wand fand
man Querfaltung ihrer Schleimhaut, auf der vorderen
aber nicht. Pubes weiblich behaart; es scheint, daß für
den Beischlaf ausschließlich die Harnröhre gedient hat,
vielleicht war das als Vagina angesprochene Gebilde eine
durch langjährigen Beischlaf künstlich geschaffene kanal-
artige Depression, Einstülpung der Gewebe, wie dies in
analogen Fällen schon öfters beobachtet wurde. In den
verschiedenen Beschreibungen der Rosine, des späteren
Gottlieb Göttlich, finden sich so viele Widersprüche,
daß es schwer ist zu sagen, was der Wahrheit am nächsten
kam. Der rechte Hoden war bei dem krvptorchistisch
geborenen Individuum im 6. Jahre herabgetreten, der
linke im 20. erst. Nach Eröffnung der Bauchhöhle fand
man nichts von Uterus, inneren weiblichen Genitalien,
sondern nur eine leere Excavatio rectovesicalis. Man fand
auch keine Samenblasen; die ektatischen Vasa deferentia
öffneten sich in die klaffenden Ductus ejaculatorii (?— N.).
Marie Rosine hatte wie gesagt einen sehr früh schon
aufgetretenen und sehr stark ausgesprochenen Geschlechts-
drang. Trotzdem sie Erektionen und Ejakulationen hatte,
verkehrte sie viel lieber geschlechtlich mit Männern als
mit Frauen. Das geschlechtliche Empfinden war also
homosexuell. {Bezüglich Einzelheiten und Abbildung
siehe nieinen Aufsatz in vorigem Jahrgange dieses
Jahrbuches: Gruppe VI Fall 21 und Figur 40 daselbst.]
22) Philip pi [Note sur uu cas d'Hermaphrodisme
apparent, ectopie testiculaire, castration double — Union
Medicale du Canadu. Montreal 189-t No. 4G — Referat:
Digitized by Google
— 235 —
Zentralblatt für Gynäkologie 1894 No. 47 pg. 1212]. Ein
2^-jähriges nie raenstruiertes Mädchen wandte sich an
Philippi wegen Schmerzen im Leibe und den Leisten.
Schon vor 10 Jahren hatte Patientin einen Tumor in der
rechten Leiste bemerkt, welcher ihr zeitweilig Beschwerden
gemacht hatte und an Grösse und Konsistenz sehr wech-
selte. Gewöhnlich war der Tumor weich, stellten sich
aber Schmerzen ein, so fühlte er sich hart an. Gleich-
zeitig wurde dann ein Gefühl von schmerzhaftem Zuge
in der Leiste empfunden. Vor einigen Monaten war nun ein
ähnlicher aber kleinerer Tumor auch linkerseits erschienen.
Diesen Tumor konnte Patientin eigenhändig nach oben zu
reponieren, beim Gehen fiel er aber sofort vor in die linke
Schamlefze. Seit drei Jahren hatten die Schamlefzen sich
stark vergrössert und strahlten die Schmerzen auch in
den Schenkel und die Hüfte aus. Selbst im Bett hatte
die Kranke keine Linderung und konnte nicht schlafen. Es
kamen allgemeine nervöse Reizbarkeit, Erbrechen etc. hinzu.
Allgemeinaussehen, Brüste und Stimme weiblich,
aber Körperbau sehr kräftig. Die grossen Schamlefzen,
gut entwickelt, sind in ihrer unteren Hälfte in der Aus-
dehnung von 8 Centimern miteinander verwachsen, sodaß
der Damm ganz auffallend lang erscheint, dabei 5 Centi-
meter breit. Die kleinen Schamlippen sind nur in ihrer
unteren Hälfte entwickelt, die Clitoris ausnehmend groß.
Die Schamöftnung ist so eng, daß sie knapp den kleinen
Finger eintreten läßt und zwar nicht tiefer als 3 Centi-
meter weit. Die Hamröhrenöffnung erscheint verborgen
unterhalb einer Schleimhautfalte in dem Vestibulum
vaginae. Von einem Uterus war nichts zu tasten, die
in der Höhe blindsackartig abgeschlossene Scheide weist
keine Faltung ihrer Schleimhautwände auf. Der in der
linken Schamlefze enthaltene Tumor läßt sich in den
Leistenkanal hinein und in die Bauchhöhle reponieren,
er bestand aus einer oberen elastischen und einer unteren
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— 236 —
weichen Partie. Dämpfung bei Perkussion. Der rechts-
seitige gänseeigroße Tumor läßt sich bis auf den Boden
der Schamlefze herunterdrücken, er erscheint elastisch
und wie durch eine Einschnürungsfalte in zwei Teile
zerlegt, sehr druckempfindlich bei Berührung und nicht
reponibel. Philipp! entfernte zunächst den rechtsseitigen
Tumor: der dicke Bruchsack wurde reseciert. Der kleine
Tumor war von einer hufeisenförmigen durchsichtigen
( 1yste bedeckt von oben her, sein Stiel war dick. Schon nach
einem Monate kehrte die Patientin zu Philippi zurück
und verlangte nunmehr auch die Entfernung der links-
seitigen Geschwulst, welche ihr jetzt auch lästig falle.
P. fand bei der Operation einen Tumor von der gleichen
Größe wie rechterseits durch eine Art Einschnürung wie
zweigeteilt; die obere Hälfte entsprach dem Nebenhoden,
die untere dem Hoden mit dessen Tunica albuginea.
Auf dem Querschnitt des Präparates sieht man den Bau
des Hodens. Das Mikroskop bestätigte diese Erkenntnis,
wenn auch keine Spermatozoiden gefunden wurden. Es
handelte sich also hier um Hypospadie des Penis, teil-
weise Spaltung der Scrotum, Vorhandensein einer rudi-
mentär gebildeten Vagina, und |Descensus retardatus
testiculorum, bei allgemeinem weiblichen Aussehen und
weiblichen secundären Geschlechtscharakteren, wo das
Individuum an und für sich auch nicht den leisesten
Verdacht einer „Erreurdesexe* weckte. Erst das Er-
gebnis der Operation stellte die „Erreur de sexe" fest.
23) Charles T. Poore [siehe : F. S. M a t h e w s :
„A male Pseudo- Hermaphrodite" -The Medical Uecord
27. Mai 1809 pg. 704] operierte im Januar 1902 ein
zwölf jähriges Mädchen und entfernte eine angeblich ent-
zündete Leistendrüse. Dieselbe lag linkerseits dicht vor
der äußeren Otfnung des Leistenkanales. Im Jahre 1899,
also nach sieben Jahren, wurde diese damals exstirpierte
Drüse von Mathews mikroskopisch untersucht und jetzt
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— 237 —
in der Ärztlichen Gesellschaft demonstriert. Die Unter-
suchung ergab, daß diese Drüse ein Hoden war. Nicht
ohne große Schwierigkeiten gelang es Mathews, dieses
Mädchen jetzt aufzusuchen und die Genehmigung zu einer
Untersuchung zu erlangen.
Die äußeren Genitalien sahen absolut wie die nor-
malen Geschlechtsteile eines Ii) jährigen Mädchens aus,
es fand sich aber keine Spur von Behaarung der Geschlechts-
teile, eben so wenig fand sich im Gesicht männliche Be-
haarung. Scheide einen und ein Viertel Zoll lang. Keine
Spur von Uterus oder Prostata zu tasten; der rechtsseitige
Hoden wurde nicht gefunden, dürfte also wohl in der
Bauchhöhle liegen. Hvpospadiasis penoscrotalis mit ein-
seitigem Kryptorchismus.
24) Porro |siehe D ebi err e: „L'Hermaphrodisme."
Paris 1891 pg. 94) vollzog in einem Falle zweifelhaften
Geschlechtes bei einem jungen Mädchen von 22 Jahren
eine diagnostische Operation. Allgemeinaussehen absolut
weiblich, ebenso das Aussehen der Scham bis auf zwei
in den Schamlefzen enthaltene Gebilde, welche hart waren
und dicht unterhalb der äußeren Öffnungen der Leisten-
kanäle lagen. Porro schnitt jede Schamlefze auf und
legte Hoden und Nebenhoden bloß. Nach zwei Wochen
verließ das bisherige Fräulein hochbeglückt von dem
Ergebnis dieser Operation in männlichen Kleidern dieKlinik.
25) Pozzi |„Sur un Pseudo-hermaphrodite androgy-
uoide: Pretendue femme ayant de chaijue cot«' un testi-
cle, un epididyme (ou trompe*?) kystitjue et une corne
uterine rudimentaire , ä gauche formant hernie dans le
canal inguinal. Cure radicale, examen microscopique",
Acadämie de Mddecine, 28. Juillet 189«», — Annales
des maladies des organes gonito-urinaires. Jan vier 1897
Xo. 1. pg. <V2 — 74. | Das Eigentümliche dieser Beobach-
tung liegt darin, daß das Allgemeinaussehen der Person,
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- 238 —
die secundären Geschlechtscharaktere durchweg weiblich
waren, aber ebenso das Aussehen' der Vulva undfzwar
ohne die sonst bei männlichen Scheinzwittern mit peno-
scrotaler Hypospadie so auffallende Disproportion zwischen
der übergrossen Clitoris bei sonst in Miniatur angelegter
Fig. 3. Vulva des von S. Fozzi operierten SS jährigen männlichen
Scheinzwitters Marie C. ohne Spur von GUtorishypertrophie | Nymphen
vorhanden |.
Vulva. In diesem Falle konnte niemand männliches
Geschlecht auch nur vermuten, erst das Mikroskop brachte
Klarheit in die Frage. Die SB-jährige Stubenmagd
Marie C. war als drittes Kind ihrer Kitern geboren
worden. Als die Mutter sich im dritten Monate der
Schwangerschaft befand, erschrak sie einmal sehr, als
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— 239 —
sie zufällig davon Zeuge war, „qu' un homme fut ecrasc".
Von jenem Schreck an war sie ständig krank. Ein Bruder
von Marie C. leidet an infantiler Paralvsis, sonst ergab
die Anamnese bezüglich der Familie nichts von Belang.
Marie C. war bisher niemals ernstlich krank gewesen,
im zweiten Lebensjahre mußte sie ein linksseitiges Leisten-
bruchband tragen. Vom 12. Jahre an oft Nasenbluten,
zuweilen mehrmals an einem Tage, einmal sogar 12-malig
innerhalb 24 Stun- y
den; diese Blutun-
gen wiederholten
sich niemals länger
als zwei Tage nach
der Reihe, sie wie-
derholten sich aber
allmonatlich in ge-
wissen Zeitabstän-
den. Diese Blutun-
gen wurden begleitet
von Schmerzen in
der Lendengegend,
dem Unterleibe und
den Beinen, dem Ge-
fühl von Hitze,
Atemnot und Kopf-
schmerz. In dem-
selben Jahre traten
die Erscheinungen der erreichten Geschlechtsreife auf,
die Behaarung des Möns Veneris und Stimmbruch.
Im 14. Jahre trat einmal während jener praemen-
strualen Beschwerden ein dreimaliger Anfall von Som-
nambulismus ein mit nächtlichem Herumspazieren im
Hause. Die Nasenblutungen samt dem gesamten Komplex
der Geleiterscheinungen dauerten bis zum 22. Jahre.
In diesem Jahre erkrankte Marie C. an fieberhaftem
c
Fig. 4. Linkes Uterushorn und Hoden (sub
herniotoraia entfernt) der 33 jähr. Marie C.
T = Testikel, U = Uterushorn, C = Stumpf,
V, V — Tunica vaginalis.
Ansicht von hinten.
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— 240 —
poharticulärem Gelenkrheumatismus aber ohne Komplika-
tionen von Seiten des Herzens. Im 30. Jahre stellte sich
ein Rückfall dieses Leidens ein mit Schmerzen in Bauch
und Lenden.
Vom Januar 1895 bis Juni wiederholten sich 3 — 4 mal
Blutungen aus dem Mastdarme bei Verstopfung. Obwohl
die Xasenblutungen seit dem 22. Jahre sich ganz verloren
hatten, so litt Marie C. doch alle Monate an Lenden-
schmerzen, Gefühl von Hitze im Unterleibe. Im 22. Jahre
wurde sie zum ersten Male untersucht und zwar wegen
der Amenorrhoe und jenen periodisch sich wiederholenden
Fig. ~>. Linkes Uterushorn und Hoden (Fall S. Pozzi).
Ansicht von vorn.
Kongestionserscheinungeu. Damals erklärte ein Arzt,
Marie sei ein geschlechtsloses Wesen ! Marie C. ging
infolge dessen zu Dr. Siredey, welcher den Mangel
eines Uterus konstatierte. Schon im 15. Jahre hatte
Marie bemerkt, daß sich in ihrer linken Leiste eine
Geschwulst von Hühnereigröße befinde, es war dies eiu
mobiler Leistenbruch, reponibel. Im 23. Jahre trat ein
ebensolcher Tumor rechterseits in der Leiste auf. Von
Zeit zu Zeit wurden beide Brüche schmerzhaft und zwar
nur für 2 — 3 Tage und zwar nur wahrend der obenge-
nannten Kongestionserscheinungen. Die Brüche setzten
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— 241 —
M arie so zu, daß sie dieselben durchaus loswerden
wollte. Sie ging im Januar 1895 zu Dr. Landrieux
um sich untersuchen zu lassen zwar, weil ein junger
Mann um sie angehalten hatte. Sie wollte wissen, ob sie
heiraten könne, da ihr jemand gesagt habe, sie müsse
ihren Freier von ihrem Zustande in Kenntnis setzen.
Landrieux riet ihr in das Hospital einzutreten: Am
6. Juni 1895 wurde sie hier untersucht von Beaussenat,
Boncour und später von Pozzi. Körperhöhe mittelgroß,
Körperbau kräftig, langes weibliches Haupthaar, leichter
Anflug männlicher Gesiclitabehaarung, Kinn behaart, Hals
kurz, Kehlkopf nicht hervortretend, Brustumfang über
die Mammae gemessen 94 Centimeter, ober und unter-
halb 69 Centimeter. Mammae groß, gut entwickelt mit
Drüsensubstanz, Becken breit, weiblich, Linea alba unbe-
haart, Atmungstypus männlich, abdominal. Stimme und
Konturen der Extremitäten weiblich. Scharabehaarung
äußerst dürftig, kaum hier und da einige blonde Härchen
auf dem Möns Veneris und den Schamlefzen. Perineal-
gegend gänzlich unbehaart. Die sehr große linke Scham-
lefze bedeckt teilweise die kleinere rechte und enthält
ein frei verschiebliches taubeneigroßes Gebilde, elastisch
und einem Hoden ähnlich anzufühlen, von diesem Gebilde
zieht eine Art Strang nach unten herab zu dem Boden
der Schamlefze. Ein Strang zieht auch nach oben hin
gegen den Leistenkanal und weist an einer Stelle eine
druckschmerzhafte Verbreiterung auf; der erweiterte
Leistenkanal läßt zwei Finger zugleich ein, das elastische
Gebilde läßt sich leicht in den Leistenkanal hineindrängen,
der Strang jedoch nicht. Diese Hernie verschwindet
spontan niemals, wohl aber tritt sie beim Husten tiefer
herab und enthält keinen Darm. Kechterseits tritt beim
Husten ein Bruch hervor, reponibel, aber niemals spontan
verschwindend. Der rechtsseitige Bruch ist ein beginnen-
der und leicht zu reponieren.
Jahrtuch V. 10
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— 242 —
Die Schamteile sehen aus, wie bei einem Mädchen
vor erreichter Geschlechtsreife. Von der Clitoris maß
man2Centimeterbiszur Urcthralmündung, von daanderthalb
bis zum Frenulum labioruin, von da bis zum After 3 Centi-
meter. Große Schamlefzen wenig prominent, die rechte bildet
einen kaum erhabeuen Hautwulst, die Bedeckungen der
linken Schamlefze gerunzelt, eriunern an ein Scrotum
eines Knaben. Kleine Schamlippen atrophisch, anderthalb
Centimeter hoch, nur in der oberen Hälfte der Schamspalte
sichtbar, sehen aus wie am unteren Ende abgeschnitten.
Hymen annularis mit Spuren von Einrissen nach einem
Stuprationsversuch (im 8. Lebensjahre), Harnröhrenöffnung
normal weiblich, oberhalb die „bandelette masculine"
•
von Pozzi, welche aber kaum im unteren Drittel des
Vestibulum ausgesprochen ist und nicht die Clitoris
erreicht. Die Clitoris äußerst klein, ragt nicht aus ihrem
Präputium hervor. In Lumen des Hymens sieht man
die Falten der Columnae rugarum der Scheiden wand.
Die Scheidenuntersuchung sehr erschwert durch Enge
und Empfindlichkeit; ein Speculum konnte nicht ange-
wendet werden. Die Scheide dürfte in der Tiefe blind
abgeschloßen sein, nichts von einem Uterus getastet.
Die Patientin hat normale Verstandesentwickelung und
hat eine gute elementare Erziehung erhalten. Bis jetzt
hatte sich noch niemals Geschlechtsgefühl bei ihr gemeldet
und mit Ausnahme jenes Stuprationsversuches im 8.
Lebensjahre war sie nie mit männlichen Genitalien in
Berührung gekommen. Peyrot diagnosticierte eiue beider-
seitige Hernie der Uterusadnexa bei mangelndem Uterus
und vollzog am 19. VI. die Radikaloperation. Linker-
seits fand er am Niveau des Leistenkanales eine hühnerei-
große Cyste mit Flüssigkeit gefüllt, welche durch eine
Art Stiel mit einem drüsigen Gebilde zusammenhing, das
er für ein Ovarium ansah. Dieses drüsige Gebilde
wiederum lag einem Körperchen von Haselnußgröße an,
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— 243 —
welches er für einen rudimentären Uterus ansehen
wollte: die Cyste faßte er als Hydrosalpinx auf. Nach
Resektion dieser Cyste schob er die anderen Gebilde,
welche er für Uterus und Ovarium angesehen hatte, in
die ßauchhöhle zurück! Den Leistenkanal vernähte er.
Rechterseits fand er ebenfalls eine cystische Bildung,
welche einer graugefärbten Masse anlag, die er für den
anderen Eierstock hielt. Da keine Kommunikation mit
der Bauchhöhle vorlag und jene beiden Gebilde in einem
extraperitonealen Sacke zu liegen schienen, so trug er
sie mit dem Messer ab nach Unterbindung einer Art
Stieles. Leistenkanal geschlossen. Die Schmerzen ver-
schwanden nach der Operation und Patientin schien
geheilt
Im Februar 1896 kam es jedoch linkerseits zu einem
Recidiv und trat abermals ein linksseitiger Leistenbruch
hervor unter der Narbe. Der Tumor senkte sich nach unten
herab und wurde beim Gehen hinderlich. In horizontaler
Rückenlage läßt sich der Tumor in die Bauchhöhle
reponieren, jedoch auch weiter nach unten herabdrängen
bis in die Schamlefze. Seit der Operation begann
Patientin eine vorher nie beraerkteLibido sexualis
zu empfinden und hatte oft psychische Emotionen, welche
mit Tränen und Traurigkeitsgefühl endeten, und zwar
traten solche Stimmungen auf ohne die geringste äußere
Veranlaßung. Der Geschlechtstrieb war auf Männer
gerichtet, nicht auf Frauen! Pozzi glaubte, es handle
sich um ein Recidiv der Hernie von Uterus und Ovarium
und machte am 6. V. 1896 die Radikaloperation. Er
fand einen aus zwei Anteilen bestehenden Tumor: Ein
längliches weißliches Gebilde von drüsigem Aussehen
[Hoden oder Eierstock?] und dicht an der inneren und
hinteren Fläche dieses Gebildes eine harte dreieckige
Masse. Eine Art Vaginalis umhüllte das Ganze und man
konnte leicht mit dem Finger eine Art Stiel unterscheiden.
10*
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— 244 —
Nach dieser Operation nahm die Melancholie der Patientin
noch bedeutend zu, sodaß die Patientin jetzt fast ständig
weinte. Die mikroskopische Untersuchung sowohl der
jetzt durch Pozzi als auch der früher durch Peyrot ent-
fernten Gebilde wies eine erreur de sexe nach: männ-
liches Geschlecht der Marie C: sie war ein Androgynoid
mit Uterus bicornis; ein Horn desselben lag neben dem
Hoden in der Hernie (siehe Abbildungen Fig. 3, 4, 5.)
Pozzi machte folgende Schlußfolgerungen: 1. Die
Entwickelungsanomalie sollte eine Folge der durch den
Schreck veranlaßten psychischen Erregung der schwangeren
Mutter sein. 2. Das Eintreten der Geschlechtsreife soll
sich bei Marie C. durch 10 Jahre lang sich periodisch
wiederholendes Nasenbluten verraten haben, heute nach
Aufhören der Epistaxis treten doch noch die früher jenes
Nasenbluten begleitenden anderen Symptomenkomplexe
auf. Diese Symptome sollen abhängig sein von der
anomalen Entwicklung der Mülle r'schen Gänge [rudi-
mentärer Uterus, Vagina |. 3. Marie C. empfindet trotz
Gegenwart von Hoden weiblichen Geschlechtsdrang.
4. Dieser Geschlechtsdrang ist erst erwacht nach operativer
Entfernung des rechten Hodens, eine schwer zu erklärende
Erscheinung. Leichter ist die Veränderung des Charakters
zu verstehen, die ,nach der vollständigen Kastration
eintrat, welche dieses Individuum noch mehr einem weib-
lichen ähnlich machte. Es ist dies ein Phänomen, wie
man es öfters bei Männern und Tieren beobachtete nach
Entfernung der Hoden. Die Kastration dieses Individuum
schuf solche Verhältnisse, daß es heute nicht gerecht-
fertigt wäre, eine Kectitikation der Metrik im Standesamte
zu verlangen: dieses Individuum gleicht heute mehr einer
Frau, an welcher man einer Castratio uteroovarialis vor-
genommen hat, als einem männlichen Scheinzwitter.
5. Die männlichen Scheinzwitter-Hypospadiäen — Andro-
gynoides — besitzen keine Spermatozoiden, sind also nich
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— 245 —
zur Befruchtung einer Frau fähig. — Ein Trugschluß,
da die Fähigkeit zur Schwängerung in erster Linie von
dem Entwicklungsgrade der Hoden abhängt, zweitens
von dem Vorhandensein oder Nichtvorhandensein der
zugehörigen Eraissionswege für das Sperma. Gibt es
doch zahlreiche Fälle von Schwängerung gerade durch
einen solchen männlichen Scheinzwitter und auch einen
Fall wo diese Zwitterbildung sich vom Vater auf den
Sohn vererbte, welchen ich im vorigen Jahrgange dieses
Jahrbuches wiedergegeben habe. J Kall von Traxler.]
Irrtümlich ist ferner auch die Angabe Pozzi's, es
seien hier zum ersten Male die bei einem Scheinzwitter
operativ entfernten Geschlechtsdrüsen zur mikroskopischen
Untersuchung gelangt. Die mikroskopischen Untersu-
chungen wurden von Dr. L a 1 1 e u x gemacht. Marie C.
war also ein männlicher Scheinzwitter par er reu r de
s exe als Mädchen auferzogen mit weiblichen Brüsten
weiblichem Allgemein aussehen, einer weiblichem Scham,
Molimina menstrualia, einem Uterus bicornis und weib-
lichem geschlechtlichem Empfinden. Die beigefügten drei
Abbildungen entstammen der Originalbeschreibung Po z z i 's.
Zwei von diesen Abbildungen stellen den Uterus rudi-
mentarius nebst Hoden und Tunica vaginalis vor und
zwar die Ansicht des postoperativen Präparates von
vorn und von hinten. Es lag ein Uterus bicornis vor
mit inguinolabialer Ektopie der beiden Uterushörner und
descensus retardatus testiculorum. Der anatomische
Charakter der seinerzeit von Peyrot entfernten Cyste
blieb zweifelhaft, ich möchte am ersten vermuten, datf es
sich um eine Cvste des Parovarium handelte oder um
eine Cvste des Nebenhodens. Die Testikel waren atro-
phisch, ohne nachweisbare Spermatogenese. In dem von
Pozzi amputierteu Uterushorne fand man keine uterine
Schleimhaut.
26) Sa eng er [siehe Kutz: „Uber einen Fall von
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Psoudohermaphroditismus masculiuus mit Feststellung
des Geschlechtes durch Exstirpation eines Leistenhodens
Zentralblatt für Gynaekologie 1898 No. 165 pg. 389]:
Ein 23jähriges Dienstmädchen wurde Sa enger aus der
Poliklinik überwiesen: erstens wegen absoluter Amenorrhoe,
zweitens weil alle vier Wochen einige Tage lang an-
dauernde Schmerzen im Unterleibe, den Leisten und den
Brüsten sich regelmäßig wiederholten. Diese Schmerzen
sind in letzter Zeit so stark geworden, daß Patientin ihre
Arbeitsfähigkeit einbüßte. Allgemeiner Typus weiblich,
Gesichtsfarbe gesund, Wangen gerötet, das Haupthaar
in Zopfe geflochten. Die Brüste wenig entwickelt, aber
weiblich. Achselhöhlen reich behaart. Schamgegend und
Perianalgegend spärlich behaart. Hymen intakt, mit enger
Öffnung, Scheide geräumig, in der Höhe blind geschlossen.
Kein Uterus per rectum getastet. In der rechten Leisten-
gegend ein ovaler, glatter, harter Körper, verschieblich,
hühnereigroß, sehr druckempfindlich und nicht nach der
Bauchhöhle zu reponibel. Es wurde eine rechtsseitige
inguinolabiale Hernie des rechten Ovarium diagnosticiert.
In der linken Leiste fand Sänger ebenfalls eine Hernie,
welche ein weiches reponibles Gebilde enthielt, in der
Tiefe eine härtere Masse. Der rechtsseitige Leistenbruch
soll in frühem Kindesalter aufgetreten sein, der links-
seitige aber erst nach Beendigung der Schule. Angesichts
der Schmerzhaftigkeit der rechtsseitigen Hernie führte
Sänger die Herniotomie aus, indem er darauf rechnete
es werde vielleicht gelingen das ektopische Ovarium
zu reponieren und dann den Bruchsack ganz zu schließen.
Bei der Operation zeigte sich, daß der Bruchsack nichts
Anderes war, als der Processus vaginalis peritonaei, die
tnnica vaginalis testis communis; das für ein Ovarium
angesehene Gebilde war ein Hoden. Sänger entfernte
den Hoden samt dem rudimentären Nebenhoden und Vas
defereus und schloß die Operationswunde in toto. Dann
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schritt er zu der linksseitigen Herniotomie und fand dort
in dem Bruche nur ein Harnblasendivertikel, wie der
Katheter nachwies. Hernia extraperitonealis vesicae uri-
nariae. Man fand weder eine Öffnung, welche nach der
Bauchhöhle zu kommunizierte, noch eine Geschlechtsdrüse
in dieser Hernie. Der entfernte rechte Hoden enthielt ein
kleines Fibroadenom, hart und von der Größe einer Hasel-
nuß. Wahrscheinlich liegt der linke Hoden noch in der
Bauchhöhle. Über das geschlechtliche Empfinden dieses
Individuums ist leider in dem Bericht ebensowenig etwas
gesagt^wie in den'meisten anderen, es heißt nur von der
Hymenalöffnung, sie sei dehnbar gewesen aber ohne Einrisse.
27) Sänger [siehe Schu 1 1 ze - V e 1 1 i ngh a u sen :
„Ein eigentümlicher Fall von Pseudohermaphroditismus
masculinus" Zentralblatt für Gynäkologie 1898 No. 51,
pg. 1377 — 2385]. Eine 32-jährige Lehrerin, welche nie
menstruiert war, aber alle 3 — 4 Wochen regelmäßig an
Unterleibsschmerzen litt, meldete sich bei meinem leider
zu früh verstorbenen Freunde unvergeßlichen Andenkens,
Professor Sänger.' Im 18. Lebensjahre hatte sie zum
ersten Male einen Tumor in der linken Leistengegend
bemerkt, der in der Folge allmählich sich vergrößerte.
Ein damals konsultierter Arzt sagte ihr, der Tumor sei
angeboren und enthalte die Gebärmutter. Die Kranke
konstatierte selbst, daß der Tumor im Laufe der letzten
5 Jahre um einige Zentimeter an Umfang zugenommen
hatte und verlangte jetzt dessen Entfernung, weil der
Tumor ihr beim Gehen hinderlich sei. Allgemeinaussehen
und Becken weiblich, keine Spur von männlicher
Behaarung, Brüste klein aber weiblich. Der linksseitige
Leistenbruch ist irreponibel und reicht nach unten zu bis
in die linke Schamlefze herab, der Bruchinhalt ist elastisch,
aber wenig verschieblich. Gesichtsausdruck weiblich ohne
irgend ein männliches Charakteristikum. Die äußeren Scham-
teile sind normal weiblich, aber die Schambehaarung sehr
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— 248 —
spärlicli. Die Scheide nur 7 — 8 Zentimeter tief, schließt
in der Höhe blind. Ks wurde weder ein Uterus noch
eine Spur von Adnexa getastet. Sänger glaubte zunächst
auf Grund seiner Untersuchung, der in hernia liegende
Körper sei ein Hoden, es liege also eine erreur de sexe
1 2
7 6 5
Fig. ti. Operativ sub horniotomia von Sänger gewonnenes Präparat.
Ansicht von vorn.
1 = Uteri», 2 = Hoden, 3 = Tube, 4 = Cysto, ö = Lig. latum,
6 — Amputationsstumpftlächo des Uterus, 7 = Bruchsack.
vor, er glaubte, jenes Gebilde in der Hernie sei ein Hoden
von einer Hvdrocele umgeben. Am lÖ. VII. 1898 voll-
/<»ir er die Herniotomie, in dem Bruchsacke fand er einen
ovalen Körper von Gänseeigröße, von glänzender gelblicher
Google
— 249 —
Oberfläche, cystisch entartet. Das untere Ende dieses
Körpers war von einem Gebilde umgeben, welches als
eine Tube erkannt wurde mit sichtbarem peripheren Ende
3 2 1 7
5 6
Fig. 7. Dasselbe Präparat von hinten gesehen.
1 — Uterus, 2 = Hoden, 3 = Peripheres Tubenende, 4 = Cyste,
5 = Lig. latuni, 6 = Amnutationsstuuiptnache des Uterus,
7 = Bruchsack.
und Fimbrien. Der ßruchinhalt bestand aus jener cysti-
schen Bildung und einem härtlichen Gebilde einem klein-
fingerlangem Uterus in Verbindung mit einer Tube.
Zwischen dem Fundus uteri und jener cystischen Bildung
- 250 —
lag noch eine härtliche Masse von unbestimmter Natur
[vielleicht eiue Geschlechtsdrüse?] Das Lumen des Leisten-
kanales erwies sich durch einen secundären Entzündungs-
prozeß obliteriert, sodaß es nicht gelang einen Finger in
die Bauchhöhle einzuführen. Der Bruchinhalt wurde mit
Resection des Bruchsackes entfernt, die Wunde in toto
geschlossen. Der Stiel der entfernten Gebilde retrahierte
sich etwas in den Leistenkanal, wurde aber wieder heraus-
geholt und in der Leistenkanalmündung eingenäht. Nach
zwei Wochen verließ Patientin geheilt von ihren Be-
schwerden das Hospital. [Siehe Fig. 0 u. 7j.
An dem Präparate fand man das amputierte obere
Uterusende 5,5 Centimeter lang, 2 Centimeter breit. Die
rechte Tube hatte 6 und einen halben Centimeter Länge
und wies kein Lumen auf am peripheren Ende. In
Mesosalpinge lag die vorerwähnte Cyste, linkerseits vom
Uterus faud man keine Tube; das ligamentum latum si-
nistrum'war rudimentär. Der amputierte Uterus besaß
kein Lumen. In der Struktur des Uterus konnten glatte
Muskelfasern, Bindegewebe und Blutgefäße nachgewiesen
werden. In den äußeren Schichten der Uteruswand
fanden sich Längsfasern muskulöser Natur, in den inneren
Schichten schräg verlaufende Muskeln. Das Ligamentum
latum enthielt glatte, muskulöse Längsfasern und lockeres
Bindegewebe. Die Tube erschien wie ein flachgedrückter
Strang, aber von normalem Bau ihrer Wände. Die Tube
besaß ein Lumen und war ausgekleidet mit dicht ge-
drängtem cylindrischem Epithel. Die Cyste erwies sich
als subserös, das Peritoneum konnte man in Falten ab-
heben. Die innere Cystenauskleidung bestand aus'fibril-
lärem Bindegewebe mit zahlreichen Gefäßen^ und ein-
schichtigem Epithel ohne Spur von Flimmerepithel.
Trotzdem es nicht gelang, auch nur eine Spur von einem
Epoophoron oder Paroophoron zu konstatieren, so han-
delte es sich doch sicher um eine Cyste, entstanden aus
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— 251 —
Resten der Urniere, angesichts des analogen Baues der
Parovarialcysten. Nirgends fand man eine Spur von
Struktur, welche an den Eierstock erinnerte. Der Körper,
welcher zwischen Uterus und jener Cyste lag, wies auf
dem Durchschnitte überall den mikroskopischen Bau
eines Hodens auf, trotzdem man nirgends eine Sperma-
togenese nachweisen konnte.
Man fand keine Spur von einem Vas deferens, von
einer Samenblase, einer Prostata etc. Es handelt sich
also um einen mäunlichen Scheinzwitter par erreur^de
s e x e als Mädchen erzogen, mit hoher Entwickelung des
Weber'schen Organes, der Müll er'schen Gänge, Uterus,
Tuben und Vagina und weiblicher Bildung der äußeren
Geschlechtsorgane. Trotz Gegenwart des Hodens resp.
der Hoden vollzog sich die Entwickelung der äußeren
Geschlechtsteile nach weiblichem Typus. In der recht-
seitigen Leistengegend wurden keinerlei Gebilde getastet,
es scheint-also, daß rechterseits bisher Krytorchismus vor-
liegt. Sänger fugt der Beschreibung die Bemerkung
hinzu: Als er dieses Individuum zum ersten Mal ansah,
so hielt er es für einen Mann trotz weiblicher Stimme
und langen Haupthaares und Maugels männlicher Ge-
sichtsbehaarung, als er während der Operation in hernia
einen Uterus fand samt Tube und jener Cyste, so glaubte
er, er habe sich geirrt und die Person sei doch weiblichen
Geschlechtes, erst die mikroskopische Untersuchung wies
nach, daß Sängers erste Vermutung richtig war, daß
tatsächlich eineErreur de sexe vorlag. Wenn irgend
ein Fall aus unserer Kusuistik, so ist besonders dieser
zweite Fall von Sänger lehrreich und muß zu 'ganz
besonderer Vorsicht in der Diagnose auffordern, sowohl
vor einer eventuellen Operation als auch während einer
solchen und auch nachher. Das Mikroskop allein kann
in zweifelhaften Fällen Aufklärung geben und leider auch
dieses nicht immer, denn bei rudimentärer Entwickelung
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252 —
der Geschlechtsdrüsen wird uns hin und wieder auch
das Mikroskop die Antwort auf die Frage nach dem Ge-
schlechte schuldig bleiben, ebenso bei maligner Entartung
oder Teratom der Geschlechtsdrüse, das mehrmals kon-
statiert wurde.
28) Shattock: [Histological characters of testicle
reraoved in the Radical eure of hernia „British Medical
Journal 1897" Vol. I. pg. 460]: Einem 42 jährigen
Scheinzwitter mit Hypospadiasis penoscrotalis behaftet,
wurde wegen doppelseitigen Leistenbruches die beider-
seitige Hemiotomie gemacht. Man entfernte beide noch
in den Leistenkanälen liegenden Hoden [Pescensus in-
completus]. Man fand in den exstirpiertem Hoden weder
Spermatozoiden noch Spermatoblasten, aber eine sehr
starke Hypertrophie des Bindegewebes in dem Hoden-
stroma. Nach der Kastration dieses Individuum ent-
wickelte sich sehr starke Obesitaet. Ich weiß nicht, ob
in diesem Falle eine Errcur de sexe vorlag, ob dieser Fall
bestimmt hierher gehört.
29) Snegirjow [siehe Blagowolin: Wracz 1893
[Russisch] Fall von Herraaphroditismus transversus. Pro-
tokolle der Geb. Gyn. Gesellschaft in Moskau. Januar
1893 Nr. I. pg. 2—5]. Eine 25 jährige Köchin trat am
21. März in die Klinik ein. Niemals Periode oder Mo-
limina menstrualia. Im 13. Jahre einmal während eines
Kopfschmerzanf alles etwas Nasenbluten, ein ander Mal
im Jahre 1892 eine stärkere Nasenblutung. Im 17. Jahre
heiratete das Mädchen, vollzog schon ein halbes Jahr
nach der Hochzeit den Beischlaf cum libidine, später
wurde ihr der Beischlaf gleichgültig, endlich zuwider,
weil sie sich nach jedem Beischlaf matt, krank und arbeits-
unfähig fühlte, geplagt von den rheumatischen ähnlichen
Sehmerzen in Kopf und Gliedern. Schon seit Jahren
perhorresciert sie den Akt des Beischlafes, der zweimal
jeden Monat stattfindet. Obgleich sie ihren Mann liebt,
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— 253 —
so erscheint er ihr verhaßt zur Zeit des Beischlafes,
welcher für sie eine Qua) ist.
Sie beschreibt diese Qualen so: „Eine ganze Menge
verschiedenartiger Schmerzempfindungen entströmt einer
Welle gleich aus dem Unterleibe und richtet sich nach
dem Herzen zu, wobei ihr vor den Augen dunkel wird
und sie glaubt das Bewußtsein zu verlieren.* — Seit einigen
Monaten klagt diese Frau über Kopfschmerz, Schlaf-
losigkeit und klonische Krämpfe in den Extremitäten;
diese Krämpfe treten auf ohne irgend eine erklärliche Ur-
sache. Brüste und Möns Veneris gut entwickelt, Pubes
weiblich veranlagt. In jeder Schamlefze tastete man ein
Gebilde, welches */8 der Schamlefze einnahm, das links-
seitige Körperchen erschien tiefer herabgesenkt als das
rechte. Diese Körperchen, taubeneigroß, mit glatter
Oberfläche, waren elastisch und ausnehmend druckem-
pfindlich. An der Rückseite eines jeden tastete man ein
weicheres, nicht druckempfindliches Gebilde. Das rechts-
seitige Körperchen ließ sich leicht nach oben dislocieren,
das linksseitige ließ sich nicht in den Leistenkanal hin-
einschieben.
Kleine Schamlippen normal, Clitoris nicht vergrößert;
bei Zurückschiebung der Vorhaut wird die Clitoris
strotzend, indem sie anschwillt. Ein Hymen fimbriatus
liegt vor, der sich dehnbar erweist. Vestibulum vaginae
normal. Die Scheide erweist sich als ein glattwandiger
Kanal, in der Höhe von drei Zoll blind endigend. Weder
Uterus noch Adnexa per rectum getastet. In der Mittel-
linie des Beckens tastete man einen gänsefederkieldicken
Strang. Nach Angabe der Marie X. sollen jene
Körperchen in den Schamlefzen schon von Kind auf sich
dort befinden. Allgemeinausscheu weiblich. Man stellte
hierauf die Diagnose : Defectus uteri, hernia inguinolabialis
utriusque ovarii. Am 23. März 1893 vollzog Snegirjow
die beiderseitige Herniotomie und fand in jeder Hernie
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— 254
einen Hoden. Das Mikroskop bestätigte die Richtigkeit
dieser Angabe. Am 7. Tage nach der Operation befand
sich die Person wohl. E rr e u r d e" s e x e.
30) Snegirjow [siehe: Blagowolin 1. c] vollzog
in einem anderen Falle, beschrieben von Galaktjonow,
die beiderseitige Herniotomie bei einem Mädchen:
Erreur de sexe. H ypospadiasis peniscrotalis. S n e -
girjow eröffnete die Bauchhöhle, fand dort weder Uterus
noch Ovarien, exstirpierte hierauf die in den Schamlefzen
enthaltenen Gebilde, die sich unter dem Mikroskop als
Hoden erwiesen.
31) Solowij (»Ein Beitrag zum Hermaphroditismus"
— Monatsschrift für Geb. u. Gynäkologie. Februar 1899
pg. 210"] R. Ch. 21. Jahre alt, ledig, niemals menstruiert,
erinnert sich, daß bei ihr von Kind auf in der Gegend
der Schamfuge zwei Höcker existierten, welche nicht
schmerzhaft waren. Vor vier Wochen traten plötzlich
ohne wahrnehmbare Ursache heftige Schmerzen in dem
rechtsseitigen Höcker auf. Seit dieser Zeit nahm derselbe
bedeutend an Größe zu und blieb anhaltend schmerzhaft.
Schlecht genährtes Individuum; Kopfhaare lang, kein
männlicher Haarwuchs im Gesicht, Brustdrüsen gut
entwickelt, Habitus ganz weiblich, Möns Veneris schwach
behaart; jederseits der Schamfuge liegt in jeder Scham-
lefze je ein Gebilde, links taubeneigroß, länglich, glatt,
verschieblich, von ovaler Gestalt, am unteren Ende etwas
zugespitzt, von innen eine seichte Vertiefung aufweisend.
Die Schamlefzen verlieren sich auffallend flach nach
unten. Clitoris zwei Centimeter lang, hat eine undurch-
bohrte Eichel, von der zwei Falten zu den großen
Schamlippen ziehen. Kleine Schamlippen fehlen, nur
linkerseits eine Andeutung vorhanden. Damm 4 Centi-
meter hoch, gegen den Scheideneingang etwas vertieft.
Scheide endet in der Tiefe von 5 Centimeter blind. In
der vorderen Scheiden wand, etwas mehr rechts, verläuft
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nach oben ein dünner Strang. Unterhalb der Harn-
röhrenmündung befinden sich zwei kleine Schleimhautfalten,
Durch den Mastdarm fühlt man einen querverlaufenden
mit unerheblichen Verdickungen versehenen Strang, welcher
links etwas breiter endet. Solowij deutete die in den
Schamlefzen enthaltenen Gebilde als ektopische Ovarien,
wenn er auch die Möglichkeit ins Auge faßte, daß es
etwa Hoden sein könnten. Wegen der schmerzhaften
Entzündung der rechten Keimdrüse, welche trotz vier-
wöchentlicher Ruhe und entsprechender Behandlung nicht
weichen wollte, vollzog er die Exstirpation. Nach
Spaltung der Haut ließen sich die beiden Keimdrüsen
mit Leichtigkeit exstirpieren, da die Leistenringe bereits
verschlossen waren. Schon makroskopisch konnte man
feststellen, daß es sich jederseits um Hoden und Neben-
hoden handelte. Das Mikroskop bestätigte diese Er-
kenntnis: in den Hodenschnitten fand man Samenfäden
in verschiedenen Graden der Ausbildung. Ebenso typisch
fielen die Nebenhodenschnitte aus. An mehreren Präparaten
war auch ein Vas deferens zu sehen. Das Uebrige bildeten
vielfache Schichten glatter Muskelfasern, eingescheidet
und durchzogen von reichlichem und zum Teil kleinzellig
infiltriertem Bindegewebe. Abgesehen von dem wissen-
schaftlichen Interesse zögerte S. nicht, diese Gebilde zu
entfernen, seien es nun Hoden oder Ovarien, weil sie für
die Fortpflanzung des Individuums keinen Wert hatten,
andererseits die schmerzhafte Entzündung, namentlich
des rechtsseitigen Gebildes die Entfernung indicierte.
Erreur de sexe festgestellt auf operativem Wege.
Solowij erwähnt nichts über das geschlechtliche Empfinden
der von ihm operierten Person.
32) Stonham [Complex or vertical Hermaphrodisme.
Transactions of the Patholog. Society of London. British
MedicalJournal 1888. I. pg. 416] beschrieb die Genitalien
eines nach Herniotomie verstorbenen Kindes. Die äußeren
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Geschlechtsteile männlich bis auf Kryptorchismus, eine
Prostata war vorhanden, teilweise Hvpospadie. Man
fand zugleich eine Vagina, einen Uterus bicornis, zwei
Tuben, zwei Hoden und zwei Nebenhoden in der Bauch-
höhle; letztere Orgaue lagen an den Stellen, wo bei
Frauen die Ovarien liegen. Keine Samenbläschen kon-
statiert. Die Mutter dieses Kindes war 14 mal schwanger,
hat aber darunter 8 mal abortiert. Zwei Kinder erschienen
Fig. 8. Genitalien desNambrok Sadinah, eines Sträflings im Ge-
fängnisso zu Soerabaja, der von Stratz für einen männlichen
Scheiuzwitter gehalten wurde.
als Knaben, aber mit Kryptorchismus behaftet, — falls es
Knaben waren. Eine Schwester der Mutter galt als
Hermaphrodit, hat aber in der Folge ein Kind geboren.
[Siehe auch Referat in Fromme l's Jahresbericht für
1888 pg. 306.J —
Stratz proponierte einem im Gefängnis zu Sörabaja
interniertenSträflingNambrok Sadinah eine diagnostische
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— 257 —
Incision der Schamlefzen behufs Feststellung des Ge-
schlechtes, indem er eine erreur de sexe vermutete.
Der Sträfling ging jedoch ebenso wenig wie die von
Mund»' beschriebene Köchin auf den Vorschlag ein. Das
Allgemeinallssehen war eher männlich als weiblich, die
Clitoris 2 — 4 Ceutimeter lang, die IlarnröhrenöfTnung
weiblich, eine Vagina war nicht nachzuweisen, aber es
Fig. 9.
existierten große und kleine Schamlippen. Weder Uterus
noch Ovarien per rectum getastet, in jeder Schamlefze
lag ein sehr druckempfindliches Gebilde von Haselnuß-
größe, welches beim Gehen schmerzhaft war. (Siehe
Fig. 8, 9, 10 Stratz.)
83) Swiencicki (Nowiny Lekarskie 1896 No. 4. pg.
176—178). Die 23jährige B. J. wurde zu Swiencicki
Jahrbuch V. I<
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Außore Genitalien des Sträflinge» Kambrok Sadinah.
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gebracht behufs Ausführung einer Operation. Das 141
Centimeter hohe Mädchen machte einen männlichen Ein-
druck ihrer Allgemeinerscheinung nach trotz ihres nied-
rigen Wuchses. Gesichtsausdruck männlich, Haupthaar
kurz geschnitten, Bartanflug im Gesichte. Amastie mit
ganz kurzen Brustwarzen, abdominaler, männlicher
Athmungstypus, männliches Becken, Möns Veneris kaum
angedeutet. Linkerseits vom Schamhügel eine eiförmige
nach unten sich erstreckende Anschwellung von 24 Centi-
metern Umfang. Medianwärts von dieser Anschwellung
die Clitoris von vier Centimeter Länge, einem Penis
gleichend, aber hakenförmig nach unten gekrümmt.
Man entdeckt leicht eine drei Centimeter lange hypo-
spadische männliche Harnröhre an der Unterfläche dieser
scheinbaren Clitoris. S. tastete in der stark vergrößerten
rechten Schamlefze in deren oberem Teile Hoden und
Nebenhoden von normaler Gestalt Auch den Samen-
strang konnte er leicht tasten. Keine Prostata entdeckt.
Erektionen vorhanden. Linkerseits fand sich eine Hydro-
cele. S. entleerte durch Paracentese aus dieser Hydrocele
etwa zwei Tassen voll einer durchsichtigen serösen
Flüssigkeit und gelang es ihm nach Entleerung der
Hydrocele auch linkerseits Hoden und Nebenhoden zu
tasten, sowie auch den Samenstrang. Die Mutter brach
in Tränen aus bei Mitteilung des Sachverhaltes der statt-
gehabten „erreur de sexe", die Tochter jedoch nahm
jedes Wort von S. mit Begeisterung auf und jauchzte
vor Freude darüber, daß sie fortan ein Manu sein werde,
denn sie habe schon seit jeher einen feurigen Drang
zu Frauen empfunden! Sie liebte Zigaretten zu rauchen,
hatte einen Widerwillen gegen alles Weibliche, Kleider-
nähen, Stopfen und Strürapfestricken, rasierte sich heim-
lich und hatte sogar, wie sie unter vier Augen eingestand,
schon im 16. Jahre einen Beischlaf mit einem Mädchen
versucht, dessen Bett sie zufällig teilte. Die peniscrotale
17*
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Hypospadie hatte die erreurdesexe veranlaßt. Hätte
nicht die einseitige Hydrocele existiert, so wäre wohl
auch jetzt noch nicht die erreur de sexe verraten
worden. Descensus testiculorum retardatus. Die Person
sagte aus, sie habe sich oft so unglücklich gefühlt dadurch,
daß sie als Frau gelten müsse und daß sie sich deshalb
mit Selbstmordgedanken getragen habe.
34) T i 1 1 a u x : [siehe V o e 1 k e r: Article : P^nis. — du
Nouveau Dictionnaire de Mldecine : Enfant mäle pris pour
une fille]" — ZuTillaux wurde ein 12 jähriges Mädchen
gebracht mit der Bitte der Mutter, dem Kinde ein Bruch-
band zuzupassen. Till au x konstatierte das Vorhanden-
sein eines einseitigen Leistenbruches, gleichzeitig entdeckte
er in der Hernie ein Gebilde, welches zunächt den Eindruck
einer Cyste machte. Instinktiv untersuchte er nun auch
die andere Schamlefze und tastete in derselben ein ana-
loges Körperchen. Die Sache erweckte in dem Chi-
rurgen Bedenken: er machte in jeder Schamlefze einen
diagnostischen Einschnitt und fand Hoden vor, konstatierte
jetzt auch, daß ein rudimentärer hypospadischer Penis
existierte und konstatierte also die „erreur de sexe."
35) G. R. Turner [WA case of hermaphroditisme"
Lancet3ü, VI, 1900 pg. 1884-1885]: Hjähriges Mädchen
mit einem linksseitigen Leistenbruche geboren. Der Bruch
erwies sich als irreponibel und das Kind trug auf Ver-
langen der Ärzte hin ein Bruchband bis zum 12. Jahre,
obgleich das Bruchband gar keine Linderung brachte.
Niemals die Kegel bisher, die Ärzte diagnostizierten eine
Labialektopie des Unken Ovarium ; endlich wurde eine
Herniotomie beschlossen. Das aus der Hernie entfernte
Gebilde erwies sich als Hoden und Nebenhoden.
In letzterem fand man einige kleine Cysten. Das Mi-
kroskop (Dr. Kol 1 es ton) erwies hier die erreur de sexe.
Turner vollzog dann gemeinsam mit Dr. W. R. Dakin
eine Narkosen Untersuchung des Kindes: Brustdrüsen gut
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— 261 —
entwickelt im Vergleich zum Alter des Kindes. Vulva
normal, weiblich, ohne auch nur im geringsten einen
Verdacht auf erreur de sexe zu wecken. Die Scham
schon behaart, die Harnröhrenmündung, unregelmäßig
umrandet, wies Karunkelbildungen auf. Die Seheide ließ
einen Finger ein und erwies sich in der Tiefe blind ge-
schlossen; keine Vaginalportion eines Uterus gefunden,
wohl aber tastete man ein d (inneres strangförmiges Gebilde
(Tube oder Vas deferens?). Die Schamlefzen erwiesen
sich leer. Man fand weder eine Spur von Uterus noch
von einer Prostata. Das anatomische Präparat des ex-
stirpierten Hodens wurde aufbewahrt im Museum des
St Georges Hospital. Das von Turner operierte
Kind hatte bisher keinerlei Hang verraten zu dem einen
oder zu dem anderen Geschlechte zu gehören und half
der Mutter bei der Beaufsichtigung seiner jüngeren
Geschwister.
86) Wegradt [Demonstration stereoskopischer Ab-
bildungen der Präparate, gewonnen sub herniotomia bei
einem als Mädchen erzogenen männlichen Scheinzwitter —
in der Ärztlichen Gesellschaft in Magdeburg; — siehe
Münchener Medizinische Wochenschrift 28. V. 1901]:
Beiderseitige Herniotomie bei einem Individuum, dessen
äußere Geschlechtsteile weiblich veranlagt waren. Die
rechtsseitige Hernie enthielt einen Hoden, die linkseitige
ein Fibroadenom. [Einzelheiten fehlen in dem Referate].
Auf Grund der Ergebnisse dieser Operation wurde
• da« Geschlecht als männlich erkannt.
^87) B. Will („Ein Fall von Hermaphroditismus
roasculinus." — D. I. Greifswald 1896) beschrieb die
erreur de sexe bezüglich der 54jährigen unverehe-
lichten Kristine W. aus der Umgegend von Greifs-
wald, welche in die Klinik eingetreten war mit der Bitte,
sie von einem beiderseitigen Leistenbruche zu befreien.
Niemals hatte Kristine die Regeln gehabt, wohl aber
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von dem 17. bis zum 40. Jahre allmonatlich ziehende
Schmerzen im Unterleibe. Körperhöhe groß, Knochen
und Muskelsystem stark entwickelt. Stimme männlich,
Brüste schlecht entwickelt, Warzen prominent, unbe-
deutender Bartanflug im Gesicht. Schamgegend sehr
spärlich behaart, große und kleine Schamlippen von nor-
maler Gestalt, Scheidenöflnung eng, die Scheide in der
Höhe von anderthalb Zentimetern blind geschlossen, die
Harnröhre ist aber so stark erweitert, daß sie ohne Weiteres
die Spitze des großen Fingers einläßt. Per rectum tas-
tete man weder Uterus noch Geschlechtsdrüsen, sondern
nur einen bleistiftdicken Strang von der Mittellinie nach
links zu verlaufend. Jederseits in der Leistengegend ein
Tumor, linkerseits deutlicher als rechterseits ; ein jeder
Tumor schien aus zwei Anteilen zu bestehen; der link-
seitige Tumor bestand aus einem hühnereigroßen fluk-
tuierenden Anteile und einem kleineren härteren von
Taubeneigröße, der bis in die Schamlefze herabreichte.
Der obere flüssigkeitserfüllte Tumor hing strikt mit dem
unteren weicheren zusammen. Der rechtsseitige Tumor
war kleiner, ließ sich teilweise reponieren und bestand
ebenfalls aus einem fluktuierenden und einem weicheren
Anteil. Außer dem Tumor existierte auch ein Leisten-
bruch. Nach Reposition des Bruches drang der Finger
in den Leistenkanal ein. Man machte linkerseits einen
Einschnitt parallel dem Poupärt'schen Bande, unterband
die blutenden Gefäße und legte den Tumor bloß, wobei
eiuige Unzen einer klaren, serösen Flüssigkeit abflössen«
Auf der äußeren Kuppe des glattwandigen, harten Tu-
mors von rosenroter Farbe hing eine taubeneigröße
Cyste mit durchsichtigen Wänden. Man zog den Tumor,
soweit es anging aus dem Leistenkanale heraus, unter-
band den Stiel, durchschnitt ihn dann, fixierte ihn durch
einige Seidennähte unter gleichzeitiger Vernähung des
Leistenkanales und schloß dann die Hautwunde mit
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8 Nähten. Rechterseits konnte nach Entfernung des
Tumore der Finger bequem in die Bauchhöhle eindringen,
linkerseits gelang das nicht Prima reunio vulnerum.
Kristine W. wurde am 7. I. 1896 geheilt entlassen.
Erst die mikroskopische Untersuchung der entfernten Ge-
bilde wies hier eine erreur de sexe nach. Der links-
seitige Tumor hatte vier und einen halben Zentimeter
Länge und zwei und einen halben Breite, der rechts-
seitige fünf und einen halben und zwei und einen halben
Zentimeter Länge und Breite. Die Tumoren waren jeder
von einer mehrschichtigen Bindegewebskapsel umhüllt,
die Schnittfläche sehr uneben, für den Hoden charakte-
ristisch. Die Farbe des Durchschnittes war bronzeroi.
Auf dem linken Hoden saß eine kleine Cyste gestielt auf,
auf dem rechten eine ebensolche ungestielt. Wo der
Nebenhoden am linken Hoden liegen sollte, sieht man ein
härtliches, bohnengroßes Gebilde, auf dem Durchschnitt
den drüsigen Bau verratend. Sonst fand man keinerlei
Spuren von Nebenhoden oder Vasa deferentia. W. gibt
eine sehr detaillierte Beschreibung der mikroskopischen
Präparate, die ich hier nicht wiederholen will; es genüge
zu wissen, daß die Untersuchung eine erreur de sexe
konstatierte. Der rechte Hoden war fibrös degeneriert.
Kristine besaß also Hoden, hatte aber keine Aus-
führungsgänge für deren Produkt wegen Obliteration der
Wolf frohen Gänge. Das geschlechtliche Empfinden der
Kristine W. war ein rein männliches, doch folgte sie
dem Beispiele anderer Frauen und kohabitierte mit
Männern, aber ohne jede Libido. Obgleich sie eine rudi-
mentäre Scheide besaß, so benützte sie doch für den
Beischlaf die Harnröhre, welche mit der Zeit dadurch
sehr erweitert wurde. Kristine empfand nur einen
auf Frauen gerichteten, also männlichen Geschlechts-
drang, hat es jedoch nie gewagt, einen Beischlaf mit
einem Weibe zu versuchen.
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— 204 —
38) v. Winckel soll ein Mädchen von männlichem
Aussehen beschrieben haben, weiblicher Kopfbehaarung,
gut entwickelten Schamlefzen und Clitoris peniformis
Eine spätere Herniotomie soll erreur de sexe, also
männliches Geschlecht, erwiesen haben, indem die aus
den Schamlefzen entfernten Gebilde sich als Hoden er-
wiesen. Persönlich habe ich die Beschreibung eines
solchen Falles aus v. Winkels Feder stammend nirgends
finden können, erwähne aber diesen Fall, weil er von
anderen Autoren erwähnt wird.
[Sollte der Fall von Shattock sich nicht auf eine
erreur de sexe beziehen, resp. auf einen irrtümlich als
Mädchen erzogenen männlichen Scheinzwitter, so wäre
dieser Fall aus vorstehenden 38 Fällen zu eliminieren. N.J
Zweite Gruppe.
Vier Herniotomien bei weiblichen Scheinzwittern mit
2 Fällen von irrtümlicher Geschlechtsbestimmung.
1) Brohl („Hernia uteri bei Pseudohermaphroditimus
femininus" — Deutsche Medicinische Wochenschrift
1894 No.: 15.) Eine 36 jährige Person, seit dem 18.
Jahre normal menstruiert, die sich stets für eine Frau
gehalten hatte, wünschte sich zu verheiraten. Gesicht
und Behaarung, Stimme und Kehlkopf männlich, Bart-
wuchs ausgesprochen, Brüste aber weiblich. Clitoris 65
Anmerkung: Beiläufig erwähne ich folgenden Fall von
Pozzi u. Grattery (Progres medioal 16. IV. 1887. — Referat:
Repertoire Universel d'Obst, 1887 p. 467): Eine 69 jährige Frau
wurde wegen Einklemmung eines Leistenbruches in das Hospital
gebracht und starb trotz Reduktion des Bruches, welche Marohand
vollzog, infolge Peritonitis. Die Nekropsie erwies eine „Erreur de
sexe." Hypospadiasis peniscrotalis, in den Hoden Spermatozoiden
gefunden. Kein Uterus vorhanden, Behaarung spärlich, Allgemein-
aussehen männlich.
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— 265
Millimeter lang, wird sub erectione 11 Centimeter laDg!
Große Schamlippen gut entwickelt, die kleinen mangel-
haft. Scheideneingang von einem Hymen garniert. Die
linke Schamlefze enthält einen Tumor, welcher seit 1881,
also seit 13 Jahren schon, der Dame viele Schmerzen
verursacht. Dieser Tumor soll plötzlich erschienen 6ein
nach Aufheben einer schweren Last Da der Tumor
während der Regel an Größe zunahm, also offenbar
anschwoll, vermutete man, es handle sich um eine Hernia
uteri und ovarii. Von diesem Tumor zog eine Art
Strang nach dem Leistenkanale zu. Da eine Reduction
der Hernie nicht gelang, so machte Brohl die Hernio-
tomie: er fand in dem Bruchsacke den Uterus und beide
Ovarien. Er amputierte den ektopischen Uterus au niveau
des Collum uteri und fixierte den Stumpf in der Inguinal-
wunde mit einigen Nähten. Nach 5 Wochen verließ das
Mädchen das Hospital kastriert und von den Beschwerden
befreit. Der linke Eierstock war atrophisch, der rechte
lag in ligamento lato. Beide Tuben waren bedeutend
erweitert. Der Uterus war bicornis und die Höhle durch
ein Septum im oberen Teile zweigeteilt. Collum uteri
stark verlängert — (wohl infolge der Ektopie des Fundus
? — N) — Weder Hoden noch Nebenhoden noch Prostata
gefunden. Es handelte sich also um eine im extrauterinen
Leben erworbene Hernia inguinolabialis uteri bicornis et
utriusque ovarii bei ganz ungewöhnlicher Hypertrophie
und Erektilität der Clitoris und einigen männlichen
secundären Geschlecbtscharakteren. — [Wäre es nicht
rationeller gewesen, den Leistenkanal soweit als nötig zu
spalten und die ektopischen Gebilde in die Bauchhöhle
zu reponieren? — N.] —
2) Pe*an (Bulletin Me*dical, 3. April 1895 — und —
Gazette des Höpitaux 1890 No.: 41) Ein 15 jähriges
Mädchen wurde schon seit drei Jahren in ihrem Aussehen
immer mehr und mehr männlich, es trat Stimmbruch ein,
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die Stimme wurde männlich, es trat männliche Gesichts-
behaarung auf, es traten Erektionen der Clitoris ein!
Ein Arzt schickte das 15jährige Mädchen nach Paris,
wo eine erreur de sexe konstatiert wurde, das Ge-
schlecht für männlich erklärt. Das bisherige Mädchen
erhielt männliche Kleider und sollte nun einen männlichen
Beruf erlernen. Der Junge fand aber an männlicher Be-
schäftigung keinen Gefallen, er wurde von einem Meister
zum anderen gebracht in verschiedenen Handwerken,
wollte aber nicht lernen. Endlich klagte er über allmonatlich
sich wiederholende Schmerzen im Unterleibe. Einer
seiner Lehrmeister schöpfte Verdacht, ob der Junge nicht
doch ein Mädel sei und nun wurde das Kind zum zweiten
Male nach Paris gebracht behufs erneuter Untersuchung
und zwar zu Pöan. Pe*an konstatierte eine Hypos-
padiasis peniscrotalis und Krvptorchismus und vollzog
einen Einschnitt in den Leistengegenden wie bei Herniotomie,
um die Hoden aufzusuchen, fand aber nicht einmal die
Oeffnungen der Leistenkanäle da, wo sie sein sollten.
Er eröffnete jetzt die Bauchhöhle, holte ein Organ hervor,
das. er anfänglich für einen Hoden gehalten hatte, es war
der Uterus; daneben lag die rechtsseitige Tube, regelmäßig
geformt, er fand endlich auch die linksseitigen Adnexa,
aber weder Prostata noch Samenblasen. Er beschloß
nunmehr, da eine erreur de sexe sich ergeben hatte,
auf plastischem], Wege eine Vagina zu bilden, um einen
Kanal zu schaffen, durch den im Falle von Entstehung
einer Hämatometra das Blut nach außen abgeleitet werden
konnte, er mußte jedoch auf diesen Plan verzichten, da
die Harnröhrenwand zu nah der vordem Mastdarmwand
anlag. Er fürchtete auch die Corpora cavernosa penis
resp. clitoridi8 dabei zu verletzen. Er dilatierte also nur
die einmal gesetzte Wunde zwischen Urethralmündung
und Analmündung, indem er darauf rechnete, wenn das
Mädchen einmal heirate, so werde der Gatte allmählich
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den heute geschaffenen Recessus erweitern per cohabita-
tiones. Endlich fügte er noch den Bauchschnitt hinzu
und entfernte beiderseits die Uterusadnexa, um der
Bildung einer Hämatoraetra, Hämatosalpinx, Häraatocele
vorzubeugen. Cornil und Briault konstatierten mikros-
kopisch am Präparat, daß die Geschlechtsdrüsen wirklich
die Ovarien waren. Es handelt sich also um einen weib-
lichen Scheinzwitter mit Defectus vaginae, hypertrophischer
erectiler Clitoris, allgemeinem männlichen Aussehen,
Behaarung, Andromastie etc. In diesem Falle würde
wohl ein jeder Gynäkologe denselben diagnostischen
Fehler gemacht haben wie Pe*an. Interessant ist, daß
das Kind gleich nach seiner Geburt richtig als Mädchen
erkannt und auch als Mädchen getauft wurde, die
Aenderung der Metrik in späteren Jahren in eine männliche
falsch war. — Dieser Fall steht, was mehrfache Änderung
der Metrik anbetrifft, nicht einzig da!
3) Sujetinow [Medicinskoje Obozrenje [Russisch]
1897 pg.] beschrieb eine 45jährige Frau, welche in
jüngeren Jahren zwei Jahre lang unregelmäßig ihre
Menstruation gehabt haben soll, später aber gar keine.
Männliche Gesichtsbehaarung mit Schnurrbart und Backen-
bart ; Andromastie, männliches Becken, männlicher Typus
der Extremitäten. Rechterseits ein reponibler Leisten-
bruch. Die rechte Schamlefze enthält ein Gebilde von
der Gestalt eines Hodens, von letzterem zieht eine Art
Strang nach dem Leistenkanale hin. Clitoris 5 Zentimeter
lang und zwei Zentimeter dick, macht eher den Eindruck
eines hypospadischen Penis. Kleine Schamlippen fehlen
ganz. Die Scheide eng, in der Tiefe blindsackartig ge-
schlossen, läßt den Finger nicht ein. Per rectum keinerlei
charakteristischen Gebilde getastet, bezüglich Ent-
scheidung fraglichen Geschlechtes. Es wurde später bei
Incarceration die Herniotomie gemacht. Das in der einen
Schamlefze enthaltene Gebilde war der Eierstock und
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der Strang die Tube. Es handelte sich also um einen
weiblichen Scheinzwitter mit Hernia uteri, salpingis et
ovarü lateris dextri, hypertrophischer erectiler Clitoris
und zahlreichen männlichen secundären Geschlechts-
charakteren bei mangelhafter Ausbildung der Müll einsehen
Gänge, sowie Mangel der kleinen Schamlippen. (In dem
Referate [Journal für Geburtshülfe und Frauenkrankheiten.
Petersburg 1898 pg. 248] ist leider nicht gesagt, ob eine
mikroskopische Untersuchung der Geschlechtsdrüse vor-
genommen wurde oder nicht, welche für die endgültige
Entscheidung des. Geschlechtes ein wichtiges Desiderat
sein muß, da makroskopisch man sich mehr als leicht in
solchen Fragen irren kann. N.).
4) Walther [Bulletins et Mdmoires de la Socidte
de Chirurgie der Paris 1902, Tome XXVIII. No. 31 pg.
938 undN: 32 pg. 9721 : „Anomalie genitale" — Höchst
interessante Beobachtung von erreur de sexe. Ein
24jähriger Sattler trat in das Hospital de la Pitie* ein
am 3. IX. 1902 und verlangte operative Abhilfe wegen
Mtßgestaltung seiner Geschlechtsorgane. Gleich nach der
Geburt war sein Geschlecht als weiblich bestimmt worden
später wurde jedoch auf den Rat eines Arztes hin die
Metrik in eine männliche geändert. Am 4. März 1902
stellte Petit dieses Individuum in der SocieHe* Medicale
des Höpitaux vor. Die äußeren Geschlechtsteile sehen
aus wie bei Hypospadiasis peniscrotalis oder wie eine
Vulva mit bedeutender Clitorishypertrophie. Das Scrotum
fissum resp. die Schamlefzen leer, aber dicht unterhalb
der äußeren Öffnung des rechtsseitigen Leistenkanals
fühlte man ein kleines eiförmiges Körperchen, eine weiche
Inguinalhernie, in der man ein härteres Gebilde tastete,
das den Eindruck einer Geschlechtsdrüse machte und
sehr druckempfindlich war. Eine ähnliche Hernie mit
einem analogen Körperchen wurde nun auch links getastet
Per rectum waren Keine für das eine oder andere Ge-
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schlecht charakteristischen Gebilde zu tasten. Das Aus-
sehen dieses Individuum war weder männlich noch weib-
lich, sondern gemischt. Man bemerkte eine gewisse Infan-
tilität der Entwickeluog, keine Spur von Gesichtsbehaarung
trotz des Alters von 24 Jahren. Becken imd Brüste
weiblich, Taille eher männlich, Stimme indifferent, weder
männlich noch weiblich. Den Harn gibt der Sattler nach
Frauenart ab; seit dem 16. Jahre sollen alle Monate
etwa 160 Gramm Blut aus der Harnröhre entleert werden,
die Blutung dauert jedesmal 2 — 3 Tage, die Blutaus-
scheidung ist jedesmal begleitet von Anschwellen der in
den Leisten getasteten Gebilde (der Ovarien?) — Trotz
dieser anscheinenden Menstruation ist der Geschlechtstrieb
rein männlich, sowie auch der Sattler von seinem männ-
lichen Geschlechte überzeugt ist.
Der Penis fissus hypospadiaeus verrät sofort Erektio-
nen, wenn der Sattler sich in weiblicher Gesellschaft
befindet und nur die Krümmung nach abwärts zu ist
die Ursache, weshalb der Sattler bis jetzt noch keinen
Beischlaf mit einer Frau versucht hat. Während der
Erektionen kommt es zur Ejakulation einer klebrigen
Flüssigkeit, in der jedoch Laignel-Lavastine keine
Spermatozoiden fand. Einige Tage nach dieser Demon-
stration vollzog Walther die beiderseitige Herniotomie
und fand rechterseits einen atrophischen Eierstock und
die rechte Tube, die er in die Bauchhöhle zurückschob,
den Inhalt des linksseitigen Bruches trug er ab; es war
das zusammengeknickte Mittelstück der linken Tube,
deren Abdominalende sowie das uteri ne in der Bauch-
höhle lagen — eine Sactosalpinx verbacken mit dem
sklerotischen Ovarium, das cystisch entartet war, und
mit dem Netz. Der linke Eierstock enthielt ein Corpus
luteum. Die operative Entfernung dieser Gebilde war
sehr schwierig. Walther fügte einen kleinen diagno-
stischen Leibschnitt hinzu um den Zustand des Netzes zu
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— 270 —
kontrollieren, das er in vier einzelnen Bündeln unterbunden,
teilweise hatte abtragen müssen, sowie die zwei Stümpfe
der linksseitigen Adnexa, und fand bei dieser Gelegenheit
einen kleinen Uterus vor. Die Herniotomie konstatierte
hier also weibliches Scheinzwittertum bei einem Indivi-
duum, das absolut den Eindruck eines Mannes machte.
In der Diskussion hatten vor Ausführung dieser Operation
sowohl Lucas-Championnidre als auch Fe Ii zet dieses
Individuum mit aller Bestimmtheit für einen Mann erklärt.
Bruno T. Carreiro: „Pseudohermaphrodismo
audrogynoide on un caso de supposto hernia inguinal
d'ovario." O Correio med. de Lisboa. Octob. 1896 p.
149. [Da mir der Aufsatz nicht zugänglich, vermag ich
keinerlei Einzelheiten anzugeben.]
Dritte Gruppe.
13 Leistenschnitte bei Männern resp. männlichen
Scheinzwittern mit Konstatierung eines mehr oder
weniger entwickelten Uterus oder einer oder der bei-
den Tuben in hernia resp. in der Bauchhöhle.
1) Billroth (siehe Klotz: „Extraabdominelle
Hystero-Ovariotomie bei einem wahren Zwitter" Archiv
für klinische Chirurgie Vol. XXIV pg. 454 — 1880 —
siehe Referat : Zentralblatt für Gynäkologie, 1880 No. 1.
pg. 15) (siehe Fig. 19 u. 20). Ein 24 jähriger jüdischer
Kaufmann, Israel Jaroszewski aus Rußland, kam zu Bill -
roth wegen einer Leistenhernie. Billroth konstatierte
eine Hypospadiasis peniscrotalis mit einer Pseudovulva
mit großen und kleinen Schamlippen und weiblicher
Urethralmündung. In der linken Sohamlefze lag ein
Hode, Nebenhode und Samenstrang, rechterseits jedoch
enthielt die Schamlefze einen Tumor und wies eine Fistel-
öffnung in ihren Hautdecken auf, welche eine Sonde
einige Millimeter tief einließ. Der Tumor soll nach
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271 —
Aussage des Patienten schon viele, viele Jahre existieren,
fing jedoch erst im 1(5. Jahre an, sich zu vergrößern und
von eben diesem 16. Jahre an bekam Israel J. alle vier
Wochen periodisch starke Schmerzen im Kreuz und diverse
Molimina, welche jedesmal 4 — 10 Tage anhielten. Während
dieser Schmerzperiode entleerte sich stets Blut sowohl
aus der Harnröhre als auch aus der vorgenannten
Fistel des rechten Labium pudendi majus. Diese Blutung
wiederholte sich alle Monate und dauerte gewöhnlich
vier Tage. Israel verfiel sowohl infolge seiner Leiden,
sowie auch infolgedessen, daß er sich angesichts seiner
genitalen Mißbildung nicht verheiraten konnte, in einen
Zustand von Melancholie, welche sich mit der Zeit so
steigerte, daß er sich sogar mit Selbstmordsgedanken
getragen hatte. Er gestand ein, geschlechtlich sowohl
mit Knaben als auch mit Mädchen verkehrt zu haben,
wobei er Erektionen und Ejakulationen hatte. Billroth
konstatierte zunächst einen rechtzeitigen Leistenbruch,
der aber keinen Darm zum Inhalte hatte, wie ihm schien,
und setzte ein Neoplasma des rechten Hodens voraus.
Am 25. Juli 1878 schritt er zur Herniotomie. Er fand
in dem Bruchsacke eine cystische Bildung, deren Stiel
in den Leistenkanal hineinreichte. Er unterband diesen
Stiel, wobei er teilweise die Bauchhöhle öffnen mußte,
unter sehr starker Blutung. Er durchschnitt dann den
Stiel und unterband die Gefäße einzeln und vernähte
dann die Hautdeckenwunde. Nach zwei Tagen erfolgte
unter Kollapserscheinungen der Tod. Als Ursache ergab
sich eine Blutung in die Bauchhöhle hinein infolge von
Abgleitens einer arteriellen Ligatur. Die Sektion des
Leichnames wurde von Chiari gemacht. Die Brüste
waren groß, weiblich, in der linken Schamlefze fand man
Hoden, Nebenhoden und Samenstrang von normaler
Anlage, der exstirpierte Tumor bestand aus mehreren
Teilen : es hatte eine hernia inguinolabialis uteri unicornig
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— 272 —
bestanden, mit. einer cystischen Bildung, scheinbar aus
einem Ovarium hervorgegangen. Der Uterus war durch
den Leistenkanal so eingeschnürt, daß er die Gestalt einer
Sauduhr hatte, er war im Leistenkanale incarceriert
gewesen! Billroth hatte den oberen Teil des Uterus
amputiert. Die Scheide von einem Hymen am Aus-
gange garniert öffnete sich in die männliche Harn-
Fig. 11. Außeres Genitale des 24 jähr. Israel Jaroszewski,
eines männlichen Scheinzwitters mit Hernia ingninoserotalis dextra
uteri. Beobachtung von Billroth.
röhre. Das linke Vas deferens eröffnete sich neben
der Vaginalmündung in die Urethra so, daß dieses
Vas deferens der Uterovaginalkanal und die Harn-
röhre sich gemeinsam in einen Sinus urogenitalis eröffnen.
Klotz behauptet durchaus nicht, daß das cystisch ent-
artete Organ, welches dicht bei dem Uterus lag, ein
Ovarium sei — in welchem Falle hier ein wahres
Zwittertum vorläge, sondern spricht nur eine derartige
— 273 —
Hypothese aus! Nach unseren [heutigen Kenntnissen ist
ein derartiges Vorkommnis beim Menschen bisher über-
haupt nicht zweifellos erwiesen worden. Es scheint viel-
mehr, daß es sich um einen cystisch degenerierten rechten
Hoden handelte. Schambehaarung weiblich, die allgemeine
Behaarung jedoch sowie die des Gesichtes männlich,
Fig. 12. Außere Genitalien desselben Individuum bei Spreizung der
Pseudovulva.
a, b = Geschlechtssäcke (Scrotalhältten), c =a Gesohlechtsglied,
d — Frenulum, f = Oriticiuin sinus urogenitalis, g = Präputium,
h = Nymphen, i = fistulöser menstruierender Ausfiihrungsgang
der in hernia inguinoscrotali liegenden Uterushälfte.
Hypospadiasis peniscrotalis; Penis 8 Centimeter lang.
Keine Prostata gefunden, linker Hoden normal. Das
Ergebnis der Sektion lautete: Uterus unicornis hohen
Entwickelungsgrades samt V'agina und Hymen — der
Uterus teilweise in hernia inguinali liegend — bei einem
männlichen Hypospaden mit Mangel eines Vas deferens,
Jahrbuch V. 18
— 274 —
der Samen blasen und der Prostata. Eine Erklärung der
allmonatlichen Blutungen ex Urethra und aus der Fistel
im rechten Labium majus steht aus. Geschlechtsdrang
männlich. (Siehe Fig. 11 u. 12).
2) Bockel [„Exstirpation d'un uterus et d'unetrompe
hernile chez un homme". Acad^mie de Me'decine de
Paris. 19. Avril 1892. — Semaine MeMicale 1892 Vol. XII,
pg. 146]: Bockel fand in einer Inguinolabialhernie bei
einem männlichen Individuum einen Uterus bicornis,
welcher eine Höhle enthielt, eine Tube und einen Hoden
samt Nebenhoden und Vas deferens, welche letzteren Ge-
bilde im Ligamentum latum gelagert waren. [Da mir die
Arbeit von Bö ekel nicht vorliegt so muß ich mich auf
das kurze Referat von Prof. Stumpf beschränken].
3) Carle [siehe Gruner: „Utero e trorabe di Fal-
loppio in un uomo* — Giornale della Reale Academia
di Torino. — 1897 Anno LX. pg. 229 und pg. 257—286].
Die mikroskopische Untersuchung wurde im Laboratorium
des Professors Giacomini gemacht. Am 9. November
1894 trat ein 36-jähriger Telegraphist in die chirurgische
Klinik von Carle in Turin ein wegen eines links-
seitigen Leistenbruches, der vor einem Monate erst unter
heftigen Schmerzen entstanden war. Der Kranke selbst
glaubte, der linke Hoden habe sich vergrößert und sei
härter geworden. Carle machte die Herniotomie und
fand in hernia einen nicht schmerzhaften, beweglichen
Körper von Hühnereigröße, welcher sich leicht reponieren
ließ auf dem Wege der Taxis. Der Patient vertrug ab-
solut ein Bruchband nicht und kam deshalb in das Hospital.
Der Hodensack enthielt nur den linken Hoden und ober-
halb dieses linken Hodens jene reponible Hernie, einen
Tumor. Nach zwei Monaten kehrte der Patient am
26. IV. 1894 wieder in die Klinik zurück und wurde
jetzt die Hernitomie gemacht mit gleichzeitiger Eröffnung
der Bauchhöhle. Man überzeugte sich hierbei, daß dieser
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- 275 —
Mann einen Uterus samt zwei Tuben besaß, deren linke
in jener Hernie lag. Beim Leistenschnitte erwies sich
der linke Hoden pathologisch entartet und wurde deshalb
abgetragen. Oberhalb des Hodens fand sich ein läng-
liches Gebilde, welches durch den Leistenkaual hindurch
sich in die Bauchhöhle fortsetzte. Es war dies eine Tube,
welche mit dem Hoden durch einen fibrösen Strang in
Verbindung stand. Bei Eröffnung der Bauchhöhle vom
Leistenschnitte aus fand sich ein Uterus auf der rechten
Fossa iliaca gelagert und die zweite Tube. — Neben der
linken Tube fand sich das linke Vas deferens. Der
Uterushals stand nach unten zu im Cavum rectovesicale
mit der Prostata in Verbindung. Es wurde der Hoden
linkerseits abgetragen samt dem Uterus, die Wunde ge-
schlossen. Wegen postoperativen Fiebers wurde die
Wunde wieder geöffnet, es fand sich aber kein Eiter;
die Wunde heilte per secundam inten tionem. Später
erfuhr Giacomini, daß dieser Mann gestorben sei
infolge eines intraabdominellen Tumors (?) und zwar
nach Heimkehr in sein Haus. Von der Frau dieses
Telegraphisten erfuhr er, daß ihr Mann normalen Verstand
hatte und gutmütigen Charakters war, daß er seinen
ehelichen Pflichten regelmäßig nachkam, aber die Ehe
war eine kinderlose; weiter erfuhr er, daß, soweit der
Frau bekannt, ihr Mann niemals genitale Blutungen ir-
gend welcher Art gehabt hatte. Bei der Operation war
die linke Tube, ein Uterus bicornis und das zentrale
Ende der rechten Tube entfernt worden. Gruner, welcher
das postoperative Präparat untersuchte, gibt die Ab-
bildung von vorn und von hinten gesehen, und Bilder
der mikroskopischen Schnitte von Uterus, Tube und Vas
deferens und eine sehr detaillierte Beschreibung. Uterus
und Tuben viabel, linke Tube 8 Centimeter lang, 7 Milli-
meter im Umfange. Bezüglich des Tumors der ent-
arteten linksseitigen Geschlechtsdrüse konnte das Mikros-
18*
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— 276 —
kop einen sicheren Entscheid nicht geben, G. rechnete
diesen Tumor zu den Teratomen. Per i preparati fatti
dal tumore PA. lo ascrive alla categoria dei tumori da
resti fetali in proliferazione : Questi appartenavo con tutta
probilita ad una ghiaodola sessuale gia ditferenziate in
testicolo,' G. gibt au, er sei absolut nicht im Stande,
auf Grund der sorgfältigsten mikroskopischen Unter-
suchung in diesem Falle zu entscheiden, ob der Tumor
aus einem Hoden oder einem Ovarium entstanden war.
Aller Wahrscheinlichkeit nach dürfte es sich doch um
einen degenerierten Hoden gehandelt haben.
4) D e r v eau , Uterus, trompe et testicule contenus dans
une hernie inguinale congdnitale chez un homme" —
Cercle Mddical de ßruxelles 5. IV. 1902 — siehe: Re-
ferat: Zentralblatt für Chirurgie Vol. XXVIII. pg. 952j.
Bei einem 69 jährigen Manne, der Ejakulationen hatte
und aus dessen Ehe 6 Kinder hervorgegangen waren,
fand Derveau bei der Operation eines angeborenen
Leistenbruches im Bruchsacke einen Uterus, Tuben und ein
scheidenähnliches Gebilde, welches wahrscheinlich in die
Harnröhre mündete. Der Hodensack enthielt außer der
Hernie keinen Inhalt, in jedem der ligamenta lata fand
sich ein normaler Hode. Die Blase kam während der
Operation nicht zu Gesicht. Uber den Zustand der äußeren
Genitalien wird nichts berichtet, schreibt Mohr in dem
Referate; ich schliesse daraus, daß wahrscheinlich der
Penis normal gebildet war. Kryptorchismus bilateralis
bei hochgradiger Entwickelung der Müller'schen Gänge.
5j Fantino (Giuseppe): Der Prof essor der Gynäko-
logie Fantino in Bergamo teilte mir am 10. HI. 1902
brieflich mit, er habe am 5. III. bei einem Manne in
hernia inguinali im Bruchsacke einen Uterus gefunden
mit beiden Tuben und zwei Hoden. Der linksseitige
Leistenkanal war leer. (Der Fall scheint bis jetzt noch
nicht publiziert zu sein.)
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— 277 —
6) Filippini [D Morgagni. Dicembre 1900 —
siehe Referat: Mlinchener Medizinische Wochenschrift
1901 No. 10 pg. 403] beschrieb einen Fall von angeblich
wahrem Zwittertume: Er fand bei einem 23 jährigen
Manne bei Operation eines rechtsseitigen Leistenbruches
in hernia einen Uterus und eine Tube und angeblich
ein Ovarium, während linkerseits im Scrotum ein Hode
lag. Die Allgemeinerscheinung dieses Mannes war rein
männlich. Offenbar liegt hier ein Jrrtum in der mikros-
kopischen Deutung der rechtsseitigen Geschlechtsdrüse
vor. [Leider bin ich nicht im Besitz der Originalarbeit,
das Referat ist aber so kurz, daß damit nicht viel anzu-
fangen ist, obwohl ein so seltener Fall gewiß ein ein-
gehenderes Referat verdiente.]
7) Griffith [siehe Gruppe I Fall 9: Uterus bei
einem männlichen Scheinzwitter sub Castratione entdeckt].
8) Guldenarm [siehe: Siegenbeck van Heu-
k elom: Ueber den tubulären und glandulären Hermaphro-
ditismus beim Menschen. „Z i egl e r's Beiträge zur patho-
logischen Anatomie und allgemeinen Pathologie." 1898 Vol.
XXIII. Heft I. pg. 144 — 160]. S. beschreibt einen Mann mit
rechtsseitigem Kryptorchismus und Leistenbruch. Penis
und Scrotum normal. In dem offen gebliebenen Pro-
cessus vaginalis pcritonaei fand sich ein LTterus, sehr
wohl ausgebildet. Am 7. XII. 1896 sandte Guldenarm
aus Rotterdam das postoperative Präparat an Siege nbeck
van Heukelom zur Untersuchung. Guldenarm hattedie
Herniotomie gemacht, weil der Mann absolut kein Bruch-
band vertragen konnte. Ein Arzt hatte ein Bruchband
wegen von ihm vorausgesetzter Hernia omenti verordnet.
Guldenarm entfernte sub operatione die in dem Bruche
enthaltenen Gebilde sowie den linken Hoden und Neben-
hoden. Rechterseits lag Kryptorchismus vor. Statt des
Omentum fand sich in hernia ein vom Peritoneum um-
hülltes Körperchen von 13 Mill. Länge und zylindrischer
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— 278 —
Gestalt; das rechtsseitige Ende dieses Gebildes endete
frei, das linksseitige war in strikter Verbindung mit dem
linken Hoden. Das Gebilde hatte eine dreieckige Ge-
stalt und saß an einem Stiele, der durch den Leisten-
kanal in das kleine Becken ging. In diesem Stiel konnte
man eine Art Strang tasten, welcher in der Richtung
nach dem kleinen Becken zu immer dünner wurde, nach
außen zu aber immer dicker. Dieser Stiel inserierte
in der Mitte jenes dreieckigen Gebildes. Der Stiel wurde
bei der Operation durchschnitten und es zeigte sich,
daß er einen Kanal enthielt, in welchen eine Sonde tief
eindringen konnte bis zur Pars prostatica urethrae.
Dieses zylindrische Gebilde war abgetragen worden dicht
bei der Epididymis. Schon während der Operation ver-
mutete Guldenarm, dieses zylindrische Körperchen sei
ein Uterus und jener sondendurchgängige Kanal ein ductus
genitalis femininus, der sich in die Urethra in capite gal-
linaginis eröffnet. Keine Prostata getastet. Das Präpa-
rat enthielt den amputierten Uterus bicornis, Hoden und
Nebenhoden. Letztere Gebilde standen in inniger Ver-
bindung mit dem peripheren Ende der linken Tube. Es
gelang sub operatione auch den rechten Hoden und
Nebenhoden aus der Bauchhöhle herauszuziehen, wenn man
an jenem Stiele zog.
Die Hernie hatte also das rechte Horn eines Uterus
bicornis enthalten. An dem Präparate fand man den
Ductus genitalis femininus 10 Mill. lang, eine cervix uteri
mit Plicae palmatae ausgestattet, — die rechte Tube war
56 Mill. lang und ohne Morsus diaboli, sie verlor sich im
rechten Nebenhoden. Man fand am Präparate sowohl
eine Hydatis peduneulata als auch eine Hydatis sessilis;
rechterseits von dem ductus genitalis femininus verlief
das rechtsseitige Vas deferens, verbunden mit dem rechts-
seitigen Nebenhoden. Man fand Spuren eines ligamen-
tum rotundum, konnte aber eine Arteria uterina nicht
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279 —
mit Sicherheit am Präparate nachweisen. Siegenbeck
gibt eine genaue mikroskopische Beschreibung. Man
hatte sub operatione den Uterus bicornis samt beiden
Tuben entfernt und auch den rechtsseitigen Hoden und
Nebenhoden, welche aus der Bauchhöhle durch den links-
seitigen Leistenkanal herausgezogen worden waren. Die
Gegenwart so hochgradig entwickelter Mülle r'scher Gänge
bei diesem Manne erinnert an das normale Verhalten
beim Biber, wo normal die Müller'schen Gänge auch
beim Männchen zur Entwickelung gelangen. Siegen-
beck van Heukelom fügt hier eine sehr interessante
Bemerkung hinzu: Die strikte Vereinigung der beiden
Hoden miteinander durch den Uterus bicornis, ein mus-
kulöses, nicht dehnbares Organ, war die Ursache, wes-
halb der rechte Hoden nicht seinen descensus vollziehen
konnte angesichts derKürze des Uterus und seiner Tuben.
Der tubuläre Herraaphroditismus war in diesem Falle
die^ Ursache, weshalb rechtsseitig Kryptorchismus vor-
liegen mußte. Die rechte Tube durchbohrte in schräger
Richtung den rechten Nebenhoden und reichte bis an
jene, zwischen Hoden und Nebenhoden belegene Hydatis
pedunculata, wo sie mit epithelbedeckten Fimbrien en-
dete. Das soll die Richtigkeit der 1871 von Fl ei sc hl
ausgesprochenen und von Waldeyer acceptierten Ver-
mutung beweisen, daß die Hydatis Morgagnii nichts
Anderes sei als das persistierende periphere Ende des
Müll ergehen Ganges.
Siegenbecks Ansicht, daß bei einem so stark aus-
gebildeten tubulären männlichen Hermaphroditismus, wie
er hier vorliegt, entweder ein Kryptorchismus bilateralis
oder Kryptorchismus unilatcralis mit einer hernia conge-
nita da sein muß, erscheint mir durchaus gerechtfertigt.
Er motiviert dieselbe folgendermaßen: Die M üll er'schen
Gänge haben sich, statt zu schwinden, zu einem überall
dickwandigen Gange umgestaltet. Während die oberen
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— 280 —
Teile sich jeder für sich entwickelt haben, sind die
unteren von einer Cervix uteri zusammengeschmolzen und
so sind die Hoden und Nebenhoden mittelst eines un-
unterbrochenen, dicken und verhältnismäßig kurzen Stranges
fest mit einander verbunden. Dadurch wird bei inten-
diertem Descensus testiculorum das Eintreten der Hoden
in je eine Scrotalhälfte unmöglich. Es können sich da-
raus nach Siegenbeck 2, nach meiner Ansicht 3 ab-
norme Lagerungen der Hoden entwickeln. Entweder
bleiben beide Hoden in der Bauchhöle zurück, oder einer
kann in die Scrotalhöhle eintreten, der andere muß in
der Bauchhöhle bleiben nach Siegenbeck, in welchem
Falle der Uterus und die Tuben fest verbunden mit dem
descendierten Hoden notwendig den Descensus des anderen
Hodens verhindern; ich betone als dritte Möglichkeit den
Austritt von Uterus und beiden Hoden in eine und dieselbe
Scrotalhälfte wie im Falle Fantino's (s. i. Vorhergehenden).
9) Pozzi (siehe im Vorgehenden Fall No. 25]. Bei
einem als Mädchen erzogenen männlichen Scheinzwitter in
einer Inguinalhernie neben dem Hoden ein Horn eines
Uterus bicornis.
10) Sänger [siehe im Vorgehenden Fall 27). In einer
Inguinalhernie ein Uterus samt Tube und Parovarialcyste
neben dem Hoden liegend.
11) Stonham [siehe im Vorgehenden Fall 32]. Die
Sektion eines nach Herniotomie verstorbenen Mädchens
ergab männliches Geschlecht, Hvpospadiasis peniscrotalis
mit Kryptorchismus. Neben inneren männlichen Genita-
lien fand sich ein Uterus bicornis nebst Tuben und Vagina.
Hoden lagen da, wo die Ovarien bei Frauen liegen, keine
Samenblasengefunden. Hier ist Siege nb eck's theoreti-
sches Postulat des Kryptorchismus bilateralis erfüllt
12) Thiers ch [siehe Schmorl: „Ein 'Fall von
Hermaphroditismus" Virchow's Archiv. Bd. CXI. 1888.
pg. 229 — 244]. Schmorl beschrieb eine interessante Be-
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281 —
obachtung von Thiers ch. Ein 22-jäbriger Schüler der
Leipziger Kunstakademie trat in die chirurgische Klinik
1887 ein mit der Bitte, auf operativem Wege ihm die
Möglichkeit zu schaffen nach Art der Männer harnen zu
können und daß er auch als Mann den Beischlaf ausüben
könne. Thiersch sagte ihm nach der Untersuchung, er
halte nicht viel von derartiger Plastik, was das Endresultat
anbetreffe. 1882 war ein rechtsseitiger Leistenbruch
ausgetreten, welcher bis in die Tiefe des gespaltenen
Scrotum herabreichte, in derselben Hälfte des Scrotum
tastete man Hoden und Nebenhoden, die linke Hälfte des
Scrotum erwies sich geschrumpft und leer. Thiersch
vollzog eine ganze Reihe plastischer Eingriffe, um den
hypospadischen nach unten gekrümmten Penis gerade zu
machen ! Nachdem er Wasser in die Harnblase eingespritzt
hatte, bemerkte er ein Anschwellen der linken Leisten-
gegend, in der Folge aber erwies sich sowohl die normale
Entleerung der Harnblase erschwert als auch diejenige
durch einen Katheter. Um die Ursache dieser eigentüm-
lichen Erscheinung festzustellen, machte Thiersch jetzt
eine andere Operation, er machte einen Einschnitt wie
bei Herniotomie und fand im Leistenkanale ein Gebilde
von 5 Centimeter Länge und 2 Centiraeter Dicke, welches
er zunächst für den linken Hoden ansah. Nach Unter-
bindung des Stieles trug er diesen scheinbaren Hoden ab,
den Samenstrang kauterisierte er mit Paq uelin's Brenner.
Gleich nach dieser Operation stellte sich eine Peritonitis
ein mit Singultus, Coraa und Tod am nächsten Tage. Bei
der Sektion fand man einen Uterus bicornis und eine
Scheide, welche in eapite gallinaginis der Urethra mündete.
Der Uterovaginalkanal hatte 15 Centimeter Länge. Das
von Thiersch als Hoden abgetragene Gebilde erwies sich
als das periphere Ende der linken Tube mit zwei kleinen
Cysten. Das Abdominalende der rechten Tube lag im
rechten Leistenkanale, die rechtsseitige Inguinalhernie ent-
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— 282 —
hielt das große Netz. Neben der rechten Tube fand ich
ein Parovarium, die rechte Hälfte des gespaltenen
Scrotum enthielt einen atrophischen Hoden ohne Neben-
hoden und ohne Vas deferens." Schmorl betrachtete ein
atrophisches kleines Gebilde, halbkirschengroß rechterseits
im Bindegewebe unterhalb des abdominalen Endes der
Tube belegen, als einen rudimentären Eierstock, freilich
ohne den geringsten Beweis für die Richtigkeit dieser
Annahme bringen zu können. In diesem Falle wies nicht
die Hemiotomie, sondern die postmortale Leichenschau
das Existieren eines Uterus bicornis und einer Scheide
nach. Kryptorchismus unilateralis bei hochgradiger Ent-
wickelung der Müller'schen Gänge.
13) Winkler [„Uber einen Fall von Pseudoherma-
phroditismus masculinus externus*. I. D. Zürich 1898].
52-jähriger Mann behaftet mit einem angeborenen Leisten-
bruche. Während einer Hemiotomie im Jahre 1878 hatte
man Kryptorchismus konstatiert 1892 kam es zu einem
Recidiv des Bruches. Man machte den Bauchschnitt und
durchschnitt einen Adhaesionsstrang, welcher die Darm-
unwegsamkeit veranlaßt hatte. Der Kranke starb trotz-
dem am nächsten Morgen infolge von Peritonitis acutissima.
Die Nekropsie wies einen Hoden, den rechtsseitigen, in
der Bauchhöhle nach, linkerseits fand man in der Mün-
dung des Leistenkanales das periphere Ende der linken
Tube. Man fand in der Bauchhöhle einen Uterus bicornis
mit Scheide, — der Uterovaginalkanal hatte eine Länge von
17 Centimetern. Der Uteruskanal war 9 Centimeter lang,
die Vagina 8. Das untere Scheidenende war von der
Prostata umschlossen. Penis klein aber normal, Scrotum
leer. Oberhalb der Prostata fand man die Mündung des
linken Vas deferens in die Vagina, die linke Samenblase
lag seitlich von der Vagina. Fundus uteri 2 Centimeter
breit. Man fand natürlich eine Excavatio rectouterina
und vesicouterina. Die linke Tube verlief in Ligamento
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— 283 —
Riö"bert<fel
Vig. 13.
Anatomisches iv.ipar.it der inneren' Genitalien eines 52j.1hr.* Kryptorchisten 'mit
hochgradiger Entwicklung der M ü I ler 'sohen'Gilnge. Beobachtung von Wi nck 1er,
Nekropsie ron Ribbert vollzogen. Der weibliche (ieuitalschlauch ist" vonjhinten
der Lftpgc nach eröffnet. Ei = Einmundungastelle'dtsjrteru« in die. Urethra, ent-
sprechend dem Sitz einer normalen Vesdcula prostatica ; Pnmt. Prostata; du. ej. =
Ductus ejoculatoriu» ; 1. Sa. - linker Samenleiter; r. Sa. — rechter Samenleiter;
Vag. = Vagina; Ut. — Uterus; 1. vas'def. - linkes Vas lieferen»; r. Tu. rechte
Tube ; Cy. Cysten ; r. Ho. rechte Hode; Lig. la. = Ligamentum latum ;*). Tu. : —
linke Tube ; Ne. Ho. N'ebwnbodenkaniilcheu; ;l.**Ho. linker Hode ; Firn. -
Fimbrien der. ÜukenVrube.
a8'-ktionsprJl>ar»t votn^Utorus masculinus eines'Kryptorchistcn.
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— 284 —
lato. Das periphere Ende der rechten Tube lag der
Bauchwand an, hatte aber kein Ostium, statt des Morsus
diaboli fanden sich nur einige Cvstchen. Nur das linke
Ligamentum rotundum war vorhanden, das rechte fehlte.
Man fand beide Hoden, Nebenhoden, Vasa deferentia und
Samenblasen. Der linke Hode lag an Stelle des Ovarium,
der rechte ganz nahe der Bauchwand. Ductus ejaculatorii
ohne Lumen. Wi n c k 1 e r gibt detaillierte anatomische Be-
schreibung. Dieser Kryptorchist hatte also neben seinen
männlichen inneren Genitalien auch hochgradig entwickelte
weibliche Geschlechtsgänge. [Siehe Fig. 13. Kryptor-
chismusbilateralisSiegenbeck'sbei tubulärem männlichen
Hermaphroditismus.l — Die Operation von Prof. Kroen-
lein ausgeführt. Die Sektion von Prof. Kibbert.
Bei der Bruchoperation wegen Einklemmung 1878
fand man, daß der rechte Hoden und Samenstrang mit dem
Brnchinhalt vor dem äußeren Leistenringe lagen und bei
der Reposition der Darmschlingen der Hoden große Tendenz
zeigte, mit in die Bauchhöhle zurückzugleiten. Scrotum
geschrumpft, Penis pueril, Pubes männlich, Stimme männ-
lich. Als Patient 1892 in die Klinik kam, erwies sich
der recidivierte Bruch reponibel, man machte also eine
Herniokoeliotomie.
Im Anschluß an die dritte Gruppe teile ich hier eine in
ihrer Art einzig dastehende Beobachtung von Prof. Garre*
(Königsberg) mit: „Ein Fall von echtem Herraaphroditis-
mn.s." Deutsche med. Wochenschrift 1003. N. 5 fm. Abbild g.l
Anmerkung: Im II. Jahrgänge dieses Jahrbuches pg. 845
ist ein Telegramm ans Brescia vom 14. November wiedergegeben.
Es wurde daselbst ein verheirateter Mann, dessen Ehe Kinder ent-
sprossen sind, wegen doppelseitigen Leistenbruches operiert: in der
Tiefe der rechten Leiste fand sich ein Uterus mit 2 Tuben und einem
Ovarium. Zunächst dürfte wohl hier irrtümlich ein Hoden 9 für
ein Ovarium angesehen sein. Ich habe diesen Fall nicht regi-
striert, weil ich vermute, daß sich dieses Telegramm auf den Fall von
Filippini betieht. N.
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285 —
Ein 20jähriges aus Rußland stammendes Individuum
wurde im Sommer 1902 in die chirurgische Klinik auf-
genommen. Es war das als Knabe erzogene Individuum
angesichts einer Reihe in letzter Zeit auftretender Er-
scheinungen an seinem männlichen Geschlechte zweifelhaft
geworden. Die Brüste, besonders die linke, entwickelten
sich stark und schwollen periodisch au, aus dem Genitale
traten in regelmäßigen vierwöchentlichen Intervallen
Blutungen auf, überdies ging bisweilen unter sexueller
sich stets an die Vorstellung eines weiblichen Wesens
knüpfender Erregung ein weißlicher Schleim ab. All-
gemeiner Körperbau mehr weiblich : runder Kopf, langer
Hals, langer Thorax mit sehr gut entwickelten Brüsten,
gerundetem Abdomen, breite Becken mit breit ausgeladenem
Schamwinkel. Genitale: stark entwickelt, penis hypo-
spadiaeus, schlaüe gutbehaarte Geschlechtsfalten, die eine
mit niedrigem Hautsaum umgebene Öffnung umschließen,
von der aus man mit einem Katheter in die Blase gelangt.
Per rectum fühlte man scharf die D o u g 1 a s falte (?), sodann
links einen Strang, der sich seitlich an die Urethra an-
zusetzen schien, zur Linea innominata hinaufzog und hier
neben sich zwei etwa taubeneigroße, gegen einander gut
verschiebliche Körper fühlen ließ, von denen der eine
etwas höckrig erschien.
Rechts nichts Sicheres fühlbar, hingegen hier ein
ovoider, etwa taubeneigroßer vor den Leistenkanal ge-
legter Körper, der wohl als Geschlechtsdrüse anzusprechen
war, ohne aber eine Entscheidung ob Hoden oder Eier-
stock zu gestatten. Unter Kreuzschmerzen in der dritten
Woche des Hospitalaufenthaltes eine geringe Blutung
aus dem Genitale. Da das Geschlecht klinisch sich nicht
entscheiden ließ, so schlug Garre* einen Probeeinschnitt
vor auf das rechterseits vor dem Leistenkanal liegende
Gebilde zu. Patient* der unter allen Umständen sich
Anerkennung als Mann verschaffen wollte, ging auf den
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— 286
Vorschlag ein. Die Operation ergab folgenden merk-
würdigen Befund: Nach Durchtrennung des als Bruch-
sack vorgewölbten Peritoneal blattes ließ sich an einer
Peritonaealfalte ein sicher als Tube anzusprechendes
Gebilde hervorziehen, das sich in seinem uterinen Ende
in der Peritonäalplatte verlor; unter ihr subperitonaeal
lag ein höckriger, anscheinend aus einem Schlauchgeflecht
zusammengesetzter Körper, der als Parovarium bezw.
Ovarium aufgefaßt wurde; aus dessen in die Bauchhöhle
ziehenden Peritoneal blatt trat sodann ein etwa taubenei-
großer gelblicher Körper hervor, dem kappenartig ein
halbbohnengroßer, mehr weißlicher Knoten, ursprünglich
als Epididymis angesprochen, aufsaß; es zeigte sich jedoch,
daß in dem von diesem als Keimdrüse imponierenden
Gebilde abgehenden Peritonäalblatt ein festerer Strang
verlief, der nur als Vas deferens aufgefaßt werden konnte,
und neben diesem subperitonäal ein erbsengroßer, höck-
riger Körper, mutmaßlich der Nebenhoden.
Da somit der männliche Geschlechtsapparat vorhanden
zu sein schien, wurden als unbrauchbar die Tube und der
unter ihr gelegene Körper abgetragen, aus den übrigen Teilen
der Keimdrüse kleine Keile excidiert, desgleichen ein Teil
des neben dem Vas deferens gelegenen Körpers exstirpiert.
Die Präparate wurden von Dr. Simon, Volontärarzt
der Klinik, mikroskopisch untersucht. Der größere untere
Teil der Keimdrüse soll darnach einen Hoden mit den
Charakteren des Leistenhodens ohne Zeichen von Sper-
matogenese darstellen, der kleinere dem unteren kappen-
artig*^ufsitzende weißliche Knoten ein Ovarium, der unter
der Tube gelegene Körper ein Parovarium und das neben
dem Vas deferens gelegene Gebilde eine Epididymis.
Ovarium und Hoden sollen beide histologisch gut ausge-
bildet sein. Garre* vermutet, daß die beiden bei Unter-
suchung per rectum linkerseits getasteten Körperchen,
von denen der eine flacher, der andere rundlicher er-
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— 287 —
schien, Ovarium und Hoden seien, es würde dann bila-
teraler glandulärer Hermaphroditismus vorliegen. Es sollen
in diesem Falle zum ersten Male am lebenden Individuum
sowohl grob anatomisch als auch histologisch an frischen
Präparaten Testis und Ovarium nebeneinander konstatiert
worden sein.
Wie bekannt hat von sämtlichen Fällen, wo bisher
glandulärer, also echter Hermaphroditismus beim Menschen
beschrieben wurde, keiner der älteren einer mikros-
kopischen Kontrol Untersuchung Stand gehalten, nicht ein-
mal die von Black er und Lawrence beschriebene
Ovotestis — eine Geschlechtsdrüse mit gemischtem Bau.
Bisher ist nur der einzige Fall von v. Sal£n noch nicht
angefochten worden. Gleichwohl wäre es dringend zu
wünschen, daß sowohl die Präparate dieses Falles als
auch diejenigen des von Keller (Bloom fontein) ver-
öffentlichten, eines neuerdings im Anatomischen Anzeiger
angezeigten Falles und diejenigen von Garre* und Simon
einer strengen mikroskopischen Kontrole unterworfen
würden. Theoretisch muß die Möglichkeit des Vorkommens
von glandulärem Uermaphroditismus beim Menschen laut
Analogie mit der Tierwelt zugegeben werden, es wäre
unendlich wichtig, wenn die Behauptungen Simonis
bezüglich der Königsberger Präparate sich als tat-
sächlich begründet erweisen würden.
Vierte Gruppe.
45 Fälle von Coincidenz von gut- oder bösartigen
Neubildungen mit Scheinzwittertum einschliesslich
der an Scheinzwittern vollzogenen Bauchhöhlen-
operationen.
-
1) Abel [„Ein Fall von Hermaphroditismus mas-
culinus mit sarkomatöser Cryptorchis sinistra* — Vir-
chow's Archiv Bd. CXXVL Berlin 1891}
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— 288 —
Am 21. Oktober 1890 kam die 33jährige Albertine
R. aus Schlawe in die Greifswalder Frauenklinik. Das
Mädchen war verlobt, wurde von ihren Freundinnen
vielfach gehänselt wegen ihres immer stärker werdenden
Leibes und suchte nun die Klinik auf, um von der im
Bauche sich entwickelnden Geschwulst befreit zu werden.
Patientin soll früher stets gesund gewesen sein, vom
20. Jahre an soll sie die Regel allmonatlich drei Tage
lang ohne Beschwerden gehabt haben. Im Frühling 1890
fühlte Patientin einmal unabhängig von der Regel heftige
Schmerzen im Leibe, bald darauf begann der Leib stärker
zu werden und nahm bis jetzt unausgesetzt an Grüße zu.
Auch während dieser ganzen Zeit blieb die Regel schmerz-
los. Die letzte Regel vor 14 Tagen etwas schwächer
als sonst Miktion und Defäkation normal.
Patientin war klein, zart gebaut, von gesunder Gesichts-
farbe ohne Ödeme. Der Körper scheint normal gebaut.
An den Genitalien und in den Achselhöhlen fehlt jede
Spur von Behaarung. Patientin fühlt sich wohl, verlangt
aber trotzdem eine Operation. Leib aufgetrieben, besonders
unterhalb des Nabels, namentlich links. Ein elastischer
cystischer Tumor liegt größtenteils links im Leibe. Der
Tumor reicht nach unten zu bis an den Beckeneingang,
wo er etwas spitz zuläuft. Der Tumor hat die Gestalt
einer Birne, deren spitzes Ende nach unten rechts zu,
das obere breite nach oben links zu gerichtet ist, sodaß
auch die Kuppe des Tumors links von der Mittellinie
liegt, 6 Centimeter oberhalb des Kabels, während der
Tumor in der Mittellinie den Nabel nur um 4 Centimeter
überschreitet Oberfläche glatt> Konsistenz gleichmäßig
prall, elastisch. Scheideneingang eng, Hymen vorhanden,
der Finger findet die Scheide als einen kurzen Blindsack ;
drängt man den Tumor herab, so kann man ihn durch
das Scheideugewölbe fühlen.
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— 289 —
Eine Portio vaginalis uteri tastet der Finger nicht;
im Speculum sieht man im linken Scheidengewölbe eine
Andeutung der Portio vaginalis uteri, welche aber eiue Sonde
nirgends einläßt. In der rechten Leistengegend fühlt man
einen Körper von der Größe und Gestalt eines Eierstockes,
welcher sich leicht nach der Bauchhöhle zu verschieben,
aber nicht in dieselbe hinein schieben läßt. Vom unteren
Rande der Urethralmündung hing ein etwa bohnengroßer
Polyp herab. Die Diagnose wurde auf congenitalen
Verschluß der Vagina und Haematometra gestellt Man
versuchte sub narcosi mit einer Sonde durch die Portio
vaginalis uteri sich einen Weg zu bahnen, nachdem die
Kuppe der Vagina im Speculum eingestellt war. Da
es nicht gelang, das Gewebe bis zu dem Tumor stumpf
zu trennen, so spitze Lanze. Man schafft einen Kanal,
der Finger dringt ein und fühlt jetzt den Tumor deut-
licher. Man führt einen Katheter in die Stichkanalwunde
ein und daneben eine Kornzange, welche jetzt geöffnet
wird, um den Kanal zu erweitern. Endlich wird ein
Troicart eingeführt und in den Tumor eingestoßen: dann
seine Canüle weiter eingedrängt. Es entleeren sich bei
Druck auf den Tumor nur einige Klümpchen geronnenen
Blutes und einige Bröckel einer glasigen, grauen,
weichen Masse. Man spricht jetzt den Tumor als bös-
artig an. Taraponade der Scheide. In derselben Sitzung
entfernte man mit einem Scherenschlage den Urethral-
polypen. Abends Fieber + 39° C, am nächsten Tage bis
+ 41" und nach 36 Stunden Tod an Peritonitis.
Sektion: Aussehen der Leiche weiblich, Brüste klein
mit kaum erkennbaren Warzen, in der Beckenhöhle ein
Tumor, welcher einem 8 Monate schwangeren Uterus
ungemein ähnlich sieht. Im rechten Leistenkanale ein
nach der Bauchhöhle zu verschiebliches Gebilde, welches
aus zwei Anteilen besteht, die wie Hoden und Neben-
hoden aussehen, durch einen breiten Strang au den Boden
Jahrtmch V. 1H
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290 —
der rechten Schamlefze fixiert. Der Leistenkanal ist für
einen Finger durchgängig, aber sein Abdominalende ver-
schlossen. Die Scham sieht aus wie die eines 12jährigen
Mädchens. Möns Veneris fettarm und nicht behaart.
Die Lefzen liegen einander an und vereinigen sich unten
unter einem spitzen Winkel. Damm drei Centimeter lang.
Kleine Schamlippen ganz normal gebaut, vom Charak-
ter einer Schleimhaut (?), umfassen nach oben zu die
kleine etwa drei Mill. weit vortretende Clitoris. Urethra
4 Cent. lang. Vagina mündet in vestibulo, ihr Eingang
von Hymenairesten umgeben (Einrisse sub operatione
entstanden oder nach Beischlafsversuch ?-N.) — Columnae
rugarum an den Scheidenwänden deutlich. 4,8 Centimeter
oberhalb des Scheideneinganges sieht man keine Schleim-
haut mehr, sondern den neugeschaffenen Wundkanal.
Nach links von dessen Öffnung sieht man einen kleinen
Wulst als Rest der Portio vaginalis uteri. Von der
Öffnung aus verläuft der Stichkanal 4,7 Centimeter weit
durch straffes oberhalb der Vagina liegendes Gewebe,
durchbohrt zweimal die Harnblasenwand und dringt ein
wenig in den Tumor ein. Der mannskopfgroße Tumor
erwies sich als ein Sarkom des linken, in der Bauchhöhle
retinierten Hodens. Cryptorchis sinistra sarcomatosa
rechts mit dem Omentum inajus verwachsen. Das Bauch-
fell überzog den Tumor und bildete an seiner Arorder-
seite eine Duplikatur, einer Wagentasche ähnlich, deren
freier Band 12 Centimeter in der Länge maß, deren Tiefe
bis zu drei und einen halben Centimeter reichte. 1 Centi-
meter nach unten und rechts vom Grunde dieser Tasche
entsprang retroperitoneal ein fester Strang von Bleistift-
dicke, völlig solid und an der einen Seite in der Ge-
schwulst endend, an der anderen Seite verlor er sich im
Bindegewebe der linken Leistengegend. Die Gebilde
im rechten Leistenkauale erwiesen sich als der rechte
Hoden und ein ihm aufsitzendes Leiomyom, wohl aus dem
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— 291 —
Nebenhoden entstanden. Samenleiter und Sanienbläschen
fehlten. Der Strang, welcher von dem Tumor nach der
linken Leistengegend verlief, wird von Abel als Guber-
naculum Hunteri aufgefaßt. Was nun die angebliche
regelmäßige Periode anbetrifft, schon vom 20. Jahre an,
so glaubt Abel, es seien Blutungen, veranlaßt durch den
Harnröhrenpolypen, irrtümlich als menstruelle Blutung
von der Patientin aufgefaßt worden. Was das geschlecht-
liche Empfinden anbetrifft, so fühlte sich Albert ine
als Madchen und liebte innig ihren Bräutigam. [Per-
sönlich möchte ich vermuten, die Entstehung des Harn-
röhrenpolypen stehe in Zusammenhang mit Beischlafs-
versuchen als Produkt eines künstlich geschaffenen
Ektropium urethrae deficiente vagina oder vagina pro
immissione membri virilis nimis arcta. N.j
Dieser von Abel beschriebene Fall zeigt zur Evidenz,
welchen groben diagnostischen Irrtümern der Chirurg
hier unterworfen sein kann und wie unendlich vorsichtig
man in der klinischen und anatomischen Beurteilung
solcher Fälle vorgehen muß! — Welcher Gynaekologe
würde wohl hier die richtige Diagnose gestellt haben?
Es erscheint ja rationell, in einem solchen Falle zunächst
einen diagnostischen Leisteneinschnitt, in diesem Falle
rechterseits zu machen, um den Charakter der dort
getasteten Geschlechtsdrüse festzustellen, selbst mit Exstir-
pation derselben. Hätte man dies ausgeführt und kon-
statiert, daß dieselbe ein Hoden ist, so wäre selbstver-
ständlich die Operation per vaginam, welche den Tod
herbeiführte, nicht ausgeführt worden, sondern man hätte
sofort den Bauchschnitt gemacht um den jetzt von vorn-
herein diagnosticierten Hodentumor zu entfernen. [Die
Kasuistik solcher Fälle ist reicher als der Chirurg ahnt,
aber sie ist noch zu wenig berücksichtigt — wer dieselbe
kennt, der wird natürlich leichter solche grobe diagnostische
Mißgriffe vermeiden. — Gerade auf diese Kasuistik in
19*
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— 292 —
weiteren Kreisen aufmerksam zu machen, ist der Zweck
meiner heutigen Zusammenstellung. N.]
2) Audain [„Hermaphrodisme double, k)rste der-
raoide des ovaires" Annales de Gvndcologie et d' Obst£-
trique Vol. XI. 1893 pg. 362], Ks handelt sich um eine
beiderseitige Ovariotomie bei Dermoidcystomen bei einem
Individuum mit männlicher Behaarung und bedeutender
Clitorishypertrophie. Die Clitoris der 29 jährigen Krauken
war fingerlang und 3 Centimeter dick. Schnurrbart Neben
dem größeren der beiden Dermoide fand sich auch eine
Parovarialcyste. Die Person genas. [Da ich die Original-
arbeit nicht gelesen habe, sondern nur ein Referat von
Stumpff, so kann ich nicht sagen, ob der ovarielle
Charakter der Tumoren mikroskopisch festgestellt worden
ist ; wo nicht, so bleibt immer noch ein Zweifel erlaubt,
ob es sich nicht um Tumoren der in der Bauchhöhle
retinierten Hoden eines verkannten männlichen Schein-
zwitters gehandelt hat. Die vorstehende Kasuistik würde
uns zu so einem Zweifel vollauf berechtigen, da makros-
kopisch eine Bestimmung, ob ovarieller oder testiculärer
Tumor, lange nicht in allen Fällen möglich, geschweige
denn leicht ist. N.J
3) Bacaloglu und F ossär d [„Deux cas de Pseudo-
hermaphrodisme (Gynandroides) La Presse Medicale 6.
XII. — 1899 pg. 331 — 333]: Die 31jährige
A. Lefrancois trat am 15. August 1899 wegen starker
Leibschmerzen, welche schon vier Tage dauerten, in das
Hospital ein und wurde auf dem Krankensaale des Dr.
Troisier untergebracht. Die bisher absolut gesunde Person
giebt an, sie habe ganz plötzlich nach dem Abendessen
am 12. August sehr starke Schmerzen rechterseits im
Unterleibe bekommen. Sie wandte zunächst keinerlei
Mittel an, in der Hoffnung, die Schmerzen werden über
Nacht vergehen — es kam jedoch anders! Am nächsten
Tage wurden die Schmerzen [noch stärker trotz Kata-
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— 293 —
plasmen mit Opiumzusatz. Wegen habitueller Verstopfung
verordnete man Clysmata mit Zusatz von Glycerin. Am
14. August Status ideni. Am 15. Meteorismus des Leibes,
stark galliges Erbrechen, ständige Uebelkeiten. Darum
entschloß sich die Kranke in das Hospital zu gehen. Es
fiel den Aerzten sofort auf, daß diese Person trotz an-
scheinend normalen weiblichen Körperbaues einen männ-
lichen Gesichtsausdruck hatte. Behaarung weiblich,
außer Anflug von Bart an Oberlippen und Kinn. Extre-
mitäten klein, weiblich. Becken weiblich, Brüste minimal.
Leib sehr aufgetrieben, besonders schmerzhaft in der
Gegend der fossa iliaca dextra. Erbrechen von kopiösen
grünlichen Massen. Facies peritonitica, trockne Zunge,
Puls 130 pro Minute. Man vermutete zunächst eine
Appendicitis oder eine Erkrankung der rechtzeitigen
Uterusadnexa und untersuchte per vaginam. — Zu ihrem
größten Erstaunen bemerkten nun die Aerzte, daß gar
keine Vaginalöffnung vorlag, sondern daß der Finger in der
ganz bedeutend erweiterten Analöffnung sich befand. Der
Finger tastete per rectum ausgezeichnet sowohl den Uterus
als auch die beiderseitigen nicht druckschmerzhaften
Adnexa. Man schloß jetzt eine Genitalerkrankung aus,
vermutete eine Appendicitis und holte einen Chirurgen
Dr. Bougle. Derselbe vollzog nachts um 1 Uhr den
Bauchschnitt in der Mittellinie. Aus der Wunde ergoß
sich sehr viel Eiter; man fand den Wurmfortsatz stark
geschwellt und hyperämisch. Man fügte einen Einschnitt
der Bauchdecken in der rechten regio iliaca hinzu,
öffnete den Wurmfortsatz, der fäkale Massen enthielt,
und resecierte ihn; hierauf wurde die Bauchhöhle aus-
gespült und die Wunden vernäht. Trotz Kochsalz-
infusion etc. erfolgte der Tod nach zwei und einer halben
Stunde. Am 17. August Sektion: Penis 8 Centimeter
lang und 5 Centimeter im Umfange statt einer Clitoris
gefunden, Scham üppig behaart. Unterhalb der weib-
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— 294 —
liehen Harnröhrenöffnung keine Spur von Vaginalostium
gefunden, zwischen den Schamlefzen zog sich eine glatte
Haut von der Urethral Öffnung bis zur Analöffnung hin;
ein Damm von 10 Centimetern fand sich. Bei der Er-
öffnung der Bauchhöhle fand man einen rudimentär ent-
wickelten Uterus mit Tuben, Ovarien und Ligamenta
rotunda. Uterushöhle 5 Centimeter lang, Cervix andert-
halb Centimeter lang. Arbor vitae deutlich. Die Scheide
8 und einen halben Centimeter laug, schließt unten blind,
infolge von Verwachsung der großen Schamlippen mit
einander. Die cystisch entarteten Ovarien haben, das
rechte 6 Centimeter Breite und 5 Höhe, das linke 6
und 4. Man fand mikroskopisch in den Ovarien keine
Graafschen Follikel, sondern nur ein sklerotisches
Gewebe, wenig Blutgefäße, sehr viel Bindegewebe mit
kleinen proliferierenden Embryonalzellen. De facto
sahen mikroskopisch die Ovariengewebe aus wie Narben-
gewebe. „On y peut distinguer des vaisseaux ä parois
hypertrophides et scleros£es et des bandes de tissu fibreux
adulte." Auch in dem Uterusgewebe fanden sich die
Auzeichen einer ausgesprochenen Sclerose. Co rnil kon-
statierte, daß es sich um Ovarien und nicht um Hoden
handelte. Die Periode hatte diese Person niemals gehabt,
sonst wäre es zur Bildung einer Hämatokolpometra ge-
kommen. Dieser Fall würde also in das Gebiet der
weiblichen Genitalatresien gehören mit Hypertrophie der
Clitoris und einigen männlich entwickelten secundären
Geschlechtscharakteren.
4) Bazv [Bulletins et Mömoires de la Socie*t<? de
Chirurgie de Paris, Tome XXVIIIl — 1902. N: 31
pg. 943]; Eine Weibsperson trat in das Hospital ein
wegen Appendicitis und wurde von Chevallier operiert.
Nach der Operation wurde diese Person Herrn Bazy
als Mann vorgestellt. Es war ein männliches Individuum
mit Hypospadiasis peniscrotalis und Anwesenheit beider
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— 295 —
Hoden in dem gespaltenen Scrotum. Trotz seiner 26
Jahre hatte dieser Scheinzwitter dennoch keine Spur von
Bartanflug im Gesicht. Mangel der Brüste. Bis jetzt
keinerlei Geschlechtstrieb ausgesprochen. In diesem Falle
führte die Appendicitis zu einem Kontakt mit dem
Chirurgen und führte so die Aufklärung einer Erreur
de sexe herbei.
5) Carl Beck [,,A case of Hermapbrodism" —
Medical Record. 25th July. 1896 Vol. I. N: 1342 pg 135,
und pg. 694 und 14. XI. 1896. N: 1358 pg. 724 und
Medical Record 20. II. 1897 pg. 260: „Description of
specimen taken from a hermaphrodite"] : L. M., 21 Jahre
alt, als Mädchen getauft, hatte bis zum 19. Jahre als
Mädchen gegolten, war aber zu dieser Zeit als Mann er-
klärt worden und wechselte demnach seinen Civilstand.
Allgemeinaussehen, Gesichtsausdruck, Stimme und Be-
haarung weiblich; gleichwohl hatte dieses Individuum
schon im 15. Jahre den Beischlaf als Mann praktiziert,
Penis hypospadiaeus zwei und einen halben Zoll lang.
Scrotum gespalten. An der Unterfläche des Penis sieht
man die Narbe nach einer plastischen Operation, um die
Abwärtskrümmung des Penis zu beseitigen. Die Scheide,
vier Zoll lang, weist einen eingerissenen Hymen auf, läßt
den Finger ein. Im Scheidengrunde tastet man das
Collum uteri. Niemals Menstruation. Während des Bei-
schlafes entleeren sich aus zwei Öffnungen jederseits des
„Infundibulum", wie der Mann sich ausdrückte, mit
Ejakulation einige Tropfen einer klebrigen Flüssigkeit.
Der Penis wird sub coitu strotzend und zweimal größer
als sonst. Man fand einen schmerzhaften, fluktuierenden
Tumor rcchterseits im Unterbauche und einen kleineren
linkerseits. Am 25. Juli 1896 entfernte Beck mit
Bauchschnitt beide Tumoren, die er für sarcomatös ent-
artete Hoden ansah. Die Operation war sehr schwierig
wegen zahlreicher Verwachsungen der Tumoren mit der
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— 29(3 —
vorderen Bauchwand und den Därmen. Während der
Operation gelang es nicht, eine genauere Inspektion der
Bauchhöhle vorzunehmen. Der Patient starb am 18. Tage
nach der Operation infolge einer Pneumonie. Bei der
Sektion fand man einen Uterus von zwei und einem
Viertel Zoll Länge, dessen Höhle im oberen Teile von
Flimmerepithel, im unteren von plattem Epithel ausge-
Fig. i4. Vulva eines als Mädchen erzogenen mUnnlichen
Scheinzwitters. Beobachtung von Beck.
kleidet war. Die Tuben enthielten kein Lumen, besaßen
aber Ampullae. Unterhalb der Tuben soll man angeblich
Ovarien gefunden haben (? — N. — ) — Brooks unter-
suchte mikroskopisch die Tumoren und erklärte sie für
Teratome oder Blastoderme; einige Anteile der Tumoren
boten das Aussehen und den Bau eines alveolaeren
Google
Sarcomes. Man fand weder B arthol in i 'sehe noch
Cowper'sche Drüsen, welche ja Produkte der gleichen
Anlage sind, also einander entsprechen. Becken und
Schambehaarung männlich. Der Patient war untersucht
worden von Garrigues, Bangs, Wallach, Irwin,
Sprague, Dowling, .Tohnston, Little, Schoene-
berg, Cavanagh. Da eine mikroskopische Unter-
Fig. lf>. Vulva eines als Mädchen erzogenen männlichen
Scheinzwitters. Beobachtung von Beck.
suchung der angeblichen Ovarien nicht ausgeführt wurde,
so muß man Munde [Med. Reeord 1896 pg. 214] und
Keller ( ibidem | Recht geben, wenn sie das Individuum
einfach für einen männlichen Hvpospaden ansahen mit
Bildung von Uterus und Vagina. (»Siehe Fig. 14 GL. 15.)
6) Carle [siehe im Vorhergehenden: Dritte Gruppe
No. 3| fügte in seinem Falle von Herniotomie den Bauch-
— 298 —
schnitt hinzu, um sich über diesen Fall Klarheit zu ver-
schaffen.
7) Chevreuil [siehe Georgus Steglehner: „De
Hermaphroditorum Natura tractatus anatomo — physiologico
— pathologicus.* Banibergae et Lipsiae 1817 — pg. 91]:
Anna Bergault, Andegariensis, habitu masculino et
barba nigra instructa virorum moribus , amictu femiuarum
ex tumore magno in inguine sinistro gravibus sympto-
matibus afflictatur; petit auxilium chirurgi Pelletier,
qui examine de tumore instituto, insuetam genitalium
fabricam advertit, de quo certiorem reddit celeb. Bon-
denarium Parisiensem et Dr. Chevreuil Andegariae
medicinam exercentem. Hic quae vidit et in viva et in
cadavere, sequentibus refert. Instructa erat pene
clitorideo, Septem ad octo linearum diametri, pollices
unum et dimidium longo, glande terminato praeputio
cincta; sub glande sulcus aderat, qui pro recipienda
Urethra destinatus videbatur. Canalis urethrae tenuis sed
dilatatus sub virgae medium orificio desiit, et sulco
glandis ad urethram usque frenulum apparuit cutaneum.
Ab orificio urethrae in dextro latere descendit plica
cutanea major, quae pudendi labium simulabat; in sinistro
latere haec cutis plica a tumore qui cutim distenderat,
deleta erat Vaginae ostium nullum sed annus infra
patuit. Ex annulo prodiit tumor, qui capitis infantilis
magnitudine ab ilei ossis spina superiori versus pubis
arcum oblique ductu procedens in immi ventris cava
versus hypochondrium sinistruni et epigastrium ascendit.
Post mortem aegrotae Chevreuil cadaver apperiebat, qui
sub tumore vesicani deorsum urgente uterum cavum
pollicem longum et uteri cervicem detexit, qui in urethram
ovali ostio hiabat, superius labio rubente obtecto. In
latere uteri dextro ligamentuni rotundum adhaesit et
inter ligamenti lati laminas ovarium et tubae reperie-
bantur, in sinistro latere obscrvatus fuit tumor hydropicus
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299 --
ovarii, cui tuba sinistra imponebatur; pars hujus tumoris
in abdomine erat, pars ejus autem per annulum transiit»
et tumorem exterius visendum constituit, in abdomine
mesenterium in massam scirrhosam ab ilei regione ad
processum sterni xyphoideum coaluerunt."
In diesem Falle scheint es sich also um einen Tumor
einer Geschlechtsdrüse zu handeln, der sanduhrförmig
teilweise in der Bauchhöhle lag, teilweise durch den
Leistenring nach außen getreten war. Ste glehner gibt
C h e v re u i 1 s Angabe wieder, es habe sich um einen Ovarial-
tumoi gehandelt. Möglich ist ja dieses, aber es erscheint
auch nicht ausgeschlossen, daß es ein Hodentumor war
bei Zurückhaltung des anderen Hodens in toto in der
Bauchhöhle und Vorhandensein eines hochgradig ent-
wickelten Uterovaginalkanales, der in die männliche
Urethra mündete. Heute ist natürlich von einer Ent-
scheidung solcher zweifelhaften Fälle nicht zu reden, da
nur das Mikroskop, aber nicht das makroskopische Aus-
sehen einer Geschlechtsdrüse entscheiden kann. Zum
Beweise führe ich den oben erwähnten Fall an, wo
Martin in dem Glauben, ektopische inguinolabiale
Ovarien exstirpiert zu haben, noch bei makroskopischer
Betrachtung der exstirpierten Gebilde fest überzeugt
war, es seien Eierstöcke — ja er glaubte sogar Follikel
zu sehen — , wo doch das Mikroskop auf Hoden mit aller
Bestimmtheit verwies.
8) Clark [„Nephrolithotomie chez un hermaphrodite"
— MeMecine Moderne 1896 No. 43 — Referat: Frommel's
Jahresbericht für 1897 pg. 927 No. 18]: Eine Frau starb
nach einer von Clark vollzogenen Nephrolithotomie. Die
Sektion erwies, daß diese Person, die zeitlebens als Frau ge-
golten hatte, ein männlicher Scheinzwittcr war. Penis hypo-
spadiaeus rudimentarius, rudimentaere Prostata, kein Uterus,
Brüste männlich angelegt, Scrotum gespalten, der rechte
Hoden lag in der Schamlefze, der linke im Leistenkanale.
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— 300 —
9) Delageuiere aus Tours berichtete der Pariser
Soctfte' de Chirurgie [siehe Progres Medical 1899 No. 2|
folgende interessante Beobachtung: Er fand bei einer
27jährigen Frau eine absolut normal gestaltete Vulva
mit ganz kleiner Clitoris, regelrechten Schamlippen,
sodaß absolut nichts und nichts vorlag, das einen Zweifel
an dem Geschlechte hätte hervorrufen können. Die
Scheide erwies sich aber in der Höhe von 5 Centimetern
blind geschlossen. Von Zeit zu Zeit sollen menstruale
Phaenomene aufgetreten sein. Er konstatierte jederseits
einen „petit point d'hernie inguinale". — Ein Bruchband
vertrug die Person absolut nicht: Taxisversuche waren
äußerst schmerzhaft. Delageniere machte also den
Bauchschnitt, fand dabei weder einen Uterus noch
Spuren von breiten Mutterbändem. Die von ihm ent-
fernten Geschlechtsdrüsen erwiesen sich unter dem
Mikroskop als Hoden. [Siehe auch: Semaine Mcklicale
1899, No. 2 pg. 13J: Delageniere hatte dieser Frau
den Bauchschnitt vorgeschlagen, um den Uterus aufzu-
suchen und mit dem oberen Ende der blind endenden
Scheide zu vereinigen und vollzog die Operation am
5. VIII. 1897 unter Assistenz von Dr. Parisot. Er
operierte in Trend el enbu rg*s Hängelage und fand
zunächst nichts von inneren Genitalien als zwei anfäng-
lich von ihm für Ovarien angesehene Gebilde, deren je
eines an der inneren Otlnung je eines Leistenkanales lag.
Später glaubte er den Eindruck zu gewinnen, als seien
es atrophische Hoden. Um diese Gebilde entfernen zu
können, mußte er die innere Otlnung eines jeden Leisteu-
kanales etwas spalten. Bauchwunde geschlossen. Heilung.
Das Mikroskop erwies atrophische Hoden. [Siehe auch:
Annales de Gynecologie et d'Obstetrique. 189G. pg.
57—63, mit zwei Abbildungen.]
10) v. Engelhardt [„Ueber einen Fall von Pseudo-
hermaphroditismus femininus mit ( arcinom des Uterus*
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— 301 —
— Monatsschrift für Geb. u. Gyn. December 1900 pg.
729—744 mit drei Abbildungen] :
Als Todesursache eines lange Jahre hindurch ver-
heirateten Mannes von 59 Jahren, Karl Menniken,
wurde ein Carcinoma uteri erhärtet. Die Sektion stellte
fest, daß Karl Menniken keine Hoden sondern Ovarien
hatte und ein Weib war, obwohl er jahrelang cum uxore
den Beischlaf ausgeführt. Bezüglich Einzelheiten —
siehe meinen Aufsatz im vorigen Jahrgange diese Jahr-
buches sub I No. 18. —
11) Fehling (»Ein Fall von Pseudohermaphro-
ditismus femininus externus' Archiv für Gynaekologie.
Bd. 42. pg. 361. 1892J: Im Januar 1891 trat die (s. Fig.
16 u. 17) 21 jährige P. . in die Klinik ein. Die Periode
trat im 15. Jahre ein und wiederholte sich regelmäßig;
anfangs im 16. Jahre war sie postponierend und blieb
im 17. ganz aus. Schon damals bemerkte das Mädchen
einen apfelgroßen Tumor im Bauche. Die ständig zu-
nehmenden Leibschmerzen zwangen sie endlich unter
Aufgabe ihres Dienstes in das Hospital einzutreten. Man
konstatierte Scheinzwittertum. Becken weiblich, Brüste
rudimentär entwickelt, Stimme eher männlich, sehnurr-
bartartige Gesichtsbehaarung. Scharabogen weit, Clitoris
5 Centimeter lang, von Daumendicke, erectil, mit aus-
gesprochener Eichel und Vorhaut. Die Erektionen traten
sogar auf während einer libidinösen Unterhaltung.
Vagina von Hymen am Eingange umgeben. Die liuke
Schamlefze ist schwach entwickelt, aber behaart, das rechte
Labium majus stellt im oberen Teil einen rundlichen
Sack dar, wie eine Scrotalhälfte. Man fühlt darin einen
kleinen druckempfindlichen Körper nebst dünnem Strange.
Der Finger läßt sich hier in den Leistenkanal, in die
Bauchhöhle einstülpen. Darmschlingen sind im Bruchsacke
nicht nachweisbar. Unter Narkose stellte man eine retro-
versio uteri fest mit nicht durchgängigem Cervikalkanal.
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— 302 —
Fig. IG. Äußere Genitalien eines weiblichen Scheinzwitters mit
Hypertrophie der Clitoris, Inguinolabialektopie des rechten Ovarium
u. der rechten Tube. Ansicht bei hängender Clitoris.
Beobachtung von Fehling.
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— 303 —
Im vorderen Scheidengewölbe fühlte mau einen fluk-
tuierenden Tumor, der nach einigen Schwanken als
Fig. 17. Äuüere Genitalien eines weiblichen Scheinzwitters, bei
dem wegen Neoplasma des linken üvarium der Leibschnitt gemacht
wurde. Beobachtung von Fehling.
Haematometra angesehen wurde. Fieber. Eine zweimalige
Punktion des Tumors durch die vordere ßauchwand
— 304 -
ergab keinen positiven Bescheid. Da es endlich gelaug,
die Uteruskontouren zu tasten, so wurde ein uteriner
Sitz des Tumors ausgeschlossen und angenommen, er
entstamme dem linken Ovarium, während wahrscheinlich
der rechte Eierstock in hernia labiali liege. Der Bauch-
schnitt am 21. Januar bestätigte vollkommen diese
Voraussetzung: Es fand sich ein Myxosarcoma ovarii
sinistri: der Tumor wurde abgetragen, das rechte Ovarium,
welches mit der Tube in die rechte Schamlefze ausgetreten
war, wurde in die Bauchhöhle hineingezogen, wo diese
Organe auch in der Folge verblieben. R. P. war also
ein weiblicher Scheinzwitter mit ganz bedeutender Hyper-
trophie der erectilen Clitoris peniformis, und nicht ein
männlicher Scheinzwitter wie man wohl von vornherein
hätte vermuten können. Die ektopische Tube konnte
leicht einen Saraenstraug, der ektopische Eierstock einen
Hoden vortäuschen, die Vulva eine peniscrotale Hypospadie.
Der Uterus war infantil entwickelt. Fehling unterließ
die beabsichtigte Vernähung der inneren Oeffnung des
Leistenkanales, weil er die Operation angesichts schlechter
Atmung schneller beenden wollte. Neben dem Myxo-
sarcoma ovarii sinistri globocellulare fand sich ein kleines
Fibrom mit starker Verkalkung. Der Tumor wog 5 Pfund.
12) G ruber [M£moires de 1'AcadtSmie Imperiale
des Sciences de St. Pi'tersbourg 1859 Tome 41. No. 13]
beschrieb mit einer Abbildung ein 22 jähriges Individuum
infolge von Carcinom einer Geschlechtsdrüse verstorben.
Es war ein männlicher Scheinzwitter mit Hypospadiasis
peniscrotalis; im sinus urogenitalis lagen die Offnungen
der Urethra und der Vagina. Es fand sich ein Uterus
und eine Vagina von je 8 Centimeter Länge. Linkerseits
fand man neben der Tube eine carcinomatös entartete
Geschlechtsdrüse, seiner Zeit von G r u b e r für ein Ovarium
angesehen, in der rechtsseitigen Geschlechtsdrüse faud man
canaliculi seminiferi und konstatierte, daß letztere ein
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— 305 —
Hoden war. Man fand auch den dazugehörigen Neben-
hoden und das Vas deferens, konnte aber dessen peri-
pheres Ende nicht entdecken. Offenbar liegt hier in der
Deutung der ovariellen Natur der carcinomatösen links-
seitigen Geschlechtsdrüse ein Irrtum vor und handelt
es sich um männliches Scheinzwittertum und Kryptorchismus
mit bösartiger Entartung des einen Hodens (siehe Fig. 18).
Fig. 18.
Innere Genitalien eines männlichen Scheinzwitters mit hochgradiger
Entwickelung der Müller 'sehen Gänge und Carcinom einer Ge-
schlechtsdrüse. Zeichnung kopiert nach Ahlfeld's Atlas. Beob-
achtung von Grub er. ves. = Harnblase, prost. = Prostata, ter. =
Ligamentum teres uteri sinistrum, pro«, v. per = processus vaginalis
peritonaei.
13) Gunkel [„Uber einen Fall von Pseudoherm-
aphroditismus." I. D. Marburg 1887.] erwähnt einen inter-
essanten Fall folgender Art: Ein Mädchen verriet im
geschlechtsreifen Alter geschlechtlichen Hang zu Frauen,
also männlichen Geschlechtsdrang. Infolge einer De-
nunciation wegen Incest wurde das Mädchen 1863 einer
gerichtlich-medizinischen Untersuchung unterworfen und
für einen männlichen Scheinzwitter erklärt, einen Hypo-
spadiaeus mit Kryptorchismus bilateralis behaftet [männ-
licher Bart, Penis hypospadiaeus etc.] aber ein Decret
der Regenz gestattete dem Seheinzwitter, auch weiterhin
Jahrbuch V. 20
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— 30(5 —
weibliche Kleidung zu tragen. Im 50. Lebensjahre starb
diese Person. Die Sektion konstatierte zur Überraschung
der Experten, daß sie sich geirrt hatten: Obgleich das
Aussehen der äußeren Scham tatsächlich mehr einer
männlichen als einer weiblichen ähnlich sah, fand man
einen Uterus und zwei Ovarien, Tuben und die zum
Uterus gehörigen Ligamente. Die Vagina, nach unten
zu sehr verengt, öffnete sich in capite gallinaginis in die
männlich veranlagte Harnröhre. Die äußere Öffnung der
Harnröhre lag aber nicht in der Glans, wie es beim
Manne sein sollte, sondern zwei und einen halben Centi-
meter nach hinten unten von dieser Stelle — der
vorderste Teil der männlichen Harnröhre war also
hvpospadisch. Auch eine Prostata wurde gefunden. Der
Uterus war myomatös entartet. Dieser Fall gehört zu
den selten vorkommenden Fällen von clitoris peniformis.
[Sind die Ovarien mikroskopisch als solche bestätigt? N.|
14) W. Hall [„Carcinoma of the ovary in a herni-
aphrodite". Transactions of the St. Louis Obstetric. and
Gyn. Society. 17. VIII 1898, siehe: American Gyn. and
Obstetric Journal. Vol. XIII. 1898 pg. 181, siehe:
Referat FrommePs Jahresbericht für 1898 pg. 901 1
Scham weiblich, aber hypoplastisch und miniaturell,
dagegen Clitoris anderthalb Zoll lang. Becken schmal,
Brüste sind nicht da, Stimme männlich, Extremitäten und
Oberlippe des 17jährigen Individuum behaart. Im 14.
Lebensjahre soll einmal eine Blutausscheidung aus dem
Genitale stattgehabt haben; in der rechten Beckenhälfte
lag ein Tumor, in dem nach Exstirpation ein Carcinoma
ovarii erkannt wurde. Der andere Eierstock erschien
klein, atrophisch. Das Original der Arbeit war mir
nicht zugänglich.
15) Hansemann [Drei Fälle von Hermaphroditis-
mue." — Berliner Klinische Wochenschrift 1898. No. 25.
pg. 149 u. ff.]: Eine 82jährige Frau Kristine Bock-
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fleisch, durch lange Jahre in Amerika verheiratet, starb
im Berliner Krankenhause am Friedrichshain. Der Leichnam
wurde von Professor Fürbringer seziert. Ein Sektions-
protokoll fand sich nicht vor, dagegen vier Photo-
gramme und die Krankengeschichte. In der pathologisch-
anatomischen Sammlung des Hospitals rinden sich die
Beckenorgane mit den äußeren Genitalien sowie der
Kehlkopf. [Präparat I, 268J. Die Sektion fand am
27. V. 1887 statt. Der Tod war eingetreten infolge von
Sepsis und Xierenabscessen bei Blasenkrebs. Es bestand
niemals Zweifel über den männlichen Charakter dieser
Person, obwohl sie als Frau verheiratet gewesen war.
— Auch die Photogramme zeigen ein starkknochiges
männliches Individuum und raachen trotz Bartlosigkeit
und dem lang ausgewachsenen Haupthaar den Eindruck
eines verkleideten Mannes. Das Scrotum ist gespalten,
an jeder Seite befindet sich ein normal gebildeter Hodeu.
Penis hypospadiaeus an der oberen Fläche gemessen 8
Centimeter, an [der unteren 3 Ceutimeter lang, haken-
förmig nach unten gekrümmt. An der gespaltenen
männlichen Harnröhre sieht man eine Anzahl von Lacunae
Morgagnii in der Mittellinie belegen. Vorhaut kurz.
Die Urethra ist weit und mag im Leben für den kleinen
Finger durchgängig gewesen sein, jetzt in dem ge-
schrumpften Zustande kann man noch leicht einen Blei-
stift einführen. In der Umgebung der Urethra ist die
Epidermis etwa in Centimeterbreite glatt, ähnlich einer
Vaginalschleimhaut. Nach außen wird sie runzlig und
geht in die Bedeckung der beiden Scrotalhälften über.
Diese glatte Stelle erweckt den Eindruck eines Introitus
vaginae, da die beiden Scrotalhälften dicht bei einander
liegen. Nach hinten biegt diese Partie zum Damm in
einer scharfen Kante um und von hier bis zum After
sind noch 5,5 Centimeter. Die Urethra ist bis zum
Eintritt in die Blase 10,5 Centimeter lang, eine Prostata
20*
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— 308 —
nicht vorhanden, dagegen Corpus gallinaginis gut ent-
wickelt. Die Mündungen beider Vasa deferentia sicht-
bar. Samenblasen atrophisch, aber an normaler Stelle
gelegen. Jn der Harnblase sieht man den flachen
ulcerierten Krebs. Ureteren und Nierenbecken erweitert,
in beiden Nieren zahlreiche Abscesse. Kehlkopf etwas
klein, aber nicht unverhältnismäßig.
IG) Howitz | siehe: Blom: Gynaekolog. obstetr.
Middelelser. T. X. Heft HI pg. 194— 210]. Eine 49jährige
Frau trat in die gynaekologische Klinik in Kopenhagen
ein wegen eines Rauchtumors. Howitz exstirpierte
einen myomatüsen Uterus, die Frau starb am 5. Tage
nach der Operation infolge von Embolie. Obwohl das
Aussehen der äußeren Genitalien für männliches Geschlecht
sprach, fand man doch bei der Nekropsie weibliches
Geschlecht, aber die Ovarien enthielten keine G raaf'schen
Follikel! Diese Person war unverheiratet und hatte
kaum einige Mal eine Blutung aus dem Genitale gehabt
zwischen dem 30. und 40. Lebensjahre und zwar in
Abständen von einem oder mehreren Jahren. Diese
Blutungen waren stets minimal, dauerten kaum wenige
Tage und waren stets ohne irgend welche Molimina
menstrualia gewesen. Vor 6 Monaten bemerkte die
Person zum ersten Male einen Bauchtumor, welcher aber
schnell wuchs und immer größere Beschwerden hervorrief.
Die Frau war klein von Wuchs, spärlich behaart bis auf
das lange Haupthaar, mager, mit scharfen Gesichtszügen,
mußte sich oft rasieren wegen Bartwuchses; Stimme und
Brustkorb männlich, Kehlkopf vorspringend, Brüste
fehlten. Schambehaarung und Becken männlich; die
Schamlefzen waren leer, kleine Schamlippen mäßig ent-
wickelt, Clitoris 0 Centimeter lang und zwei Centimeter
dick; die glans Clitoridis zwei Centimeter lang, an ihrer
unteren Fläche sieht man sowie an der unteren Fläche
des Corpus clitoridis eine Rinne wie bei eiuem hypo-
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— 309 —
spadischen Penis und in dieser Rinne einige Krypten.
Sinus urogenitalis eine flache einen Centimeter lange
Vertiefung, eine Fingerspitze nicht aufnehmend. Keine
Spur von einem Hymen zu entdecken. Durch eine feine
Oeffnung am Boden des Sinus urogenitalis dringt eine
dünne Sonde auf 7 Centimeter in eine Vagina ein.
Damm 8 Centimeter breit, weist eine deutliche Raphe
auf. Am 29. VI. vollzog Howitz den Bauchschnitt
in der Meinung, es handle sich um einen myomatösen
Uterus, er entfernte einen Tumor von der Größe einer
Kokosnuß, bildete eine Art Stumpf und nähte den-
selben in die Bauchwunde ein. Am vierten Juli starb
die Frau plötzlich infolge von Embolia arteriae pulmonalis.
Der Tumor erwies sich als ein Fibromyom und enthielt
einen mit Schleimhaut ausgekleideten Kanal; nach unten
zu erweiterte sich dieser Kanal bedeutend und konnte
man in seinem unteren Abschnitte deutlich die Zeichnung
des Arbor vitae erkennen an Vorder- und Hinterwand.
Die Cervikalhöhle kommunicierte durch eine nur steck-
nadelkopfgroße Öffnung mit einer Vagina. Portio vagi-
nalis uteri nur einen Mill. lang, die Cervix dagegen
war sieben und einen halben Zentimeter laug. Ligamenta
rotunda uteri normal, ligamenta lata sehr niedrig, linker-
seits eine normale Tube aber ohne Fimbriae um die sehr
enge abdominale Öffnung. Rechterseits fehlte die Tube,
an Stelle der Ovarien lag jederseits eine Gebilde von
Gestalt und Größe einer Mandel: linkerseits außerdem
ein gänseeigroßes Fibromyom. Keine Spur von einer
Prostata. Die Scheide war 7 Centimeter lang und einen
halben Centimeter breit. An der hinteren Wand der
Urethra einen Centimeter unterhalb der Blasenmündung
sah man jederseits eine feine Öffnung, kaum nadelspitzen-
weit, welche jederseits in einen feinen Kanal führte,
welcher in der Höhe von 1,35 Centinietern blind schloß.
Diese Gartn er'schen Kanüle verliefen nach außen und
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— 310 —
nach hinten zu unter der Schleimhaut der Harnröhre.
Chiewitz untersuchte die Geschlechtsdrüsen und kam
zu dem Schlüsse, es seien Ovarien aber ohne Follikel-
bildung. Das Stroraa war härter als das Stroma eines
normalen Eierstockes einer erwachsenen Frau, erinnert
aber in nichts an das Stroma eines Hodens. Keine Spur
von Vasa deferentia gefunden.
| Meines Erachtens muß das Geschlecht in diesem Falle
unentschieden bleiben, denn Chiewitz lieferte keinen Be-
weis, daß die Geschlechtsdrüsen wirklich Ovarien waren,
er fand Geschlechtsdrüsen in rudimentärem Entwickelungs-
zustande, die meiner Ansicht nach ebensowohl rudimen-
täre Hoden sein konnten als rudimentäre Ovarien. N.]
17) Dixon- Jones [siehe im Vorhergehenden: Erste
Gruppe: Fall 14] fügte in seinem Falle von doppel-
seitiger Herniotomie den Bauchschnitt hinzu, um sich
von dem Aussehen der intraabdominalen Geschlechts-
organe zu überzeugen.
18) Kapsaramer [Zentralblatt für die Krankheiten
der Harn- und Sexualorgane. 1900. No. 1J hat eine in
ihrer Art einzig dastehende Beobachtung beschrieben:
Nitze in Berlin entfernte bei einem 30 jährigen Manne
operativ einen Kalkphosphatstein von 165 Gramm Ge-
wicht, welcher in der Höhle eines Utriculus masculinus
lag, der mit enger Oeffhung in die Pars prostatica
urethrae sich öffnete. „Gänseeigroßer Kalkphosphatstein
in einem Vaginalsack beim Manne" [siehe Referat:
Deutsche Medicinische Wochenschrift 1900, No. 4,
Litteraturbeilage No. 3 vom 25. I. 1900, pg. 20.]
19) Kr ab bei [Vortrag in der Vereinigung nieder-
rheinisch-westphälischer Chirurgen in Düsseldorf, am
20. Juli 1901 — siehe: Monatsschrift für Geb. und
Gvnaekologie, Oktober 1901, pg. 597] beschrieb eine
Ovariotomie bei einem 32 jährigen Manne. Dieses Indi-
viduum war als Knabe getauft und als Mann erzogen
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— 311 —
worden, indem man eine Hypospadiasis peniscrotalis
diagnosticierte mit Existenz von Schamlefzen und einer
engen Vagina. Nachdem der junge Mann das Gymnasium
und die Universität beendigt hatte, erhielt er eine staat-
liche Anstellung als Lehrer in einer höheren Schule.
Niemals Periode. Es wurde ein Bauchhöhlentumor
diagnosticiert [wie alt war das Individuum zu dieser
Zeit? — N.] und ein multilokulares Cystom des linken
Eierstockes entfernt. Sub operatione fand man in der
Bauchhöhle einen kleinen Uterus und ein Organ, welches
man für den rechten Eierstock ansah. Der Uterushals
ließ eine Sonde eindringen, wie man sich vor der
Operation überzeugt hatte. Anderthalb Jahre nach
dieser Operation wurde wegen Recidivs abermals der
Leib geöffnet; der jetzt entfernte Tumor wurde von
Professor Marchand als Teratom charakterisiert mit
sarkomatösem Bau. Seit dieser Operation soll der Mann
sich gesund fühlen. Erst im Februarheft 1902 der
Monatsschrift für Geb. und Gyn. (pg. 227) fand ich einen
etwas eingehenderen Bericht über diese seltene Beob-
achtung: Der Mann war klein von Wuchs und von
zartem Körperbau, mit Schnurrbart versehen und
knappem Backenbart, weiblicher Stimme, nicht prorai-
nierendem Kehlkopf und flachen Brüsten. Hypospadiasis
penis; die Glans schien ohne Vorhaut. Statt eines
Scrotum und der Hoden fanden sich zwei Schamlefzen.
Sub narcosi tastete man per vaginam eine portio
vaginalis uteri. Nach Entfernung eines Bauchhöhlen-
tumors von 23 Pfund Gewicht fand man einen kleinen
Uterus und rechterseits ein Ligamentum latum. Der
Tumor war aus den linkseitigen Adnexa uteri hervor-
gegangen, auf dem Tumor lag das linke Ovarium auf,
das gleichzeitig mit entfernt wurde. Bei der mikro-
skopischen Untersuchung jedoch erwies sich das als
Ovarium aufgefaßte Gebilde als ein Parovarium. Der
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postoperative Verlauf war gut, aber nach anderthalb Jahren
mußte, wie gesagt, wegen Recidivs der Leibschnitt wieder-
holt werden. Der jetet entfernte Tumor war so groß wie der
früher entfernte und erwies sich als Teratom von ge-
mischtem Bau mit sarkomatösem Bau. Inhalt teilweise
rayxomatös ; hier und da fauden sich auch Epithelnester.
Krabbel sah in dem Tumor ein Embryom (Wilms).
Dieser Mann hatte weder Menstruation noch Ejakula-
tionen und soll seit der letzten Operation gesund sein.
20) Krug [„Ovariotomv in a herraaphrodite* —
Referat: The British Gynaecological Journal, August 1891
Vol. VII. No. 26. pg. 254 J in Newyork machte den
Bauchschnitt bei einer jungen Polin von 19 Jahren.
„When ten years old, a copious growth of hair appeared
all over the body, especially the face. At sixteen ab-
dominal pains with epistaxis occurcd monthly, but there
was never any show. A swelling appeared a few months
before she entered hospital. lt was diagnosed as haema-
tometra and haematokolpos. Krug noted the masculine
appearence of the patient. Nothing womanly exists save
here long tresses. The wiskers and moustache were well
developed and she shaved daily. The skeleton, espe-
cially the pelvis, was massive. The external genitals at
tirst sight were like thosc of a male; the clitoris was two
inches long. Two folds, resembling a serotum, when they
lay together, eoncealed a narrow vaginal orifice. The Ure-
thra opened, immediately under and behind the penis like
clitoris. The vagina contained no rugae. The Portio
vaginalis of the cervix was minute. It' as a pinhole
orifice, admitted a fine sound for about two inches. The
tumor desceuded into the pelvis and appeared as though
connected with the Uterus. It caused extreme distension
of the Abdomen. Bronchitis and kidney disease compli-
cated the case. A large sarcoma of the right ovary was
removed. Its base had „to be shelled out of the right
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broad ligament. The left ovary formed a smaller sarco-
matous tumour also sensible ; it was rerooved. The stumps
on either side of the small Uterus, where two ligatures
had been employed, were normal. — Knifj hatte die
irrtümliche Diagnose einer Haematometrokolpos gestellt
vor dem Bauchsehnitte. Die Operation erwies weibliches
Scheinzwittertum mit gewissen arrhenoidaleu Erscheinungen.
Pseudohermaphroditismus femininus — der Fall ähnelt
demjenigen von Fehling in mancher Beziehung.
21) Lesse r (Deutsche Zeitschrift für praktische
Medizin 17 — 1878 No. 10 — Keferat: Schmidt 's Jahr-
bücher Jahrgang 1878, Band 178. pg, 42].
Die 25jährige L., als Mädchen erzogen, hielt sich
ganz abseits von jeglichem Verkehr, sei es mit Männern,
sei es mit Frauen. Ihre reine Stimme sowohl als ihr allge-
meines männliches Aussehen, erweckten schon seit langer
Zeit in ihrer Umgebung den Verdacht, sie sei ein verkleideter
Mann. Um endlich einmal diesen Gerüchten die Spitze
abzubrechen, nahm die L. zu einer Lüge Zuflucht, sie
erzählte nämlich, sie habe vor einigen Jahren unehelich
ein Kind geboren, welches aber kurz nach der Geburt
verstorben sei. Die L. selbst starb eines plötzlichen Todes.
Sektion: Körperlänge 14*> Centimeter, männliche Gesichts-
behaarung, Schnurrbart und Backenbart, Gesichtsausdruck
gleichwohl weiblich. Pomum Adaini hervortretend, Brüste
sehr schwach entwickelt; in der Bauchhöhle ein Tumor.
Im linken Leistenkanale ein weiches verschiebliches
ovales Körperchen von Pflaumengröße. Schani stark
behaart. Man fand ein peuisartiges Glied von 5,5 Cent.
Länge ohne Frenulum pracputii und ohne Praeputium,
Penis hypospadiaeus. Die Kinne an der unteren Fläche
des Penis reicht nach unten herab bis zwei Centimeter
vor dem Anus und schließt mit einer Art Delle, welche
die Kuppe des kleinen Fingers aufnimmt. Jederseits
von dem Penis ein Hautdecken wulst von 10 Centinietor
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Länge und drei Centimeter Breite. Auf der runzligen
Oberfläche dieser Hautwülste hier und da einige rötliehe
stecknadelgroße Erhabenheiten. Hände und Füße weib-
lich aussehend. In der Bauchhöhle fand man ungefähr
3000 Kubikcentimeter dunklen flüssigen Blutes, das kleine
Becken war von einem fluktuierenden Tumor ausgefüllt,
der Tumor hatte die Größe des Kopfes eines erwachsenen
Mannes. Die Därme, ja sogar das Coecum erwiesen sich
durch den Tumor stark nach oben dislociert. Der Tumor
war mit der vorderen Bauchwand verwachsen in der
Ausdehnung eines Fünfmarkstückes in der Gegend der
inneren Öffnung des linken Leistenkanales. Kings um
diese Stelle war das Bauchfell besät mit kleinen blut-
infiltrierten Knötchen von verschiedener Größe und ver-
schiedenem Aussehen. Die Lymphdrüsen und die linke
Niere entartet. Von dem Tumor zieht ein 5 Millimeter
dicker Strang zu dem im linken Leistenkanale liegenden
ovalen Gebilde. Der Tumor war ein Alveolarsarcom.
Der in die vorgenannte Delle am Damme eingeführte
Finger gelangt in einen zylindrischen Kanal, in dessen
Tiefe sich zwei Öffnungen befanden. Der Kanal war
der Sinus urogenitalis, 2 Centimeter lang und anderthalb
im Umfange messend. Wand sehr dick. Die obere der
beiden Öffnungen im Sinus urogenitalis war die Harn-
röhrenöffnung, die untere führte in eine 1 und einen
halben Centimeter lange Vagina, die unten drei und einen
halben Centimeter breit, weiter oben oberhalb einer Striktur
5,5 Centimeter breit war. Der Tumor entstammte dem
Uterus und umgab teilweise sogar die Scheide in deren
oberem Abschnitte. Der Tumor war an einer Stelle
geplatzt und hatte so eine tötliche Verblutung herbei-
geführt. Man fand keine Spur von Ovarien oder Pro-
stata oder Samenbläschen — wofür wurde denn jenes
im linken Leistenkanale liegende Gebilde angesehen? —
Der Penis besaß deutlich drei Corpora cavernosa. | Wenn
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der Penis hypospadiaeisch war, so ist mir die Möglichkeit
der Existenz von drei Corpora caversa mindestens zweifel-
haft, jedenfalls ganz unverständlich. — N]. — Lesser er-
klärte die Verstorbene für ein Weib mit gewissen Mängeln,
da sie niemals menstruiert hatte. Einen Beweis bringt
er jedoch für die Richtigkeit seiner Vermutung nicht —
meines Erachtens erscheint es viel wahrscheinlicher, daß
L. ein männlicher Scheinzwitter war und daß wahrschein-
lich der Tumor ein Sarkom eines in der Bauchhöhle reti-
nierteu Hodens war, während der andere Hoden im linken
Leistenkanale lag. Selbstverständlich sind das nur ver-
mutete Möglichkeiten. Da ich die Originalarbeit Lesser's
nicht besitze, so möchte ich einen Kollegen, welchem die
Deutsche Zeitschrift für praktische Medizin für das Jahr
1878 zugänglich ist, ersuchen, die Arbeit Lesser's auf
diesen Punkt hin kritisch durchzusehen.
22) Levy [Berliner klinische Wochenschrift. XX.
Jahrgang 1882 pg. 620] stellte in der Berliner geburts-
hülnich gynaekologischen Gesellschaft am 8. XII. 1882
(Zeitschrift für Geburtshülfe und Gynaekologie IX. Bd.
1883 pg. 235: „Hermaphroditismus spurius femininus mit
Tumor in Abdomine"] ein 16 jähriges Mädchen Anna
Schulze vor. Da ich in der Sitzung zugegen war, damals
noch Volontair in der Klinik des verstorbenen Professor
Karl S c h r o e d e r, so benützte ich die Gelegenheit, um ein
Modell der äußeren Genitalien dieses Mädchens anzu-
fertigen. Das Mädchen hatte seit einem halben Jahre
die Regel, wie es aussagte ; die Regel soll stets schmerz-
haft sein. Körperhöhe 145 Centimeter, Haupthaar lang,
Mammae wenig entwickelt, Allgemeinaussehen weiblich,
( litoris peniformis ähnelt einem hypospadischen Penis,
ist drei Centimeter lang, sub erectione 5 Centimeter; die
Erektion ist sehr energisch, sub narcosi. In jeder Scham-
lefze tastet man ein härtliches verschiebliches Gebilde
von 10-Pfennigstückgröße. Unterhalb der Harnröhren-
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mündung liegt die von einem Hymen garnierte Vaginal-
öffnung. Die Vagina ist 5 Centimeter lang. Die Schara-
lefzen sind schwach behaart und runzlig, über dem rechten
horizontalen Schambeinaste sieht man eine Hervorwölbung,
fühlt aber dort keine vergrößerte Resistenz; niemals
Menstruation, wohl aber Molimina vorhanden. Ob der
Tumor eine Haematometra oder ein Neoplasma des rechten
Eierstockes ist, schreibt L e v y, wird die weitere Be-
obachtung zeigen. Per rectum fühlte man einen Strang,
nach oben etwas dicker werdend, und darüber mehr nach
rechts gelagert, einen Tumor von der Größe einer großen
Orange, festweich, nicht fluktuierend, mit glatter Ober-
fläche; diesem liegt links oben ein mandelförmiges Gebilde
au, das aber auch von dem Tumor abhebbar ist. Unter-
halb des Tumors findet sich noch ein erbsengroßes Gebilde,
aber außer Zusammenhang mit ihm. „Das Aussehen der
Clitoris sowie die in den Schamlefzen getasteten Gebilde
müssen den Verdacht einer erreur de sexe" wecken, für
mich muß das Geschlecht in diesem Falle vorläufig
unentschieden bleiben, da ja die Angabe der stattgehabten
Menstruation eine fragliche ist,
23) Ernst Levy |„Über ein Mädchen mit Hoden
und über Pseudohermaphroditismus" — Hegaus Beiträge
zur Geburtshülfe und Gynäkologie. Leipzig 1901. Bd. IV.
Heft III. pg. 347— 3t>0.| beschreibt einen von Do e der-
lei n operierten Fall, der nach Kastration eines Mädchens
feststellte, daß die exstirpierten Geschlechtsdrüsen Hoden
waren und giebt im Anschlüsse hieran die Kranken-
geschichte einer von v. Saexinger mit letalem Aus-
gange operierten Person. Die 20jährige M. Str. bot ein
weibliches Allgemeinaussehen, sowie auch manche sekun-
dären Geschlechtscharaktere weiblich waren. Als sie
geboren wurde, sagte die Hebeamme, das Kind sei ein
männliches mißbildetes Kind, es wäre aber besser, das-
selbe als Mädchen zu erziehen, weil der Harn nicht vorn
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am Gliede abgegeben werde. Niemals Regel bisher,
wohl aber schon seit zwei Jahren alle drei Wochen je
4 — 5 Tage andauernde Leibschmerzen mit ärztlicherseits
dabei konstatierten Tempenitursteigungen. Seit drei
Monaten schon bemerkte Patientin, daß ihr in der rechten
Hälfte des Unterleibes ein Tumor wachse. Seit dieser
Zeit ist sie sehr abgemagert und arbeitsunfähig geworden.
Patientin ist 168 Centimeter hoch, anaemisch, ohne Spur
von männlicher Gesichtsbehaarung. Stimme und Kehlkopf
männlich, Andromastie. Im rechten Hypogastrium ein
schmerzhafter glattwandiger, harter ovaler Tumor von
Kindskopfgröße: der Tumor entspringt aus dem kleinen
Becken und läßt sich nicht in das große Becken hervor-
heben. Linkerseits ein ähnlicher kleinerer Tumor, da-
hinter ein sehr druckempfindliches Gebilde, welches den
Eindruck eines etwas vergrößerten Ovarium macht. Der
bei Druck auf diese Gebilde empfundene Schmerz
gleicht absolut dem sonst periodisch allmonatlich em-
pfundenen Schmerze. Schambehaarung weiblich. Statt
einer Clitoris fand man einen hypospadischen Penis von
5,7 Centimeter Länge, hakenförmig nach unten gekrümmt,
an der Unterfläche drei Centimeter lang. Die Glans
kastaniengroß. Der Penis erwies sich ercctil. An
seiner unteren Fläche eine Rinne, die bis zwei Centimeter
oberhalb der Aualöffnung reicht Nach hinten unten zu
wird diese Rinne ständig breiter und wird zuletzt einen
Centimeter breit. Hier liegt eine Oeffnung, welche den
Katheter in die Blase einläßt. Das Präputium, nach
hinten gestreift, läßt sich soweit vorziehen, daß es die
ganze Glans Penis bedeckt.
Keine Spur einer Vagina zu finden, wohl aber
existieren große Schamlefzen, mit einer Spur von kleinen
Schamlippen, welche die Harnröhrenöffnung seitlich um-
geben. In jeder Leistengegend tastet man ein festweiches
kleines Gebilde von Haselnuß- resp. Bohnengröße. Diese
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Gebilde lassen sich leicht in die Bauchhöhle hineinstoßen.
Beide waren sehr druckschnierzhaft. Per rectum fühlte
man zwischen per urethram eingeführtem Katheter und
Finger kein Gebilde in der Art einer Vagina. Per
rectum tastete man den rechtsseitigen sehr schmerzhaften
Tumor, welcher hier Fluktuation aufwies. Während des
Aufenthaltes in der Klinik hatte das Mädchen 'seine
Monatsschmerzen und die Tumoren erschienen dabei ver-
größert. Am 14. März vollzog Professor v. Saexinger
den Bauchschnitt, konnte aber die Tumoren nicht ent-
fernen. Die Operation blieb unvollendet, zudem mußte,
da es an einer Stelle kontinuierlich blutete, ein Gaze«
tampon eingelegt werden, also die Bauchwunde nicht
ganz geschloßen. Die Kranke starb am nächsten Morgen.
Die beiden Tumoren erwiesen sich sub nekropsia als
Rundzellensarcome, und zwar entsprangen sie an den
Stellen des Beckens, wo normal die Ovarien liegen. Man
fand aber nirgends auch nur die geringste Spur von
O variaige webe; man fand aber zwischen den Tumoren
hinten und rechterseits gelagert ein Gebilde von dreieckiger
Gestalt, welches als Uterus angesprochen wurde. Uterus-
wände sehr dünn, die Uterinhöhle komraunicierte nach
unten zu mit einem Kanäle von 18 — 19 Centimeter Länge,
einer Vagina, welche sich dicht hinter der Urethral-
mündung in jene vorgenannte Rinne am Damme öffnete.
[Man hatte in vivo diese Oeffnung übersehen? — X.] —
Das Lumen der Scheide war im oberen Teile so groß,
daß der Zeigefinger einging, im Scheidenausgange aber
nur kleinfingerweit. Die Cervix uteri war mit den Tumoren
eng verwachsen und so verlängert, daß man eine deutliche
Grenze zwischen Cervix und Corpus uteri nicht feststellen
konnte, ebensowenig fand man eine ausgesprochene Grenze
zwischen Uterus und Vagina. Die Eileiter waren da,
ebenso die Ligamenta rotunda, welche außerhalb der
Leistenkanäle abschlössen mit einer Art cystischen Bildung
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— 319 —
von zwei Centiraeter Länge. [Hydrocele? — N.J —
Hinter der Vagina fand man zwischen ihr und Rectum
in der Höhe des äußeren Muttermundes einen fluk-
tuierenden Sack mit gespannten Wandungen. Dieser
faustgroße Sack war eine mit seröser Flüssigkeit gefüllte
Cyste mit glatter blasser Innenwand. Harnröhre vier
Centimeter lang, von weiblichem Bau, ohne Spur einer
Prostata, eines Caput gallinagiuis oder Öffnungen der
Ductus ejaculatorii. Die Cyste war mit Flimmerepithel
ausgekleidet. Die härtlichen Gebilde, in der Gegend der
Leistenkanäle unter den Hautdecken getastet, erwiesen
sich als Metastasen der Tumoren. Man fand keine
Spur von Hodengewebe. Doe der lein, welcher den
v. Saexinger operierten Fall beschreiben ließ, vermutete,
die Person sei ein weiblicher Scheinzwitter gewesen mit
maligner Degeneration der Geschlechtsdrüsen, penisartiger,
hypertrophischer und erektiler Clitoris, bei großer Enge
der äußeren Scheidenmündung und Existenz einer Cyste
aus einem Wol ff sehen Körper entstammend — wohl
Parovarialcyste. [Da keine Spur von Ovarialgewebe ge-
funden wurde, ebensowenig wie eine Spur von Hoden-
gewebe, so kann hier von einer Entscheidung des Ge-
schlechtes gar nicht die Hede sein — ich persönlich
würde eher männliches Scheinzwittertum in diesem Falle
vermuten, gestützt auf analoge Fälle von Hodensarkom bei
Vorliegen eines hochgradig entwickelten Uterovaginal-
kanales. N.]
24) Liebmann [ßudapesti Kir. Orvooseg. 1890.
10. V. siehe: Referat: Centraiblatt für Gynaekologie.
1890 pg. 928j: Bei einer 45jährigen Frau war vor einem
Jahre ein elastischer Tumor in der linken Leiste ent-
standen, schnell bis Faustgröße anwachsend. Man fand
keine Spur von Uterus oder Ovarien. Die äußeren
Schamteile dürftig angelegt; Brüste gut entwickelt.
Weder jemals Periode noch auch Molimina menstrualia.
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— 320 —
Die Person heiratete im 27. Jahre einen Mann von 66
Jahren und hatte auch nicht die geringste Ahnung von
ihrer Mißbildung. Der Tumor sollte ein Lipom sein.
[Leider ist das Referat zu kurz, um alle die Fragen zu
beantworten, die sich in diesem zweifelhaften Falle von
selbst aufwerfen. N.J
25) Litten [Ein Fall von Androgynie mit malignem
teratoidem Kystom des rechten Eierstockes mit doppel-
seitiger Hydrocele cystica processus vaginalis peritonaei
— Virchows Archiv 1879 — Bd: 75|. —
Am 31. Mai trat in die Klinik von Professor Frerichs
die 16jährige Klara Hacker ein, angeblich wegen
Ascites. Gleich bei der ersten Inspektion fiel das eigen-
tümliche Aussehen der Genitalien auf und schwankte
man, ob die Patientin in einem Frauensaal oder in einem
Mäunersaal unterzubringen sei. „ Der allgemeine Körperbau
weiblich, aber das Aussehen des Geuitale rein männlich,
nur fiel ein klaffender Spalt auf, welcher sich in der
Raphe der als Scrotura imponierenden stark gerunzelten
Hautfalten bis gegen das hintere Ende derselben hin
erstreckte* — Penis am Dorsum 5 und einen halben
Centimeter lang, zwei und einen halben an der unteren
Fläche. Sub erectione wird das (Ilied 10 Centimeter
lang, man tastet die Schwellkörper. Man gewinnt das
Bild einer Hypospadiasis peniscrotalis mit einer Rinne,
welche bis 4,5 Centimeter vor der Analöffnung reicht. Zu
beiden Seiten dieser Rinne fanden sich derbe, gerunzelte
und mit kurzen Härchen besetzte Hautfalten, welche in
ihrer Beschaffenheit auf's Lebhafteste an die Scrotalhaut
erinnerten. Beim Auseinanderziehen dieser fettreichen
Falten erkannte man in dem nunmehr geöffneten Kanal
deutlich die oben liegende Urethralmündung und darunter
den außerordentlich engen, eben noch für die Sonde
passierbaren Scheideneingang. Klara war als Mädchen
erzogen, hatte aber die Stimme eines 20jährigen Mannes.
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— 321 —
Sie war das älteste von 8 Kindern ihrer Eltern, die
Geschwister waren alle normal gebaut. Es fiel jedermann
auf, wie ungemein rasch sich der Verstand Klara's ent-
wickelt hatte sowie ein ausgesprochener Trieb zu Selbst-
ständigkeit und Unabhängigkeit. Sobald Klara bemerkt
hatte, daß sie anders körperlich gebaut war, als ihre
Freundinnen, zog sie sich von jedem Verkehr mit ihnen
zurück. Die Regel trat im 15. Jahre ein, war stets
spärlich und schmerzhaft und mit Anschwellen der Brüste
verbunden. Im zweiten Jahre nach Eintreten blieb die
Periode einige Monate lang aus, in dieser Zeit fing der
Leib an, an Umfang zuzunehmen. Die Harnsecretion
nahm sehr zu und das Harnen wurde schmerzhaft. Der
Tumor, die Bauchhöhle ausfüllend, reichte bis 11 Centi-
raeter oberhalb des Nabels, erschien nicht einheitlich,
sondern gelappt, mit ungleicher Konsistenz, asymmetrischen
Kontouren etc. Im ersten Augenblicke dachte man an
Schwangerschaft um so mehr als die Regel ausgeblieben
war, aber die Gestalt des Tumors sprach gegen Schwanger-
schaft, ebenso das Aussehen der äußeren Genitalien,
ganz besonders aber die Enge der Scheidenmündung,
welche kaum eine dünne Sonde einließ. Da man also
eine Schwangerschaft ausschloß, so wurde der Uterus
sondiert. Die per vaginam eingeführte Sonde drang 19
Centimeter tief ein in der Richtung nach rechts oben.
Die Kuppe der Sonde konnte man in dem kleineren rechts-
seitigen Tumor tasten, der dem größeren gleichsam aufsaß.
Dieser kleine Tumor wurde also für den Uterus an-
gesprochen, nach rechts dislociert durch einen von links
ausgehenden Tumor. Scheide, Uterus und Blase wiesen
sämtlich eine bedeutende Verlängerung auf, der Katheter
drang auf 15 Centimeter Tiefe in die Blase ein! In der
linken Scrotalhälfte tastete man ein Gebilde von Mandel-
größe; rechterseits lag ein ebensolches Gebilde vor der
äußeren Öffnung des Leistenkanales ; von jedem dieser
Jahrbuch V. 21
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— 322 —
Gebilde schien ein Strang nach dem Leistenkanale zu
zu verlaufen. Nach einer am nächsten Tage vollzogenen
Punktion stellte man die Diagnose auf einen Ovarialtumor,
ein vielkämmeriges Cystom. Die mandelförmigen Ge-
bilde in scroto fisso sah man für Hoden an, jene
Stränge für Samenstränge. Die Kranke starb unoperiert
nach siebenwöchentlichem Aufenthalte im Hospital an
Erschöpf uug. Die Sektion wurde von Professor Virchow
gemacht.
Er hatte die Klara Hacker noch vor ihrem Tode
gesehen und damals das Geschlecht für weiblich erklärt,
obgleich die Hypertrophie der Clitoris sowie jene in den
Schamlefzen tastbaren Gebilde auf männliches Geschlecht
hinweisen. Virchow schloß männliches Geschlecht aus,
weil er neben den als Hoden gedeuteten Gebilden keine
Nebenhoden tasten konnte, und glaubte, es handle sich
um inguinolabiale Ektopie der Ovarien. Dafür sprach
auch das Anschwellen dieser Gebilde intra Menses.
Trotzdem hatte Virchow sich geirrt; die von ihm für
ektopische Ovarien angesprochenen Gebilde waren aller-
dings nicht Hoden, wie man in der Klinik von Frerichs
vorausgesetzt hatte, aber auch nicht Ovarien, sondern
abgeschnürte praeinguinale Teile der Processus vaginales
peritonaei. Linkerseits war daraus eine kleine Hydro-
cele, rechterseits eine Haematocele entstanden. Der
Bauchtumor erwies sich als ein Myxosarcom des rechten
Ovarium, das linke erwies sich als normal. Da der
rechte Eierstock degeneriert war, der linke aber eine
glatte Oberfläche hatte, ohne Spuren geplatzter Follikel,
so bezweifelte Virchow den menstruellen Charakter der
von Klara Hacker angegebenen Blutungen, eine An-
sicht, die sich wohl heute nicht mehr halten lässt, da,
wie wir wissen, manche Frauen auch nach operativer
Entfernung beider Ovarien trotzdem noch eine Zeit lang
ihre katamenialen Blutungen behalten können. Man
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fand auch Metastasen des Myxosarcoius in der Leber
und eine Nephrolithiasis ulcerosa.
26) Merkel [Beiträge zur pathologischen Anatomie
und allgemeinen Pathologie. Bd. XXXII. I. Heft, pg.
157—1902]. Bei der Sektion eines 52jährigen Mannes
fand Merkel in einer Leiste eine Hernie. Der Mann
Ut T
P
Fg. 19: Uterus eines männlichen Scheinzwitters von 52 Jahren.
Sektionspräparat. Beobachtung von Merkel.
Ut = Uterus, T^Tube, N = Nebenhoden, H = Hoden, V = Vas
deferens, Ur = Ureter, B = Blase, A = Ampulle, S = Samenblasen,
D = Duct. ejaculatorii, P = Prostata.
war infolge von Carcinoma recti gestorben. In hernia
fand er einen gut gestalteten Uterus und jederseits von
demselben je eine Geschlechtsdrüse, die wie ein Ovarium
jede aussahen : sie waren oval und taubeneigroß. Pseudo-
hermaphoditismus masculinus internus mit gleichem Ent-
21*
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wickelungsgrade der Müll ergehen und der Wolffschen
Gänge, da die Geschlechtsdrüsen sich mikroskopisch als
Hoden erwiesen. Der Uterovaginalkaual war 20 Centi-
me ter lang. Die Vagina mündete in capite gallinaginis
in parte prostatica urethrae. Prostata normal. Merkel
fand vier Samenblasen. Das linke Vas deferens war in
ganzer Länge viabel, das rechte nur im oberen Abschnitte.
Die Samenblasen enthielten normales Sperma. Allgemein-
aussehen, Stimme und Behaarung männlich; der Maun
hatte normal mit seiner Frau kohabitiert und, wenn die
Ehe kinderlos blieb, so muß die Sterilität von den Or-
ganen der Frau und nicht von dem Manne abgehangen
haben. Der Uterus enthielt weder Blut noch Schleim
und ging ohne eine Spur einer sichtbaren Portio vaginalis
nach unten zu sehr dünnwandig in die Vagina über.
Das Lumen der Vagina war bleistiftweit, die Hoden
lagen da, wo bei Frauen die Ovarien liegen; man fand
j euerseits ein Ligament, dem Ligamentum ovarii proprium
entsprechend. (Siehe Fg. 19). Merkel gibt an, er habe in
der Literatur 16 Fälle von Uterus masculinus von hoher
Entwickelung gefunden, die Fälle sind aber, wie ich ge-
legentlich nachweisen werde, ganz bedeutend häufiger.
Ich werde die gesamte Kasuistik der Entwickelung der
Müller 'sehen Gänge bei Männern, resp. männlichen
Scheinzwittern, Foeten an anderer Stelle veröffentlichen.
27) Mies [„Pseudohermaphroditismus masculinus" —
Münchener Medizinische Wochenschrift 1899. Bd. XLVI.
pg. 998]. Man vermutete eine „Erreur de sexe" bezüglich
der 6&jährigen Else G., in das Hospital aufgenommen
wegen Krebs der Unterlippe — angesichts dessen, daß diese
Lokalisation des Krebses bei Frauen eine äußerst seltene
ist, angesichts der männlichen Stimme der Kranken, ihrer
männlichen Behaarung, des Mangels von Brustdrüsen,
des absoluten Mangels der Kegel zeitlebens. Bei der
näheren Untersuchung konstatierte man eine Hypospa-
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— 325
diasis peniscrotalis mit Hoden und Nebenhoden in jeder
Schamlefze, man tastete auch eine Prostata. Dieser Fall
beweist eklatant, wie wichtig es ist, bei der Kranken-
aufnahme auch den Zustand der Geschlechtsorgane zu
untersuchen.
28) F. N e u ge b a u e r. Persönlich behandelte ich einen
weiblichen Scheinzwitter, die 50 j. Anastasie K., behaftet
mit sehr bedeutender Hypertrophie der Olitoris, die drei
und einen halben Centimeter lang und erectil war. Die
Kranke hatte ein weit vorgeschrittenes Uteruscarcinom
und Carcinoma ovarii sinistri.
29) F. Neugebauer: „Sarkom einer Geschlechts-
drüse durch Bauchschnitt entfernt bei einem als Frau
verheirateten Scheinzwitter auch jetzt noch zweifelhaften
Geschlechts." Am 2. III. 1903 vollzog ich den Bauchschnitt
an einer 35jähr. seit drei Jahren steril verheirateten Frau
von hohem männlichen Körperwuchs, großem, vorspringen-
den Kehlkopf und allgemeinem männlichen Aussehen, ab-
dominalem Athmungstypus. Niemals Menstruation, niemals
irgend welche sog. Tormina menstrualia, niemals irgend
welcher Geschlechtsdrang. Außere Scham weiblich, aber
hypoplastisch, Möns Veneris fettarm, Behaarung sehr
spärlich. Hymenalspuren vorhanden, Vagina in der
Höhe von einigen Centimetern blind geschlossen. Ascites,
kachektisches Aussehen. Seit einem Jahre ständig zu-
nehmende heftige Leibschmerzen. Diagnose: Tumor
malignus der inneren Genitalien. Tumor größer als eine
Kokosnuß, das Cavum Douglasii mit einem weicheren
Anteile ausfüllend, mit härteren Anteilen im linken
Hypogastrium tastbar. Beim Bauchschnitt gelang es,
den gesamten Tumor aus dem Becken stumpf herauszu-
holen nach Resektion eines Anteiles des mit ihm ver-
wachsenen Netzes. Der Tumor von Herrn Dr. Stein-
haus mikroskopisch untersucht, erwies sich als Sarkom
einer Geschlechtsdrüse ohne Spur von ovariellem oder
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— 326 —
testiculärem Gewebe; die größte Wahrscheinlichkeit sprach
dafür, daß es sich um eine Cryptorcbis sinistra sarcotnatosa
handelt, umsomehr als ein in einer Duplikatur des Bauch-
fells über den Tumor verlaufender Strang sich als Vas defe-
rens erwies. Das centripetale Ende dieses Stranges senkte
sich in einem schmalen Spalt ein zwischen 2 scheinbare
Gyri an der Tumoroberfläche, das periphere Ende verlor
sich spurlos in der lateralen Oberfläche des Tumors. Ich
fand nirgends eine Spur der rechtsseitigen Geschlechtsdrüse,
weder in der Gegend vor dem Leistenkanale noch im
Becken, fand dagegen einen Strang, der an der hinteren
Beckenwand nach oben zu verlief, wahrscheinlich liegt die
zweite Geschlechtsdrüse höher oben lateral von der Lenden-
wirbelsäule, in welchem Falle der rechtsseitige Strang des
Vas deferens dextrum sein dürfte. Der Tumor hatte eine
Art Mesenterium, eine Art Gekröse, das behufs Entfernung
des Tumors durchschnitten wurde mit nachfolgender
fortlaufender Naht und Unterbindung eines arteriellen
Gefäßes am lateralen Ende des Gekröses. Ich vermutete,
es liege vielleicht ein höchst rudimentärer Uterus unicornis
sinister vor — wobei der linksseitige Strang als Tube
sich deuten ließ, fand jedoch keinen Anhaltspunkt für diese
Annahme. Eine Prostata fand ich nicht Das Geschlecht dieser
Person bleibt zweifelhaft, trotz Exstirpation einer malign
entarteten Geschlechtsdrüse. Aus der Bauchhöhle er-
gossen sich einige hundert Gramm Ascites. Die Frau
verlor ihre Schmerzen sofort und verließ meine Klinik
nach glatter Wundheilung am 20. Tage nach dem Bauch-
schnitte. Werde diesen Fall gesondert mit Abbildungen
veröffentlichen. Es ist dies in der Kasuistik von ca. 400
von mir vollzogenen Bauchhöhlenoperationen der erste
Fall zweifelhaften Geschlechtes.
30) Obolonski [„Beiträge zur pathologischen Ana-
tomie des Hermaphrodit ismus." Zeitschrift für Heilkunde.
Bd. <>. pg. 211 1. In der Klinik von Chiari starb eine
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50jährige Arbeiterin, welche zeitlebens als Weib gegolten
hatte. Sie soll vom 17. bis zum 49. Jahre stets ihre
Kegel gehabt haben. Gleichwohl erwies die Sektion mann-
liches Scheinzwittertum mit Hypospadiasis peniscrotalis ;
der gespaltene Penis war 6 Centimeter lang; unterhalb
der HarnröhrenmUndung fand man die Öffnung der 6
Centimeter langen Vagina, von einem Hymen garniert:
die Scheide war unten 1 Centimeter breit. Man fand
einen rudimentär entwickelten Uterus bicornis, linkerseits
vom Uterus einen Hoden und Nebenhoden und Samen-
st rang, rechterseits fand man keine Geschlechtsdrüse,
wahrscheinlich war aus derselben ein maligner Tumor
hervorgegangen, das bei der Sektion gefundene Sarkom,
welches den Tod herbeigeführt hatte. Zu Lebzeiten hatte
man an ein Carcinoma uteri gedacht. Dieses Neoplasma
hatte auf dem Wege der Kompression eine beiderseitige
Hydronephrose hervorgerufen. DaObolonski rechterseits
ein Vas deferens fand, welches ganz dem linksseitigen
entsprach, so vermutete er ganz mit Recht, daß auch die
rechtsseitige Geschlechtsdrüse ein Hodenge wesen sein mag,
daß also die Verstorbene ein Mann war, wie schon Wrany
vor ihr behauptet hatte. Eigentümlich berührt die An-
gabe von der angeblichen periodischen Genitalblutung,
Regel, so viele Jahre hindurch, der wir natürlich vor-
läufig skeptisch gegenübertreten müssen. Allgemein-
aussehen ganz weiblich, auch das bis heute in Prag
konservierte Skelett weist absolut einen ganz weiblichen
Bau auf.
[Ich werde in einer anderen Arbeit die sämtlichen
Fälle von angeblicher Menstruation bei männlichen
Scheinzwittern kritisch zusammenstellen. N.].
31) Paton, (der Assistent der Chirurgischen Ab-
teilung des Londoner Westminster-Hospital) beschrieb
eine bisher einzig dastehende Beobachtung [„A case of
vertieal or complexe hermaphroditism with pyometra and
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pyosalpinx ; removal of the pyosalpiox". Lancet 1902.
10. VU. No. 4116. Vol. CLXIII. pg. 148—149]: Am
17. V. 1902 kam zu ihm ein 20 jähriger Mann wegen
Schmerzen in der Harnblase und erschwerten Harnens.
Er konstatierte eine Hypospadiasis peniscrotalis mit
beiderseitigem Kryptorchismus. Der Penis hatte kaum
2 — 3 Zoll Länge. Auf den Bauchdecken des recht-
seitigen Hypogastrium sah man eine ausgedehnte
Operationsnarbe nach Discision eines Abscesses vor
einem Jahre. Nach letzterer Operation war eine eiternde
Fistel hinterblieben, welche sich erst nach Ablauf eines
halben Jahres geschlossen hatte. Man fühlt in der
Gegend der Narbe eine ausgesprochene Resistenz, ohne
jedoch weiteren Bescheid über deren Charakter erlangen
zu können. Der Harn enthält zeitweilig Eiter, zeitweilig
Blut. Der Katheter entleert dicken Eiter. Stimme und
Gesichtsausdruck weiblich, keine männliche Gesichts-
behaaruog; Schamgegend spärlich behaart. Der Mann
ist klein von Wuchs und hager. Brüste wie bei einem
Mädchen von 15 Jahren. Der Mann war nach dem
Tode seines Vaters in einem Waisenhause erzogen
worden und hatte immer für schwächlich gegolten; ober
jemals die Periode hatte, ist nicht bekannt. Ein Bruder
und eine Schwester sollen normal gebaut sein. Das
Individuum wurde bisher stets als Mann angesehen und
scheint bis jetzt keinerlei Geschlechtstrieb em-
pfunden zu haben. Eine Ausspülung der eiternden
Harnblase — wenigstens glaubte man, es handle sich
um eine solche — brachte dem Kranken Linderung
seiner Beschwerden. Am 7. April tastete man sub
narcosi im Unterleibe einen fluktuirenden Tumor von
bedeutender Grösse, den man für die Harnblase hielt,
aber der Katheter entleerte kaum einige Tropfen Harn
und Eiter. Per rectum tastete man ein Gebilde wie eine
sehr bedeutend nach oben verlängerte Prostata, deren
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— 329 -
oberes Ende der Finger, als zu kurz, nicht zu erreichen
vermochte. Man tastete auch einen zweiten Tumor
unter der Bauchdeckennarbe gelegen rechterseits ! Drei
Tage später wurde sub narcosi der Bauchschnitt ge-
macht. Dabei fiel zunächst auf, dass der früher getastete
grosse Tumor verschwunden war; man tastete jetzt nur
den kleinen linksseitigen Tumor. Man machte einen
medianen Einschnitt unterhalb des Nabels und fand in-
mitten zahlreicher Verwachsungen einen Uterus mit zwei
Eileitern, deren rechtsseitiger mit der Bauchwand ver-
wachsen war und im Zusammenhang mit jener post-
operativen Bauchdeckennarbe stand. Dieser rechtsseitige
Eileiter war mit Eiter gefüllt, heißt es in der Beschrei-
bung. Der linksseitige sah normal aus. (?) Man fand
jederseits vom Uterus ein Ligamentum rot und um und
an der Rückfläche des linken Ligamentum latum ein
Gebilde, das wie ein Ovarium aussah. Der frühere
Tumor war offenbar die momentan leere Harnblase, die
sich als sehr erweitert erwies. Man resecierte den links-
seitigen Eileiter sowie die linksseitige Geschlechtsdrüse,
rechterseits fand man keine Geschlechtsdrüse — aller-
dings konnte man angesichts der schlechten Narkose und
drohender Asphyxie nicht allzusehr gewissenhaft darnach
suchen. Mau mußte wegen schlechten Zustandes des
narkotisierten Patienten die Operation möglichst bald
beendigen. Fortwährend floß Eiter mit Harn gemischt
aus der Harnröhrenraünduug ab. Am 8. Mai, als dieser
AbHuß fortbestand, beschloß man, die Harnröhrenöffhung
durch einen Einschnitt zu erweitern, aber wegen
schlechten Allgemeinbefindens des Kranken wurde dieser
Eingriff auf später verschoben. Eine durch die Harn-
röhre vier Zoll tief eingeführte Sonde drang nicht in die
Harnblase ein, sondern in eine andere Höhle. Nach
einiger Zeit verließ der Kranke das Hospital in relativ
gutem Zustande: es wurde beschlossen, falls sich dns
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— 330 —
notwendig erweisen werde, auch die rechtsseitigen Adnexa
uteri zu entfernen. Die mikroskopische Untersuchung des
linken Eileiters wies eine Pyosalpinx nach; die Ge-
schlechtsdrüse, welche dem Ligamentum latum hinten
auflag, war ein Hoden von rudimentärer Entwicklung.
die Urethralmündung angesehen hatte, war keineswegs
eine solche, sondern das Ostium vaginae, die Harnröhre
öffnete sich in die Vagina, in welche also sowohl die
Harnröhre als auch die Cervix uteri mündeten.
Man hatte sub operatione, sowie sich aus der Be-
schreibung zu ergeben scheint, den Uterus samt links-
seitigen Adnexa, welche statt eines Ovarium einen Hoden
enthielten, entfernt; ob rechterseits eine Geschlechtsdrüse
existierte und welcher Art, diese Frage blieb offen. Ob
eine Prostata existierte und Samenleiter blieb ebenso
fraglich. Das Allgemeinaussehen dieses Mannes war
eher weiblich als männlich.
32) Pfannenstiel [siehe Emil v. Swi narski: „Beitrag
zur Kenntnis der Geschwulstbildungen der Genitalien bei
Pseudohermaphroditen." D. I. Breslau 1900]. — Die
55 jährige unverehelichte Chr. Sc hm., niemals menstruiert
und aller Geschlechtstriebe bar, hatte schon vor drei
Jahren einen Tumor im Leibe bemerkt. Da der Leib
stetig wuchs, mußte sie ihre Beschäftigung aufgeben und
trat in das Hospital ein: Gesichtsausdruck mänulich,
ebenso die Gesichtsbehaarung, Patientin mußte sich jede
Woche rasieren wegen starken Bartwuchses. Stimme
männlich, Brustbeingegend und Brüste behaart um die
Warzen herum. Brüste schwach entwickelt, Bauch- und
Schamgegend stark männlich behaart, ebenso die Perianal-
gegend und die Extremitäten. In der Bauchhöhle ein
harter, wenig beweglicher Tumor, bis an den Rippenbogen
reichend. Clitoris stark hypertrophisch, drei Centimeter,
sub erectione 5 Centimeter lang. Langes mobiles Prae-
welche man für
— 331 —
putium clitoridis an der großen Glans. Unterhalb der
Clitoris liegt eine 1 Centimeter lange Öffnung, unterhalb
sind die Schamlefzen durch eine Raphe miteinander ver-
einigt. Durch jene Öffnung dringt der Finger zwei
Centimeter weit in einen Sinus urogenitalis ein und ent-
deckt in dessen Tiefe sowohl die Harnröhrenmündung
als auch die Öffnung der Scheide, welche einen kleinen
Finger einläßt. Im Grunde der Scheide tastet der Finger
eine bohnengroße portio vaginalis uteri, die in enger
Verbindung mit dem Tumor zu stehen scheint. Am 19.
VI. 1897 diagnostizierte Pf an nen stiel ein Uterusmyom
und machte den Bauchschnitt mit uteroovarieller Ampu-
tation. Der Tumor, acht und ein halbes Kilo wiegend,
erwies sich als ein Kugelfibromyom des Uterus, die ver-
längerten Eileiter waren 14 und 17 Centimeter lang:
beide Ovarien vergrößert, verlängert mit glatter Ober-
fläche, ohne Spur irgend welcher Einschnürungsfurchen,
und ohne Spur von Ovarial-Parenchym auf dem Durch-
schnitte. Der Bau der Ovarien wies nur ein binde-
gewebiges Stroma auf mit einigen Blutgefäßen: Keine
Spur von Graafschen Follikeln oder corpora albicantia.
Es fehlte bei allgemeinem weiblichen Baue der inneren
Genitalien absolut das essentionelle Charakteristicum
der Weiblichkeit der Geschlechtsdrüsen. Diese Person
von allgemeinem männlichen Aussehen, mit Persistenz
des Sinus urogenitalis, besaß ein Uterusfibromyom und
Ovarien ohne Spur von ovariellem Parenchym. Es war
in dem hypoplastischen Uterus ein hyperplastisches Ge-
bilde, jene Neubildung, entstanden. Das Individuuni
verriet eine hochgradige psychische Depression, mied
jede menschliche Gesellschaft und saß stets einsam
schweigend in der Klinik. [Da kein typisches Ovarial-
gewebe nachgewiesen werden konnte, so möchte ich
vorsichtigerweise auch hier das Geschlecht für zweifel-
haft erklären. Die, wie sich herausstellt, verhältnismäßig
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— 332 —
zahlreichen Fälle, wo man einen hochgradig entwickelten
Uterus beim Manne fand zugleich mit Hoden an der
Stelle der Ovarien liegend (Kryptorchismus bei fehlendem
Deseensus beider Hoden) geben viel zu denken. N.]
33) Pdan [siehe im Vorhergehenden Gruppe II No.2]
fügte in seinem Falle von vergeblichem Suchen nach
den Testikeln mit beiderseitigem Leistenschnitt den Bauch-
schnitt hinzu, um sich von dem Zustande der inneren
Genitalien zu überzeugen und vollzog schließlich noch
die Abtragung der beiderseitigen Uterusadnexa um der
späteren Entstehung einer Haeraatometra vorzubeugen.
34) Primrose [,,A case of Uterus masculinus"
British Medical Journal 1897. Vol. II pg. 881]. Man
diagnosticierte bei einem 25jährigen mit beiderseitigem
Kryptorchismus behafteten Manne einen Tumor eines
Hodens und machte den Bauchschnitt mit Entfernung eines
Hodensarkomes. Der Mann starb, die Sektion wies nach,
daß ein Uterus saramt Tuben und Vagina existierte; die
Vagina öffnete sich in parte prostatica urethraein capite
gallinaginis. [Referat: Frommeis Jahresbericht für
1897 pg. 933 j.
35) Quisling [Pseudohermaphroditismus femininus
externus* — Kristiania. Sep. Afdr. af Norsk Magazin
for Laegevidenskab. No. 5. 1902]: Am 20. VI. 1893
kam zu Quisling ein 18jähriges Fräulein wegen Bleich-
sucht und bisherigem Ausbleiben der Periode. Das
Mädchen glaubte bemerkt zu haben, es sei körperlich
anders veranlagt, als andere Frauen und verlangte des-
halb eine Untersuchung. Körperwuchs niedrig, schwäch-
liche Konstitution, männliche Stimme. Dolichocephalische
Kopfform mit hoher Stirn. Gesichtsausdruck männlich.
Starke männliche Gesichtsbehaarung, so daß das Mädchen
sich diesen Bartwuchs durch Scheere oder Ausreißen der
Haare beseitigt. Der Haarwuchs nimmt trotzdem ständig
zu. Schmaler flacher Brustkorb ohne Brustdrüsen. Der
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— 333 —
gesamte Unterleib ist stark behaart, ganz besonders
der Möns Veneris und die Innenflächen der Oberschenkel,
sowie die Perianalgegend ; Schambehaarung männlich.
Betrachtet man das Mädchen, nachdem es die Kleidung
gauz abgelegt, so fällt die Gegenwart eines Membrura
virile auf, wenn das Mädchen steht. Das Becken er-
scheint schmal, ein Scrotum ist bei geschlossenen Schenkeln
nicht zu sehen. Die Vorhaut bedeckt nicht die Glans
penis, läßt sich aber soweit vorziehen um die Glans zu
bedecken. Harnröhrenöffnung weiblich. Die Schamlefzen
erscheinen als zwei stark behaarte Hautdecken wülste ,
aber sie sind wenig entwickelt, viel mehr dagegen die
kleinen Schamlippen, die nach oben zu in die Crura
clitoridis und die Vorhaut des Präputium übergehen.
Man findet eine untere Kommissur der Schamlefzen, ein
Frenulum labiorum! Die Hymenalöffnung ist sehr eng,
unterhalb der Harnröhrenöffnung belegen. Per rectum
tastet man einen viereckigen in der Mittellinie gelegenen
Körper und linkerseits daneben ein rundliches Gebilde.
Eine Art Strang verbindet diese beiden Gebilde, welche
wahrscheinlich Uterus und Adnexa sind. Kechterseits
tastete Quisling ein härteres Gebilde dicht an der
seitlichen Beckenwand liegend; es war von ovaler Gestalt.
Der Vater des Mädchen ist vor drei Jahren gestorben,
die Mutter, drei Schwestern und drei Brüder leben und
sind normal gebaut.
Am 31. Juli klagte das Mädchen über Schmerzen
in der Art von Molimina menstrualia. Zum zweiten
Male sah Quisling dieses Mädchen am 18. I. 1895 und
konstatierte damals eine leicht verlaufende Appendicitis.
Am 29. Juli fand ein Nasenbluten statt, welches sich in
letzter Zeit periodisch wiederholt laut Angabe des Mädchens
und jedesmal drei bis vier Tage dauern soll (Menstruatio
vicaria?) Das Mädchen ist fest überzeugt von seiner
Weiblichkeit und empfindet weiblichen Geschlechtsdrang.
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— 334 —
Als Quisling dem Mädchen riet, sich fürderhin männ-
lich zu kleiden angesichts des Bartes, so rief es aus
„Aber, Herr Doktor!" — Am 24. XI. 1897 sah Quis-
ling das Mädchen zum dritten Male: er fand abermals
Symptome der Appendicitis und zugleich Schmerzen im
linken Hypogastrium sowie hartnäckige Stuhlverstopfung ;
während der Untersuchung konstatierte er Erektionen des
Penis. Der Scheideneingang ließ kaum die Kuppe des
kleinen Fingers ein, eine Sonde drang aber 10 Centi-
meter tief in eine Vagina ein. Per rectum tastete man
dasselbe wie vor 4 Jahren. Am 8. III. 1899 gestand das
Mädchen Masturbation zu, seit lange prakticiert. Zur
Zeit war das Mädchen 23 Jahre alt
Seit dem letzten Besuche starke Abmagerung. Die
heute von Patientin angegebenen Schmerzen hingen aus-
schließlich von der Appendicitis ab, waren also ganz
unabhängig von der genitalen Mißstaltung. Quisling
erstaunte, als es ihm jetzt gelang, ohne Schwierigkeiten
seinen ganzen Finger in die Vagina einzuführen — das
Mädchen erzählte zu seiner Rechtfertigung, es habe sich
wegen seines Bartwuchses von einem Dermatologen be-
handeln lassen. Letzterer habe um die Erlaubnis einer
vaginalen Untersuchung gebeten und dabei sei wahr-
scheinlich die Jungfrauenhaut eingerissen. An der Ge-
sichtshaut sah man zahlreiche von dem Gebrauche des
Thermokauters herrührende Narben, aber die männliche
üppige Gesichtsbehaarüng war dieselbe geblieben. Der
Uterus erschien jetzt als ein Körperchen von drei Centi-
meter Länge und zwei Zentimeter Breite, Uterus foetalis.
Von ihm geht jederseits eine Art Strang aus zur vorderen
Beckenwand hin verlaufend. Man konnte jetzt bequem
in die Vagina ein Milchglasspeculum 10 Centimeter tief
einführen und fand in speculo eine Vaginalportion eines
Uterus einen Centimeter weit in das Lumen der Vagina
vorragend. Linkerseits vom Uterus tastete man ein läng-
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— 335 —
liches Gebilde, wahrscheinlich ein Ovarium; ein ähnliches
Gebilde reehterseits lag nach der seitlichen Beckenwand.
Aus dem Muttermunde trat etwas Schleim hervor. Die
Sonde drang in den Uterus drei Centimeter tief ein. Der
Penis resp. die hypertrophische Clitoris maß jetzt 4 Centi-
meter Länge, 2 Centimeter Dicke. Man sah deutlich eine
Raphe perinaei. Im Oktober 1901 erfolgte wieder ein
schmerzhafter Anfall von Appendicitis in regione
ileocoecali: darnach will Patientin etwas Blutabgang aus
den Genitalien bemerkt haben, vielleicht infolge einer
zufälligen Verletzung sub masturbatione. Die Mutter
dieses Mädchens erzählte Quisling, sie habe nach der
Geburt dieses Kindes selbst eine Zeit lang Zweifel ge-
hegt, ob denn das Kind auch ein Mädchen sei, desto
mehr sei sie später beunruhigt worden durch den Bart-
wuchs bei der Tochter. Als Quisling der Mutter
mitteilte, ihre Tochter sei wirklich eine solche und kein
verkannter Junge, äußerte die Mutter alle Anzeichen
großer Befriedigung. Augenblicklich lebt die Mutter nicht
mehr, sie wurde von einem Leberkrebs dahingerafft. Im
gegebenen Falle hat sich Quisling für das weibliche
Scheinzwittertum geäußert; es bleibt abzuwarten, ob eine
eventuelle Nekropsie seine Vermutung bestätigt oder nicht
36) E. v. Salin (Stockholm) [„Ein Fall von Herm-
aphroditismus verus unilateralis beim Menschen." — Ver-
handlungen der deutschen pathologischen Gesellschaft,
herausgegeben von Professor Ponf ick. Zweiter Jahr-
gang. Berlin 1900. pg. 241 — siehe Referat: Zentral-
blatt für Gynaekologie. 1900. No. 32. pg. 862.]: Au-
guste Persdotter, 43jährig, unverehelicht, menstruiert
seit ihrem 17. Jahre. Coitus mit einem Manne schmerz-
haft, Coitus mit Mädchen oder Frauen bisher nicht ver-
sucht. Allgemeinaussehen weiblich, Clitoris 5 Centimeter
lang mit Glans von Haselnußgröße. Schamlippen normal
gebildet, sowohl die großen als auch die kleinen. Unter-
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— 336 —
halb der Harnröhrenöffhung liegt die enge Öffnung der
Vagina, welche kaum eine dünne Sonde einläßt. Die
Sonde dringt 8 Centimeter tief ein. v. Saldn entfernte
mit Bauchschnitt ein cystisches Fibroid von der Größe
des Kopfes eines erwachsenen Mannes, an einem Stiele
sitzend, sowie die Geschlechtsdrüsen, welche da lagen,
wo bei Frauen die Ovarien liegen. Tuben und Ligamente
des Uterus normal. Die Patientin verließ am 8. 1. 1899
geheilt das Hospital. Die mikroskopische Untersuchung
der einen Geschlechtsdrüse sollte einen gemischten testi-
culoovariellen Bau aufweisen, die Drüse sollte eine Art
Ovotestis sein; eine Hälfte der rechten Geschlechtsdrüse
soll Hodenstruktur aufgewiesen haben, die Andere
Ovarialstruktur. In dem ovariellen Stroma wurden, wie
es in dem Referate heißt, Graafsche Folikel entdeckt und
typische Eier; inmitten reichen Spindelzellengewebes fand
man in dem Hodenstroma nirgends Spermatogonien oder
andere Samenzellen. Die linke Geschlechtsdrüse erwies
sich als Ovarium. Die wörtliche Beschreibung lautet so:
„Die Untersuchung der Geschlechtsdrüsen ergab linker-
seits ein ziemlich kleines höckriges Ovarium mit
Graafschen Follikeln und Eiern, rechterseits eine Zwitter-
drüse, deren eine Hälfte Eierstoekgewebe, deren andere
Hodengewebe zeigte. Der Ovarialteil ist grobhöckrig,
von gelber Farbe und derber Konsistenz und zeigt bei
der mikroskopischen Untersuchung Graafsche Follikel
und ganz typische Eizellen in einem spindelzellenreichen
Stroma eingebettet. Der Hodenteil ist oben von ziem-
lich weicher Konsistenz, mit weißglänzender Tunica
albuginea. Das Parenchym ist locker, von braungrauer
Farbe und von weißen Bindegewebssepta durchzogen;
mikroskopisch zeigt es tubuli seminiferi, die in einem
lockeren, von größeren und kleinereu Anhäufungen fett-
und pigmentreicher Zwischenzellen durchsetzten Binde-
gewebsstroma liegen. Die Tubuli sind stark geschlängelt
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— 337 —
von beinahe gleicher Weite. Ihre Membranae propriae
sind größtenteils verdickt, sehr reich an concentrisch an-
geordneten Fasern. Das Epithel besteht aus Follikel-
zellen und Sertolini'schen Zellen. Nirgends Spernia-
togonien oder andere Samenzellen. Die Struktur zeigt
im Ganzen eine auffallende Ähnlichkeit mit derjenigen
des ektopischen Hodens nach der Pubertät" —
[Ich weiß nicht, ob die mikroskopischen Präparate
auch von anderen Forschern die gleiche Deutung er-
fahren haben. Blacker und Lawrence waren die
Ersten, die in ihrem Falle eine solche Zwitterdrüse ent-
deckt zu haben glaubten. Ihre Deutung des mikro-
skopischen Präparates hat jedoch einer Kontrollunter-
suchung und Kritik des Herrn Professor Nagel nicht
Stand gehalten.] Neuerdings hat Prof. Landau diese
mikroskopischen Präparate in Berlin demonstriert.
37) Snegirjow [siehe im Vorhergehenden: Gruppe I,
Fall 30] fügte in seinem Falle von Herniotomia bilateralis
bei einem irrtümlich als Mädchen erzogenen männlichen
Scheinzwitter die Koeliotomie hinzu, um sich von dem
Zustande der inneren Genitalien zu überzeugen, also eine
diagnostische Koeliotomie.
38 j E. Sorel und Che*rot |„Un cas de pseudo-
hermaphrodisme" — Archives Provinciales de Chirurgie.
T. VII. 1. Juni 1808. pg. 367.]: Die 36jährige Aline
C, als Mädchen erzogen und niemals menstruiert, hatte
ein allgemeines männliches Aussehen. Der männliche
Bartwuchs zwang das Mädchen vom 21. Jahre an sich
täglich zu rasieren. Andromastie. Brust nicht behaart,
aber die unteren Extremitäten bedeutend behaart.
Stimme männlich. Statt der Clitoris sah man zwischen
den Schamlefzen einen Penis hypospadiaeus von fünf
und einem halben Centimeter Länge, in der Höhe
der Corona glandis von 6 Centimeter Umfang. Die
volle Erection dieses Gebildes wurde sehr erschwert
Jahrbuch V. 22
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- 3:58 -
durch die „bride", welche das Glied nach unten zu
hakenförmig gekrümmt erhält. Labia majora reich be-
haart, aber gut gestaltet. Die Harnröhre erweist sich
gespalten an der unteren Wand; keine Spur von Hoden
zu entdecken, keine Spur von Vulva oder Vagina. Der
Charakter von Aline erscheint ernst, ohne eine ausge-
sprochene Leidenschaft; sie hat Erektionen ihres Gliedes
und fühlt einen männlichen Geschlechtsdrang, auf Frauen
gerichtet, und hat sogar den Beischlaf mit Frauen ver-
sucht, aber „sans pouvoir y aboutir". — Früher war
Aline stets gesund, aber seit einiger Zeit empfindet sie
starke Schmerzen rechterseits im Unterbauche. Augen-
blicklich, am 15. III. 1898, fühlt sie sich schon seit 6
Wochen krank: die früheren Schmerzen haben sich
wieder gemeldet zugleich mit Erbrechen und Durchfall.
Am 12. III. 1898 trat sie wegen eines Bauchtumors in
das Hospital ein. Fieber und Meteorismus. Der harte,
schmerzhafte, druckempfindliche Tumor nahm die ganze
rechte Hälfte der Bauchhöhle ein, reichte bis zur Linea
alba und bis drei Querfingerbreit unterhalb der Leber.
Perkussion oberhalb des Tumors ergab tympanitischen
Schall. Am 15. März wurde der Bauchschnitt vollzogen
— und zwar rechterseits seitlich ; es ergoß sich etwa ein
halber Liter Eiter aus der Wunde, welcher dunkel ge-
färbt war und faekaloid aussah. Der Finger tastete in
der Wundhöhle höckrige Gebilde, welche den Eindruck
von epitheliomatösen Wucherungen machten, so daß
man an Carcinom des Blinddarmes dachte! Man legte
in die Wunde einen Gazedrain ein und verschloß den
Rest der Wunde. -|- 38,0 0 C. Am nächsten Morgen
war der Verband von Faeces durchtränkt, 16. III;
am 17. IU. Tod.
Bei der Nekropsie fand man eine allgemeine
Peritonitis: die gesamte rechte Hälfte des Unterbauches
war von einem Tumor eingenommen, der carcinomatös
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— 339 —
war, mit zahlreichen cystischen Bildungen. Auf der
Höhe des fünften Lendenwirbels fand man keine Hoden,
in der Beckenhöhle fand man keine Spur von inneren
weiblichen Genitalien. Harnblase normal. Zwischen
Harnblase und Mastdarm fand man einen Sack, gefüllt
von Flüssigkeit, 8 Centimeter lang und ö Centimeter
breit. Die Wände dieses Sackes, ebenso dick wie die
Blasenwände, waren innen von einer Schleimhaut ausge-
kleidet, nach unten zu kommunizierte dieser Sack durch
eine feine Öffnung mit der Harnblase. „A la partie
infe*rieure et sur la face peritoneale de cette poche
aboutit de chaque cote* un can/il gros comme une plume
a parois epaisses, dans lequel on peut enfoncer un stylet
fin; chacun de ces canaux a une longueur de 6 — 8 Mill.J
— Cette ve*sicule conti ent un liquide jaune dpais,
visqueux et est accole* sur les cötes de la poche." — Man
fand weder in den Schamlefzen noch in den Leisten-
kanälen noch in der Bauchhöhle Hoden. Verlauf der
Harnröhre wie bei Frauen. Keine Prostata gefunden.
Der Sack zwischen Vesica und Rectum entsprach einem
hypertrophischen Utriculus masculinus, die beiden seit-
lich gelegenen Blasen sollten die Samenblasen sein.
Mangel der Vulva, Vagina, der Hoden ; Gegenwart eines
Utriculus masculinus und Spuren von Müll cr'schen
Gängen.
Kommentare lassen sich zu diesem Falle nicht
geben, da sie allzu willkürlich ausfallen würden. Das
Geschlecht bleibt hier zweifelhaft resp. unentschieden
für immer.
39) L. Stimson [BA case of rare form of pseudo-
hermaphrodism". Med. Record. 24. IV. 1879. — Siehe
Referat: Zentralblatt für Gynaekologie 1897. Xo. 43
pg. 1306]: Nach dem Autor handelt es sich um interne
Zwitterbildung (Klebs), bisexuelle Entwickelung des
Herrn an n'schen mittleren Segmentes. Ein 48jähriger
22*
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— 340 —
Neger von männlichem Aussehen konsultierte Stimson
wegen eines Bauchhöhlentumors. Penis normal gestaltet,
von mittlerer Länge; der kleine Ilodensack enthält nur
den rechten Hoden. Rechterseits eine leicht reductible
Leistenhernie. Damm normal. Dieser Mann ist zum
zweiten Male verheiratet und hat einen 25 jährigen Sohn.
Man tastet in der Bauchhöhle linkerseits oberhalb der
Schamfuge einen faustgroßen Tumor, der auch bei der
Untersuchung per rectum tastbar ist. Man vermutete
ein Neoplasma des einen in der Bauchhöhle retinierten
Hodens. Beim Bauchschnitte fand man einen unregel-
mäßig gestalteten Tumor von einer weißen Hülle um-
geben, beweglich und durch eine Art Strang in Verbin-
dung stehend mit einem Uterus bicornis mittlerer Größe
— beide Tuben vorhanden. Man fand keine runden
Mutterbänder. Rechterseits gelang es, den Finger durch
den Leistenkanal von der Bauchhöhle aus in den Hoden-
sack einzuführen. Es gelang nicht, das untere Ende des
Uterus zu tasten und sein Verhältnis zur hinteren
Blasenwand sowie zur Harnröhre festzustellen. Der
entfernte Tumor erwies sich als ein Sarcom des linken
Hodens. Stimson vergleicht seine Beobachtung mit 6
ähnlichen von Hermann zusammengestellten Beob-
achtungen.
40) H. Stroebe [„Ein Fall von Pseudohermaphroditis-
raus masculinus internus, zugleich ein Beitrag zur patho-
logischen Eutwickelungsmechanik". Beiträge zur patho-
logischen Anatomie und zur Allgemeinen Pathologie.
Her. v. Professor Dr. E. Ziegler. Bd. XXII. (Siehe
Fig. 20 u. 21.)] beschrieb in ganz ausgezeichnet genauer
Weise ein Sektionspräparat, abstammend von einem im
Alter vou 63 Jahren in Hannover infolge von Carcinoma
oesophagi verstorbenen männlichen Schein z witters Ernst
L. Da diese Beobachtung ungemein interessant ist, sei
sie hier wiedergegeben. Ernst L. verstarb bereits am
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— 341 —
13. Tage nach seiner Aufnahme in das Hospital.
Allgemeinaussehen männlich, Gesichtsbehaarung spärlich.
Äußere Genitalien männlich. Penis 10,5 Centimeter lang.
Harnröhrenöffnung an normaler Stelle. Scrotum ein
leerer Sack. Schambehaarung männlich. In der Bauch-
höhle fand sich ein hochgradig entwickelter Uterus
mit Ligamenta lata und Tuben. Die Tuben waren
dünner und länger als normal. Der Uteruskörper, in
fundo 6 Centimeter breit, verschmälerte sich bedeutend
nach unten zu. Schon 5 Centimeter unterhalb des
Fundus stellt der Uterus nur einen cylindrischen Strang
vor von der Dicke des Mittelfingers, von vorn nach
hinten zu etwas abgeplattet. Der Uterus reicht nach
unten zu bis in das Cavum Douglasii. Die größte Länge
des Uterus, an der Hinterfläche gemessen, beträgt 20
Centimeter, auf der Vorderfläche hingegen nur 10 Centi-
meter, hier geht das Bauchfell, ohne irgend ein Falte
zu bilden auf die hintere Blasen wand über. Anus nor-
mal. Die rechte Tube reicht bis auf die rechte Fossa
iliaca. Das Ligamentum latum dextrum teilt sich am
peripheren Ende in zwei Blätter, deren vorderes auf das
Coecum und den Wurmfortsatz übergeht. In der Ecke
zwischen Wurmfortsatz und Tube lag ein ovales, plattes,
bohnengroßes Gebilde, eine Geschlechtsdrüse, darunter
ein kleineres, nicht ganz vom Bauchfell überzogenes
Gebilde. Das rechte Ligamentum latum ist 26 Centi-
meter lang. Das rechte Ligamentum rotundum verliert
sich in der rechten Scrotalhälfte im Bindegewebe. Der
rechte Leistenkanal ist verschlossen. Vom Uterus ver-
läuft nach der erwähnten rechtsseitigen Geschlechts-
drüse zu eine Art Ligamentum ovarii. Die linke Tube,
nur 14 Centimeter lang, ist bleistiftdick, an ihrem
peripheren Ende liegt die linke Geschlechtsdrüse, daneben
ein kleineres Gebilde wie rechts. Der Uterus macht den
Eindruck eines Uterus bicornis mit stärkerer Entwicke-
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Fi*. -V. lti'ol>;irlituiisf von Strorln- i ->< kt lonsprflparaO.
< — < Ii i i < 1 1 1-< •riii» ti •■ de« '>.;j;ihr. mftnolichen Schein/wittet- E. L. von von« «jcsohi'n (,'., der
natürlichen UrR*w) L' Fundu* uteri j KU link«— l'teruaborn, U — l'teras, T. Tuben an
«lor K-.< ■■ <h r Li xg. lata il»as rechts Lig. latum i-t kün-tlich etwa» torquiert, so da»* nahe
Ikmiii L'teniK M'ine vordere Flüche, n«"K«-n dio »oitlichu Beckenwand «lago^en »«•in« llinter-
fWch* /in Anaicbl kommt, dadurch tritt die rechte Geacblochtadrüsa hervor.) II Motion.
K = Neheohoden, My : Elydatlden de« rlodeni und Sebenbndcn* rocht»), U lAng. rotund.i.
ondigond in «ler recht- tc<'»chlo<«»«-ucn, links mit «.vorn atif<.'«»ehnittene r) Pcritomu-alau»-
»t ülpuni: verseh«-nen Semtalhidfle. S 1, <;. v n-1 (let* Li i-tenrinxc*. Sp Struiiir mit Vaaa
s|«ermatica interna (links), N, N . N . Vorl>mduin:>t)rlick«n zum unteren Kami«' dos grosaeit
Netze- rom Unken Nebenhoden iJfjl und dem linken rtifrdfocmia; ausgesogenen Ligamentum
latum (N. N;i, N groaaea Xol/. C Coeoinn, 1 Ilenin, Pr, PriM-o-sus \> iniifonni»,
lt = Harnhla-«- vorn uiifn« M-hiiilt> ri durch Nadt in auseinandergehalten, l'r rretoren, der
reefate nach Oben, der linke nach unten ue/n^en, Pr _ Pro-lala mit vom auf^e-t hnittoner
Mamr<>hro, P P«ni», «licht hinter der (Slam subcutan aufgt**ehnilten mit unn-n xdtlieh
uuf^eschtiitli nor 1 1 :« i n »• • Ii r. ■ I i. M scillieh aufwM-lmiti. m i Ma-ttlarm. I» Anus.
Google
Fig. 21. Beobachtung von Stroebe (Sektionspräparat).
Halbschematische Zeichnung des Genitalapparates (von vorn gesehen).
U = Uterus mascnlinus mit Uterushorn links. Aus den beiden Ecken des
Uteruslumens zweigen die Tubenlumina ab; nach unten tritt eine allmähliche
Verengerung des Uteruslumens, dann wieder eine Erweiterung ein (Scheiden-
teil); Mündung des schließlich wieder sehr eng werdenden Kanales auf dem
Colliculus seminalis (C) in die Pars porstatica der Harnröhre mit längsovalem
Schlitz. An beide Seiten des Uterus schließt sich je ein Ligamentum latum
an. B = Harnblase, deren oberer Teil abgeschnitten ist mit Ureteren; Pr—
Prostata. P = Penis, hinter der Glans durchschnitten. Harnblase und Pars
prostatica der Harnröhre sind vorn in der Mittellinie aufgeschnitten und
auseinandergeklappt, ferner sind in der Zeichnung diese beiden Teile durch-
sichtig gemacht, so daß man die hinter ihnen verlaufenden Geschlechts-
stränge bis zu ihrer Mündung auf dem Colliculus seminalis C hindurch
sehen kann. H = Hoden, E = Nebenhoden, Hy = Hydatiden, V = Vasa
deferentia geschlängelt), A = Ampullen derselben, D — Ductus ejaculatorii
auf dem Colliculus seminalis C = mündend, T = Tuben, G = Ligamenta
testis, R äs Ligamenta rotunda, rechts in der geschlossenen, links in der
mit einer (vorn aufgeschnittenen) Peritonaealausstülpung versehenen Scrotal-
bälfte (8) endigend, L = Gegend der Leistenkanäle, 8p Strang, enthaltend
die Vasa spermatica interna (links), N1 N2 N* = Verbindunjjsbriicken vom
linken Nebenhoden (E) und dem stielartig ausgezogenen linken Lig. latum
zum unteren Kand des großen Netzes. Die punktierten Linien markieren den
Verlauf der Arterien: an beiden Seiten des Uterus je einer Arteria uterina, von
welcher ein mit dem Lig. testis zum Hoden verlautender Ast abgeht; bei
Sp die linken Vasa spermatica interna im unteren Strang der freien recht-
eckigen Platte des Lig. latum, sie auastomosieren durch eine schräge ge-
schlängelte Getäßverbindung mit dem im linken Lig. testis verlautenden
Gefäße. Von letzterem geht ein Ast in das linke Lig. rotundum Uber.
Sp Arteria spermatica interna dextra.
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— 344 —
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lung des linken Hornes. Von ihm zieht ein Strang in
den linken Leistenkanal, der offen ist und einen Finger
in die leere Scrotalhälfte einläßt^ deren Höhlung von
dem Bauchfell ausgekleidet ist. Man fand in diesem
Strange das linke Ligamentum rotundum sowie parallel
der Tube belegen ein Ligamentum ovarü. Auf einem
Durchschnitte des Uterus, 10 Centimeter unterhalb des
Fundus, sieht man drei Lumina: das Lumen der Uterus-
höhle und die Lumina der beiden Wo lff 'sehen Gänge,
welche in der Uteruswand nach unten zu verlaufen. Das
Lumen der Uterushöhle ist mit einer gelblichen, teigigen
Masse erfüllt. Man kann die Kuppe einer von obenher
in die Uterushöhle eingeführten Sonde am Blasengrunde
tasten. Penis klein, die Prostata hat sehr kleine Lappen.
Am Caput gallinaginis sieht man ausgezeichnet den
Sinus prostaticus in Gestalt einer Rinne von 5 Milli-
meter Länge und 2 Millimeter Breite. Trigonum
Lieutaudii und Urethralmündungen normal, Nieren
normal. Der Uteruskanal mündet in capite gallinaginis.
Das Mikroskop ergab, daß die rechtsseitig und linksseitig
peripher gelagerten Gebilde die Hoden und Nebenhoden
waren. Es handelt sich also um hochgradige Entwickelung
der Mülller'schen Gänge bei einem Manne, der mit
Kryptorehismus behaftet war. Der Kryptorchismus ist
für mich auch ein für die Hypothese von Siegenbeck
van Heukelom bestätigendes Moment. Die Wo lff 'sehen
Gänge sind vollständig normal entwickelt, sie treten in
die Uteruswand ein unterhalb des Angulus tubouterinus,
nachdem sie bisher in ligamentis latis verlaufen waren.
Die Tuben besaßen keine Fimbrien und keine Ampullen,
die rechte dünne Tube endete dicht beim Nebenhoden,
die linke schwand in Fettgewebe in der Nähe des linken
Hodens. Was die Geschlechtsfunktionen des Ernst L.
intra vitam anbetrifft, erfuhr Stroebe nichts weiter, als
daß Ernst L. kinderlos verheiratet gewesen war, ob er aber
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— 345 —
Erektionen hatte, den Beischlaf ausführen konnte etc. ist
nicht bekannt, ebensowenig, ob Pollutionen oder menstru-
elle Entleerungen vorgelegen haben mögen. Stroebe
vermutet, die gelbe, teigige Masse im Uteruslumen könnte
von Blut abstammen, da sie durch Salzsäure und
Ferrocyankalium blaugefärbt wurde. Stroebe liefert eine
ganz ausgezeichnete detaillierte mikroskopische Beschrei-
bung seiner Präparate. Im Interesse des Lesers will ich
hier 2 mikroskopische Abbildungen des Präparates
wiedergeben, welche sehr instruktiv sind. (S. Fig. 20 u. 21).
41) Unterberger [„Ein Fall von Pseudoherni-
aphroditimus femininus externus mit Coincidenz eines
( harialsarkoms. Laparotomie* — Monatsschrift für Geb.
u. Gyn. April 1901 pg. 436J: Am 17. XII. 1900 stellte
Unterberger in dem Verein für wissenschaftliche
Medicin in Königsberg ein Mädchen von vierzehn und
einem halben Jahre vor, welches man an. ihn gewiesen
hatte behufs Exstirpation eines Unterleibstumors. Das
Geschlecht des Kindes erschien zweifelhaft; sein Allgemein-
aussehen 6o\vie sein Glied, aussehend wie ein hypospadischer
Peuis, sprachen für männliches Geschlecht, ebenso die
Hypospadie des Scrotura; auf Grund der Untersuchung
der inneren Geschlechtsorgane jedoch glaubte Unter-
berger, das Kind sei ein Mädchen. Drei Brüder und
vier Schwestern sind normal gebaut, desgleichen die
Eltern. Das Kind war als Mädchen erzogen worden,
weil die Hebamme sofort nach der Geburt es für ein
solches erklärt hatte. Das Kind spielte lieber mit Mädchen
als mit Knaben, half jedoch angesichts seines kräftigen
Körperbaues am liebsten dem Vater bei dessen Arbeiten.
Im April 1900 trat einmal eine 8 Tage andauernde
Blutung aus der Scham auf, von der Mutter für die erste
Periode angesehen; diese Blutung wiederholte sich jedoch
in der Folge nicht mehr. Seit jener Zeit fing das Mädchen
über Unterleibsschmerzen zu klagen an, endlich bemerkte
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— 346 —
man vor einem hallten Jahre den Tumor im Leibe, welcher
rasch wuchs. In den letzten Monaten wurde dieser Tumor
recht druckschmerzhaft bei Berührungen. Das Mädchen
ist übermäßig hoch gewachsen — 164 Centimeter hoch,
die Extremitäten sind lang, männlicher Knochenbau
sehr kräftig, männliche Stimme, männliche Gesichts-
behaarung fehlt dagegen. Becken sehr schmal im Ver-
gleiche zu der Größe des Körpers. Behaarung von Scham
Fig. 2*J. Vulva eines I i jähr, als Mädchen erzogenen Scheinzwitters.
H«'obachtung von V nterberger. 1 — Urethralmiindimg.
und Damm spärlich, weiblich. Der Tumor überragt den
Nabel. Die Scham sieht durchaus männlich aus. Penis
hvpospadiaeus von der Größe und Dicke des großen
Fingers. Vorhaut nach hinten retrahiert. Zwischen den
getrennten Scrotalhälften sieht man eine Art Schamspalte,
in deren Grunde die Öffnung der Harnröhre, seitlich
von ihr je eine kleine Schamlippe. Wenn man das Kind
drängen heißt, RO stülpt sieh in jeder Leiste eine An-
— 347 —
Schwellung vor wie eine Hernie; rechterseits kann man
sich leicht vom Danninhalt dieser Hernie überzeugen,
außer Darm liegt aber in diesem rechtsseitigen Leisten-
bruche noch ein kleines, rundliches Gebilde, welches weder
ein Hoden noch ein Ovarium zu sein scheint Per rectum
tastet man in der Mittellinie eiu Gebilde, welches in
Zusammenhang mit dem Tumor steht; nach unten zu
Fig. 23 Vulva eines 14 jähr, als Mädchen erzogenen Scheinzwitters.
Beobachtung von Unterb erger.
1 s Vaginalhernie im Scrotalsack. 2 = Urcthralmündung.
3 = Dellenformige Einziehung, vielleicht entsprechend der Vagina.
verjüngt sich dieses Gebilde und scheint am unteren
Ende eine Art Delle zu besitzen. (?) Die äußere Scham
sprach für männliches Geschlecht, besonders, wenn man
annehmen wollte, daß das Gebilde in der rechtsseitig n
Hernie eiu Hoden sei. Unterberger jedoch glaubte,
daß der per rectum getastete Körper ein Uterus sei. der
rasch wachsende Tumor ein Ovarialsarkom und daß die
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— 348 -
Vagina sich wahrscheinlich in die Urethra offene, daß
jene Blutung aus dem Genitale eine katameniale gewesen
sei Am 19. XII. entfernte er durch Bauchschnitt den
Tumor, der sich als mannskopfgroßes Sarkom des linken
Ovarium erwies. Man fand einen kleinen Uterus, die
linke Tube auf dem Tumor liegend, in dessen Substanz
die Ovarialsubstanz gänzlich aufgegangen war. Man
fand auch die rechte Tube und den rechten sehr kleinen
Eierstock, kaum haselnußgroß. Man fand ferner die
runden Mutterbänder und glaubte ein unterhalb des
Uterus getastetes Gebilde wie einen aus zwei Wänden
bestehenden Schlauch für eine Vagina ansehen zu dürfen,
welche sich wahrscheinlich in die Urethra eröffnete oder
mit ihr zusammen in den Sinus urogenitalis in der oben
angegebenen Öffnung in der Schamspalte. Nirgends
Hoden gefunden, die Offnungen der Leistenkanäle waren
von Darmschlingen bedeckt. Das Mikroskop erwies ein
typisches Endotheliom oder Sarkom der Geschlechtsdrüse.
Uuterberger gibt jedoch nichts darüber an, ob dieses
Sarkom wirklich aus einem Ovarium entstanden war und
nicht etwa aus einem in der Bauchhöhle retinierten Hoden.
Da die andere Geschlechtsdrüse nicht herausgeschnitten
wurde, also nicht zur mikroskopischen Untersuchung
gelangte, so dürfte man wohl sagen, die Entscheidung
von Unterberger beruhe auf seiner Vermutung, aber
nicht anatomischen Beweisen. Das Kind konnte demnach
ebensowohl ein männlicher Scheinzwitter sein, wie ein
weiblicher; freilich wurde die Blutung aus dem Genitale
eher zu Gunsten der Annahme Unt er berge r's sprechen.
Jedenfalls hatte Unterberger wohl angesichts der
sarkomatösen Entartung der linken Geschlechtsdrüse das
Recht, auch die rechtsseitige Geschlechtsdrüse mit heraus-
zuschneiden, deren mikroskopische Untersuchung vielleicht
das fragliche Geschlecht entschieden hätte — wenngleich
ihr Entwickelungszustand auch so rudimentär seiu konnte,
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— 349 —
daß auch das Mikroskop nicht im Stande wäre auf die
uns vorliegende Frage zu antworten. Meines Erachtens
erscheint auch in diesem Falle das Geschlecht fraglich trotz
der Exstirpation einer Geschlechtsdrüse (s. Fig. 22 u. 23).
42) West er mann [„Over een geval van Herrn -
aphroditism* Nederl. Tijdschr. v. Geneesk. 1901. No. 11
— siehe Referat: Monatsschrift für Geb. u. Gyn. Juni
1902. pg. 955]: Ein 30 jähriges Mädchen starb infolge
von ulceröser Appendicitis. Schon die Mutter war im
Zweifel über das Geschlecht dieser Tochter gewesen und
zwar wegen deren absoluter Amenorrhoe. Bei der
Sektion konstatierte man Mangel der Brustdrüsen, einen
Penis hypospadiaeu8 von 6 Centimeter Länge mit nicht
von der Vorhaut bedeckter Glans. Auch das Scrotum
war gespalten. Unterhalb der Urethralmündung lag die
von einem Hymen garnierte Öffnung der Vagina
Männliche Schambehaarung; die auf der Innenseite be-
haarten Schamlefzen enthielten keine Hoden. Von der
Rückwand der Harnblase geht linkerseits eine 7 Centi-
meter lange Tube aus mit ausgesprochenen Fimbriae,
mcsosalpinx und Ligamentum rotundum. Wo das Ovarium
6inistrum liegen sollte, fand man fest zusammengeballtes
sklerotisches Bindegewebe. In den äußeren Schichten
dieses Gebildes fand das Mikroskop ein aus zahlreichen
Zellen bestehendes, von einer Schicht weniger zahlreicher
Zellen umgebenes Gewebe, in der inneren Schicht Binde-
gewebe, Fett, einige blutgefüllte Bläschen und einige
Blutgefäße, aber keine Spur von Graafschen Follikeln,
Pflüg er'schen Schläuchen. Erst nach Abpräparieren
des Bauchfelles von der hinteren Blasenwand fand man
einen Uterus von 5 und eine Vagina von 8 Centimeter
Länge. Der gesamte Uterovaginalkanal war für eine
Sonde viabel. Mit Mühe entdeckte man den rechten
Mülle r'sehen Gang, 22 Centimeter lang, mit seiner
Tube, welche jedoch nur im peripheren Auteile eine
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kurze Strecke weit viabel war. Rechtersetts fand ruan
im Leistenkanale den Processus vaginalis peritonaei offen
und in ihm ein Gebilde von Bohnengröße: einen Hoden
mit seiner Tunica albuginea und zahlreichen Tubuli
oontorti. Man fand keine Spermatozoiden. In Mesosal-
pinge lag der cystisch entartete Nebenhoden. Erst die
Nekropsie wies in diesem äußerst lehrreichen Falle die
erreur de sexe nach und den hohen Entwickelungs-
grad der Mtiller'schen Gänge.
43) Winckler [siehe im Vorhergehenden: Dritte
Gruppe, No. 12j. 14 Jahre nach einer erfolgreichen
Herniotomie wurde wegen Occlusio intestinorum der
Bauchschnitt gemacht und zwar mit letalem Ausgang
bei einem männlichen Scheinzwitter von 56 Jahren, der
einen hochgradig entwickelten Uterus besaß.
44) Zahorski [in Wilnoj (Gazeta Lekarska 1900.
No. 26. — Polnisch) beschrieb folgende eigene Be-
obachtung von Pseudohermaphroditismus femininus
externus. Er wurde von Dr. Waszkiewicz behufs
Konsultation zu einem 25jährigen Dienstmädchen geholt
wegen eines fluktuierenden Bauchtumors und beginnender
Peritonitis. Allgemeinaussehen, Stimme, Brüste, Be-
haarung ganz weiblich, aber Clitoris drei und einen
halben Zentimeter lang, einem hypospadischen Penis sehr
ähnlich. Wegen großer Schmerzhaftigkeit konnte eine
genaue Tastuntersuchung weder per vaginam noch per
rectum durchgeführt werden. Im Sa wicz -Hospital
wurde eine Parancetese durch die Bauchdecken vorge-
nommen und ungefähr ein Liter einer sanguinolenten
Flüssigkeit entleert; rechterseits eine große Inguinolabial-
hernie. Momentan folgte auf die Paracentese eine subjective
Erleichterung, aber der Tumor wuchs in der Folge so
rasch, daß er schon nach drei Wochen die gesamte
Bauchhöhle auszufüllen schien. Angesichts dessen, daß
offenbar ein maligner Tumor vorlag, verzichtete man auf
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— 351 —
eine Operation, entgegen dem Verlangen der Patientin,
die in der vierten Woche nach der Aufnahme starb. Bei
der Nekropsie fand man in der ßauchhöhle viel
sanguinolente Flüssigkeit, einen *bis an die Leber
reichenden Tumor, mit dem großen Netze, mit dem
Bauchfell und den Darmschlingen verwachsen, ein
riesiges, weiches Sarkom, ausgehend aus dem rechten
Ovarium. Der linke Eierstock klein, flachgedrückt, der
rudimenätre Uterus kaum 2 Centimeter lang. Niemals
Periode oder Molimina menstrualia. Da der Autor mit
keiner Silbe einer mikroskopischen Untersuchung des
linken, für ein flachgedrücktes Ovarium von ihm an-
gesehenen Geschlechtsdrüse erwähnt, so hat wahrschein-
lich eine solche mikroskopische Untersuchung nicht statt-
gefunden. Es ist also auch in diesem Falle ein gerechter
Zweifel an der ovariellen Natur dieser Geschlechtsdrüse
gestattet, die ebensogut ein Hoden sein konnte. Für mich
bleibt also auch hier das Geschlecht trotz der stattgehabten
Nekropsie zweifelhaft.
45) S. Pozzi vollzog an einen von ihmundMagnan
in Paris behandelten verheirateten Manne den Bauchschnitt
wegen eines Tumors, der sich hinterher als Ovarialtumor
erwies. Der Mann, ein weiblicher Scheiuzwitter, über-
stand die Operation gut und ist jetzt Witwer. [Laut
mündlicher Mitteilung durch Herrn Pozzi im Februar 1903 1.
Fünfte Gruppe.
23 Fälle von teils ausgeführten, teils von Ärzten vor-
geschlagenen oder von einem Scheinzwitter verlangten
chirurgischen Eingriffen an den Genitalien mit An-
schluss einiger Hypospadieoperationen bei männlichen
Scheinzwittern.
1) Aetius und Paulus Aegineta erwähnen, daß
in Ägyten bei den Stämmen der Ibbos und Mandingos
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— 352 —
häufig vor der Hochzeit die hypertrophische Clitoris
amputiert wurde.
2) Arnaud [„Dissertation sur les Hermaphrodites*
Paris 1766], dessen ^Sammelwerk dreißig Jahre lag, ehe
es im Druck erschien und eine Fundgrube für die ältere
Kasuistik des Scheinzwittertumes ist, erzählt folgende
interessante eigene Beobachtung [siehe Fig. 24.]
Im Jahre 1725 untersuchte er eine unverehelichte
Näherin aus M£nilmontant bei Paris, welche all-
monatlich schreckliche Leiden ausstand infolge von
heftigen Molimina menstrualia: Leibschmerzen, Schwindel-
anfälle, Erbrechen etc. plagten jedesmal die Kranke.
Allgemeinaussehen, Gesichtsbehaarung, Brüste, Stimme
männlich, in jeder Schamlefze tastete man Hoden, Neben-
hoden und Samenstrang. Hypospadiasis totius penis
neben Hypospadiasis partialis scroti. Die Schamlefzen
erschienen in ihrem untersten Teile mit einander ver-
wachsen, indem sie eine Art Frenulum labiorum bildeten.
Der Damm erschien infolgedessen ausnehmend hoch.
Keine Spur einer Raphe zu sehen. Man konnte die
Hautdecken zwischen der Analöffnung und der Öffnung
in der Schamspalte mit dem Finger ziemlich tief ein-
stülpen in eine nach außen hin durch die Hautdecken
verschloßenen Höhle, wenigstens ergab der tastende
Finger so eine Vorstellung für Arnaud. Während
jener katamenialen Beschwerden stülpte sich diese Partie
der Hautdecken am Damme etwas konvex nach außen
vor, aber „ohne gleichzeitige auflallende Verfärbung der
Hautdecken an dieser Stelle,* Die Anschwellung wurde
stets sehr schmerzhaft zu jener Zeit ; nach einigen Tagen
ließen die Schmerzen nach und es erfolgte eine mehr-
tägige Blutung ex ano, obgleich keine Haemorrhoiden
vorhanden waren. Arnaud hielt diese Näherin für
einen regelmäßig menstruierenden Mann. Die Bluten-
leerung werde aber aufgehalten, weil die Seheide keine
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Ausführungsöffnung nach außen zu besaß — er hielt
jenen geschlossenen, oben erwähnten Hohlraum für eine
nach außen zu verschlossene Scheide, in welche man von
außen her die} Hautdecken am Damme einstülpen konnte.
Dieses retinierte^Menstrualblut sollte sich alsdann durch
eine Fistel e vagina in den Mastdarm ausscheiden und
dann aus diesem abfließen. Arnaud hatte sich persönlich
Fig. 24. Vulva eines erwachsenen als Mädchen erzogenen Schein-
zwitters von fraglichem Geschlecht; Beobachtung von Arnaud.
mehrmals überzeugt von der Wahrheit aller der kata-
menial auftretenden Beschwerden und der darauf folgenden
Blutung ex ano, wie er sagt Er machte unter Assistenz
zweier Kollegen einen Einschnitt in die Hautdecken an
der schon erwähnten Stelle am Damme und drang mit
dem Finger in eine zwei Zoll tiefe Höhle ein, in deren
Jahrbuch V. 23
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— 354 —
Grunde er eine Portio vaginalis uteri zu tasten glaubte.
Die folgenden Menstrualblutungen entleerten sich be-
schwerdefrei durch die von Arnaud geschaffene Öffnung.
Leider aber wurde trotz Drainage die künstlich ge-
schaffene Fistel immer enger, schloß sich nach ü Monaten
ganz und die alten Beschwerden waren wieder da. Die
Patientin ging auf die Wiederholung der Operation nicht
ein, verlangte aber statt dessen durchaus, Arnaud solle
ihr das Geschlechtsglied abschneiden, den hypospadischen
Penis, resp. die hypertrophische Clitoris, welches Organ
ihr sub erectione sehr lästig falle. Da Arnaud das
Individuum für einen Mann hielt, so schlug er diese
Operation rundweg ab. Die Patientin wurde auch von
Malaval, Puzos, Gue>in, Morand, Garengeot
und anderen Ärzten untersucht, welche sämtlich Ar-
naud's Diagnose billigten, wie er schreibt. Als die un-
glückliche Näherin im Jahre 1740 starb, 15 Jahre nach
der von Arnaud vollzogenen Operation, bestimmte die
Pariser Akademie zwei Delegaten für die Ausführung
der Nekropsie: die Herren Verdi er und Foubert.
Verdier vollzog die Sektion des Leichnams und nahm
die herausgeschnittenen Geschlechtsorgane mit sich nach
Haus. So oft auch Arnaud und Foubert auf eine
Aufforderung Verdiers hin zu ihm gingen, um gemein-
sam das Präparat zu untersuchen, so wußte es Verdi er
so einzurichten, daß sie ihn niemals zu Hause antrafen,
bis schließlich das Präparat so verfault war, daß es nicht
mehr zu untersuchen war. Arnaud sah in diesem Vor-
gehen Verdi er^s eine Intrigue, um vorzubeugen, daß
ein Bericht an die Akademie abgesandt wurde. Nach
Arnaud sollte es sich hier um einen menstruierenden
männlichen Scheinzwitter mit mangelnder Vaginalöffnung
handeln, also mit Haematokolpometra per rectum pro-
fluens. Wenn man auch diesen älteren Mitteilungen mit
Recht skeptisch gegenübertritt, so ist andererseits ihnen
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— 355 —
doch nicht von vornherein jeder Wert abzusprechen.
Wollen wir heute diesen Fall beurteilen, so werden wir
eher annehmen, die Näherin war vielleicht ein weiblicher
Scheinzwitter mit Hypertrophie und Erektionen der
Clitoris und teilweiser Verwachsung der Vulva mit
Atresie der Scheidenöilnung. Arnaud glaubte wohl,
daß die in den Lefzen vorhandenen Gebilde Hoden,
Nebenhoden und Samenstränge waren, das schließt jedoch
keineswegs aus, daß es sich um ektopische Ovarien und
Tuben z. B. gehandelt hat. Die Geschichte mit dem
Verhalten Verdier's hat sich auch wohl später schon
in Arztekreisen wiederholt, so etwas kommt leider vor,
da nicht immer das gegenseitige Handeln der Arzte von
wissenschaftlichem Interesse und Kollegialität geleitet
wird.
3) Mc Arthur (Gynaecological Society of Chicago.
7. I. 1902 — Referat: Monatsschrift für Geb. u. Gyn.
1902. pg. 993]: „ Hermaphroditismus und Atresia ani."
Es wurde ein neugeborenes Kind wegen Atresia ani 12
Stunden post partum operiert, aber es starb trotzdem.
Bei der Sektion konstatierte man weibliches Schein-
zwittertum mit Persistenz der Kloake.
4) Aveling erwähnt ein Individuum zweifelhaften
Geschlechtes, welches im Londoner Saint Georges Ho-
spital untersucht wurde. Es war eine Frau mit ganz
besonderer Hypertrophie der Clitoris, welche Aveling
amputierte, weil sie infolge der Reibung an den Kleidern
der Frau lästig fiel. Aveling hatte bei dieser Person
die Menstruation konstatiert.
5) Benoit [Journal de la Socidte* de M£decine pra-
tique de Montpellier. Novembre 1840] beschrieb folgende
interessante Beobachtung: „Consultation sur un cas
d'hermaphrodisme" : Ein 27jähriges verlobtes Mädchen
wandte sich behufs Untersuchung an einen Arzt, welcher
eine Atresia hymenis konstatierte. Er machte einen Ein-
23*
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schnitt, um die Scheide zu eröffnen, traf jedoch auf kein
Lumen und die Operation blieb resultatlos. Trotzdem
blieb das Fräulein in dem Glauben, dem weiblichen Ge-
schlechte anzugehören. Es schob den Termin der Hochzeit
unter stetig neuem Vorwande immer wieder hinaus, bis
der Bräutigam endlich die Geduld verlor — da gestand
es ihm die Ursache des Zögerns ein, es wisse, daß es
mißgestaltet sei inbezug auf die Geschlechtsorgane. Der
Bräutigam bestand dennoch auf der ehelichen Verbindung
sobald wie möglich. Marie erbat sich noch einige
wenige Tage Bedenkzeit und ging jetzt zu Benoit.
Sie hatte jetzt begonnen an ihrem weiblichen Geschlechte
zu zweifeln. Sie fragte Dr. Benoit direkt, zu welchem
Geschlechte sie gehöre, ob sie einen Mann heiraten könne
und ob bezüglich der Eheschließung eine Operation nötig sei
oder nicht? — Nach genauer Untersuchung konstatierte
Benoit männliches Scheinzwittertum, erklärte dem jungen
Mädchen direkt, es sei ein Mann, keine Operation könne
etwas daran ändern und die Hochzeit dürfte demnach
nicht stattfinden.
6) Berendes [siehe Koesters: „Ein neuer Fall
von Hermaphroditismus spurius masculinus" I. D. Berlin
1898, siehe auch Jahrgang für 1902 dieses Jahrbuches
in meiner Arbeit: Gruppe IV. Fall IV. von Landau]
amputierte einem Mädchen von vier Jahren auf Wunsch
der Eltern die hypertrophische Clitoris. Das Mädchen
erwies sich in der Folge als männlicher Scheinzwitter
[siehe auch die farbige Abbildung in meiner vorerwähnten
Arbeit].
7) W. Bittner [ „ Hermaphroditismus spurius mas-
culinus completus", Prager Medizinische Wochenschrift
1895 N: 43 pg. 491 mit zwei Abbildungen]: Interessante
Beobachtung von erreur de sexe aus der Klinik von
Bayer in Prag. Emilie P., 13 jährig, macht den Ein-
druck eines Weibes, aber ihr Charakter und ihre Gewohn-
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heiten kontrastieren damit ganz auffällig. Die Körper-
kontouren weisen nirgends die weibliche Rundung auf,
die Schulterbreite übertrifft die Beckenbreite, das Haupt-
haar ist in zwei lange Zöpfe zusammengeflochten. Man
«uchte an den oberen Extremitäten vergeblich den Puls-
schlag der arteria bracchialis, cubitalis, radialis, ulnaris,
was auf einen abnormen Verlauf dieser Gefäße hinwies.
Die Genitalien sahen aus wie die eines Weibes mit be-
Fig. 25. Äußeres Genitale des von Bittner beschriebenen
Scheinzwitters.
deutender Clitorishvpertrophie: die Clitoris ist 5 und
einen halben Centimeter lang, hat eine deutlich sichtbare
Glans mit langer Vorhaut. An der Spitze der Glans
sieht man die Mündung eines Kanales, welcher eine
dünne Sonde 5 Centimeter tief einläßt (!). Aus diesem
Kanal kann man etwas Schleim ausdrückeu, der ganz
ähnlich dem Prostataschleim aussieht. Bei Betastung
entdeckte man in dieser Clitoris einen zentral verlaufenden
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— 358 —
Strang, der erst unterhalb der Schamfuge verschwand.
Dieser Penis ist an seiner unteren Fläche gespalten und
weist hier eine 3 bis 4 Millimeter breite Rinne auf, die
nach unten zu immer schmäler werdend, im Abstände
von drei Centimetern von der Spitze des Penis endet.
Harnröhrenöffnung weiblich, der Katheter weist eine be-
deutende Dilatation der Harnblase auf, indem er beinahe
bis in Nabelhöhe eindringt. Dr. Busch in Teplitz
Fig. 26.
Fig. 'J6 u. 27 : Genitale eines männlichen Scheinzwitters von 13
Jahren, irrtümlich als Mädchen erzogen. Beobachtung von Bittner.
wegen Dysurie gerufen, hatte die Harnröhre mittels
Bougies erweitert. Diese Erweiterung der Blase nach
obc :i zu würde für eine Persistenz des Urachus sprechen.
Die untere Harnröhrenwand stülpt sich etwas nach unten
vor, so als ob eine portio vaginalis uteri existierte. Unter-
halb der llarnröhrenötfnung liegt die Mündung der Vagina.
Beide Öffnungen liegen in dein 8 Millimeter langen Sinus"
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urogenitalis, der ganz glattwandig ist und ohne Spur von
kleinen Schamlippen. Anus normal, Damm breit. In
jeder Schamlefze tastete man ein Gebilde, von dem eine
Art Strang bis in die Bauchhöhle verläuft. Diese Ge-
bilde machen den Eindruck rudimentärer Hoden. Per
rectum tastend, gewahrt man ein bohnengroßes Gebilde in
der Mittellinie querliegend und leicht verschieblich, dicht
hinter der Blase liegend und bei Anfüllung der Blase
dem Finger entweichend Tuben oder Ovarien nicht getastet.
Man betrachtete die in den Schamlefzen liegenden
Gebilde als Hoden. (Siehe Fig. 25, 26, 27). Das per
rectum getastete Gebilde war anscheinlich ein rudimen-
tärer Uterus. Die Mutter verlangte durchaus die Ampu-
tation der hypertrophischen Clitoris, man willfahrte diesem
Verlangen jedoch nicht, weil man das Kind für einen
männlichen Scheinzwitter hielt.
8) M. R. Blond el [, Observation de Pseudoherma-
phroditisme* — Soctete* Obst^tricale et Gyn£cologique
de Paris, Seance du 12. Janvier 1899 — Bulletins et
Me*moires de la Socidte" Obste*tricale et Gyn^cologique
de Paris. Paris 1899] beschrieb eine äußerst interessante
Beobachtung folgender Art: Frau X. aus Angers, 45
Jahre alt, seit 18 Monaten verheiratet, kam am 14. X.
1998 in seine Klinik mit Klagen über Unterleibschmerzen
Schwindelanfälle, Mattigkeit und Abgeschlagenheit und
in letzter Zeit häufiges Nasenbluten; außerdem bemerkte
sie seit zwei Jahren krampfhafte Zuckungen der Augen-
lieder, welche von Herrn Landolt behandelt worden
waren. Frau X. glaubt^ alle diese Beschwerden stehen
mit ihrem Alter, einer beginnenden Climax, im Zu-
sammenhange. So hatte sich auch der Okulist ausge-
drückt, so äußerten sich auch ihre Bekannten. Sie hat
aber von all' diesen Beschwerden ihrem Hausarzte nichts
gesagt, sondern zog es vor, einen Spezialisten in Paris
zu konsultieren, da in ihrer Organisation etwas Absonder-
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— 360 —
liches vorliege, was weder sie noch ihr Mann sich zu
deuten im Stande seien. Sie verlangte jetzt eine genaue
Untersuchung. Sie hatte niemals die Periode und konnte
mit ihrem Gatten niemals den Beischlaf normal ausführen,
weil sie dabei jedesmal vehemente Schmerzen empfinde;
sie glaubt bemerkt zu haben, es müsse ein mechanisches
Hindernis für die Vollziehung des Beischlafes vorliegen.
Eltern normal gebaut und gesund, drei Schwestern haben
normal die Periode, zwei haben Kinder. Frau X. hatte
im Alter von 12 — 13 Jahren alle die Symptome an sich
beobachtet, welche dem Eintritt der Regel vorauszugehen
pflegen. Schmerzen in der Lendengegend, Schweregefühl
im Unterleibe, Schwindelanfälle. Der Hausarzt verord-
nete verschiedene Emmenagoga: Apiol, Senf, ließ Blutegel
setzen, natürlich ohne jeden Erfolg. Ihre Leiden ver-
loren sich später nach etwa zweijähriger Dauer! Als
sie 19 Jahre alt war, bewarb sich ein junger Mann um
ihre Hand. Obgleich der junge Mann ihr wohlgefiel,
so zerschlug sich doch das Heiratsprojekt nach einem
Jahre infolgedessen, daß sowohl die Eltern als auch das
junge Mädchen voraussahen, die Ehe werde nicht glück-
lich ausfallen angesichts zu erwartender Kinderlosigkeit,
denn wie sollte sie eine Mutterschaft erwarten können,
da sie noch nie die Periode gehabt hatte? Aus dem
gleichen Grunde wurden auch mehrere andere Freier
abgewiesen. Jetzt, wo Fräulein X. bereits 44 Jahre alt
war, meldete sich abermals ein Freier, ein GOjähriger
Wittwer, welcher von vornherein erklärte, er habe
Kinder aus erster Ehe und verzichte auf weiteren
Kindersegen freiwillig. Die Heirat kam zu Stande, aber
der Beischlaf erwies sich als ganz unmöglich. Vor 6
Monaten stürzte Frau X. aus einer Höhe von vier
Metern herab und wurde mit einem Armbruch und der
Verstauchung einer Hand aufgehoben: sie empfand
gleichzeitig starke Schmerzen im Leibe, in den Leisten-
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gegenden und Schweregefühl in den Schamlefzen. Der
Arzt legte auf den Arm einen Gipsverband, bezüglich
der Leistenschmerzen erkannte er einen doppelseitigen
Leistenbruch als Ursache und verordnete ein Bruchband.
Frau X. erklärt jetzt, sie könne dieses Bruchband auch
nicht einen Augenblick missen, da sie sonst sofort von
heftigen Schmerzen befallen werde in den Leistenringen.
Sie hat auch bemerkt, daß seit jenem Falle in jeder
Schamlefze ein Tumor existiere, den sie früher niemals
bemerkt hatte. Blondel vollzog nun die Untersuchung
und fand zunächst absolut nicht«, was eine erreur de
sexe hätte voraussetzen lassen. Körperhöhe 170 Centi-
meter. Das Gesicht ist vielleicht nicht ausgesprochen
weiblich zu nennen, entbehrt aber jeder Spur männlicher
Behaarung. Haupthaar lang, fein, wellig geringelt.
Stimme etwas scharf, aber nicht gerade unweiblich,
eher eine Art Mezzo-Sopran als Contraalt. Hände und
Füße groß, Taille breit, Hüften stark, Muskelsystem
üppig entwickelt. Bei Betrachtung der Vulva wird man
zunächst frappiert von der Größe der Clitoris sowie auch
der Schamlefzen. Die Hautdecke der Schamlefzen sieht
gerunzelt aus wie das Scrotum; hier und da auf den
Schamlefzen Haare. Clitoris kleinfingerdick, im fiacciden
Zustande 4, sub erectione 6 bis 7 Centimeter lang.
Das Praeputium reich, umfaltet die Corona glandis und
geht nach unten zu in die kleinen Schamlippen über.
Zieht man die kleinen Schamlefzen auseinander, so ge-
wahrt man eine schmale, enge, infantile Schamspalte.
Es fallen hier mehrere Eigentümlichkeiten auf, welche
Blondel wörtlich so beschreibt:
„A la partie infdrieure de Porifice vulvaire existent
une fourchette et un vestibule indentiques a ce qu'on
trouve ii Pdtat normal. Au milieu on trouve un orifice
dtroit, borde* d'un bourrelet hange*, tout-a-fait serablable
a certains hymens. Au-dessus de celui-ci se montre la
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vofite formte par la face infe>ieure du clitoris. : le raphe"
parti du sillon median de celui-ci et qui correspond bien
a la bride decrite dans un cas semblable par Buisson
la divise suivant son milieu en deux parties dgales et
vient se perdre un peu au-dessus de la partie supeYicure
de Thymen; ä ce niveau existent deux orifices ä la direc-
tum longitudinale; situe* de part et d'autre du raphe* ils sont
rt'lativement volumineux et admettent chacun sur un
trajet d' un demi a un centimetre l'extrdmite* d'un fin
stylet : un liquide Alant, tres transparent, tout ä fait sem-
blable a la sfore'tion prostatique de l'homme, s'e'cbappe
devant nous de ce deux orifices.* Man sah zunächst
nirgends eine Harnröhrenöfthung: dieselbe lag scheinbar
in einer pseudovaginalen Höhle, etwas nach hinten und
nach innen zu von der Hymenalöffnung. Einen Katheter
kann man längs des Fingers in die Blase einführen:
Urethra etwa vier Zentimeter lang. Die Einführung des
Fingers in die Hymenalöffnung bereitet der Frau viele
Schmerzen, die Ränder des Hymen sieht man auf dem
Fingergliede gelagert. Die Hymenalränder sind dünn
und sehr gespannt. In der Tiefe von drei Zentimetern
erscheint die Vagina blindsackartig geschlossen. Per
rectum tastet man sowie auch per vaginam an der Hinter-
fläche der Harnblase zwei längliche Gebilde von vagen
Kontouren, welche vielleicht einer Prostata oder den
Samenblasen entsprechen. Beim Harnen mag ein Teil
des Harnes in die Vagina fließen infolge der versteckten
Lage der Urethralöffnung. In jeder der auffallend großen
Schamlefzen tastet man je einen Hoden: der linke ist
atrophisch, weich, abgeplattet, mit kleinem Nebenhoden
und Samenstrange, die rechtsseitigen Geschlechtsdrüsen-
gebilde sind normal. Man kann Kopf und Schwanz des
Nebenhodens und den Samenstrang unterscheiden. Die
Hodeu gleiten unter Fingerdruck in ihrer Tunica vaginalis
hin und her, die eine offenbar mit Lumen versehene
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Tasche bildet. Die Hoden lassen sich erheben bis zur
Leistenkanalmündung; der Versuch einen Hoden in den
Leistenkanal einzuschieben ist zu schmerzhaft, obwohl
die Hoden, wie oben gesagt erst vor 6 Monaten infolge
eines Trauma in das Scrotum fissum herabgestiegen waren.
Bei dieser Frau wurde also eine erreur de sexe kon-
statiert, Hypospadiasis peniscrotalis mit Persistenz eines
Utriculus masculinus [resp. Vagina], welcher von Vesti-
bulum pseudovulvare durch eine Art Hymen geschieden
ist. Der Sinus urogenitalis, der Pseudovaginalkanal, das
hinter dem Hymen belegene Stück eingerechnet, ist
immerhin 5 — 0 Centimeter lang, läßt den Finger ein, aber
nicht das Membrum conjugis. Der Gatte war bisher
nicht im Stande den Widerstand jenes Hymen zu brechen.
Der Mann hat gleichwohl mehrmals eine Immissio in jene
Vulvargrube versucht mit Ejakulation in dieselbe hinein,
aber jeder Angriff auf den Hymen ist von einem
Schmerzenschrei der Frau gefolgt. Die Frau sagt, daß
sie gleichwohl bei diesen Versuchen ihres Gatten Wollust
empfinde, deren Kulminationspunkt der Moment sei, wo
bei dem Gatten die Ejakulation erfolgte. In diesem
Moment empfindet sie eine Art krampfartiger Erschütterung
des ganzen Körpers rhytmischer Natur, und sie fühlt, daß
bei ihr selbst eine Flüßigkeit sich in die Vulva ergießt.
Nach diesen Spasmen erfolgt eine tiefe Prostration und
hochgradige nervöse Depression. Die Frau unterscheidet
sehr wohl diese Gefühle, welche sie erst seit der Hochzeit
kennen gelernt hat, von anderen mehr oder weniger aus-
gesprochenen aber vagen Wollustempfindungen mit
Erektion der Clitoris und von Ejakulation gefolgt —
aber nicht ruckweise sondern kontinuirlich diese Ejaku-
lation — , welche sie schon früher vom 20. Jahre an manch-
mal empfunden, wenn sie einen Roman las oder träumte.
Ob die Hoden während jener Spasmen nach oben
wandern, vermag sie nicht anzugeben, sie sind aber äußerst
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druckempfindlich und, wenn zufällig einmal ein Hoden
einer Quetschung unterliegt, so empfindet die Frau starken
Schmerz, den sie selbst als nauseös bezeichnet.
Blonde 1 war Zeuge einer Erektion und Ejakulation
einer durchsichtigen, fadenziehenden, stark riechenden
FlUßigkeit, welche vollständig dem Prostatasecret ent-
sprach: er sammelte sogar etwas davon auf ein Schälchen
zur Untersuchung. Die beiden Öffnungen, aus welchen
diese FlUßigkeit ausgeschieden wurde, lagen unter-
halb der Clitoris aber oberhalb der Harnröhrenöffnung.
Es war leicht, diese beiden Offnungen mit bloßem Auge
zu sehen ; man sah die FlUßigkeit aus ihnen hervorquellen.
Die Flüßigkeit enthielt nur einige platte Zellen, aber
keine Spermatozoiden. Keine Brustdrüsen vorhanden,
nicht einmal merkliches Fettgewebe. Die Sternalregion
war leicht behaart. Die scheinbar vaginale Mündung
der Urethra in seinem Falle bezeichnet Blondel als
einzig dasteheud. Blondel wagt nicht zu sagen, ob
jene beiden Offnungen oberhalb der Urethra den Offnungen
von Cowper'schen Drüsen entsprachen oder Prostata-
ausführungsgängen ; jedenfalls funktionierten die drüsigen
Gebilde, deren Secret sie ausschieden, energisch. Ob das
per rectum getastete Gebilde eine Prostata war oder
Samenblasen oder ein Uterus bicornis, kann Blondel
nicht entscheiden. Keine männliche Gesichtsbehaarung.
Neigungen und Geschmack dieser Person waren ganz
weiblich und hat sie niemals männlichen, auf Frauen
gerichteten Geschlechtsdrang empfunden. Was die kon-
gestiven Erscheinungen der Pubertätsperiode anbetrifft
sowie raensuelle Nasenblutungen im Alter der Menopause,
so hat man solche Erscheinungen auch bei anderen
männlichen Scheinzwittern ausgesprochen gefunden, die
noch weit mehr männlich veranlagt waren als diese Frau.
Was die sociale Stellung dieser Frau anbetrifft, so ist
es klar, daß die Ehe eine nichtige sein muß. Durfte
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man, fragt sich Blondel, in diesem Falle sowie die
Frau es verlangte, einen operativen Eingriff unternehmen,
um den Beischlaf in der Rolle einer Frau zu erleichtern?
— Er beriet sich mit Maigrier und die Herren kamen
dahin überein, daß das Verlangen der Frau ein berech-
tigtes sei, er beschloß also den Hymen mit dem Messer
zu spalten und dann die Pseudovagina zu verlängern
durch einen Schnitt im Scheidengewölbe mit dedoublement
des Septum rectovaginale und eventueller plastischer
Bedeckung der geschaffenen AVunde. Die Frau gab an,
sie werde sich am 20. November behufs Ausführung der
Operation melden, kam aber nicht wieder.
Beiläufig erwähne ich, daß Herr Kociatkiewicz
in dem von mir früher beschriebenen Falle nach Exstir-
pation der Hoden eines als Mädchen erzogenen männ-
lichen Schei dz witters, behaftet mit Hypospadiasis peni-
scrotalis, um den Beischlaf in der Rolle einer Frau zu
ermöglichen, eine Erweiterung des Aditus ad vaginam
versuchte ohne jedoch eine wesentliche Veränderung zu
erzielen.
Bezüglich des Blondel 'sehen Falles ist hervorzuheben,
daß diese Frau, ein verkannter Mann, absolut weiblichen
Geschlechtsdrang empfand.
8) Realdo Colombo [siehe Debierre] „L'Ethio-
pienne de Realdo Colombo de Cremone*: Clitoris zu groß,
Scheidenöffnung zu klein; Beischlaf weder mit Männern
noch mit Frauen möglich. B Elle ne pouvait agir ni patir
commodement." Diese Person verlangte die Amputation
des männlichen Gliedes: Colombo schlug aber die Aus-
führung dieser Operation ab, indem er die Verantwortung
für diese Operation vor den Behörden scheute.
Steglehncr ]1. c. pg. 89] schreibt bezüglich dieses
Falles: „Realdus Columbius observavit mulierem,
eni erat genitale raembrum ambiguum crassum digiti
minimi longitudinem aequans sed perforatum, sub eodem
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— 366 —
ostium canalis sie angustum ut non nisi digiti minimi
apicem admitteret. Yiros haec ita coneupivit ut penis
clitoridei resectionem et ostii vaginalis dilatationem a
chirurgo expeteret. Qua strueturae vicissitudine maoifesto
patet, clitoride increscente muliebris genitalis canaleiu
eadem proportione contrahi et coaretari." — Nach dieser
Beschreibung scheint es sich hier um einen männlichen
Scheinzwitter zu handeln mit Hypospadie des Scrotum
und mehr oder weniger hochgradiger Entwickelung der
Müller'schen Gänge — jedenfalls scheint eine Scheide
existiert zu haben. Der Fall ähnelt am meisten dem-
jenigen von Mau de aus der neueren Kasuistik.
9) W. A. H. Coop |„A curious anomaly of the
female genitalia with striking resemblance to sonie of
the external male elements changed by plastic surgery
into a woman of normal appearance." American Gyn.
and Obstetric. Journal-New York. May 1895. pg. 594 1:
24jährige Frau, verheiratet bei vollständig männlichem
Aussehen der äußeren Genitalien infolge von Verwachsung
der Schamlefzen untereinander. Plastische Operation mit
gutem Ausgange. Coop ermöglichte durch eine Discision
der Verwachsung die Ausführung des Beischlafes sowie
auch Hu guier in einem später zu erwähnenden Falle
— so wie auch eine solche einfache Operation den Bei-
schlaf in der Rolle einer Frau Marie Magdaleue
Lefort ermöglicht hätte, wenn die Person sich der An-
sicht von Bdclard angeschlossen hätte, der ihr Geschlecht
als weiblich richtig erkannt hatte entgegen der Meinung
der sämtlichen anderen Ärzte, welche sie untersucht
hatten.
10) Coste [Marseille] [Journal des connaissances
mtfdico-chirurgicales par les Docteurs A. Trousseau,
J. Lebaudy, H. Gouraud: 3-eme annee, 1835, pg. 276
„Conformation vicieuse des organes g£uitaux chez une
femme. Operation."] ermöglichte den Beischlaf in der
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Rolle einer Frau einer Person von zweifelhaftem Ge-
schlechte. Im September 1834 kam zu ihm Frau X. mit
ihrer 21jährigen Tochter, weche eine genitale Mißstaltung
hatte. An Stelle der zu erwartenden Clitoris fand Coste
ein männliches, unten gespaltenes Glied, so groß wie bei
einem etwa 12jährigen Knaben. Die Glans dieses Gliedes
war infolge von Retraction des Praeputium vollständig
entblößt. Aus der weiblichen Harnröhrenöffnung entleert
sich nicht nur der Harn, sondern vom 13. Jahre au auch
regelmäßig alle vier Wochen das menstruelle Blut;
Unterhalb der Harnröhrenöffnung keinerlei Vertiefung
zu sehen, man sah dort zwischen den kleinen Schamlippen
nur eine behaarte Haut mit Anzeichen einer Raphe. Die
großen Schamlippen waren rudimentär entwickelt, reprä-
sentierten einfach zwei Hautfalten. Allgemeinaussehen
dieses Mädchens, sowie die Brüste und allgemeine Be-
haarung ganz weiblich, ebenso die Schambehaarung, aber
das Becken und die Extremitäten waren männlich ver-
anlagt. Charakter und Neigungen vollkommen weiblich,
das Mädchen liebte zärtlich seinen Bräutigam, kannte
keine Masturbation und hatte niemals eine Erektion
seines Geschlechtsgliedes bemerkt. Die Mutter kam zu
Coste mit der Frage, ob ihre Tochter heiraten könne
oder nicht? Coste antwortete, daß ein Beischlaf nicht
möglich sein werde, es sei denn nach Ausführung einer
Operation. Da allmonatliche Blutungen vorlagen, so war
Coste überzeugt von der Existenz eines Uterus: die
Ausscheidung des Blutes durch die Harnröhre wies
darauf hin, daß eine Kommunikation zwischen Uterus
und Harnröhre existiere. Es ging nun um zwei Sachen :
erstens um Schaffung einer Vagina zwischen Urethra und
Rectum, zweitens um Amputation der hypertrophischen
Clitoris. Das Fräulein ging im Prinzip auf die Operation
ein, die auch von Coste am 20. IX. 1834 vollzogen
wurde. Aus Rücksicht auf die Schamhaftigkeit der
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3G8
Patientin, sowie darauf, daß es darauf ankam, das größte
Geheimnis zu wahren, begnügte er sich mit einem einzigen
Assistenten, Dr. Dune"s. Er begann die Operation mit
einem Längsschnitte in der Raphe dartos zwischen
Urethral- und Analmündung, wobei die Kranke so ge-
lagert war wie bei einem Steinschnitt. Da Coste selbst
in der Tiefe von einem Zoll keine Scheide antraf und er
befürchtete, die naheliegende Urethra oder das Rectum
zu verletzen, so führte er jetzt einen Katheter in die
Blase ein, indem er aber dem Katheter eine Richtung
gab nicht nach der Harnblase sondern nach der Gebär-
mutter zu. Die Sonde drang spontan in einen Kanal ein,
welcher die Vagina zu sein schien. Jetzt entschloß sich
Coste unter dem Risiko, eine Urethrovaginalfistel zu
schaffen, dazu, das Septum zwischen dem in Urethra
liegenden Katheter und der vermuteten Vagina von der
Urethralmündung aus mit einem Messerschnitte zu spalten
bis zu dem vermuteten Scheideneingange. Der in die
Tiefe der Wunde eingeführte Finger gelangte in eine
Höhle, die mit Schleimhaut ausgekleidet war; er tastete
aber auch in dieser Höhle eine Portio vaginalis uteri.
Coste tamponierte nun diesen ganzen Kanal mit Charpie,
die er mit Wachs durchtränkt hatte. Dann zog er die
Vorhaut der hypertrophischen Clitoris soweit er konnte
nach hinten zurück und amputierte die Glans clitoridis
mit einem Messerzuge so nah als es möglich war an der
Symphysis ossium pubis. Er legte einen Heftpflaster-
verband an und brachte die Operierte zu Bett. Das
postoperative Fieber wurde durch strikte Diät bekämpft.
Am dritten Tage nach der Operation erfolgte eine starke
Blutung aus den durchschnittenen Corpora cavernosa
clitoridis, welche Coste nicht fürchtete, weil diese Blutung
eine vorteilhafte Depletion setzte!!!! Druckverband.
Am 7. Tage nach Amputation der Clitoris war deren
Wunde vernarbt. Nach zwei Monaten war die chirur-
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gische Pflege der neugeschaffenen resp. eröffneten Vagina
mittels Tamponade und Lapisgebrauch vollendet. Die
Ränder der Harnröhren wunde sollen spontan mit einander
verwachsen sein, sodaß schließlich der Harnweg ganz
separiert erschien von dem Genitalwege der Vagina. Die
Periode erschien zur erwarteten Zeit und wurde per
vaginam entleert. 8 Monate nach der Hochzeit hieß es:
Matrimonium est consummatum. Die junge Frau sagte
ihrem Operateur, der Beischlaf finde statt ohne Schwierig-
keiten und sie sei zufrieden und habe auch Annehmlich-
keit dabei, aber schwanger sei sie noch nicht seit dem
letzten Besuche des Arztes. Es scheint, daß es sich in
diesem Falle um einen weiblichen Scheinzwitter handelt
mit inguinolabialer Ektopie eines Ovarium, welches Coste
fälschlich für einen Hoden angesehen hatte, um eine
Verwachsung der Schamlefzen unter einander und Mün-
dung der Vagina in die Urethra oder in den Sinus
urogenitalis. Interessant ist für den modernen Chirurgen
die Art und Weise, wie damals solche Wunden behandelt
wurden, wie z. B. die nach Amputation der Clitoris und
ihrer Schwellkörper entstandenen.
12) Duval [siehe: Debierre 1. c. pg. 46): De-
moiselle d'Anjou — „Nach Angaben von Duval ver-
langte der Gatte die Scheidung" : „La cause du di-
vorce pretendu tftait que cette demoiselle avait un membre
viril, long de deux travers de doigts en la partie sup<5-
rieure de l'ovale mulii-bre, lieu auquel devoit etre le*
clitoris, qui se dressait alors que son mari voulait avoir
sa compagnie, et le blessait, de sorte qu'il n'avait encore
eu dtfccnte habitation et copulation avec eile." Das
Gericht entschied, daß die Ehe aufrecht erhalten werden
wird, insofern die Gattin sich einverstanden erklärt zur
Abschneidung „de la dicte partie superflue et inutile a
une femme." Da jedoch die junge Frau auf eine Ope-
ration nicht eingehen und nicht das verlieren wollte, was
Jahrbuch v. ' 24
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— 370 —
die Natur selbst ihr verliehen, „le mariage füt de con-
sentement des deux parties declare* solu et cassd* —
Diesen Fall habe ich früher schon erwähnt in meiner
Kasuistik der Mißeheu Bpar erreur de sexe", deren ich
bis jetzt 63 gesammelt habe.
13) Hartmann [Bulletins et M^moires de la Societe*
de Chirurgie de Paris. Tome XXVIII. 1902. Nr. 31. pg
931 und No. 34]. Im Jahre 1892 schnitt Hart man n bei
einem 7 jührigen Mädchen, welches hartnäckig masturbierte,
auf Wunsch der Mutter hin die hypertrophische Clitoris
ab. Nach 10 Jahren sah Hartmann das Mädchen
wieder. Angesichts einer Diskussion über das von
Walt her in der Pariser Societe* de Chirurgie vorgestellte
Individuum erinnerte er sich an dieses Kind und be-
richtete einige Details: das 7jährige Kind verriet vor-
zeitige geschlechtliche Entwickelung: der fette Möns
Veneris und die Schamlefzen waren schon behaart.
Während normal bei einem 7 jährigen Mädchen die Clitoris
nicht länger am Dorsum ist als 47 (?) Millimeter lang, so
hatte in seinem Falle die Clitoris die Größe des kleinen
Fingers, sub erectione erschien sie noch größer. Das
Organ sah aus wie ein hypospadischer Penis, die Crura
clitoridis gingen über in die kleinen Schamlippen. An
der unteren Fläche der scheinbar gespaltenen männ-
lichen Penisharnröhre sah man eine weißliche glänzende
Membran und darin hintereinander liegend mehrere
'Öffnungen: Lacunae Morgagnii. Hymen falciformis
läßt den Finger in Vaginam eindringen bis an den
Mutterhals. Die Schamlefzen vereinigen sich nicht mit
einander oberhalb der Clitoris, sondern haben dort einen
Abstand von einander von anderthalb Zentimetern. Per
rectum tastete man das Corpus uteri, aber der Uterus
lag nicht antevertiert, wie es sein sollte, sondern in
retroversione. Jederseits tastete man im Becken in der
Region der Articulatio sacroiliaca einen bohnengroßen
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— 371 —
druckempfindlichen Körper — . Die Oberlippe wies eine
männliche Behaarung auf. Die Clitoris glich an Größe
dem Membrum eines 7jährigen Knaben, wurde bei
Digitalberührung steifer und näherte sich dabei der
Schamfuge. Da Hartmann überzeugt war von dem
weiblichen Geschlechte des Kindes und um der Onanie
ein Ende zu machen, entschloß er sich zu der Amputation
des inkriminierten Gliedes. Jetzt nach 10 Jahren bot
das Mädchen ein absolut männliches Aussehen. Das
Gesicht war üppig behaart, Brustkorb und Becken
männlich. Das Individuum erwirbt sich den Unterhalt
als Näherin und soll bis jetzt keinerlei Geschlechtstrieb
empfunden haben. Schambehaarung weiblich. Der Stumpf
der einstens amputierten Clitoris strotzt fingerdick unter-
halb der Schamfuge, ist von rosaroter Färbung. Die
10 Centimeter lange Scheide läßt ein Speculum bis an
den Mutterhals vordringen, eine dünne Sonde dringt in
den Uterus vier und einen halben Centimeter tief ein.
Regel bis jetzt noch nicht aufgetreten, aber alle Monate
2 — 3 Tage lang Leibschmerzen, mehr linkerseits als
rechterseits ausgesprochen und bis auf die Fossae iliacae
ausstrahlend. Hartmann hält das Individuum für ein
Mädchen, ich möchte dieses Urteil doch nicht ohne
Weiteres unterschreiben und halte das Geschlecht bisher
für zweifelhaft und die ausgeführte Operation für un-
berechtigt, solange nicht das weibliche Geschlecht sicher-
gestellt war — erinnere dabei an einen bekannten Fall,
wo ein berühmter französischer Chirurg von einem seiner
männlichen Patienten ermordet wurde aus Rache dafür,
daß er ihm während einer Varicocelenoperation einen
Hoden abgeschnitten hatte !
14) Hector le Nu wurde zu der 0jährigen Tochter
des Wilhelm Fre*rot gerufen, um deren hypertrophische
Clitoris zu amputieren, schlug aber die Operation ab,
weil er in jeder Schamlefze je einen Hoden und Neben-
24*
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— 372 —
hoden getastet, somit eine erreur de sexe konstatiert
hatte. Hypospadiasis peniscrotalis.
15) Huguier: Es handelte sich um die 1839 in
Saint-Quentin geborene Louise D. [siehe Ldon Je Fort:
„Les vices de conforniation de Put<?rus et du vagin*
Paris 18(52. pg. 200—207.] (s. Fig. 28 u. 29.) Es waren
die kleinen Schamlippen mit einander verwachsen, indem
sie so die untere Wand eines Kanales bildeten, welcher
Fig. 28 u. 2'J. Vulva eines 20jährigen weiblichen Scheinzwitters
Louise D. mit Verwachsung der Schamlefzen. Abbildung vor
und nach Discision durch Huguier.
A == Clitoris, B — Sonde in die Vulvaüffnung eingeführt, C = Linkes
Ovarium in hernia labiali, D=Urethralmiindung, I — Vaginalostium.
unterhalb der Clitoris nach außen mündete. Louise D.
hatte sich sonst regelrecht entwickelt und hatte vom
18. Jahre an ihre Perioden, die allerdings jedesmal sehr
schmerzhaft waren. Das Menstrualblut entleerte sich
stets mit Harn gemischt durch jene unterhalb der
Clitoris belegene Öffnung. Im 20. Jahre sollte Louise
heiraten. Der Hausarzt erklärte eine Heirat für unmög-
lich. Am 14. IX. 1859 stellte Debout in der Pariser
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- 373 —
Socie*te* de Chirurgie ein Gipsmodell der Geschlechtsteile
der Louise D. vor, welche für einen Hermaphroditen
angesehen wurde. Clitoris 1—5 Centimeter lang mit
starken Erektionen. In einer Schamlefze lag ein Ovarium,
welches eventuell für einen Hoden angesprochen werden
konnte. So oft eine Erektion der Clitoris eintrat, sah
man „un mouvement ascensiouel se produire dans les
grandes levres comme si elles e*taient double*es d'un muscle
Cr^master". — Oberhalb jenes ektopischen Ovarium
tastete man einen nach dem Leistenkanale zu verlaufenden
Strang! Die Sonde, in die Öffnung unterhalb der Clitoris
eingeführt, drang nicht in die Harnblase ein, sondern 11
Centimeter tief in die Vagina und konnte per rectum
nicht getastet werden. De b out war daraufhin fest über-
zeugt, daß Louise ein Mädchen sei, und brachte sie in
das Hospital Beaujon zu Huguier, welcher die ver-
langte Discision der mit einander verwachsenen kleinen
Schamlippen vollzog bis auf den Abstand von zwei
Centimetern von der Analöffnung. Sofort erblickte man
das Orificium vaginae von einem Hymen garniert, sowie
die Harnröhrenmündung. Uterus sehr klein. In der
Folge fügte Huguier noch einen zweiten kleinen Ein-
griff hinzu, da die Öffnung der Schamspalte sich als sehr
eng erwies.
16) Als Seitenstück zu diesem Falle füge ich hier den
berühmten Pariser Fall betreffend Maria Magdalena
Lefort hinzu samt einigen Abbildungen sehr instruktiver
Art. Dieser Fall ist vielfach diskutiert und mehrfach
von französischen Autoren beschrieben worden, weil er
in der Tat lehrreich ist. Die beiden Abbildungen stellen
die Person vor im Alter von IG und von 65 Jahren.
[Siehe Debierre: L'Hermaphrodisme. Paris 1881. pg.
70— 83J (s. Fg. 30, 31, 32, 33). Am 10. Februar 1815
wurde die damals 16 Jahre alte Maria Magdalena
iu der Pariser Ärztlichen Gesellschaft vorgestellt.
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— 374 —
C haussier, Petit-Radel und Beclard sollten sie
untersuchen. Das Mädchen war von mittlerem Wuchs,
hatte viele paradoxe Erscheinungen an sich; einen auf-
fallenden Kontrast bildete die üppige männliche Gesichts-
Fig. 80. Maria Magdalena Lp fort, weiblicher Scheinzwitter
im Alter von 16 .Jahren.
behaarung mit gleichfalls üppig entwickelten weiblichen
Brüsten. Üppige Schambehaarung. Die Clitoris, mög-
licherweise ein hypospadischer Penis, war im flacciden
Zustande 7 Centimeter laug, sub erectione länger. Prae-
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— 375 —
I »utium mobil. In der Mittellinie sieht man an der unteren
Fläche dieses Gliedes eine seichte Rinne und darin fünf
hintereinander liegende feine Offnungen, Lacunae Mor-
gagnii. Zwei kurze schmale Schamlefzen sind stark
Fig. 31. Maria Magdalena Lcfort im Alter von GT> Jahren.
Beobachtung von Beclard.
behaart an ihrer Außenseite und reichen von der Clitoris
bis etwa 10 Linien vor dem After. Zwischen den Scham-
lefzen liegt eine Haut, durch die hindurch man eine da-
rüber liegende Höhle zu tasten meint. Die Schamlefzeu
— 376 —
sind leer, enthalten also keinerlei Geschlechtsdrüsen.
Unterhalb der Clitorisbasis liegt eine Öffnung, durch
welche der Harn abfließt und in die man eine dünne
Sonde einführen kann. In den Leistengegenden tastet
man nichts von Geschlechtsdrüsen. Magdalena gibt an,
der Harn fließe ab aus der besagten Öffnung unterhalb
Fig. 32. Schematischcr extramedianer Sagittaldurchschnitt durch
das Becken von Maria Magdalena Lefort.
J = Sonde unterhalb der Clitoris in das Orificium vulvae
eingeführt, M = Vagina, 0 = Ovarium, T = Tube, U = Uterus,
1 s lig. rotundum, V = Blase, U = Ureter, d - Orificium urethrae
R = Rectum, g = große Schamlippen.
der Clitoris sowie aus den vorher als Lacunae Mor-
gagni i erwähnten feinen Öffnungen, was wohl auf einem
Irrtum beruhen mag. Das Mädchen gibt an, schon vom
8. Jahre an menstruiert zu sein — Menslruatio praecox.
Sie ist absolut außer Stande, vor Zeugen zu urinieren.
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— 377 —
Ein durch jene Öffnung eingeführter Katheter entleert
keinen Harn, gerät nicht in die Blase, sondern nimmt
eine Richtung nach hinten zu. Am nächsten Tage trat
die Menstruation ein, wovon die Ärzte sich persönlich
überzeugten. Der Katheter, jetzt eingeführt, wurde blut-
gefüllt extrahiert aus einer Höhle, welche offenbar nicht
die Harnblase war und vor dem Rectum lag. Zwischen
dem Katheter und der Haut, welche die Schamlefzen
miteinander verband, tastete man eine Scheidewand,
welche etwa zweimal so dick erschien als die Haut selbst.
In der Tiefe von 8 — 10 Centimetern stieß der Katheter
Fig. 33. Vulva der Maria Magdalena Lefort. ;
in dieser Höhle auf einen Widerstand. Bdclard gelang
es sogar, per rectum ein Gebilde wie eine Portio vaginalis
uteri zu tasten. B^clard allein erklärte das Kind för
ein Mädchen und proponierte die Durchschneidung der
Labialverwachsung, welche von der Clitoris an bis zur
Commissura labiorum posterior reichte. Auf diese Operation
ging jedoch das Mädchen unvernünftigerweise nicht ein.
Die Harnröhre erschien länger als sonst bei Frauen,
sie reichte bis „au de la Symphyse pubienne se pro-
longeant BOUS le clitoris — disposition qui le rapproche
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— 378 —
du ptfnis et est fort rare* — Maria Magdalena hatte
die Regel vom 8. bis zum 49. Jahre, empfand stets rein
weiblichen Geschlechtsdrang auf Männer gerichtet und
soll auch einen Beischlafsversuch gemacht haben, der
aber natürlich nur ein Beischlafsversuch blieb. Trotz der
so eingehenden und geuauen Untersuchung durch Be"clard
und der richtigen Deutung des Untersuchungsbefundes
durch Bdclard blieb die Mehrzahl der Parsier Chirurgen
der Ansicht, daß hier Hypospadiasis mascula mit Krypt-
orchismus vorliege. Man stritt sich so lange hin und her,
bis Maria Magdalena Lefort am 20. XIII. 1864
infolge einer Pleuritis im Hospital in Paris starb. Bdclard
machte die Sektion, welche 40 Jahre nach seiner ersten
Untersuchung glänzend seine früher geäußerte Meinung
bestätigte. Die Person hätte, wenn die von Bt'clard
geforderte Operation vollzogen worden wäre, selbst conci-
pieren können, wie die Sektion zeigte. Die Sektion erwies,
daß die vorgenannten 5 Offnungen in der Kinne an der
unteren Fläche der Clitoris nicht mit der Harnröhre
kommunizierten, sondern einfach den Lacunae Mor-
gagni i entsprachen. Die Öffnung unterhalb der Clitoris
führte zunächst in ein durch Verwachsung der Scham-
lefzen miteinander in eine Höhle umgewandeltes Vesti-
bulum vaginae von 6 Zentimeter Höhe und 2 Zentimeter
Umfang. Man fand, wie B^clard vermutet hatte, einen
Uterus, normal gebaut, und eine normale Vagina von
6 Centimeter Länge und 74 Millimeter Umfang. Columnae
rugarum vorhanden. In Utero fand man drei kleine
Fibrome. Uterus von normaler Größe. Der rundliche
Muttermund ließ eine Sonde nur 51 Millimeter tief
ein. Tuben je 7 Centimeter lang, Ovarien normal mit
rupturierten und vernarbten Graafschen Follikeln.
Legros untersuchte mikroskopisch die Ovarien, fand aber
keine Ovula mehr, was ja nicht zu verwundern steht, da
M ari a Magdalena im Alter von 65 Jahren gestorben war.
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— 379 —
17) Beiläufig füge ich hier ein Bemerkung ein be-
treffend die ihrer Zeit berühmte Katharina Hohman
aus [Mellrichstadt, den späteren Karl Hohmann.
Kat harina Hohmann war als Mädchen getauft worden,
obgleich das Aussehen der Genitalien nichts Mädchen-
Fig. 34. Katharina Hohmann, männlicher Scheinzwitter.
haftes bot. Die Hebamme schämte sich in der Folge
ihrer Bestimmung so, daß sie von Mellrichsstadt fortzog.
Katharina erreichte im 15. Jahre die Geschlechtsreife und
es stellten sich Pollutionen ein. Damals begann sie mit
Frauen 'zu kohabitieren, aber die Ejakulation erfolgte da-
bei stets sehr schnell und die Immissio penis wurde wegen
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— 380 —
seiner Abwärtskrümmung niemals eine vollständige. Bis
zum 20 Jahre verriet sich bei ihr nur das männliche
Geschlecht, später aber traten die angeblich menstruellen
Blutungen ein und zwischen dem 20. und 30. Jahre sah
sie Colostrum in den Brüsten. Damals begann Katharina
weiblichen Geschlechtsdrang zu empfinden und kohabitierte
jetzt mit Männern. Während des Beischlafes mit Männern
erfolgte keine Erektion, Katharina hatte aber dabei
Samenergüsse, auch hatte sie mehr Geschlechtsgenuß, wenn
Fig. 35. Äuttere Genitalien der Katharina Höh mann.
sie mit Frauen kohabitierte. Der männliche Geschlechts-
drang war bei ihr stets am stärksten in den ersten 2 — 3
Tagen nach der angeblichen Periode. Diese Periode soll
vom 20. — 30. Jahre regelmäßig, dann seltener geworden
sein, aber bis zum 42. Jahre gedauert haben.
Diese Person, welche von Virchow, Rokitansky,
Schultze, Friedre ich und vielen anderen hervorragen-
den Ärzten untersucht und vielfach beschrieben wurde,
hatte durch die Zweifelhaftigkeit ihres Geschlechts lebhafte
— 381 —
Kontroversen hervorgerufen, indem sie bald für einen
Mann, bald für ein Weib, bald für einen echten Zwitter
erklärt worden war. Tatsache ist, daß Virchow nor-
males Sperma bei ihr konstatierte, es kann also keinem
Zweifel unterliegen, daß Katharina Hohman ein
männlicher Scheinzwitter war, — damit stimmt auch die
Angabe, daß Katharina, welche mehr als 40 Jahre als
Frau gelebt hatte, später als Mann in New-York heiratete
und einen Sohn erzeugte. Eigentümlich und bisher nicht
aufgeklärt erscheint nur der Umstand, daß Katharina
bis zum 38. Jahre die Periode gehabt haben soll. Unter-
halb des hypospadischen Penis lag die Scheidenöffnung.
Als Katharina, 40 Jahre alt, untersucht wurde, konnte
man per vaginam die Portio vaginalis uteri tasten. In
der scheinbaren rechten Schamlefze tastete man den
rechten Hoden, der linke lag unterhalb der äußeren
Öffnung des linken Leistenkanales. Die Schamlefzen
waren im unteren Teile in großer Ausdehnung mit ein-
ander verwachsen, also das Scrotum nur im oberen Teile
gespalten. Billroth proponierte Klara Hohman die
Durchschneiduug dieser Verwachsung: sie ging jedoch
auf die Operation nicht ein. — Dieser Vorschlag Bill-
roth's ist es, weshalb ich diese Beobachtung hier er-
wähne. Katharina hat sowohl mit Männern als auch
mit Frauen kohabitiert, was ja auch verständlich ist,
insofern die physische Möglichkeit dazu vorlag. Katha-
rina resp. Karl Höh mann starb 1881 in New-York
zur Zeit als Mann verheiratet. Sie war ein männlicher
Scheinzwitter mit stark entwickelten Brüsten, Hypospadie
des ganzen Penis und teilweiser Hypospadie des Scrotum
und angeblicher Menstruation. — Siehe Abbildungen:
Fig. 34 u. 35. —
K. Virchow („Vorstellung eines Hermaphroditen"
Berliner klinische Wochenschrift 1872, No. 49, pg. 585J
stellte die Katharina Hohmanu in der Berliner ärzt-
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liehen Gesellschaft vor, nachdem sie bereits 1867 in
Berlin untersucht worden war. Der Erste, welcher
Katharina für einen Zwitter erklärt hatte, war Dr.
Reder in Mellrichstadt, dem Geburtsorte Katharina's:
sie hatte ihn wegen eines Leistenbruches konsultiert.
Friedreich beobachtete Katharina lange Zeit hindurch
iu seiner Heidelberger Klinik, dann Bernhardt
Schultze in Jena, dann v. Koelliker und v. Reck-
linghausen in Würzburg, Krause in Budapest, Hoff-
mann in Basel und Andere. Fried reich konstatierte
zuerst normales Sperma der Katharina, konnte aber
weder eine Prostata noch Samenblasen als reeeptaculum
seminis tasten, v. Franqut', v. Scanzoni, v. Reck-
linghausen garantieren dafür, daß die von Katha-
rina angegebene regelmäßige Blutausleerung aus den
Genitalien, die angebliche Menstruation, auf voller Wahr-
heit beruhe. Die Blutungen dauerten je zwei Tage, das
ausgeschiedene Blut war mit Schleim gemischt. Alle
diese Autoren behaupten, das 'Blut sei aus der Harn-
röhrenöffhung ausgeschieden. Fried reich untersuchte
das Blut mikroskopisch und schlug jede Vermutung
nieder, daß das Blut kein menschliches sondern tierisches
sei. Virchow sagt, die Blutungen seien zwar nicht
absolut periodische, regelmäßige gewesen, sollen sich aber
von Zeit zu Zeit wiederholt haben. Wenn eine menstruelle
Blutung einer Eireifung entspricht, wo soll man also hier
den Eierstock suchen? fragt Virchow.
Rokitansky gab an, er halte das vor dem linken
Leistenkanale liegende Gebilde nicht für eine Geschlechts-
drüse, sondern für einen obliterierten Bruchsack. Vir-
chow möchte diese Behauptung nicht ohne Weiteres
aeeeptieren, er verzichtete darauf, eine bestimmte Ansicht
über die Natur dieses linksseitigen Gebildes auszusprechen.
Virchow schreibt bezüglich der von den Forschern
bei Katharina gesuchten Ovarien wörtlich folgendes:
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— 383 —
„Man ist daher, weil das Ovarium bisher nirgends in den
äußeren Genitalien getastet wurde, nach Innen gewiesen
und hier stehen sich die Angaben der verschiedenen
Untersucher stark entgegen. Zuerst hat Bernhard
Schult ze die positive Angabc gemacht, daß er innerlich
auf der linken Seite und zwar ziemlich weit nach außen
einen mehrere Zentimeter großen gegen Druck stark
empfindlichen Körper gefunden habe, der durch einen
Verbindungsstrang mit einem noch zu erwähnenden
Uterus im Zusammenhange stehe. Er spricht diesen
Körper als Ovarium an, welches demnach relativ au der
richtigen Stelle liegen würde. Friedreich erklärte
jedoch ebenso positiv, daß es ihm unmöglich sei, irgend
etwas von diesem Körper zu finden. Die Höh mann
sagte mir nach langjähriger Erfahrung, daß ein längerer
Finger dazu gehöre, als der meinige ist. In Breslau sei
nur ein einziger Professor gewesen, der soweit habe
hinaufreichen können. Ich muß also in diesem Punkte
mein Urteil salvieren. Jedenfalls habe ich diesen Körper
nicht gefühlt. [Nach dem Buche, welches die Höh mann
mit sich führt, haben die Erlanger Professoren Ziemssen,
Zenker, Roßhirt, C. E. E. Hoffmann, Hegar,
Breiskv und Spiegelberg diesen Körper gefühlt, in-
dessen differierten ihre Angaben erheblich in bezug auf
seine Größe.] Anders verhält es sich in Beziehung auf
den mittleren Teil des Geschlechtsapparates. In dieser
Beziehung darf ich wohl hervorheben, daß alle Herma-
phroditen hierin die größte Ubereinstimmung bieten.
Alle Zwitter, auch die unvollständigen, kommen darin
übereiu, daß der mittlere Teil des Geschlechtsapparates
für einen Mann zu stark, für eine Frau zu schwach
entwickelt ist. Auch bei männlichen Hermaphroditen
findet sieh statt der Yesicula prostatica, die, wie man
gewöhnlich sagt, Repräsentantin des Uterus ist, während
man eigentlich sagen sollte, der Vagina, ein wirk-
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— 384 —
lieber Uterus. Wenn mau in die Urethra eingeht, so
kann man, wie es auch bei der Höh mann der Fall
ist, den Katheter ohne Schwierigkeit bis in die Blase
bringen: die Urethra ist länger als beim gewöhnlichen
Frauenzimmer. Geht man mit dem Katheter aber an
der hinteren Fläche fort> so stößt man in gewisser Ent-
fernung auf einen klappenartigen Widerstand, und wenn
man hier sehr vorsichtig, etwa mit einer Sonde eindringt,
so gelangt man in einen Kanal, die Vagina. Dieselbe
ist durch ein langes Stück Urethra [Canalis urogenitalis],
welches in diesem Falle also gleichzuachten ist einem
verlängerten Vestibulum vaginae, von der äußeren Ober-
fläche getrennt. Die Vagina ist allerdings klein und
kurz, aber unverkennbar. Dagegen ist der Uterus höchst
rudimentär. Das Verhältnis ist so, daß an der verhältnis-
mäßig langen Vagina ein ganz kurzes Endstück sitzt und
von diesem aus ein Strang nach links hinabgeht, an dessen
Ende man, nach Schultzeu. A. auf ein wirkliches Ovarium
stößt. Wenn man durch das Rectum eingeht, so kann
man den nach links gehenden Strang deutlich fühlen.
Ob am Ende dieses Stranges ein besonderer Körper liegt,
kann ich nicht angeben, nur kann ich bestätigen, daß die
Person an dieser Stelle sehr empfindlich ist. Das ist
Dasjenige, was ich über den Befund an den Genitalien
mitteilen kann: ein sehr kurzer, stark nach rückwärts
gebogener, unter den Hautdecken größtenteils verborgener
hypospadischer Penis, über dessen Oberfläche zwei
nymphenartige Krausen sich hinziehen, ein entwickeltes
rechtes Scrotum mit einem Hoden, ein stark verkümmertes
linkes ohne einen solchen, eine für ein Weib unverhältnis-
mäßig lange Urethra, welcher nach rückwärts ein feiner,
enger Vaginalkanal ansitzt, der in ein kleines, ver-
kümmertes Ende [Uterus] ausläuft, von welchem noch
ein kleiner, vielleicht dem Ligamentum ovarii oder der
Tuba entsprechender Teil entspringt, auf der linken
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— 385 —
Seite eine Tuba, endlich keine Samenbläschen und keine
Prostata, sondern nur ein Vas deferens, von welchem
man allerdings vermuten kann, daß es in den eigentlich
urethralen Teil münden wird. Die Mammae der 48-
jährigen Katharina sind sehr stark entwickelt, obwohl
sie schon im Rückgange begriffen sind seit Aufhören der
Menstruation. Katharina behauptet, daß zuweilen auf
Druck sich aus den Mammae weißliche Flüssigkeit ent-
leerte. Haarwuchs im Allgemeinen mehr dem weiblichen
Typus entsprechend. Kopfhaare mäßig lang, glatt,
schwarz. Katharina behauptete, die Haare seien
früher länger gewesen, sie seien sehr ausgegangen und
haben nicht mehr die frühere Läuge angenommen, nach-
dem ein Lehrer der Anatomie ihren Testikel so sehr
gedrückt hätte, daß sie nicht blos vor Schmerz umge-
fallen, sondern auch eine Zeit lang darnach infolge einer
Entzündung krank gelegen habe. Virchow bestätigt,
daß das Haupthaar früher länger gewesen ist. Umge-
kehrt ist der Bartwuchs nicht so sehr entwickelt, es
existiert kein Bart in der Art eines männlichen, sondern
nur hier und da einige längere Haare, welche sich die
Katharina herunterschneidet."
Virchow hat Katharina Hohmann als Mann
und als Weib gekleidet gesehen und behauptet entgegen
früheren Beobachtern, der Gesaramteindruck, den er
empfangen, sei eher weiblich als männlich, die weibliche
Erscheinung sei viel mehr harmonisch. Auch die Form
des Rumpfes und der Extremitäten sei mehr weiblich,
nur das Becken sei männlich. Katharina hat den
Beischlaf mit Mann und Frau versucht und gibt an, in
ihrer Jugend habe sie mehr die Neigung empfunden, sich
als Weib zu gerieren, in späteren Jahren aber die um-
gekehrte, als Mann. In ihrer Heimat trat sie in den
letzten Jahren nur als Frau gekleidet auf ; die männliche
Kleidung, die sie auf ihren Schaustellungsreisen trägt,
Jahrbuch V. 25
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- 386 —
legt sie auf der letzten Station vor ihrer Vaterstadt ab.
Sie war auf den Namen Katharina getauft und galt
bei sich zu Hause rechtlich und gesellschaftlich als Frau,
als Kind dürfte sie also wohl einen weiblichen Eindruck
gemacht haben. Schwerlich würde sie die Schulzeit als
Mädchen durchgemacht haben, schreibt Virchow, wenn
man sie für einen verkleideten Jungen angeschen hätte.
Von besonderer Bedeutung ist, daß die linke Seite, auf
welcher sich an den Genitalien die wesentliche Anomalie
concentriert, auch am übrigen Körper weniger entwickelt
ist. Es gilt dies nicht bloß von den Extremitäten, an
denen ein solches Zurückbleiben weniger auff ällig wärt«,
sondern auch vom Rumpfe und Gesicht, An letzterein
ist die mangelhafte Entwicklung schon von weitem recht
auffällig. Daraus scheint hervorzugehen, daß es sich
nicht bloß um eine lokale Bildungshemmung handelt, daß
vielmehr der Hermaphroditismus nur eine Teilerscheinung
einer allgeraeiuen Störung ist." — Soweit Virchow.
Ich habe absichtlich an dieser Stelle dieses ausführ-
liche Citat nach Virchow eingefügt, weil in demselben
Gedanken angeregt sind, denen sonst in der Betrachtung
von Scheinzwittern und in der Beschreibung nur selten
einmal Rechnung getragen wurde so z. B. in der Be-
merkung bezüglich eines Falles, die rechte Gesichtshälfte
habe einen männlichen Ausdruck gehabt, die linke einen
weiblichen, die obere Körperhälfte habe einen männlichen
Eindruck gemacht, die untere einen weiblichen etc. An
anderer Stelle werde ich auf diese Punkte näher ein-
gehen.
18) K ei ff er [Un cas de virilisme „Soci&e* Beige
de Gyndcologie et d'Obst^trique 1896 No. 10 pg. 214.]
(Referat; Centralblatt für Gynäkologie 1897 No. 17 pg. 479)
stellte ein Individuum vor, eine Frau, bei der er infolge
von intermittierender Amenorrhoe und Dysmenorrhoe den
Uteruskanal erweitert und eine Auskratzung vorgenommen
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— 387 —
hatte. Trotz rudimentärer Entwickelung der Genitalien
war die Periode schon im 10. Lebensjahre eingetreten,
wiederholte sich aber nur in Abständen von je 7 — 8
Monaten. Die äußeren Genitalien sehen kindlich aus, die
inneren Genitalien machen einen weiblichen Eindruck,
die äußeren dagegen einen männlichen bei Hypospadiasis,
also die Scham sieht männlich aus. Die 25jährige
.losephine X. mit langem Haupthaar trägt weib-
liche Kleidung, rasiert sich oft ihren Schnurrbart und
Backenbart. Wegen mangelnden Unterhautfettpolsters
kontourieren sich die Muskeln sichtbar. Unterleib und
untere Extremitäten sehr reich behaart. Mammae rudimen-
tär entwickelt, Mamillae behaart, Skelett und Becken
ganz männlich. Josephine macht sowohl in sitzender
Position sowie auch in stehender ganz den Eindruck
eines Mannes. Die sehr gering angelegten kleinen
Schamlippen liegen zur Seite einer sehr engen Scham-
Spalte; oberhalb der Schamspalte eine erectile Clitoris-
Pseudopenis — so groß wie bei einem 10jährigen Knaben.
Harnröhrenölfnung weiblich, aber an der unteren Fläche
der hypertrophischen Clitoriseine deutlich sichtbare Rinne.
Scheide eng und tief, Uterus sehr klein, G cm lang, mit
engem Kanal. Auch sub narcosi gelang es nicht, Ge-
schlechtsdrüsen irgendwo zu tasten. Aus der Beschrei-
bung ist es nicht ersichtlich, ob K e i f f e r seine Opera-
tion bei einem männlichen oder bei einem weiblichen
Scheinzwitter gemacht hat. Das Einzige, was für weib-
liches Geschlecht zu sprechen scheint, ist die Angabe
der stattgehabten menstrualen Blutungen, wenn es sich
tatsächlich um solche gehandelt hat.
19) P£an [siehe im Vorhergehenden, Gruppe II.
No. 2) versuchte auf plastischem Wege durch einen Ein-
schnitt zwischen Orificium urethrae und Orificium ani
eine Scheide zu schaffen bei einem ursprünglich als Mäd-
chen erzogenen, später irrtümlich als Knaben bestimmten
25*
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— 38S —
Individuum, bei dem er schliesslich auf dem Wege des
Bauchschuittes weibliches Geschlecht konstatierte.
20) Roux |Aunales de Gym'cologie et d'Obste*trique
1891 Vol. XXXV pg. 324] beschreibt eine 30jährige
verheiratete Frau mit Atresia vaginae und labialer Ektopie
beider Ovarien. Niemals Periode. Nach Vollziehung
eiuer plastischen Operation wurde diese Frau beischlafs-
fähig. Leider stand mir die Originalbeschreibung nicht
zu Gebote, sodaß ich nicht sagen kann, ob man nur ver-
mutete, daß die in den Schamlefzen liegenden Gebilde
Ovarien waren oder ob ein Beweis dafür geliefert wurde.
21) Sonnen bürg | siehe Jacoby. „Zwei Fälle von
Hermaphroditenbildung" O. I. Berlin 188öj operierte in
einem Falle von weiblichem Scheinzwittertum im Berliner
Israelitischen Krankenhause. Er durchschnitt eine Ver-
wachsung der großen Labia pudendi bei einem Mädchen
mit Clitorishypertrophie behaftet. Das Original von
.Jacoby war mir nicht zugänglich, auch konnte Herr
Professor Sonnenburg mir nicht mehr mit einem
Exemplare der Dissertation aushelfen.
22) Tauber [Warschau] amputierte den hypospadi-
schen Penis in einem schon im vorigen Jahrgange dieses
Jahrbuches von mir ausführlich beschriebenen Falle von
Erreur de sexe [Gruppe IV., Fall 7] Bei dem 21jähri-
gen verlobten Mädchen wurde nach Abtragung der
Hoden aus den Schamlefzen durch Dr. Kociatkiewicz
zweifellos männliches Scheinzwittertum konstatiert, gleich-
wohl amputierte Professor Tauber zwei Jahre später
das hypospadische Membrum virile. Die Person wurde
nach dieser zweiten Operation noch korpulenter als nach
der Kastration und sehr melancholisch, soviel ich gehört
habe. Eine Berechtigung zu dieser Operation sehe ich
in diesem Falle nicht ein.
23) Vincent |„Sexe incertain" Lyon Med ical 1897]
wurde zu einem sechswöchentlichen unehelich geborenen
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Kinde geholt. Defectus ani et urethrae. In der Gegend
der Scham zwei „bourgeons cutaneV4: es blieb
fraglich, ob dies rudimentäre Schamlefzen waren oder
Hälften eines Scrotum fissum? Zwischen diesen „bour-
geons" lag eine dellenförmige Vertiefung, von einer
glatten Membran ausgekleidet. Vincent durchschnitt
diese Membran, eine Sonde drang jetzt 5 Centimeter
tief in einen Kanal ein, aus dem der Harn floss: es sollte
dies die Vagina sein, eine Urethra fehlte. Er machte
künstlich eine zweite Öffnung, legte einen Anus coecygeus
an. Das Kind lebt, wurde also durch diesen Eingriff
gerettet, das Geschlecht blieb fraglich.
Anhang:
Sechste Gruppe:
Auf die Beseitigung der peniscrotalen Hypospadie
gerichtete Operationen.
Anhangsweise füge ich hier die Kasuistik der Fälle
hinzu, wo bei männlichen Scheinzwittern resp. bei Hvpo-
spadiasis peniscrotalis ausgedehntere plastische Operationen
zur Anwendung kamen, um dem Manne das Harnen
nach Männerart zu ermöglichen, resp. einen Beischlaf und
Schwängerung zu erleichtern.
1) C. Beck [A case of Hermaphrodism (?) —
Medical Record 25. Juli 1899) beabsichtigte in seinem
im Vorhergehenden erwähnten Falle auf dem plastischen
Wege nach Thiersch eine penile Urethra herzustellen,
jedoch kam es dazu nicht, da das Individuum nach
dem Bauchschnitte verstarb [siehe im Vorhergehenden,
Gruppe IV, Fall 5.) Nachdem Hoden-Sarkome aus der
Bauchhöhle herausgeschnitten worden waren, erkrankte
die Person am 18. Tage nach dem Bauchsohnitte an
Lungenentzündung und starb drei Tage darauf. | Medical
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Record 25. Juli 1896 pg. 2 und 3 des Separatabdruckes
finden sich die Abbildungen der äusseren Genitalien.
Carl Beck: „Die Operation der Hypospadie.* Münch.
Med. Woch. 1901, Nr. 45, pg. 777. *
2) Thomas Brand vollzog in Gegenwart von
Hunter an einem bis zum 7. Jahre als Mädchen geltenden
männlichen Schein zwitter eine Operation wegen schmerz-
haften Harnens. Der Penis war nach abwärts gekrümmt
aber von der Urethra durchbohrt. Die äußeren Ge-
schlechtsteile sollen wie bei einem Mädchen ausgesehen
haben. (Scrotalhypospadie?) [„The case of a boy had
been mistaken for a girl.") London 1787.
3) Ca Stella na vollzog eine ausgedehnte Plastik bei
einem als Mädchen erzogenen Scheinzwitter mit so glän-
zendem Resultate, dass die neugeschaffene Harnröhren-
mündung kaum einige Ceutimeter rückwärts einer nor-
malen männlichen Harnröhrenöffnung zu liegen kam und
das Individuum den Harn abgeben konnte nach Männer-
art „senza bagniarsi i Calzoni.* (Uretroplastia e chiusura
dell orificio vaginale in uno caso d'ipospadie perineale con
Cryptorchismo e vagina rudiraentale bifida," Riforma
Medica. Aug. XV. N. 213—215 pg. 769). Siehe meinen
Aufsatz im vorigen Jahrgange dieses Jahrbuchs, Fig. 5
daselbst.
4) Fdlizet [Bulletins et MtSmoires de la Socitfte*
de Chirurgie. Paris 1902. Tome XXVIII. Nr. 32 pg.
973]. Im Jahre 1899 wurde in das Pariser Hospital
Tenon ein lOjähriges Mädchen gebracht, ein Zwitter
mit sehr hypertrophischer Clitoris. Grosse Scham-
lefzen gut entwickelt, die kleinen rudimentär. Die
grossen Schamlefzen waren trotz des jugendlichen Alters
schon behaart, eine Vagina fand man nicht. In jeder
Schamlefze tastete man Hoden, Nebenhoden und Samen-
strang. Keine Hernie vorhanden. Per rectum tastete
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— 391 —
man eine 5 Millimeter dicke Membran, welche das kleine
Becken in eine vordere und hintere Hälfte zu teilen schien.
Kein Uterus getastet. Man konstatierte also eine
Erreur de sexe und brachte zunächst das Mädchen
aus der Frauenabteilung in einen Männersaal herüber.
F^lizet frischte die Ränder der Schamlefzen, also der
beiden Scrotalhälften, an und vernähte sie miteinander.
Die Plastik an dem Penis hypospadiäus ergab momentan
nicht den gewünschten Erfolg, weil das Kind sich nicht
vernünftig genug betrug für eine aussichtsvolle Nach-
behandlung. Jetzt nach drei Jahren kam der Knabe
wieder in das Hospital, um die Hypospadie von Penis
und Glans zu beseitigen. Der Knabe masturbierte be-
reits und hatte Erektionen und Ejakulationen. Fe Uz et
beabsichtigt jetzt die noch nötigen Eingriffe zur Voll-
endung der Plastik vorzunehmen.
5) Garre* [siehe Do er f ler: „Hypospadia perinaealis"
Rostocker Aerzteverein II. VI. 1898. Referat:
Münchener Medicinische Wochenschrift 1898 Bd. XLV.
pg. 356 — 361]. Ein löjähriges Mädchen wurde von den
Eltern in das Hospital gebracht, weil dieselben dessen
weibliches Geschlecht bezweifelten. Man konstatierte eine
erreur de sexe. Hypospadiasis peniscrotalis, Hoden
und Zubehör lagen in den Scrotalhälften; der hypo-
spadische rudimentäre Penis lag zwischen den Scrotal-
hälften verborgen nach unten gekrümmt. Eine Vaginal-
öffnung fand man nicht; orificium urethrae drei Centimeter
oberhalb der Analöffnung belegen. Garre* vollzog eine
Reihe plastischer Eingriffe mit dreifachem Ziel : erstens
um das Glied gerade zu richten und zu verlängern,
zweitens, um nach der Methode von Duplay eine Penis-
harnröhre zu schaffen, drittens, um die so neu geschaffene
Penisharnröhre zu vereinigen mit der scheinbar weiblichen
Harnröhrenöffnung. Das Resultat war so vorzüglich, daß
heute auch der Laie nicht mehr an dem männlichen
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Geschlechte zweifeln dürfte. Das Kind verließ die Klinik
in männlichen Kleidern.
6) Krajewski begann eine Plastik bei peniscrotaler
Hypospadie in einem von mir beschriebenen Falle von
erreur de sexe, ein 18 jähriges Mädchen betreffend,
jedoch wurde nur die quere Durchschneidung des den
Penis hypospadiaeus nach unten biegenden Stranges ge-
macht mit Längsvernähung der gesetzten Wunde, dann
entzog sich diese Person der weitereu Behandlung.
7) Malt he [Magazin for Laegevidenskab 4 - de
raekke, 10 -de Bind, pg. 58: Forhand linger Med.
Selskab Moede 20 - de Marts 1895]. Man konstatierte
bei einem 28jährigen Mädchen eine erreur de sexe
und fand Hypospadiasis peniscrotalis: die Hoden lagen
in scroto fisso. Anna Marie diente als Milchmädchen
in einer Milchwirtschaft. Man machte 8 Operationen
nach der Reihe behufs Plastik — und — h'/ute öffnet
sich die neugeschaffene Harnröhre in glande penis. Die
Ejakulationen finden so statt, daß der Mann jetzt ohne
Weiteres befruchtungsfähig erscheint.
8) Marwedel: »Erfahrungen über die Beck 'sehe
Methode der Hypospadieoperation." Beiträge zur klinischen
Chirurgie XXIX. — 1 pg. 25 — 1901.
9) Thiersch vollzog eine Reihe plastischer Opera-
tionen bei einem männlichen Scheinzwitter, der jedoch
infolge einer Peritonitis zu Grunde ging — siehe im
Vorhergehenden Gruppe III Fall 11.
10) Tuffier Traitement de l'hypospadiasis par la
tunellisation du pdnis et Papplication des greffes Olli er
— Thiersch (Annales des maladies des organes geuito-
urinaires. Paris Avril 1899.)
11) Villemin [Societe* de Pädiatrie. Sdance du
14. Mars 1899. L' Independance mtfdicale 1899 No. 12
pg. 94] stellte einen 15jährigen Knaben vor nach von
ihm vollzogener Plastik bei Hypospadiasis peniscrotalis.
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— :m —
Der verkannte Junge war bisher als Mädchen erzogen
worden und hatte man dem Mädchen ein Bruchband
angelegt, in der Meinung, es liege ein Bruch vor, während
dieser durch den Hoden vorgetäuscht worden war.
12) Waitz: , Perinaeale Hypospadie bei einem Knaben
durch plastische Operation behoben." Münchener Medicin.
Wochenschrift 1899 pg. 300.
Es liegt auf der Hand, daß eine Analyse der vor-
liegenden Kasuistik nach sämtlichen Richtungen hin eine
Arbeit liefern würde, welche den Rahmen eines Beitrages
für dieses Jahrbuch weit überschreiten würde, würde doch
z. B. die Betrachtung jeder einzelnen zu berücksichtigenden
Frage ein umfangreiches Kapitel bilden, z. B. die Zusammen-
stellung des Verhältnisses der secundären Geschlechts-
charaktere zum anatomischen Charakter der Geschlechts-
drüsen, die kritische Sichtung des überaus reichen Materials
von katamenial wiederkehrenden Molimina bei männlichen
Scheinzwittern, welche den Molimina menstrualia gleich-
kommen, das Verhältnis des Geschlechtstriebes zu den
Geschlechtsdrüsen, die mangelnde oder excessive Energie
des Geschlechtstriebes etc., die kritische Beleuchtung der
als menstruell bezeichneten periodischen Genitalblutungen
bei männlichen Scheinzwittern und viele andere Fragen.
Ich werde, soweit meine Zeit es gestattet, jede dieser
Fragen gesondert erörtern und muß mich heute gemäß
dem Plane dieses Aufsatzes auf die Erörterungen der für
den Chirurgen in Frage kommenden Tatsachen beschränken.
Die Kasuistik liefert uns ein überreiches Material.
Da in der dritten Gruppe drei Fälle von Konstatierung
der Gegenwart eines Uterus mit aufgezählt wurden,
welche schon in der ersten Gruppe aufgezählt waren
| Fälle von Pozzi, Sänger und Stonham], so reduziert
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— 394 —
sich die Zahl der in Frage kommenden Individuen auf 54.
Auf 54 Individuen kommen nicht weniger als 42 Fälle
von Erreur de sexe vor, eiu für die Diagnose des
Geschlechtes schwerwiegendes Moment, umsomehr als in
den meisten Fällen das angebliche Geschlecht der einer
Operation unterworfenen Person gar nicht angezweifelt
worden war — in den weitaus meisten Fällen war das
Resultat der Operation quoad sexum ein für den Operateur
überraschendes, unerwartetes! Nur Buchanan
(Gruppe I, Fall 5), Green (Gruppe I, Fall 8), Doederlein
(Gruppe I, Fall 17), Porro (Gruppe I, Fall 24), Sänger
(Gruppe I, Fall 27), Swiencicki (Gruppe I, Fall 38),
Tillaux (Gruppe I, Fall 34) vermuteten vor der
Operation eine Erreur de sexe, also nur 6 mal auf
die 38 Operationen der ersten Gruppe wurde eine
Erreur de sexe vermutet. Bei 35 Mädchen, 2 ver-
heirateten Frauen und 1 Witwe wurden Hoden entdeckt
In der zweiten Gruppe wurde zweimal weibliches Geschlecht
eines Knaben resp. eines erwachsenen Mannes konstatiert
(Fälle von P£an und Walther). In der dritten Gruppe
wurde 13 mal tubulärer Hermaphroditismus, also mehr
weniger hochgradige Entwickelung der Müller* scheu
Gänge bei Männern resp. bei 3 als Mädchen erzogenen
männlichen Scheinzwittern entdeckt.
Die Veranlassung zu dem Leistenschnitt ergaben
meist Bruchbeschwerden, und in den Fällen von Pean,
Porro, Tillaux und Thierse h wurde der Leisten-
schnitt resp. Labial- resp. Scrotalschnitt ausschließlich zu
diagnostischen Zwecken vorgenommen. Bei dea 38 als
Mädchen erzogenen Scheiuzwittern lag in den wenigsten
Fällen ein Bruch mit Darm-, Netz- oder Harnblasen-
anteil als Inhalt vor, meist handelte es sich um einseitigen
oder beiderseitigen Descensus testiculi retardatus.
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— 395 —
Erste Gruppe.
38 Operationen an männlichen Scheinzwittern, als
Mädchen erzogen. In welchem Alter wurde die
Erreur de sexe konstatiert?
Fall 1: Nach rechtsseitiger Heruiotomie bei der 6 jähr.
Klara Hacker. Der Bruch war vor 8 Tagen plötzlich
aufgetreten. Im 13. Jahre war ein linksseitiger Bruch
operiert worden: Hoden, Nebenhoden und Samenblase
entfernt.
Fall 2: Einseitige Herniotomie im 24. Jahre bei ander-
seitigem Kryptorchismus.
Fall 3 : Beiderseitige Herniotomie bei einem Hjähr. Mädchen.
Fall 4 : Beiderseitige Herniotomie bei einem Hjähr. Mädchen.
Fall 5 : Beiderseitige Herniotomie bei einem 9jähr. Mädchen.
Fall 6 : Beiderseitige Herniotomie bei einem 24jähr. Mädchen.
Fall 7: Beiderseitige Herniotomie bei einer 42jähr. Witwe.
Der Descensus testiculorum war erst vor einigen
Tagen, also im 42. Lebensjahre, nach Aufheben einer
Last plötzlich entstanden.
Fall 8: Beiderseitige Herniotomie bei einem 24 jähr.
Mädchen. Erreur de sexe vor der Operation erkannt.
Castration auf ausdrückliches Verlangen des Mädchens
hin.
Fall 9: Beiderseitige Herniotomie bei einem 23jähr.
Mädchen.
Fall 10: Beiderseitige Herniotomie bei einem 3jähr.
Mädchen. Castration, angeblich um späteren sozialen
Unannehmlichkeiten vorzubeugen.
P'all 1 1 : Beiderseitige Herniotomie bei einem erwachsenen
Mädchen: erst einerseits der Hoden entfernt, dann auf
ausdrückliches Verlangen des Mädchens hin auch der
andere.
Fall 12: Bei einem 2Sjähr. Mädchen trat ein rechtsseitiger
Leistenbruch auf, Hoden entfernt, der linke durch
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— 306 —
Leistenschuitt, im Leistenkanal, liegend in die Bauch-
höhle hineingestoßen. Nach kurzer Zeit trat der linke
Hoden heraus, jetzt wiederholter Leistenschnitt links,
Abtragung.
Fall 13: Im 20. Jahre bei linksseitiger Herniotomie
angeblich labiale Ovarialektopie konstatiert, nach 3
Jahren war rcchterseits ein Hoden herabgetreten [keiue
Operation].
Fall 14: Beiderseitige Herniotomie bei einem 21 jähr.
Mädchen bei Diagnose einer Ovarialektopie. Kastration:
Hoden.
Fall 15: Beiderseitige Herniotomie bei einem 21jährigen
Mädchen.
Fall 16: Einseitige Herniotomie bei einem jungen Mädchen
bei Diagnose einer Labialcystc: als Bruchinhalt Netz,
eine Cyste und ein Hoden, die entfernt wurden. Ander-
seits Kryptorchismus.
Fall 17: Im 16. Jahre war der rechte Hoden, im 18.
der linke herabgetreten. Im 19. Jahre „erreur de sexe"
vermutet, Kastration.
Fall 18: Im 12. Jahrenach einem Fall linkerseits Hoden
herabgetreten, später der rechte. Im 33. Jahre beider-
seitige Herniotomie bei der verheirateten Frau. Diagnose:
Ovarialektopie, auch nach der Kastration die Gebilde
für Ovarien angesehen: Mikroskop.: Hoden.
Fall 19: Beiderseitige Herniotomie bei einem 19jährigen
Mädchen. Kastration: Hoden.
Fall 20: Im 19. Jahre rechtsseitige Herniotomie, im 20.
linksseitige. Hoden entfernt.
Fall 21: Im 6. Lebensjahre Leistenbruch rechts, im 20.
Jahre links. Im 32. Jahre linkerseits Herniotomie.
Nur Hoden und Hydrocele gefunden. Die dringend
verlangte rechtsseitige Herniotomie in Dresden, Halle,
Leipzig verweigert. Im 59. Jahre Tod infolge Ein-
klemmung des rechtsseitigen Bruches (Inhalt *?)
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— 397 -
Fall 22 : Im 18. Jahre Leistenbruch rechts, im 28. Jahre
links Herniotoraie erst einerseits, später auch anderseits.
Kastration. Mikroskop: Hoden.
Fall 23: Im 12. Jahre eine angebliche entzündete Leisten-
drüse linkerseits entfernt, nach 7 Jahren mikroskopisch
als Hoden erkannt. Kechterseits Krvptorchismus.
Fall 2i: Bei einem 22jährigen Mädchen bei vermuteter
„Erreur de sexe" beiderseits diagnostischer Labialeiu-
schnitt konservativ: Hoden, keine Kastration.
Fall 25: Im 12. Jahre linkerseits Leistenbruch, im 23.
Jahre beiderseitige Heruiotomie bei Diagnose: Ektopie
der Uterusadnexa beiderseits. Nach einem Jahre
Bruchrecidiv linkerseits: Jetzt nur linkes Horn eines
Uterus bicornis und linker Hoden entfernt, auch das
früher rechterseits entfernteGebilde erwies sich als Hoden.
Fall 26: Rechterseits Leistenbruch im frühen Kindes-
alter, linkerseits in der Pubertät. Im 23. Jahre beider-
seitige Herniotomie: Rechterseits Hoden und Neben-
hoden entfernt, linkerseits Bruchinhalt: Ein Harn-
blasendivertikel. Linkerseits Krvptorchismus.
Fall 27: Im 18. Jahre linkerseits Leistenbruch, im 32.
Jahre Herniotomie bei vermuteter ,Erreur de sexe" :
Uterus samt linker Tube, Parovarialcyste und einer
jetzt für ein Ovarium angesehenen Geschlechtsdrüse
entfernt: Mikroskop.: Hoden.
Fall 28: Beiderseitige Herniotomie im 42. Jahre, Hoden
entfernt.
Fall 29: Beiderseitige Herniotomie bei einer 25jährigen
Frau: Kastration bei Diagnose: Ovarialektopie. Mikros-
kop: Hoden.
Fall 30: Beiderseitige Herniotomie bei einem jungen
Mädchen: Kastration. Mikroskop: Hoden.
Fall 31 : Beiderseitige Herniotomie im 21. Jahre bei an-
geborenen Leistenbrüchen. Diagnose: Ovarialektopie.
Kastration. Mikroskop: Hoden.
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— 398 —
Fall 32: Tod eines Kindes nach einseitiger Herniotomie
[Bruchinhalt: Darm]. Sub nekropsia beiderseitiger Krypta
orchismus gefunden.
Fall 33: Im 23. Jahre nach Entleerung einer linksseitigen
Hydrocele Hoden und Nebenhoden getastet Der andere
Hoden gleichfalls in scroto fisso. Konservative
Operation.
Fall 34 : Beiderseitiger diagnostischer Labialeinschnitt bei
vermuteter „Errcur de sexe*. Hoden. Konservative
Operation.
Fall 35: Angeborener linksseitiger Leistenbruch, im 14.
Jahre Herniotomie : Hoden entfernt.
Fall 36 : Beiderseitige Herniotomie (in welchem Lebens-
jahre ?) rechts Hoden, links ein Fibroadenom entfernt.
Fall 37: Beiderseitige Herniotomie im 54 Jahre. Kastra-
tion: Hoden.
Fall 38: Beiderseitige Herniotomie: Kastration: Hoden.
Inhalt des echten oder vermeintlichen Bruches.
Auf die vorstehenden 38 Leistenschnitte kam also
ein echter Bruch nur wenige Male vor:
Fall Pech (Darminhalt), Fall Pozzi (Uterushorn)
Fall Sänger (Uterus), Fall Sänger (Ein Blasen-
divertikel), Fall Stonham (Darminhalt), Fall Lanne-
longue (Netz), sonst handelte es sich bei den vermeint-
lichen Brüchen stets um Descensus retardatus oder in
einigen Fällen congenitus eines oder beider Hoden.
Zweimal führte eine Hydrocele zur Operation. Fall
Pech, Fall Swiencicki. Was das Alter, wann der an-
gebliche Leistenbruch entstand, anbetrifft, ist leider nur
in wenigen Fällen eine Angabe gemacht.
4 mal wurde konservativ operiert in den Fällen von
Pozzi, Swiencicki, Tillaux, Stonham.
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— 399 —
7mal wurde nur ein Hodeu entfernt: Fälle:
Jablonski, Lannelongue, Pech, Pozzi, Sänger,
Sänger, Turner,
27mal wurden beide Hoden entfernt: Fälle:
Alexander Av£ry, Brycholow, Brjuchanow,
ßuchanan, Chambers, Clark, Green, Griffith,
Groß, Halloppeau, Heuck, Dixon-Jones, Kociat-
kiewicz, Levy, A. Martin, A. Martin, Ch. Mar-
tin, Philippi, Pozzi, Shattock, Snegirjow,
Sn egirjo w, Solowij , Wegradt, Will, v. Winckel-
2 Operationen betrafen verheiratete Frauen : Fälle :
A. Martin, Snegirjow, 1 eine Witwe: Fall Clark,
35 Operationen an Mädchen im Alter von 3 bis zu 54
Jahren.
Nur in sehr wenigen Fällen war eine „Erreur de
sexe* vor der Operation erkannt resp. vermutet worden,
in einem Falle vermutete man männliches Geschlecht
der in den Schamlefzen enthaltenen Geschlechtsdrüsen
wegen ausgesprochenen CremasterreHexs.
Zweite Gruppe.
Vier Leistenbrüche bei Frauen resp. 2 als Männer
erzogenen weiblichen Schein Zwittern.
Im Falle Brohl ein linksseitiger Leistenbruch bei
einem 3(3 jähr. Fräulein, seit mehr als 13 Jahren be-
stehend. Diagnose: Ektopie des Uterus und linken
Ovarium, der Bruch enthielt Uterus bicornis, beide Tu-
ben und beide Ovarien. Kastration.
Im Falle Sujetinow: Incarceration eines rechts-
seitigen Leistenbruches, Operation, Uterus, Tuben und
Ovarium in hernia. Dreimal auf diese 4 Fälle „Erreur
de sexe" konstatiert.
Im Falle P£an wurde ein 12 jähriges Mädchen
für einen Knaben erklärt, mehrfache operative Eingriffe
im 15. Jahre erwiesen weibliches Geschlecht.
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— 4C0 —
Jm Fall Waith er wurde ein Mädchen noch im
Kindesalter für einen Jungen erklärt. Beiderseitige Her-
niotomie im 24. Jahre bei dem Manne. Rechts Ovarium
und Tube in hernia, die in die Bauchhöhle geschoben
wurden, linkerseits Mittelstück einer Sactosalpinx, Ovar
und ein Stück Netz abgetragen.
Auf diese 4 Fälle kam also dreimal ein echter
Bruch und zwar zweimal ein einseitiger, einmal ein beider-
seitiger Bruch.
Dritte Gruppe.
Dreizehn Leistenbrüche bei Männern resp. männlichen
Scheinzwittern mit Konstatierung eines Uterus.
In den Fällen Bill roth, Bockel, Carle , D erveau,
Fantino, Filippini, Gulden arm, Sänger, Pozzi,
Thiersch fand man einen Uterus, resp. ein Uterushorn
resp. eine Tube in hernia neben dem Hoden, in den
Fällen Winckler und Stonham sub nekropsia früher
oder später nach Bauchoperationen einen Uterus in der
Bauchhöhle, im Falle Griff ith tastete man nach Ent-
fernung beider Hoden einen Uterus. Vier von diesen
Männern waren als Mädchen erzogen worden (Fälle von
Griff ith, Pozzi, Saenger und Stonham).
Vierte Gruppe.
Betrachten wir nun die 45 Einzel beobachtungen
dieser Gruppe von einzelnen Gesichtspunkten aus:
Es kommen auf diese 45 Fälle nicht weniger als
17 Fälle von „Erreur de sexe".
11 Mädchen als männliche Scheinzwitter er-
kannt: Fall Abel, Audain, Bazy, Delage-
nidre, Grub er, (sub nekropsia), Hausemann
(Nekropsie einer 82jührigen Witwe), Dixon-Jons,
Mies, Obolonskv, Sncgirjow, Westermann
Nekropsie: Hoden).
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— 401 —
*5 Mädchen als weibliche Scheinzwitter er-
kannt: Fall Bacaloglu u. Frossard, Fehling,
Hall, Krug, Litten, Neugebauer.
9 Männer als Schei nzwitter erkannt : Fall Beck
(21 jähriger Mann bis zum 19. Jahre als Mädchen er-
zogen) Carle, Kapsammer, Merkel, Paton
(Pyosalpinxoperation] bei einem Mann), Primrose,
Stimson, Stroebe, Winckler.
5 Männer als weibliche Scheinzwitter er-
kannt: Fall v. Engelhardt (sub nekropsia eines
verheirateten Mannes Ovarien und Uteruscarcinom
gefunden.) Gunckel (Geschlecht eines Mädchens irr-
tümlich für männlich erklärt, sub nekropsiaim 50. Jahre:
Ovarien), Krabbe 1 (Ovariotonie bei einem Manne),
Pe*an, Pozzi (Ovariotomie bei einem verheirateten
Manne.
11 mal blieb das Geschlecht fraglich:
a) Trotz operati ver E r ö f f n ung der Bauchhöhle:
ITowitz, Neugebauer, v. Saexinger und E.
Levy, Pfannenstiel, Sorel u. Ch<5rot, Unter-
berger: 6 mal,
b) Trotz Nekropsie: Chevreuil, Howitz, Lesser,
v. Saexinger u. E. Levy, Sorel und Che>ot,
Zahorski: 6mal,
c) bei klinischer Untersuchung: Levy, Lieb-
mann, Quisling: 3mal.
lraal angeblich wahres Zwittertum einer Geschlechts-
drüse erkannt: Fall von v. Sal<5n.
Da von diesen 45 Beobachtungen 2 bereits in der
1. Gruppe (No. 14 Di xon -Jones und No. 30
Snegirjow) und 1 in der 11. Gruppe (No. 2 P£an\
mitgezählt sind, so kommen nur 42 Beobachtungen hier
zur statistischen Verwertung : auf diese 42 Fälle wurden
9 mal männliches Scheinzwittertum bei Mädchen und
5 mal weibliches Scheinzwittertum bei Männern konsta-
.Ubrbuch V. 26
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— 402 —
tiert, also im ganzen 14 mal eine erreur de sexe, 11 mal
blieb das Geschlecht fraglich.
8 mal konstatierte man einen mehr oder weniger ent-
wickelten Uterus samt Tuben event. Ligamenten bei
männlichen Scheinzwittern. 1 mal einen Harnstein in
utriculo masculino (Fall Kapsammer).
32nial fand sich Coincidenz des Scheinzwitter-
tums mit gut- oder bösartigen Neubildungen:
Fall 1 (A bei): Sarkomatoese Cryptorchis sinistra [rechter-
seits Hoden und Nebenhoden im LeistenkanalJ bei einem
33jähr. Mädchen.
Fall 2 (Au da in): 2 Ovarialdermoide bei einem weib-
lichen Scheinzwitter.
Fall 5 (Beck): 2 Teratome der Hoden bei einem bis zum 19.
Jahre als Mädchen erzogenen männlichen Scheinzwitter.
Fall 7 (Chevreuil): Multilokularer Ovarialtumor (?) bei
einem Scheinzwitter.
Fall 10 (v. Engelhardt): Carcinoma uteri eines 59jähr.
als Mann verheirateten weiblichen Scheinzwitters.
Fall 11 (Fehling): Myxosarcoma eines Ovarium bei
einem 26jähr. Scheinzwitter.
Fall 12 (Grub er): Carcinom eines Hodens bei beider-
seitigem Kryptorchismu8 eines 22jähr. als Mädchen
erzogenen männlichen Scheinzwitters.
Fall 13 (Gunckel): Myomatosis uteri bei einem 50 jähr.
weiblichen Scheinzwitter, der irrtümlich früher für
einen Mann erklärt worden war.
Fall 14 (Hall): Carcinoma ovarii unius eines 17jähr.
weiblichen Scheinzwitters.
Fall 15 (Hansemann): Carcinom der Harnblase eines
82jähr. männlichen Scheinzwitter, der als Frau verheiratet
gewesen war.
Fall IG (Howitz): Myomatosis uteri bei fraglichem
Geschlecht.
Fall 19 (Krabbel): Cystosarcom eines Ovarium, später
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— 403 —
ein neues Gewächs: Teratom — bei einem als Mann
erzogenen weiblichen Scheinzwitter.
Fall 20 (Krug): 2 Ovarialsarkome bei einem ltyähr.
weiblichen Scheinzwitter.
Fall 21 (Lesser): Alveolarsarkom (des Uterus?) eines
25jähr. als Mädchen erzogenen Scheinzwitters. Geschlecht
fraglich.
Fall 22 (Levy): Unterleibstumor fraglicher Natur bei
einem lbjähr. als Mädchen erzogenen Scheinzwitter
fraglichen Geschlechts.
Fall 23 (E. Levy — v. S ä x i n g e r) : Maligne Degeneration
der in der Bauchhöhle liegenden Geschlechtsdrüsen
eines 20jähr. als Mädchen erzogenen Scheinzwitters von
fraglichem Geschlecht.
Fall 24 (Liebmann): Inguinolabialtumor fraglicher
Natur [cystisch?] bei einem 45jähr. als Frau verheirateten
Scheinzwitter fraglichen Geschlechts.
Fall 25 (Litten): Myxosarkom des rechten Ovarium
eines lbjähr. weiblichen Scheinzwitters.
Fall 2ö (Merkel): Carcinoma recti eines 63jähr. männ-
lichen Scheinzwitters.
Fall 27 (Mies): Unterlippenkrebs eines 66jähr. als
Mädchen erzogenen männlichen Scheinzwitters.
Fall 28 (Neugebauer) : Carcinoma ovarii unius et uteri
eines 56jähr. weiblichen Scheinzwitters.
Fall 29 (Neugebauer): Sarkom einer Geschlechtsdrüse
bei einer verheirateten Frau, wahrscheinlich Sarkoma
cryptorchidis.
Fall 30 (Obolonsky): Sarkom des rechten Hodens eines
56jähr. als Mädchen erzogenen männlichen Scheinzwitters.
Kryptorchismus bi lateralis.
Fall 32 (Pfannenstiel): Fibromyoma uteri eines 55-jäh-
rigen als Mädchen erzogenen Scheinzwitters von frag-
lichem Geschlecht.
Fall 34 (Pr im rose): Sarkom eines Hodens eines 25-jäh-
26*
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1
— 404 —
rigen männlichen Scheinzwitters bei Kryptorchismus
bilateralis.
Fall 3t> v. (Sälen): Fibroruyoma uteri eines 43-jähr. als
Mädchen erzogenen Scheinzwitters, angeblich ein Ova-
rium links gefunden, rechts eine Ovotestis.
Fall 38 (Sorel u. Ch(?rot): Carcinom des Blinddarms
eines 36-jährigen als Mädchen erzogenen Scheinzwitters,
von fraglichem Geschlecht
Fall 39 (Stimsou): Sarkom des linken Hodens eines
4oj ährigen männlichenScheinzwitters. Cryptorchissiuistra.
Fall 40 (Stroebe): Carcinoma oesophagi eines 63-jähr
männlichen Sch ei uz wittere., beiderseits Cryptorchismus.
Fall 41 (Unterberge r): Sarkom eines Ovarium eines
14-jährigen als Mädchen erzogenen Scheinzwitters vou
fraglichem Geschlecht.
Fall 44 (Zahorski): Sarkom einer Geschlechtsdrüse in
der Bauchhöhle belegen bei einem 25jähr. als Mädchen
erzogenen Scheinzwitter fraglichen Geschlechts.
Fall 45 (Pozzi): Ovarialtumor bei einem als Mann ver-
heirateten weiblichen Scheinzwitter.
Auf diese 32 Fälle kommen:
Carcinom des Ovarium: Fall 14, 28
des Hodens: Fall 12,
des Uterus: Fall 10, Fall 28,
des Rectum : Fall 2t),
der Harnblase: Fall 15,
des Blinddarms: Fall 38,
des Oesophagus: Fall 40,
der Unterlippe: Fall 27,
Sarkom eines Ovarium: Fall 11, 19, 20, 25,
einer Cryptorchis: Fall 1, 30, 34, 39,
des Uterus: Fall 21.
Maligne Degeneration fraglicher Geschlechts-
drüsen: Fall 23, 29, 41, 42.
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— 405 —
Dermoide der Ovarien: Fall 2.
Teratome der Hoden: Fall 5.
Multilokulare Cysten einer fraglichen Ge-
schlechtsdrüse: Fall 7.
Myomatosis uteri: Fall 13, 16, 31, 30.
Tumoren fraglicher Natur: Fall 22, Fall 24.
Welcher Art Operationen wurden in diesen
45 Fällen vollzogen?
Nephrolithotomie: Fall 8.
Pyosalpinxoperation mit Bauchschnitt bei einem Manne:
Fall 31.
Harnsteinoperation: Fall 18.
Bauchschnitt wegen Darmocclusion: Fall 43.
Bauchschnitt wegen Appendicitis: Fall 3, 4 — in einem
dritten und 4. Falle von Appendicitis (Fall 35 u. 42)
wurde nicht operiert.
Diagnostischer Bauchschnitt hei zweifelhaftem Geschlecht:
im Falle 9 mit Entfernung des Hoden, im Falle 33
der Ovarien, Konservativ: Fall 37, Fall 6, 17.
Amputation des myomatösen Uterus: Fall 16, 32, 36.
Bauchschnitt bei Carcinom des Blinddarmes: Fall 38.
Bauchschnitt mit Exstirpation von Ovarialtumoren: Fall
2, 11, 14, 19, 20, 45.
Bauchschnitt mit Exstirpation von Hodentumoren bei
Kryptorchismus: Fall 5, 29, 34, 39.
Bauchschnitt mit Exstirpation von Tumoren fraglicher
Geschlechtsdrüsen: Fall 23, 29, 41.
Paracentese von Bauchhöhlentumoren durch die Bauch-
wand: Fall 11, 44.
Paracentese einer als Haematometra angesprochenen
Cryptorchis sinistra per vaginam: Fall 1.
Entleerung einer Hydrocele durch Paracentese: Fall 34.
Auf diese 45 Beobachtungen kommen 26 Fälle, wo
nicht operiert wurde, sondern das Scheinzwittertum nur
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- 406 —
a) klinisch oder b) sub nekropsia koustatiert wurde,
a: Fall 22, 24, 27, 28, 35, = 5 mal.
b: Fall 7, 10, 12, 13, 15, 21, 25, 26, 30, 40, 42, =
11 mal.
Scheinzwitter wurde sub nekropsia nach tötlich ver-
laufener Operation konstatiert:
Fall 1, 3, 5, 8, 10, 23, 34, 38, 43, 44 = 10 mal.
Fünfte Gruppe:
Auf die hierher gehörigen 23 Einzelbeobachtungen
kommen:
Verlangte aber abgeschlagene Amputation der angeblichen
hypertrophischen Clitoris: Fall 2, 7, 9, 12, 14.
Ausgeführte Amputation der hypertrophischen Clitoris:
Fall 4 und 11.
Ausgeführte Amputation des irrtümlich für eine hypertro-
phische Clitoris angesehenen hypospadischen Penis:
Fall 6, 17 (?) 22.
Es kommen auf diese Gruppe 8 Fälle von konstatierter
„erreur de sexe" Fall 5, 6, 7, 8, 9 (?), 12, 14, 17,
Fraglich blieb das Geschlecht: Fall 2, 13, 18, 23.
Männliches Scheinzwittertum im Fall: 5, 6, 7, 8, 9, 12,
14, 17, 22.
Weibliches Scheinzwittertum im Fall: 3, 4, 10, 11, 15,
16, 19, 20, 21.
Eine Discision einer Schamlefzenverwachsung bei weib-
lichen Scheinzwittern wurde vorgeschlagen Fall 16, aus-
geführt in Fall 10, 11, 15, 20, 21. Dieselbe Operation
wurde einem männlichen Scheinzwitter vorgeschlagen:
Fall 17.
Im Falle 2 wurde angeblich ein Hämntokolpometradureh
Einschnitt vom Damme aus entleert.
Einmal wurde wegen Atresia ani bei einem Neonaten
operiert mit tötlichem Ausgange: Fall 3, einmal mit
gutem Ausgange, Fall 23.
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— 407 —
Einmal wurde ein Hysteroekpetasis gemacht bei frag-
lichem Geschlecht: Fall 18.
Einmal vergeblicher Versuch zwischen Urethral- und Anal-
mündung eine Vagina zu schaffen: Fall 19.
Sechste Gruppe.
Bezüglich der in der VI. Gruppe erwähnten plasti-
schen Hypospadieoperationen an männlichen Schein-
zwittern ist zu bemerken, daß eine „erreurde sexe" vorlag
in den Fällen von Beck, Brand, Castellana, Felizet,
Garr£, Krajewski, Malthe, Villemin.
Zum Schluß bleibt noch| Folgendes zu bemerken:
1. Die gesamte Kasuistik dieser Arbeit von
137 Beobachtungen erstreckt sich, da einzelne
Beobachtungen in mehreren Gruppen figurieren,
auf 118 Scheinzwitter, wovon
männlichen Geschlechts : 79,
weiblichen Geschlechts: 23,
fraglichen Geschlechts: 16.
Auf diese 118 Scheinzwitter kommen 53 irrtümliche
Geschlechtsbestimmungen, darunter merkwürdigerweise
2 Fälle, wo das Geschlecht bei der Taufe des Kindes
richtig als weiblich angegeben war, später aber irrtümlich
für männlich erklärt worden war (Fälle von Po" an
und von Gunc kel).
2. Sind die zur Nekropsie gelangten Fälle zu
vermerken :
a) Todesfälle nach vorausgegangener Operation : aus
Gruppe III; Fall 1 (Billroth) Verblutungstod nach
Herniotomie, Fall 12 (Thiersch) Tod nach
Herniotomie an Peritonitis, Fall 13 (Winckler) Tod
nach ßauchsehnitt an Peritonitis. Aus Gruppe IV:
Fall 1 (Abel) Tod an Peritonitis nach vaginaler
Paracentese einer Kryptorchis sinistra sarcomatosa«
Fall 3 { Bacaloglu und Fossard) Tod an Peritonitis
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— 408 —
nach Appendicitis-Bauchschnitt, Fall 5 (Beck) Tod
infolge von Pneumonie 3 Wochen nach Bauchschnitt
Fall 8 (Clark) Tod nach Nephrolithotomie, Fall 16
(Howitz) Tod an Peritonitis nach Bauchschnitt
Fall 23 (Levy — v. Saexinger) Tod an Peritonitis
nach Bauchschnitt ohne Entfernung des Tumors,
Fall 34 (Primrose) Tod an Peritonitis nach Bauch-
schnitt bei Hodensarkom, Fall 36 (E. v. Sal£n) Tod
an Peritonitis nach Amputation eines myomatösen
Uterus, Fall 38 (E. Sorel und Ch^rot) Tod nach
explorativem Bauchschnitt bei Blinddarmcarcinom.
Aus Gruppe V: Fall 3 (Mc. Arthur) Tod nach
Operation wegen Atresia ani.
b) 14 Todesfälle ohne vorausgegangene chirurgische
Eingriffe :
Gruppe 1 Fall 21. (Pech) Tod infolge Einklemmung
des rechtsseitigen Leistenbruchs, dessen operative
Beseitigung verweigert worden war.
Gruppe IV Fall 7 (Chevreuil) Tod infolge eines
Ovarial- resp. Hodentumors. Fall 10 (v.Engelhardt)
Tod infolge von Uteruscarcinom. Fall 12 (Gruber)
Tod infolge eines Hodencarcinoms. Fall 13 (Gun-
ckel) Tod aus unbekannter Ursache. Fall 15
(Hanseraann) Tod infolge von Blasenkrebs. Fall
21 (Lesser) Tod infolge von Blutung in der Bauch-
höhle nach spontaner Ruptur eines Tumors. Fall 25
(Litten) Tod infolge Myxosarcoma ovarii unius. Fall
26 (Merkel) Tod infolge Carcinoma recti. Fall 30
(Obolonski) Tod infolge eines Hodensarkoms.
Fall 30 (Ströhe) Tod infolge eines Carcinoma
oesophagi. Fall 41 (West ermann) Tod infolge
von Appendicitis ulcerosa. Fall 44 (Zahorski) Tod
infolge von Kachexie bei Sarkom einer Geschlechts-
drüse.
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— 409 —
Gruppe V. Fall 2 (Arnaud) Tod aus unbekannter
Ursache.
Indem ich mir vorbehalte, in nächster Zukunft das hier
zusammengestellte kasuistische Material auch in Beziehung
auf andere als chirurgische Beziehungen zu sichten, schließe
ich diese heutige Arbeit, die hoffentlich dazu beitragen
wird, dem Gebiete des Scheinzwittertums auch in weiteren
Arztekreisen ein regeres Interesse zu widmen. Wenn
wir auch in den wenigsten Fällen dem physischen Ge-
brechen Abhilfe schaffen können, so können wir doch viel
dazu beitragen, diese unglücklichen Existenzen, die Schein-
zwitter vor den psychischen Leiden und Qualen zu be-
wahren, die aus einer irrtümlichen Geschlechtsbestimmung
erwachsen !
An sämtliche Fachgenossen richte ich die Bitte, jede
neuere zu ihrer Kenntnis gelangende Beobachtung von
Scheinzwittertum möglichst eingehend beschrieben, mir
übermitteln zu wollen, womöglich mit Photogrammen
und Berücksichtigung aller in Frage kommenden Einzel-
heiten.
Dr. med. Franz Neugebauer.
Warschau, Leszno 33, am 3. Februar 1903.
Inhaltsübersicht.
Erste Gruppe.
38 Leistenschnitte bei Mädchen, bez. Frauen mit Konstatierung
männlichen Geschlechtes.
1. Fall von Alexander: Klara D., 16 jährig, im 13. Jahre links-
seitige Herniotomie durch Erasmus , im 16. Jahre rechtsseitige
durch Hahn: Beiderseits Hoden und Nebenhoden abgetragen.
Vagina vorhanden ohne Uterus, Gonorrhoe, Beischlaf mit
Männern.
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— 410 —
2. Fall von Avery: Einseitige Herniotoraie der 24jährigen Ann y
C: Hoden entfernt. Vagina vorhanden ohne Uterus.
8. Fall von Brycholow: Beiderseitige Herniotoinie bei der 14-
jährigen Marie X.
4. Fall von Brjuchanow: Beiderseitige Herniotoinie bei einem
14jährigen Mädchen: beide Hoden entfernt.
5. Fall von Buchanan: Beiderseitige Herniotomie bei einem
9jährigen Mädchen: beide Hoden entfernt. Vagina von nor-
maler Länge vorhanden ohne Uterus. B. vermutete richtig eine
erreur de sexe wegen vorhandenen Cremasterrcflexes an den
.Schamlefzen.
6. Fall von Chambers: Beiderseitige Herniotoraie bei einer 24-
jährigen Frau: beide Hoden entfernt Vagina vorhanden, ohne
Uterus.
7. Fall von Clark: Beiderseitige Herniotomie bei einer 42jährigen
Witwe: beide Hoden entfernt. Beischlaf mit dem Gatten.
Vagina vorhanden ohne Uterus.
8. Fall von Green: Konstatierung der errettr de sexe bei
einem 24jährigen Dienstmädchen. Kastration auf das aus-
drückliche Verlangen des .Scheinzwitters hin.
9. Fall von Griffith; Beiderseitige Horniotomie bei einem 23-
jährigen Mädchen: beide Hoden entfernt. Uterus und Vagina
vorhanden.
10. Fall von Groß: Doppelseitige Herniotomie bei einem 3jährigen
Mädchen: beide Hoden entlernt.
11. Fall vou Hallopeau: Konstatierung der erreur de sexebei
einem Mädchen nach Exstirpation eines Hodens. Auf das
ausdrückliche Verlangen der Person hin wurde auch der an-
dere Hoden entfernt. Vagina vorhanden ohne Uterus.
12. Fall von Ho tick: Bei einem 28jährigen Dienstmädchen rechts-
seitiger Leistenbruch: Netz als Inhalt vermutet — Hoden und
Nebenhoden entfernt. Später auch der linke Hoden entfernt.
Vagina vorhanden ohne Uterus. Beischlaf mit Männern ohne
Libido.
13. Fall von Jablonski: Bei der 28 jähr. Anna Luise E. kon-
statierte J. die Gegenwart eines Hodens und schließt daraus,
daß auch die sub herniotouiia 8 Jahre zuvor in hemia vorge-
fundene Geschlechtsdrüse, für ein ektopisches Ovarium damals
angesehen, ein Hoden gewesen sei.
14. Fall von Dixon Jones: Beiderseitige Herniotoinie bei der
21 jähr. Emma E. und diagnostischer Bauchsehnitt: beide Ho-
den entfernt. Vagina vorhanden ohne Uterus.
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— 411 —
15. Fall von Kociatkiewicz- Neugebauer: Beiderseitige Her-
niotomie bei der 21jährigen verlobten Josephine K., beide
Hoden durch Kociatkiewicz entfernt Vagina vorhanden
ohne Uterus. Nach der Kastration starke Obesität und Me-
lancholie.
IG. Fall von Lannelongue: Einseitige Herniotomie bei einem
jungen Mädchen: (Notzinhalt) Unterhalb des Bruches eine
Cyste in der Schamlefze und darüber ein Hoden, der entfernt
wurde. Vagina vorhanden ohne Uterus.
17. Fall von Levy: Bei der 19jährigen Näherin Chr. L. vermutete
Doederlein Hoden als Bruchinhalt. Beiderseitige Herniotomie:
beide Hoden entfernt. Vagina vorhanden ohne Uterus.
18. Fall von A. Martin: Bei einer 38jährigen, seit 10 Jahren ver-
heirateten Frau entfernte Martin sub diagnosi einer beider-
seitigen Ovarialektopie beide Hoden. Erst das Mikroskop
klärte den Irrtum auf. Vagina vorhanden ohne Uterus.
19. Fall von A. Martin: Beiderseitige Herniotomie bei einem 19-
jährigen Hausmädchen Martha W.: beide Hoden entfernt.
Vagina vorhanden ohne Uterus.
20. Fall von Chr. Martin: Bei einem 20 jähr. Kindermädchen
hatte man vor einem Jahre sub herniotomia rechterseits ein fUr
ein ektopisches Ovariura gehaltenes Gebilde in die Bauchhöhle
geschoben. Jetzt Herniotomie links, ein Hoden entfernt. Scheide
vorhanden ohne Uterus.
— Fall von Munde: In der Vermutung einer erreur de sexe
schlug M. der 46jähr. Köchin Marie O'Neill den beiderseitigen
Leistenschnitt vor, es kam jedoch nicht zur Operation. Vagina
vorhanden, ohne Uterus.
21. Fall von Pech: Linksseitige Herniotomie bei der 32jährigen
Marie Rosine, dem späteren Gottlieb Goettlich: der
Bruch enthielt weder Darm noch Netz sondern eine Hydroeele
und einen Hoden. Im 69. Jahre Tod infolge Einklemmung
eines rechtsseitigen Leistenbruches. Rosine huldigte der freien
Liebe, erkrankte zuerst an einem Ulcus molle, später an
Syphilis. Sie kohabitierte mit Frauen und mit Männern, mit
letzteren lieber. Die diktierte Urethra vertrat die angeblich
mangelnde Vagina.
22. Fall von Philippi: Bei einem 28 jährigen Mädchen erst rechts-
seitige, nach einigen Monaten linksseitige Herniotomie: beide
Hoden entfernt. Vagina vorhanden ohne Uterus.
23. Fall von Poore: P. entfernte bei einem 12jähr. Mädchen eine
angebliche entzündete Drllse durch Leistenschnitt, 7 Jahre
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— 412 —
später erhärtete das Mikroskop, daU diese Drüsen ein Hode war.
Vagina vorhanden, ohne Uterus.
21. Fall von Porro: bei einem 22 jähr. Mädchen vermutete P. eine
erreur de sexe, legte durch diagnostischen Einschnitt beide
Drüsen bloü, konstatierte Hoden, die er nicht exstierpierte.
2"». Fall von Pozzi: Bei einem 32jährigen Stubenmädchen Marie
C. diagnosticierte Po y rot einen beiderseitigen Leistenbruch
mit Diagnose einer Ektopio der beiderseitigen Uterusadnexa
bei fehlendem Uterus. Beiderseitige Herniotomie: Linkerseits
eine Cyste, ftir Hydrosalpinx angesehen, ein Gebilde für ein
ektopisches Ovarium angesehen und ein Körperchen für einen
rudimentären Uterus angesehen. Cyste reseciert, Uterus und
Ovarium in die Bauchhöhle gestoßen. Rechterseits 2 nicht
reponible Gebilde abgeschnitten, eine Cyste und eine Drüse,
für das rechte Ovarium angesehen. Nach 1 Jahr Bruchrecidiv
linkerseits. Jetzt operierte Pozzi und entfernte den Bruch-
inhalt: 2 Gebilde: den linksseitigen Hoden und das linke Horn
eines Uterus bicornis. Das Mikroskop wies nach, daü auch die
rechtsseitige von Peyrot entfernte Geschlechtsdrüse ein Hoden
war. Vagina und Uterus vorhanden. Nach der ersten Operation
erwachte der Geschlechtstrieb und zwar ein weiblicher, gleich-
zeitig stellte sich Melancholie ein, die nach der zweiten Operation
noch znnahm. Hymen eingerissen bei einer Stupration im 8.
Lebensjahre.
26. Fall von M. Saenger: Beiderseitige Herniotomie bei einem
23 jähr. Dienstmädchen sub diagnosi : Ovarialhernie. Rechter-
seits Hoden und Nebenhoden entfernt, im linksseitigen Bruchsack
ein Blasendivertikel. Scheide vorhanden ohne Uterus.
27. Fall von M. Saenger: Bei einer 32 jähr. Lehrerin vermutete
S. bei linksseitigem Leistenbruch eine „erreur de sexeu, Hoden
mit Hydrocele, fand aber bei der Herniotomie einen Uterus
samt Tube, eine Parovarialcyste und eine Geschlechtsdrüse,
die er jetzt makroskopisch für ein Ovarium ansprach. Das
Mikroskop erwies einen Hoden. Bruchinhalt entfernt mit
Uterusamputation. Uterus und Vagina vorhanden.
28. Fall von Shattock: Beiderseitige Herniotomie bei einem
12jährigen Scheinzwitter: Beide atrophischen Hoden entfernt.
Nach der Kastration starke Obesität.
29. Fall von Snegirjow: Bei einer 2öjähr. verheirateten Köchin
beiderseitige Herniotomie : beide Hoden entfernt. Vagina vor-
handen ohne Uterus. Beischlaf mit dem Gatten anfangs cum
libidine, später perhorreseiert.
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— 413 —
30. Fall von Snegirjow: Beiderseitige Herniotoinie bei einem
Mädohen: beide Hoden entfernt. Diagnostischer Bauchschnitt
hinzugefügt.
Hl. Fall von Solowij: Beiderseitige Herniotoinie bei einem 21-
jährigen Mädchen bei Diagnose: Ovarialhernien. Beide Hoden
ontfernt. Vagina vorhanden ohne Uterus.
32. Fall von S ton harn: Tod eines Mädchens nach Horniotomie.
In der Bauchhöhle neben Hoden ein Utorus bicornis mit 2
Tuben gefuuden, Vagina existierte.
— Fall von Stratz: S. vermutete eine erreur de sexe bei
Nainbrok Sadinah und schlug einen diagnostischen Leisten-
(resp. Labial-) einschnitt vor, Operation vorweigert.
33. Fall von Swioncioki: Labialtumor linkerseits bei einem 23-
jährigen Bauernmädchen: Hydrocele, Punktion, Entleerung,
Hoden, Nebenhoden und Samenstrang getastet, gleiche Gebilde
in der rechten Schamlefze. Gescbleohtsdrang männlich, schon
im 16. Jahre. Beischlaf mit einem Mädchen versucht. Vagina V
31. Fall von Tillaux: Bei einem 12jährigen Mädchen beider-
seitiger Leistenbruch: T. sollte ein Bruchband anlegen, ver-
mutete erreur de sexe. Diagnostischer Labialschnitt. Hoden
3ö. Fall von Turner: Bei einem 14jährigen Mädchen linksseitige
Uvarialhernie diognosticiert, Bruchband nicht vertragen, Her-
niotomie mit Entfernung eines Hodens. Vagina vorhanden
ohne Uterus, noch keinerlei Geschlechtstrieb.
3G. Fall von Wegradt: Beiderseitige Herniotomie bei einem
Mädchen: rechterseite ein Hoden entfernt, linkerseits ein Fi-
bn. :idenom.
37. Fall von Will: Beiderseitige Herniotomie bei einem 51jährigen
Mädchen Kristine W.: beide fibrös entarteten Hoden ent-
fernt. Vagina vorhanden ohne Uterus. Geschlechtsdrang
männlich, aber K. S. hatte niemals einen Beischlaf mit einem
Weibe versucht, sondern stets nur mit Männern unter Benutzung
der dadurch stark dilatierten Urethra, obgleich eine Vagina vor-
handen war.
3S. Fall von v. Winckel: (?) Beiderseitige Herniotomie bei einem
Mädchen. Entfernung beider Hoden.
Zweite Gruppe:
Vier Leistenschnitte bei weiblichen Scheinzwittern, von
denen 2 als Männer erzogen waren.
1. Fall von Brohl: Bei einer SGjährigen Dame linksseitige Her-
niotomie: Uterus und beide Ovarien im Bruchsaeke. L'terus-
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— 414 —
amputation und Kastration. Uterus bicornis. Clitoris 6,5 cm,
sub erectione 11 cm lang. Seit dem 18. Jahre normale Men-
struation.
2. Fall von Pean: Ein löjähr. Mädchen wurde für einen Knaben
erklärt mit Kryptorchismus. Beiderseits Leistenschnitt, um die
Hoden aufzusuchen. Bei späterem diagnostischen Bauchschnitt
Uterus und Ovarien konstatiert. Kastration. Mangel der Vagina.
Clitoris erectil. Männlicher Stimmbruch. Keine Menstruation.
.'5. Fall von Sujetinow: Herniotomie rechterseits wegen einge-
klemmten Leistenbruches bei einer 4öjähr. Frau. Vagina blind-
sackförmig geschlossen, in hernia Uterus, eine Tube und
Ovarium. Clitoris h cm lang. Nur 2 Jahre lang Menstruation
und sehr unregelmäßig. ( '{ V V)
1. Fall von Walther: Beiderseitige Herniotomie bei einem 21-
jährigen Sattler: rechtsseits Tube und atrophisches Ovarium in
die Bauchhöhle reponiert, linkerseits Sactosalpinx, seierotisches
Ovarium und ein Stück Netz abgetragen. Clitoris stark hyper-
trophisch, erectil, starker rein männlicher Geschlechtsdrang mit
angeblicher Ejakulation sub erectione. Bis jetzt bat der
Sattler, der sich flir einen Mann hält, noch keinen Beischlaf
als Mann versucht, weil sein Glied, das wie ein hypospadischer
Penis aussieht, hakenförmig nach abwärts gekrümmt ist. W.
fUgte einen Bauchschnitt hinzu, um die Netzstiimpfe zu kon-
trollieren und fand einen kleinen Uterus. Vagina mündet
wahrscheinlich in die Urethra. Seit dein 16. Jahre alle Monate
2 — 9 Tage lang Blutungen aus der Harnröhre.
Dritte Gruppe:
13 Leistenschnitte bei Männern, bez. männlichen Schein-
zwittern mit Konstatierung eines mehr oder weniger ent-
wickelten Uterus unl- oder bicornis, einer oder beider
Tuben in hernia bez. in der Bauchhöhle.
1. Fall von Billroth: Rechtsseitige Herniotomie bei einem 24-
jährigen Hypospaden. Tod infolge von Verblutung nach Ab-
gleiten einer Ligatur. Das sub herniotomia resezierte Ge-
bilde erwies sich als ein amputierter Uterus mit Tube.
Vagina mündete in die Urethra. In der linken Schamlefze
Hoden und Nebenhoden. Vom 16. Jahre an periodische Blu-
tungen ex Urethra und aus einer Fistel der rechten Schamlefze
ex utero ectopico. Obwohl der Geschlechtsdrang männlich, hatte
dieser Mann mit Knaben und Mädchen kobabitiert.
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— 415 —
2. Fall von Boecke!: In einer Leistenhernie bei einem Manne
sub operaüone ein Uterus bicornis mit einer Tube, eiu Hoden
und ein Nebenhoden gefunden.
X. Fall von Carle: Linksseitige Herniotomie bei einem 30jährigen
Telegraphisten. In hernia ein Uterus bicornis mit Tuben neben
Hoden (Toratom V) und Nebenhoden, die Organe wurden abgetragen.
Der Mann übte den Beischlaf mit seiner Gattin aus, aber die
Ehe war kinderlos. Bei der Operation wurde vom Leisteukanal
aus die Bauchhöhle eröffnet.
I. Fall von Derveau: Herniotomie bei einem 09jähr. Manne,
Vater von 6 Kindern trotz Kryptorchismus. In hernia Uterus
mit Tuben und oberer Anteil der Vagina, die wahrscheinlich
in urethraro mündete.
Fall von Fantino: Rechtsseitige Herniotomie bei einem Manne
mit Entfernung eines Uterus mit 2 Tuben und beider Hoden.
Linke Hodensackhälfte leer.
t>. Fall Fillippini: Rechtsseitige Herniotomie bei einem '23 jähr.
Manne: Uterus, Tube und angeblieh ein Ovarium ex hernia
entfernt, in der linken Scrotalhälfte ein Hoden.
7. Fall von Griffith: siehe Gruppe I No. 9: Uterus entdeckt
nach beiderseitiger Herniotomie mit Entfernung beider Hoden
bei einem 23 jähr. Mädchen.
8. Fall von Guldenarm: Linksseitige Herniotomie bei einem
Manne mit rechtsseitigem Kryptorchismus. Ex hernia ein Uterus
bicornis, Hoden und Nebenhoden entfernt. Vagina mündete
im urethral».
i). Fall von Pozzi: siehe Gruppe I Fall 25: Uterushorn in hernia
neben Hoden.
10. Fall von Sa eng er: siehe Gruppe I Fall 27: Uterus mit einer
Tube und Parovarialcyste in hernia neben dem Hoden.
11. Fall von Stonham: siehe Gruppe I Fall 32: Uterus neben
Hoden.
12. Fall von Thierseh. Bei einem 22jährigen Hypospaden links-
seitiger Leistenschnitt mit unbewußter Amputation der linken
Tube. Tod an Peritonitis: Uterus bicornis, Vagina mündet in
urethram. Kryptorchismus unilateralis.
i
13. Fall von Winkler: Herniotomie rechterseits. Später Bruch-
recidiv, Bauchschnitt, im 25. Jahre Tod an Peritonitis. Uterus
bicornis mit Tuben und Vagina, linke Tube im Leistenkanal,
beide Hoden in der Bauchhöhle, Vagina mündet in urethram.
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— 416 —
Anhang: Fall von Garre: angeblieh Hoden und Ovarium in
einer Leistenhernie gefunden bei einein als Mann erzogenen
Individuum.
Vierte Gruppe:
45 Einzelbeobachtungen betreffend 32 Fälle von Coincidenz
gut oder bösartiger Neubildungen vorherrschend der Ge-
schlechtsorgane mit Scheinzwittertum, 29 an Scheinzwittern
vollzogene Bauchschnitte, 1 Nephrolithotomie, 1 Stein-
operation bei Sitz des Steines in utriculo masculino. Auf
diese 45 Beobachtungen kommen nicht weniger als 20 Fälle
von erreur de sexe, 9 mal blieb das Geschlecht fraglich,
darunter 5 mal trotz vollzogenen Bauchschnittes, ein einziges
mal sollen Hoden- und Ovarialgewebe gleichzeitig
vorgelegen haben in einer Geschlechtsdrüse (?) (Fall
von v. Sälen).
1. Fall von Abel: Tod der 33 jährigen Albertine R. an
Peritonitis nach vaginaler Paracentese einer vermeintlichen
Haemtometra, die sich sub necropsia ala sarkomatbse Cryptorchis
sinistra erwies. Vagina vorhanden, man glaubte eine rudi-
mentäre Portio vaginalis uteri im Scheidengrunde zu tasten.
Krre ur de sexe.
2. Fall von Audain: 2 ovarielle Dermoide bei einem weib-
lichen Scheinzwitter entfernt. Bedeutende Clitorishypertrophie.
3. Fall von Bacaloglu und Fossard: Bauchschnitt bei der
31 jähr. A. Lefran^ois mit tütlichem Ausgange. Glitoris 8
Centimeter lang, 5 Oentimeter dick, Vaginalostium fehlte infolge
Verwachsung der Schamlefzen miteinander. Weibliches Schein-
zwittertum.
4. Fall von Bazy: Gelegentlich einer Operation wegen Appen-
dicitis bei einem 2tijähr. Fräulein männliches Geschlecht mit
Hypospadiasis peniscrotalis konstatiert. Keinerlei Geschlechts-
trieb bisher ausgesprochen. Erreur de sexe.
6. Fall von BcjI;: Bauchsehnitt bei einem 21 jähr. Manne der
bis zum 19. Jahre als Mädchen gegolten hatte. (Syphilis
acquiriert). Vagina vorhanden, collum uteri getastet. 2 Teratome
der Geschlechtsdrüsen, angeblich Ovarien, wahrscheinlich Hoden
entfernt." Tod am 18. Tage an Pneumonie. Sub coitn Ejaku-
lation ans 2 seitlich vom „Infundibulura" belegenen Oeffnungen.
Hvpospadiaais peniserotalis, Hymen eingerissen.
<5. Fall von Carle: sub herniotomia Bauchhöhle zu diagnostischen
Zwecken eröffnet (siehe: Gruppe III, Fall No. 3).
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417
7. Fall von C he v reu iL Sanduhrförniiger angeblicher Ovarial-
tumor sub necropsia der Anna Bergault entdeckt, teils in
der Bauchhöhle belegen, teils durch einen Leistenring in eine
Schainlefze hineingetrieben. Clitorishypertrophie. (Geschlecht
fraglich).
8. Fall von Clark: Die Nekropsie einer Frau nach Nephrolitho-
tomie wies eine Erreur de sexe nach, ein Hoden in scroto
fisso, der andere im Leistenkanal.
9. Fall von Delageniere: Bauchschnitt bei einem Mädchen um
die blind endende Vagina mit dein Uterus zu vernähen. Kein
Uterus gefunden, aber 2 atrophische Hoden in der Bauchhöhle.
Erreur de sexe.
10. Fall von Engelhardt: Als Todesursache des 59 jährigen
Witwers Karl Menniken wurde Carcinoma uteri subnecropsia
gefunden, üvarium vorbanden. Vagina mündete in Urethra.
Clitoris hypertrophisch, von der Harnröhre durchbohrt. Erreur
de sexe. Der Mann hatte in seiner Ehe mit der Gattin zu
deren Zufriedenheit kohabitiert, obgleich er selbst ein verkanntes
Weib war.
11. Fall von Fehling. Bei einem 21 jähr. Mädchen erst Fehl-
diagnose einer Haematometra, nach vergeblicher Paracentese
Diagnose richtig aul Tumor eines Ovarium gestellt bei inguino-
labialer Ektopie des anderen. Myxosarcom des linken Üvariums
durch Bauehschnitt entfernt, rechtes Ovarium und Tube in die
Bauchhöhle hineingezogen. Clitoris hypertrophisch und erectil.
12. Fall von Gruber: 22jähr. Mädchen an Carcinora einer Ge-
schlechtsdrüse verstorben. Vagina und Uterus vorhanden, die
andere Geschlechtsdrüse ein Hoden. Erreur de sexe,
Kryptorchismus.
Vi. Fall von Gunkel. Ein Mädchen mit männlichem Geschlechts-
trieb wegen Incest angeklagt wird nach Untersuchung für einen
männlichen Scheinzwitter erklärt, erhält aber die Erlaubnis auch
lerner weibliche Kleider zu tragen. Im 50. Jahre Tod. Sektion
erweist Erreur de sexe. Ovarien, myomatöser Uterus
mit Tuben, Vagina mündet in capite gallinaginis urethrae.
Prostata vorhanden, Clitoris hypertrophisch, penisartig von der
Urethra durchbohrt bis an eine Stelle 2'/« Centimeter nach
rückwärts von der normalen männlichen Harnröhrenöffnung
belegen.
11. Fall von Hall: Carcinoma ovarii unius durch Bauchschnitt
entfernt bei einem 17 jähr, weiblichen Scheinzwitter. Clitoris
hypertrophisch.
Jahrl.uch V. 27
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•— 418 —
15. Fall von Hansemann: Die Sektion der 32jähr., lange Jahro
hindurch verhreiatet gewesenen Kristine Hoc kl leise Ii ,
verstorben an Blasenkrebs, ergibt eineErreur de sexe. Hypo-
spadiasis peniscrotalis mit Hoden und Nebenhoden jederseits in
scroto. Keine Vagina vorhanden, Urethra 10,5 Centinieter hing.
Hell den kleinen Finger in die Blase ein. Beischlaf als Frau.
Fall von Howitz: Sektion eines 49jährigen Mädchens nach
letal verlaufenem Bauchschnitte mit Amputation eines tibronia-
tösen Utems. Vagina vorhanden. Clitoris 0 Centinieter lang.
Die mandelgroüen Geschlechtsdrüsen von Chicwitz fllr rudi-
mentäre Ovarien gehalten. Beweis fehlt, Geschlecht fraglieh
trotz Mikroskop.
17. Fall von Dix on-J one s : Diagnostischer Bauchschnitt einer
beiderseitigen Herniotomie hinzugefügt bei Erreur de sexe
(siehe Gruppe I, Fall 14).
1H. Fall von Kaps am in er: Unicum! Nitze entfernte operativ
bei einem 30jährigen Manne einen Harnstein von 165 Gramm
aus dem Utrieulus masculinus. Pseudoherm. masculinus internus.
19. Fall von Krabbel: Bauchschnitt bei einem 32 jähr. Manne er-
gab einen Ovarialtumor, also Erreur de sexe. Clitoris
hypertrophisch, Vagina vorhanden, Uterus klein, das rechte
Ovarium normal. Linksseitiger Ovarialtumor ein multilokulaerea
Cystom. Nach l1/» Jahren zweiter Bauchschnitt mit Entfernung
eines Teratoms von sarkomatösem Bau.
20. Fall von Krug: Ovariotomie bei einem 19jährigen Mädchen.
Clitoris 2 Zoll lang, 2 Ovarialsarkome. Uterus und Vagina
rudimentär. Weibliches Scheinzwittertum.
21. Fall von Lesse r: Tod eines 25jährigen Mädchens durch Ver-
blutung infolge von Platzen eines Alveolarsarkoms, von Lesser
auf den Uterus bezogen. Sektion: Keine Ovarien gefunden,
Vagina vorhanden, Clitoris 5f5 ein lang. Geschlecht fraglich.
22. Fall von Levy: lojähriges Mädchen, Anna Schulze, mit
hypertrophischer erectiler Clitoris und Tumoren der Geschlechts-
drüsen. Geschlecht fraglich.
23. Fall von E. Levy: Bauchschnitt bei einem 20jährigen Mädchen
durch v. Saexinger. Tod nach unvollendeter, wegen Blutung
abgebrochener Operation. Clitoris 5,8 cm lang, erectil. Uterus
und Vagina vorhanden. Sektion ergab 2 Sarkome der Ge-
schlechtsdrüsen. Es war weder Hoden- noch Ovarialgewebe
gefunden worden. Geschlecht fraglich.
24. Fall von Liebmann: Elastischer Tumor in der linken Leiste
Huer 45jährigen Frau, die mit 25 Jahren einen Mjährigen Mann
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heiratete. Keine Spur von Uterus, Vagina, Ovarien zu ent-
decken. Geschlecht fraglich.
2o. Fall von Litten: Die lGjährige Klara Hacker wegen Bauch-
tuuiur aufgenommen, man .schwankte ob Mädchen oder Knabe.
Clitoris 5,ö, sub erectione 10 cra lang. Uterus und Vagina
vorhanden. Nach Paracentese Tumor für ovariell erklart, die
Gebilde in den Schamlefzen für Hoden entgegen Virchow,
der sie für ektopische Ovarien hielt. Nekropsie: Myxosarcom
den rechten Ovariums, linkes glattwandig klein. Die Gebilde
in den Schamlefzen ein Ilaemato- resp. Hydrocele processus
vaginalis peritonaei. Weibliches Scheinzwittertum.
26. Fall von Merkel: Sektion eines 63jährigen an Carcinoma rect.
verstorbenen Mannes ergab die Gegenwart eines Uterus und
einer Vagina. Normales Sperma, normaler Beischlaf mit der
Gattin.
27. Fall von Mies: Die 66jährige Else G. wegen Unterlippen-
krebs aufgenommen. Die Seltenheit dieser Krebslokalisation
bei Frauen sowie diverse männliche Erscheinungen erweckten
den Verdacht einer Erreur de sexe. Männlicher Schein-
zwitter mit Hypospadiasis peniscrotalis, Hoden und Nebenhoden
in scroto fisso, Prostata.
'28. Fall von F. Neugebauer: Carcinoma uteri et ovarii sinistri
bei der 56jährigen Anastasia K. Clitoris 3'/'« cm lang.
Weibliches Scheinzwittertum.
21». Fall von Neu ge baue r: Bauchschnitt bei einer 35 jähr, als
Frau verheirateten Person von männlichem Aussehen. Niemals
Periode, Scheide rudimentär, Sarkom einer Geschlechtsdrüse,
die andere Geschlechtsdrüse nicht zu finden. Geschlecht fraglich.
30*. Fall von Obolonsky: Sektion einer ~>0 jährigen Arbeiterin er-
wies Erreur de sexe. Vagina, Uterus bicornis, Kryptorehis-
mus bilateralis, Sarcoma testiculi dextri. Hypospadiasis peni-
scrotalis.
31. Fall von Paton: Bei einem Batichschnitte fand man bei einen»
20jährigen jungen Manne einen. Uterus, pyosalpinx duplex pro-
tluens, eine in scroto tisso mündende Vagina; die Urethra mün-
dete in die Vagina. Uterus und linksseitige Tube samt an
Stelle des Ovarium liegendem Hoden entfernt. Hypospodiasis
peniscrotalis mit Kryptorchismus. Noch kein Geschlechtstrieb.
U n i c u tn.
32. Fall von Pfannenstiel: Bauchschnitt bei einem 55jährigen
Mädchen Chr. Schm.: Clitoris 3, sub erectione 5 cm lang.
Vagina und Uterus vorhanden. Uterus wegen Fibromen am-
27*
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— 420 —
putiert. Tuben stark verlängert. Die exstirpierten Geschlechts-
drüsen als Ovarien angesprochen aber ohne Nachweis ovariellen
Baues. Geschlecht fraglich trotz Mikroskop. Melancholie.
33. Fall von Pean: Diagnostischer Bauchschnitt nach beiderseiti-
gem Leistenschnitt bei einem Knaben: Erreur de sexe. Ab-
tragung der Uterusadnexa. (siehe Grnppe II. Xo. 2).
31. Fall von Primrose: Tod eines 25jährigen Kryptorchisten
nach Entfernung eines Hodensarkoraes durch Bauchschnitt.
Nekropsie: Uterus entdeckt. Vagina mündet in capite gallin:>
ginis urethrae.
35. Fall von Quisling: Appendicitisanfälle bei einem angeblich
weiblichen 27jährigen Scheinzwitter mit Uterus und Vagina,
Clitoris 4 ( Zentimeter lang, Masturbation, weiblicher Geschlechts-
drang. (Geschlecht fraglich V)
30. Fall von E. v. Sälen: Bauchschnitt bei der 43jähr. unverehe-
lichten Auguste Persdotter mit Entfernung eines grossen
Cystolibrom (des Uterus?) und der Geschlechtsdrüsen: linke
Geschlechtsdrüse ein Ovarium, die rechte soll (Ovotestis) ova-
riellc und testiculaere Struktur aufgewiesen haben. Uterus
und Vagina vorhanden, Clitoris 5 (Zentimeter, Beischlaf mit
Männern schmerzhaft, mit Frauen nicht versucht.
37. Fall von Snegirjow: Diagnostischer Bauchschnitt einer
beiderseitigen Herniotomie mit Kastration hinzugefügt. Erreur
de sexe. (Siehe Gruppe 1 Fall 30).
3£. Fall von Sorel u. Che rot. Bauchschnitt bei der 30jährigen
AI ine C. Careinom des Bunddarines. Clitoris 6 Centimeter
lang, erectil, Geschlechtsdrang männlich, aber Beischlafver-
suche mißglückten. Tod. Nekropsie: Mangel der Vulva,
Vagina, der Hoden und Ovarien, Utriculus masculinus gefunden.
Geschlecht fraglieh.
3t». Fall von Stimson: Bauchschnitt bei einem 40jährigen Neger,
der Vater war. Sarkom des linken Bauchhodens, der rechte in
seroto non tisso unterhalb eines Leistenbruches. Uterus bieornis
mit beiden Tuben.
40. Fall von Stroebe: Sektion eines 03jährigen an Carcinoma
oesophagi verstorbenen Mannes. Kr\ ptorchisinus beiderseits.
Ausgebildeter* Uterus mit beiden Tuben und Vagina, in die
capite gallinaginis urethrae mündet. Penis normal, Scrotum
leer. Der Mann war kinderlos verheiratet gewesen.
41. Fall von Unterberger: Bauchschnitt bei einem 14jährigen
Mädchen: Diagnose Ovarialsarkom trotzdem die Scham das
Aussehen einer llypospadiasis peuiscrotalis bot. Mannskopf-
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— 421 —
groües Sarkom der linken Geschlechtsdrüse, Uterus vorhanden,
Vagina öffnet sich wahrscheinlich in tirethraui, rechtsseitige
atrophische Geschlechtsdrüse flir Ovarium gehalten, aber ohne
mikroskopischen Beweis. Geschlecht zweifelhaft.
42. Fall von Westermann: Sektion eines 30 jährigen an Appen-
dieitis ulcerosa verstorbenen Mädchens: Errenr de sexe.
Hvpospadiasis peniscrotalis, Kryptorchisnius beiderseits, Uterus
mit Tuben und Vagina vorhanden.
43. Fall von Win ekler: Bauchschnitt wegen Darmocclusion bei
einem oßjähr, männlichen .Scheinzwitter: Uterus sub nckropsia
entdeckt. (Siehe Gruppe III No. 12).
44. Fall von Zahorski: Bauchparacentese wegen Bauchtumor
bei einem 25jährigen Dienstmädchen. Tod an Erschöpfung.
Sarkom der linken Geschlechtsdrüse, rechte klein, flachgedrückt,
Uterus und Vagina vorhanden. Clitoris 3'/« Ccntimeter lang.
Geschlechtsdrüsen für Ovarien angesehen ohne mikroskopische
Untersuchung. Geschlecht zweifelhaft.
45. Fall von Pozziu. Magnan: Bei einem verheirateten Manne
ein Bauchtumor entfernt, der sich als Ovarialtumor erwies.
Erreur de sexe.
Fünfte Gruppe:
23 Fälle von teils ausgeführten, teils nur von dem Arzte,
dem Scheinzwitter oder seinen Eltern verlangten chirur-
gischen Eingriffen an den Genitalien mit Anschluss einiger
Hypospadieoperationen bei männlichen Scheinzwittern.
1. Amputation der hypertrophischen Clitoris bei den Stämmen
der Ibbos und Mandingos im antiken Aegypten.
2. Fall von Arn au d: Verlangte aber vom Arzte abgeschlagene
Amputation der hypertrophischen erectilen Cütoris bei einer
35jähr. Nähterin: angebliche Hämatokolpometra per rectum
profluens bei unterem ScheidenverschluU, Eröffnung, Wieder-
verschluß. Angeblich Hoden, Nebenhoden und Samenstränge
in scroto fisso getastet. Nach 15 Jahren Tod, Nekropsie.
Geschlecht fraglich. Fall aus dem 18. Jahrhundert.
3. Fall von Mc Arthur: Operation wegen Atresia ani bei einem
neugeborenen Scheinzwitter fraglichen Geschlechts. Nekropsie:
weibliches Scheinzwittertum mit Persistenz der Kloake.
4. Fall von Aveling: Amputation der hypertrophischen Clitoris
bei einer Frau nach Konstatierung der Menstruation.
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422
f>. Fall von Benoit: Vergeblicher operativer Versuch bei einem
27jährigen verlobten Mädchen, die angeblieh verwachsene
Seheidemündung zu eröffnen. Erreur de sexe, Hypospadiasis
peniscrotalis. Verlobung gelöst.
<>. Fall von Berendes: Amputation der angeblichen hypertrophi-
schen Clitoris bei einem 4jährigen Mädchen auf Verlangen der
Eltern, später von Landau Erreur de sexe, männliches
Seheinzwittertnm konstatiert. Verlobung gelöst (siehe Neu-
gebauer: dieses Jahrbuch für 1902: Gruppe IV. Fall 4).
7. Fall von Bittner: Die Mutter eines 14jährigen Mädchens ver-
langte durchaus, Bittner solle die f>1/« Centimeter lange Clitoris
amputieren, wurde aber abschlägig beschieden wegen Erreur
de sexe. Hypospadiasis peniscrotalis. Vagina vorhanden,
vielleicht auch Uterus. Harnröhrenöffnung weiblich, früher
von Dr. Busch künstlich erweitert. An der Spitze der Glans
penis öffnet sich ein Kanal, welcher eine Sonde 5 Centimeter
tief einlässt, schleimgefüllt. Es scheint aber nur die basale
Partie des Penis, resp. nur das Scrotum gespalten zu sein, eine
seltene Form der Hypospadie.
8. Fall v<?n Blond el: 4öjährige Frau seit 18 Monaten verheiratet
Beischlaf stets schmerzhaft aber libidinös, früher mehrere Be-
werber abgewiesen wegen befürchteter Kinderlosigkeit einer
Ehe wegen genitaler Miüstaltung. Ein Sturz vor 6 Monaten
führte zur Entstehung eines beiderseitigen Leistenbruches. Der
jetzt erst im 45. Jahre erfolgte Decensus testiculorum retar-
datus führte zur Erkenntnis einer Erreur de sexe. Hypospa-
diasis peniscrotalis mit Vagina, noch unzerrissenem rigiden Hymen,
der incidiert werden sollte mit nachfolgender plastischer Er-
weiterung der Vagina. Penis fissus sub erectione (>— 7 Centi-
meterlang. Hoden und Nebenhoden in den Schamlefzen getastet.
Vagina eng, ohne Uterus (V). Geschlechtsdrang absolut weiblich.
\K Fall von Kealdo Colombo: Amputation der Clitoris ab-
geschlagen bei einer Aetliiopierin, die weder mit Männern noch
mit Frauen bequem sexuell verkehren konnte. Wahrscheinlich
männlicher Hypospade mit rudimentärer Vagina, deren künst-
liehe Erweiterung verlangt wurde. Geschlechtsdrang wohl
weiblich.
10. Fall von l'oop: Diseision einer Seliamlefzenverwachsung bei
einer 24jährigen verheirateten Frau, einem Scheinzwitter, er-
möglichte den Beischlaf,
11. FjiII von Coste: Bei einem weiblichen Scheinzwitter, einem
21jährigen Mädchen, welches heiraten wollte. Beischlaf ermöglicht
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•— 423 —
durch Durschneidung einer Atresie mit teilweiser Spaltung der
Urethra. In der so eröffneten Vagina ein Collum uteri ge-
tastet. Amputation der hypertrophischen Clitoris. Die Vagina
mündete in urethram. Hochzeit, Beischlaf gelingt. Periode
tritt ein.
12. Fall von Dural: Behufs verlangter Ehescheidung vom Forum
ecclesiasticum verfugt: falls Amputation der angeblichen hyper-
trophischen Clitoris gestattet wird von der Frau, soll die Ehe
fortbestehen. Die Frau geht darauf nicht ein, Ehe geschieden,
Erreur de sexe. Männlicher Scheinzwitter, ein Hypospade,
war als Frau verheiratet gewesen.
18. Fall von Hartmann: Auf Verlangen der Mutter Amputation
der angeblichen hypertrophischen Clitoris wegen Masturbation
bei einem 7jährigen Mädchen. Clitoris kleinflngergroß, sub
erectione noch größer. Vagina und Uterus vorhanden. Geschlecht
fraglich, möglicherweise Hypospadiasis peniscrotalis mit
Kryptorchismus, Vagina und Uterus.
11. Fall von Ilector le Nu: Vom Vater Amputation der angeb-
lichen hypertrophischen Clitoris bei der 6 jähr. Tochter verlangt,
aber abgeschlagen, weil männlicher Scheinzwitter. Erreur
de sexe.
15. Fall von Huguies: Die 20jähr. Louise D. sollte heiraten,
Menstruation vorhanden, Clitoris 5 Centimeter lang, erectil,
Schatnlefzen, verwachsen mit einander, täuschen ein leeres
Scrotum vor. Discision bei zutreffender Diagnose. Beischlaf
ermöglicht Erfolg genügend.
16. Fall von Beel ard u. Anderen: Weiblicher Scheinzwitter Maria
Magdalena Lefort mit ereetiler hypertrophischer Clitoris und
partieller Verwachsung der Seharalefzen mit einander. Discision
verweigert.
17. Fall von Virchow: Katarina, der spätere Karl Hohmunu,
ein männlicher Seheinzwitter, angeblich menstruierend. Penis
hypospadiaeus, Scrotum teilweise gespalten. Billroth schlug
die Durehschneidung der Schamlefzenverwachsung vor, um den
Aditus ad vaginam bloßzulegen. Operation verweigert. Bei-
schlaf mit Männern und mit Frauen. Vom 10.— 2<>. Jahre nur
männlicher Geschlechtsdrang, nach dem 20. Jahre weiblicher,
nach dein 10. Jahre heiratete Karl, früher Katarina Hoh-
mann, ein Mädchen.
IS. Fall von Keift er. Hysteroekpctasis wegen intermittierender
Amenorrhoe und Dysmenorrhoe bei einem 2öjähr. Mädchen
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— 424 -
Josephine X. — Hypertrophische, erectile Clitoris, Geschlecht
fraglich, eher weiblich als männlich.
19. Fall von Pean: Vergeblicher Einschnitt zwischen Urethral-
und AnalmUndung im Bestreben eine Vagina zu schaffen bei
einem irrtümlich als Knabe erzogenen Mädchen. (Siehe Gruppe
II No. 2.)
20. Fall Roux: Verheiratete Frau mit beiderseitiger labialer
Ovarialektopie und teilweiser Schamlefzenverwachsung wurde
durch Discision der Verwachsung beischlafsfähig. Das weib-
liche Geschlecht nur vermutet.
21. • Fall von Sonnenburg: Durchschneidung einer Schamlefzen-
verwachsnng bei einem Mädchen mit hypertrophischer Clitoris.
22. Fall von Tauber: Amputation des Penis- hypospodiaeus bei
einem 23jährigen männlichen Scheinzwitter, der bis zur Kastra-
tion (Hoden) vor 2 Jahren als Mädchen galt und mit einem
Manne verlobt war, jetzt einem männlichen Kastraten (siehe
Gruppe IV. Fall 7).
23. Fall von Vincent: Bei einem mit Defectus ani et urethrae ge-
borenem Kinde zweifelhaften Geschlechtes ein Anus coccygeus
angelegt Lebensrettender Eingriff. Geschlecht fraglich.
An ha n g.
Sechste Gruppe.
Auf die Beseitigung der peniscrotalen Hypospadie ge-
richtete Operationen.
1. Beck, 2. Brand, 3. Castellana, 4. FeTizet, 5. Garri',
6. Krajenoski, 7. Malthe, 8. Marwedel, 9. Thier sc h,
10. Tulfier, 11. Villemin, 12. Waitz.
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— 425 —
Brief Wolfgang von Goethes
über die mannmännliche Liebe in Rom.
Dr. P. I. Möbius Ubersandte uns zur Veröffentlichung
im Jahrbuch folgenden bisher wenig bekannten Brief
Goethes, welcher für den vorurteilsfreien Blick des großen
Mannes auch in dieser Hinsicht Zeugnis ablegt.
Am 29. December 1787 sehreibt Goethe aus Rom
an den Herzog von Weimar:
„Midi hat der süße kleine Gott in einen bösen Weltwinkel
relegiert. Die öffentlichen Mädchen der Lust sind unsicher
wie überall. Die Zibellen (unverheurathete Mädchen) sind
keuscher als irgendwo, sie laßen sich nicht anrühren und
fragen gleich, wenn man artig mit ihnen thut: e che con-
cluderemo? Denn entweder soll man sie heurathen oder
verheurathen und wenn sie einen Mann haben, dann ist die
Messe gesungen. Ja man kann fast sagen, daß alle ver-
heuratheten Weiber dem zu Gebote stehn, der die Familie
erhalten will. Das sind denn alles böse Bedingungen und
zu naschen ist nur bey denen, die so unsicher sind als
öffentliche Kreaturen. Was das Herz betrifft, so gehört
es garnicht in die Terminologie der hiesigen Liebeskanzley.
Nach diesem Beytrag zur statistischen Kenntniß des Landes
werden Sie urlheilen, wie knapp unsere Zustände sein müssen
und werden ein sonderbar Phänomen begreifen, das ich
nirgends so stark als hier gesehen habe, es ist die Liebe
der Männer untereinander. Vorausgesetzt, daß sie selten
biß zum höchsten Grade der Sinnlichkeit getrieben wird,
sondern sich in den mittleren Regionen der Neigung und
Leidenschaft verweilt: so kann idi sagen, daß ich die
schönsten Erscheinungen davon, welche wir nur aus grie-
chischen Überlieferungen haben (S. Herders Ideen III. Band
pg. 171) hier mit eigenen Augen sehen und als ein aufmerk-
samer Naturforscher das psichische und moralische davon
beobachten konnte. Es ist eine Materie, von der sich kaum
reden, geschweige schreiben läßt, sie sei also zu künftigen
Unterhaltungen aufgespart."
(Goethes Briefe. 8. Band p. 314. Weimar 1890.)
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Felicita von Vestvali.
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Felicita von Vestvali.
Von
Rosa von Braunschweig.
Das Quellenmaterial, welches uns zuverlässige Mit-
teilungen aus dem Leben urnisch veranlagter Frauen
bietet, ist bei weitem nicht so vielfältig als über ihre
männlichen Genossen. Nicht etwa, weil diese eigenartige
Veranlagung bei Frauen weniger verbreitet wäre — es
kommt weit öfter vor als man ahnen kann — sondern
weil sich die Frauen eine größere Zurückhaltung auf-
erlegen. Ks ist dies eine Folge ihrer Erziehung, denn
sc hon als Kinder werden die Mädchen zu größerer Scham-
haftigkeit erzogen als die Knaben, und dieses sensible
Empfinden hindert sie später, wenn der sexuelle Trieb in
seine Rechte tritt, sich zu decouvrieren.
Zwar bedroht in Deutschland die homosexuelle Liebe
zwischen Frauen kein Gesetzparagraph, doch gesellschaft-
lich leiden sie vielleicht noch mehr unter dem Vorurteil
als die Männer, da ihre Neigung von der unwissenden
Menge meist als niedere Sinnlichkeit gebrandmarkt wird.
Wie anders wäre es, wenn die Eltern sich über das Wesen
der Homosexualität aufklären ließen und erkennen lernten,
daß dieselbe etwas von der Natur Gegebenes ist. Leicht
würden sie dann schon im Kinde die eigenartige Ver-
anlagung erkennen ; wenn z. B. die Mädchen mehr Inter-
esse für knabenhafte Spiele haben, als für ihre Puppen,
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— 428 —
und sich bei der späteren Entwicklung des Charakters
deutliche Spuren einer männlichen Richtung zeigen. Bricht
dann schließlich — durch irgend einen nebensächlichen
Umstand veranlaßt — die homosexuelle Neigung deut-
licher durch, so könnten die Eltern manche Unbesonnen-
heit der Tochter zum Guten lenken. Wie oft treibt man
Mädchen gegen ihren Willen in eine Ehe, durch die sie
nicht allein sich, sondern noch einen zweiten unglücklich
machen. Lernten es die Eltern, aus den ihrem Geschlecht
widersprechenden Charaktereigentümlichkeiten ihrer Kin-
der auf deren sexuelle Veranlagung richtig zu schließen
und diese mit mildem Sinn gerecht beurteilen, so würde
viel Unheil in der Welt verhütet werden.
Daß die urnische Veranlagung keineswegs den
Charakter verdirbt oder minderwertig macht, beweisen
unzählige Beispiele. Vereinigt der weibliche Urning doch
meist mit spezifisch weiblichen Eigenschaften, wie Zart-
heit der Empfindung und Gefühlstiefe, zugleich männliche
Energie, Tatkraft, zielbewußtes Wollen und ist frei von
der Kleinlichkeit, Eitelkeit und Unselbständigkeit der
Frauen, während anderseits ihm allerdings auch oft Sinn-
lichkeit und Leichtsinn des Mannes bescheert sind — doch
vollkommene Geschöpfe sind schließlich die hetero-
sexuellen Menschenkinder auch nicht. Jedenfalls bildet
der Verein männlicher und weiblicher Eigenschaften —
unter günstigen Bedingungen entwickelt — sehr oft
Wesen, deren Begabung die der Mutter weiber weit über-
flügelt, und sie leisten in Kunst und Wissenschaft der
Menschheit oft ebenso wertvolle Dienste, als die der
Fortpflanzung des Menschengeschlechtes dienenden Frauen.
Zu diesen außergewöhnlichen Geschöpfen gehörte
Felicita von Vestvali. Sie hat die alte und neue Welt
mit ihrem Ruhm erfüllt und nicht zum geringsten Teil
dankte sie es ihrer urnischen Natur, daß sie mit männ-
licher Energie alle Hindernisse zu überwinden wußte und
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ihr unbegrenztes Streben siegreich das hohe Ziel erreichte,
zu dem ihr Genie sie prädestinierte.
Vielfach ist behauptet worden, sie sei ein weiblicher
Zwitter gewesen. Die Anfeindungen, die sie von den
Herren der Schöpfung erfuhr, waren zahllos, und man
scheute keine Verdächtigung, um sie herabzusetzen. Diesem
gegenüber wollen wir mit aller Bestimmtheit erklären,
daß alles, was über dieseu Punkt gefabelt worden ist,
in's Reich der Märchen gehört. Sie ist sogar Mutter
einer Tochter, welche heute noch in Amerika lebt.
Ks gehört eben nicht zu den Seltenheiten, daß ganz
homosexuelle Frauen ihr Wesen erst erkennen, nachdem
sie durch einen Mann in die Mysterien der Liebe einge-
weiht sind. So erging es Felicita von Vestvali. Als
sie aber näher aufgeklärt war, hätte sie — wie viele
urnische Frauen — einen ferneren intimen Verkehr mit
einem Mann als eine Unmoralität betrachtet, da er ihrem
innersten Empfinden auf das Entschiedenste widersprach.
Allerdings fühlte sie oft mit tiefem Schmerz den Konflikt,
in den sie dadurch mit den bestehenden Gesetzen der
Sitte geriet, aber die Wahrheit gegen sich selbst stand
ihr höher, als ein Sittenkodex, der ohne Rücksicht auf
das dritte Geschlecht gemacht ist, dessen Dasein nun
einmal nicht weggeleugnet werden kaun und über welches
die Menge aufzuklären sich jetzt hervorragende Männer
der Wissenschaft bestreben.
Felicita von Vestvali's wirklicher Name war Anna
Marie Stägemann. Sie war die jüngste Tochter eines
höheren Beamten in Stettin und dort am 25. Februar
1829 geboren. Die Eigenartigkeit ihres Wesens trat
schon früh hervor. So wünschte sie als Kind — Missions-
prediger zu werden. Wenn das Schulzinimer im elter-
lichen Hause leer war, achlich sie sich hinein, stellte sich
auf«* Katheder und predigte mit einer über ihr Alter
hinausgehenden Begeisterung, wie sie die Menschen
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bessern wolle. Ihr Vater hörte ihr einst vom (jarten
aus zu und umarmte dann tränenden Auges sein Kind. —
Zu anderen Zeiten tollte sie wieder mit ihren Brüdern
um die Wette, wie der wildeste Junge.
Furchtlosigkeit und Edelmut war eiu Grundzug ihres
Wesens bis zu ihrem Tode, und diese Eigenschaften zeigten
sich schon in ihrer Kindheit. Sollte eines der Geschwister
von dem sehr strengen Vater bestraft werden, dann trat
sie nicht selten vor und nahm die Schuld auf sich. Als
sie das Theater kennen lernte, erwachte in ihr der glühende
Wunsch Schauspielerin zu werden, doch wie so oft
wollten auch ihre Eltern absolut nichts davon wissen und
kurz entschlossen enttoh sie in Knabenkleidern. Bei
einer herumziehenden Schauspielgesellschaft Brökelmann
fand sie ein Engagement. Der Direktor, ein alter Theater-
praktikus, erkannte sehr bald das hervorragende Talent
des jungen Mädchens und wollte dasselbe für längere
Zeit an seine Bühne fesseln. Felicita oder Marie, wie
sie damals noch hieß, zog es jedoch bald aus den klein-
lichen Verhältnissen fort, sie fand in Leipzig ein Engage-
ment und hier wurde sie Protege*e der berühmten
Wilhelmine Schröder -Devrient. Unter deren Leitung
sang sie dort recht erfolgreich Partien wie Agathe,
Kegimeutstochter und schließlich sogar Norma. Ihr dem
Höchsten zustrebender Geist fühlte aber den Mangel
wirklichen Könnens; was das Publikum entzückte, war ihre
jugendfrische Stimme. Um gründliche Gesangsstudien zu
machen, begab sie sich nach Paris an das dortige Konser-
vatorium. Sie studierte mit unermüdlichem Eifer, aber
daneben genoß sie auch das Leben mit vollen Zügen.
Hier war es auch, wo sie durch eine Freundin über ihre
urnische Veranlagung aufgeklärt wurde. So sehr nun
auch ihre nach Lebensfreude dürstende Natur Liebes-
glück verlangte, so war ihr dasselbe doch stets nur eiue
Blume, welche ihren Lebeuspfad schmückte, der Kern
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ihres Strebens galt ihrem Beruf. So ergriff* sie ein
Anerbieten zu einer größern Konzerttournee, ehe sie ihre
Studien vollendet hatte. Diese Tournee, die sie auch auf
die Insel Jersey führte, wurde dort jäh unterbrochen, da
der Impresario mit der Kasse das Weite suchte. Kurz
entschlossen ließ sich unsere junge Künstlerin dort als
Gesangslehrerin nieder und spielte Sonntags in der Kirche
Orgel. Ihr Unternehmungsgeist, vereint mit ihrer jugend-
schöuen Erscheinung, verhalfen ihr zu einem glänzenden
Erfolge, und schon nach einem Winter war sie in der
Lage, ihre Gesangsstudien bei Mercadante in Neapel
wieder aufzunehmen. Unter seiner Leitung entwickelte
sich ihre Stimme zu einem Kontra-Alt von so phänomenaler
Tiefe, daß spekulative Impresarien ihr rieten, Tenor-
partien zu studieren, aber die Ärzte erklärten, ihre Stimme
würde dies Experiment höchstens 10 Jahre aushalten.
Das war zu wenig für ihren Ehrgeiz. Um nun ihre
schwere Stimme auch für den leichten Gesang gefügig
zu machen, ging sie noch zu dem in Florenz lebenden
berühmten Gesangsmeister Romaui und trat bald darauf
zum ersten Mal öffentlich auf in der Scala zu Mailand,
gelegentlich der ersten Aufführung von Verdi's „Tro-
vatore* als „Azucena". Sie nahm nun den Namen
Felicita von Vestvali an. Ihre nächsten Rollen waren
„Romeo* in Bellini's „Romeo und Julia" und „Tancrcd*.
Ihr Erfolg war ein grandioser. Daun sang sie in ver-
schiedenen Konzerten in London und wurde von der
dortigen Aristokratie so ausgezeichnet, wie wenig Säuger-
innen vor und nach ihr. Im Hause von Lord und
Lady Palmerston verkehrte sie wie eine Freundin.
Das Land ihrer Sehnsucht war jedoch Amerika und im
Jahre 1854 schiffte sie sich dorthin ein. Die Yankees trieben
gleich nach ihrem ersten Auftreten einen förmlichen
Kultus mit ihr, man verglich ihre Erscheinung mit der
amerikanischen Freiheitsgöttin und nannte sie: Vestvali,
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the Magnificent! In New- York erhielt sie eine Monats-
gage von 10,000 Franks. Nun folgte eine Tournee durch
sämtliche große Städte der Union.
In Mexiko war die berühmte Sängerin Henriette
Sonntag, welche die Direktion des dortigen National-
theaters leitete, gestorben und man bot der Vestvali das
Theater mit einer jährlichen Subvention von 45000 Dollars
an. Sie reiste nach Europa, um sich eine auserlesene
Gesellschaft zusammen zu stellen. Als sie mit derselben
in Mexiko eintraf, war die ganze Stadt wie zu einem
Nationalfest geschmückt, der damalige Präsident Caminfort
empfing sie mit den Spitzen der Behörden, man machte
ihr 6 herrliche Pferde zum Geschenk, gab ihr im Palast
Iturbid ein großes Fest, und brachte ihr einen Fackel-
zug. Wahrlich Ehrungen, wie sie wohl selten einer Frau,
einer Künstlerin zuteil geworden.
Auf ihre große Beliebtheit pochend, machte sie in
Mexiko das Experiment, den „Figaro" im „Barbier von
Sevilla" in spauischer Sprache zu singen.
Als später die Revolution ausbrach, konnte man ihr
die ganze Subvention nicht auszahlen und gab ihr ein
Stück Landes, welches noch heute nach ihr den Namen
führt
Des aufreibenden Lebens müde, kehrte sie nach
Italien zurück, um sich zu erholen. Allein ihr blieb nur
kurze Ruhezeit. Das neue Theater in Piacenza wurde
eingeweiht und mau ersuchte sie, in der Vorstellung mit-
zuwirken. Dann bot sich ihr ein Engagement an der
großen Oper in Paris, wo sie mit mehreren hervor-
ragenden Sängerinnen, so auch der bekannten Tietjens,
in Konkurrenz trat und alle besiegte. Kaiser Napoleon
schenkte ihr sogar für ihren .Romeo" eine Rüstung aus
gediegenem Silber. Zwei Jahre blieb sie in Paris, und
in ihrem Salon vereinigte sich alles, was Anspiuch machte
in der literarischen Welt einen Namen zu haben, sowie
Jahrbuch V. 28
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die Geburts- und Geldaristokratie. Viel schöne Frauen
wetteiferten um die Gunst der Vestvali und mancher
Ehemann hatte Grund, auf den schönen, ritterlichen
Romeo eifersüchtig zu sein.
Wieder zog es sie jedoch nach Amerika. Sie wollte
dort Glucks „ Orpheus* aufführen. Felicita hätte aber
den Geschmack der Amerikaner besser kennen sollen,
die stilvolle, klassische Musikweise des Altmeisters Gluck
war nichts für den Geschmack der Yankees. Das Unter-
nehmen scheiterte. Zeit, Mühe, Geld waren verschwendet
und erbittert zog sich die Vestvali auf eine Villa in der
herrlichen Umgebung vou St. Franzisko zurück.
Zu ihrer Erholung studierte sie hier den „Hamlet",
für den sie seit Jahren schwärmte. Sie führte das Buch
auf allen Reisen mit sich und ebenfalls den „Romeo"
des großen Briten, denn schon in der Oper hatte sie
dem Bellinischen „Romeo" stets etwas Shakespeareschen
Geist eingehaucht.
Da erkrankte am Theater in St Franzisko der erste
Liebhaber, und man bestürmte die Vestvali, als „Romeo"
aufzutreten. Der Mißerfolg vom „Orpheus" hatte ihr
den Geschmack an der Oper genommen, und mit Be-
geisterung ergriff sie die Gelegenheit zum Schauspiel
überzugehen und diese ideale Jünglingsgestalt im Drama
und in englischer Sprache zu verkörpern. Das Publikum
bereitete ihr eine enthusiastische Aufnahme, wieder be-
reiste sie die Städte der Union und abermals folgte ein
Triumphzug ohne gleichen, zu den Rollen des „ Romeo"
und „Hamlet" hatte sie noch einige Männer- und Frauen-
rollen genommen.
Vou dieser Zeit datierte auch eine Freundschaft mit
einem Fräulein E. L., einer deutschen Schauspielerin, die
bis zu ihrem Tod währte, und der sie den größten Teil
ihres Vermögens vermachte, obwohl diese Verbindung
ihr kein ungetrübtes Glück gewährte.
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— 435 —
Im Jahre 1868 gastierte die Vestvali am König].
Lyeeum-Theater zu London. Sie spielte dort 20mal den
, Hamlet" und 22mal den „Romeo", sowie den Petruchio
(Bezähmte Widerspenstige). Auch hier wurden ihr her-
vorragende Ehrungen zu teil. Die Königin Viktoria em-
Felicita von Vestvali
als Petruchio in:
„Die bezähmte Widerspenstige."
pting die Vestvali in Privataudienz. Lord Bulver ver-
sicherte, nie eine geistvollere Wiedergabe des „Hamlet"
gesehen zu haben und die englischen Zeitungen nannten
sie den „weiblichen Kean". Die „Union of Art" in
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London ernannte die Vestvali zum Ehrenmitglied, eine
Auszeichnung, die sie von der „ Santa Cecilie" in Rom
schon lange besaß.
Bisher hatte sie, die Deutsche, alle ihre Erfolge nur
in fremden Sprachen erzielt. Sie hatte in italienischer,
französischer uud spanischer Sprache gesungen und in
englischer Sprache im Drama gewirkt. Plötzlich regte
sich aber der deutsche Geist in ihr und sie, die beide
Hemisphären mit ihrem Ruhm erfüllt hatte, wollte auch
in ihrem Vaterlande zeigen, was Genie mit unbezähm-
barem Schaffensdrang und außergewöhnlicher Energie
zu erreichen vermochte.
Vielfach hatte man ihr abgeraten. Leider ist Deutsch-
land ja das Land, wo mau dem Außergewöhnlichen am
wenigsten Berechtigung zugesteht, selbst wenn geistige
und körperliche Vorzüge dasselbe rechtfertigen. Aber
Vestvali ließ sich nicht abschrecken. In Hamburg trat
sie zuerst als , Romeo" in deutscher Sprache auf. Das
große Publikum nahm sie sofort enthusiastisch auf, aber
die Presse hatte viel zu nörgeln, so auch, daß ihre
Aussprache etwas englischen Accent verriet. Sie arbeitete
mit Eifer, sich die langentwöhnte Muttersprache wieder
mundgerecht zu machen und schon als Hamlet war der
Fehler beseitigt. In Leipzig schrieb der bekannte Kritiker
Gottschall :
„Der weibliche Hamlet. Gastspiel von
Felicita von Vestvali. Bei ihrem gestrigen Debüt
konnte man annehmen, daß wohl der größte Teil des
Publikums nur der Absonderlichkeit willen und teilweise
sogar mit dem Vorsatz gekommen waren, eine Dame,
die so kühn war, den Hamlet zu spielen, mindestens
— „abfallen* zu lassen. Als die Vestvali zuerst als
Hamlet erschien, empfing man sie lautlos. Die edle
Gestalt — die den König uud viele andere mitspielen-
den „Helden" an Größe der Gestalt, alle aber an
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Noblesse der Haltung überragte, das ausdrucksvolle
Gesicht zu Boden geheftet — entwaffnete schon das
Vorurteil. Der zweite Zweifel fiel als sie zu sprechen
begann — dieses sonore Altorgan, diese verständliche
und dialektlose Deklamation zeigten die ihrer Aufgabe
auch in dieser Beziehung gewachsene Künstlerin und
der erste Akt war noch lange nicht zu Ende, als man
ihr schon reiche Beifallsspenden zuteil werden ließ,
die sich bald in dem Maße steigerten, daß die Gastin
am Schluß etliche 18 mal gerufen worden war. Ver-
gessen war vor der Macht des Genies alles, was man
vorher von den verschiedenartigsten Standpunkten aus
gegen das Männerrollenspielen einer Frau hatte geltend
machen wollen; der Eindruck, den dieser Hamlet her-
vorbrachte, war ein gewaltiger. Frl. v. Vestvali gab
ihn nicht bloß als sentimentalen Träumer, sondern sie
brachte auch das energische Wollen, den drängenden und
bohrenden Entschluß zur Tat und seine Schwankungen
bis zum Augenblicke der Ausführung zu lebendiger
Anschauung. Die bedeutendste Szene war vielleicht
der Kampf am Grabe Ophelia's und das Hervorbrechen
der Liebe zu ihr — und um neben der geistigen Auf-
fassung auch das Technische nicht zu vergessen : fechten
sahen wir auf der Bühne noch niemals besser."
Frl. von Vestvali setzte ihr erfolgreiches Gastspiel
in Leipzig als „ Romeo*, „Elisabeth" in Laube's „Essex"
und „Isabella" in „Braut von Messina" fort. Laube
selbst erklärt sie als seine beste Elisabeth-Darstellerin.
Von Leipzig aus eroberte sich die Vestvali durch
ihr Gastspiel am National-Theater in Berlin — dasselbe,
schon vor Jahren ein Raub der Flammen geworden, wird
nur noch älteren Theaterbesuchern erinnerlich sein —
die Gunst der Metropole und somit gewissermaßen erst
volle künstlerische Anerkennung ihres Wertes für
Deutschland.
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Ein gefürchteter Kritiker des Berliner Tageblattes
schrieb damals:
„Nation al -Theater. Am 20. Januar:
Hamlet, Prinz von Dänemark. Hamlet, Fräul.
von Vestvali als Gast.
Felicita von Vestvali
als Hamlet.
„Ein blonder Xordlandssohn, mit hellem Haar und
frischer, gesunder Farbe", behäbig, schon ein wenig
„embonpointieit* und darum von Haus aus hypochon-
drischer Neigung — so der Hamlet Felicita von
Vestvali's. Er ist mit Recht eine der berühmtesten
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und ohne Zweifel eine der originellsten und genialsten
Leistungen der gesamten Schauspielkunst — ja er steht
einzig in seiner Art und Bedeutung da.
Zur äußeren Verlebendigung eines weiblichen
Hamlet hat Mutter Natur wohl Keine, Keine so glänzend
begabt und specifisch „männlich" bemittelt, wie eben
Felicita von Vestvali. Schon der ganze Gliederbau
dieser Gestalt gemahnt an den — sogenannten —
Herrn der Schöpfung. Dazu ein machtvolles Organ,
das oft tiefer gestimmt scheint als ein Tenor.
Was die geistige Auffassung der Rolle anlangt,
so deuteten wir unsere Meinung schon an: von den
zirka zwei Dutzend Hamlete, welche wir im Laufe
der Jahre sahen, ist der unserer Gastin jedenfalls der
originellste gewesen — auch hier nicht vom Äußer-
lichen gesprochen, sondern lediglich vom Intellektuellen,
nicht von der Schale, sondern vom Kern der Leistung.*
Auch aus Wien liegt uns noch der Ausspruch einer
der beliebtesten Dichter Österreichs vor, derselbe sagte:
„Eine hervorragende Existenz wie die Vestvali
hat die Berechtigung, ihrem vulkanischen Genie die
Zügel schießen zu lassen. Weder die Sitte, noch der
ästhetische Regelzwang kann für das geistige Bedürfnis
eines solchen schrankenlosen Kunstnaturells maßgebend
sein. Daß dem so ist, ist keineswegs ein Kunst Verderbnis,
es ist nicht darüber „Wehe" zu rufen, wie einige
Kritiker es tun. Die bewundernswerte Intelligenz der
Vestvali macht alle Angriffe zu Schanden.*
Wir haben hier Stimmen der Presse aus den maß-
gebendsten Städten angeführt, die beweisen, wie siegreich
die Vestvali aus den vielen ihr entgegentretenden An-
feindungen hervorging. Sie bereiste denn auch Deutsch-
land mehrere Jahre und gastierte stets überall mit größ-
tem Erfolg.
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Aber die großen Anstrengungen, die sie Zeit ihres
Lebens durchgemacht, blieben nicht ohne Einfluß auf
ihre Gesundheit Immer öfter wurde sie genötigt, ihrem
rastlosen Streben Ruhe zu gönnen. Sie zog sich denn
auf ihre Villa in Warmbrunn zurück. Ein ganz tatenloses
Leben war ihr jedoch unmöglich ; war sie also nicht durch
die Ausübung ihrer Kunst in Anspruch genommen, so
warf sie sich auf Bauspekulationen. Sie baute in Warra-
brunn die ganze russische Kolonie. Ein Besuch bei ihrer
in Warschau lebenden, verheirateten Schwester ließ sie
auch dort Terrain ankaufen und Bauten ausführen, die
sie selbst leitete und beaufsichtigte. All diesen Strapazen
war ihre Gesundheit nicht mehr gewachsen. Eine un-
heilvolle Krankheit warf sie nieder und machte diesem
reichen, tatenvollen Leben ein zu frühes Ende. Sie starb
in Warmbrunn am 3. April 1880, im 52. Lebensjahr.
Wir lassen noch einige kurze Auszüge aus Briefen
an eine junge Schauspielerin folgen, mit der aufrichtige
Freundschaft sie bis zu ihrem Tode verband. Treue
Freundschaft war ein Grundzug ihres edlen und idealen
Wresens, und diejenigen, die sie derselben würdigte,
hängen noch heute mit rührender Verehrung an dieser
hervorragenden Natur, die sich oft selbst „Hamlet*
nannte, wie sie jene junge Schauspielerin — ich bin es
selbst — in ihren Briefen »Horatio* anredete. Die Briefe
beleuchten in kurzen Blitzen sowohl ihre künstlerische
Anschauung, als auch ihre urnische Natur. In einem
derselben heißt es u. a.:
„Ach, es ist schrecklich langweilig, so von Stadt
zu Stadt zu gastieren. Ich komme mir schon wie ein
Dorfküster vor, der mit dem Klingelbeutel herumgeht.
Amen! — Wenn man nur immer tüchtig darin vor-
findet, meinte E.1), dann geht es schon. Auch ein
*) Ihre langjährige Freundin und Begleiterin. Anni. d. Verf.
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Standpunkt für einen idealen Schöngeist, nicht wahr,
Horatio? Nein, ein ordentliches Theater möchte ich
in Berlin haben und nirgends anders, ausgenommen
Amerika. Ach, wenn die verdammte Reise nicht
wäre — so wäre ich gewiß schon längst drüben, mir
sagen nun mal abenteuerliche Sachen zu — ich bin
nun wie ich bin."
Der letzte Brief, den sie von ihrem Krankenbett aus
in Warschau an mich schrieb, lautete wie folgt:
„Wie ist alles anders gekommen, wie ichs mir
gedacht, mein nervöses Leiden, das furchtbar ist, ist
mir durch G.V) Gegenwart versüßt. Sie ist himmlisch
gut. Sie können mir glauben, Horatio, ich fühle meine
Leiden nicht die Hälfte, wenn sie bei mir ist. Ich
bin ihr rasend gut und möchte ihr Tag und Nacht was
Liebes tun. Jetzt ist's auch gleich, ob's unterm Pfirsich-
baum oder Apfelbaum war, ob sie mich oder ich sie
verführt, wir haben uns rasend lieb. Ich möchte bloß,
daß Sie bei uns wären, lieber Horatio. Sie hätten Ihre
Freude an uns. Gedenken Sie noch unseres Gesprächs
nachts in der Charlottenstraße a propos von G. ?
Das Resultat ist, ich liebe sie rasend. G. wird Ihnen
bald selbst schreiben, sie muß jetzt auf die Bahn und
F. abholen und hat die ganze Nacht nicht geschlafen,
sie wohnt nämlich jetzt Bett an Bett neben mir. Wir
beide grüßen Sie herzlich und ich drücke Sic an mein
Herz in alter Freundschaft
Ihr Hamel-fett.»
Die Vestvali, welche bei ihrer Schwester in Warschau
erkrankte, wurde dort von einem Frl. G. mit rührender
Sorgfalt gepflegt, erst in der letzten Zeit kam auch
') „G." war die letzte Liebe der Vestvali, doch konnte sie von
ihrer langjährigen Freundin E. sich nicht trennen, es spielten da
pekuniäre Verhältnisse mit, die zu lösen, Vestvali zu ehrenhaft dachte.
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Frl. E. gleichfalls zu ihrer Pflege, da die Beziehungen
zwischen der Vestvali und der E. längst nicht mehr be-
glückende waren, so vermochte sie dieselben doch nicht
zu lösen, während ihr ganzes Herz der MG." gehörte.
Dieser Zwiespalt drUckte die Vestvali sehr, obwohl sie
die ganze Sache, wie vorstehender Brief zeigt, immer noch
mit einem gewissen Humor behandelte. Mit welcher
Liebe dies Frl. G. an der Vestvali ihrerseits hing, zeigt
folgender Brief:
„ Lieber Horatio, mit Feli geht es immer schlechter;
gestern den ganzen Abeud hatte sie so rasende Schmerzen
im Rücken und im rechten Arm, daß sie laut stöhnte,
dann leise wimmerte und Gott um Hülfe anflehte, daß
Einem das Herz hätte brechen mögen. Die Arzte
sagen nun auch, daß es die alte Krankheit sei und
große Blutarmut. Und nicht helfen zu können, sein
Liebstes auf so schaudervolle Weise zu Grunde gehen
zu sehen. Sie will die E. kommen lassen und ich kann
ihr nicht widerraten, denn es regt sie alles so sehr auf.
Vielleicht also sehen wir uns bald in Berlin, lieber
Horatio. Erschrecken Sie nicht, wenn ich frühmorgens
bei Ihnen auftauche. Tausend Grüße von Ihrer G.*
So wollen wir denn das Bild der Vestvali, welches
wir hier in diesen Blättern entrollt haben, schließen. Sie
war ein an Geist, Gemüt und Talent gleich hervorragender
Mensch, und niemand, der je mit ihr in nähere Berührung
gekommen, wird den Zauber ihrer Persönlichkeit ver-
gessen. Die bestrickende Liebenswürdigkeit ihres Wesens
lag wohl in der Natürlichkeit, mit der sie sich gab, denn
trotz ihrer großen Erfolge, war sie frei von jedem Hoch-
mut, förderte bereitwillig jedes aufstrebende Taleut, doch
trat sie unnachsichtig jedem Nichtskönnen entgegen. Sie
betonte nie ihre urnische Natur und darum fühlten sich
auch Männer, die dieser Veranlagung durchaus abhold
waren, durch ihre geistige Begabung zu ihr hingezogen
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und es bestand manch kameradschaftliches Band zwischen
ihr und hervorragenden Vertretern des männlichen Ge-
schlechts. Auf Frauen wirkte sie in geradezu fascinieren-
der Weise und es würde weit über den Rahmen dieser
kleinen Skizze führen, wollte man anführen, wie vielfach
sie angebetet worden war. Jedenfalls gehörte Felicita
von Vestvali zu den Ausnahme-Krscheinungen sowohl in
der 'Kunst, wie im Leben, deren Eigenartigkeit nur von
einem Kenner der Homosexualität verstanden werden kann.
Rosa Braunschweig,
die Verfasserin vorstehender Arbeit,
in einer Offiziersrolle.
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Quellenmaterial zur Beurteilung
angeblicher und wirklicher
Uranier.
Zusammengestellt
von
F. Karsch
Dr. phil., Privatdozent in Berlin.
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Zweite Reihe.*)
„Es ist besser, in jeden andern, als in sich
selbst verliebt zn sein." Jean Paul.
Auf die erste, drei der Geschichte angehörende
Männer: Theodor Beza, Johann von Müller und
Alexander von Ungern-Sternberg enthaltende
Reihe angeblicher und wirklicher Uranier folgt hier die
zweite Reihe, welche wiederum drei Mäuner, den Ver-
fasser des »Eros14: Heinrich Hößli von Glarus, den
Mörder seines Geliebten: Franz Desgouttes von Bern
und den Herzog von Sachsen-Gotha und Altenburg:
Emil Leopold August, außerdem aber noch eine der
interessantesten tribadischen Gestalten der Neuzeit, die
Opernsängerin Madame (genannt Mademoiselle) Maupin,
darzustellen unternimmt.
Zwischen den drei männlichen Gestalten dieser Reihe
besteht ein gewisser Zusammenhang. Als der einfache
Mann aus dem Volke, der Putzmacher Heinrich Hößli
von Glarus (1784 — 1864), als erster Kämpe unsrer Zeit-
rechnuug im Jahre 1836 für die absolute natürliche und
sittliche Berechtigung des gleichgeschlechtlichen Liebes-
triebes mit allen Waffen des Geistes und mit mutiger
Preisgabe seines Namens in seinem tiefgründigen wissen-
schaftlichen Werke „Eros", 52 Jahre alt, in die Schranken
*) Erste Reihe in diesem Jahrbuche für sexuelle Zwischenstufen,
IV. Jahrgang 1902, Seite 289—571 : 1. Theodor Beza (1519—1605)
S. 291-349, 2. Johann von Müller (1752—1809) S. 349— 457 und 3
A. von .Sternberg (1806—1868) 8. 458—571.
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trat, hatte bereits dreißig Jahre vorher (1805) der deutsche
Herzog A u g u s t ( 1772—1822), 33 Jahre alt, die Leidenschaft
desselben Liebestriebs an einem anschaulichen, konkreten
Beispiel als erster Novellist in seiner Novelle „Kyllenion"
mit dichterischer Naivetät geschildert und darin die
gleichgeschlechtliche Liebe als mit der gegengeschlecht-
lichen Liebe vollkommen auf der gleichen Stufe stehend
dargestellt. Den Rechtsanwalt Dr. Franz Desgouttes
(1785 — 1817) aber, der nicht das Geringste von Bedeu-
tung, weder für seine Zeit noch für die Nachwelt, leistete
und dessen Persönlichkeit man kaum irgend etwas
Rühmenswertes wird nachsagen können, unter den beiden
obengenannten Männern einen Platz anzuweisen, erscheint
absurd; insofern lag jedoch dazu ein Zwang vor, als seine
Leidensgeschichte zum .Eros* Heinrich Hößli's den
Anstoß gab.
Nur die Maupin (1673—1707) steht ohne Beziehung
da. Sie gibt sich bei äußerlicher Weiblichkeit als einen
Uebermaun, als eine überaus seltene Erscheinung, wie
solche in mehreren Jahrhunderten wohl nur einmal vor-
kommt; diejenigen Gelehrten und Ungelehrten, welche
es für ihre Pflicht halten, in den Erscheinungen gleich-
geschlechtlichen Liebestriebs nicht etwas Urwüchsiges,
nicht etwas von der Natur durch die Allmacht der Vari-
ation Gegebenes, sondern überall nur Degeneriertes, Ent-
artetes zu sehen, werden diese Kraftgestalt für ihre
Schwächenhvpothese zu verwerten schwerlich im Stande
sein.
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.i# ■ T — " ' i j
• . ■
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4. Heinrich Höfsli (1784—1864)
(mit 5 Textbildern und 1 Kupfertafel)
„Findst da eine Wahrheit an deinem Wege,
HUlflos und nackt und sonder Pflege,
Viel Schriftgelehrte gehn vorbei,
Du aber ihr Samariter sei."
Paul Heyse.
Die seit einigen Jahren in Deutschland erwachte
und von Jahr zu Jahr gewachsene Bewegung zu Gunsten
der Beseitigung des § 175 des geltenden Strafgesetzbuches
befindet sich in der Lage, auf ein vor mehr als 60 Jahren
in der Schweiz erschienenes deutsches Buch sich zu
berufen, welches die gleichgeschlechtliche Liebe nicht
als „widernatürliche Unzucht", sondern als eine in den
ewigen Gesetzen der Natur begründete, zu Recht bestehende
Erscheinung auffaßt und darstellt, den Glauben an deren
Unnatürlichkeit mit dem Hexenglauben und die Ver-
folgung der dieser Liebe Unterworfenen mit den Hexeu-
prozessen auf eine Stufe stellt. Das Buch führt den
Titel: „Eros. Die Männerliebe der Griechen:
ihre Beziehungen zur Geschichte, P^rziehung, Literatur
und Gesetzgebung aller Zeiten* und den Untertitel:
„Die Unzuverlässigkeit der äußern Kennzeichen im Ge-
schlechtsleben des Leibes und der Seele. Oder: Forschungen
über platonische Liebe, ihre Würdigung und Entwürdigung
für Sitten-, Natur- und Völkerkunde* *); gewidmet ist
') Erster Band, Glarus, 1836, bei dem Verfasser, XXXIII und
304 Seiten. — Zweiter Band, St. GaUen, 1838, in Kommission bei
C. P. Scheitlin. XXXII und 352 Seiten in Oktav.
.Inhrbuch V. 29
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— 450 —
es „ dem Schutzgeist des menschlichen Geschlechts." Das
Buch hatte seine eigenen Schicksale: von der Behörde
des Schweizerkantons, in dem es zum größten Teile
gedruckt wurde, verboten, ward der Restbestand der Auf-
lage bei einer Feuersbrunst vollständig vernichtet.
Was vom Leben und Streben, Wesen und Charakter des
Verfassers dieses zweibändigen „Eros", Heinrich Hüßli,
bisher bekannt geworden ist, beschränkt sich auf die im
„Eros* selbst enthaltenen gelegentlichen Angaben; wir
erfahren aber nur bitter wenig: Im Jahre 1817 fiel ihm
die Binde von den Augen und 1819 reiste er mit Büchern
bepackt von Glarus nach Aarau zu dem damals populärsten
Schweizer Volks-Schriftsteller Heinrich Zschokke1),
um diesen durch Zurede und Unterweisung zur Abfassung
und Herausgabe einer aufklärenden Schrift über seine
Idee des Eros oder der gleichgeschlechtlichen Liebe als
Natur- und Sittengesetz zu veranlassen, weil er
selbst „der Regeln der Schulen seines Landes" sich nicht
kundig fühlte und daher sich nicht für geeignet hielt,
als Schriftsteller aufzutreten und erfolgreich zu wirken.
Wirklich erschien im Jahre 1821 aus Heinrich Zschokke's
Feder eine Novelle im Druck „Der Eros oder über die
Liebe" 2); hier läßt Zschokke den edlen Vater Holmar,
Mitglied des Obergerichtshofes, die Erosidee Heinrich
') Joh. Heinr. Dan. Zschokke, geb. 22. März 1771 zu Magdeburg,
gest. 27. Juni 1848 zu Aarau ; anfangs Schauspieldichter, seit 1792 Privat-
dozent in Frankfurt, dann 1795 Leiter einer Erziehungsanstalt in
Reichenau (Graubiindten), kam er 1798 als Deputierter nach Aarau,
dem damaligen politischen Mittelpunkte der Schweiz, wurde Mitglied
des großen Rats und ein fruchtbarer Volksschriftsteller. Als solcher
zeigte er weniger kühne Genialität und theoretische Tiefe als Gesund-
heit und praktischen Verstand.
*) Nach Höüli's Eros I S. 277 bildet der Eros von Zschokke das
achte Heft von Zschokke's Erheiterungen, Jahrgang 1821, und erschien
in seinen Ausgewählten Schriften als X. Teil, in den 1836 erschie-
nenen Ausgewählten Novellen und Dichtungen als 14. Stück. Mir
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Hoßli's vertreten; allein die Bedeutung seiner Anschauung
und seiner Beweisführung läßt Zschokke am Schlüsse des Ge-
sprächs durch Holmar's Zugeständnis wieder abschwächen,
daß er sich so gut irren könne, wie seine Gegner: „Die
Natur*, läßt er ihn sagen, „hat in ihrem Buche viele
dunkle Stellen; kein Wunder, daß die Ausleger von ein-
ander abweichen." Solches war nun durchaus nicht in
Heinrich Hoßli's Sinne; und im Innersten empört über
die Halbheiten der Zschokke'schen Schrift, fand sein
Geist keine Ruhe mehr und zwang ihm die Feder in
die Hand. So kamen die beiden gedruckten Bände seines
in drei Bänden geplanten philosophischen Werkes „Eros*
zuStande, die er „unter Drangsalen und Rutenstreichen",
jedoch mit unentwegter Begeisterung nach einem Zeit-
räume von 17 Jahren vollendete; erst dann haben ihn
Vertrauen und Hoffnung auf den Sieg seiner Idee, die
als ewige Wahrheit ihn bis in seinen Tod begleitete,
verlassen.
In Heinrich Hoßli's „Eros" pulsiert eine gewaltige
Kraft, die nie versagt und sich nirgends erschöpft; er
überzeugt, er reißt fort; er ermüdet nie; er scheut nicht
Wiederholungen, wenn er wuchtig und eindringlich wir-
ken will; und wirken will er; eigene Gedanken belegt
er womöglich mit zahlreichen Stellen aus den Werken
der hervorragendsten Schriftsteller aller Völker und Zeiten.
Seine Idee vom Eros als Natur- und Sittengesetz beleuchtet
er von allen Seiten und immer wieder neu mit anders-
farbigem Licht. Aus den Schätzen aller Wissenschaften,
aller Künste sucht er mit kundiger Hand geschickt
hervor, was immer geeignet ist, erklärend und verklärend
UVgt nur eine spätere Ausgabe vor in: „Ausgewählte Novellen und
Dichtungen von Heinrich Zschokke. Erster Teil. Mit der Abbildung
von H. Zschokke's Landhaus: die Blumenhalde. Taschen- Ausgabe
in zehn Teilen. Sechste vermehrte Original- Auflage." Aarau, Sauer-
länder. 1813. Seite 231-292.
29*
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— 452 —
für seine verachtete und verlassene Wahrheit zu wirken.
Ein hohes Pathos beherrscht ihn und sein Satzbau flutet
in oft gedehnten Perioden dahin; vom höchsten sittlichen
Ernste getragen arbeitet er seine Ideen rastlos heraus
und schreckt nie vor vielfältigem Ausdruck eines und
desselben ihm fruchtbar erscheinenden Gedankens zurück.
Heinrich Hößli's „Eros" ist nicht mit dem Kopfe allein
geschrieben und darf nicht allein mit diesem beurteilt
werden; er ist mit dem Herzen verfaßt und solche Bücher
sind selten; selten müssen wohl auch Menschen sein, die
solches zu Wege zu bringen fähig sind, und man ist
beständig versucht, man glaubt ein Recht zu haben, Miß-
trauen in Hößli's wiederholte Versicherung zu setzen,
daß er die Regeln der Schulen seines Landes nicht gekannt,
ja nicht einmal eigentlich lesen und schreiben gelernt
habe. Seit des großen griechischen Philosophen Plato
„Gastmahl* ') und „Phädrus* ist Heinrich Hößli's
„Eros- das bedeutendste Werk über Männerliebe; was
jene unsterblichen Schriften für das Altertum gewesen
sein mögen, eben das bedeutet Hößli's »Eros* für die Neu-
zeit oder wird es ihr noch bedeuten; mit vollster, bewußter
Klarheit erkennt er die Liebe von Mann zu Mann als
ein unzerstörbares Natur- und Sittengesetz und stellt
dieses lichtvoll und allseitig mit höchstem sittlichen
Ernste dar.
So war denn wohl der Wunsch selbstverständlich,
über diesen einzigen, merkwürdigen Menschen, so lange
die Möglichkeit noch vorlag, mehr in Erfahrung zu bringen,
als das bescheidene Maß dessen betrug, was er selbst in
seinem „Eros" über seine Person mitzuteilen für gut
befunden hatte, und das Gefundene der drohenden Ver-
gessenheit zu entreißen. Von diesem Verlangen beseelt,
') Deutsch von Schleiermaoher in Pb. Keclain's Universal-
BiMiothek, Nummer 927 (20 Pfennig).
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— 453 —
unternahm Verfasser dieses im Herbste 1902 eine For-
schungsreise in die Schweiz; das Glück war ihm hold;
es ließ gar Manches sich noch feststellen und das Wich-
tigste des Ermittelten tindet sich hier gewissenhaft zu-
sammengetragen.
Angenehmste Pflicht wäre mir Nennung aller meiner
Quellen, meiner Gewährsmänner und Gewährsfrauen.
In Glarus und in Zürich gelang es mir, bejahrte Leute
aufzufinden, welche mit Heinrich Hößli in persönlichen
Beziehungen gestanden hatten und mancherlei über ihn
und von ihm zu berichten wußten; auch jüngere, ihm
näher oder entfernter Verwandte wußten Wichtiges, bald
vom Hörensagen, bald durch Augenschein ; — ihre Namen
alle hier mitzuteilen, wird mir leider durch die Verhält-
nisse verwehrt.
Die absolut genauen und zuverlässigen Angaben über
Heinrich Hößli's und seiner nächsten Anverwandten
in aufsteigender und in absteigender Linie, sowie seiner
sämtlichen Geschwister Geburts- und Todestag, welche
im allgemeinen Interesse mir geboten erschienen, verdankt
man einzig dem überaus freundlichen Entgegenkommen
des Herrn Polizeiinspektors J. J. Kublv-Cham in
Glarus, welcher mit unermüdlicher, fast übermenschlicher
Arbeitskraft eine ihrer Vollendung entgegenreifende, viele
Foliobände füllende, kalligraphische, vollständige und
übersichtliche Genealogie aller Glarner Leute ausarbeitet
Allen genannten und ungenannten liebenswürdigen
Landsleuten des unvergeßlichen Heinrich Hößli, welche
Anteil an diesem Biogramme haben, des Verfassers herz-
lichster Dank!
I. Heinrich Hößli's äußeres Leben.
Heinrich Hößli wurde zu Glarus in der Schweiz im
Hause 525 der Straße Innere Abläsch, im fünften Hause
der Abläsch vom Landsgemeindeplatze aus, am 0. August
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— 454 —
1784 geboren; in diesem Hause hatte Heinrichs Vater,
der Hutmachenneistcr Hans Jakob Hößli, sein Geschäft.
Vorher war dasselbe Haus Eigentum des Besitzers Stein-
müller gewesen, bei welchem die am 21. Juli 1782, also
nur zwei Jahre vor Heinrich Ilößli's Geburt* als Hexe
hingerichtete Anna Göldin gewohnt hatte, deren Hößli
in seinem „Eros* gedenkt.1) Heinrich war seiner Eltern,
die es auf nicht weniger als 14 Kinder — 8 Mädchen
uud 6 Knaben — gebracht haben, viertes Kind und
erster Sohn ; seine Mutter Margreth war eine geborene
Vogel aus Glarus.
Sein ganzes Kindesalter scheint Heinrich in seiner
Geburtestadt verlebt fu haben; erst als im Jahre 1799
die Russen unter dem General Suwarow*) die Schweiz
und speziell Glarus heimsuchten und daselbst Hungersnot
herrschte, gaben Heinrichs Eltern einige ihrer Kinder
an andre Leute in der Schweiz; und so kam Heinrich
nach Bern, wo er seine Handelschaft erlernt haben
dürfte, später aber wieder nach Glarus zurück.
Am 5. Mai 1811 verheiratete sich der noch nicht
siebenundzwanzigjährige Mann mit der Elisabeth Grebel
von Zürich, des A dj utanten Rudolf Grebel Tochter ; das j unge
Paar blieb aber nicht beisammen; Elisabeth lebte in
Zürich weiter und Heinrich in Glarus; doch besuchte er
öfter sein Weib und zeugte mit ihm zwei Söhne: den
am 19. April 1812 geborenen Jakob Rudolf und den
am 9. Januar 1814 geborenen Johann Ulrich, auf
welche wir später noch zurückkommen werden.
In seinem bürgerlichen Berufe war Heinrich Hößli
Putzmacher; er besaß einen ausgebildeten weiblichen
Geschmack, den sogenannten Schick; in den zwanziger
') Eros von Höüli I. S. 62*)
5) Eine Gedenktafel kennzeichnet jetzt zu Riedern bei Glarus
das Haus, in welchem der russische General Suwarow am 1. Ok-
tober 175>9 Aufenthalt genommen hatte.
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Heinrich Hößli's Geburtshaus in Glarus auf der Abläsch,
vom großen Brande in der Nacht des 10. auf den 11. Mai 1861
verschont; nach einer photographischen Aufnahme im Januar 1903;
links erblickt man den Gipfel des Glärnisch.
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Jahren des Jahrhunderts war er „die erste Putz-
macherin* von Glarus; er war auch zeitlich der erste,
welcher dort Damenhüte herstellte; diese lieferte er geleimt,
nicht genäht, und er war so ganz bei seiner Arbeit, daß man
im schwarzen Adler sein Mittagessen um 7 Uhr Abends
noch unberührt neben ihm stehen fand. Er hat auch
das erste „Trüböri", einen dreieckigen Hut, Napoleons-
hut oder Dreimaster, verfertigt und eingeführt, die Kopf-
bedeckung des Landammanns, des Souverains des Kan-
tons Glarus, dessen Landgemeinde, was auch heute noch
der Fall ist, am ersten Sonntage im Mai jeden Jahres
zusammentrat. Auch dekorierte er mit einem Faltenwurfe
aus grünem Stoffe die Kanzel der Kirche zu Glarus-
Am württembergischen Hofe zu Stuttgart, woselbst sein
Eheweib, die Elisabeth Grebel, als „höhere Hülfe" an-
gestellt war, hat Heinrich Gardinen aufgesteckt, war er
doch auch geschickter Dekorateur.
Weil Heinrich Hößli die Mode angab und Mode-
waren verkaufte, so erhielt er den Spitznamen „ Modenhößli. ■
Aber Heinrich war nicht allein Putzmacher und
Dekorateur, er war auch Handelsmann und lebte als
solcher stets gut situiert und in durchaus geordneten
Verhältnissen, sodaß er in Hinsicht seines Auskommens
nicht LTrsache zu klagen fand. Ein offenes Geschäft
betrieb er zuerst in der „Meerenge* zu Glarus im Gast-
hofe zum schwarzen Adler (1827 — 1832); alsdann hat er
eine Zeit lang dieses Geschäft aufgegeben und „im Sand*
gewohnt, später aber wieder einen gut frequentierten
kleinen Laden auf dem Kirch weg (Glarnerisch Kilchweg),1)
l) „Im Kilchweg auf den Wurzeln der alten Birn- und Apfel-
bäume an einer Reihe von 20 neuen Häusern bewohne ich jetzt ein
eigenes recht artiges Haus, das ich letzten Winter kaufte, schnurgrad
Seckelmeister Dinners gegenüber mit freier fröhlicher Aussicht."
(Brief vom 9. July 1842 an seine Schwester Regula Rehlinger in
Kaiifbeuern.)
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— 457 —
Ecke der äußeren Zaunstraße am jetzigen Volksgarten, auf-
getan. Hier handelte er mit Damenkleiderstoften aller
Art, besonders englischen Ursprungs (bedruckte Indienne
u. dergl.), aber auch mit Futter-, Bettzeug-, Vorhang-
stotfen u. s. w., alles solider, praktischer Ware. Drei
Häuser von seinem Geschäft wohnte ein ihm Zeit seines
Lebens befreundet gebliebenes Fräulein Margaretha
Brunner, die spätere Frau Präsident Vögeli-Brunner.
Heinrichs Eigentum war auch das nahe seinem Ge-
schäft gelegene Haus Ecke der Bärengasse, welches er
seinem langjährigen Ladendiener und Neffen Jakob Kubli
für 2500 Franken billig abtrat Im Kirch weg liquidierte
Heinrich 1848, verkaufte sein Geschäft, wohnte zuerst
auf der Almei als Privatier und führte alsdann bis April
1851 ein neues Geschäft auf dem Spielhofe im Löwen
(Leuen). Zur Hülfeleistung im Geschäfte bediente sich
Heinrich seines Neffen Jakob oder Jogg Kubli, der
Margaretha Hößli Sohn, welcher von seinem zwölften
Jahre an fast bis zum 30. Lebensjahre als Ladendiener
bei dem Onkel aushielt und dessen bevorzugter Lieb-
ling blieb.
Bald jedoch begann für Heinrich Hößli ein unruhiges
Wanderleben; er verließ Glarus als dauernden Aufenthalt
für immer und ließ sich zuerst in Stäfa am Nordufer des
Zürichsees nieder, woselbst er im Mai und Juni im Stern
und dann bis Oktober 1852 in der Mühle im Kehlhof
wohnte. Von Stäfa zog es ihn nach Schmerikon am
obem Ende des Zürichsees unweit der Einmündung der
Linth; hier stieg er in der Krone ab und mietete gleich
am 1. Oktober 1852 drei neben einander liegende Kammern
beim Kronenwirt Franz Wenk; im November 1854 hatte
er Wohnung beim Landammann Kriech; im Oktober 1855
machte er einen Abstecher nach Zürich und besorgte sich
1856 einen auf 12 Monate lautenden Paß nach Deutsch-
land. 1857 siedelte er nach Lachen am Südufer des
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Zürichsees über, woselbst er im Gasthaus zum Ochsen ver-
kehrte; aber schon im November 1858 finden wir ihn
wieder im Kanton Glarus, in Mollis, am rechten Ufer
des Escher Kanals; bis September 1860 hielt er sich in
Vogelsang bei Winterthur auf, zog Ende Oktober 1860
nach Wülfingen nahe Winterthur, wo er seinen .fort-
währenden Aufenthalt" bis April 1861 im Pfarrhause beim
Pfarrer Freuler nahm, und zog von da nach Winterthur
selbst, wo er zur Zeit des großen Brandes im Mai 1861,
welcher halb Glarus einäscherte, weilte; bis Ende Juni
wohnte er hier im gelben Ring an der Metzgasse, mietete
am 29. Juni 1861 in S. Grüblers Haus den zweiten Stock und
Platz für Holz, wofür er diesem vierteljährlich 60 Franken
bei 8 Wochen vorheriger Kündigung zu zahlen hatte; den
Monat November 1861 hat er in Haltli bei Mollis zuge-
bracht; April 1862 hatte er Wohnung im Seidenhof, im Mai
in der Steinhütte zu Winterthur und hier ist er im einund-
achtzigsten Lebensjahre am 24. Dezember 1864 Morgens
97a Uhr nach kurzer Krankheit im Spital verstorben.
Seine beiden Knaben hat Heinrich Hößli nicht
selbst erzogen, vielmehr tat dieses deren Mutter Elisa-
beth Hößli-Grebel. Was über diese einzigen Nachkommen
Heinrichs zu erfahren war, dürfte, so weit es für ihre
Individualität charakteristisch ist, nicht ohne Interesse sein.
Heinrichs älterer Sohn Jakob Rudolf, kurz Jogg oder
Jöggi genannt, wurde Ingenieur und wanderte nach
Amerika aus; er hat sich daselbst verheiratet, blieb dann
aber vollständig verschollen; sein Totenschein lautet
auf den 1. Januar 1871; er war Erbe der gesamten
Hinterlassenschaft seines Vaters; diese belief sich zwanzig
Jahre nach Heinrichs Tode mitsamt den Zinsen auf
etwa 28 000 Franken; lange Jahre, bis zur Teilung,
verblieb das Vermögen im Waisenarate in Glarus. Vor
seiner Auswanderung nach Amerika, wo er zuletzt in
Otisco Onondago County, State of New- York, gelebt haben
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— 461 —
soll, war Jakob Hößli am Hofe des russischen Kaisers
in St Petersburg beschäftigt gewesen und hatte für seine
dortigen Verdienste vom Zaren ein Diplom erhalten. Er
dürfte demnach durchaus nicht ohne Talente gewesen sein.
Heinrich Hößli's jüngerer Sohn Johann Ulrich oder
kurz John, Heinrichs »lieber Hansi", „hatte des Vaters
im „Eros" niedergelegte Anschauungen geerbt" ; er war als
„Weiberfeind* bekannt, was ihn jedoch nicht hinderte, an
seiner Mutter mit der innigsten Liebe zu hängen, seine
Jugendfreundin Ammann als Universalerbin einzusetzen
und mit vielen Damen sowohl in Amerika als in Europa
in regem freundschaftlichen Verkehr zu stehen. Er wird
als ein großer, schöner und intelligenter Mann von nobel-
ster Gesinnung geschildert. Während des amerikanischen
Krieges zwischen Nord und Süd hatte er in seine
Schweizer Heimat aus New- York geschrieben, er habe
Besitz genug im Norden, wenn dieser siegen sollte, und
Besitz genug im Süden, falls jener unterliegen sollte.
Sein erstes Vermögen erwarb sich John durch seine Ge-
schäfte in „Dry Goods* in Galveston,dann spekulierte er
in großartiger Weise in Bauterrains und zwar besonders
in New- York. Sobald er jenseits des Meeres festen Fuß
gefaßt hatte, ließ er seine Mutter nachkommen; Ende
Mai 1842 trat er, fast zehn Jahre nach seiner Aus-
wanderung, in Begleitung der geliebten Mutter von Texas
aus »mit aller möglichen Bequemlichkeit* die erste Heim-
reise an ; später aber kam er, da er die Mutter iu Europa
zurückgelassen hatte, alle zwei oder drei Jahre in sein
Heimatland und besuchte Mutter und Vater, mit welchem
er in regelmäßigem Briefwechsel stand. Niemals unter-
ließ er dann, bei der Familie Jakob Kubli's einzukehren,
dessen jüngere Tochter Rosina Magdalena (Rosalina) sein
Patenkind war. In Glarus traf er anfangs der vierziger
Jahre auf der Straße vor dem Rathause einen weinen-
den Knaben und fragte ihn voll Mitleid, warum er weine.
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— 462 —
Die Antwort des Bürschchens lautete, seine Mutter habe
sich als Salzverkäuferin gemeldet, sei aber nicht gewählt
worden und nun fehle es ihr und ihren Kindern am
täglichen Brode. „Ich nehme dich mit nach Amerika,
wenn du mit mir kommen willst", bot nun John dem
weinenden Knaben an; hatte er doch schon vergeblich
ein gleiches Angebot dem Jakob Kubli früher gemacht;
dieser war aber zu ängstlicher Natur und überdies bereits
Vater eines Sohnes geworden ; bei dem fremden Knaben
Heinrich Rosenberger aber stieß Johu Hößli nicht auf
Widerstand. Er schickte den Knaben in eine Fabrik bei
Glarus und bevor er ihn nach Amerika mitnahm, beließ
er ihn noch einige Zeit im Geschäfte seines Vaters in
Glarus, damit er hier einige Wareukenutnisse sich an-
eigne. In Amerika stand John mit dem jungen Rosen-
berger in freundschaftlichem Verhältnisse; sie führten
anfangs ein gemeinsames Geschäft, blieben aber nicht
dauernd beisammen; Rosenberger wurde Schweizer Konsul
in Galveston, blieb jedoch an Johns Geschäft beteiligt.
Als John im Juni 1854 wieder in seiner Heimat weilte,
entschloß sich die Mutter zum zweiten Male, dem ge-
liebten Sohn nach Amerika zu folgen, wo sie 1858 starb.
Der Sohn sollte die Mutter nicht lange überleben; am
11. Mai 1861 geriet das Schiff, welches ihn von Halifax
(('anada) aus in die Heimat zum geliebten Vater tragen
sollte, zwischen zwei gewaltige Eisblöcke, welche es mit
allem auf ihm Befindlichen erdrückten. Die merkwürdige
Geschichte zweier Testamente Johns, in welcher Hein-
rich Rosenberger eine nicht wenig zweideutige Rolle
spielte, muß hier übergangen werden. Als Haupterbin
war im ersten Testamente von 1851 mit einem Vermögen
von 20 000 Franken das Fräulein Ammann, eine Gold-
schmiedstochter in Zürich, von John Hößli eingesetzt
worden, weil dieselbe den beiden bedürftigen Knaben Hein-
rich Hößli's und der Elisabeth Grebel, denen es mit
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ihrer Mutter oft recht traurig erging, viel Unterstützung
hatte zu Teil werden lassen. Auch der Knabenanstalt
Linthkolonie und Bilten im Kanton Glarus hatte John
in diesem Testamente 20 000 Franken mit dem Bemerken
vermacht, daß ein Teil der Zinsen zur Unterstützung
für junge intelligente, nach Amerika auswandernde Söhne
verwendet werden sollte.
Genealogie des Heinrich Hößli von Glarus.
1. Heinrich HößH's Eltern:
Hans Jakob HO Uli, Hutmachermeister, auf der Abläscb, Sohn
des Tucbhandelsmanns und Ltfwenwirts Heinrich Hüßli und der
Elisabeth Elmer, geb. 25. November 1758, gest. 18. September
1846.
Margret h Vogel von Glarus, Tochter des Meisters Johannes Vogel
und der Margreth Ltitschg, geb. 11. August 1757, gest. 2. März
1831, kopuliert mit dem Vorigen 21. Juli 1780.
2. Heinrich HößH's Geschwister:
1781. 6. Januar: Anna Magdalene, ehelichte den Uhrmacher
Bernhard Milt.
1781. 19. Dezember: Margaretha; ehelichte den Melchior Kubh*
von Glarus.
178a 26. März: EJisabeth . . .
1784. 6. August: Heinrich, siehe unter 3.
1785. 14. September: Barbara, ehelichte den Feldwebel Heinrich
Tschudi von Glarus.
1786. 23. September: Johannes, gest. an der Schwindsucht
12. Juü 1793.
1787. 26. Oktober: Regula, gest. 27. März 1789.
1789. 4. Februar: Johann Jakob, wohnhaft in Chur.
1790. 12. Mai: Johann Ulrich, Hutmacher in Glarus.
1792. 30. Januar: Cosinus, gest. an den Blattern 28. März 1797.
1793. 4. März: Regula, ehelichte den Jonas Daniel Rehlinger
von Kaufbeuern.
1796. 3. August: Verena, ehelichte den Hans 'Heinrich Gamper
von Stettfurt, Kanton Thurgau.
1800. 23. Februar: EUbeth, gest. an den Blatternll. August 1801.
1802. 6. September: Johannes, gest 2. Dezember 1802.
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3. Heinrich Höfiii jünger nebst Eheweib:
Heinrich Hößli von Glarus, Putzmaoher und Tuchhandelsmann.
Verfasser des „ErosM 1836,38, Sohn des Hutmachere Johann
Jakob Hößli und der Margaretha Vogel, geb. 6. August 1784,
gest. 24. Dezember 1864 in Winterthur.
Elisabeth Grebel von Zürich, des Adjutanten Rudolf Grebel
Tochter, kopuliert mit Heinrich Hößli jünger am 5. Mai 1811.
4. Heinrich Höfili's Nachkommenschaft:
1812. 19. April: Jakob Rudolf, zuletzt in Otisco-Onondago
County, State ol New -York, dann verschollen; sein Toten-
schein lautet auf den 1. Januar 1871.
1814. 9. Januar: Johann Ulrich (John), nach Amerika aus-
gewandert, * ertrank während einer Heimreise auf dem Ozean
am 11. Mai 1861.
II. Heinrich Hößli's Wesen und Charakter.
Heinrich Hößli war von mittelgroßem Wüchse und
erschien in Folge kurzer Beine von fast kleiner Gestalt;
er war nicht schön, aber von gesunder Stärke; er hatte
einen breiten Mund und trug das Gesicht glatt rasiert,
das braune Kopfhaar struppig, ungepflegt, wild genial,
indem er sich selten eines Kammes bediente. In seiner
Erscheinung durchaus männlich ohne das geringste Weibi-
sche, zeigte er ein Benehmen wie eine höfliche Frau und
besaß ganz das Temperament seiner um ein Jahr jüngeren
Schwester Barbara, der Ehefrau des Feldwebels Heinrich
Tschudi, als Witwe unter dem Namen „Hebamme Hößli"
in Glarus bekannt, von Heinrich zärtlich »Baby* genannt.1)
') Von Heinrich Htfüli als Mann in den mittleren Jahren habe
ich ein Portrait nicht aufgetrieben. Die hier als Titelbild beigegebene
Kupferradierung mit Autogramm beruht auf einer nach der Erinne-
rung und unter Benutzung der Autotypieen des Jünglings und des
Greises vom Zeichner Caspar MUUer in Glarus mit Bleistift ausge-
führten Zeichnung. Caspar Müller bemerkt dazu: „Eine Charakte-
ristik eines Bildes von HitUli liegt in dessen schwarzseidenem Hals-
tuche, ebenso auch in diesem Hauskäppchen, das er sich immer
selbst anfertigte."
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Auf der Straße vor dem Hause, am Brunuen, selbst
in der Wirtsstube erschien Heinrich oft im Schlafrock;
er zeigte sich stets freundlich und zuvorkommend gegen
jedermann, besonders liebenswürdig gegen seine ausschließ-
lich weiblichen Kunden, und pflegte wohlgefällig zu
lächeln. Nie ist er Soldat gewesen. In Glarus war er
Mitglied der Kasinogesellschaft und, gern gesehen über-
all, galt er als Mann von Lebensart. Sein Geist war
von außerordentlicher Lebhaftigkeit, unruhig, rastlos, sein
Temperament nicht jedoch eigentlich sanguinisch. Daheim
schlief er selten in einem Bett, sondern auf Matrazen
mit einem Dutzend zusammengehäufter Leinentücher am
Boden oder auf einer Kiste; diese Schlaf weise faud er
sauber. Er fegte seine Zimmer selber aus, kochte seinen
Kaffee selbst und säuberte auch eigenhändig sein Tafel-
geschirr; zu seiner Freundin, Fräulein Brunner, die ein-
mal bei ihm Kaffee trank und ihr Mißbehagen nicht
überwinden konnte, äußerte er, sie solle sich nicht ekeln,
er sei sehr säuberlich. In Heinrichs Geschäftsräumen
sah es wohl recht unordentlich aus; die Ellenwaren
hingen da oft wüst über den Ladentischen; selbst die
Kasse für die Kupfermünzen stand offen da, so daß jeder
hätte hineingreifen können. In Glarus gab es ein Sprich-
wort: „Das ist eine Ordnung wie beim Hueter-Hößli."
Auf diesem Mangel an Ordnung beruhte wohl auch vor
allem ein gewisser Grad von Mißtrauen, der Heinrich
stets fürchten ließ, bestohlen zu werden; man sagte ihm
nicht nur nach, daß er überall Spiegel anbringe, um zu
wissen, ob, wann und von wem er bestohlen würde,
.sondern er tat dieses wirklich. Wurde er nun bestohlen,
so gewahrte er es leicht und wußte sich dann ohne viel
Aufhebens wieder in Besitz seines Eigentums zu setzen.
Brillen hatte Heinrich wohl ein halbes Hundert und
kaufte solche auch dutzendweise, jedoch fand er sie nicht
am rechten Ort und zur rechten Zeit und während er
Jahrbuch V. 30
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Heinrich Hößli
als Jüngling von neunzehn Jahren nach einer anscheinend am
II. Februar 1804 vollendeten Aquarellzeichnung.
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Heinrich Hößli
als Greis nach einer Daguerrotypie.
Von sechs Personen, welche Hößli gekannt haben, ist mir bestä-
tigt worden, daß dieses Bild den Verfasser des „Eros" „leibhaftig"
darstelle, wenn auch gealtert und verbittert.
30*
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— 468 —
zwei bis drei Stück auf der Nase hatte, suchte er solche
gleichwohl in allen seinen Taschen. Auf Reisen verbarg
er sein Geld in einem Strumpfe und versteckte es, wenn
er irgendwo zu Besuch weilte, hinter einem Spiegel.
Auch in seiner Kleidung war Heinrich nachlässig
und zerstreut; an einem Leichenbegängnisse nahm er
einmal mit einem Stiefel und einem Pautoftel bekleidet
teil und bemerkte das erst, als er sich schon im Zuge
befand; ein andermal wollte er seinen Hut abnehmen,
trug aber keinen auf dem Kopfe. Er gab nicht viel auf
eigenen Kleiderputz und eigene Eleganz, wo es aber
Andern daran fehlte, bemerkte er es sofort. Demunge-
achtet zeigte er sich nicht ganz ohne Eitelkeit; stets trug
er einen schweren goldenen Ring und eine goldene
Uhrkette.
Der Gewohnheit des Rauchens hat Heinrich nicht
gehuldigt, doch soll er einer Prise nicht abgeneigt ge-
wesen sein.
Heinrich war ein wenig rechthaberisch, besaß eine
nicht geringe satirische Anlage und konnte von göttlicher
Grobheit sein; diesbezüglich weiß man in Glarus mancher-
lei zu erzählen. Jedoch auch rührende Züge großer Gut-
mütigkeit und reichen Gemütslebens werden von ihm
berichtet. In Glarus pHegte Heinrich im Löwen auf dem
Spielhofe zu speisen, da er in jenem Gasthofe, wie frü-
her bei der gleichen Familie im schwarzen Adler, seinen
Verkaufsladen und sein Logis im Erdgeschoß inne hatte.
Zeitlebens stand er mit dieser Familie in aufrichtiger
Freundschaft, welche sich auf deren Kinder übertrug;
dieses Freundschaftsverhältnis war so bekannt, daß der
jüngste Sohn des Löwenwirts, mit dem uud mit dessen
Frau Heinrich stets freundschaftlich verkehrte und in
regelmäßigem Briefwechsel stand, anläßlich seiner zum
Tode führenden Krankheit in Wiuterthur von den
Glarner Behörden kurz vor Hößli's Tode zum Vormunde
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— 4(39 -
und Liquidator seines Vermögens ernannt wurde. Für
Heinrichs fast zarte Liebe zum hülflosen Tiere erlebte
ein jetzt achtzigjähriger Greis in Glarus einen äußerst
charakteristischen Fall. Einst kam dieser mit einem
Freunde nach Lachen und traf im dortigen Gasthause
zum Ochsen auch Heinrich Hößli an. Nach Tische lud
dieser seine Ortsgenossen zur Besichtigung seines schön
gelegenen originellen Ileimwesens ein; in der Wohnstube
befand sich hier ein großer runder Tisch mit Büchern
aller Art überlegt und mitten darin ein Vogelkäfig mit
einem Kanarienvögelchen. Auf des Ortsgenossen Bemer-
kung: „Sie halten also auch ein Vögelchen?" erwiderte
Heinrich: „Ja, leider! Ich kann Ihnen damit den Beweis
liefern, daß einer kein freier Mann ist, wenn er nur ein
Vögelchen besitzt. Ich begab mich auf eine Reise, als
mir unterwegs, da eben mein Schiff1 in Stäfa landete,
plötzlich in den Sinn kam, daß ich mein Vögelchen zu
füttern vergessen hatte. Was tun ? Um das Tierchen
am Leben zu erhalten, mußte ich mit dem nächsten Schiffe
wieder umkehren und die geplante Heise aufschieben."
Heinrich war ungeachtet mancher Fehler und
Schwächen, wie solche wohl jedermann eigen sind, ein
edler, ideal gesinnter Mensch. Ganz besonders stark war
sein Gerechtigkeitsgefühl entwickelt. Hörte er, daß man mit
einem Steine oder dergl. nach einer Katze geworfen hatte,
so brummte er: .Teufel auch! Wenn man die Menschen
so hetzte wie eine Katze, so würden auch sie falsch und
diebisch!" Eine seltene Willenskraft, welche weder durch
die Ueberzeugung von der eigenen Unzulänglichkeit
zurückschreckte, noch durch äußere Widerwärtigkeiten
schlimmster Art lahm gelegt wurde, hat Heinrich durch
die Herausgabe des zweiten Bandes seines „Eros* hin-
länglich dargetan ; auch daß er seinem einmal ergriffenen
Berufe treu geblieben, ohne je höher hinaus zu wollen,
ungeachtet des Vorherrschens seiner Hinneigung zu an-
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— 470 —
gestrengter geistiger Tätigkeit, zeugt für seine intensive
Willensstärke nicht weniger als verschiedene kleine, mehr
augenfällige positive Züge seines Wesens, so z. B., daß er,
wenn er am 1. eines Monats Zahnschmerzen hatte, mit
Kreide an die Wand schrieb: Am 4. habe ich sie nicht
mehr. Ueberhaupt schrieb er alle Wände voll mit allerlei
Notizen, selbst über der Türe, so daß manche einfältige
Leute glaubten, daß er ein halber Zauberer oder Hexen-
meister sei, was ihn oft recht belustigte, uud in seinem
Nachlasse fanden sich hunderte beschriebener Papier-
schnitzel vor, zumeist geschäftlichen Inhalts. In seiner
Einsamkeit gewöhnte er sich an, laut mit sich selbst
zu sprechen.
Heinrich gehörte der evangelischen Kirche an, war
aber vollkommen freidenkerisch und spottete freisinnig
über Religionsbekenntnisse und „Pfaffen", ohne aber dabei
im Geringsten Atheist zu sein; auf die Geistlichkeit hatte
er einen gewissen scheinbar unversöhnlichen Haß geworfen,
welcher jedoch sicherlich nur der von derselben vertretenen
Sache, keineswegs der Person galt, wie seine Freundschaft
mit mehreren geistlichen Herren, dem Pfarrer Freuler
in Wülflingen, dem Pfarrer Speich in Glarus, genugsam
beweist; diesem Hasse gab er auch durch Spott gelegentlich
deutlichen Ausdruck; seine vertraute Freundin Fräulein
Brunner, die er aus der Kirche kommen sah, fragte er
höhnisch: „Nun, was hat der Herr Pfarrer gepregelt ?*, wo-
rauf sie ihm erwiderte: „Wenn Sie so fragen, werde ich es
Ihnen niet sagen". Heinrich spottete aber nur über die
bigotte Geistlichkeit und „Pfaffenwelt" und deren oft eng
begrenzten Horizont; und wenu er die Geistlichkeit zum
Teil haßte, so war dazu wohl auch ein Grund der, daß
manche Geistliche s. Z. sich hervortaten, damit der
weitere Druck seines Buches „Eros" verboten werde.
Wenn er vom Sterben und vom Tode sprach, so betonte
er oft: Er werde dereinst ruhig vor den Richterstuhl
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— 471 —
Gottes treten, denn er habe stets nur das Gute gewollt
und er hoffe, Gott werde ihm seine Irrtümer und Fehler
wie allen sündigen und reuigen Menschen verzeihen.
Für alles Gute, Edle und Schöne war Heinrich stets
begeistert; er schwärmte für Gesang, besonders für die
Lieder des Sängervaters Hans Georg Naegeli von Zürich;
auch war er ein aufrichtiger Freund der Natur und ein
scharfsinniger Beobachter derselben.
Vermöge seiner hochentwickelten Intelligenz zeigte
er sich auf keinem geistigen Gebiete verlegen; er konnte
sich mit Künstlern und Gelehrten, unter denen er ver-
traute Freunde besaß, unterhalten, obwohl er Schule nicht
genossen hatte; und dieses war nicht nur die Meinung
derer, die ihn dieses Vorzuges wegen zu beneiden Ursache
hatten, sondern ebenso auch die Auffassung der gebildeten
Kreise. Als Zeugnis dessen diene das nachfolgende in der
Orthographie des Originals wiedergegebene Schreiben
des Dr. Müglich an die Gräfin v. Bentzel-Sternau:
„Ihrer Hochgeboren der
Frau Gräfin v. Bentzel-Sternau
gebornen Baronin v. Seckendorf
Mariahalden.
Gnädige Frau Gräfin.
Wenn ich auch sonst auser Berührung mit Ihrem edeln
Hause bleiben solte, so nehme ich mir doch die Freiheit,
mich zuweilen durch die Feder mit demselben noch in
Verbindung zu sezen. So jezt. Herr Heinrich Hößli
von Glarus wünschte auf einer Reise nach Zürich Ihre
Gemälde zu sehen. Ich sagte ihm, Sie seyen so ge-
fällig, ihm dieselben auch ohne mein Billet sehen zu
lassen: er drang aber in mich und ich wilfahre ihm.
Diser Mann ist mir äuserst merkwürdig erschinen.
Er ist ein Autodidakt und ich mögte wohl sagen, ein
Filosof, ob er gleich bürgerlich nur ein Puzmacher
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— 472 —
ist. Ich fürcht also nicht, daß Ihre Excellenz ihn so
sarkastisch aufnehmen werde, wi Napoleon diStael, indem
er si fragte, wivil kostet eine Elle der Spizen hir an
Ihrer Halskrause?
Hochachtungsvol
Ihrer Excellenz
ergebenster Diner
Mollis, 1827. Dr. J. K. A. Müglich".
Und diese Auffassung von Heinrich Hößli's Geistes-
art galt nicht nur zu der Zeit, als er noch am „Eros"
arbeitete, sondern auch noch, als dieser längst er-
schienen und verboten war, blieb sein Verfasser überall
äußerst beliebt und jedermann hielt ihn für einen ge-
scheidten Kopf. Er interessierte sich lebhaft für jeg-
lichen Fortschritt; in den vierziger Jahren pflegte er be-
züglich der Erfindungen seines Jahrhunderts zu äußern :
„Es kommt noch so weit, daß man in den Hafenkübel
hineinhockt und — zum Fenster hinausfliegt." Eine be-
sonders große Liebe war Heinrich zum gestirnten Him-
mel eigen und kundig war er der Sterne und ihrer
Bahnen, ihres Standes und ihres Erscheinens. Er war
ein leidenschaftlicher Freund guter Bücher und hielt
streng auf deren sorgfältige Behandlung; „Eselsohren"
waren ihm ein Greuel; seiner vertrautesten Freundin,
Fräulein Brunner, lieh er Werther's Leiden, weil er wisse,
daß sie das Buch angemessen behandeln würde, er gäbe
es aber nicht einem jeden. Aus dem Hause des
Pfarrers Freuler zu Wülflingen ersuchte er noch am
22. November 1860, bereits über 70 Jahre alt, J. J.
Siegfriede Buchhandlung und Antiquariat in Zürich um
Zusendung von 37 wissenschaftlichen und dichterischen
Werken aus dessen 127. Verzeichnisse; s/8 davon wolle
er jedenfalls behalten, wahrscheinlich alle ; und er sendete
20 Franken Vorschuß ein. Seine erstaunliche Kenntnis
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- 473 -
der Literatur war seinen Freunden wohl bekannt; sie
ließ nicht nach, als Heinrich die Fortsetzung seines
„Eros" definitiv aufgegeben hatte; ein Brief des W. E.
von Gonzenbach am Berg aus St. Gallen vom 24. No-
vember 1854 hebt diese Kenntnis Hößli's und seine
Liebe zur Literatur hervor.-1) Bei seinem Tode hinter-
ließ er 8 Kisten mit Büchern. Heinrichs um sechs Jahre
jüngerer Bruder Johann Ulrich, mit dessen weder lieb-
reichem noch aufrichtigem Charakter sich Heinrich nicht
zu befreunden vermochte, nannte ihn nur den „gefehlten
Gelehrten".
Ein langjähriger Bekannter Heinrich Hößli's zeich-
nete diesen mit den sechs Worten: „Er war Idealist —
Eros sein Steckenpferd."
Mit dem eingetretenen Greisenalter scheint nicht
zum mindesten das trostlose Schicksal seiner Idee vom
Eros an Heinrichs Herzen genagt zu haben; er galt
mehr und mehr als Sonderling, wurde im Verkehr mit
seinen Mitmenschen eher wortkarg als mitteilsam und
äußerst vorsichtig und zurückhaltend in Rede und
Urteil. Auch verfiel er auf Sonderbarkeiten, die bei
*) Von der Tiefe seines Interesses lür Philosophie und Dicht-
kunst zeugt auoh die Tatsache, daß er aus den Vorlesungen an
der Universität Zürich im Wintersemester 1853/54 nach der „Neuen
Zürcher Zeitung", Nummer 238, Beilage, in seinem Notizbuch
notierte:
„Philosophische Fakultät — Prof. ord. Dr. H. A. Th. Kochly
1. Geschichte der griechischen Weltliteratur (der allge-
meinen griechischen Literaturgeschichte zweite Hälfte)
4 Stunden.
2. Vergleichende Erklärung der Elektra des Sophokles
und der Elektra des Euripides; 3 Stunden.
3. Ausgewählte Gedichte der römischen Elegiker; 3. St.
4. Uebungen der philologischen Gesellschaft (Erklärungen
von Piatons Phädrus), unentgeltlich; 2 Stunden.
Anfang 31. Oktober."
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— 474 -
seinem sonst so ausgesprochen edlen Wesen nicht recht
verständlich sind.
Ein glücklicher Mensch iit Heinrich Hößli nie
gewesen. In einem Briefe an seine sehr unglücklich ver-
heiratete Schwester Frau Regula Kehlinger geb. Hößli
in Kaufbeueru, aus Glarus vom 9. Juli 1842 datiert, in
welchem der 58jährige Mann schildert, der Vater sei
noch so gesund wie ein junger Hirsch und die Brüder
befänden sich in Wohlstand und ziemlichem häuslichen
Frieden, findet sich der nachfolgende erschütternde Satz :
„Bei diesen1) Dingen aber kenne ich, liebe Schwester,
das Leben und Schicksal der Menschen, ich darf wohl
sagen, von allen seinen fürchterlichen Seiten. Meine
Vergangenheit ist eine Reihe beinahe unaufhörlichen Un-
glücks und Leidens; ich sehe mit Schaudern zurück; und
wenn Du einmal hörst, daß ich auch den letzten Streit
vorüber habe, so falle vor Dank und Freude nieder vor
Deinem Gott*
Allein trotz dieser durch manches Bittere, das er
erleben mußte, notwendig hervorgerufenen düsteren
Stimmungen, die Heinrich nicht Herr über sich werden
ließ, sah man ihn oft heiter und froh, besonders dann,
wenn freudige Ereignisse in den ihm befreundeten Fa-
milien eintraten oder wenn in den Zeitungen von einem
weltbewegenden Fortschritte zu lesen war. —
Als Rekapitulation und zugleich als Dokument aus
der damaligen Zeit folgt hier der Nekrolog Hößlis im
„ Republikaner.44
„ — W i n t e r t h u r. (Einges.) Ende letzter Woche
verschied hier im 83. 2) Lebensjahre ein auch in weitern
Kreisen bekannter origineller Glarner, Namens Heinrich
Hößli. Derselbe wurde im Jahre 17823) von unbemittelten
*) (d. h. Heinrichs Wohlstand betreffenden)
e) Im 81. Lebensjahre nach Seite 1«>0 und 404.
*) 1784 nach Seite 454 und 4G4.
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— 475 —
Eltern geboren, kam dann in den auch fürs Glarnerland
so verhängnißvollen neunziger Jahren mit einem Transporte
armer Kinder nach Zürich und später in ein Handlungs-
geschäft in Bern.
„Im Anfang dieses Jahrhunderts eröffnete er in
Glarus ein sogenanntes Putzgeschäft, das er mit Erfolg
bis Ende der vierziger Jahre betrieb, und gab es damals
wohl wenige Familien landauf und ab, die nicht mit dem
Putzmacher Hößli verkehrten. Neben seinem Geschäfte
hatte derselbe einen unermüdlichen Drang nach Wissen
und Bildung und verausgabte auch einen großen Theil
seiner Ersparnisse für Bücher und Schriften aller Art.
In Folge dessen eignete er sich eine tiefe Denkungsart
an und erhielt sein Geist einen philosophisch gelehrten
Zug. Hößli stand s. Z. auch in Verbindung mit Zschokke
und Troxler und erzählte stets mit Freuden, daß auf
seine Eingebung hin jener den „Eros* in seine Novellen
schrieb.
„Mit seinem selbstgeschriebenen Werke „Erosw hatte
der Verfasser jedoch wenig Glück, indem der damalige
Rath von Glarus dasselbe weiter zu schreiben1) verbot;
immerhin wird dieses Buch, wie wir schon Gelegenheit
hatten zu hören, vou sehr gelehrten Personen weit milder
beurtheilt und sagten einst die Verleger selbst, daß frag-
liches Buch von Laien meist nicht verstanden, dagegen
oft von Literaten gekauft werde, um daraus zu schöpfen,
und es bewundernswerth sei, wie es einem ungeschulten
Manne möglich geworden, einen solchen Schatz von Ge-
lehrsamkeit und eigenen neuen Ideen darin niederzulegen. *
„Nach Aufgebung seines Geschäfts in Glarus arbei-
tete der Alte mit regem Interesse an einem dritten Bande
seines Werkes2), um Unterlassenes nachzuholen und über-
l) Zu drucken, nicht zu schreiben, nach S. 450 u. S. 500
9) Dieser war von vornherein geplant nach S. 451 u. S. 477.
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— 47(5 —
haupt seine Idee verständlicher und klarer zu machen,
konnte denselben jedoch nicht mehr beenden, indem er
von seinem unruhigen Geiste stets hin und her getrieben
wurde und ein wahres Wanderleben führte.
*
„Von Jugend auf ein Freund der Natur, fesselten
ihn besonders die Gestade des schönen Zürichsees und
so wohnte er oft in Glarus, dann in Stäfa, Richterswyl,
Lachen, Mollis, wieder Glarus und endlich zog er nach
Winterthur.
„Bis zu der Zeit, wo jenes in den Blättern veröffent-
lichte eigenthümlicheTestament seines Sohnes „John Höß Ii
aus New-York" ihm zu Ohren drang, blieb der Alte,
seine angebornen Eigenheiten abgerechnet, immer heiter
und froh und als guter Gesellschafter stets gerne gelitten ;
seither war aber eine Veränderung an ihm wahrzunehmen,
die ihu nach und nach körperlich und geistig zerstörte.
Hößli behauptete nämlich immer und vielleicht nicht mit
Unrecht, daß fragliches Testament nicht das richtige sei
und noch ein anderes späteres Dokument existiren müsse.
„In der That klingt es etwas sonderbar, wie ein unver-
heirateter Sohn, der ein Vermögen von beiläufig einer
halben Million besaß, seinen alten, nicht sehr bemittelten
Vater in seinem letzten Willen nur mit Fr. 5000 beden-
ken und seinen einzigen Bruder ganz übergehen konnte,
währenddem die Hauptsumme seiner damals schon seit
vielen Jahren abgeschiedenen Mutter zukommen soll oder
nach deren Tod einer ehemaligen Jugendfreundin des
Erblassers, die außer der Familie steht. Um so mehr,
da der Sohn seinen Vater einige Monate vor seiner Ver-
unglückung auf dem Meere noch von seiner Ankunft
unterrichtete mit der freudigen Mittheilung, daß er nun
in der Schweiz zu bleiben und irgendwo einen hübsch
gelegenen Landsitz zu kaufen gedenke, auf welchen er ihn
dann zu sich nehmen wolle, um ihm den Rest seines un-
ruhigen Lebens noch zu verschönern.
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— 477 —
„Hößli bemühte und härmte sich vergebens, dieses
Dunkel zu lösen, es sollte ihm nicht mehr beschieden
sein, diese Sache in klarem Lichte zu sehen.
„Er hat nun ausgekämpft mit der Welt, die ihn so
oft mißverstanden. Ruhe seiner Asche!"
Aus: Der Republikaner. Zürcher Intelligenzblatt,
Elfter Jahrgang. Nr. 1. Sonntag, 1. Januar 1805. Seite 2.
III. Heinrich Hößli's zweibändiger „Eros".
Den Entschluß zur Abfassung seines Lebenswerkes
,Eros* hat Heinrich Hößli erst einige Jahre nach dem
Erscheinen der durch ihn angeregten Novelle „Der Eros
oder über die Liebe* von Heinrich Zschokke (1821) ge-
faßt; seine Erosidee aber, nachdem sie 1817 in Hößli's
33. Lebensjahre geboren war, hat ihn bis in sein Todes-
jahr unablässig begleitet und ihn nicht früher Ruhe finden
lassen, als bis er 1836 den ersten und 1838 auch den
zweiten Rand gedruckt vor sich sah. Dann erst gab er
den Plan, einen dritten Rand folgen zu lassen, auf und
es blieben die zu demselben fertigen Kapitel ungedruckt,
die auf ihn bezüglichen Notizen unfertig liegen.
Es dürfte nunmehr eine dreifache Aufgabe mir zu-
fallen: erstlich den wesentlichen Inhalt der beiden ge-
druckten, 721 Oktavseiten füllenden Rande und, soweit
es sich feststellen läßt, auch den geplanten Inhalt des
dritten, ungedruckt gebliebenen Randes in möglichster
Gedrängtheit wiederzugeben; — alsdann den Werde-
gang und das Schicksal des „Eros" zu verfolgen; —
und drittens dem Leser einige der bedeutendsten Stellen
des Eroswerkes unverkürzt vorzuführen, Stellen, welche
die geistige Redeutung Hößli's hervortreten lassen und
entweder durch die Eigenartigkeit oder durch den Reich-
tum der Gedankeu oder aber durch ihre Kraft oder
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— 478 —
ihren individuellen Ausdruck für die Denkweise und die
Schreibart Hößli's charakteristisch sind.
1. Der wesentliche Inhalt von Heinrich Hößli's „Eros".
Versuchen wir, den Erosinhalt unter Vermeidung
aller subjektiven Phraseologie aus dem an allgemeinen
Gedanken und eigenen Gesichtspunkten, besonders in den
Vorreden zu beiden Bänden, überreichen Buche rein
herauszuschälen, ohne uns streng an den Gedankengang
des Werkes zu halten.
Eine außergewöhnlich fürchterliche Hinrichtung, die
des Doktors der Rechte und Bürgers von Bern Frauz
Desgouttes,1) der 1817 seinen Schreiber und Liebling
Daniel Hemmeier ermordete und dafür gerädert
wurde,2) hatte bei ihrem Bekanntwerden in Hößli die
noch schlummernde Empfindung der Notwendigkeit
einer aufklärenden Schrift über die den alten Griechen
als Natur bewußt gewesene, der Neuzeit jedoch als
Unnatur dunkle und mit schweren Strafen bedrohte
Knaben- oder Männerliebe geweckt. Hößli schmerzte
es als das unerträglichste aller Leiden, zahlreiche seiner
Mitmenschen ohne jede Schuld unaufhörlich von den
Gesetzen bedrängt zu sehen.3) Die Liebe zu den Lieb-
lingen hatte er aus seinem durch vieljährige Prüfung4)
erlangten Wissen und durch seine von der Literatur be-
stätigte und bestärkte Ueberzeugung5) als eine von der
') Ueber ihn handelt das folgende (5.) Biogramm dieser Quellen-
materialien. Hößli's Eros handelt Uber ihn I S. IX, S. XVI, S. 61
u. S. 278 ; ferner II S. 53, S. 212—213, S. 225, S. 239, S. 263—264,
S. 279, S. 327*) und S. 351.
«) Darüber in Hößli's Eros 1 S. IX; S. XVI; S. 61; S. 278;
— Eros II S. 53; S. 212-213; S. 225; S. 263-264; S. 279;
S. 327*); S. 351.
*) Eros I S. XXIII— XXIV. 4) Eros I S. XXIX.
A) Eros I S. XXV-XXVI.
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479 —
Natur geforderte, reine, einfache, ewige, unwandelbare,
sittlich berechtigte Naturerscheinung längst erkannt.1)
Diese Natur, die gleichgeschlechtliche Liebe, kann
als Naturerscheinung zum Laster, zum Verbrechen führen,1)
braucht es aber nicht notwendig. Solche Eigenschaft
hat sie mit der zweigeschlechtlichen Liebe gemeinsam
und ebenso wie diese beruht sie auf geschlecht-
licher Anziehung.8) Sie ist aber, obschon sie ihre Wur-
zeln im Erdreiche hat, auch zugleich göttlichen Ursprungs
und sie ist vom Schöpfer für höhere Zwecke, gleich der
zweigeschlechtlichen Liebe, bestimmt.4) Dieserhalb ist sie
auch, wie diese, der Veredlung, der Vergöttlichung, der
Idealisierung nicht nur fähig, sondern bedürftig.*) Die
der Männerliebe zu Grunde liegende Natur zeigt über-
all sowohl die weiblichen als die männlichen
Hauptzüge und Eigenschaften der Seele und
des Gemüts mit allen ihren mannigfachen
Kräften und Stimmungen in sich vereinigt,6)
derart, daß die bloß äußerlichen Kennzeichen
des Geschlechtes, welche für die Bezeich-
nungen „Mann" und „Weib" maßgebend sind,
für das Geschlechtsleben des Leibes und der
Seele nicht den Ausschlag geben.7) Genau so
wurde die gleichgeschlechtliche Liebe von Plato und
den alten Griechen überhaupt aufgefaßt und von ihnen
nach Möglichkeit veredelt, vergöttlicht und idealisiert.8}
In der griechischen Kunst ist auch der Gegenstand der
Männerliebe durch jungfräuliche Männlichkeit, die nicht
weibische Mannheit ist, zur Darstellung gebracht9)
Ganz anders in der Neuzeit. Alle jene Wahrheiten
hat man völlig vergessen und daher müssen sie von
') Eros I S. 35. 2) Eros I S. 148; II S. XV— XVI; S. 240.
*) Eros II S. XVI; S. 36—36: S. 295—296. *) Eros II S. 29—38.
») Eros II 8. 24-25. «) Eros II S. 299-301. Eros I S. 44;
II S. 16—53. *) Eros I S. 120 ; II S. 194-195 u. öfter. •) Eros II S. 325.
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— 480 —
neuem bewiesen werden.1) Zwar haben in neuerer Zeit
drei deutsche Schriftsteller, von Ramdohr, Meiners
und Zschokke, die der Neuzeit dunkle Sache aufzu-
klären versucht,*) allein ihre Auffassungen sind nur halb
wahr und daher auch halb unwahr.8) Diese unsere Neu-
zeit übersah ganz den göttlichen Ursprung der gleich-
geschlechtlichen Liebe; sie vereitelte den Plan des
Schöpfers, verhinderte ihre mögliche Veredlung, drückte
sie in den Sumpf hinab und führte sie so naturnotwendig
zum Laster und zum Verbrechen [bei Desgouttes], ent-
göttlichte sie, anstatt, gleich den Griechen, sie zu ver-
göttlichen.4) Individuen, deren äußere Kennzeichen als
unzuverlässig für das Geschlechtsleben ihres Leibes und
ihrer Seele sich erwiesen, gab es stets, bei allen Völkern und
zu allen Zeiten, B) solche gibt es auch in der Gegenwart ;
von ihrer Gefährlichkeit spricht jedermann
so halblaut, gerade so wie unsere in Gott
ruhenden Väter von den Hexen geredet
haben.0) Man kann sie nicht nennen, ohne sie zugleich
dem Verderben durch unsere Henkersanstalt preiszu-
geben, und man ist genötigt, auf Stimmen und
Zeugen, die derMenschhcitsgeschichte angehören,
sich zu beschränken.7) Als solche Stimmen und Zeugen
führt Hößli in 42 Nummern, fast 100 Seiten füllend,
Dichtungen und Aussprüche, die gleichgeschlechtliche
Liebe betreffend, aus allen Zeiten und von allen Völkern
stammend, auf.8) Iudem das Christentum die Tatsache
der Unzuverlässigkeit der äußeren Geschlechtskennzeichen
übersieht,9) bemüht man sich, andere Erklärungen für
die Erscheinung, die man weder leugnen, noch aus der
Welt schaffen kann, aufzufinden; sosoll die Ursache der
gleichgeschlechtlichen Liebe bald Schönheitssinn, bald
«) Eros I S. 44. 3) Eros I S. 275—280. *) Eros I S. 66.
•) Eros I S. 116—119; S. '272. ft) Eros II 8. 43—44. ö) Eros IL S. 18i>.
') Eros II S. 44; S. 172. <) Eros II S. 53—150. »)Eros II S. 161.
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- 481 —
Ausartung, bald Willkür oder Selbstbestimmung, bald
bloß griechische Liebe sein, bei uns aber weniger oder
gar nicht mehr vorkommen, bald soll sie ein Laster wie
andere, bald bloß ein Heidenlaster, ja selbst Knaben-
schändung sein : allein alle diese Erklärungsversuche siud
nur untergeschoben1), und gegenüber der auf geschlecht-
licher Anziehung beruhenden, gegenüber der reinen,
naturnotwendigen, der Veredlung fähigen gleichgeschlecht-
lichen Liebe sind sie hinfällig.
An und für sich wäre die Liebe zu den Lieblingen
nicht ein so bedeutender Gegenstand, daß ein dreibän-
diges aufklärendes Werk über sie brauchte geschrieben
zu werden; allein bei den irrigen Vorstellungen, welche
das falsche Christentum der Neuzeit von ihr hat, wird
sie dazu gestempelt.8) Der Naturforscher, der Erforscher
der Wahrheit, hat nicht danach zu fragen, ob durch die
erkannte Wahrheit und ein dieser entsprechendes Aufgeben
falscher Vorstellungen geltende Sitten-, Natur- und
Uechts-Lehren und -Begriffe in Trümmer fallen, da er
nur einen Richter, die Natur, über sich anerkennt;
was durch Naturwahrheit gestürzt wird, war nicht selbst
Natur und kann nur durch Vernichtung der unschuldigen
Natur mit Gewalt aufrecht erhalten werden.3) Das über
die Ausübung der gleichgeschlechtlichen Liebe gesetzte Ge-
richt unserer Zeit ist die größte Unrechteanstalt auf der
ganzen Erde.4) Auch ist es eine unmenschliche Scham, zu
glauben, daß ein diesen so dunklen Gegenstand aufklärendes
Buch dem Christentum irgend welchen Schaden stiften
könne.5) Wer sich Erzieher, Aver sich Lehrer nennt und den
nicht kennt, nicht kennen will, den er erziehen, den er
lehren soll, führt einen Spottnamen und ist in Wirk-
lichkeit nur Barbar oder Halbmensch.6)
') Eros II S. 214—269. *) Eros I S. %. ») Eros I S. 172-173
*) Eros I S. XXV. ») Eros I S. XXXII. «) Eros II S. 274-275
Jahrbuch V. 31
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— 482 —
Hößli gibt im 2. Bande des „Eros" 1838 seiner be-
sondern Befriedigung darüber Ausdruck, daß er in dem
1837 erschienenen Drama «Die Freunde" von Wiese
schon so bald nach Ausgabe seines 1. Bandes (1836) eine
Unterstützung seiner Bestrebungen fand.1)
Tch lasse nun eine einfache Inhaltsübersicht
des Eroswerkes folgen, welche den Besitzern desselben
gewiß nicht unwillkommen sein wird, da eine solche dem
AVerke fehlt und Gesuchtes ohne solche nicht leicht auf-
findbar ist.
Inhalt des ersten Bandes:
Dem Schutzgeist des menschlichen Geschlechts S. V — X.
Einleitende Worte als Vorrede S. XI — XXXIX.
Erster Abschnitt: Hexenprozeß und -glaube, Pfaffen und
Teufel als würdiges Soitenstück zu dem Wesen unserer Meinungen
und Begriffe vom Eros der Griechen, wie er in seinen Folgen und
Einflüssen mitten in unserm Leben waltet S. 1— (274 statt) 30.
Zweiter Abschnitt: Wahn und Wahrheit, Aberglaube und
Unwissenheit, unsere Meinungen und Begriffe vom Eros der Grie-
chen, unser Irrglaube an eine Zuverlässigkeit der äußeren Kenn-
zeichen im Geschlechtsleben des Leibes und der Seele S. 31 — 72.
Dritter Abschnitt: Deutungen des Charakters der Mensch-
heit zu allen Teilen und Bestimmungen ihrer geistigen und leib-
lichen Natur S. 72$ — 92.
Vierter Abschnitt: Nähere Bezeichnungen und Bestimmun-
gen der Aufgabe dieses Buchs und des Unterschieds zwischen uns
und den Griechen in Betreff des Eros, oder der Natur, der An-
sichten und der Behandlung der Liebe zu den Lieblingen, wie
unseres Glaubens an eine (nicht vorhandene) Zuverlässigkeit der
äußern Kennzeichen im Geschlechtsleben des Leibes und der Seele,
in sittlicher, moralischer und anthropologischer Hinsicht und . Be-
ziehung S. 93—112.
Fünfter Abschnitt: Das Wesen der menschlichen Ge-
schlechtsliebe (Erfahrungen und Glaubensbekenntnis) S. 113 — 154.
Sechster Abschnitt: Natur S. loa — 174.
Siebenter Abschnitt: Plato S. 175—192.
») Eros II S. 327**).
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— 483 —
Achter Abschnitt: Leben und Wissenschaft der Griechen
in der Idee der Männerliebe und die späteren Zeiten außer derselben
S. 198—238.
Neunter Abschnitt: Unsere Schriften und Schriftsteller
über die Liebe des Plato, welche Resultate geben sie uns, was
leisten sie uns filr das Studium der Griechen, des Geschlechtslebens
und des Eros und was die Schriften der Alten für Wissenschaft und
Leben? S. 239—304.
Verbesserungen (Druckfehler) 2 Seiten.
Inhalt des zweiten Bandes:
Verbesserungen (Druckfehler).
Einleitende Worte als Vorrede und Fortsetzung derjenigen im
ersten Band S. I— XXXI L
Erster Abschnitt: ■) Die Zuverlässigkeit der äußern Kenn-
zeichen im Geschlechtsleben des Leibes und der Seele ist Wrahn;
platonische Liebe nach unHern Begriffen: ein Hirngespinst; die
M&nnerliebe der Griechen: reine und unwandelbare Natur S. 1 — 352.
Stimmen und Zeugen: 1. Bejli Hassau S. 53 — 65; —
2. FLavius Philostratus S. 55—56; — 3. Des persischen Dichters
Sadi 5 Blumen S. 56—57; — 4. Hornz S. 58: — 5. Hiero, Simonides u.
Xenophon S. 59—61; — 6. Griechische Anthologie S. 61—64: —
7. Agesilaus und Xenophon S. 64—66; — 8. Zeugnis der männlichen
Liebe «ms Persien. Sechs Dichtungen, verdeutscht von v. Hammer
S. 66 — 71 ; — 9. Xenophon undSokrates S. 71—73; — 10. Apollodor
S. 74; — 11. Valerius Maximus und Ephialtes S. 74 — 75; — 12.
Mohamed Ferdi (aus dem Türkischen übersetzt von Thomas Schabert)
S. 75—78; — 13. Aristoteles S. 78; — 14. Sokrates und Plato
S. 79; — 15. Monla Abdul Latin" mit Scheich Elwan Schirasi
S. 79—80, Ssubhi (Brnssa) S. 80—81 und Bassin (Herat) S. 81—82:
16. Anakreons Grab S. 82—88; — 17. Schejch Kuscheni, Saadi
Tschelebi und Ssaji S. 88—93; — 18. Der Divan des Mahomed
Schemsed- Din Hafis (nach v. Hammer) S. 93—95; — 19. Tibull's 4.
und 9. Elegie S. 95— 99; — 20. Erasistratus und Plutareh S. 99—104;
— 21. Perikles, Sophokles und Valerius Maximus S. 105: — 22.
v. Hammer s Zueignung des persischen Divans an den Grafen
v. Harrach und drei von ihm übersetzte Oden aus demselben
S. 105—109: — 23. Plato und sein Zeitalter S. 109—110; — 24.
Arian. Alexander und Aelian S. 110—112; — 25. Xenophon (Ana-
') .Per /w< iu? Barnl • rscheint durch Zufall nicht in »«•omK-n* Ali»clinitte
tieordncl." Hüßli : Kr.* II. S. 44.
31*
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— 484 —
basis 2. VI) S. 112—114; — 26. Sadi (Rosengarten, nach v. Rara-
dohrs Venns Urania IV. S. 25) S. 114—115; — 27. Virgil (zweite
Ekloge) S. 110 — 118; — 28. Lucian im Eingang seines Gespräches:
Das Schiff oder die Wünsche 8. 118—121: — 29. Ishak Tschelebi
S. 121—122, Ussuli S. 123 nnd Affitabi S. 123—124; — 30. Ahmed
Pascha S. 125—126; — 31. Theokrits siebente Idylle S. 126-129:
— 82. Antinous und Hadrian S. 129: — 83. Morgenländische
Stimmen und Zeugen der platonischen Liebe S. 129—131 ; — 34. Die
Insel der Liebe (von Herder aus dem griechischen) S. 182; — 85.
Griechische und römische Geschichte (Aelianus und Athenaus) S. 132
bis 133; — 36. F. W. B. von Ramdohr, Uber die Natur der Liebe,
über ihre Veredlung und Verschönerung. 3. Bandes 1. Abteilung,
12. Kap. S. 134 — 135; — 37. Persische Stimmen und Zeugen S. 135
bis 136: — 88. Theokrits Idyllen S. 136—141; — 39. Ahmed
Daji, Dichter aus dem Lande Kennjan in Kleinasien S. 141; — 40.
Xenophon im Symposion S. 141—143; — 41. Durch v. Hammer
Ubersetzte kleine orientalische Dichtungen S. 143—148; —
42. Plutarch S. 148—150.
Die Mannerliebe der Griechen war weder A: Schön-
heitssinn S. 215—219, noch B: Seelenliebe S. 219—224, noch C:
Ausartung S. 224—226, noch D: Willkür, Selbstbestimmung S. 226
bis 234, noch E : bloß griechische Liebe S. 234—287, auch ist sie
F: nicht bei uns weniger oder gar nicht vorhanden S. 237—239,
noch G: ein Laster und Verbrechen wie andere S. 239—264, noch
H: bloß « in Heidenlaster S. 264, noch I: Knabenschandung
S. 264—269.
Für den dritten Band des „Eros" waren außer der
Leidensgeschichte Desgouttes' von Hößli die folgenden
fünf Kapitel geplant:
1. Die Bedeutung und Heiligkeit der Gesehlechtsnatnr, physisch,
psychisch und intellektuell, die innerhalb ihrer Schranken möglichen
Gefahren und Entwürdigungen und was an ihr zu bilden oder zu
zerstören ist (nach Eros II. S. XII und S. XV).
2. Die besondere gleichgeschlechtliche Gesehlechtsnatur, jetzt
unterdrückt und verwahrlost, bleibt trotzdem vorhanden und ab-
solut wirksam (nach Eros II. S. 343—314).
3. Der grolle und unabwendbare Einfluß des jetzt verworfe-
nen Teils der Geschlcchtsliebo (der gleichgeschlechtlichen) auf alle
Gebiete des Lebens mit besonderer Kücksicht auf den körperlichen
Punkt (nach Eros II S. VII und S. 316-317).
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— 485 —
4. Versittlichung der Männerliebe; der Lichtkreis, in welchem
uns künftig alles Rätselhafte, Rechtliche und Unrechtliche, Sittliche
und Unsittliche, kurz, der ganze Geist, die Moral und Idee des Eros
und der Lehren des Plato aufgehen wird (nach Eros II S. XXIII
und 8. 342—343).
5. Was hat die Religion aus dem Eros zu machen und die
diesem Versuche zu widersprechen scheinenden Bibelstellen (nach
Eros II 8. 351 *).
2. Entstehung, Werdegang und Schicksal des „Epos".
Als Heinrich Hößli 1817 bei Bekanntwerden der
Ermordung des unglücklichen Bureauschreibers Daniel
Henirneler durch die Hand des nicht minder unglücklichen
Rechtsagenten Dr. jur. Franz Desgouttes in Langenthal
die „Fesseln dieser Zeit um seinen Geist" sich lösen fühlte,
war er 33 Jahre alt, schon 6 Jahre Ehemann und bereits
Vater seiner beiden begabten und später so unternehmungs-
lustigen Söhne geworden. In seinem überaus empfäng-
lichen, allem Unrecht abholden Gemüte verschmolz mit
dem lodernden Zorne, in welchen er durch den ihm
überall entgegentretenden Mangel an Erkenntnis der
Natürlichkeit und Naturnotwendigkeit der gleich-
geschlechtlichen Liebe geriet, der Unmut über den
von der Geistlichkeit seines Landes geduldeten, wenn
nicht gar genährten Aberglauben an Hexen, dereu letzte,
Anna Göldin, in Heinrichs Geburtshause zu Glarus ge-
lebt hatte und kurz vor seiner Geburt durch Menschen-
hand vom Leben zum Tode gebracht worden war, zu
einer in seiner Seele gewaltig kochenden Empörung. Die
völlige Verständnislosigkeit seiner Zeitgenossen für das
nach seiner Ueberzeugung auf der gleichen Stufe mit
der zweigeschlechtlichen Liebe stehende Problem der Liebe
zu den Lieblingen war im Falle Desgouttes wieder einmal
grauenvoll an das Tageslicht getreten. Hößli zermarterte
sein Gehirn mit dem Versuche, in unwiderleglicher Dar-
stellung der Welt zu zeigen, wie sie in Hinsicht ihrer
Verfolgung der Erscheinungen gleichgeschlechtlicher
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— 4H6 -
Liebe Doch völlig demselben ßnstern Aberglauben ver-
fallen, in einer analogen Wahnidee befangen sei, wie die
Welt des früheren Jahrhunderts bezüglich der Hexen.
Aber noch fühlte Hößli sich nicht reif für ein wirksames
eigenes Unternehmen, noch fehlte ihm die Kraft, ein
Werk zu schaffen, das um ein Jahrhundert den Zeit-
genossen vorauseilen sollte, noch vermochte er nicht,
seine Gedanken so zu sammeln und zu sichten. Es kam
ihm der Einfall, einen seiner Meinung nach würdigeren
Mann, als er selber war, zum Mundstück seiner Ideen
zu gewinnen. Er schrieb nun einen Aufsatz „über Ge-
schlechtsverhältnisse* nieder und suchte 1819 Heinrich
Zschokke in Aarau auf, um ihn außer durch Uebergabe
seines Aufsatzes auch mündlich zum Schreiben über seine
Idee für den Druck anzuregen. Der damals als Lehrer
der Philosophie in Luzern tätige, Hößli befreundete
Troxler1) übernahm es, Hößli bei seinem Duzfreunde
Zschokke einzuführen; Abends spät traf er mit Hößli in
Aarau ein und beide suchten noch am selben Abend
Zschokke in dessen Laudhause, der Blumenhalde, auf.
Schon im Gange rief Troxler seinem Freunde Zschokke
seinen Gruß entgegen und fügte hinzu: „Ich bringe Dir
hier einen halben Gelehrten," worauf dann Zschokke
schlagfertig erwiderte: „Entweder ist's ein ganzer Ge-
lehrter oder ein Narr!" Von dem Empfange bei Zschokke
teilt Hößli in seinem „Eros"2) mit, daß jener ihn als Fremd-
ling mit großer Güte und Gastfreundschaft aufgenommen
und behandelt, auf seine Ansicht hingegen, seiner eigenen
l) Ignaz Paul Vital Troxler, geb. 11. Aug. 1780 zu MUnster
hu Kanton Luzern, wurde von Jesuiten erzogen, widmete sich kurze
Zeit der praktischen Medizin, ergab sich dann ganz seiner Lieblings-
wissenschaft, der Philosophie, und war nacheinander Lehrer der-
selben in Luzern und Hasel und Professor der Philosophie in Bern.
Seine „Metaphysik" hat Heinrich Hößli in seinem „Eros" benutzt.
*) Hößli: Eros 1 S. 278.
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— 487 —
vielen allbekannten Arbeiten, Amtsgeschäfte und Lieb-
lingsforschungen wegen, äußerst wenig Zeit verwendet
habe. Als Zschokke's sehnlichst erwarteter „Eros" 1821
erschien, sah Hößli sich um so bitterer getäuscht, je mehr
er sich von ihm versprochen hatte; er erkannte voll-
kommen die Vergeblichkeit seines Schrittes. BIhra be-
wies ich" — heißt es in Hößli's handschriftlichem Nach-
lasse — »mit meiner Reise und Mittheilung die größte
Achtung, das größte Zutrauen, eigentliche Verehrung . . .
In meinem Aufsatz hat es ganz offenherzig Desgouttes
geheißen, was Herr Zschokke in Lucasson verwandelte . . .
Ich erstarrte gleichsam über diese Schrift (Eros), in der
Holmar meistens raeine eigenen Worte ausspricht — da-
mit die Anderen ihn widerlegen können, verlor meinen
Glauben an Mensch und Wahrheit — und nahm mir vor,
zu schweigen und zu sterben. — Jahre vergingen und
nun rufen Stimmen von außen und innen ... Die männ-
liche Natur und Liebe — nicht entmannte — in solcher
Gestalt theilte ich meine Idee Herrn Zschokke mit und
vorn in seinem Gespräch scheint's, als wolle er nichts
Castriertes zum Besten geben — aber auf einmal muß
das Geschlechtliche weg und das Verstümmelte an dessen
Stelle, aber da erkenne ich meine Wahrheit in Herrn
Zschokke's Gewand nicht."
Um den ganzen Ingrimm Hößli's gegen Zschokke's
Schändung seiner Eros-Idee zu verstehen, müssen wir
Zschokke selbst zu Worte kommen lassen.
Heinrich Zschokke's Novelle „Der Eros oder über
die Liebe** kennt von urnischen Liebespaaren Dämon und
Pythias, Achilles und Patroklus, Orestes und Pylades,
Theseus und Pirithous, Harmodiuä und Aristogiton,
Epaminondas und Kaphisodor, Sokrates und Alcibiades,
Jonathan und David, Jakob I. von England und Bucking-
ham, Lucasson und Walter (erdichtete Namen für Franz
Desgouttes und Daniel Hemmeier); von Urningen macht
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— 4S8 —
die Schrift namhaft: Heinrich III. und Ludwig XIII.
von Frankreich, Pabst Julius II. und Lord Byron.
Bei vielen schiefen Auffassungen erscheint als wichtigste
Stelle der Passus „ Menschenkenner"1), welcher als eine
Art Selbstbekenntnis Zschokke's, zum mindesten aber als
em Bekenntnis Zschokke'scher Auffassung des Uranismus
anzusehen ist. Hier erklärt er die Liebe zwischen Per-
sonen einerlei Geschlechts für eine Zauberei, mit welcher
der vermummte Amor ein Herz schlagen macht, das sich
selbst noch nicht versteht; es gebe wohl wenige Männer
von gefühlvoller Gemütsart, welche nicht auch als
Knaben von irgend einem andern hübschen Knaben
stärker denn von allen andern sich angezogen fühlten
und diesem mit einer fast leidenschaftlichen Zuneigung
anhingen, welche sie nachher nie wieder in dieser Art
gegen Personen ihres eigenen Geschlechts em-
pfänden. Er erinnere sich eines solchen Zuges aus
seinem eigenen Kindesalter. Daher stamme die lange
bleibende Sehnsucht nach einem Freunde, wie man ihn
sich gern träumt und nie findet, besonders im Ungestüm
der Jünglingsjahre, wo mancherlei Verhältnisse noch vom
nähern Umgang mit Frauenzimmern entfernt halten oder
noch keine weibliche Schönheit den Sieg über uns errang.
Daher die überspannten Begriffe sowohl bei jungen
Männern als bei Jungfrauen, welche sie von der wahren
Freundschaft zwischen Personen einerlei Ge-
schlechts hegten. Die mancherlei Verhältnisse aber,
welche vom nähern Umgang mit Frauen entfernt halten,
sind nach ihm diese: Der wildere Knabe spiele am liebsten
mit seines Gleichen und plage das kleine Mädchen, weil
es immer etwas voraus haben wolle oder weine. So
bleibe er immer von diesem entfernt; als werdender Jüng-
J) Zschokke: Der Eros, Ausgabe 181», S. 281—281, siehe S.
151 Fuünote.
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— 489 —
ling nicht minder, denn teilweise reife er viel später als
die Jungfrau, teils zerstreuten ihn Anstrengungen und
Arbeiten auf dem Felde, in den Werkstätten, in den
Schulstuben. Und wann im Jüngling die dunkle Sehnsucht
des Herzens heller werde, trete er scheu vor dem andern
Geschlecht zurück, sei es, weil ihm der Zwang lästig sei,
welchen er seiner ungebundenen, noch knabenhaft-rohen
Art in Gegenwart fein gesitteter Frauenzimmer auflegeu
müsse; oder weil er im Gefühl einer gewissen Unbeholfen-
heit, die dem Alter eigen sei, welches Jean Paul das der
Flegeljahre heiße, blöde und scheu dastehe; oder weil er
stark und besonnen genug sei, zu begreifen, daß er auf
seiner erwählten Lebensbahn noch mit keinem Ernste an
irgend eine Liebe denken dürfe ; oder weil ihm bei seiner
eigentümlichen Sinnesart der Umgang mit Weibern,
wie sie ihm bisher erschienen, nicht zusage. Während
so vom andern Geschlecht mehr oder minder willkürlich
sein Herz entfernt bleibe, verstumme die Stimme der
Natur in diesem Herzen nicht. Sie rede der Freund-
schaft das Wort für irgend einen Liebling und erhöhe
diese mit Leidenschaft zu irgend einer Schwärmerei, von
deren Ursprung es sich selbst nicht Rechenschaft zu
geben wisse. Je entschiedener und standhafter die
Denkart des Mannes sei, um so dauerhafter werde
seine Neigung; je weniger befriedigend diese neben seiner
ewigen Sehnsucht stehe, um so stürmischer, alles über-
wältigend werde die Zuneigung, welche zuletzt sein ganzes
Wesen so verzehre, wie die unglückliche Liebe eines
Werth er oder Sieg wart oder eines Mädchens ver-
zehrend werde, das hoffnungslos um den Geliebten seufzt.
AVenn es bei uns in Europa möglich sei, daß junge
Männer von der Sehnsucht ihrer von ihnen selbst ver-
gessenen Natur sich irre führen lassen: um wie viel
leichter sei es im alten Griechenland gewesen, wo die
Scheidung beider Geschlechter schärfer als bei uns
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— 490 -
gezogen gewesen wäre; dort hätten mehr und längere
Zeit als bei uns Männer ausschließlich mit Männern
gelebt; in Werkstätten, Schauspielen, Bädern, auf Märkten
und Feldzügen hätten sie meistens nur sich gesehen,
während die Weiber in den Gynäceen verschlossen mit
Vätern, Brüdern, Verlobten und Ehemännern umgingen.
Alle Wissenschaft, alle Kunst, alle geistige Bildung sei
das Gut des Mannes gewesen, während das Weib auf
das Treiben im engen, häuslichen, ruhmlosen Leben und
auf die Kunst des Putzes beschränkt geblieben sei. Daher
hätte sich früh die Achtung des Mannes dem Mann zu-
gelenkt, während das durch die bürgerlichen Ordnungen
stiefmütterlich versäumte Weib selten oder nie durch
Hoheit des Gemütes und durch Reichtum geistiger
Bildung bleibendes Wohlgefallen hätte erregen können.
Die vergängliche Schönheit der Jungfrau, ihr schwäch-
liches Wesen seien des heldensinnigen Griechen und
seiner Leidenschaft für Ruhm und Vaterland unwert
gewesen. Seine Neigung hätte sie daher nur auf kurze
Zeit und nur, weil sie Weib war, fesseln können. Dauer-
hafter und genußreicher hätten die Freundschaften der
Männer unter einander sein müssen, oft durch gegenseitige
Hülfe, oft durch gleiche staatstümliche Ansichten, bürger-
liche Bestrebungen und andere Interessen gestärkt. Denke
man sich noch hinzu: die Schwärmerei der Jugend, das
Fernstehen vom weiblichen Geschlecht, den Zauber des
Schönen für den allem Schönen aufgeschlossenen Sinn
des Griechen. Es sei nicht zu leugnen, daß im Antlitze
eines schöuen Jünglings weit .seelenreichere Züge sprächen
und mehr Heldenmut, Hochgefühl, Zärtlichkeit und
Schwärmerei uns darin anrede, als im Gesicht des schönsten
Mädchens, weil jener schon früh seine Leidenschaft offen
spielen lasse, die dann seinen zarten Mienen die ersten
Spuren eingrabe, während das Mädchen mit sittiger
Klugheit ihr Innerstes verhehle und gerade das Gesicht,
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— 491 —
statt zum Spiegel, nur zum Schleier ihres Gemütes
mache. Die erste Liebe des Jünglings und der Jung-
frau sei in ihrem Streben heilig, alles vergöttlichend
und voll Grauen vor roher Tierheit. Anschauung
und schweigende Anbetung und ein beseligendes Er-
widern des liebebekennenden Blickes seien ihnen höch-
ster Genuß; der bloße Gedanke an einen Kuß sei
schon Entweihung und frevelvolles Vergehen am Heilig-
tum. Diese gegenseitigen Vergötterungen zweier Lie-
bender hätten ihren Ursprung im allgewaltigen Gebot der
Natur, deren Zepter alle beseelten Geschöpfe wissend
oder unwissend gehorchten. Plato, Xenophon und Plutarch,
die Gesetzgeber und die Dichter Griechenlands erwiesen
die angebliche Heiligkeit ihres Eros unverkennbar als
Selbsttäuschung. Er entspringe bei Einzelnen wie bei
Völkern zwar aus der Verirrung des Naturtriebes; doch
sei die gleichgeschlechtliche Liebe rein und erhaben, wie
immer die erste und wahrhafte Liebe; aber zuletzt gehe
bei Einzelnen und Völkern diese Liebe ekelhaft aus.
Alle Weisen hätten die herrschenden, selbst üblen Sitten
ihrer Nation nur mit sorgsamer Umsicht berührt und,
wenn sie nicht hoffen konnten, dieselben auszurotten, nur
getrachtet, dieselben vom Unflat zu reinigen und zu
adeln, oder sie zu Stützen und Unterlagen des Edlern
zu machen. Je länger er über diesen Gegenstand denke,
je schauderhafter sei ihm der Gedanke, Griechenlands
Gesetzgebung in dieser Hinsicht zum Muster zu nehmen.
Uber solchen „Verrath" konnte Hößli sich nicht be-
ruhigen; sein handschriftlicher Nachlaß enthält darüber
bündige Belege: „Hätte Herr Zschokke damals nur seinen
Holiuar und nicht alles reden lassen es gilt hier nicht
einen Menschen; es gilt hier tausend und tausend Men-
M-hendasein und eine unumwundene, schlichte, einfache?
nicht gekräuselte Wahrheit, unabänderliche, feste, ewige
Naturerscheinung und nicht eine in allen Fahnen und
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— 492 —
Fähnchen gezierte Meinung, es gilt tausend und aber-
mal tausend Menschendasein . . . Ich wage nicht zu sagen,
daß die Liebe eine Krankheit sei, wage auch nicht zu
behaupten, daß sie keine sei — doch ist sie eine gebä-
rende Gährung der menschlichen Wesen — sie ist eine
gewaltsame, in unsrer Natur wirkende Kraft und es wird
wohl kein Moment im Kreislauf des Menschenlebens
geben, in dem alles Inuere der Menschennatur sich le-
bendiger offenbarte, als in der Liebe — mögen wir sie
für Krankheit oder für Gesundheit halten, und darumist
die Liebe zu kennen auch von dieser Seite wichtig . . .
Ich theilte früher meine Ansicht dem Verfasser mit, und,
wie es scheint, hat er solche seinem Holmar in der Ab-
sicht, mich zu widerlegen, in den Mund gelegt; und doch
sind Holmar's Reden die Wahrheit und diese zu suchen
uud retten zu wollen ist Menschenpflicht und Menschen-
beruf, da allervörderst, wo es unmittelbar um die Rettung
oder die Schändung von tausend Mitmenschen zu thun
ist. — Meine Idee sie ist mein Kind, von
den innersten Falten des Lebens habe ich sie geboren,
ohne ihr damals Obdach und Kleidung, Heimath und
Pflege zu wissen ; das arme Kind trug ich mit Vertrauen
und Thränen zu ihm — aber er entließ es zur unglück-
lichen Schaar der Heimatlosen — nackend und kalt . . .
wäre Holmar je einer gewesen, so wäre er's noch und
wäre er's jetzt, so wäre er's immer gewesen . . . daß
er es noch bis zu diesem Verrath fortsetze, das habe ich
nicht gedacht — aber Z. gewiß auch nie, wie gleichgül-
tig er mir ist dieser Verrath — und wie zwecklos von
ihm — denn gesetzt, ich sei selbst — oder ich sei es
nicht — so gleich als zwei Wassertropfen — so gleich
wie blondes oder schwarzes Haar u. s. w."
Indem Hößli sich diese Gleichgültigkeit einredete,
brachte er es fertig, an Zschokke nachfolgendes Schreiben
zu entwerfen:
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— 493 —
„Glarus im Juny 1820.
„Verehrungswürdiger Herr!
„Ich habe vor etlichen Jahren meine Freude, Sie
kenneu gelernt zu haben, meinem Freunde, dem Herrn
Pfarrer Speich, nicht verborgen. Er kommt jetzt, im
Begriff, nach Aarau abzureisen, zu mir, daß ich ihn
Ihnen empfehlen möchte, wenn Sie ihm Rath geben
könnten, eine Pfründe in Ihrem Canton zu erhalten,
seine hiesige beträgt nur f. 350, was zu wenig ist. Wenn
er nicht so still und recht und fromm sein ganzes bis-
heriges Leben seiner jetzigen Gemeinde gewidmet hätte
ohne Tadel, so würde ich gewiß nicht wünschen, daß
Sie ihm Rath ertheilen möchten. Er hat mich über-
rascht, ich weiß ihm jetzt nicht zu entgehen, kein
schicklicher Vorwand stellt sich mir dar, so verwegen
es ist, Ihnen nach Ihrem letzten Schreiben wieder mit
einem Briefe beschwerlich zu sein. Vergeben Sie mir!
Es soll Jahre lang nicht wieder geschehen .... und
hier noch das allerletzte Wort des Eros halber . . . .
Vor etlichen Monaten erst habe ich zu meinem Er-
staunen eingesehen, daß ich geradezu eine Sache ver-
theidigte, deren Dasein in der Natur ich nur be-
weisen wollte, ich bin mit sammt der Thür ins Haus
gerannt, dunkel ahnend, daß Gutes lieber gehört werde
als Böses, und schöner sei, dem Guten das Wort zu
reden als dem Bösen u. s. w. — so ist, was ich schrieb,
eine Art Apologie geworden, mit der ich mir Ihr
Schreiben zugezogen habe. Piaton beschreibt genau
die Natur der Männerliebe, er schildert und glaubt
sie, wie ich sie geschildert habe und ewig glauben
muß, aber der göttliche Plato lehrt, wie das Thierische
dieser Natur überwunden werden soll — er will for-
schen, er will reinigen, bilden, gerecht sein, erziehen,
erheben, nicht ersticken, nicht wegwerfen, nicht un-
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— 494 —
gehört verdammen, nicht verwahrlosen; wirkliche Na-
turen, die unter seinen Augen stehen, nicht leugnen,
ihnen sagen: „Ihr seid nicht," aber wie durch des
Geistes Macht sie sich vom Staub erlösen sollen,
lehrt sie sein himmlischer Geist, der es nicht könnte
und sich auch nicht dazu gedrungen fühlen würde,
wenn er an ihrem Dasein gezweifelt hätte. Das, was Ihr
Schreiben meine Hauptidee nennt, verachtet Piaton, wie
Sie es verachten, und schreibt ebendeßhalb seine Er-
lösungslehre von derselben. In Ihrem Eros aber sehe
ich jene Naturen bezweifelt — nicht angenommen —
und ich, indem ich das Dasein einer Sache erweisen
wollte, schrieb eine erbärmliche Apologie derselben,
was ich, gegeißelt durch Ihr Schreiben, mit Scham und
Reue einsehen gelernt habe. Dagegen habe ich aber
dennoch eine der jetzigen Welt, selbst Ihnen und Herrn
Doktor Troxler unbekannte Wahrheit laut und rein und
ohne Scheu und ohne Furcht ausgesprochen und ver-
diene von dieser Seite her keine Verachtung. Zwar bis
auf weiteres schweige ich und keinem Freund und keinem
Bruder wird darüber sich mein Herz aufthun; ich
habe das meinige gethan — das ist süß! und sehe, was
die Menschheit ist, das ist bitter!!
„Ueber die im Xenophon (der die Frauen liebte)
angestrichenen Stellen darf ich der Weitläufigkeit
wegen, die Sie mir nicht vergeben würden, nicht ein-
treten, was mich Ueberwindung kostet. Aber beweist
nicht die kürzeste derselben streng das, was ich eigent-
lich will, nämlich, Liebe sei ihrer Natur nach nicht
Freundschaft beim Homer und Freundschaft nicht
Liebe — sie lautet also: Achilles rächt den Tod
des Patroklus nicht als den Tod eines Lieblings,
sondern eines Freundes. Und was sind die Lob-
reden auf des Sokrates Keuschheit ohne das Dasein
dieser Liebe, welcher auch der Liebhaber des herr-
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— 495 —
liehen Dichters Agathon sogar in ihrer ungereinigten
Sinnlichkeit eine Lohrede gehalten hat, welche Xeno-
phon zwischen von mir angestrichenen Stellen aus-
schwatzt."
„Ich schließe mit dem innigsten Wunsch, daß
Sie und Ihr theures Haus gesegnet sei und stets ge-
segnet bleibe, und mit der Bitte, daß Sie mir groß-
müthigst alles vergeben, und mit der Versicherung
meiner unveränderlichsten Hochachtung
Herr Cantons Rath
Dero ergebenster Diener.*
Mit Sicherheit geht aus dem obigen an Zschokke
gerichteten Schreiben Hößli's hervor, daß dieser im Juni
1826 die begreifliche Scheu, mit seiner Idee selbst schrift-
stellerisch hervorzutreten, noch nicht überwunden hatte
und der mutige Entschluß zu seinem „Eros" damals noch
nicht von ihm gefaßt war ; und doch war er bereits 42 Jahre
alt. Den Zeitpunkt, in welchem diese Wandlung in
seiner Seele vorging, habe ich nicht ermittelt.
Als Heinrich Hütiii zu Anfang der dreißiger Jahre
am „Eros" arbeitete, wohnte er auf dem Spielhofe im
„süßen Winkel" beim Schlossermeister Andreas Stüssi.
Die Gedanken an seinen Gegenstand beschäftigten ihn
derart, daß er Schiefertafeln und Kreide mit in's Bett
nahm, um deren über Nacht entstandenen Inhalt am
nächsten Morgen zu ordnen und abzuschreiben; auch
schrieb er im dunkeln Hinterzimmer des schwarzen
Adler seine Ideen, so wie sie ihm kamen, um sie nicht
aus dem Gedächtnisse zu verlieren, mit Kreide an die
getäfelte Wand; er spannte eine Schnur an der Wand
aus, um beim Schreiben in der dunkeln Stube die Linie
innehalten zu können; Licht anzuzünden verschmähte er,
vielleicht, weil im Dunkeln die Gedanken reichlicher und
ungestört ihm zuflössen.
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— 496 —
Vom 11. Dezember 1834 bis über den 13. Juli 1835
hinaus stand Heinrich Hößli, damals im schwarzen Adler
zu Glarus wohnhaft, in Unterhandlung mit dem Buch-
händler Fr. Schultheß in Zürich bezüglich des Druckes
seines „Eros". Er hatte sich erboten, 200 Franken zu
zahlen oder die Hälfte der Druckkosten für die beiden
ersten fertigen Bände tragen zu wollen gegen Ueber-
lassung der Hälfte der zu druckenden Exemplare. Die
Verhandlungen liefen aber zunächst ohne positives Er-
gebnis aus, indem die Schultheß'sche Buchhandlung an
Heinrich Hößli schon unter dem 31. Dezember 1834
schrieb: „Wir bedauern wirklich sehr, Ihnen hinsichtlich
derVerlagsübemahme eine ablehnende Antwort ertheilen
zu müssen, denn obgleich wir den Werth der Schrift
vollkommen anerkennen und den Fleiß des Verfassers
bewundern, so können wir uns doch nicht überzeugen,
daß der Absatz der Schrift mit den Kosten des Druckes
im Verhältnis sein werde." Auf der Rückseite des
Schreibens der Firma steht von llößli's Hand vermerkt:
„20 Bogen würden höchstens 30, vielleicht nur 25 Ldors.
kosten". Später jedoch betraute dieselbe Firma einen
Freund, „einen Geist-, nicht Buchstaben-Philologen", mit
der Durchsicht des Hößli'schen Manuskriptes zu den bei-
den ersten Bänden ; und da der vorsichtige Freund, be-
vor er ein Urteil fällte, auch noch das Manuskript zum
dritten Bande zu sehen wünschte, so erbat sich die
Firma unter dem 13. Juli 1835 auch dieses, erhielt es
aber nicht, da es noch nicht fertig war. Endlich schrieb
die Schultheß'sche Buchhandlung auch noch an den
Buchdrucker Cosmus Freuler in Glarus, nachdem dieser
von Heinrich IJößli mit dem Druck des „Eros" beauftragt
worden war: „Hinsichtlich des Werkes des Herrn Hößli
möchte ich Ihnen rathen, vorsichtig zu sein, indem ich
nicht glaube, daß der Debit die Druckkosteu decken
könne; ich habe dies dem II. Verfasser mehrmals ge-
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sagt und ihn von der Herausgabe abzunehmen gesucht.
— Aus dem gleichen und noch einem andern Grunde
müßte ich es ablehnen, daß meine Firma auf den Titel
gedruckt werde und ich mich des Absatzes im Auslande
annehme, der ganz gewiß auch mehr Kosten als Ein-
nahme nach sich zöge.*
Bevor Hößli sein Manuskript der Buchdruckerei
Freuler übergab, wünschte er dessen Durchsicht von
Seiten eines Gebildeten; er wählte zu diesem Behufe den
Lehrer an der Elementarschule zu Glarus Burghard
Marti; dieser jedoch wies Hößli's Ansinnen zurück. Da-
gegen übernahm diese Revision bereitwillig der Lehrer
an der Sekundärschule zu Glarus Gottlieb Strässer
Noch während des Druckes des ersten Bandes seines
„Eros* erhielt Hößli durch den Studenten der Philosophie
Joh. Christ. Tschudi aus Zürich Anfangs Juli 1836 von
diesem erbetene Bücher zugesendet mit dem brieflichen
Vermerk: „Es wird überflüssig sein, zu bemerken, daß
Sie in Platon's Symposion, das ich gerade in der Ur-
sprache durchlese, bedeutende Materialien zu Ihrer
') Gottlieb Strässer wurde 1801 zu Remscheid geboren,
war bis J852 Lehrer an der Sekundärschule zu Glarus, einer vier-
klassigen Realschule, welche von den jungen Leuteo, nachdem sie
diej Elementarschule im 12. Lebensjahre absolviert, im 18. besucht
wurde, und kam von da nach Aschaffenburg, woselbst er erkrankte,
von seinen ehemaligen Glarner Schülern durch eine freiwillige
Kollekte unterstützt wurde und am 23. Juli 1862 arm verstarb; er
war eine Zeit lang auch Vorsteher der ehemaligen „Evangel. Lan-
desbibliothek" in Glarus, welche jetzt im Gerichtshanse unter-
gebracht ist; hier wird ein Manuskript aufbewahrt des Titels:
„Quellen zur Glarnergeschichte. Mit Vorrede von G. St. 1845. Mit
Nachträgen von Peter Leuzinger. Fol." In diesom Manuskripte fin-
det sich die Notiz: „IL Hößli f 1864. Verf. d. Eros, die Männer-
liebe der Griechen. Der größte Theil wurde seiner Zeit confiscirt."
— Dieso Notiz brachte mich erst auf den richtigen Weg, um wel-
chen von den zahlreichen Heinrich Hößli von Glarus es hier sich
handelt.
Jahrbuch V. 32
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Schria finden- — ein Beweis, daß Hößli für ihn frucht-
bare Hülfe zu finden verstand, daß man seinen Wert
zu schätzen wußte und daß es ihm an entgegenkommen-
dem Verständnis nicht fehlte. Erst im Dezember 183G
hatte des „Eros" erster Band die Presse- verlassen und
konnte versendet werden; hierüber Aufschluß gibt ein
Schreiben des H. Dietrich Schindler aus Mol Iis vom
20. Dezember 1836, welcher das ihm zum Kaufe ange-
botene Exemplar mit dem Bemerken zurücksandte: «Ich
las nur einige Abschnitte und halte es nach diesem für
einen interessanten Versuch, über einen in mannigfacher
Hinsicht wichtigen Punkt mehreres Licht zu verbreiten
oder zur weiteren Untersuchung Veranlassung zu geben."
Hößli's reine Freude über das gelungene Werk bezeugt
folgendes Fragment seines Schreibens an einen Unge-
nannten (wahrscheinlich Troxler):
„Aber ob wir dies Denkmal unter eines Galgens
schauderhaftem Schutt zu errichten Pflicht hatten oder
nicht — das entscheide der Genius der Menschheit —
der Geist wahrer Religion.
„Was Sie, Freund der leidenden Menschheit, hier
empfangen, hatte bei den Griechen nicht gefunden werden
können; es sind Resultate jener und späterer Zeiten —
und ich schreibe über ein Verkennen und dessen Folgen
und über eine Unwissenheit, die Griechenland nicht um-
nachtet haben. Die Humanität der Griechen und das
spätere Versinken unsers Geschlechts haben nur vereint
mir diesen Blick in's innere Menschenthum geben können.
„Ich zweifle nicht, daß, wenn ich hier die Erzeugungs-
und Fortbildungs-Geschichte meiner Idee beschrieben hätte,
auch sich mein Endzweck sicherer gefunden haben würde.
Aber das wäre der Arbeit für Jahre genug und in einer
Lage wie die meine nie möglich.
„Wenn das, was ich hier Gott weiß wie hingeschrie-
ben habe, zu überzeugen hinreicht — so ist mein Triumph
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der größte eines Sterblichen, man hat nur alsdann einen
Maßstab für ihn, wenn man glaubt, daß ich mit meinem
Leben der Menschheit diese Wahrheit kaufen wollte. Sie
steht in ihrer Himmelshoheit vor mir, aber ich vermochte
keinen Zug in seiner Majestät von ihr zu geben und Winke
sind es nur und Wünsche. — Ob sie verstanden und erfüllt
werden können oder nicht? — Im letzt ern fFall hab* ich
die schwere Pflicht erfüllt — meinen Schlaf und Schweiß
und vieles noch zum Opfer dargebracht und mich ver-
senkt in alle Dunkel einer Menschenseele — wegen
der ewigen Wahrheit und der namenlosen Dulderin, der
Mutter und ihres Sohns am Rad. Jetzt thun Sie das
Beste — ich weiß es — die Seele eines edlen Mannes
umarmt eine Welt. Im erstem Fall — ertrüg ich ihn ?
vermag ich ihn zu denken? empfing noch vor dem Tode
der Dulderin des Sohnes gebrochenes Bein ein Friedhof?
Und meine Lehre schrieb ich besser hin — ein anderes
Denkmal der erlösenden Wahrheit und der Völkertugend
Griechenlands.
„Zu unsrera Gebäude ist die Naturlehre das Funda-
ment, hier sind zwar noch roh durch einander geworfen,
die Materialien dazu, weihen Sie! den Eckstein ein —
so bau* ich fort — der Entwurf zu einer Sitten- und
Bildungs lehre ist da. Diese zwei letzteren Theile
werden erst, was jetzt noch roh und frucht- und planlos
scheint, erklären.
„Wäre es vielleicht ein Scherflein auf dem Altar
Griechischer Weisheit, wenn Herr Professor Daünecker,
den ich zwar nie gesehen habe, aber wegen seines Eros1)
um ein Urtheil über meine Idee gebeten würde?
„Soviel ich noch zu sagen hätte, muß ich schließen.
Gott segne Ihr Thun, Wohlthäter der Menschheit! Ich bin
mit tiefster Hochachtung Ihr Verehrer."
') Heinrich Hüüli: Eros I S. 296.
82*
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— 500 —
Allein sein Glück sollte dem Verfasser des „Eros"
bald vergällt werden. Denn kurz nach dem Er-
scheinen des ersten Bandes, am 13. Januar 1837, wurde
Heinrich Hößli auf Veranlassung des Evangelischen Rates
von der Kanzlei der Regierung von Glarus eingeladen
und aufgefordert, von seiner Schrift „Eros", dessen 1. Band
nebst den bereits gedruckten Bogen des 2. Bandes ein-
zureichen der Buchdrucker Freuler als Verleger schon
beauftragt wäre, den ganzen Rest des Manuskriptes zum
2. Bande umgehend ,zu geeignetem Gebrauche* zu
übermitteln.1) Hößli scheint der Aufforderung auch
nachgekommen zu sein, aber zugleich eine Rechtfertigung
seines Buches versucht zu haben, indem er dem Evange-
lischen Rate seine Meinung nicht vorenthielt. Zeugnis
dessen sind in seinem handschriftlichen Nachlasse be-
findliche Papiere mit Bemerkungen, welche nicht wohl
') Das Schreiben lautete:
Herrn Heinrich Hößli, Handelsmann, Dahier.
Glarus den 13ten Jänner 1837.
Im letzten Evangelischen Rathe wurde die von Ihnen dem
Druck übergebene Schrift, betitelt „Eros oder Männerlieb e"
besprochen und uns von demselben der Auftrag ertheilt, sich den
gedruckten ersten Band sowie die gedruckten Bogen zum 2 ten
Band und zugleich das Manuscript zu verschaffen.
Wir wandten uns sofort an Herrn Buchdrucker Freuler als
Verleger dieser Schrift, der uns auch den ersten Band sowie die
gedruckten Bogen des 2. Bandes Ubermittelte, dabei aber bemerkte,
daß das Manuscript in Ihren Händen sich befinde.
In Folge dieser erhaltenen Rückäußerung wenden wir uns an
Sie mit der Einladung und Aufforderung, uns umgehend das
Manuscript dieses besagten Werkes zu geeignetem Gebrauche zu
übermitteln.
In dieser bestimmten Erwartung besteht achtungsvoll
Die Kanzlei.
Für dieselbe
Schmid
Landschreiber.
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anders denn als Entwürfe zu einer solchen Antwort ge-
deutet werden können:
,H. Pfr. * * *
„Richter — Anatomen — Gesetzgeber — Natur-
forscher — sind alle ihre Angelegenheiten und Stoffe
Gegenstände geselliger Unterhaltung?!!
„Habe ich eine Schrift für Ihren Wirkungskreis ge-
schrieben? oder wird ein vernünftiger Mensch sie in
solchen hineinreißen ? ! !
„Man kann nicht bezweifeln, daß gerade diejenigen
Dinge, über die man sich in einer öffentlichen Gesell-
schaft zu reden billigermaßen schämte, dennoch zuweilen
zu den wichtigsten Angelegenheiten unseres Lebens ge-
hören können; es ist also eine tiefe Bosheit oder Dumm-
heit, die diese Schrift gewaltsam in einen Kreis hinüber-
reißt, für den sie nicht bestimmt ist, in den sie nicht
gehört, also bloß, um sie dann da zu verdammen; in
der Bibel sind mehr Stellen, die sich ohne Erröthen in
keiner Gesellschaft verhandeln ließen, als in meinem Buch.
»Dem Buch, das durch den Stillstand von Glarus jetzt
zum Gegenstand Ihrer Verhandlung geworden, hat sein
Verfasser absichtlich den nicht anziehenden Titel gegeben,
den es nun hat, damit es sowohl hier als anderwärts nur
von wenigen wissenschaftlichen Männern gekauft und
verstanden werden möchte. Daher kann es ihm nur
höchst erwünscht sein, Hochdemselben hiermit die
schriftliche Erklärung ehrerbietigst zu überreichen, nämlich
daß er dieses Buch im hiesigen Canton (außer an seine
wenigen Herren Subscribenten als nunmehrige Besitzer
des 1. Bandes) an niemand weiter mehr verkaufen, noch
sonst abgeben, ankündigen oder fortdrucken lassen werde.
Er bittet aber dagegen Hochdenselben um seine Schrift,
sein Eigenthum, damit er gelegentlich den ehrenden Still-
stand der Gemeinde sowohl als den Hohen Uath des
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— 502 —
Cantons Glarus über die vollständige Idee und Gefahr-
losigkeit seines Buches beruhigen könne. Inzwischen er
sich in dieser Angelegenheit mit ehrfurchtsvollster Er-
gebung dem Schutze seiner hohen Obrigkeit empfiehlt.
„Meine Schrift führe zu einem Verbrechen — Knaben-
schänderei — also ich schrieb über dieses Verbrechen,
ich will es prüfen und damit jedem Richter einen Dienst
leisten, dafür ich allen Dank erwarte: man ist über einen
Kriminalgegenstand hoffentlich doch gern im Reinen.
„Will man eine Schrift, Idee oder Lehre verurtheilen,
ohne sie zu kennen — und kennt man ein nicht halb
geborenes Werk? weiß man jetzt schon ganz, was ich
will? Man muß mich ganz abhören, das heißt, mir gnädig
erlauben, mein Buch mit meinem Geld zu drucken und
ihm alsdann — sein Recht widerfahren lassen.
„Man will hier die Obrigkeit vorführen, man will
sie hier zum Werkzeug der Unwissenheit und Bosheit
mißbrauchen.
„Ich sage immer und zwar mit allem Recht: dieses
Buch ist ein rein wissenschaftliches — und man will da
diese hohe Behörde gegen mein Buch und mich zu einer
rein wissenschaftlichen machen — man spielt mit ihr gegen
einen Bürger, der nicht weniger werth als meine Gegner.
„Die zwei Titelblätter, genau, buchstäblich, wie sie
jetzt vor beiden Bänden stehen, gab ich, gedruckt bei
C. F., herum — auf diese hin machte man sich für den
Ankauf eines Exemplars verbindlich. Nun fragen wir:
sprachen diese zwei Titelblätter mit ihren Motto's eine
bestimmte, begreifliche, menschliche, vernünftige Aufgabe
aus oder keine ?
„Herr Straßer hat gesagt, das Buch ist wahr, aber
— Ich Monarch verbiete es — Griechenland ist durch
die Ausschweifungen der Männerliebe untergegangen —
Stehlen ist ein Verbrechen und man kann mit dieser
Natur geboren sein — Mau kann doch gleich heirathen,
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*
*
es gibt ja nur unglückliche Ehen — Abnormitäten, Aus-
artungen, Auswüchse, Unkraut! Poesien sind Phantasie,
gelten und bedeuten nichts.
„Ich erinnere mich eben, daß einst ein Mann anläß-
lich zu mir sagte: Alle diese (oder solche) Menschen
machen nie ein Glück, sie kommen immer in Zerfall
und erst nach Jahren ward es mir sonnenklar,
daß dieses eine höchst wichtige Beobachtung und Wahr-
heit sei — die wohl wenig eingesehen wird; so sind
sie ganz richtig durch uns zum Fluch geboren, ja
durch uns zum Fluch geboren, und das ist die ganze
Wahrheit, der ganze Triumph unsers diesfühlig herrlich-
sittlichen Standpunkts.
»Preßfreiheit ist nicht Lasterfreiheit. Durch die Presse
tritt der Urheber des Guten und Schlechten, eben in
diesen Eigenschaften, ans Licht; und es tritt der Mensch,
die Wahrheit, die Oeffentlichkeit, die allgemeine Vernunft
in ihrer vom Schöpfer beabsichtigten Thätigkeit auf —
darin liegt eben der Werth der Presse. Ein schlechtes
Buch wird durch sein Erscheinen nicht sicher, es über-
liefert sich selbst wie rasend dem Gericht der Welt, der
Verachtung, dem Spott, und es muß, was in seiner Absicht
nicht liegt, gerade dem Guten und Wahrhaften Thür und .
Thor öffnen.
y, Wollten Hochderselbe mir mein nun einziges Ehre-
Rettungsmittel untersagen? (das heißt, den Druck meines
Buchs) — — — Wenn Sie mich das Buch drucken
lassen, alsdann geschieht gewiß, was in der Pflicht liegt,
ich werde gerichtet durch das Buch oder geschützt und
gerettet durch das Buch und das liegt beides in der
Obliegenheit.
„Geben Hochderselbe auch zu, daß sich verlarvte
Menschen, das heißt solche, die sich mir nicht nennen
(ich habe mich genannt), geheim gegen die h. Wahrheit
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— G04 —
meines Buchs und auch gegen mich, meine bürgerlichen
Rechte stellen? Ich heiße hier und vorn auf meinem
Buch
Heinrich Hößli."
Das Endergebnis der Verhandlungen Heinrich
Hößli's mit der Behörde war dieses, daß er die Auflage
seines Werkes zwar behielt, auch sein Manuskript zurück-
bekam, daß er aber innerhalb des Kantons Glarus weder
ein weiteres Exemplar des bereits Gedruckten verkaufen,
noch sein Manuskript weiter drucken lassen durfte. Ge-
mäß einer Bekundung soll er eine schwere Buße (angeb-
lich 2000 Franken oder mehr) haben zahlen müssen, nach
einer andern Quelle kam er dagegen ohne Buße davon.
Seinem bisherigen Buchdrucker Freuler war damit die
Möglichkeit des Weiterdruckes abgeschnitten.
Man wird sich schwer des Argwohns entschlagen
können, daß das Vorgehen des Evangelischen Rates
gegen Hößli nicht lediglich Heinrich Hößli's wenn auch
entschiedener so doch von jeglicher Lüsternheit freier Ver-
teidigung der gleichgeschlechtlichen Liebe gelten sollte,
sondern mehr und vielleicht besonders seine religiös-freie
Denkungsweise, der er durch Einbeziehung von Hexen-
prozeß und -glauben, Pfaffen und Teufeln in sein Werk
von der Männerliebe der Griechen unverhohlenen Aus-
druck gab, zu treffen bestimmt gewesen ist. Wrar schon
die Darstellung der geschlechtlichen Natur der Männer-
liebe zu damaliger Zeit eine sehr bedenkliche Kühnheit,
welche höchste Vorsicht erforderte, so muß gar ihre
Verquickung mit Angelegenheiten des Glaubens als
äußerst unvorsichtig bezeichnet werden. Der Gedanke
eines Parallelismus zwischen Verfolgung gleichgeschlecht-
licher Liebe und den Prozessen gegen Hexen, welche
wie ein roter Faden durch beide Bände des „Eros'4 sich
hindurchzieht, mag dazu mitgewirkt haben, daß auch
Solche Hößli nicht verstehen wollten, die ihn hätten ver-
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— 505 —
stehen und der Verbreitung seiner Erosidee hätten förder-
lich werden können, daß er zur Zeit seines Auftretens,
im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts, unbeachtet blieb
oder totgeschwiegen wurde, daß er tauben Ohren predigte
und nach dem Erscheinen seines ersten „ErosM-Bandes be-
reits einem geschlossenen Widerstand sich gegenüber sah,
an dem selbst seine im höchsten Maße opferwillige und
trotzige Energie und seine von un unterdrückbarer Ueber-
zeugung getragene Willenskraft nach kurzem Kampfe
zerschellte; diese unglückselige Verquickung von Liebe
mit Glauben, welche freilich in seinem Gerechtigkeits-
gefühle wurzelte, mag vorzugsweise die Schuld tragen,
daß Hößli am Siege seiner Wahrheit für absehbare Zeit
endgültig verzweifeln mußte und ein Prediger in der
Wüste nicht nur seinen Zeitgenossen, sondern bis auf die
heutige Stunde geblieben ist. Sein großes unsterbliches
Lebenswerk, sein zweibändiger „Eros*, hat denn auch tat-
sächlich das Schicksal erlebt, daß es an der Wende des
19. Jahrhunderts, fast 60 Jahre nach seinem Erscheinen
und fast 30 Jahre nach Hößli's Hinscheiden, von einer
Seite, welche Hößli's Wesen und Bedeutung mit Ver-
ständnis zu erfassen vermochte, in zwei völlig getrennte
Bücher zerlegt worden ist — in .Hexenprozeß und
-glauben, Pfaffen und Teufel" einerseits und in
„Männerliebe der Griechen* andererseits.1)
%) 1. Hexenproceß — und Glauben, Pfaffen und Teufel. AU
Beitrag zur Cultur- und Sittengeschichte der Jahrhunderte. Von
Heinrich Hößli, Leipzig, H. Barsdorf. 1892. 80 Seiten in Oktav.
— Diese Schrift enthalt manches ausgeführt, was in Hößlis „Eros"
nur angedeutet ist, außerdem vieles von Hößli gar nicht berührte,
sodaß über die Hälfto ihres Inhalts gar nicht von unserem Heinrich
Hößli stammt.
L\ Eros. Die Mannerliebe der Griechen, ihre Beziehungen
zur Geschichte, Literatur und Gesetzgebung aller Zeiten. Oder
Forschungen Uber Platonische Liebe, ihre Würdigung und Ent-
würdigung für Sitten-, Natur- und Völkerkunde. Von H. Hößü. Zweite
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Dieses Mißgeschick jedoch, das Verbot des Vertriebes
und des Weiterdruckes seines Eros innerhalb der Gren-
zen des Kantons Glarus, brach Hößli's Wagemut noch
nicht; — er sah sich nur genötigt, nach einem Ersätze
für den Drucker Freuler in einem anderen Kanton sich
umzusehen, und einen solchen fand er alsbald in der
Person des J. Fr. Wartmann in St Gallen. Mit Hülfe
dieses ausgezeichneten Mannes gelangte Heinrich Hößli
sicher und schnell zu seinem ersehnten Ziele. Vom
zweiten Erosbande waren bereits 8 Bogen gedruckt, nur
die Seiten 43 und 4-1 mußten als unbrauchbar verworfen
werden; der schriftliche, den Druck des Eros betreffende
Verkehr zwischen beiden Männern währte vom 17. März
1837 bis zum 31. Oktober 1838; alsdann war der Druck
auch des 2. Erosbandes vollendet. Der Austausch der
Gedanken zwischen Wartmann und Hößli hatte in-
zwischen vertraulich, fast herzlich, ja freundschaftlich sich
gestaltet ; öfter war die Rede von geplanten persönlichen
Zusammenkünften, bei denen dann auch der „ liebe Kubli"
immer eine Rolle spielte. Wartmann führte Klage bei
Hößli über unleserliches Manuskript: »Bei diesem Anlaß*
— schreibt er am 10. Juni 1837 — „nehme ich mir die
Freiheit, eine Bitte an Sie zu richten, die Sie mir gewiß
nicht übel deuten werden. Es kommen nämlich in dieser
Manuskriptsendung einige Blätter vor, wovon ein paar
nur mit der größten Mühe und eines (wie Sie in der
Korrektur finden werden) an einigen Stellen gar nicht
entziffert werden konnten. Ich muß Sie deß wegen im
Interesse der Sache wirklich driugend bitten, etwas mehr
Auflage Münster i. d. Schweiz. II. und 125 Seiten in Oktav.' Von
H. Barsdorf, Leipzig, übernommen. — Diese Schrift ist ein etwas
dürftiger, stark vernüchterter Auszug ans dem Originalwerke mit
Auslassung aller auf Hexenprozeü und -glauben, Pfaffen und Teufel
bezüglichen Stellen; die Wortstellung HüÜlTs ist z. T. modernisiert,
die Reihenfolge der Sätze willkürlich gewechselt.
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Sorgfalt auf dasselbe zu verwenden; denn äußerst unan-
genehm ist es für den Verfasser eines Werkes wie für
den ehrliebenden Buchdrucker, wenn auf diese Weise
sinn- und geiststörende Fehler einschleichen." Ein an-
deres Schreiben Wartmann's vom 10. Oktober 1837
nimmt Bezug auf den Evangelischen Rat: »Die Glarner
Sperren scheinen Retraite schlagen lassen zu wollen und
zu dem lieben Juste-milieu zurückzukehren. War es dann
wohl der Mühe werth, einen so gewaltigen Lärm in der
Welt zu machen, wenn man am Ende doch den Muth
nicht hat, einigen intriganten Pfaffen den Hals zu brechen?"
Wartmann gelang es, auch die Verlagsbuchhandlung C.
P. Scheitlin in St Gallen zur Uebernahme der Kommis-
sion für beide Erosbände mit 50 % Provision zu ge-
winnen: »Dem mit dem Buchhändlergeschäft nicht Ver-
trauten" — schreibt er unter dem 28. Januar 1838 an
Hößli — „mag allerdings diese Forderung etwas hoch
erscheinen; allein es ist zu bemerken, daß Hr. Scheitlin
allen andern Buchhandlungen 25 % geben muß, daß ferner
alle Spesen für Fracht, Ankündigungen des Werkes und
dergl. auf seine Rechnung fallen. Den Preis der zwei
Bände dürfte man auf 3 fl. oder mindestens auf 2 fl. 42
stellen."
Ueber Heinrich Hößli's Gemütsverfassung während
des Druckes des 2. Bandes seines „Eros* in St Gallen
giebt ein Schreiben Auskunft, welches aller Wahrschein-
lichkeit nach für den von Hößli im „Eros* zitierten Ver-
fasser einer Metaphysik, den Professor Troxler, bestimmt
war und dessen Konzept in Hößli's Nachlasse vorliegt:
„Glarus, im May 1838.
„Hochzu verehrender Herr Professor!
„Obschon mich die so vollständige Unverhältniß-
raäßigkeit meines geistigen Standpunktes zu dem Ihrigen
: abschrecken will von dem Schritt, den ich hier wage:
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so ermuthigt und treibt mich dagegen wieder der Geist,
den ich bald am Himmel, bald über der Erde, bald außer
mir, bald in mir wandeln und wirken sehe, der mich
genöthigt hat, diese Schrift, die ich Ihnen, ehrwürdiger
Herr! hier in Demuth und Ehrfurcht lasse zuschicken,
und die auch in Ihrem Geist in viel weiterem Sinn und
Raum als in mir wirksam ist.
„In den zwei platonischen GespTächen Phädrus und
Symposion sind, obwohl von unsrer Zeit noch nicht
erkannt, Religion, Natur und Kunst — von deren Ein-
heit oder ewigen Unzertrennlichkeit Ihre Seele so tief
erleuchtet ist — dennoch gleich gewiß vorhanden, als
diese zwei Schriften selbst vorhanden sind. Da indessen
aber das ihnen zu Grunde liegende Prinzip oder ihr eigent-
liches und ausschließliches Natur-Element uns darum im
Dunkeln liegt, weil wir es bisher immer nur umgangen,
statt erforscht, aufgesucht oder festgehalten haben — und
uns dadurch dann auch zugleich ihre Religion und Kunst,
wie sie mit der Natur unzertrennlich Hand in Hand
gehen — eben gerade weil sie in ihrem eigentlichen
Leben untrennbar sind, in die größte Verwirrung, Un-
bestimmtheit und Nutzlosigkeit gestellt, verloren oder,
da wir ihre Natur im Begriff, in der Idee nicht haben,
so haben wir auch ihre Kunst nicht und ihre Religion
nicht. Aber die in menschlicher Natur tief und unzer-
störbar begründete, ewige Idee derselben umfaßt und
bedingt., ganz angemessen Platon's geweihter Seele,
wahrlich weit andere, bestimmtere, unaufhörlichere,
wichtigere und heiligere Beziehungen zur Menschen-
gesellschaft, als wir bisher eingesehen, geahnt oder
unsere schwankenden Begriffe enthalten und angedeutet
haben.
„Der Wink ernster Menschenliebe, über die Folgen
und Bedeutungen unsres da so irrigen, so unbestimmten
Standpunktes — und des griechischen, nicht irrigen zu
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Plato und der Menschheit in Betreff des so wichtigen,
positiven und uuverborgenen Naturgegenstandes der
beiden benannten Kunstwerke — den ich Ihnen hier
zur Beurtheilung durch gefällige Vermittlung des Herrn
J. F. Wartmann zu tiberreichen wage, ist freilich nur
das überaus mangelhafte und rohe Werk eines eben
so wohl Schule und Erziehung, als Hüfsmittel und
Muße ermangelnden, iu aller Verlassenheit leidenden
und zum Theil auch verfolgten Menschen. Ich will
Ihnen, ehrwürdiger Herr, hier keine von den Gedanken
der Vorworte beider Bände wiederholen, sondern nur
auch für diese Sie um einen Ihrer Tiefblicke in das Wesen
der Religion, Natur und Kunst oder des Menschen
eben so dringend bitten, als um ein kurzes Resultat
Ihrer mir so hochwichtigen Ansicht und zugleich dann
endlich auch um großmüthige Vergebung der Freiheit,
die ich an mit zu nehmen mich gedrungen fühlte, und
diesen Anlaß nur noch dazu benutze, der besondern,
individuellen Verehrung zu gedenken, mit der ich zeit-
lebens sein werde, hochzuverehrender Herr Professor,
Ihr ergebener
H. Hößli jünger."
Bis zur Fertigstellung des 2. Bandes des „Eros* reichte
Hößli's Kraft und Energie; dann hat er jede Absicht
öffentlichen Wirkens jäh aufgegeben. Die zahlreichen Vor-
arbeiten zum 3. Bande ließ er unverändert liegen, aber
ohne sie zu vernichten. Er redete sich fortan ein, daß
sein Werk nichts tauge, daß der wirksamen Darstellung
seiner Erosidee er selber nicht gewachsen sei. In einem
Briefe wegen der jüngsten Schrift über den Hexen-Prozeß
und eine ältere von J. F. Rübel schreibt er: „Bios um
Wort zu halten, kommt der Eros hier auch mit. Sie
werden ihn nicht lesen — wegwerfen, denn schlechter ist
kein Buch geschrieben; und es ist auch zum Theil dieses
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Gefühl, diese Ueberzeugung, daß ich den 3. Thl. liegen
ließ; je tiefer ich von der großen Bedeutung der Idee
ergriffen bin, um so sicherer ist auch meine traurige Ueber-
zeugung, daß sie nur durch einen großen, gebildeten,
gelehrten Mann unsrer Zeit gemäß darstellbar ist; wie
einst den Griechen durch Plato, der noch so prächtig
dasteht. Der Stoff, wie jedes Element der ganzen Schöpfung
ist immerwährend vorhanden: zum Heil oder zum Ver-
derben ... da aber sitzt der Verfasser des ersten oben
berührten Schriftleins Pag. 157 Zeile 4, 5 u. 6 wahrlich
noch im dicken Nebel."
Allein wie sehr seine Erosidee bis in sein Greisen-
alter Hößli beschäftigte und ihm am Herzen lag, davon
zeugt die verlorene rührende Klage im Konzepte eines
Briefes von ihm aus dem Jahre 1855: »Wie froh wäre
ich, alle meine die Idee des Eros betreffenden zahlreichen
Bücher einem fähigen Manne im Interesse einer ver-
lassenen Wahrheit überlassen zu können: und der hätte
bei mir den Rechtstitel darauf — weil ich heute oder
morgen sterbe, denn ich bin schon 71 Jahre alt." Und
hatte Hößli auch mit dem Jahre 1838 alle Hoffnung auf
öffentlichen Erfolg vollends aufgegeben, so verlor er da-
mit gleichwohl nicht die Lust, seine Erosidee weiter zu
begründen, zu erforschen und zu vertiefen. Zeugnis
dessen sind zahlreiche Auszüge und Bemerkungen seines
handschriftlichen Nachlasses, Notizen, welche bis in das
Jahr des Todes des achtzigjährigen Greises reichen, von
deuen eine beschränkte Auslese hier Aufnahme finden möge :
Nov. 1854: Es war der Fluch unserer Irridee, die
auch am Leben dieses Göttlichen (J. v. Müller) nagte.
24. December 1858: Glarnerzeitung. Bern. Die
Fleischvergehen scheinen sich auch in diesem Cauton,
wie in Zürich, zu vermehren. So werden nächstens vor
den Geschwornen des Mittellandes wieder 3 Anklagen
auf widernatürliche Unzucht verhandelt.
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4. Juni 1859: Neue Glarnerzeitung, 3. Jahrgang,
kriroinalstatistische Notizen vom May 1858 bis 59.
.... jene Prozeduren moderner Raffiniertheit, die ander-
wärts im Vordergrund der schwurgerichtlichen Dramen
stehen, kennen wir bei uns noch nicht und auch das
wüste Feld der unnatürlichen Fleischverbrechen, die
anderwärts in der ganzen Abscheulichkeit ihrer Formen
immer wieder auf den Traktanden stehen, ist unter uns
Gottlob unbekannt!
1859: Die Liebe von J. Michelet. Uebersetzt von
F. Spielhagen. Leipzig, J. J. Weber. 1859. — Dir habe
ich Michelet's ewig bewunderungswürdiges Buch „von
der Liebe* oder vielmehr von der göttlichen Tiefe des
Weibes zu danken und durch solches die Ueberzeugung
gewonnen, daß es wirklich Menschen, Männer, Geister
gibt wie dieser Michelet; das sind Seher, Lehrer, Ge-
müther, Seelen, Engelszungen, Priester und Diener an
den Altären der Menschheit, der Tugend, der Religion,
der Natur. Von diesem Buch möchte ich viel reden —
das ist ein Sinn, ein Griffel, eine Sprache, ein Geist.
Daß du den Sinn hattest, mir dieses Buch mitzutheilen,
freut mich sehr. — O daß wir auch über andre Sphären
der Wunder dieser Weltschöpfung solche Bücher hätten. *)
18. Nov. 1860: — ja! ja! aber um der Tugend und
der Vergöttlichung der männlichen Liebe willen — wie
bei der zweigeschlechtlichcn die Venus Urania — war
für die Männerliebe der Eros in Tempeln und Gym-
nasien ....
9. April 1861 : Landbote No. 84. Winterthur. Ver-
mischtes. — Unter den Miszellen eines deutschen Blattes
*) Das Werk J. Michelet's, Die Liebe, übersetzt von Friedr.
Spieibagen, bildet 3 Bändchen (2523 — 2525) der Philipp Reclam'schen
Universal-Bibliotbek (Preis 60 Pfennige).
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lesen wir folgendes : In Vevey am Genfersee genießt das
Hotel des Trois Couronnes, auch Hotel Monnet genannt,
eines altbewährten Rufes. Aber Herr Monnet, der dieses
Etablissement gründete und so glücklich emporbrachte,
genießt nunmehr einer behaglichen Ruhe. Und die
Sache ist folgender Maßen gekommen. Vor etwa zwei
Jahren logierte in dem Hotel ein reicher Russe und fand
an dem ihn empfangenden Oberkellner, einem Frankfurter-
kinde, ein besonderes Wohlgefallen; ja seine Zuneigung
stieg so weit, daß er den jungen Mann um seine An-
sichten und Pläne für die Zukunft befragte. Diese
waren so bescheidener Natur, daß er die Frage seines
Gönners, „ob er nicht gern dieses Hotel übernehmen
würde?", für einen Scherz nahm. Aber der Russe meinte
es anders; nach Jahresfrist kehrte er nach Vevey zurück,
hat das große Etablissement für 1250000 Franken ge-
kauft und unter bestimmten, sehr mäßigen Bedingungen
dem glücklichen Oberkellner überlassen, der es hoffentlich
eben so gut verwalten wird, als der Gründer desselben.
3. December 1862: Landblatt No. 288. — Lucern.
Jener Heini, Bedienter des Nuntius, der wegen unnatür-
licher Vergehen verhaftet wurde, ist vom Kriminalgericht
zu 6 Jahren Zuchthaus verurtheilt worden.
4. Juni 1863 : Neue Glarner Zeitung No. 67. Unter
Verschiedenes. Turin. In dem Skandalprozeß der
Priesterkongregation der unwissenden Brüder „lgnoran-
telli* kommen täglich neue Fakta zur Kenntniß, welche
es unbegreiflich erscheinen lassen, wie diese Gesellschaft
ihr Gewerbe so lange ungestraft treiben konnte. Von
den 250 Zöglingen, welche das Institut von San Primi-
tivo umfaßt, soll mehr als ein Drittheil der viehischen
Gemeinheit der Brüder zum Opfer gefallen sein. Der
Prozeß gegen die Ignoranteili soll auch zu Untersuchun-
gen bei einem ihnen verbündeten Frauenorden geführt
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— 513 —
haben, wobei sehr ärgerliche Dioge an das Tageslicht
gekommen seien.
6. Juli 1863: Landblatt No. 159. Turin. Bekannt-
lich ist vor längerer Zeit ein Prozeß gegen die Brüder
„Ignorauti" (eine klerikale Genossenschaft) wegen Ver-
brechen gegen die Sittlichkeit anhängig gemacht worden.
Das nun gefällte Urtheil lautet auf 5 Jahre Gefängniß-
straf e gegen Bruder Arcadius wegen Unzucht ; zwei an-
dere Brüder wurden auch der Unzucht schuldig erkannt,
mußten aber, da kein Privatkläger aufgetreten, frei ge-
sprochen werden.
Der schwerste Schlag, der Heinrich Hößli überhaupt
treffen konnte, war ihm für sein Greisenalter vorbehalten.
Als er 1857 oder 1858 nach Lachen, Richterswyl
(oder Wadeuschwyl) zog, übergab er den ganzen ihm
noch verbliebenen Rest seiner „Eros "-Auflage dem Besitzer
der Eisenhandlung im Löwen zu Glarus, Herrn Josua
Dürst, der ihn oben im Rittersaale unterbrachte — und
hier ist, was vom „Eros* den Weg in die Welt noch nicht
gefunden hatte, vom 10. bis 11. Mai 1861 bei dem großen
Brande von Glarus *), der die halbe Stadt einäscherte,
noch 3 Jahre vor Heinrich Hößli's Ableben, durch Feuer
vollständig vernichtet worden.
') Die Literatur Uber den großen Brand von Glarus 1861:
1. Der Brand von Glarus am 10 11. Mai 1801. Berichterstattung
des Hülfskomito in Glarus. Glarus, Friedr. Schmid jun., 1862. 80
Seiten nebst Beilagen von 11 und 60 Seiten in Quart. — 2. Der
Brand in Glarns in der Nacht vom 10. auf den 11. Mai 1861. Ab-
druck aus der Neuen Zürcher Zeitung vom 20. Mai 1861. Zürich,
Orell, FUÜü und Comp. 1861. 16 Seiten nebst Karte von Glarus,
aufgenommen am 12. Mai 1861. In Oktav. — 3. Das alte Glarus,
Album mit Plan und 20 Ansichten aus Glarus vor dem Brande von
1861 nach Aufnahmen von H. Brunner Ilaffter in Glarus, in Licht-
druck vervielfältigt von liömmler & Jonas in Dresden. Mit er-
läuterndem Text herausgegeben von der Casinogesellschalt in Glarus.
Glarus 1901. 10 Seiten und 18 Tafeln.
Jahrbuch V. 38
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— 514 —
Zum Schicksal eines Buches gehört auch die Er-
örterung, wie es vom Publikum verlangt und wie es be-
urteilt wird.
Durch den großen Brand von Glarus zu einer Rari-
tät geworden, ist der ,Eros* Hößli's im Buchhandel äußerst
selten ; da aber Hößli mit geschenkten Exemplaren nicht
kargte, so kann man am ehesten noch darauf rechnen,
ein Exemplar aufzutreiben, wenn man sich an die noch
lebenden Freunde oder Verwandten Hößli's oder deren
Nachkommen wendet; allein auch dann wird man oft
eine Enttäuschung erleben.
Gedruckte literarhistorische Urteile über Heinrich
Hößli's „Eros" sind mir keine bekannt; in dem Riesenwerke
„Allgemeine deutsche Biographie" (Leipzig, Duncker und
Humblodt) ist Hößli nicht aufgenommen. Von einem
guten Freunde Heinrich Hößli's wurde mir gesagt, daß
der schweizerische Schriftsteller Iwan vonTschudi mündlich
den .Eros" als ein gutes Buch bezeichnet habe. Ein-
zig Karl Heinrich Ulrichs, Heinrich Hößli's Nach-
folger *) im Kampfe für Anerkennung der Natürlichkeit
und sittlichen Berechtigung der gleichgeschlechtlichen
Liebe, hat Hößli wiederholt zitiert *) und auch ein kriti-
sches Urteil über seinen „Eros" geäußert. s) Er tadelt an»
„Eros", daß er ermüdend weitschweifig sei, 2 starke Bande
') U Iriehs trat mit seiner ers t en Schrift Uber mannmännlicho
Liebe „Inclusa" als Numa Xumantius 1864 — also im Todesjahre
Beinrieb Hößli's — hervor; erst am 12. Februar 1866 erfuhr er
vom „Eros" seines Vorgängers, nachdem er bereits den letzten
Federstrich an seiner fünften Schrift „Ära spei" (1865) getan
(nach Ulrichs' siebenter Schrift „Memnon" 1868, Abt. II S. 128).
«) Ulrichs, sechste Schrift „Gladius furens" 1868 S. 1—2;
S. 4, Fußn. 3; S. 11, Ftißn. 10; S. 18, Fußn. 16; S. 21, Fußn. 16 u.
20; — siebente Schrift „Memnon" 1868 1 S. XIV; II S. X, 6, 7;
S. 94, § 109 u. 110; S. 128—180, § 134,8; — neunte Schrift
„Argonauticus" 1869, S. 157, 12.
3) Ulrichs siebente Schrift „Memnon- 1868 II S. 112—130.
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— 515 —
umfasse, daß er etwas zu viel mit Phrasen und etwas zu
wenig mit Gründen die Verfolger angreife und daß alle
und jede Gliederung des Stoffes fehle. Jedoch sei auch
dem „Eros", wie ihm, das Angeborensein der Männer-
liebe das Fundament, auf das er ihre Berechtigung
gründe. Freilich werde dies Fundament von ihm nur
behauptet, nicht bewiesen. Wenigstens sei das kein Be-
weis, was er dafür anführt: urnische Liebesgedichte,
griechische, römische, persische u. a. Diese bewiesen ja
nur die gar nicht bestrittene Tatsache, daß Männerliebe
existiert. Die ganze naturwissenschaftliche Seite des
Gegenstandes, so namentlich die Muliebrität, werde nicht
berührt. Einmal nur (Eros I S. 296) könne er nicht
umhin, diesen Punkt wenigstens zu streifen. Aber er
furchte, von ihm in ein Labyrinth geführt zu werden
ohne Ausweg. Dennoch sei Hößli's.Eros" reich an glän-
zenden Partieu. Erschütternd sei neben allem edlen Zorn
«las unendlich tiefe Gedrücktsein, das fast aus jedem
Satz hervorleuchte und das noch gar fern sei von jener
inneren Sicherheit, welche allein durch die Vorahnung
der Freiheit verliehen werde. Gegen Ulrichs' Kritik ist
einzuwenden, daß Hößli die Muliebrität des Urnings sehr
wohl erkannt hat und nicht nur im Band 1 S. 296
streift, sondern im Band II S. 325 eingehender behan-
delt; alle anderen Vorwürfe aber treffen auch Ulrichs
selbst; sein angeblicher Beweis ist nicht ein solcher,
sondern eine Hypothese, welche viel Wahrscheinlichkeit
für sich hat; auch seine Schriften lassen in Folge der
Art ihres Erscheinens in 12 Heften innerhalb eines Zeit-
raumes von 15 Jahren die gewünschte Gliederung und
Uebersicht des Stoffes vermissen. Und schließlich war
Hößli noch nicht fertig mit seinem zweibändigen „Eros",
sondern hatte noch einen dritten Band geplant.
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— 510 —
3. Stellen aus Heinrich Hößli's „Eros"
a. Allgemeine Sentenzen.
Wir stehen uns beim Suchen immer selbst im Wege!
(II 263).
Es gibt einen religiösen, einen politischen, einen
sittlichen Fanatismus (I 52).
Wir liegen erst in den Wehen für wahrhaft
menschliche Sitten und Gesetze (II, X).
Zeit ist es, aus diesem Sündenschlaf zur Wahrheit,
zur Vernunft und zum Recht zu erwachen .... (I 113).
Gesetze ohne Wissenschaft sind Henker ohne Obrig-
keit (I 113).
Religion ohne Liebe, Staaten ohne Gerechtigkeit,
Kirchen ohne Wissenschaft — das sind vollkommen teuf-
lische Dinge (II 175).
Wir sind vielleicht zu unheidnisch, um einzusehen,
daß wir kein einziges Laster weniger als die Heiden
haben (II 2(34).
Aller Forschung voran geht die Naturforschung . . .
Die Geschlechtsnatur des Menschen ist nicht Wille
des Menschen, nicht Wahl des Menschen; so darf sie
nicht stehen in unsern Menschen-Natur-Lehren, denn sie
ist es nicht; die dießseitige Auffassung, Darstellung und
Behandlung des Menschen ist darum von der höchsten
Wichtigkeit, weil eben hier alle Radien seines Lebens,
entweder verbindend oder auflösend, verwirrend oder
erklärend, verherrlichend oder entwürdigend, glücklich
oder unglücklich machend, ausgehen und zusammen
treffen (II 4).
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— 517 —
Keine Naturwahrheit hat eine andere Behörde über
sich anzuerkennen, als wieder eine Naturwahrheit, also gar
keine — weil es in der Wahrheit keinen Widerspruch
und keine Rangordnung, nur eine ewige Harmonie giebt,
und Wahrheiten nicht über- und untereinander, sondern
nebeneinander stehen, wie die Blumen des Feldes, der
Flur oder des reichen und wohlbestellten Gartens
(II, XI).
Im Samen, im Keim, im Embryo ist der ganze
Mensch; wir können nichts in solchen hineinbringen,
nur sich entwickeln lassen das in ihm Verschlossene, und
wenn schon viel, das in ihm ist, zur Verkrüpplung nöthigen,
ersticken und nicht aufleben lassen, es doch nicht tilgen
(IT 201—202).
Der Hexenglaube und Hexenprozeß, der schreck-
lichste Abgrund, in den unser Geschlecht je versank, be-
stand im Mangel der Naturlehre; durch deren erste
Schritte war er weg: weil man Gespenster nur sieht —
wenn's Nacht ist (II, XXVII).
Es ist in unserer und jeder Zeit nicht genug, das,
war wahr, was recht, was schön ist, zu studieren, man
muß auch, es ist noch wichtiger, das, was unrecht, was
Unwahrheit, was befleckt und entstellt ist, erforschen,
enthüllen, retten, um — eine bessere Menschheit zu
werden (II, IX).
Wir sollten freudig Alles, was uns auf irgend eine
Weise an der Ausübung eines Unrechts auch gegen den
geringsten unsrer Mitmenschen verhindert, was das Be-
gehen eines solchen, erspart oder erwehrt, segnen. Aber
das einzusehen, mangelt es uns vielleicht an der dazu
nöthigen Demiith, und wir zanken lieber darüber (II, XV).
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I
— 518 —
Weder übersehen, noch verachten, weder entstellen,
noch verdammen soll der Mensch etwas an seiner
Schöpfung — nur kennen, leiten, erziehen und dahin
stellen, wo seine Endzwecke sichtbar werden können
(II 243).
Nur der Wahnmensch sagt zum Bruder: „Das ist
nicht deine Natur, weil sie die meine nicht ist — Sünde
ist die deinige, weil sie wie meine nicht ist — verderblich
ist deine, weil es außer der meinigen keine andere giebt,
du bist nicht da, Staat und Kirche wissen dich nicht
und darum will ich mitwirken, dich zu verderben, zu
verdammen; denn außer unsrer Wissenschaft und meinen
Begriffen kann es nichts geben8 (I 116—117).
Wie durch die Liebe, so ist der Mensch auch zur
Liebe erschaffen, und zwar zu der, die sich von selbst,
ohne Hinzuthun eines Menschen, in ihm kundgiebt, reget;
wie es auch noch in keines Menschen Gehirn, nicht ein-
mal in dem eines Verrückten, zur Frage gekommen sein
kann: was will ich lieben? Dazu brauchts eine National-
verrücktheit, für Individualitäten ist sie unmöglich . . .
(II 240—241).
Bei uns kennt man rechtlich, sittlich und wissen-
schaftlich nur die allgemeine Liebe der zwei Geschlechter;
was nicht zu ihr gehört, ist uns Willkühr, Selbstbestim-
mung und Verbrechen; das ist unser Standpunkt; den
Griechen aber wäre ein solcher in aller auf Geschlechts-
liebe bezüglichen Menschenbehandlung und Menschendar-
stellung Frevel an der allgemeinen wie an der besondern
Menschennatur gewesen (I 100).
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— 519 —
Wo ein Mensch mit gutem Willen und klarer Ein-
sicht gegen irgend ein Anliegen der Menschheit eine Er-
gänzung, einen Einklang, Erklärung und Genugthuung
für und gegen einen geachteten oder verachteten Gegen-
stand aufzufinden bemüht und dazu von der Natur
gleichsam bestimmt und gestimmt ist, da kann nur ein
entartetes Geschlecht ungeprüft verfolgen; die Schädlich-
Erklärung eines Unschädlichen ist nichts anderes als
Schuldige machen, um sie bestrafen zu können (II, IX).
So grundfalsche Ansichten haben wir gräßlicher
Weise bei der Leitung, Erziehung und aller Behandlung
von Millionen eben so menschlicher als schuldloser Einzel-
wesen für ihre leibliche und geistige Zerstörung gesetzt
und festgehalten und, erblindet für Wahrheit und Natur,
das Vorhandene nicht gesehen und das Nichtvorhandene
am Platz des Vorhandenen behandelt und verkündiget.
Aber die Lügen, die sind wahrlich schlechte Grundlagen
der Menschenerziehung, der Sitten und Gesetze. Wahrheit
mangelt unserm Leben und Wahrheit seinen Richtungen.
Auf Lügen gebaute Sitten verwandeln endlich das Leben
selbst in eine Lüge (II 197).
Der Gesetzgeber muß jede vorhandene, wirkliche
Natur, die der Gesellschaft gefährliche Handlungen be-
gehen könnte, wissen, beachten, durchschauen, unter das
Gesetz stellen; aber das Gesetz darf nicht den Menschen
aufheben, darf nicht lügen, und darf keine Naturerschei-
nung als Nichtnatur erklären, um sie verfolgen zu können.
Der Mensch- soll im Gesetz groß, nicht klein werden.
Der Gesetzgeber muß überall Wahrheit suchen und über-
all Wahrheit reden, denn wichtiger als bei ihm ist sie
nirgends. Das Gesetz ist in der Natur von Gott und im
Gesetz ist das Wesen Gottes. Im Gesetz ist der Mensch
von Gott und sich selbst am höchsten gestellt. Laster
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— 520 —
und Verbrechen verhüten, oder sie im Geheimen und
Oeffentlichen gleichsam künstlich erzeugen, hervorbringen,
nothwendig machen, das sind verschiedene Dinge. Am
gewissesten wird die unterdrückte Natur lasterhaft und
begeht Verbrechen, denn sie sind alle auf eine Natur,
die wir ehren und leiten sollen und die kein Verbrechen
ist, zurückzuführen und sind darum aber, wegen ihrer
Folgen und Einflüsse, wieder nichts desto weniger Ver-
brechen (II 250).
b. Bemerkungen über Zweck und Bedeutung
des Eroswerkes.
Wer ein mit Blut gefärbtes Samenkorn auf den
Brachfeldern des Guten auferweckt, der arbeitet im Garten
und Vertrauen Gottes an der Menschheit (I 189 — 190).
Das Schicksal dieser zwar äußerst mangelbaren Schrift
wird deuuoch ein Meilenzeiger und Gericht dieser Zeit
sein für den Geist der Geschichte der Menschheit
(II, XXIII).
Habe ich meine Wahrheit und Erfahrungen unge-
lehrt geschrieben, so schreibe sie gelegentlich ein anderer
gelehrt; habe ich sie nicht christlich geschrieben, so schreibe
sie ein anderer christlicher. Wahrheit aber ist sie und
wenigstens doch rein menschlich geschrieben — eben so
gewiß, als sie aller Christenheit neu ist — und wenn es
unchristliche Wahrheiten geben könnte, es läge die Schuld
nicht an der Wahrheit — weil es weder im Himmel noch
auf Erden eine einzige gibt, die eine andere zu widerlegen
vermöchte (I, XXV— XXVI).
Ja, es sind da nun große Menschennamen (die
Stimmen und Zeugen) entweder wissenschaftlich zu reinigen
oder — mit neuem Unflat und alter Blindheit zu ver-
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— 521 —
unstalten; die Wissenschaft dieser Zeit aber wird nun
von diesen beiden das thun, was — sie kann (II 52).
Wer sich über das bisher Aufgeführte, über diesen
Theil der alten klassischen Litteratur, über diese Stimmen
des Erdkreises jener und aller Zeiten nicht nach Licht
und Erklärung umsehen mag, der sitzt wahrlich unwürdig
auf jedem Lehrstuhl, er sei der Alterthumskunde, dem
Recht, der Philosophie, kurz, dem Genius des Menschen-
geschlechts, in welcher Richtung es immer sei, geheiliget,
er befleckt ihn! (II 161).
„Ueber nichts Göttlicheres kann wohl ein Mensch
einen Beschluß zu fassen haben, als über seine eigene
und seiner Angehörigen Ausbildung" ') und „Manches, was
im Allgemeinen als unbedeutend erscheint, kann dennoch
auch aus besonderen Gründen, für viele oder einige, von
Werth sein, — wenn das Kennerauge solches entdeckt
und an's Licht zieht"3). So wäre und ist der Gegenstand
dieser Schrift, über welchen wir noch ganz im Finstern
sitzen, an und für sich unbedeutend, aber unsere Mei-
nungen, unsere Urtheile, Vorstellungen von ihm, das, was
wir aus ihm gemacht habeu, was wir auf ihn gründen,
das ist jetzt über den halben Erdkreis noch eine weit
gefährlichere Pest, als die blos vorübergehende Cholera-
Epidemie. Weun einer an und für sich allenfalls unbedeu-
tenden Sache eine solche Richtung gegeben wird, daß
dadurch Millionen Menschen vernichtet werden, auf
tausendfache Weise, alsdann ist sie nicht mehr klein
und unbedeutend, vielmehr aller Untersuchung reif und
werth (I 95—96).
') Plato.
?) t. Rotteck.
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— 522 —
. . . wir haben in diesem Gebiete nur Schriften, die
uns nichts erklären, und andere, die uns nicht erklärt
sind. Die gegenwärtige, unter völlig ertödtenden Um-
ständen und Drangsalen, unter unaufhörlichen Ruthen-
streichen, aber auch unter unaufhörlicher Begeisterung
für alle Wahrheit geschrieben, ist nur bloße Hindeutung
auf die hier ja nicht kunstgerecht entwickelte oder be-
leuchtete Idee, und noch viel weniger ist sie die Spezial-
Charte zum entdeckten neuen Land — aber sie ist gleich-
sam das Gefühl, die Ueberzeugung von dessen Dasein,
von seiner noth wendigen Nähe und von der Lücke auf
unserm Globus der Anthropologie. Aufmerksame Reisende
hören und sehen ohnehin in dieser Gegend immer so
wunderlich und bedeutsam brausen und tönen und leuchten,
die einen Gespenster und die andern Geister durch dicke
Nebel auf- und abhuschen, und es sollen da die Alten
laut Bericht und — Versteinerungen sogar eine ihrer
kostbaren und wichtigen Pflanzungen besessen haben —
und Metallgruben, aus denen jetzt immer noch Kobolde
aufhüpfen und hie und da eine Apotheke noch Gift —
aber nur granweise und gegen die polizeilichen Be-
stimmungen, mithin nicht ohne Gefahr für ihre eigene
Existenz, verkauft (II, II).
Für Menschen, die noch nie eingesehen, nie empfun-
den haben, welchen Raum die Liebe in ihrem irdischen,
individuellen Dasein einnimmt, habe ich nicht geschrieben,
auch nicht zum Zeitvertreib, denn Menschen haben doch
keine zu vertreiben. Ich weiß, es ist dieses ein trau-
riges Buch, aber ich weiß auch, daß es ein Samenkorn
reiner Menschlichkeit ist; ich werfe es trauernd und
hoffend unter Disteln und Dornen — dazu fiel mir das
ernste Loos; und der Mensch mag ja solchem Schicksal
nicht entgehen. Mit ertödtenden Lebensverhältnissen
ringend, bin ich wohl auch schon im Begriff und in Ver-
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— 523 —
stichuDg gestanden, diese Schrift auf zugeben ; aber es war
der Satan ; und dann standen wieder vor mir das Gericht
und die ewigen Griechen und von seinen Weisen und
Helden, seinen Sängern und Rednern, seinen Künstlern
und Gesetzgebern diejenigen, die der Natur des Eros,
von der Plato immer redet, selbst angehörten, und die in
ihr und durch sie geworden sind, was sie in ihr und ihrem
Griechenland der Menschheit werden konnten; und ich
fragte und sah wieder vor mir, was wir aus ihnen gemacht
hätten — unsere Erwürgten — die todten Hingerichteten
und die lebendigen Hingerichteten und die noch nicht
gebornen Hingerichteten und die unseligen Mütter an
den Wiegen der schuldlos Verdammten, die Richter und
Erzieher mit verbundenen Augen — und der Todten-
gräber zuletzt den Sargdeckel über meine Nase schiebend . . .
dann faßte mich wieder siegend die Macht der Menschen-
liebe und der Wahrheit mit ihrer ganzen Gewalt an
und ich suchte, dachte und schrieb wieder fort und
wendete sorglos, selbstvergessend meine Augen vorsätz-
lich ab von allen denen, die dafür, wie ich wohl weiß,
an meinem Verderben arbeiten. Zu schon begangenen
Verbrechen schweigen, das lasse ich hier liegen; wenn
aber Greuelthaten begangen, wenn Feuer eingelegt, ver-
giftet und das Vaterland verrathen und der Unschuldige
geschlachtet werden will — alsdann habe ich menschlicher
Weise durchaus keine Wahl mehr zwischen reden und
schweigen — zwischen Schuldlosigkeit und Theilhaftig-
keit — an dem, so geschieht! — Das, Mitmenschen, ist
wieder der individuelle Ursprung dieses Buchs. Wer
aber mit über Tod und Leben entscheidendem Wahn
und der solchen aufhellenden Wahrheit blos geistreich
uud gewissenlos um Geld spielt, mit beiden seinen Spott
treibt, Wahrheiten nach Gewinn und Ruhm wiegt und
mißt und feil bietet, an geheiligte Lügen sich festklammert,
in allerlei Narrentrachten verschachert, um seiner ver-
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— 524 —
ächtlichen Ruhe, um seiner verächtlichen Mitwelt willen,
ist Antheilhaber an dem Verderben und dem Elend der
Völker und Zeiten .... (II, XXXI— XXXII).
c. Gedanken über die Männerliebe und den Eros.
Die Griechen fanden ihre Erklärung in der Erschei-
nung selbst, wir aber wollen erst in der Erklärung die
Erscheinung finden. Aber es richten sich die Erschei-
nungen eben nicht nach unsern Erklärungen, wie sich
diese nach jenen richten sollten (I 295 — 296).
Wir sind da von einer ebenso schädlichen als schänd-
lichen Ehrbarkeit besessen (II, XXV).
Wenn verpfuschte, verderbte Menschen aus einer
Natur Wahrheit Gift ziehen, Mißbrauch von ihr machen
— soll man sie ihrer wegen unterdrücken oder ver-
schweigen? sind sie die Menschheit, Ziel und Endzweck
der Schöpfung! ? (II, XIII).
Theile des schuldlosen, bessern, innern, unwillkühr-
lichen Menschendaseins in die Sphäre der Verbrechen
und Laster versetzen — das ist Gang und Richtung der
Völker zur Barbarei, zur Hölle, zum Ketzer- und Hexen-
glauben und -Prozeß (II 242).
In dem dem Satan ähnlichsten Menschen kann die
allerentschiedenste Geschlechtsnatur für das Weib vor-
handen sein, dagegen in einem stillen, zartsinnigen, bedäch-
tigen, frommen nicht, und eben an deren Stelle die
Sympathie für Wesen seines eigenen Geschlechts ....
(II 243—244).
Und wer aus diesem Gegenstand eine Streitsache,
statt eine Angelegenheit der Naturforschung und Natur-
wissenschaft macht und im Vertrauen auf altes Her-
kommen, bei dem er für sich nichts einzusetzen hat und
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— 525 —
nichts verlieren kann, zeigt selbst am besten, auf welcher
Stufe er steht Aber wenn das Christen sind, dann sind
Christen abscheuliche Geschöpfe!! (II 155).
. . . und es entsteht dann da das Uebel und das
für uns wahrhaft Nachtheilige, daß wir uns gerade da
noch tugendhaft fühlen, wo wir nicht lasterhaft sein
können, und Andere als lasterhaft taxiren, wo sie ihrer
Natur gemäß uns gegenüber oft noch wahrhaft reine und
edle Menschen sind. Auf solche Weise haben wir eine
erlogene Summe des Guten in unsern Verdiensts- Ver-
zeichnissen, eine, die gerade auf unserm Soll statt auf
unserm Haben stehen sollte und die uns aber auch nur Zinsen
trägt, wie einst der Hexenglaube trug. Der wahrhaft
erleuchtete Mensch aber denkt und fühlt für alles Ge-
fühl, für alles Recht, für alle Wahrheit, für jedes Ge-
schöpf, der blinde Halbmensch nur für sich selbst (II,
XXVI).
Die Erforschung der menschlichen Natur ist überall
ein ebenso heiliges als verfolgtes Werk. Was wir über
den Plato hinsichtlich der Geschlechtsliebe lehren, be-
sitzen und praktiziren, zerfällt von selbst in zwei Theile;
der eine ist das prächtige todte Gefieder, das wir dem
Adler des göttlichen Plato ausgerissen haben, und der
andere Theil ist dieser mißhandelte, entfiederte, der gan-
zen nördlichen Fastnacht zum Gespött preisgegebene
nackte Adler selbst. Diese Masken aber werden weg-
gehen über die Bretter und es wird Auferstehung sein,
nicht des Heiden-, aber eines durch Menschenwissen-
schaft neu begründeten Christenthums (II 1G8 — 169).
Spricht die Natur nicht, wo sie auflodert in innerer
Fülle und Wonne und Seligkeit, und nicht, wo sie ab-
welkt und verstummt und verschmachtet? Wo sie auf-
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— 526 —
geht und sich verschließt, wo sie sucht und wo sie fin-
det, wo es ihr Tag ist und Nacht ist und Reich thum ist
und Armuth ist und ihr Himmel ist und ihre Hölle ist?
Muß die Wissenschaft am Menschen das Vorhandene
aufsuchen oder das Nichtvorhandene? Muß die hier zu
erledigende Frage von der Natur beantwortet werden
oder nicht? An wen kann und wird da eine wahre
Menschenforschung ihre Fragen stellen ? Oder soll oder
darf oder muß sie da gar nicht fragen, nur verurtheilen,
verfluchen, verzerren, verwirren, tödten, läugnen, hin-
richten? (II 163).
Wenn diese Neigung in der wirklichen Natur, wenn
sie Natur und Wirklichkeit selbst ist und als ihr Gesetz
in tausend unabänderlich nur für sie bestimmten Wesen
besteht; kann es in diesem Fall noch schwer zu ent-
scheiden sein, wer da als Unmenschen und Barbaren ge-
handelt habe und wer menschlich, wir oder die Griechen ! !
Und welche Folgen uns und ihnen da zuTheil werden mußten
und konnten. Und wenn sie ist, diese Liebe, ist es gut,
recht, rathsam, daß sie als solche außer unsern Gesichts-
kreisen sei und durch die, so fälschlich an ihr nichts zu
verlieren glauben, in den Verbrechertafeln klebe? —
(II 282).
Der Griechen Behandlung der Männerliebe eröffnete
den männerliebenden Naturen eben so ein sittliches
Heiligthum — wie sie und wie wir, in der Ehe, für die
Liebe der beiden Geschlechter eines eröffnet haben. Die
Griechen waren durch ihr Wissen und Festhalten der
Unzuverläßigkeit der äußern Kennzeichen im Geschlechts-
leben des Leibes und der Seele auf ein weit geistigeres,
sinnigeres und mannigfaltigeres Beachten alles mensch-
lichen Innenlebens und eben dadurch auch auf einen
vielseitigeren Kreislauf von Kräften und Formen und
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— 527 —
Richtungen des allgemeinen Menschthums geleitet als wir
(I 297—298).
Naturwurzeln haben alle Verbrechen; Gut und
Habe besitzen wollen ist Natur, Zorn und Rache sind
Natur, in der zweigeschlechtlichen Liebe sind die Wur-
zeln zahlloser Verbrechen und zahlloser Tugenden und
großer Handlungen. Die wahrste Menschenkunst und
Wissenschaft hat aber keinen wesentlicheren Beruf, als
der ist, die Wurzelfasern der menschlichen Verbrechen
und Tugenden aufzusuchen und darzulegen und ihnen
in ihre untersten Tiefen nachzuspüren; beide sollten
gerade da, wo ihre Blicke die natürlichen Wurzeln eines
Verbrechens nicht erreichen, nachdenkend stille stehen
und eben so ernst als deraüthig eine neue Aufgabe der
Seelen forschung glauben lernen. Griechen haben keine
Tugenden zu begründen und eben so keine Laster zu be-
strafen gesucht, deren innerer Zusammenhang mit der
Menschennatur ihnen nicht klar gewesen wäre; aber unsere
hohe Menschenkunst — die ist über solche Kleinigkeiten
weit erhaben (II 152—153).
• Sitten und Gesetze für Erschaffung oder Zernichtung
einer Liebe sind lächerlicher, oft aber verbrecherischer
Unsinn gegen die Schöpfung, gegen die Natur des Menschen!
Die Griechen siud frei von ihm — wir aber, indem wir die
eigentümliche Daseins-Sphäre der Natur des Eros der
der andern, allgemeinen, zweigeschlechtlichen auferlegen,
begehen ihn in beiden Richtungen zugleich und im
Sitten- und Criminalwesen wird das Lächerliche zum
bittern Ernst. Wir glauben eine Proklamir- und Trans-
portirbarkeit der Geschlechtsliebe; wir bilden uns ein,
es sei durch uns, durch unsere sittliche Erhabenheit das-
ienige nicht mehr vorhanden, was den Griechen durch
ihre Sittenlosigkeit, durch die Art und Weise ihres un-
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— 528 —
gebundenen Lebens in das Leben gekommen sei. — Diese
schamlose Verkündigung steht wieder ganz neu, als ein
Götze dieser verrosteten Zeit, breit und frech in einer
bei uns vielgelesenen Zeitschrift (II, XXIX).
Eben weil wir jene Liebe als Natur nicht kennen
und als Unnatur weglästern aus allem Leben, aus dem
unsrigen wie aus dem der Griechen, seine ganze Entfaltung,
alle seine geistigen Einflüsse, alle im Wesen des Menschen
wurzelnden und vorbereiteten Natur- und Kunstgestal-
tungen, was alles, theils durch den Natursinn der
Griechen, wie durch die Hände ihrer Weisen als
die zarteste und reinste Lebensentwickelung aufblühte,
noch nie mit Ehrfurcht und Bewunderung, nicht
einmal mit Schonung oder frommem Nachdenken
angeschaut haben, so halten wir nur ein Teufli-
sches, ein vom Göttlichen Abgetrenntes oder ihm in
und an sich entgegenstehendes Scheusal in allen unsern
Forschungen und Lehren und Auslegungen und An-
wendungen der Griechen fest. Aber nur verworfenen
Menschen, ohne allen Kunst- und Natursinn, kann dieses
ohne Bedeutung sein. Es mangelt uns da an allem Licht
und vorzüglich an dem heiligen Element der Menschen»
liebe Jesu (II 203).
Der Lasterhafteste kann die Frauen und der Tugend-
hafteste die Männer lieben. Die Erde, die Geschichte ist
dieser Erweise voll ; keine Liebe ist an sich Tugend oder
Laster, so wenig als Wille und Selbstbestimmung. In
diesen wenigen und einfachen Wahrheiten liegt wahrlich
ebensowohl der Erweis unseres Irrglaubens als unsers
Irrwissens, ebensowohl unseres Unrechts als unserer
Schmach — und die volle Gewißheit, daß wir bis auf
diese Stunde, schon durch unsere finstern Lästerungen
allein, noch in jener entmenschenden Stockfinsterniß der
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Hexen- und Ketzerzeit sitzen und einem gräßlichen Wahn-
götzen einen bedeutenden Theil unsere gesunkenen Ge-
schlechts hinmorden. Der Wahn würgt mit verhüllten
Augen, er kennt seine Schlachtopfer nicht; er ist der
Abgott wähnender, unwissender, blinder Völker und Zeiten.
Die Priester seiner Tempel sind nicht blos Pfaffen; auch
unsere Geld- und Mode-Schriftsteller, die ihre Produkte
nach Thalern und Zeitumständen modeln und schwelgen,
sind es; — ihre Gegner darben jederzeit gefährdet, ver-
folgt und verdächtigt (II 233).
Hat die Liebe der beiden Geschlechter Zwecke und
Rechte und Pflichten ? Giebt der Mensch sie sich selbst
oder ist sie ihm gegeben? Kann er sie ablegen, wenn
er sie hat? Kann er sie annehmen, wenn er sie nicht
hat ? Giebt es keine Menschen ohne sie oder sind die,
so sie nicht haben, keine Menschen ? Was sind sie dann?
Was können, was sollen, was müssen sie sein? Was
waren sie den Griechen ? Was haben wir ein Recht aus
ihnen zu machen? Und was sie aus sich selbst? Ge-
hören sie keinem Plan, keinem Zweck, keiner Idee der
Schöpfung an? Sind sie wirklich außer diesem allem
und doch da? Soll man ihnen zu dem, was sie werden
können, verhelfen, wie die Griechen? Und warum sich
ihnen entgegenstellen ? Sind sie von Gott selbst außer
seine Haushaltung gestellt, kann er sie erschaffen haben,
wenn es ein Recht zu ihrer Verfolgung giebt? Kann
er sie erschaffen haben, wenn es ein wahres Naturrecht
für die Zernichtung dieses ihres Daseins giebt ? Gehören sie,
in diesem Fall, nicht in den Plan eines weltregierenden
Satans und keinem Gott an ! ! Und wenn sie sind, diese
Wesen, und in diesem Augenblick ihrer wieder eben so
viele, als in jeder Vergangenheit, sich der Stunde ihrer
Geburt für diese Erde nähern, hat die Menschheit und
die Wissenschaft ihnen kein Menschenschicksal zu be-
Jahrbuch V. 34
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— 530 —
reiten ? Und endlich, wer, welche Kunst, welche Wissen-
schaft löset alle diese Fragen? (II 165—166).
Unsere Antipathie gegen eine vorhandene, an ihrem
Dasein und dessen Wirkungen völlig schuldlose Menschen-
natur hatten die Griechen (was eben mit und bei ihrem
vollendeten Schönheits- und Zartsinn uns als ein höchst
wichtiger Umstand auffallen sollte) nicht, sondern vielmehr
das unbedingteste Mitgefühl, das absolut auf nichts An-
derem, als da diese Liebe Natur ist, auf Menschensinn,
Gefühl, Güte und Liebe beruhen konnte. Sie hatten
eine geläuterte Abneigung gegen Unnatur, wir dagegen
haben eine solche gegen die Natur. Wenn wir von da
aus den merkwürdigen Bedingungskräften, die unser Ge-
fühlsvermögen beherrschen, nachsinnen, so werden wir
gar mannigfaltige Aufschlüsse über die Macht des Wahns,
der Vorstellung, der Irrideen, des Hexenglaubens und
Hexenprozesses aufzufinden und festzustellen Anlaß und
Gelegenheit finden. Der Irrthum unserer Ansicht, nach
welchem es sich hier um gar keine Natur handelt, ist all-
zugroß, als daß seine Folgen und Wirkungen nicht noth-
wendig schrecklich sein müßten. Diese Sphäre ist uns
völlig leer an Licht, an Werth, an Wahrheit, an Gott,
also im engsten und eigentlichsten Sinne — gottlos
(II, XVII).
Man kann nichts Armseligeres sagen, als man dürfe
irgend einem rein psychischen Leben, seiner leiblichen
und sinnlichen Offenbarungen wegen, nicht in die Augen
sehen, oder, da wo das Leibliche eines Psychischen her-
vortrete, oder, da wo unsere Augen nur das Physische
wahrzunehmen vermögen — sei kein Seel- und Geistleben
im Innern und Plato habe, wie dieser Versuch, da blos
zur Beschönigung eines Lasters geschwärmt! — Laster und
Plato! Laster und Liebe!! Griechen und Unnatur!!! —
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— 53t —
Da sind die Stempel unsers sittlichen Verfalls, unsers
geistigen Elends; ja wir würden, wenn man uns die Aus-
fertigung eines Verzeichnisses abscheulicher Gesetze, die
die Menschen zu allen Zeiten gemacht haben, auftrüge,
solches mit denen der Griechen, bezüglich auf den Eros, nicht
blos erweitern, nein, anfangen und ein Verzeichniß unsrer
sittlichen und moralischen Vorzüge vor den Griechen auch
von dieser Seite her beginnen und krönen — nicht
wahr? Wer aber einen Plato begreift, der begreift auch
leicht, daß es mit unsrer Ansicht ja nicht so ganz richtig
sein könnte, wie wir glauben. Wir sind eine Nation,
welche ihr Geschlechtsleben noch nicht zu der ihm ein-
wohnenden geistigen Erhabenheit und Bedeutung in die
freie Idee empor zu heben gelernt hat (II, XVI).
Wir haben diese Keim- und Wurzelgewalt, Neigung,
Sympathie, Instinkt, Fleisch, Gemüth nur verdammen,
nicht ertödten und nicht erziehen mögen ! Und wahrlich,
wahrlich, kein Barbar und Unmensch aller Zukunft wird
sie ausrotten, denn sie sind Wahrheit und andere Natur
bedingende Natur von Gott — sie werden immerdar
sein, wie sie immerdar waren ; sie müssen, als gegebenes,
erschaffenes Fleisch- und Sinnengesetz, erzeugen ent-
weder was sie den Griechen erzeugten oder was sie uns
erzeugen! ! Was sie aber seien als Gesetz der Natur,
unabhängig und völlig geschieden von dem, was wir
von ihnen lehren, wie von dem, was die Griechen vou
ihnen gelehrt haben, und wo und warum — darüber,
kalter Sünder, willst du rechten mit dem Ewigen und
anspeien und verurtheilen einen Plato, und dich aber
baden in den Lüsten deiner, andern Zwecken dienenden,
sonst gleichen Natur . . . und eine andere anders machen,
als sie ist — und zur brennenden Sonne aufwärts kehren
und dörren die frevelhaft vom Erdreich entblößten
Wurzeln und gewaltsam reißen abwärts aus dem ener-
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gischen Licht und dem luftigen Aether und Glanz und
Duft des Ewigen, Geistigen, in den Erdenkoth die Kronen
und Wipfel der Seelen, des Lebens, der Liebe, und wenn
sie zerstampft sind und erwürgt sind und entheiliget sind
und gebrandmarkt von deinem Wahne, alsdann predigen
deine Rechte und deinen Triumph der Hölle über deiue
Schande, über dem Zerstörten, und verkündigen die Herr-
lichkeit und das Heil deiner Völker und Zeiten den
Völkern und Zeiten und das Ermordete abnagen, wie ein
Hund, und tausend Lügen, frech und entmenscht, hinauf-
heulen zum verspotteten Gott und hinab zur betrogenen,
verführten, entstellten und nicht verstandenen Mensch-
heit!!! (II 24—25).
Daß diese Liebe, die kein Wesen des andern Ge-
schlechts anfachet, wohl aber das eigene, diese griechische
Liebe, nicht oder wenig mehr sei, gegen diese größte
aller gedruckten Lügen auf Erden rufe ich, so laut ich
vermag, Jedem das Gegentheil zu ; sie ist noch und zwar
aus dem ganz einfachen Grunde, weil sie Natur ist, weil
sie es einmal war und deßhalb auch nie als mit dem
Menschengeschlecht selbst aufhöreu kann .... Und ihr
fraget nun, wo und was sie denn jetzt sei, diese Liebe
der Griechen, und ich will euch antworten: O, es ist sehr
leicht. Sie schleicht als Laster unter den Lasten einer
allgemeinen Verdammung, zerstöret und zerstörend, segen-
und kraft- und thatenlos, voll Schuld und Qualen, außer
aller Menschenwürde und Idee, meist in abstoßenden,
nicht Griechengestalten, einen ganz eigenen Kreis der
Verdorbenheit, der Laster, der Sünden, der Verderben,
deren Ursprung wir nicht suchen, bildend, in unserer
Mitte umher, sie durchrinnet als eine eigne vergiftete,
reiche Quelle der Entwürdigung und des Elends, als
Irridee ein ganzes Reich des Guten und Menschlichen
verschlingend, alle Kreise unsers häuslichen und öflent-
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— 533 —
liehen Lebens, nachtet als schreckliches Räthsel, verwahr-
loset, in sich selbst zerrüttet und versunken, über tausend
schuldlosen Familien, heulet ausgestoßen in tausend Ge-
fängnissen unseres Welttheils, sich selbst und der Stunde
ihrer Geburt fluchend, in Nacht und Finsterniß gehüllet,
ein täglich sich erneuendes, selbst verzehrendes und un-
aufhörlich widersprechendes Ungeheuer, und liefert, so
gestaltet, Kerkermeistern und Henkern Arbeit und Brod
oder löset auch zuweilen hie und da die Schmach fesseln
eines also verdammten Erdenlebens, das Räthsel solchen
Daseins, durch uns unerklärliche Selbstmorde .... Und
es spricht in ihnen die heilige Nemesis und redet der
Engel der Menschheit fürchterlich warnend und weinend
für meine Idee! (II 237—239).
Unsere ganze Behandlung dieser Erscheinung, wie
wir alle gar wohl wissen, beruht lediglich auf dem Aus-
spruch: „Sie ist nicht Natur." Das menschlichste und
in sich klarste Volk, das je gelebt hat, vor dem wir
nichts voraus haben, als etliche mechanische und
physikalische Erfindungen und Maschinen (von denen
die jetzige Menschheit selbst die größte und merkwürdigste
ist), dieses Volk aber sagte: .Sie ist Natur." Wir aber
und die Schand- und Schmachzeiten alles Menschlichen
sagen das Gegentheil ; aus diesen ganz entgegengesetzten
Ansichten, Aussprüchen und Behandlungsweisen sind dann
auch die sich so vollständig entgegengesetzten Wirkungen
und Einflüsse entstanden; — ob darin denn nun für uns
auch weiters keine Bedeutung und keine fernere Lösung
für Menschenrecht und Wissenschaft mehr liege, das ist
wieder eine andere und ebenfalls noch nie beantwortete
Frage. Der Griechen Menschensinn und Menschenbe-
handlung war auf Menschennatur-Wissenschaft gegründet;
unsere aber wurzeln in Zeiten, wo das Wort und der
Begriff Natur auf den Scheiterhaufen führte. Sollte es
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iu der That noch nicht möglich und noch nicht an der
Zeit sein, sowohl der Griechen Ja als unser Nein auf
die Wage fichter Menschen- und Naturforschung zu legen?
Schaudert uns etwa vor den Verbrechen, die durch
solchen Entscheid auf uns erweislich würden? Wollen wir
sie lieber noch anhäufen und auf den Nacken unserer
Kinder richten, als einschen? Ina Namen der wissenschaft-
lichen Dreifaltigkeit: der Wahrheit, der Menschlichkeit
und des Rechts, lege ich diese Frage, an Gottes schönem
Sonnenschein, ich weiß, zwar nicht eigentlich, wem, vor;
nehme sie auf, wer ihrer werth ist, gewiß ist sie ein
Samenkorn des Bessern (II 182—183).
Hr. Goldhagen läßt in seiner Uebeisetzung des
Gesprächs zwischen Simonides und Hiero das ganze,
sich ausschließlich auf die Liebe zu den Lieblingen be-
ziehende Blatt, ohne Umstände zu machen, weg! — Ach,
wenn man so einen Hrn. Goldhagen neben Xenophon
sieht — wie er ihn corrigirt und amputirtü — Wir begehen
aus lauter Zucht und Ehrbarkeit solche literarische Unzucht!
Unsre Schriftsteller sind, durch unsern Gesichtspunkt,
mit dem wissenschaftlich vielsagenden Wörtlein .unnatür-
lich" immer so unvorsichtig als freigebig, obschon es
das Menschengeschlecht zu unaussprechlichen Unthaten
gestimmt und bestimmt hat . . . Man sollte nie un-
natürlich sagen, bis man recht wüßte, was Natur ist . . .
Es braucht schon Natur, um Natur zu beurtheilen (I 260).
Das ist wahrlich in der Literatur ein Frevel, wie
wir uns unter Sodomiterei in der Liebe einen zu denken
gewohnt sind, und wie der auch ist, wenn unsre Geist-
lichen im Tempel des Herrn, im Namen Gottes, des Vaters,
des Sohnes und des heiligen Geistes, Wesen zu unaus-
weichlichem Verderben zusammenschmieden, die sich ihrer,
ihnen völlig dunklen Natur gemäß ewig abstoßen und
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sich selbst eben so fremd sind, wie ihrem Priester. Hätten
uusere Gelehrten schon längst über diesen Theil der
Menschennatur Licht gesucht und zu verbreiten verstan-
den, so läge über diesem fürchterlichen, das Glück und
Heil, die Tugenden und Laster, den Tod und das Leben
vieler Tausenden entscheidenden und bedingenden Gegen-
stand nicht noch solche Mordnacht — solcher Fluch
der Ketzer- und der Hexenzeit, der tiefsten Unwissenheit!
Ihr, die ihr durch Unwissenheit die Schätze des mensch-
lichen Gemüths veruntreuet und mit ihnen Spiel und Spott
und Wucher treibet, wisset, die Folgen eurer Verhunzungen
der Klassiker, eurer literarischen Schinderstreiche und Dieb-
stähle sind die hauptsächlichsten Stützen der kalten, alten,
eisernen Mörderanstalten des neunzehnten Jahrhunderts
(I 2öS— 260).
Bei uns und uuserm Wahn nimmt hier jeder Narr
und Sündenknecht und Sinuensclav voll eitlen Wahns
noch immerfort mit aller Gravität seinen hohen Ehrensitz
im Tempel der Sittlichkeit und Keuschheit ein und
dünkelt sich rein von — einer Sünde, die mit seiner iunern
Geschlechtsorganisation und Stimmung in gar keiner Be-
rührung steht, und weiß nicht, daß da seine Tugend
etwa die eines Schweines, das nicht davon fliegt, ist; er
meint, seine Natur sei die jenes Frevlers und die jenes
Frevlers sei ursprünglich wie die seinige; er aber habe
sie bewahret und heilig gehalten, er ehre sie, er habe
sich selbst bestimmt und an sie angeschlossen, er sei in
ihr, nicht sie in ihm, der andere aber habe sich von seiner
Natur entfernt u. dgl. m. So schaut er richtend und ver-
achtend und behaglich, oft vom Unflat seiner Unenthalt-
samkeit, auf andere Menschen — auf Griechenland und
Plato hoch herab und schämt sich ihrer und mißt und
demonstrirt sich selbst und andern diese Höhe seiner
Kraft und seines Werths und sein Verdienst vor Gott
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und seiner Zeit und zeigt durch die Verdammung anderer
die Herrschaft seiner Seele über solche Sünden an. Ja
es ist, als wie wenn wir an diesem stummen, aber viel
entscheidenden Ungeheuer gerade noch darum festhielten,
damit der Auswurf unserer Gesellschaft, damit der Greuel
und Abscheu unsers Geschlechts, alle die tausend non
plus ultra der Charakterlosigkeit, der Bosheit und Ent-
würdigung, der physischen und moralischen Verworfenheit,
damit alle diese Schmachwesen, alle diese Muster der
eigentlichsten und vollständigsten Scham- und Sitten-
und Gottlosigkeit, in jeder Gemeinde zerstreut, für ihre
innere Verruchtheit noch — Etwas unter sich selbst
aufzuweisen und zu verurtheilen wissen, statt — sich
selbst .... Auch das, diese Schutzwehr der Ver-
worfensten im Schooße der menschlichen Gesellschaft, war
den Griechen nicht vorhanden und bewirkte ihnen nicht
in tausend Fällen die Vergeblichkeit unsers Erziehen«
und unserer sittlichen Bestrebungen und gab den
Schlechtesten ihrer Menschheit nicht ein scheinbar noch
Schlechteres zu ihrer Rechtfertigung und Beruhigung an
die Hand. Wahrhaft wissenschaftliche, stille und ge-
wissenhafte Menschen werden da prüfen, der ihnen gegen-
überstehende Troß aber urtheilen und verurtheilen, ohne
untersucht — ohne gelesen zu haben (II 13 — 15).
Ich frage euch Menschen alle: Könnte jetzt einer
von uns aufhören, das, was er ist, zu sein ? Könnte jetzt
einer von uns unberührt bleiben von Allem, was ihn bis-
her berührte, oder ergriffen von dem, was bisher seinem
innersten Menschen fremd war, seine Natur aufgeben, sie
nicht mehr haben, nicht mehr fühlen und ein leidenschaft-
licher Knabenliebhaber werden? Jeder, der da Ja sagt,
lügt, und Jeder, der da Nein sagt, widerspricht und
verläugnet sich also selbst. Hexen und Gespenster^
Wunder und Teufel sind aus unsern Listen der Wirklich-
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— 537 —
keit gestrichen; aber die Sünder und Sünde wider die
Natur — deren es in der Natur nie gegeben hat, so we-
nig als Hexen — die sind uns noch mit allen Einflüssen
des Hexen- und Zauberglaubens geblieben. Hier ist der
erste ernstliche Versuch dagegen. Ich kann mich vor
dem, was man einem Menschen in solchen Fällen anlügt
und andichtet, wissenschaftlich noch lange nicht so ent-
setzen, als wie über das, was man ihm abspricht, weg-
disputirt, wegdichtet, weglügt oder an ihm nicht einsieht.
Wir verfolgen und verdammen in wirklichen, rein und
deutlich gegebenen Menschennaturen, die wir aber weder
wissen noch sehen, ganz andere, die gar nicht sind, deren
es, solange die Welt steht, keine gegeben hat, so wenig
als Hexen. Wrir richten tausend Wesen moralisch hin, als
solche, die ihre Natur verlassen haben, als solche, die in
sich die Liebe zum andern Geschlecht zwar tragen, aber, um
sie in sich zu ersticken, mit frevelndem Willen widernatür-
liche Neigungen und Begierden, das heißt, unsere Sünde
wider die Natur, in sich aufgenommen haben. Wir setzen
in ihnen eine Natur voraus, die sie nie gehabt haben, die
ihnen ewig fremd bleiben muß, und die sie nie haben
können, nie haben sollen und nie haben werden; und
ihre eigentliche, einzige, wahrhafte, ihre wirkliche, wahre,
unwandelbare aber, die sprechen wir ihnen ab und erklären
sie blos für die Handlung einer freien Willkühr und
Selbstbestimmung und verabscheuen in und an ihnen
eine Handlung, die nie ein Mensch begehen kann . . . .
So trug die Allmacht eines blutigen Wahns, in die Nebel
geweihter, geheimnißvoller Unwissenheit, in die Prunk-
gemächer der Gelahrtheit, des Herrscher- und Kirchen-
thums gehüllet, als Mordprivilegium, als Saat und
Zeichen des Todes, den Eros über anderthalbtausend
Jahre durch alle Abgründe einer versunkenen Menschheit
triumphirend in alle Winkel unsere Erdtheils . . . Und
dadurch nun ist es jedem Haus eine schwarze, verhäng-
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nißvolle Stunde des Verderbens, unter dessen Dach eine
unglückselige Mutter ein neues Opfer unsere Irrwahns
und unserer Unwissenheit mit Schmerzen gebiert, und, o
es wäre besser, daß der Tod beider Leben in dieser un-
heilvollen Stunde zernichtete Oder wenn ihr
ihnen, ihrem Dasein hienieden eine andere Erkläruug, andern
Spielraum des Lebens außer in eurer Henkeransicht
oder meiner Idee wisset, so thut das Eure, wie ich hier das
meine . . . damit fürderhin keine Eltern mehr die Stunde
jener Zeugung zu verwünschen haben und nicht mehr
ein über alles Dasein, über Zeit und Grab hinausrei-
chendes Unglück, ohne alle Selbstverschuldung, auf ihr
ruhen könne! ! (II 280—288).
Wo aber freche Wuth statt frommem Menschensinn
und blinder Stolz statt reiner Wissenschaft ein Volk er-
greift, da mordet es. Keinem Wahne ward je so viel
geopfert, als dem: Der Mensch kann seine Natur aus-
ziehen, wie ein Kleid, oder es giebt eine Zuverläßigkeit
der äußern Kennzeichen im Geschlechtsleben des Leibes
und der Seele, was man auf diesen Tag noch wühnt,
noch träumt, noch glaubt — nämlich, daß jeder, der in
einen Jüngling sich verliebe, zuerst seine Uruatur, die
wir nach den äußern Kennzeichen bestimmen, ausgezogen,
mit Füßen getreten uud weggeworfen habe .... Das
kann nur Unwissenheit wähnen, die weiters wähnet^ es
sei jedes Geschlecht nur das andere zu lieben von der
Natur augewiesen, von innen aus bestimmt und gestimmt,
und jedes We.sen anderer Art und anderer Neigung sei
nur Willkühr, Selbstbestimmung und frecher Sünden
willen und liege in keinem Plan und Gang der Natur
und sei darum reif zu aller Verfolgung, Schmach und
Entwürdigung, es sei entweder der Gesellschaft unschäd-
lich zu macheu oder aber im menschlichsten Fall wieder
durch die Kraft der Ueberzeugung und der Moral zu
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— 539 —
seiner angebogen und wahren Natur zurückzuführen. . .
Das Schandmal solchen Glaubens trägt unsere stolze
Zeit (für die Zukunft als Stempel ihrer Unwissenheit und
ihres Barbarenthums) noch an ihrer Stirne, sie sieht eine
Blumen wiese (Plato's Garten des Menschlichen) noch
immerfort für einen Abgrund an und baut noch immer-
fort ein Feld mit Henkern, das Griechenland durch seine
Koryphäen der ewigen Kuust gepflegt, und brütet noch
Schmach und Verderben und Entehrung und schmiedet noch
Ketten für Wesen ohne irgend eine Schuld, mit denen und
für die Plato einst so geredet, wie ich zeigen werde und
es geschrieben steht in der heiligen Schrift der Klassiker und
der noch heiligern der ewigen Natur, mit ganz wahr-
haften und natürlichen Menschen, die immerhin im Plan
der Schöpfung und unablöslich in der Wesen wandel-
loseu, lebendigen Reihen sind und bleiben!! — .Nein
ihr seid nicht! Ihr macht euch selbst und wir zernichten
euch, nach Recht und Gesetz," so spricht unsere Zeit der
Weisheit und der Wissenschaft, gewöhnt, Mitmenschen,
die Griechenland als solche erkannt, begriffen und be-
sessen hat, durch die es seine Unsterblichkeit mitbe-
gründete — für naturabtrünnige Scheusale, physisch und
moralisch, tausendweis zu erwürgen und immerhin be-
müht, sie mit Mord und Tod durch Gewalt und Nacht
von ihrer einzigen und wahren, von ihrer einen und
reinen, von ihrer unabänderlichen, innern, unwandelbaren
Wesenheit mit Schmach und Schwert abzuschrecken, in
sich selbst zu ersticken, zu verwirren, umzubringen —
und postulirt, entblöst von allem Menschensinn und
Wissenschaft, die da einzig retten können, auf Priester
und Barbaren vergangener Zeit verweisend, so gräuel-
haftes Handeln, auf heiligen blutgefärbten Mordwahn —
und mordet tändelnd noch immerhin ihr eigenes Ge-
schlecht und verdammt im Arm der fürchterlich ge-
täuschten Mutter noch den Säugling, denn ich sage, sie
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ist ewig Natur und schlummert im Kind so gewiß und
so wahr vorbereitet, als sie im Leben des vollendeten
männerliebenden Mannes ist und so gewiß der Keim
der allgemeinen Geschlechtsliebe in jedem für sie ge-
bornen Kind auch vorhanden ist. Die Nachwelt wird
über die Verhältnisse, die wir den Geschlechtern an-
gewiesen, wie wir dießfalls den Menschen erfasset, er-
zogen, behandelt, was wir an ihm zertrümmert, benutzet,
entwürdiget und gepflegt haben, Rechenschaft fordern,
wir fordern sie auch von den Griechen — aber wir
verstehen sie nicht, wir lästern sie lieber, es ist leichter,
als wissenschaftlich prüfen. — Natur heißen wir Frevel
und Sünde wider sie; wir haben Criminalgesetze gegen
sie, wir haben einen Irrwahn, eine Einbildung, ein Phan-
tom, einen Machtspruch, eine stumpfsinnige Lüge, mit
Menschenblut eingeweiht, auf den Richterstuhl gesetzt
und diesem Gespenst schon Millionen Menschen ohne alle
Schuld geschlachtet, ihm die Würde und Kraft unsres
Geschlechts hingeopfert, wie seiner Zeit dem Phantom
der Hexen und Ketzer; wir wähnten der Menschheit
Würde zu retten und entwürdigten sie — logen ihr
Verbrechen an, die sie nie beging und verübte; und ver-
herrlichten solche, die ihr ewiges Schandmal bleiben
werden; man wähnte ein Uebel, das nicht war, auszu-
rotten, und zog eine Pest über die halbe Welt; man
brüstete sich, Laster auszutilgen, die nie gewesen sind,
und beging die grauenvollsten Verbrechen an der
Gesellschaft, an Mensch und Natur, man gab Menschen-
rettung vor und versenkte Millionen in den Ab-
grund innern Widerspruchs und äußerlicher Schmach
und rettete keinen! — Die Menschheit hat nie
einen Frevel an Größe diesem ähnlich begangen und
ahnet ihn auf diesen Tag noch nicht! Im Reiche mensch-
licher und unmenschlicher Verirrungen hat kein Wahn
so lange als dieser gewüthet; bis auf diese Stunde ist
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— 541 —
uns unser Geschlecht im Allgemeinen mit dieser Liebe,
mit der Wahrheit, die ich nun zu bewähren habe, eben
so wenig gedenkbar, als solches den Griechen ohne sie
gedenkbar war. Ihnen war sie Garten und Treibhaus
herrlicher Menschen und göttlicher Thaten, so wie sie,
die uns nun durch Irrwahn und Unwissenheit und Bar-
barenthura geschändete und verworfene Natur, noth-
wendig oder ununterdrückbar nur Verbrechen, Unrecht
und Verwirrung und aus diesen Un- und Halbmenschen
für Familien Jammer und Elend, für Rad und Galgen,
für Kerker und Galeere liefert; diese Notwendigkeit,
diese völlig naturgemäße Folge, wird sich im Fortgang
unserer Prüfung von selbst ergeben. Die Entdeckung
alles dessen, so uns in der Menschennatur noch verborgen
und räthselhaft, aber der Zukunft zu beleuchten aufbe-
halten ist, wird uns, wenn's denn einmal tagt, dieses
alles ebenso bejammern lehren, wie wir jetzt die Millio-
nen dem Hexen- und Ketzerglauben Erwürgten bejam-
mern ; denn alles, was Barbarenmacht und Nacht Zer-
störendes an der Menschheit je verübt, ist für den Gang
und das Leben, für die Formen und Schicksale der
Menschen und der Menschheit, weit weniger als diese
Saat des Todes, ist wenig gegen den Glauben an eiue
Zuverläßigkeit der äußern Kennzeichen im Geschlechts-
leben des Leibes und der Seele, sobald er einer Menschen-
behandlung unterlegt wird, und wenig gegen den Glau-
ben, eiu Theil der Gesammtnatur unsers Geschlechts sei
entweder gar nicht vorhanden oder nicht Natur oder
freier Menschenwille, Selbstbestimmung, Verbrechen oder
Spiel der Natur, das Menschen an Menschen zu rächen
oder zu strafen hätten; kein Wahnglaube, dem die Men-
schen je für ihre Verkrüppelung gehuldigt und irrig zum
Richtmaß ihrer Sittlichkeit und Erziehung erhoben haben,
ist so entsetzlich als der, Menschen können die Grund-
richtung der Triebe und Sinne, also ihres Wesens tiefste
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— 542 —
Urneigungen, ihr wahrhaftigstes und eigentlichstes Seihst,
ihren Geschlechtssinn, ihr Geschlechtsleben, mithin
immerfort währende und in tausend Richtungen wirkende
Theile und Gesetze der ewig unabänderlichen Natur,
ihre Liebe mit ihren unzählbaren Fasern des Lebens
könnten Menschen willkührlich, wie ein Kleid, ausziehen
und mit einer andern verbotenen, mit einer Nichtnatur
vertauschen — man könnte eine Natur behalten oder
nicht behalten oder unter zweien wählen, annehmen oder
wegwerfen, man könne in einer leben oder nicht leben
— wie nian's nach den Aussprüchen Anderer gut und
nöthig, erlaubt und nicht erlaubt finde, und die OetFent-
lichkeit, das Gesetz, die Sitten, die Theorien und Lebens-
lehren, die dürfen und sollen und können dann nach
Gutdünken verfügen, anerkennen, gutheißen oder ver-
dammen, sehen oder nicht sehen . . . Nicht die Forschung
und die Wissenschaft und das Vorhandene in der Natur,
— Staat und Kirche, die haben da zu wählen, zu
befehlen, zu taxiren, zu erschaffen ; es gebe da ganz un-
bedingt und durchaus ein willktihrliches Abirren, ein
Um- und Austauschen, ein An- und Ausziehen seines
Innenlebens, seines Seins und derjenigen Grund-
eigenschaften der Menschennatur, von denen aus und
unbedingt und einzig sich der Faden ihres Daseins und
ihrer tiefsten Naturbestimmung auch naturgemäß und
ohne Störung spinnt und abwindet; da seien keine als
ihre, der Barbaren, Gesetze und Aussprüche nöthig und
gültig und heilig und unabänderlich und gut und gerecht,
— da, wo Gottes Finger gedeutet, geordnet, festgestellt,
gewogen und erschaffen hat, könne der Mensch für sich
und Andere gebieten, verfügen, unterdrücken, wählen,
verbessern, ändern, ausrotten, richten, verdammen, gut
oder schlecht heißen; damit sei alles Nöthige gethan und
des Menschen Innenleben und Innennatur nicht weiters
zu fragen, die äußern Kennzeichen seien da Richter und
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— 543 —
Gesetz, und der, einst auch aus Wahn entstandene Ab-
scheu vor Hexen, der jene Millionen Morde ruhig und
pflichtgemäß beging, könne jetzt in anderer Richtung, im
Wahn, der Mensch solle oder könne über die Grundan-
lagen seines Geschlechtslebens verfügen, wieder eben so
ruhig und pflichtgemäß wie ehemals im ähnlichen Irr-
glauben fortwirken und walten und morden ! — Nicht
Strick und Schwert allein, auch Meinung und Gesetz mor-
den oft eines und dasselbe Menschenleben tausendmal.
Aus frevelhaftem, licht- und liebeleerem, blindem und
wissenschaftlosem Unsinn, der keine Griechenmenschheit
schändete, aus dem sind unsere Barbarenansichten und
unsere Mördergesetze hervorgegangen. Durch ein sol-
ches Gesetz wider alle Natur, nicht nur gegen eine,
mußte auch im Allgemeinen der Glaube an den heiligen
Ernst und die Einfalt, an die Kraft und das Wesen aller
Natur selbst gleichsam untergehen. Kirchen, die in
ihrem Schooße Hexen brüteten und Ketzer gebratet
haben — die konnten auch Plato's Liebe, diese zu
allen Zeiten und überall vorhandene, unwandelbare und
fest bestimmte Menschennatur, die ich erweisen werde,
statt erfassen und erziehen, mit ihrem Geifer also be-
flecken und ihr denn von Sodom, von Athen nicht Na-
men suchen und geben — daher sind wir nun schon seit
Jahrhunderten gewöhnt, sie, diese bestimmten Natur-
wesen, diese Menschen, als der Natur abtrünnige Ver-
brecher und Nichtmenschen zu behandeln und sie zu-
folge unserm Glauben an eine Zuverläßigkeit der äußern
Kennzeichen im Geschlechtsleben des Leibes und der
Seele als in der Natur nicht gegebene zu erklären, von
ihnen anderes Leben als ihr Leben fordernd, ihnen das
größte Verbrechen gegen die Natur als Pflicht auferle-
gend und sie dadurch in einen eigenen und besondern
Kreis von Nacht und Widerspruch, von Sünden und
Vergehen drängend, und dieses alles gegen eine Natur-
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— 544 —
erscheinung und eine Naturwissenschaft, die einst
Griechenland, beide, in sein ganzes Leben — in seine
ewige Kunst der Menschheit verflochten ... Ihr Leben
aber und unser Leben und aller Menschheit Leben ist
eines und dasselbe Leben, ein Bleibendes, ein Unwandel-
bares, ein Ewiges, aus diesem haben wir im Wahn- und
Irrglauben an die nie vorhandene und von aller Mensch-
heit und aller Zeit widerlegte ZuverläßigkeitderäußernKenn-
zeichen imGeschlechtsleben des Leibes undder Seele einen zu
großen Zwecken (wie der Griechen allgemeines Leben dem
Nichtblinden zeigt) bestimmten Theil verdammend ab-
gelöset (zernichten können wir ihn nicht), dieser nun
dergestalt entwürdigte und verfolgte Theil brütet und
trieft Verderben und Elend, als Saat des Todes und
Sold der Völkermissethat und Blindheit, als physischer
und moralischer Pesthauch, voll schrecklicher Verhäng-
nisse und Schicksale über Einzelne, über Familien, über
Völker und Staaten, wie ich zeigen werde. Und da diese
so hingerichtete Liebe als Natur unvertilglich wie unaus-
löschlich nie aufhören kann, nie aufhören konnte, aber
das, was sie ist, nicht mehr heißen im Leben, und in der
Idee nicht mehr sein durfte, dagegen aber von der Eisen-
haud des Wahns am schwarzeu Höllenzug der Laster
angeschmiedet, als Verbrechen nun denn einen Namen
haben mußte; da gaben ihr versunkene, Wissenschaft- und
M'ürdelose Völker, entgegen den Griechen, Namen, die
keine andere gebildete Menschheit, worunter wir Israels
auch nicht zählen mögen, je kannte — also zur Unnatur
und zum Verbrechen und zur willkührlichen Abirrung ge-
stempelt und verkündigt — entwürdigt sie nun in der
That und Wahrheit, in solcher Form und Gestalt, wie
jede andere Zeit, die so verfügte, auch diese unsere noch!
Als unvertilgbare Natur aber, entblößt vom Menschlichen
und abgelöst von allem Menschensiun und allem Menschen-
wissen, entstellet und mit Fluch bedeckt, muß sie auch
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— 545 —
diese unsere Zeit und Menschheit mitten im Schooße ihres
innern und äußern Lebens an ihren Wunden darbend
tragen, mit allen Schrecken und aller Nacht und allen
Lebenszerrüttungen und allem leiblichen und geistigen
Verderben und allem physischen und moralischen Elend
und allem blutigen Unrecht und allen Menschenmorden,
deren wirkliches Dasein und Quelle ich in unseren Wahn-
wort und aller Nacht, in der es waltet, aufdecken will
. . . Von Gnade rede ich nicht, es ist da um Recht und
Wahrheit, um Licht und Wissenschaft, und nicht und
nie um Gnade zu thun. „Es ist schändlich, o Kaiser, eine
Ueberzeugung zu hegen von etwas, das du nicht unter-
sucht hast" (Apollonius bei Flav-Philost.). Wer eine
Wahrheit verwirft, verschmäht, verdreht, verachtet, von
der Hand weist, um durch den ihr gegenüberstehenden
Wahn und Aberglauben Brüder, Menschen ohne Schuld,
zu verderben, wäre der kein Mörder? Bedarf die Obrig-
keit keiner Wissenschaft, — nur Gesetze und Henker?
Ist es nicht jedem, der durch Ansicht und Gesetz, durch
Stand und Amt, in enger oder weiter Umgebung einen
Einfluß ausübt, Amts-, Berufs- und Menschenpflicht, mit
Ernst ohne Wahn und Vorurtheil zu untersuchen und
untersuchen zu lassen, — als bestimmte Natur für un-
natürlich mit Füßen zu treten, mit Kacht und Geifer zu
bedecken, zum Weltverderben zu gestalten. Solche Prüfung
wird, was ich wohl hoffen darf, hier leicht gemacht —
Zeit ist es, aus diesem Sündenschlaf zur Wahrheit, zur
Vernunft und zum Recht zu erwachen Wehe dem,
der keine Thränen hat über seiner Brüder Elend und
seiner Väter und seines Vaterlandes Unrecht und Misse-
thaten — der nicht einsehen, der nicht bereuen, und
nicht bejammern kann, was er selbst, und andre mit und
vor ihm, aus Unwissenheit und Stumpfsinn, an seinen
Mitmenschen, in blindem Wahn verbrochen. Solcher ist
der eigentliche Sünder wider die Natur und der Frevler
Jahrbuch v. 35
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— 546 —
wide rallen Beruf des Menschen für die Menschheit!!
Gesetze ohne Wissenschaft sind Henker ohne Obrigkeit;
und selbst ihr alle, die ihr mit Ernst am Heil der Mensch-
heit arbeitet, mit Kraft, mit Willen und Würde nach
dem Licht und den Polen, um die wandellos sich alles
wahre Heil der Sterblichen beweget, hinweiset — selbst
ihr seid in dieser Beziehung noch Inquisitoren, wie jene,
die auch sonst in allem Uebrigen empören — Diener
des Unrechts und der Unwissenheit und der Nacht, wie
jene schwarzen Spaniolen, blinde Werkzeuge barbarischer
Macht und frevelnder Gewalt — und jeder aus euch
bildet da in dieser Angelegenheit noch mit Plato die
Gruppe des Erzengels und des Satans (I 102 — 118).
Im achtzehnhundert und siebenunddreißig-
sten Jahr unserer Zeitrechnung glauben wir, daß Un-
menschengesetze, etliche Mährchen, das Geschwätz alter
Weiber, die Erklärungen der Universitäten, wie im Ketzer-
und Hexenproceß, und Bibelstellen, die man noch nie zur
Ehre der Bibel ausgelegt hat, was leicht ist, . . . hin-
reichen, eine Menschennatur aufzuheben, anders zu macheu
oder zu ersticken, eine nicht vorhandene hervor zu bringen.
Das ist der pure, leibhaftige Hexenglaube, die voll-
ständigste Teufels-Wirthschaft, eine auf gleiche Funda-
mente gegründete Finsterniß, in der man noch alle Gräuel
jener Mörderzeiten an Schuldlosen, denen man die Natur
eines Andern und Verbrechen aufbürdet, die nie ein
Mensch verüben kann, begeht (H 293—294).
Die Geschlechtsnatur Heinrich Hößli's.
Es darf die Frage nicht unerörtert bleiben : war der
Mann, welcher mit einer Entschiedenheit ohne Vorbild
und mit edler Unerschrockenheit für die Natur- und
Sittengesetzlichkeit der gleichgeschlechtlichen Liebe zu
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— 547 —
einer Zeit und bei einem Volke in die Schranken traty
wo die Ausübung derselben mit schweren Strafen ge-
ahndet wurde — war Heinrich Hößli selbst Uranier?
Er hat sich im Alter von 26 Jahren vermählt und
zwei Söhne als seine leiblichen Kinder anerkannt; allein
er führte nicht, wie sonst Eheleute pflegen, mit seinem
Weibe gemeinsamen Haushalt, sondern lebte von Anfang
andauernd und sogar örtlich von seinem Weibe getrennt.
Es scheint dieser Umstand für die Auffassung seiner
wahren Geschlechtsnatur um so bedeutsamer, als er selbst
bekennt, erst 1817, alsoG Jahre nach seiner Verheiratung und
3 Jahre nach der Geburt seines zweiten und letzten Sohnes,
sei ihm durch einen äußern Anlaß (Desgouttes' Hinrichtung)
die Binde von den Augen gefallen. Es bleibt demnach zum
mindesten zweifelhaft, ob ihn nicht doch mehr Unklarheit
über sich selbst, vielleicht gar bloßer Nachahmungstrieb,
geachteten Vorbildern es gleich zu machen, als persön-
liche Zuneigung in die Ehe getrieben habe.
In den zahlreichen Briefen der Frau Elisabeth Hößli
geb. Grebel an Heinrich Hößli ') redet sie diesen ihren
Ehemann niemals als das an, was er für sie doch war;
vielmehr nennt sie ihn durchweg „ Meinen Freund" und
sich selbst bezeichnet sie als seine „ Freundin", seine
, wahre Freundin44; nach einem dieser Briefe vom 21.
September 1846 aus Zürich fühlt sie für ihn eine „alte
unauslöschliche Freundschaft, wie es in unserm Ver-
hältniß nicht anders sein kann*. Sie macht ihm sanfte,
,) Die Reihe dieser Briefe, etwa 100, beginnend mit dem 28.
Januar 1825 und endend mit dem 30. Oktober 1854, weist nur für
die Jahre des ersten Aufenthalts der Frau Hößli in Amerika 1834
bis 1843 eine erhebliche Llicke auf; allermeist sind sie aus Zürich
datiert, einige wenige aus Meilen, Cannstatt, München und Rheinck;
die Schreiberin zeigt sich darin als eine liebevolle und resignierte,
in der Sorge für ihre beiden Söhne aufgehende und um das Wohl
und die Gesundheit ihres von ihr getrennt lebenden Ehemannes
bekümmerte echte Frau.
35*
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— 548 —
aber entschiedene Vorwürfe wegen seines unmännlichen
vielen und langen Besinnens, seines Eigenwillens und
seiner Schwerfälligkeit im Entschluß und im Handeln.
Mit seinem Sohne Hansi stand Heinrich Hößli in
regem Brief verkehr; leider sind von dieser Korrespondenz
nur die Briefe des Sohnes erhalten; aus ihnen geht aber
bestimmt hervor, daß Vater und Sohn nicht nur über
den „Eros* ihre Gedanken austauschten, sondern auch,
daß der Sohn dem Vater gegenüber aus seiner Geschlechts-
natur duchaus kein Hehl machte. Unterm 27. Dezember
1848 schrieb Hansi aus Galveston (Texas) seinem Vater:
„Ich würde recht gut und angenehm in der Schweiz leben
und wegen Dir wäre es mir über Alles . . . aber siehe,
die mehreren Gründe dagegen rühren von Einer Quelle
her oder doch meist von einer Quelle. Ich will sagen
Efros]. Besonders die verflossenen Sachen von der Zeit
des rothen Löwen in M. herrührend, das war eine un-
angenehme Geschichte, es wirkten dort viele Umstände zu-
sammen. Ich war wohl unvorsichtig und ich wäre auch
eher verschwatzt worden als andere, es war mein Fehler,
aber wie kannst Du böse darüber sein, ich that doch
nichts mit bösem Herzen .... Hier bin ich verhältniß-
niäßig glücklich und frei . . . Etwas ganz Anderes auch,
wovon ich Dir sagen will. Einen Jungen in N. York,
den ich gleich einem nahen Verwandten liebe, ohne Eltern,
irländischer Abstammung, habe ich im Sinn, als Sohn
anzunehmen; er ist 16 bis 17 Jahre alt, heißt Henry
Wilson, er könnte daher eiumal Deinen Namen bekommen.
Er ist arm, sehr arbeitsam, ohne Fehler, nicht besonders
hübsch oder groß. Ich konnte noch nie irgend etwas für
ihn thun, da er alles da hat, wo er arbeitet. Wie ich
das letzte Mal in N. York war, sah ich ihn blos ein
Mal und stehe auf sehr ceremoniellem Fuße mit ihm,
da er so jung ist; ich bin nie in seiner Gesellschaft wie
mit den zwei jungen Männern, die, obschon jung, doch
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— 549 —
erwachsen sind. Henry ist noch Bube. Er kann ziem-
lich deutsch sprechen, auch deutsch lesen. Nun, ehe ich
in die Schweiz gehe auf einen allfälligen Besuch, treibt
es mich, eine Art Geschäft oder Heimath, wenn
auch eine Farm, zu haben und daß er bei mir
zuerst angestellt sei. Er scheint sehr anhänglich gegen
mich und würde mit mir auf Land oder Stadt in irgend
etwas gehen, ich versprach ihm das schon lange. Solches
und Aehnliches halten mich immer ab.* — Noch deut-
licher redet die Einlage eines nicht vorgefundenen Briefes
Hansis an den Vater vom Februar 1853: „Zerstöre den
Zettel! Ich muß Dir auch sagen, wie es mit der Sache
vom letzten Sommer. Jener junge H. ging von Hause
weg d. h. er war in Deutschland und kam hieher. Sein
Vater schrieb zuerst, ich soll doch machen, daß er zurück
gehe, er wolle ihn nicht strafen und in Deutschland
lernen lassen was er wolle. Ich sprach zum Sohn und
er ging zurück. Aber es kamen andere Briefe, welche
Monate lang unterwegs geblieben, ich solle ihn doch
nicht zurückgehen machen, wenn er in der Bucbdruckerei
gut sei, das Wechseln sei nicht gut, ich solle mich seiner
annehmen und zu ihm sehen, und er wolle mir für seinen
Sohn eine artige Summe Geldes geben, für ihn zu ver-
wenden. Er war aber schon weg, was mir auch recht
war, indem ich nicht weiß, wie er ausfallen wird. Seinem
Sohn schrieb der Vater, mir zu folgen — aber nicht
andern in der Schweiz zu sagen, daß er mit mir in einem
Verhältnisse sei, er, der Vater, sage es nicht. Er bat
mich sehr, ihn nicht aus deu Augen zu lassen und „rüstete
mich mit väterlicher Gewalt aus/ Es war zu spät, da
der Brief mehrere Monate unterwegs war. Ich schrieb
dem Sohn durch den Vater in Z[ürich], mir nicht mehr
zu schreiben und ganz den Wünschen des Vaters zu
leben. Er schrieb mir aber doch seine Ankunft von
Hamburg und er will wieder aufs Meer, was nicht gut
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— 550 —
ist; ich schreibe ihm aber nicht mehr. Er war hier in
einer Buchdruckerei, wo er sich gut hielt. Es war eine
Verläumdung. In der Schweiz möchte ich natürlich jetzt
nicht mehr leben, denke aber etwa für 2 Monate im
Sommer zu kommen. Nach der Schweiz geht der junge
II. jedenfalls nicht.* — Zerstöre den Zettel! Der Vater
hat den Zettel nicht nur nicht zerstört, sondern ihn noch
einmal abgeschrieben, so daß er nun doppelt in seinem
Nachlasse erhalten ist!
Als dann später Heinrich seinem Hansi schrieb, ihm
möge das Heil, einen wahren Freund für das Leben zu
finden, zuteil werden, diese Aussicht für ihn erschüttere
sein Herz vor Freude und Hoffnung, schrieb Hansi zurück,
daß das wohl oft sehr schwer sei, wenigstens für seine
Person finde er das. Und in demselben Schreiben aus
N. York vom 21. April 1857 äußerte er sich in Beant-
wortung vom Vater gestellter, auf den „Eros" bezüg-
licher Fragen: „Ich glaube gar nicht, daß in mir Kraft
liegt oder Mittel mir zu Gebote stehen. Ich glaube eben
nicht so sehr an menschliche Unwissenheit, sondern an
der Menschen Bosheit und Gefühllosigkeit gegen Andere
und Lust, Andere zu erniedrigen, und eine Art Neid,
besser Mißgunst. Von Allem, was aus dem Alterthum
und auch für Natur-Anlage — ich spreche immer spe-
ziell von diesem Falle — bewiesen werden kann, wird
gesagt: „Das ist eine alte Sache, das ist allbekannt" und
„das macht die Sache nicht besser". Die Meinung Ein-
zelner gilt nicht viel. Allerdings wenn die Unwissenheit
des Volkes im Ganzen nicht wäre, so würde Alles anders
sein; Unwissenheit aber ist hier, in diesem Falle, mehr
Vorurtheil, und es ist (in der Politik) bekannt, daß all-
gemeine Vorurtheile, selbst von starken Regierungen,
innerhalb einiger successiven Generationen nicht gehoben
werden können, daher alle Regierungen, die bestehen
wollen, die Vorurtheile sich zu Nutzen ziehen müssen.
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— 551 —
Meine Ansichten sind in diesem Falle unangenehm.
Es ist gegen meine Natur, die Menschen so anzusehen;
aber wie helfen, wenn die Sache so liegt? Eine gewisse
negative oder doch zweiseitige Anschauung in einem
Werk wie das Buch in vier Bänden V(enus) U(rania)
oder wohl auch Zschokke's mögen eher angehen, aber
wie wenige lesen Alles und Solches, und wenige, die
Solches lesen, sind eigentlich unwissend, haben aber doch
Vorurtheil oder kein Gefühl für Andere und die Besten
scheuen sich wenigstens so, daß sie eigentlich neutral
sind, aber nicht ein Mal so viel Bekenntniß ablegen.
Die Hebung des Vorurtheils würde wohl Tugend för-
dern und Laster vermindern, in großen Städten wie hier
muß das sehr bemerkt werden. Es hat zwar auch eine
andere Seite füVs Allgemeine: Würden Gesetze weggethan,
ohne andere Gesetze zu machen, so gäbe es viel Böses,
und wie könnten andere gemacht werden? An eine
solche Möglichkeit ist unter bestehenden Umständen und
Ansichten ja nicht zu denken. — Das Liebste ist mir,
wenn ich mit meinen Vettern (von denen Du redest)
unter obwaltenden Umständen in keine Berührung
komme.*
Meine Aufgabe kann es hier nicht sein, den Nach-
weis zu führen, Heinrich Hößli sei nicht weibliebend
gewesen; diese Aufgabe könnte selbst dann mir nicht
zufallen, wenn es überhaupt logisch zu den Möglichkeiten
gehörte, überzeugend nachzuweisen, daß etwas nicht sei.
Aber auch für mehr als bloß hohe Wahrscheinlichkeit,
daß Heinrich Hößli rein mann liebend gewesen ist,
kann aus dem von mir Ermittelten irgend ein zwingender
Beweis nicht hergeleitet werden, weit weniger noch
der Nachweis irgend einer Art gleichgeschlechtlichen
Verkehrs. Wir erfahren aus dem Leben des Ver-
fassers des „Eros* nichts von einer großen
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— 552
Liebe, die ihn fortgerissen habe. Eine lange Reihe von
Jahren hat er treue Freundschaft oder Kameradschaft
mit seinem Neffen Jakob Kubli gehalten; es war das um eben
die schwere Zeit, als sein „Eros* entstand; die geschäftige
Fama brachte den .Eros" mit Kubli in Verbindung; sie
machte aber ein enttäuschtes Gesicht, als bei darauf aus-
gehenden Prüfungen Jakob Kubli sich als völlig unschuldig
erwies und es sich zeigte, daß dem Harmlosen der Gegen-
stand des „Eros" — spanische Dörfer waren. Damit war es
also nichts ! Es wird bestimmt versichert, Heinrich Hößli
sei ein alter lieber Freund der Familie des Löwenwirts
gewesen, ein edler, sittenreiner und makelloser Charakter,
dem Eltern und Kinder stets die höchste Achtung zollten;
den Kindern gab Heinrich nie den leisesten Anlaß zu
einer Klage, weder in Tat> noch Wort, noch Blick;
wäre ein solcher Anlaß vorgekommen, so hätte deren sehr
guter, aber leicht heftiger Vater den Freund, trotz bisherge-
pflogener echter Freundschaft, erwürgen können; um
Hößli's im „Eros" niedergelegte Anschauungen habe
man sich nicht in der Familie gekümmert, da man der
Sache gänzlich fern stand und diese Frage im Familien-
kreise überhaupt nie wäre besprochen worden. Dem
jüngsten der drei Söhne des Löwenwirts hatte Heinrich
auf seinen Wunsch hin im späteren Alter den „Eros"
gegeben, in der Erwartung, daß er ihn sorgfältig studieren
werde; aufrichtig gestand ihm der jüngere Freund, daß
er zwar im „Eros" geblättert, die Sache aber nicht be-
griffen habe, die vielen Zitate langweilig fände und das
Buch wieder bei Seite gelegt habe; der alte Freund
lächelte und sprach: „Recht so! Du hast Besseres zu
tun in Deiner Familie und in Deinem Geschäfte!"
Ein ausgesprochen urnischer Zug in Heinrich Hößli's
Wesen war lediglich seine Geschicklichkeit in weiblichen
Arbeiten. Um sein selbstloses mannhaftes und furchtloses
Eintreten für seine heiligsten Ueberzeugungen aber hätte
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unser sich selbst hochpreisendes Männervolk alle Ursache,
ihn ehrlich zu beneiden!
Was Heinrich Htfßli in seinem zweibändigen „Eros*
von Selbstbekenntnissen offenbart, das bezieht sich
auf seine Anschauungen, nicht notwendig auf seinen
Geschmack, nicht notwendig auf seine Lebensfüh-
rung; da er bestimmt erklärte, daß die Männerliebe der
Griechen zwar auch dem Leben und der Wirklichkeit
seiner Zeit noch angehöre, jedoch ohne schwarzen, „ver-
dammlichen Brüderverrath* an ringsum lebenden Menschen
und Lebensverhältnissen sich nicht zeigen lasse — „und
ich bin kein Judas", fügt er (Eros II S. 44) in Klammern
bei — so lag ihm auch die Pflicht nicht ob, sich selber
bloß zu stellen.
In dem hinterlassenen ungedruckten Manuskripte
zum dritten Bande seines „Eros" findet sich der nach-
folgende Passus wortgetreu:
»(Aus den Selbstbekenntnissen eines Unglücklichen
ohne Liebe zum andern Geschlecht)
„Ich sitze im Reisewagen, mir gegenüber eine männ-
liche Schönheit — tausend andre hätten sie nicht für
eine solche genommen — oder vielmehr — es hätte sich
in den tausend andren für diesen Menschen nichts be-
wegt und dieser Mensch nichts in diesen tausend andren.
— Die Stadt ist zurück; Berge und Thäler und Bilder
am Himmel und auf Erden wogen und rollen dahin; ich
hatte schon große Reisen gemacht; aber so gerollt und
so gewogt — solchen Himmel, solche Erde, solche Selig-
keit — und ich wußte eigentlich nicht, ob sie in mir
oder im Postwagen oder rings um denselben her sei —
ich war trunken und, o du guter Gott, hätte ich's ewig
bleiben können
— es war der Eros! —
„Ich bin in der Kirche, mir zur Rechten eine ver-
klärte Menschengestalt, die auch meine ganze Seele ver-
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klärt und mit glühender Andacht, mit dem Himmel
selbst erfüllt Der Tempel erbebt* er verschwindet . . .
und warum dachte ich: zu den Füßen dieses göttlichen
Jünglings wäre es selig zu sterben? —
— es war der Eros! —
„Ich sehe die Lichter brennen unter dem Thron
Gottes — die Glanzmeere unendlich ausgesäet am wolken-
losen Himmel ... er feiert einen Sabat der Welten und
seine Flammen funkeln Ewigkeit und Liebe; ich sinke
nieder, ich liege im Staub . . . und ... ich weiß nicht
o Gott woher . . . die Gestalt eines holden Jünglings
steht neben mir
— Stimme des Eros! —
„Ich stehe im Winter uliein am einsamen Fenster;
es schneit; der Fink für sein Weibchen sucht Körnlein
vor der Scheuer . . . und ich bin voll Liebe und voll
Wehmuth — und denke, wie selig so ein paar vereinte
Menschen auf dieser Welt voll Sehnen und Trübsal
leben . . . und wie viel Herrlichkeit im Hintergrund
einer Menschenseele sei . . . und wenn Gott mir noch
so ein Menschenwesen gäbe und ich mein ganzes Leben
mit ihm raeinen Bissen Brod theilen könnte. — Es saß
ein freundlicher Jüngling am Ofen es war eine
Erscheinung
— es war der ewige Eros, der in den
Zeugen und Stimmen redet und im Plato
und in der ewigen Natur und bei den
Griechen!
„Ich sitze am Bach und denke und fühle und sinne
so hin und her und auf und ab . . . und bin voll Heim-
weh — und weiß nicht wohin ich vor allem diesem
soll . . . denn es ist Frühling . . . und sagen möchte
ich's, wie es in mir wogt und Wellen schlägt und
so einsam ist und mir all' die Herrlichkeit so zu keinem
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— 555 —
Frieden hilft . . . und meine Sehnsucht nach dem Engel
in Jünglingsgestalt mich in namenlose Traurigkeit ver-
senkt, wo soll ich hin? . . .
„Ich wandle allein in einer schönen, einsamen Ge-
gend, ich sitze in dem Schatten des kleinen Gartens vor
einer unbewohnten Hütte, wie ich in selig hoffenden
Träumen schon manche erbaut habe. Daß du da dein
Leben zubringen und diesen Acker pflügen könntest und
säen und erndten und im Sommer und Winter die Abend-
röthe sehen und diese Bäume blühen, und leben und
sterben könntest mit — dem Einzigen unterm Himmel
und auf Erden. — Ihr tiefsten stillen Bilder des Lebens,
ihr goldnen unvergeßlichen Träume . . . ich saß noch da,
als die ersten Sterne durch die Zweige redeten ... ich
mußte fort, denn es wohnten keine Menschen in dieser
Gegend und ich kannte nicht
den Eros in des jungfräulichen VirgiPs und
Theokrit's Hirtengedichten.
„Eine Mutter traf ich auf einem Dorfkirchhof an;
ihre Tochter war gestorben und ihr Sohn; und was sie
da that, fragt wohl kein Mensch. Ich erfuhr, daß die
Tochter Braut gewesen, und daß sie Anna geheißen, sah
ich am Kreuz und daß ihr Heinrich nun in die weite
Welt geflüchtet — und Johann der beste und schönste
Mensch weit und breit gewesen sei. Nachdem die Mutter
fort gegangen war — und ich so . froh, allein zu sein,
und ringsum alles so still und kein Menschenwesen weit
und breit — und die Auferweckten wieder wie Nebel
verschwanden und meine Seele überfloss von unsäglicher
Wehmuth, — hätte ich zu dem schönen gestorbenen Jo-
hann in das Grab hinab und mich zu ihm in sein Leichen-
tuch wickeln und dort bei ihm sein mögen — ewig —
wegen alP der Trübsal und dem Heimweh und der Liebe
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— 556 —
auf dieser Welt .... und ich wußte nicht, warum das
alles so wundersam in mir war — und nichts
von der Anthologie der Griechen — den
Sängern der Vorwelt!"
*
Wer war der Schöpfer dieser Bilder, die uns zeigen,
daß der Eros der Griechen auch heute noch unter uns
weilt? Daß er Menschenherzen erfüllt und Menschen-
verhältnisse beeinflußt? Wer schrieb so? Schrieb so
noch ein anderer? Hößli verrät es uns nicht; er läßt
es uns erraten — aber er fügt an dieser Stelle bei:
„ in diesen Bildern, in diesen Begriffen, — in
diesen Wahrheiten, an die ich noch so manche
eigene tiefere Erfahrung knüpfen könnte . . .
in ihnen ist der Eros der Griechen — sie, ihre Stimmen
und Zeugen sind da gültig . . . nicht Greuellehren der
Hexen- und Ketzer-Prediger* . . .
Nach allem halte ich für wahrscheinlich, daß Hein-
rich Hößli zeitlebens mannliebend war und daß sein „Eros"
nicht bloß ein Produkt seines Nachdenkens und Studiums
und seines ausgesprochenen Rechtsempfindens war, son-
dern vorwiegend als der Ausfluß seines innersten Seelen-
lebens aufzufassen ist. War der Verfasser des „Eros* aber
nicht mannliebend, so wiegt sein Zeugnis für die Männer-
liebe nur noch um so schwerer.
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Franz Desgouttes (1785—1817)
„Alle« kommt mir wie im Traume vor."
Franz Desgouttes.
Da der „Eros" Heinrich Hößli's nach dessen
eigenem Geständnisse ein Ausfluß seines unendlichen Mit-
leidens mit den Qualen und seines zornigen Ingrimms
über die ungewöhnlich fürchterliche Hinrichtung des
reumütigen Mörders, des Berner Bürgers Franz
Desgouttes gewesen ist, Hößli selbst aber die Schilde-
rung der Leiden und der Verworfenheit dieses Unglück-
lichen in den beiden erschienenen Bänden seines „Eros"
unterlassen und sich wahrscheinlich für den dritten Band
aufgespart hat, so wird durch Nachholungdes von Hößli Ver-
säumten an dieser Stelle lediglich eine Pflicht schuldiger
Pietät gegenüber dem so verdienstvollen Verfasser
des „Eros* erfüllt. „An meiner Idee," sagte Hößli, „ist
Desgouttes' innere Zerstörung, sein Elend und sein schauer-
vollcs Ende zu prüfen und Fluch dem Menschen, der
diese Prüfung verschmähte, wenn sie ihm für noch nicht
verlorene Mitmenschen Licht und Rettung an die Hand
geben könnte" (Eros II, 213).
Als seine Quelle gibt Hößli (Eros I, 277—278) die
Schrift an:
„Leben und Lebensgeschichte, Verbrechen
und Hinrichtung des Herrn Joh. Franz Xiklaus
Desgouttes, Doktors der Rechte und Bürgers
der Stadt Bern", Bern, 1817 in 4°. Da die damalige
Regierung das Erscheinen dieser Geschichte in ihrem
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— 558 —
Gebiete unterdrückte, so erschien nach H ößli diese Schrift
darauihin französisch in Lausanne und 1827 wieder
deutsch in Berlin. Desgouttes' Schicksal hat bei seiner
Bekanntwerdung Hößli's Gemüt mit Grausen erfüllt, er
konnte nicht schweigen und Mensch bleiben. Die Schrift
„hat keinen andern als den Werth eines Beitrags zur
Geschichte des namenlosen Elends der Opfer unserer
Unwissenheit und Unkenntniß der Menschennatur in
allen Zweigen. Nach meiner Ansicht gehört sie zu unserer
Literatur des Eros — das ist fürchterlich, aber natür-
lich; wie wir dieses Feld bestellt, so trägt es uns Früchte*
(Eros I, 278).
Diese einzige von Hößli angeführte Quelle für
Desgouttes ist aller Mühe ungeachtet mir völlig unzu-
gänglich geblieben; sie fehlt auch den drei öffentlichen
Bibliotheken in Bern, woselbst man sie am ehesten noch
erwarten könnte.
Die übrigen das Schicksal Desgouttes' behandelnden,
mir bekannt gewordenen Druckschriften bieten für den
Zweck dieses Biogramms wenig Belangreiches und deuten
eigentlich nur an. So
Heinrich Zschokke, Der Eros oder über die
Liebe, in: „Ausgewählte Novellen und Dichtungen von
Heinrich Zschokke. Erster Theil, Aarau, 1843*, S. 231
bis 292. Desgouttes heißt hier Lukasson, sein
Geliebter Hemmeier wird Walter genannt Seite
232—233, 244, 252—254, 256, 270—271, 289,
291—292.
Heinrich Hößli, Eros. Die Männerliebe der
Griechen u. s. w. I. Band, Glarus 1836; II. Band,
St. Gallen 1838. üeber Desgouttes handeln Band I
S. IX, XVI, 61 und 278, Band II S. 53, 212—213, 225,
239, 263—264, 279, 327*) und 351.
Anonym, Dr. Franz Desgouttes, Dieb und Mörder.
In: „Die interessantesten Kriminal-Geschichten aus alter
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und neuer Zeit. Ein Buch zur Unterhaltung, Warnung
und Belehrung für Jung und Alt, nach den vorgelegenen
Akten bearbeitet und herausgegeben von einem viel-
jährigen höhern Gerichtsbeamten. St. Gallen. Altwegg-
Weber.* IV und 706 Seiten in 8°, Seite 633—050. Das
Erscheinungsjahr fehlt; das Datum des Vorworts ist
November 1866.
Während Zschokke und Hößli nur zusammen-
fassende Urteile geben, bringt der anonyme Verfasser
der Kriminal-Geschichten viel interessantes Detail, aber
gerade bezüglich der hier in Frage stehenden Materie
schweigt er sich aus und begründet seine Zurückhaltung
S. 644 mit den Worten: „Es ekelt uns nachgerade an, von
dieser »Freundschaft* mehr zu schreiben, leider aber hängt
sie mit der ganzen Geschichte unzertrennlich zusammen."
Ich würde nun ratlos dastehen und Hößli's Zusage
nicht einlösen können, wenn ich nicht durch das freund-
liche Entgegenkommen des Staatsarchivars des Kantons
Bern, des Herrn Dr. Heinrich Türler, in die dankens-
werte Lage versetzt worden wäre, die im Staatsarchiv in
Bern befindlichen schriftlichen Prozeßakten nebst
dem Tagebuche Desgouttes' auf das Eingehentiste
studieren zu können, derart, daß alles, was im Nach-
folgenden über Desgouttes mitgeteilt wird, einzig dem
genannten Akten-Material entnommen ist
I. Ein Mord und seine Folgen.
Am 29. Juli 1817 Morgens nach 9 Uhr erstattete
der Bärenwirt Gustav Wiedmer in Langenthal im Kan-
ton Bern dem Gerichtstatthalter daselbst die Anzeige,
der Schreiber des Rechtsagenten Dr. Franz Desgouttes,
Daniel Hemmeier von Aarau, liege tot in seinem
Bette und scheine ermordet zu sein. Der Gerichtstatt-
halter ließ die Anzeige an den Amtsstatthalter in Aar-
wangen weiter befördern und dessen Gegenwart erbitten.
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Dieser erschien mit dem Amisschreiber alsbald in Langen-
thal behufs Besichtigung von Oertlichkeit und Leiche.
Im Hause des Bärenwirts befand sich zu ebener Erde
gleich links von der Eingangstür die Schreibstube des
Kechtsagenten Dr. Desgouttes; ihre Besichtigung er-
gab nichts Absonderliches; eine Treppe hoch bildeten eine
Flucht von drei Vorderzimmern und diesen gegenüber zwei
Zimmer und die Küche die Privatwohnung des Dr. Des-
gouttes und hier wurde folgendes festgestellt : Im ersten
Zimmer stand links neben der Tür ein völlig in Un-
ordnung gebrachtes Bett, auf dem unter anderm ein blut-
bespritztes, ,F. D." gezeichnetes Hemd und ein Offiziers-
säbel mit eiserner Scheide lag, während am Fußboden
um das Bett herum viele unvollkommene blutige Fuß-
spuren sichtbar waren; eine halboffene Tür führte in
das Mittelziramer, dessen Boden zahlreiche blutige Fuß-
spuren von solcher Deutlichkeit aufwies, daß die fünf
Zehen unterschieden werden konnten, ein Beweis dafür,
daß unbekleidete Füße sie hervorgerufen haben mußten;
auf einem kleinen Tischchen lag ein großes ledernes
halboffenes Säckchen mit drei verschiedenen Behältern,
welche Bleikugeln, Patronen und ein kleines Ladestöckchen
zu einer Pistole enthielten; im letzten Zimmer endlich,
dem Schlafgemache des Schreibers Hemmeier, lag ein
junger Mann im Bette auf dem Rücken, kalt, bleich und
starr, den Kopf hoch auf dem Hauptkissen mit halb-
geschlossenen Augen und offenem Munde, die Arme dem
Leibe nach gekrümmt haltend, die Hände auf dem Unter-
leibe gefaltet und den linken Fuß aus dem Bette hervor-
streckend; eine wollene Decke reichte dem Jüngling bis
fast an den Hals, das eigentliche Deckbett bildete einen
Knäuel am Fußende des Bettes ; der mit dem Hemde be-
kleidete entseelte Körper zeigte wie das Bett überall
Blutspuren; dicht am Leibe zwischen dem Ellenbogen
und der Achsel des rechten Armes fand sich ein fast
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offenes blutbedecktes großes Sackmesser mit zwei frisch-
geschliffenen Schneiden; auch hier wies der Fußboden
ungezählte Spuren blutiger nackter Füße auf.
Der Tote war Daniel Herameier von Aarau, ein
junger Mann von 22 Jahren. Geboren am 2. März 1794
hatte er sich von früher Jugend auf durch Ordnungsliebe,
Lernbegierde und gute Aufführung ausgezeichnet und
wurde auf Verwendung seiner Tante Salome Anderes, der
Dienstmagd des Herrn Fürsprech Franz Jakob Desgouttes,
vom 1. November 1810 an in dessen Schreibstube beschäf-
tigt, um den Advokatendienst zu erlernen. Bei der voll-
ständigen Mittellosigkeit seiner mit sieben Kindern ge-
segneten Eltern war die Dauer seiner Lehrzeit auf fünf
Jahre festgesetzt worden; vom 1. November 1815 an
war alsdann Hemmeier in derselben Kanzlei als Gehülfe
tätig geblieben und nach dem am 6. Juli 1816 erfolgten
Ableben des alten Desgouttes zugleich mit der Kanzlei
von dessen Sohne Dr. Franz Desgouttes übernommen
worden. Hatte Hemmeier schon als Lehrling viel für
seinen leidenden Vater und seine kränkliche Mutter ge-
tan, so war er als Gehülfe die Stütze, der Trost und
die Freude seiner bis dahin in drückender Armut leben-
den Eltern geworden — ein stiller und strebsamer, wohl-
geratener und hoffnungsvoller Sohn.
Gleich nach dem Bekanntwerden der Auffindung
des Hemmeier als Leiche lief vom Markte zu Langenthal
aus, wo Wochenmarkt tagte, durch das ganze Amt mit
Blitzesschnelle das Gerücht von Mund zu Mund, daß
kein anderer, als der Dr. jur. Franz Desgouttes, der
des guten Jünglings Berater und Wohltäter hätte sein
sollen, der Urheber des grausigen Mordes wäre. Dieser
hatte am 29. Juli sein nur durch ein Zwischenzimmer
vom Schlafzimmer des Ermordeten getrenntes Schlaf-
gemach nicht vor 8 Uhr Morgens verlassen, war dann
mit einem Portefeuille unter'm Arm auf der Straße nach
.lahrbuch V. 36
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502
Aarwangen von verschiedenen Personen angetrofl'eu wor-
den, hatte sich im Dorfe Aarwangen autgehalten und
sich nach dem Dorfe Muhmenthal begeben wollen, wurde
jedoch auf dem Wege dahin mit Hülfe von zwei Bauern
durch einen Polizei Wächter, der ihm mit einer eisernen
Schnur die Hände fesselte, angehalten; er schien zer-
schlagen, müde und traurig und mußte starke Getränke
zu sich genommen haben; auch seufzte er viel, faßte sich
an die Stirn und klagte über Zahnschmerzen. Zu den
sich einfindenden Neugierigen sagte er : „Ihr lieben Leute,
ich will Kuch gewarnt haben, ergebt Euch nicht dem
Trünke* und „Im Rausche und im Zorn soll man nicht
sündigen11. So wurde er drei ihn suchenden Landjägern
übergeben, welche ihm anfangs Handschellen anlegten,
als sie aber gewahrten, daß er sehr schwach und Wider-
stand zu leisten unfähig war, vielmehr sagte, sie könnten
mit ihm machen, was sie wollten, ihm auch einen Schuß
geben, ihn wieder davon befreiten und gegen 1 Uhr
Mittags als Untersuchungsgefangeuen in das Schloß Aar-
wangen abführten. Im Wartezimmer daselbst gab er
dem Schloßknecht eine silberne Uhr mit dem Ersuchen,
sie zu verkaufen; der Erlös solle zur Erleichterung seiner
Gefangenschaft dieneu. Als der Knecht später hörte,
daß des Hemmeier Uhr vermißt werde und die in seinen
Händen befindliche die gesuchte sei, gab er sie zurück;
Desgouttes hatte sie nach dem Morde von der Wand
genommen und zu sich gesteckt; ebenso Taschentücher
des Ilemmeler; beides hatte er selbst dem Henimeler
geschenkt und dachte nun bei sich: Ich habe sie ihm ge-
schenkt und er braucht sie nicht mehr.
Schon am Tage nach dem Morde nahm der Amts-
statthalter im Beisein von drei Amtsrichtern und dem
Aktuar das Präliminar verhör mit dem des Mordes
Verdächtigen vor, in welchem dieser die Tat unumwun-
den eingestand; zu seiner Tat, die Vorsatz und Absicht
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gewesen sei, habe er sich den nötigen Mut durch starke
Getränke getrunken; seine Tat sei eine prämeditierte
Handlung; in einem an Wahnsinn grenzenden Zustande
habe er den Hemmeier so zugerichtet, daß er hätte ver-
bluten müssen; hätte er nur ein wenig Besinnung ge-
habt, so würde er Aerzte oder anderweite Hülfe herbei-
geholt haben; in seinem Zustande über sei das ausge-
schlossen gewesen. Im zweiten Verhöre am 5. August
führte der Geständige aus, wie ihn die Absicht des
Mordes gepackt habe; auch Handlungen im betäubten
Zustande, in welchem alles zu tun möglich sei, seien
mehr oder weniger mit Absicht verbunden. Nebenher
legte er das Geständnis ab, mit seinem Lehrling Hans
Ulrich Leib und Gut „ Unzucht- getrieben zu haben.
Bereits am 2. August hatte die Kriminal-Kommission
zu Bern wegen Behinderung des Oberamtmanus in Aar-
wangen durch Krankheit die Transportierung des Des-
gouttes nach Bern und Uebertragung der Untersuchung
au das Verhörrichteramt in Bern vom Präsidenten des
Justizrats der Stadt und Republik Bern erbeten und
der Auftrag dazu war am 4. August erfolgt. So wurde
der geständige Mörder am 5. August nach Bern ge-
schafft und ihm die Zelle 12 der „oberen Gefangenschaft"
angewiesen; nach Aussage des Gefangenen in der Nach-
barzelle 11 ging Desgouttes bis über Mitternacht vom
7. auf den 8. August in seiner Zelle umher, klopfte an
Tür und Wände, warf sein Lager hin und her und
schrie immer: „Hemmeier, ich hab's nicht gern getan!
Ihr Herren, laßt mich doch heraus! Mau bringe mir
doch Schnupftabak!" Mit dem gefangenen Nachbarn hat
er endlich durch die Wand gesprochen und gesagt, wie
er heiße und warum er gefangen sitze; hernach ward er
wieder ruhig und still wie bei Tage und verlangte nur
immer nach Schnupftabak. Seitens des Berner Verhör-
richteramtes wurden durch den Verhörrichter v. Wat-
3«*
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tenwyl vom 9. bis zum 19. Augut noch sieben Ver-
höre mit Desgouttes vorgenommen, in denen dieser viele
seiner Antworten dem Schreiber in die Feder diktierte; er
verblieb bei dem Bekenntnisse seiner Ta', erklärte, sie
sei mit Vorbedacht begangen und er hatte, obwohl er
betrunken gewesen sei, Beson:.?nheit genug bewahrt, um
vor und bei der Ausführung des Mordes genau zu
wissen, daß er dem Hemmelcr das Leben nehme ; er
machte nur die eine Einscln Unkung, der Mord sei un-
streitig mehr seiner unglücklichen Imagination beizu-
messen als seinem Verstände. Um sein Gewissen zu
entlasten, bekannte er, mit dem Hemmeier Jahre hin-
durch „unzüchtigen Umgang" gehabt und auch mit an-
deren männlichen Personen , Unzuchthandlungen* verübt
zu haben. Außerdem gestand er zahlreiche auf anderen
Gebieten liegende Straftaten und Verbrechen ein:
Diebstahl au Geld und sonstigem Gut, zweimalige De-
sertion vom Militär und eine ungerechtfertigte Quartier-
bestellung, mehrmalige Fälschung seines Namens, Ur-
kundenfälschung, Betrug und Uebervorteilung in seiner
juridischen Amtstätigkeit, Mißbrauch von Canthariden
bei seinen nächsten Angehörigen, bei den Dienstmädchen
seiner Eltern und beim Hemmeler, Mordversuche, end-
lich Raub- und Mordpläne, die er nur deshalb nicht
ausgeführt habe, weil es ihm an dem dazu nötigen Mute
gefehlt hätte. Noch nach Abschluß der Vernehmungen
schrieb er an den Verhörrichter eigenhändig sechs frei-
willige ausführliehe Bekenntnisse zwischen dem 27.
August und 22. September nieder; in diesen fügte er den
früheren immer wieder neue Geständnisse hinzu; durch
seine Geständnisse hat er sich allmählich in eine solche
Scham, in einen so tiefen Abscheu vor sich selbst hineingelebt,
'daß er in all' seinem Tun und Lassen nur noch Aus-
fluß seiner Eigenliebe, Unzucht, Völlerei, Verschwen-
dung, Genußsucht und Bosheit zu erkennen vermag und
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in Absicht und Tat für das verworfenste Scheusal der
Erde, für das größte Ungeheuer, das die Erde getragen,
angesehen seiu will. Tief hat ihn die Leichenrede auf
Hemmeier gerührt; der bloße Anblick seines Opfers
senkt ihn in des Jammers Tiefen. Er erklärt, auf einen
Verteidiger zu verzichten und seiner eigenen „Ver-
teidigung* eine schriftliche „demütige Supplikation"
an seine Richter vorzuziehen. Er hält sich des Todes für
schuldig und wünscht den Tod auf dem gesetzlichen Wege.
Am 20. August legte der Verhörrichter die Unter-
suchungsakten Desgouttes der Kriminal-Kommission des
Obersten Appellations-Gerichts der Stadt und Republik
Bern vor und am 23. August konnte der Präsident der
Kriminal-Kommission zu Bern an das Oberamt Aarwangen
berichten, daß die Prozeß Verhandlung zu Ende, die
wichtigsten Zeugen vernommen und die nötigen Infor-
mationen eingeholt seien; er übermittelte die Akten dem
Amtsgericht Aarwangen als erstinstanzlichem peinlichen
Richter zur Beurteilung, wobei er der Meinung Ausdruck
gab, die Eingeständnisse des Delinquenten eigneten sich
so wenig zur Bekanntmachung wie zu einer längeren
Behandlung. Das Oberamt zu Aarwangen, bestehend aus
drei Amtsrichtern und zwei Suppleanten unter dem Vor-
sitze des Amtsstatthalters, erkannte am 2. September
einmütig auf schuldig des Meuchelmordes und der Ver-
urteilung zur Hinrichtung durch das Schwert. Woraufhin
das Oberste Appellationsgericht zu Bern revisionsweise zu
Recht sprach und am 27. September erkannte : Der Delin-
quent solle, nachdem er in Sachen seines Heils unter-
richtet sein würde, auf der Richtstätte vom Leben zum
Tod hingerichtet, zuerst erwürgt und dann gerädert, sein
Leichnam hernach auf das Rad geflochten, erst am Abend
davon abgenommen und zuletzt an dem verschmäheten
Orte verscharrt werden. Aus seinem allfälligen Ver-
mögens-Nachlaß sollen sowohl Schaden-Ersatz als auch
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die Kosten der Prozedur, Gefangenschaft und Hinrichtung
bestritten werden.
Diese Exekution wurde au dem Verurteilten zu
Aarwangen am 30. September vollzogen; der Delinquent
zeigte bis zum Lebensende eine außerordentliche Geistes-
gegenwart und Standhaftigkeit und ging seinem Tode
mit Reue und Ruhe entgegen.
Die letzte Stunde des Mörders behandelt eine kleine
Druckschrift, deren wortgetreuer Abdruck hier folgt:
Rührende Standrede des hingerichteten
Johann Franz Nikiaus Desgouttes von Bern,
ehemaligen Doktors der Rechte in Langen-
thal, mit Christlicher Unerschrockenheit vor-
getragen auf dem Hinrichtungsplatze zu Aar-
wangen den 30. Herbstmonat 1817. — (Sein Vortrag
war feurig und schnell.) — Bern, gedruckt bey Ulr. Niki.
Schönauer, No. 218 am Stalden. ')
Zahlreich versammelte Zuschauer meiner wohlver-
dienten Todesstrafe, die Mehrern ohne Zweifel auch
Zeugen meines ungläubigen sünden vollen Lebens!
Höret! ach höret nun die letzten Worte eines reuig
sterbenden Uebelthäters ! Ja! ich bin es der Allerheiligsten
Ehre meines tief beleidigten himmlischen Vaters und
Heilandes, ich bin es Seiner mit Füßen getretenen
göttlich wahren Religion schuldig, ich bin es allen durch
mich Geärgerten, im Glauben Irregemachten und Ver-
führten und auch dem Heil meiner eigenen armen Seele
schuldig, noch vor meinem Ende ein lautes öffentliches
Bekenntniß vor Euch abzulegen und Euch zu sagen,
wohin die verbleuderische Zaubergewalt der von mir so
vergötterten sogenannten Welt- Weisheit, die vor Gott
wahre Thorheit ist, mich in meinem Leben gebracht und
durch was für erbarm ungs volle Führungen und ehemals
*) 4 Seiten ohne Paginierung in Quart, mit Trauerrand.
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von mir verachtete Kräfte raein ganz verarmter Geist
aus dem tiefen Abgruude, worinnen ich mit Leib und
Seele ewig verloren gewesen wäre, zu dem gegenwärtigen
glückseligen Zustand wieder erhoben worden sey.
Glaubt mir, theure Freunde! daß, wenn an irgend
einen Menschen alle Aufopferungen, Mühe und Unterricht
zur höchstmöglichen Bildung seines Verstandes verwendet
worden, welche heutzutage meist für hinreichend gehalten
wird, um den Menschen wahrhaft gut und glückselig
machen zu können, so ist es gewiß an mir geschehen. Auch
habe ich bey der Welt aller daraus fließenden schönen
Vorzüge genossem —
Aber ach! was ist bey aller hohen Erziehung des
Verstandes eine von angeborner Ehrsucht, Hochmuth,
Fleischeslust und Liebe zur Eitelkeit irregeführte und
überdieß noch von Unglaubens- und Romanbücher-Gift
verfinsterte menschliche Vernunft, die sich selbst über-
lassen und vom allmächtig verbessernden Lichte des
Geistes und Wortes Gottes leer bleibet? Ein unge-
staltes Ungeheuer, ein gefährliches Irrlicht, eine Seelen-
mörderin und höchste Feindin zeitlichen und ewigen
wahren Glücks! — bey welchem allem sie doch auf
eingebildete Weisheit und Kräfte so stolz ist.
Ja! vor den Ohren meines Obersten Richters, vor
dem keine Heucheley mehr möglich ist, bekenne ich
hier mit bald sterbendem Munde, aus aller Kraft meines
Herzens: ,Einzig und allein diese thörichte Vernunft
und die Verführerin so vieler Tausenden, die falsche
Weltweisheit war es, welche zuerst zum verborgenen
Fall den Grund legte, dann von einem Laster zum
andern mich verstrickte, mein Herz zu einer unreinen
Wohnung aller bösen Anschläge machte und mich, da
ich nach völliger Sünden-Freyheit und Ruhe vor dem
Nagen meines Gewissens dürstete, auch noch in die
schrecklichsten Finsternisse der Verachtung und Verspott-
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ung alles Glaubens an einen Gott und Heiland, an
Unsterblichkeit und ewige Vergeltung hineinsenkte,
worinnen ich dann der vollkommensten Herrschaft aller
wilden Geister und Leidenschaften und endlich auch dem
Mord-Geiste so preisgegeben war, daß ich keine Ruhe
mehr hatte, bis ich hier anlangen mußte/
Aber wer hat mich dagegen aus diesem Elend heraus-
gezogen? O, wer anders als alleine die göttliche
Barmherzigkeit, die auch mir, ihrem Verächter,
immer noch mitleidsvoll nachgieng! Ja, durch sie allein
bin ich in die heilsame Stille der Gefängnisse geführt,
über meinen schrecklichen Seelenzustaöd erleuchtet und
zum Nachdenken gebracht, durch sie allein* bin ich vor
völliger Verzweiflung bewahret und endlich als ein tief
gedemüthigter armer Sünder mit allen meinen unnenn-
baren Sündengräueln, zu meiner allertiefsten Beschämung,
zu unbegreiflicher Gnade wieder angenommen worden ;
wofür ich sie ewig nie würdig genug werde preisen
können.
Und nun bekenne ich aus innigst dankbarem
Herzen ebenfalls öffentlich: Daß allein Jesus Christus,
der wahre Gott- Mensch, mein Heiland und Retter
geworden sey; daß Er auch für mich hier gelebt, Sein
unschuldiges Blut vergossen und den Kreuzestod zur
Versöhnung für meine Sünden ausgestanden habe, daß
Er alleine mich ewig fluchwürdigen Süuder aus dem
Sumpfe von Elend, worin jene verkehrte Weltweisheit
mich bereits versenkt hatte, errettet; ja daß ich auch
nur durch Seine Kraft alleine (indem ich aus mir selber
nichts bin noch vermag) bis auf diesen Augenblick noch
von der Furcht des Todes frey und ruhig geblieben und
nun vertraue, daß Er mich auch zur letzten Arbeit bev
der Zerstörung meines schwachen Fleisches allmächtig
stärken und in Sein herrliches Reich hinüber führen
werde!
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O Ihr alle, lieben Freunde! höret doch diese Stimmen
eines sterbenden Sünders an Eure Herzen ! Glaubet doch
an Euere Gott und Heiland! Haltet Euch ganz und
ewig an Ihn! Ohne Ihn seid Ihr fast ohne Rettung
verloren, Ihr möget thun, was Ihr wollet! Der Herr er-
barme sich über Euch alle! Betet nun für mich, daß Er
sich auch über mich erbarme! —
Und nun will ich eilen! [Hier erhob er mit in die
Höhe gerichteten, gefalteten Händen einen unaussprech-
lichen Blick in den heitern Himmel] Denn meine Seele
sehnet sich nach dem Himmlischen Vater und
seinem liebenswürdigsten Sohne Jesu Christo,
vor welchem ich nun bald erscheinen zu können mich
freue! Ihm übergebe ich zum letztenmale meinen Leib
und meine Seele zum ewigen Eigenthum! Amen.
(Hierauf entkleidete er sich selbst mit aller Ruhe
und legte sich sanft auf das Todeswerkzeug nieder, bis
er mit ernstem Blicke, aber standhaft ruhig bis an's
Ende, die Augen schloß.)
II. Franz Desgouttes' Leben und Charakteranlagen.
0
Das zu Bern 1785 ehelich geborene Kind des Proku-
rators Franz Jakob Desgouttes und seiner Ehefrau Jo-
hanna Margaretha geb. Holzer erhielt am 8. März bei
seiner im großen Münster zu Bern nach katholischem
Ritus erfolgten Taufe die Namen Johann Franz Nikiaus.
Franz hatte drei Geschwister: einen Bruder Emanuel und
zwei Schwestern, die späteren Ehefrauen Steinhäusli und
Debary. Sein Großvater väterlicher Seits hatte nach
Angabe des Pfarrers Friedrich Rütimeyer nicht wenig
Ueberspanntes in seinem ganzen Wesen gehabt und sein
Großonkel war ein „blödsinniger Verrückter.* Franz
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blieb nur bis in sein 7. Jahr im Vaterhause zu Langen-
thal unter der Aufsicht seiner Mutter und wurde als-
dann in verschiedene Pensionsanstalten gegeben. Erst
den 14 Jahre alten und ziemlich verwahrlosten Knaben
nahm der Vater wieder auf und übergab ihn dem Reli-
gionsunterrichte eines Pfarrers, bei welchem sich der junge
Mensch mit großem Eifer zum hl. Abendmahle vor-
bereitete; nicht leicht habe, gesteht er selbst, jemand
diese Handlung so feierlich begangen und sein Leben sei
dazumal fleckenlos und untadelhaft gewesen. Bis Juli
1800 blieb er im Vaterhause mit den Vorbereitungen zu
einem Lebensberufc bes. durch Kopieren von Rechtsschriften
beschäftigt und kam, nachdem er in Lützel flüh beim
Pfarrer Moser sich schöne Kenutnisse in Philosophie und
Sprachen angeeignet hatte, 1802 nach Lausanne, wo er
leichtsinnig Schulden machte, in seiner Not einen Ge-
nossen bestahl, ertappt entfloh, aber nach erfolgter Fest-
nahme nach Langenthal geschafft wurde. Der ratlose
Vater gab den ungeratenen Sohn 1803 einer Frau de
Feiice zu Yverdon in Kost, nahm ihn aber 1804 wieder
zu sich, da der junge Mensch nichts lernte, allerhand
Unfug trieb und „nur eine Tugend, die der Mäßigkeit im
Trinken, zeigte," woher er den Namen boi l'eau (Wasser-
trinker) erhielt. Im Herbst 1804 bezog er die Univer-
sität Tübingen* welche er 1806 mit dem Diplom eines
Doctor juris wieder verließ. Im Elternhause wurde er nun
vom Vater, der viele Schulden für ihn zu bezahlen
hatte, streng gehalten, was ihn mißmutig machte und
ihn nicht nur zu tollen Streichen trieb, sondern auch zum
unmäßigen Trinken, dem er sich in Tübingen schon er-
geben hatte, veranlaßte, um seinen Unmut zu betäuben;
er trat in ein sinnliches Verhältnis zur Dienstmagd seines
Schwagers und zog mit ihr Monate hindurch im Lande
umher, bis er 1807 bei einem Einbruchsversuche fest-
genommen und zu seinem Oheim nach Bern geschafft
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wurde; als er auch hier sich schlecht führte, ward er ge-
zwungen, im 3. Schweizer Regiment zu Beifort franzö-
sische Dienste zu nehmen ; nach zweimaliger Desertion,
einem tollen Leben und einer Gefangenschaft von 135
Tagen wurde er im Mai 1809 nach Hause entlassen, ob-
wohl er erst 1812 seinen eigentlichen Militärabschied
erhielt. Im Elternhause geriet er 1813 in schwere Ver-
schuldung, die ihn außerordentlich drückte; ein Lotterie-
gewinn im Jahre 1814 deckte zwar einen Teil derselben,
machte jedoch den glücklichen Gewinner um so kühner
im Einsetzen. Alles in allem war dieser Zeitraum der
glücklichste in seinem unruhigen Leben, indem Franz ganze
7 bis 8 Monate hindurch des Genusses geistiger Getränke
sich enthielt. Aber nach einem Mägdewechsel im Eltern-
hause ergab er sich sinnlichen Ausschweifungen mit der neu
eingetretenen Dienstmagd; diese erklärte, um ihn auszu-
nutzen, sich als von ihm geschwängert und da er nun
beträchtliche Summen bezahlen mußte, verlor er bis in
den Herbst 1815 alle Besinnung, machte zu seiner Zer-
streuung kostspielige und unsinnige Reisen und ergab
sich dem Trünke, so daß ihn bald wieder eine große
Schuldenlast drückte. Eine Prokuratorstelle, auf welche
er rechnete, erhielt er nicht, ein Unglück, welches seinem
starblinden Vater den physischen, ihm den moralischen
Todesstoß versetzte. Sein Verkehr mit Hemmeier be-
darf einer gesonderten Behandlung.
Frauz Desgouttes war ein Mann von schlankem,
hohem Wüchse mit kastanienbraunem Haar und eben-
solchen Augenbrauen, grauen Augen, mittelgroßem Munde
und langer Habichtsnase. Er war Gemütsmensch und
nichts weniger als kalter Verstandesmensch. Seine Seele
war voller Einbildungskraft und seine Phantasie von
außerordentlicher Lebhaftigkeit; nachdem er ein medi-
zinisches Buch studiert, glaubte er alle Krankheiten zu
besitzen, von denen er gelesen hatte; die Schilderungen ge-
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schichtlicher und dichterischer Werke vergegenwärtigte er
sich mit solcher Unmittelbarkeit, daß er bei ihrer Wiedergabe,
mit der er einsame Stunden ausfüllte, in starke Er-
regung geriet und dann bisweilen ganz unkenntlich
wurde; besonderes Wohlgefallen fand er am Ueber-
triebenen; die Musik besaß eine große Macht über sein
Gemüt; obwohl ein Verächter des „Pfaffenwesens* und
der Klosterbrüder zeigte er sich besonders als werdender
Jüngling und als Delinquent von tiefgehender Religiosität.
Bei solch' eigenartiger Veranlagung fanden sich in seinem
Wesen die widersprechendsten Charaktereigenschaften
nebeneinander; bald war er lange Zeit völlig nüchtern,
bald ergab er sich dem Trünke bis zur Besinnungs-
losigkeit; in der Trunkenheit faßte er Entschlüsse zu
Diebstahl, Einbruch und Mord, vor deren Ausführung er
nach erfolgter Ernüchterung mutlos zurückbebte: „Alle
Ausführungen unterblieben, nicht aus Tugeud, sondern
aus Mangel an Mutb"; ja die Furcht vor Gespenstern
und Mördern in seiner Knabenzeit ward er auch später
nicht ganz los; einmal voll Offenheit, Lebensart und Witz,
ja selbst kindischen Scherzen nicht abgeneigt, war er das
anderemal launisch, verdrießlich und abstoßend ; bisweilen
von einem solchen Jähzorn besessen, daß er alles zer-
schlug, was ihm erreichbar wurde, schämte er sich im
nächsten Augenblicke seiner selbst und verfiel dann in
eine an Schwäche grenzende Gutmütigkeit; er brachte
es fertig, zu stehlen, wo es etwas zu nehmen gab, und zeigte
doch überall eine auffallende Geringschätzung des Geldes,
indem er mit demselben mitleidsvoll Bedürftige beschenkte;
fleißig und belesen, schlug seine anhaltende Arbeitskraft
urplötzlich in Unfähigkeit und Widerwillen um ; dann
raste er fort, durchjagte Flur und Wald und nahte nur
nachts den Dörfern; ohne jede Spur von Eltern- und
Geschwisterliebe erwies er sich fremden einfachen Leuten
als einen „ herrlichen Ratgeber-. Den Verdacht der
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Blutgier wollte er nicht auf sich sitzen lassen: Wenn er mit
Pistolen knallte, so sei es nicht geschehen, um Vögel und
andere Tiere zu töten, sondern lediglich, um ein Echo
hervorzubringen, an dem er seit seinem 13. Jahre ein
lebhaftes Wohlgefallen gehabt; einem jungen Fuchs, den
er eine Zeitlang gehalten und sehr geliebt hatte, habe er
in plötzlicher Eingebung den Kopf vom Rumpfe getrennt,
weil der Unhold ihn und andere gebissen habe. Sein
Geschlechtstrieb erwachte bereits in seinem 14. Jahre und
sofort gebieterisch; zeitlebens war er von gänzlich unge-
bändigter und unbefriedigter Sinnenlust ; wenn schon das
Lesen von Wieland's „Agathon" ihn zu sinnlichen Aus-
schweifungen verleitete, wie müssen erst Beispiele, die er
erlebte, auf ihn eingewirkt haben!
III. Franz Desgouttes' Liebesleben.
Für die Kenntnis des Liebeslebens Franz Desgouttes'
liefert neben den Prozeßakten sein Tagebuch ein bedeut-
sames Quellenmaterial. Wie aber einerseits die Prozeß-
akten Angaben Desgouttes* über seine Pläne und Absichten
enthalten, welche von ihm selbst als zweifelhaft hinge-
stellt werden oder einander zu widersprechen scheinen,
auch den Eindruck erwecken, als ob sie durch au ihn
gerichtete Fragen beeinflußt oder unter dem Drucke
seines Abscheus vor seiner eigenen übertriebenen Schlechtig-
keit ihm in die Feder geflossen seien, so erstreckt anderer-
seits das Tagebuch sich nur über den Zeitraum eines
einzigen, des letzten Jahres seines Lebens. Scheint so
viel gewiß zu sein, daß Desgouttes sich nicht allein in
maßloser Weise der einsamen Onanie ergab, sondern auch
seinen Mitmenschen gegenüber von fast schrankenloser
Sinnlichkeit war, indem ihn das Verlangen trieb, alle
hübschen Mädchen zu verführen und mit allen hübschen
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Knaben und Jünglingen sich zu vereinigen1), so ist nicht
minder gewiß, daß er einzig den Hemmeier mit Leib und
Seele geliebt hat, den Hemmeier, der das Glück und das
Unglück seines Lebens war.
Desgouttes* Geschlechtstrieb war bereits erwacht, als
der Knabe in der zweiten Hälfte des Jahres 1800, 15
Jahre alt, beim Pfarrer Moser iu Lützelflüh als einziger
Schüler und Tischgenosse lebte; er war hier „leider zu
oft einsam" und diese Einsamkeit entwickelte immer
mehr die „unglücklichen" Anlagen seiner lebhaften Ein-
bildungskraft; er hatte bereits „Visionen" aller Art, die
„ verzerrtesten Bilder der Imagination* umlagerten ihn
unaufhörlich; das war auch der Grund, warum er in
dieser Zeit öfters „Unzuchtsüuden" trieb, die seine Nerven
schwächten und ihn noch reizbarer machten. Ueberhaupt
fing nach erwachter Phantasie seine Unzucht mit Onanie
an, besonders geweckt durch die Lektüre von Wieland's
„ Agathon „Dieses schreckliche Laster* verließ ihn nie
und er hat es „in einem unglaublichen Maße* getrieben;
zum letzten Male geschah das am 28. Juli 1817 Morgens
nach einem Attentat auf Hernmeier, nur einen Tag vor
der Ermordung dessen, den er von allen Menschen am
meisten und innigsten liebte. Die Onanie und die Trunk-
sucht redete er sich selbst als „Produkte" seiner Phantasie
und als die Grundlagen aller seiner Verbrechen ein. In
l) Ob es richtig wäre, den Desgouttes wegen dieser Vielseitig-
keit (mit dem Verfasser der Schriften „§ 143 des Preußischen Straf-
gesetzbuchs" und „Das Gemeinschädliche des § 143 des Preußischen
Strafgesetzbuchs vom 14. April 1851", Leipzig, Serbe 1869) als
Mono-, Homo- und Normal-Sex ualisten zu rubrizieren, ist eine
andere Frage. Gibt es doch Kenner des Sexuallebens, welche das
Vorkommen von Bisexualität entschieden in Abrede stellen; ein
Physiognom des Urningtums schrieb mir in Bezug auf Goethe
. . . „in modo ejacutationis, ja, da kenne ich Menschen, denen ist
es gleich, ob sie rechts oder links gehen; in modo araoris, nein,
ganz entschieden nein, da kenne ich niemanden".
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eiuem seiner freiwilligen schriftlichen Bekenntnisse an
den Verhörrichter von Bern sagt er: »Ich bitte den
Hohen Richter um Gotteswillen, ich beschwöre Hochden-
selben um des höchsten letzten Gerichts willen, alle Haus-
und Familienväter furchtbar und ernstlich zu warnen,
auf ihre Kinder ein unendlich wachsames Auge zu haben,
denn diese Seuche herrscht allgemeiner, als Jemand
glaubt — In meinem Pulte in der mittlem Stube liegt
ein von Hamburg gekommenes Mittel, weiches dazu dient,
den geschwächten Körper herzustellen; aber man
sollte darüber einen nicht selbstsüchtigen Arzt fragen,
ehe man es bekannt macht. Doch wenn nur die Jugend
streng beobachtet wird, so bedarf man solcher Mittel
nicht. — Solche schreckliche unnatürliche Verbrechen
entquillen aus der Ouanie, wie ich begangen habe.
Möchte ich der letzte Onanit gewesen sein!"
Von fast unbegrenzter Eindrucksfähigkeit gegenüber
seiner Gattung fand seine Phantasie in Finsternis und Ein-
samkeit Erlösung allein in der Onanie; im Bette wirkte
die Imagination so ausgedehnt, daß sie ihm Bilder bestimmter
männlicher oder weiblicher Personen vorspiegelte, ihm
Gemälde von Wollust vorzauberte und Begierde nach
Genuß in ihm erweckte, welche nach seinen Eingeständ-
nissen hin und wieder nicht an der Sinnenlust der Liebe Ge-
nüge fand, sondern mit Mordgedanken in Verbindung trat;
nach erfolgter Erlösung durch Onanie unterblieb alsdann
die Ausführung sowohl des Mordplanes als des erträumten
Sinnengenusses; in diesen Zuständen kommt bei Des-
gouttes das Pathologische unverkennbar zum Durchbruch.
Die dominierende Triebrichtung in Desgouttes' Ge-
schlechtsleben vom Erwachen der Phantasie und der ersten
Regungen an bis zur Mordkatastrophe war und blieb die
auf jugendliche männliche Personen; hier fühlte sich seine
Geschlechtsnatur in ihrem wahren, eigentlichen Elemente
und wurde von einer Person auf Jahre hinaus gefesselt.
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In Zofingen schlief der junge Desgouttes 1799, 14
Jahre alt, gewöhnlich bei dem siebenjährigen Sohne des
Schulmeisters Sutermeister ; schon hier begann er Wollust-
trieb zu fühlen und „vereinigte- sich mit dem Knaben;
„ allein aus Mangel an Kraft erfolgte nichts." In Lützel-
flüh hat er 1801 „einen kleinen Knaben mißbraucht";
derselbe, gibt er an, sei «längst, aber nicht dadurch,
verstorben.* 1802 trieb Desgouttes in Lausanne mit
seinem Schlafkameraden Jakob Mettler „ öfters Unzucht" ;
wie zu seiner Entschuldigung fügt er bei: „Dieselbe hatte
aber keine Folgen für ihn". In seiner Soldatenzeit er-
lebte Franz mannigfache Szenen von Ausgelassenheit der
Soldaten mit dem anderen Geschlecht; doch scheinen
solche ihn nicht sonderlich angefochten, seine Sinne zur
Nachahmuug gar nicht gereizt zu haben. Dahingegen er-
innerte er sich lebhaft, wie zu Lille im Bette neben ihm
„ein Freiburgischer Bedienter mit einem jungen Trommel-
schläger beinahe alle Nächte sein Wesen trieb", was
seine Phantasie dazumal (1808) außerordentlich in Be-
wegung setzte. Er selbst schlief zu Beifort gegen
Ende seines Dortseins (1809) mit einem jungen Re-
kruten in einem Bette, „woselbst leider das Laster
der Unzucht öfter getrieben ward, und zwar von beiden
Seiten." Im Januar 1811 befand sich beim Amtsweibel
Johann Dennler in Langenthal ein Pensionär von 16
Jahren, Louis Vuillemier; schon bei seiner ersten Bekannt-
schaft mit diesem Jünglinge, der vom Zeugen Dennler
als „ganz verdorben" gekennzeichnet wird, faßte Des-
gouttes den Entschluß, ihn sich anhänglich und dann
willfährig zu machen. Er entführte ihn in der Nacht
vom Donnerstag auf den Freitag und trieb während der
Flucht im Bette mit ihm „Unzucht", wurde aber schon
am Samstag mit dem jungen Menschen vom Knecht
seines Vaters wieder eingeholt und kehrte willig zum
Vater zurück ; er hatte geplant, auf einen von ihm selbst
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gefälschten Paß als Karl Meyer mit dem Vuillemier
als seinem Bedienten Ludwig Ernst nach Zug zu seiner
Schwester und von da nach Deutschland zu wandern.
Kaum zu Hause wieder eingebracht, beschloß er einen
zweiten Entführungsversuch des Vuillemier; er wollte in
das Haus des Amtsweibels dringen, durch des Kostherrn
Stube schleichen, bei Widerstand Gewalt gebrauchen, den
Vuillemier zur „Unzucht" und Flucht bewegen und im
Falle seines Widerstrebens oder selbst nach erreichtem
Genüsse den jungen Menschen umbringen; zunächst
aber berief er den Vuillemier in seine Wohnung und
redete auf ihn zu einem nochmaligen Fluchtversuche ein;
als aber der Gegenstand seiner Wollust ihm trotzig be-
gegnete und nicht einwilligen wollte, so kam ihm in der
Angetrunkenheit der teuflische Gedanke, schon jetzt den
Widerstrebenden zu töten und in den Abort zu werfen;
nur die Stimme eines Freundes des Vuillemier, der diesen
auch mit Desgouttes zusammengebracht hatte und vor
dem Desgouttes sich scheute, hielt letzteren von der Aus-
führung seines Vorhabens ab. Auch den eigenen Sohn
des Amtsweibels Dennler, ein Bürschcheu von 1 1 Jahren,
schonte er nicht; ihn hat er um eben diese Zeit ,ein
paar mal in sein Zimmer gelockt und mit ihm, jedoch
nicht nackt, dieses Laster ausgeübt." Er fügt hinzu, der
Knabe habe nichts davon gewußt und befände sich jetzt im
Wraadtland. Späterhin hatte er noch geschlechtlichen
Umgang mit einem Jakob Kummer, mit einem Nach-
barssohne Johannes Madliger und mit dem zur Zeit des
Mordes an Hemmeler 22 Jahre alten Analphabeten
Jakob Herzig.
In allen diesen und überhaupt allen Fällen der Aus-
übung seines Geschlechtstriebes an männlichen Personen
bekennt sich Desgouttes als den „Selbstverführer* und
gesteht: „Die Phantasie half mir leider nur allzu ge-
treulich nach."
Jahrbuch V. 37
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Da trat 1810 Daniel Hemnieler, IG Jahre alt,
als Kopist in den Dienst des alten Desgouttes, in dessen
Hause er wie ein Familienmitglied gehalten wurde. Der
junge Desgouttes, oberflächlicher Geselligkeit abhold
und doch durch seine starke Liebesnatur genötigt, eng-
sten Anschluß zu suchen, wo er irgend ihn finden konnte,
gewann den um zehn Jahre jüngeren ordentlichen und
fleißigen, guten und tugendhaften Hausgenossen lieb und
immer lieber und bemühte sich, das Vertrauen und die
Zuneigung desselben für sich zu erobern. Außer den
Arbeitsstunden verlebte er die meiste Zeit mit dem
Hemmeler; da er von seinen akademischen Freunden
nur selten jemand bei sich sah und doch gelehrte Ge-
spräche liebte, so war es seine größte und reinste
Freude, seineu jungen Freund, die griechischen Philo-
sophen nachahmend, spazierend zu unterrichten. Er
machte ihm oft kleinere und größere Geschenke an
Büchern, Waffen und dergleichen; auch sorgte er teil-
nehmend für dessen körperliches Wohlergehen; er ba-
dete mit ihm in einer Badeanstalt und teilte mit ihm
die Genüsse des Weines und der Tafel. Er scheint es
zuwege gebracht zu haben, daß der junge Mensch
Reiz an seinem Umgang fand und ihm gern und allein
angehörte. So wuchs durch die Gewohnheit und durch
die Möglichkeit, den Freund immer zu haben, wenn er
seiner bedurfte, Desgouttes' Zuneigung zum Hemmeler
zu einer leidenschaftlichen Neigung heran und der
Jüngling flößte durch sein unschuldvolles Wresen dein
älteren Manne überdies eine unwillkürliche hohe Achtung
ein, so daß Aussicht war, der leidenschaftliche Mann habe
an dem ruhigen, besonneneu Jünglinge den ihm so
nötigen Halt für sein Leben gefunden.
Im Jahre 1812 begann Desgouttes mit dem Hem-
meler in geschlechtlichen Verkehr zu treten, während
bei dem Jüngling der Geschlechtstrieb erst 1814 ' er-
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wachte; alsobald gab Desgouttes dem Unschuldigen
wollüstige Bücher zu lesen, um dessen Begierde nach
geschlechtlichen Genüssen in seinem eigensten Interesse
anzufachen. Denn seine Liebe zum Hemmeier war doppel-
ter Art, war „edler* und „phantastischer", aber auch
„niedriger" und „grobsinnlicher* Natur. Aber diese bei-
den Seiten seines Wesens flößen Hemmeier gegenüber
völlig in einander. So oft er bei dem Geliebten schlief,
gewann er es nicht über sich, den Jüngling in Ruhe zu
lassen; wenn er dann bei diesem ein Entgegenkommen
für sein Triebleben nicht fand und auch mit Gewalt und
List nichts zu erreichen vermochte, so tat er, als ob er
eigentlich immerdar „dieses Laster" verabscheue und
seine Ausübung jedesmal besonders bereue; er unterlieft
dann oft Monate lang, den geliebten Jüngling mit seinen
Zudringlichkeiten zu belästigen, und fing nur wiederum
an, wenn er angetrunken war; gelegentlich tat er dem
Widerstrebenden den feierlichen Schwur, alles Geschlecht-
liche ganz und gar zu unterlassen, insofern der Geliebte
seine ganze Freundschaft ihm ungeteilt schenken und
dafür ihm auch Sicherheit gewähren wolle. Aber der
.bessere Mensch* in ihm vermochte nur so lange sieh
zu behaupten, bis Hemmeier eine Probe seines Undanks
für Desgouttes' Sorge und Aufwendungen dadurch ab-
legte, daß er gleichsam zum Trotze den Liebhaber hint-
ansetzte, was er dann freilich schon im nächsten Augen-
blicke, seiner gutmütigen Xaturanlage entsprechend,
wieder zu bereuen schien; aber auch dann noch fügte
sich Hemmeler dem leidenschaftliehen Liebhaber immer
nur mit Widerwillen. Diese Art der Führung eines
halb zurückgewiesenen Liebeslebens kränkte den Lie-
benden tief und er machte darüber dem Geliebten die
bittersten Vorwürfe; nahm er doch wahr, daß durch
ihren gemeinsamen Geschlechtsverkehr weder das physi-
sche Wesen, noch die moralische Natur des. innigst Ge-
37*
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liebten Schaden litt. Im höchsten Grade unglücklich,
fiel Desgouttes wiederum der Onanie anheim und fühlte
sich bald geschwächt; dann schämte er sich gegenüber
der größeren Maunbarkeit des Hemmeier, der selbst sei-
nen Körper nie befleckte, und in seinem Widerstande
gegen die wechselseitige Selbstbefleckung ward dann Hem-
nieler wieder durch seinen unglücklichen Liebhaber da-
durch bestärkt, daß dieser in ruhigen Stunden ihm über
das Abscheuliche „ dieses Lasters" allerlei Gedanken dar-
legte, als ob es seine eigenen seien. Dieses ewige
Widerspiel brachte den noch immer nicht verzagenden
Liebhaber auf die sonderbarsten Versuche. Da Hemmeier
seinen geschlechtlichen Umgang nicht suchte, so erregte
Desgouttes, sobald seine Geschlechtslust wieder rege
ward, oft künstlichen Streit oder führte den Anlaß zu
einem solchen herbei, einzig, damit Hemmeier wieder mit
ihm Frieden schließe und dann in guter Laune seine
Wollustausbrüche gestatte; weigerte sich aber Herameier
auch dann, so ließ Desgouttes ihn bei sich schlafen und
erzwang die „ Unzucht"; kein Mittel ließ er unversucht,
seine unbefriedigte, zu einer wahren Satyriasis ausartende
Wollust an dem einzig Geliebten auszuüben. Um den-
selben geschlechtlich anzuregen, ließ er den Hemmeier
viel Wein trinken, nach dessen Genuß seiner Erfahrung
gemäß auch regelmäßig die erwartete Wirkung sich ein-
stellte; der Genuß von Canthariden aber, die Desgouttes
dem Hemmeier heimlich beibrachte, um dessen Ge-
schlechtsdrang zu steigern, hatte nur eine krankmachende
Wirkung. Auch ließ er den Hemmeier starke Chocolade
mit unsäglich viel Zimmet, den er hinzufügte, des Abends
trinken, dann vielen Wein, alles in der gleichen Absicht,
deren Erreichung fast immer mißlang oder ohne Hcmme-
ler's Willen gelang. Wenn, was öfters vorkam, der an
hektischer Anlage leidende Hemmeier erkrankte, an
Magenschwäche, Durchfall oder Halsweh litt, st) wich
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Desgouttes ganze Tage und Nächte kann» von dessen
Lager und verrichtete für den, den er über alles liebte,
öfters die Geschäfte der niedrigsten Dienstmagd. Allein
alles dieses konnte Hemmeler's Gegenliebe nicht er-
wecken. Obwohl beide öffentlich in guter Zufriedenheit
mit einander auszukommen schienen, brach Desgouttes'
verhaltener Unmut mit der Zeit öfter und stärker her-
vor. Dann klagte er wohl auch Personen seiner Um-
gebung, daß Hemmeier von ihm angebotene Geschenke
ganz ohne Danksagung annehme. Schlug aber Hemmeier
solche Geschenke, die er für Bestechuugsgeschenke an-
sehen mußte, gänzlich aus, so konnte das den Desgouttes
bis zur Raserei empören und verleitete ihn zu den hef-
tigsten Vorwürfen; doch augenblicklich bereute er sein
übereiltes Verfahren, bat seinen Liebling um Vergebung
und bot ihm, um dessen gänzliche Zufriedenheit zu er-
wirken, wieder neue Geschenke an. Geschenke und
Vorwürfe hatten immer wieder den Hauptzweck,
den ungefügigen Hemmeier willfährig zu machen.
Dieser ewige Wechsel von Verdruß und halber Seligkeit
wirkte auch auf Desgouttes' sonstige Launen, so daß sein
Zustand bisweilen schrecklich war; alsdann schonte er
niemanden, mißhandelte die Mägde, schlug sie blutwund,
mißhandelte den unschuldigen Hemmeier und zerschlug,
was ihm unter die Finger kam. Und doch fühlte er
sich so eins mit dem Geliebten, daß er einen Tadel über
ihn aus fremdem Arunde nicht ertragen konnte; die
Dienstmagd Salome Anderes, Hemnieler,s Tante, welche
ihrem Herrn zu bemerken wagte, daß der Hemmeier des
Morgens zu lange im Bette liege, zog sich augenblicklich
des Gestrengen grimmigsten Haß zu, da dieses eine An-
gelegenheit beträfe, in die sie nach seiner Ansicht sich
nicht zu mischen habe. So ganz war der Hemmeier
Desgouttes' zweites Ich geworden.
Desgouttes wollte seinen Liebling allein für sich be-
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sitzen und ihn ausschließlich wollüstig genießen; er duldete
daher nicht, daß irgend ein Nebenbuhler daran Anteil
habe; er hielt den Jüngling so lange wie möglich ganz
davon ab, Bekanntschaften zu machen, und hoffte so zu
verhindern, daß derselbe einen noch größern Abscheu
gegen den geschlechtlichen Umgang mit ihm empfinden,
Verachtung gegen ihn fühlen und zum Bewußtsein des
Druckes seiner tyrannischen Freundschaft gelangen würde.
Als aber der überall beliebte junge Mann endlich doch
Bekanntschaften anknüpfte, entwickelte sich bei Desgouttes
zu der unbefriedigten Liebe noch eine quälende Eifersucht.
Desgouttes' Anhänglichkeit an den Hemmeier war un-
begrenzt; er machte für denselben große Aufwendungen;
von dem Geliebten fern zu sein, schien ihm unerträglich;
er dachte daher sein Zusammensein mit dem ihm Unent-
behrlichen so weit möglich zu verewigen und ihm ein
Glück zu bereiten, das denselben über alle irdische Sorge
hinausheben sollte; er wollte es Aufopferungen aller Art
sich kosten lassen, um dem Hemmeier dieses Glück
zu bereiten, selbst mit dem Opfer seines eigenen irdischen
Glücks; so gedachte er durch vorteilhafte Verheiratung
mit einer Person, welche, weil sie weit älter war als
er und unangenehme Eigenschaften besaß, ihn gewiß
unglücklich gemacht hätte, in den Besitz eines stattlichen
Vermögens zu gelangen und vermittelst dessen dem
Hemmeier sich zu assoziieren, um ihn so bis an sein
Lebensende bei sich zu behalten. Wirklich fand sich bei
seiner Festnahme am 29. Juli 1817 in seinem Besitze
eine vom 25. Januar 181b* datierte Eheversprechuug
zwischen Franz Desgouttes und der Jungfer Susanne von
"Wagner vor. Er plante sogar, seinen anders gearteten
Hemmeler dann ebenfalls zu verheiraten, unter dem
Beding des immerwährenden Bleibens an des Liebhabers
Seite. Für die Opfer, die er dem Geliebten brachte,
wollte er schlechterdings keinen Rivalen neben sich dulden,
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der des Jünglings Freundschaft mit ihm teilte; auch
war er überzeugt, daß es niemand so gut mit dem Jüng-
ling meinen könne wie er und niemand daher dessen
Freundschaft so wie er verdiene. Bloße Bekanntschaften
wollte er dem Hemmeier wohl erlauben; dennoch war
er immer eifersüchtig, wenn jemand sich vertraulich
dem Hemmeier näherte, und er machte dem Freunde als-
dann die bittersten Vorwürfe über seinen Undank, der,
wie er selbst später seinem Richter zugestand, oft wirk-
lich nur eingebildet war. Wenn Hemmeier dann sich
beleidigt fühlte und aus purem Trotze oft Stunden oder
halbe Tage lang fortblieb, den verlassenen Liebhaber in
seiner ungewollten Einsamkeit dann aber die fürchterlichste
Sehnsucht peinigte, so führte seine glühende Phantasie
dem Unglücklichen die quälendsten Bilder der Untreue,
des Undanks des Geliebten vor Augen; und besonders
dann, wenn der so Gemarterte der großen künftigen Auf-
opferungen gedachte, die bei seiner traurigen Vermögens-
lage ihm nichts weniger als leicht wurden, gab es bei
des Heißersehnten Rückkunft in Folge der Empfindlich-
keit und des Jähzorns des unglücklich Liebenden die
ärgerlichsten Auftritte. Und als dann Hemmeier nach
und nach öfters und länger sich entfernte, so glaubte der
Verlassene daraus schließen zu müssen, daß er dem
Hemraeler nicht mehr so wert sei, wie ehedem; und
Hemmeier ging, um mit jungen Leuten, besonders dem
Kommis Kaspar Vogel und dem Johannes Trösch, beide
jünger, als er selbst, sich zu zerstreuen; diese führten
ihn zu verschiedenen Mädchen; Desgouttes aber hatte
dem Hemmeier nur gestattet, die gute Jungfer Viktoria
Dennler zu besuchen, weil er glaubte, es sei für den
jungen Menschen besser, an eine Person sich zu halten,
als allenthalben herumzuflattern ; auch fürchtete er,
Hemmeier dürfte, wenn er jedem Mädchen nachgehe,
gleich seinem Kameraden Trösch, alles Gedächtnis ver-
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lieren, seine Auftrüge vergessen und zu einer ernsthaften
Arbeit nicht mehr aufgelegt sein; und schließlich besorgte
er auch, Hemmeler möchte durch ein solches Schmetter-
lingswesen ihn gänzlich vergessen und sich allen Leuten
mitteilen, mit denen er täglichen Umgang pflegte. Bald
aber wurden Einsamkeit und Eifersucht dem Aermsten
unerträglich und sofort änderte er seinen Plan; er be-
günstigte den Umgang, teils um bei dem Liebsten
berechtigte Vorwürfe anbringen und bei einer Häu-
fung des Unrechts seitens des Hemmeler gegen ihn
dessen Handlungen mit seinen eigenen Wollust-Forder-
ungen in's Gleichgewicht bringen zu können und auf
diese Art zum Hechte der Ausübung des ersehnten
Liebesaktes mit dem Geliebten zu gelangen; teils, um
Reize in ihm anzufachen und aufzusammeln, welche seinem
Wollustdrange gelegentlich zu Statten kämen. So ver-
anlaßte er den harmlosen Jüngling zu nächtlichem Aus-
bleiben, gab seinen Freunden und der Viktoria Denuler
Geld, damit diese die Mittel hätten, den Hemmeler betrunken
zu machen, ohne die eigentliche Absicht zu verraten,
und wenn dann, was mehrmals geschah, Hemmeler be-
trunken nach Hause kam, so gebrauchte er ihn zu seinen
„schändlichen Lüsten"; aber meistens scheiterte sein
Plan. Je mehr aber während dessen seine Satyriasis ge-
wachsen war, um so dringender und ungestümer wurden
seine Forderungen. Ex versuchte dann auf tausenderlei
AVeise zum Ziele zu kommen und verfiel dabei auf alle
nur erdenklichen Mittel.
Um den so viel abwesenden Freund einmal wieder
ganz für sich zu haben, faßte er den Entschluß, ihn krank
zu machen; er gab ihm Brechstein ein und redete ihm
vor, es handle sich um eine Krankheit, die allein er heilen
könne; er war dann so lange glücklich, als er bei dem
Leidenden wachen und seiner Bangigkeit beiwohnen
konnte. Aber als einen traurigen Erfolg aller seiner
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Mühen mußte er erleben, daß Hemraeler den Verkehr
mit anderen Personen immer weiter ausdehnte und bald
ungebührlich übertrieb; schließlich blieb dieser nicht nur
des Abends bis in die Nacht hinein von Hause fort,
sondern er vernachlässigte auch seine dienstlichen Pflichten,
so daß sein Liebhaber als sein Brodherr im Geschäfts-
interesse es nicht unterlassen durfte, ihm ernstliche Vor-
stellungen zu raachen, deren Vergeblichkeit den doppelt
Unglücklichen dann vollends zur Verzweiflung brachte.
Immer unerträglicher wurde ihm die Vorstellung: „Wenn
du tot bist, so genießt dann Hemmeier die Welt und
genießt selbsttätig die Wollust; dann gedenkt er deiner
nicht allein mit Abscheu, sondern dann hast du nichts
davon*. Je mehr er nachdachte, desto schrecklicher kam
ihm dieses vor, insonderheit, wenn er erwog, daß Hemmeier
nicht mit Knaben, sondern mit Mädchen Umgang haben
würde. Selbst nüchtern wogten solche mit Mord-Gedanken
verknüpfte Bilder in seiner wollustatmenden Seele; je
mehr seine Sinnlichkeit uud seine ungezügelte Phantasie
durch Getränke noch gesteigert wurden, desto fester
wurzelte bei ihm der Entschluß, all' dem Jammer einmal
ein Ende zu bereiten; schon weidete er sich an der Vor-
stellung, den Hemmeler vor und nach der gewaltsamen
Ermordung seiner unzüchtigen Begierde zu unterwerfen,
und der Entschluß, ihn zu ermorden, eroberte sich immer
mehr Raum in des unglücklichen Mannes Seele. Es
wechselten bei ihm unaufhörlich Satyriasis und unbefrie-
digtes Liebesverlangen mit durch Onanie hervorgerufenen
Schwächezuständen ab ; in diesen kam ihm der Einfall, bei
Hemmeler Uebelkeiten deshalb hervorzubringen, um die
Mannbarkeit desselben seiner Schwäche gleich zu stellen,
damit Hemmeler nicht wegen überwiegender Mannbar-
keit ihn verlassen möchte; so hoffte er des Jünglings aus-
schließlichen Umgang und seine Häuslichkeit zu erzielen; er
wünschte in solcher Verfassung, die Natur oder ein Zufall
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— m —
hätte den Hemmeier zum Kastraten gemacht, nur damit
derselbe sich an Niemanden hünge; er verfiel auf den
unseligen Gedanken, des Jünglings Pudenda zu schwächen;
er wurde der Urheber, daß Hemmeier verschiedene
„Kiltgänge* *) machte; dann wollte er seinem Opfer
Mittel geben, um sein Beischlafsvermögen derart zu
schwächen, daß er mehrere Jahre hindurch gar nicht
an sinnliche Lust denken, sie gar nicht ausüben könnte,
hingegen seine Freundschaft ausschließlich für ihn be-
wahren solle. Diesen Plan gedachte Desgouttes auf einer
Reise im August 1817 auszuführen; als er dann den Ruin
seines Vermögens vor Augen sah, verwandelte sich dieses
Bild in einen Mordplan für seine Reise, auf welcher er
entweder mit Hemmeier sterben oder als Einsiedler bei
dem teuern Leichnam leben und sterben wollte; nur die
Verzweiflung, den innigst Geliebten ganz zu verlieren
oder für andere zu behalteu, erfüllte seinen Geist mit
Mordplänen.
Bei alledem versicherte Desgouttes, daß seine Wollust
nicht das Ueberwiegende in seiner Neigung zum Hem-
meier gewesen sei; er habe ihn geliebt, weil ihre Charaktere
in vielen Stücken zusammentrafen, ausgenommen, daß
Hemmeier keines der Laster seines Liebhabers an sich
hatte; er liebte den Hemmeier, weil inneres Gefühl, Ge-
wohnheit und langer Unigang ihn an den jüngeren Ge-
fährten ketteten; er liebte ihn aus „ übersinnlichen" Gründen,
von denen er Rechenschaft sich nicht zu geben wisse
und wenn er nach dem ausschließlichen und ewigen Be-
sitze seiner Freundschaft strebte, so sei es nicht aus sinn-
lichen Motiven geschehen, denn diese paßten nicht für
die Ewigkeit.
*) Dem Yerhtfrrichter gestand Desgouttes, daü es beim Hem-
meler zu einem „unmoralischen Lebenswandel mit Mädchen" nie ge-
kommen sei und daU er „nur einmal sich vergangen" habe.
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Um Neujahr 1817 sah Desgouttes rückwärts und
vorwärts schauend den Zerfall seines Vermögens und
seiner Liebe unrettbar vor Augen. Sylvester mit dem
Hemmeier zu feiern, dünkte ihn in dieser trostlosen Aus-
sichtslosigkeit ein unendliches Glück; aber Hemmeier
kam äußerst spät nach Hause und da betrank sich Des-
gouttes entsetzlich und seine Besinnung war wieder dahin.
Fortan quälte er den jüngeren Genossen, um diesen seine
Abhängigkeit von dem älteren Freunde recht herb fühlen
zu lassen, noch mehr und raffinierter als vordem. Im
Januar kassierte Desgouttes eine Barsumme von 1700
Franken für die Erbschaft Neukom ein, von welcher
aber die Hälfte schon seit bald zwei Jahren verbraucht
war; mit der anderen Hälfte entwich er planlos, er wußte
nicht wohin; allein freiwillig kehrte er zurück, haupt-
sächlich, weil er die Gesellschaft seines Substituten Hem-
meier nicht entbehren konnte und ohne ihn ganz außer
aller geselligen Verbindung war. Bei seiner Rückkehr
machte ihm Hemmeier die schwersten Vorwürfe und
brachte ihn nahe an den Rand der Verzweiflung; indessen
überlegte er sich, daß aus diesem Verhalten Hemmeler's
dessen wahre Freundschaft für ihn zu ersehen sei, und
nun gelobte er sich und ihm, alles zu bessern, insofern
die Umstände einmal nicht ungünstig wären; aber als bald
darauf wieder ein Ruf von der Irmel'schen Schuld erschien
und andere Schuldenrufe einliefen, wußte er durchaus
nicht mehr, wie er sich helfen sollte. Da verhalf ihm
starkes Trinken zum Vergessen für den Augenblick ; aber
dann erfüllte ihn wieder mit Schaudern die Vorstellung,
die Welt zu verlassen und den Hemmeier mitzunehmen
oder diesen vorauszuschicken uud dann nachzufolgen.
Die ganze Zeit vom Palmsonntag (30. März) bis zum
Umzug in die neue Wohnung (17. Juli) blieb ernüchtern,
ohne daß die unglückliche Idee, ausschließlich im Besitze
Hemmeler's sein zu wollen, und die Furcht, traurige Ura-
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stände könnten denselben von ihm trennen, ihn jemals
losgelassen hätten ; das alles, die Innersche Schuld uud
das Benehmen Hemmeler's zu Beginn des Lebens im
neuen gemeinsamen Heim leiteten in Verbindung mit
Desgouttes' periodischem Hang zum Trnnke und mit seiner
ausgesprochenen Anlage zum Uebertriebenen das, was nun
folgte, ein. Am 17. Juli, dem Tage seines Umzuges in die neue
Wohnung und des Anfangs eines eigenen Haushalts mit
dem Busenfreunde erwartete Desgouttes, daß Hemmeler
nun für alle seine Vernachlässigungen und seinen viel-
fachen Undank den Liebhaber um Verzeihung bitten
und zur Versöhnung und zu dauerndem Frieden die
Hand zuerst bieten würde; Hemmeier hätte dazu um so
stärker sich gedrungen fühlen müssen, als er wohl wußte,
wie unendlich Desgouttes litt, wenn es unterblieb, und in
welch' ratlose Verzweiflung er den unglücklichen Liebhaber
stürzen würde; — aber als er im neuen Heimwesen dem
Hausherrn ganz allein gegenüberstand, sprach er kein
Wort; er stand da wie ein Klotz und tat, als wäre
gar nichts geschehen. Dieses empörte den ohnehin
Gereizten aufs äußerste; er verlor alle Selbstbeherr-
schung und geriet in fürchterlichen Zorn und dann in
Wehmut ; er wußte sich weder zu raten, noch zu helfen ; alle
seine Vorstellungen blieben fruchtlos und so nahm er wie
früher seine Zuflucht zum Trinken; dieses besänftigte
ihn in etwas und außerdem führten ihn auch notwen-
dige geschäftliche Ueberlegungen dazu, einen halben
Scheinfrieden mit dem Hemmeler zu schließen ; da er
das Unzulängliche dieses Friedens schmerzlich empfand,
so trank er mehr und weiter; in diesem Scheinfrieden
gelang es ihm, in der Nacht vom 17. auf den 18.
Juli, mit dem Hemmeler — zum letzten Male — geschlecht-
lich zu verkehren. Von diesem Tage an befand sich
Desgouttes ununterbrochen in einem an Besinnungslosig-
keit grenzenden Zustande, in einer durch starken Genuß
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voii Absinthextrakt, Wein und Liqueuren hervorgebrachten
ausnehmend hohen Trunkenheit, welche seine Sinne im
höchsten Grade aufregte, was dann wieder seine glühende
Phantasie in Tätigkeit setzte, während sein Verstand
und seine Ueberlegung gänzlich ausgeschaltet wurden, so
daß ihm, was er tat, nicht zum klaren Bewußtsein kam.
Hatte er sich in Tübingen schon dem Trünke ergeben,
um die lebhaften Bilder seiner Phantasie noch zu erwei-
tern und höher zu spannen, so geschah es in dieser
Periode, um im Gaukelspiel seiner durch den Trunk her-
beigeführten Phantasieen die erbärmliche Wirklichkeit
vergessen und sich auf Augenblicke an diesem Gaukel-
spiele ergötzen zu können. In der Nacht vom 18. auf
den 19. Juli ließ er seinen, seit Neujahr 1817 bei ihm
beschäftigten 15jährigen Lehrling Hans Ulrich Leib und
Gut, der sonst allabendlich nach dem Dienste in das
benachbarte Schoren zu seinen Eltern zu gehen pflegte,
angetrunken bei sich im Bett schlafen, um sich au dem
unschuldigen Knaben zu vergreifen, da er in dieser Nacht
zu Hemmeier, dem er Opium zu trinken gegeben, nicht
gehen mochte; zweimal mißlang sein Plan, da der Knabe
erwachte; Desgouttes näherte sich ihm unter dem Vor-
wande, ihm die Vorhaut zu erweitern. Weil sicli sonst
dort Uureinigkeit sammle; er gab ihm den Rat, .sie öfter
zu erweitern, und brachte durch Reiben einen »fast
inflammablen Reiz" in des Knaben Rute hervor; er
wollte ihn so zum Verluste der Unschuld und zum Mit-
genusse bringen, was aber nicht erfolgte; erst der dritte
Versuch gelang: der Knabe schlief fest und schlief weiter.
Am nächsten Morgen fühlte Desgouttes sich allzu nüchtern,
als daß er seinen Tags vorher gefaßten Plan, den Hemmeier
zu betäuben und dann aus dem Fenster zu stürzen, hätte
ausführen können. Aber einige Tage' später, als in der
Frühe des Morgens bereits der „Weingeist" ihn benebelt
hatte, entstand wieder der Kntschluß in seinem Kopfe,
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den Hemmeier umzubringen. Er ergritf eiue Pfanne mit
nassem Stroh, um es in Hemmeler's Zimmer anzuzünden,
den Schlafenden zu betäuben und dann zum Fenster
hinaus zu werfen. Nur das Mitleid, das Bedauern mit
dem unglücklichen, ihm so werten Jüngling und der
Gedanke, er könnte Schmerzen fühlen, brachte ihn wieder
gänzlich von dem Mordplane ab und nun wollte er eine
Zeitlang keinen Gedanken mehr daran in sich aufkommen
lassen, den Hemmeier zu töten.
Ein mit dem Todestage seines Vaters, zugleich dem
Geburtstage seiner eigenen wirtschaftlichen Selbständig-
keit, dem 0. Juli 1810 begonnenes Tagebuch führte der
Unglückliche noch bis zum 25. Juli 1817 fort — alsdann
brach er es jäh ab. In diesem Tagebuche ist niederge-
legt, wie der unglücklich Liebende in dem langen Zeit-
raum vom 20. Juli 1810 bis dahin 1817 um den innigst
Geliebten gebangt und was er um ihn gelitten hat. Lassen
wir ihn selbst zu Worte kommen.
Aus dem Tagebuche des Dr. Franz Desgouttes:
1810: 20. Juli: Dem Daniel Hemmeler eine ßadfreude
gemacht.
28. Juli: Der Daniel geht in's Bad und läßt den
Freund allein, der düster und traurig zu Hause
bleibt.
31. Juli: Reise nach Bern mit Freund Hemmeler.
15. August: Vorwürfe au Daniel H. wegen seinem
Undank. . . Mit Daniel H. ins Bad.
10. August: Besichtigung des Perpetui mobilis
bezahlt für den Daniel.
17. August: Besuch bei Daniels Eltern.
5., 0., 7. September: Dem Daniel Hemmeler ge-
geben Wein, Chokolade u. dergl. Aber Er ist
immer gleichgültig.
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1816: 11. September: Dem Dauiel Hemmeier gegeben
Wein, Weggeld. Immer gleichgültig.
2. November: Ich hatte mich von jeher des Da-
niel Hemmeier innigst angenommen; ich achtete
Nichts für unmöglich, wenn es nur zu seinem
physischen oder moralischen Wohl diente. Oft ent-
zweite ich mich mit meiner Familie, weil ich mich
des H. eifrigst angenommen und seine wehrlose Ju-
gend geschützt hatte. Seine physische Constitution
wäre ohne mein Zuthun zu Grunde gegangen.
Er nähert sich jetzt der Festigkeit, die jedem
Jüngling wünschenswerth ist. Er blühet gleich einer
Rose, Er, der sonst Anlage zur Hektik hatte.
Seine Garderobe ist wohl versehn. Seine Kennt-
nisse hat Er einzig meinem immerwährenden
Unterrichte zu danken. Nichts habe ich versäumt,
ihn zu bilden, Nichts unterlassen, ihm das Leben
von allen Seiten anschaulich zu machen. Geld,
Reisen . . . Nichts sparte ich, ihm meine Pflicht-
erfüllung zu beweisen. Zu hunderten habe ich- an
ihm verwendet, vergeudet.
Des Tags dachte ich für ihn und sein Wohl und
oft wachte ich des Nachts an seiner Seite. Ich
empfahl ihn allenthalben, sprach, handelte für ihn,
verwandte mich für ihn — Kurz! ich lebte bloß
für ihn und in ihm. Meine Freundschaft genoß
er in vollstem Maaße und meine Zuneigung in
vollsten Zügen. Bei Gott: ich hätte mein Leben
für ihn gelassen, wenn Er es hätte nützen können.
Ach! und was für Dank ernte ich jetzt von ihm?
Jetzt, da ich gleichsam verlassen bin, da ich in
ziemlichen Schulden stecke, da ich durch zweijäh-
rigen Kummer mich krank, ja fast aufgerieben
fühle, da ich ohne Aussicht bin, — jetzt zeigt er
seinen Undank! O kaltes, fühlloses Wesen, o
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starrer junger Mensch! Wie höchst unglücklich
machst Du mich! — Die Gefühle überwältigen
mich so entsetzlich, daß Worte mir fehlen und die
Hund mir ihren Dienst versagt!
1816; 4. November: Muß deun alles zusammenschlagen.
Noch kein Patent, Mortifikationen aus dem Aargau,
Mißverständnisse mit Herrn Gerber, daher sein
Brief vom 3. h., wo ich ganz mißkannt werde.
Muß ich denn ewig der Spielball der Menschen
sein, während ich möglichst meine Leidenschaften
bändige und der Phantasie Spiel verdränge ? Und
Daniel, Daniel, den ich liebe, kehrt mir den
Kücken?!!
10. November: Traurige, melancholische Stunde!
Beinahe von Allen, ach! verlassen, in allen Hin-
sichten! Daniel auch.
22. November: Dem Daniel wieder gegeben eine
Flasche Wein. Anderer Dinge nicht zu gedenken.
Wenn ich die Menschen um mich betrachte, so
überfällt mich alteruatim Wuth und Wehmuth,
wenn ich bedenke, wie vielen Hunderten ich schon
geholfen und wie mir alternatim Niemand hilft.
Verdammter Eigennutz! Alles will an mir saugen !
Allen soll ich helfen und wenn ich, ich Etwas
Will — so ist Niemand zu Hause. Selbst meine
Nächsten machen mir'sso. Wer mich nicht betrügen
will oder nicht kann, der versagt mir sonst Alles,
ja selbst die edelsten Gefühle, welche Natur einflößt.
4. Dezember: Weiuf'riiehte des Daniel Hemmeler,
da er erst um yal Uhr Morgens heimkam.
15. Dezember: Den Daniel Hemmeler von s 4 auf
4 Uhr an mit Herrn Bachmann ins Wirthshaus
gehen lassen. Er blieb aber bis fast 8 Uhr au9
und ich mußte annehmen, daß er von einem Haus
in's andere sehwärmte, worüber ich ihm nachher
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deutliche, doch sanfte Vorwürfe machte. Ach!
er mißkennt mich. Wüßte er doch, wie unendlich
ich ihm anhänge und was ich für ihn entweder
bereits aufgeopfert habe oder noch ferner auf-
opfern werde — o, Er würde keinen Augenblick
mich verlassen oder selten.
1816: 16. Dezember: Daniel Hemiueler's Benehmen gegen
mich. Wiederholte Rüge. Befragung vom letzten
Band an mich.
So weicht Alles von mir! Auch er, an den ich
Alles wende. Kalte Seele! Diese Pein möge dir
nicht vergolten werden!
18. Dezember: . . . Und heute war auch der Tag,
an dem ich dem Daniel Hemmeier bittere Vorwürfe
wegen seinem Betragen gegen mich raachen mußte.
Ach! daß ich ihm so anhänge, um ihm, gewiß aus
Liebe, derlei Vorwürfe macheu zu müssen; aber
Er treibt es zu arg. Alles, Alles, was ich ihm an
den Augen ansehe, Alles thue ich ihm zu Gefallen
und überhäufe ihn mit Liebkosungen aller Art.
Wenn ich ihn betrachte, seitdem der unselige
Geschlechtstrieb in ihm erwacht ist, so muß ich
diesen verwünschen; denn mich vergißt Er und
denkt nur an das Vergnügen, Ball, Mädchen und
Wein, ohne doch ein Säufer oder Wüstling zu sein.
Bedenke ich meine traurigen Umstände, meiue
entsetzliche Lage und den Undank des Daniel,
so nimmt's mich Wunder, daß nicht die vollste
Verzweiflung mich ergreift. Doch Glauben an
Gott, Philosophie, Hoffnung — das hält mich empor!
21. Dezember: Dem Daniel Hemmeier Vorwürfe
machen müssen : a. daß Er den 20. Dez. Abends
den ganzen Abend bis 8 Uhr ausgeblieben; b. daß
Er bis 7,10 Uhr den 21. Vormittags 3 4 Stunden
lang bei Vogel geblieben.
Jahrbuch V. 38
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1816: 22. Dezember: Dem Daniel Hemmeier einige sehr
herbe Vorwürfe machen müssen, weil Er ohne alle
Aufmerksamkeit für mich sich nur mit Andern
beschäftigt und ungeachtet aller liebreichen und
ernsten Ermahnungen mich stehen läßt. Dann
ihm Geld gegeben, um einen Schoppen zu trinken.
Dann ihm erlaubt, bis um 10 Uhr Abends die Berg-
knappenmusik anzuhören. Sechs ganze Stunden lang.
25. Dezember: Dem Daniel Hemmeier erlaubt,
mit seinen Bekannten spazieren zu gehen. Er
ging um >/,3 Uhr fort und returnirte um 5 Uhr.
Ging um 6 Uhr wieder fort und returnirte erst
um »/a9 Uhr.
26. Dezember: Dem Daniel Hemmeier, dem icb
spaß weise Etwas vorbrachte, ohne ihn zu be-
leidigen, und welcher sich plötzlich in seiner
Eigenliebe höchlichst ergrifleu fühlte [:Gnug mi,
gnug mi:], derbe Vorwürfe gemacht und ihn aus
der Stube gewiesen.
27. Dezember : Dem Daniel II. allerhand gegeben.
Frieden !
29. Dezember: Dem Daniel Hemmeier erlaubt, aus-
zugehen. Er ging um 4 und kehrte erst um 8 Uhr
zurück.
30. Dezember: Dem Daniel H. gegeben:
1. Einen derben Verweis wegen seiner Saum-
seligkeit.
2. Eine Brochüre.
3. Geld für Neujahrsbelustigung.
30. Dezember: Dem Daniel II. gegeben zum Neu-
jahrsgeschenk ein Jagdgewehr.
31. Dezember: Heute war Daniel H. fast immer
abwesend und dennoch erlaubte ich ihm noch, zu
Sylvestern. Er blieb auch aus von 5 Uhr bis 11
Uhr Abends: Mädchengosellschaft.
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— 595 —
So schließt sich dieses Jahr, schrecklich in seinem
Anfange, traurig in seinem Verfolge und entsetzlich
in seiuer Mitte; endlich in den Merkmalen des
Schrecklichen, Entsetzlichen und Ungeheuren am
Ende, ohne Aussicht, mit einer unendlichen Schulden-
last, Verzweiflung im Herzen — ach! wer hilft
mir? Da mich Alles verläßt, so muß ich selbst
für mich sorgen!!!
Jacta est a 1 ea!
Mit Dir, o Daniel, bin ich sehr unzufrieden; es
ist, als wenn der Dämon der Zerstreuung oder
aber der Gleichgültigkeit gegen mich in deine
sonst gute Seele gefahren wäre. Ach! ich ver-
diene das nicht; denn innigst liebe ich dich und
wünsche dir allen erdenklichen Segen, alles mög-
liche Glück und Heil. Ach! daß du mich mißkennst!
So rollt das Jahr ab und läßt mich einsamlich!
1817: Anfangs Januar: Schön begann das Jahr 1817
— war aber nicht gut im Verfolge. Ach! guter
Daniel, hab' ich auch gegen dich gefehlt, so ver-
zeihe; denn dein kalt verwerfendes Wesen könnte
mich verzweifeln machen.
Man könnte mich fragen — warum den Daniel
so in den Strudel der Vergnügen werfen, während
du es ihm selbst verboten hast? — Am Neujahr
feierte ich meine seligsten Stunden im Kreise
meiner Geliebten. Warum fehlte da Daniel ? Warum
betrug Er sich schon am Morgen kalt? Warum
blieb Er aus, da Er doch wußte, wie sehr ich
daran hing, ihn auch bei mir am Abendessen zu
sehen? Warum mußte ich selbst ihn holen? O, das
war für mich ein Todesstich! Ich sah nun, daß
Er mich gar nicht, Andre aber über 'Alles liebt! O
Gott, welche marternde, verzweifelnde Empfindung!
Dies betäubte mich fürchterlich, brachte mich halb
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zur Wuth. Ach ! die grimmige Empfindung folgte
mir nach. Ich trank immer und immer mehr,
bis ich von Tumult zu Tumult stürzte. Da, da ver-
gißt sich der Mensch mit der glühenden Phantasie.
Deswegen geschah, was leider geschehen ist. Hätte
Daniel, eingedenk, daß ich ihn so manchen Abend
vermißte, den Neujahrsabend mit mir gefeiert —
o, ich würde nie so derbe tumultuirt haben.
1817: 8. Januar: Gott gebe, daß an mir geholfen werde.
13. Januar: Dem Daniel H. gegeben Müller,s
Sehweizergeschichte in 4 Bänden.
Ende Januar: Seit dem 15. dem Daniel allerhand
geschenkt und Er bringt mich dafür in Verzweiflung.
Ende Miirz: Während dem März dem Daniel
und seiueu Kameraden sehr viel an Wein und
Objekten zum Vergnügen geschenkt, damit sie
sehen, daß ich ihnen dergleichen in Maaße sehr
wohl und gern gönnen möge.
<_>. April: Dem Daniel Hemmeier, meinem Sub-
stituten, vorgestellt: 1. für seinen Körper Sorge
zu tragen; 2. die Zerstreuungen einzustellen; 3. die
beiden Mädchen aufzugeben und 4. mit Vogel
und Trösch weniger Umgang zu haben; überdies
mir mehr Freundschaft uud Liebe zu schenken.
Insonders soll Er aufrichtig und aufmerksam
sein. — Welch' Alles Er auch mit Mund und
Hand versprochen.
Dazu erlaubte ich ihm, Montag den 7. hujus
auf Aarburg zu gehen, seine Schwester und seinen
Schwager zu sehen.
Daniel Hemmeier geht, wegen Langeweile, mit
Vogel uud Trösch spazieren ins Bad seit lj2T> Uhr
bis 8 Uhr.
Den 7. April befand sich Daniel Hemmeier den
ganzen Tag abwesend in Aarburg und returnirte
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erst um l/i9 Uhr mit zwei Schwestern und seinem
So h wager.
Den 8. April blieb Er bis 10 Uhr Morgens weg
und ich versah indessen seine vices.
Mit dem Daniel Hemmeier einen Lohnvertrag
errichtet bis 1. Juli 1817.
Heute spürte Daniel Hemraeler erst die Folgen
seiner Reise auf Aarburg durch Faulheit, Mattig-
keit und Schmerzen in den Waden und am Fuß,
Erhitzung und Abgespanntsein. Fast den ganzen
Nachmittag lag Er faul da oder befand sich bei
Vogel. Daselbst zweimal.
9. April: Daniel Hemmeier spürt noch immer die
Folgen der Anstrengung nach Aarburg durch
Schmerzen auf der Fußballe und in den Beinen,
dann Engbrüstigkeit, Schweiß des Nachts.
Daniel Hemmeier überläßt sich schon wieder
der Zerstreuung bei Vogel und Viktoria Dennler,
vernachlässigt mich und seine Studien.
10. April: Er läuft zu Vogel; gibt sich selten
mit mir ab; sagt mir offen, daß Er Andre, z. B.
Viktoria D., mir vorziehe und malt für selbige
(Oster-) Eier aus, statt zu studiren, verbraucht
mehrere Stunden dafür und arbeitet für Andre
öfter.
Abends verweilt Er von 7 bis 8 Uhr bei Vik-
toria Dennler.
Was soll ich, Verlassener, bei solchen Connexionen
denken? Ö daß ich diesen Menschen je so selbst-
ständig machte! — Besser wäre es für mich, den
Tod zu erhalten, ohne ihn selbstmörderisch zu
suchen. Aber Gott wird helfen!
Den 11. April mit Daniel Hemmeier gesprochen und
ihm ernstliche Vorstellung gemacht :
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a. seine Distraktionen zu meiden,
b. dann seinen Studien mehr Fleiß und mir
mehr Liebe zu schenken.
Welches Er auch versprochen.
1817: 13. April: Daniel Hemmeier geht um 1 Uhr aus
und bleibt bis 2 Uhr bei Lise Muhraenthaler.
Daniel Hemmeier geht aus zu Vogel von
bis 1j4 ab 8 Uhr. So bin ich oft einsam!
Den 16. April befand sich Daniel f/9 Stunde bei
Vogel und Trösch, welche Messieurs auch unseren
Unterricht um 0 Uhr unterbrachen.
17. April: Verdruß mit Daniel Hemmeier, weil
Er oft weggeht und niemals mich für den Unter-
richt begrüßen mag. Doch am gleichen Abend
Frieden.
Den 19. April geht Daniel Hemmeler bis 1 Stunde
zu Vogel.
Der Daniel Hemmeler bleibt von i/27 bis 9 Uhr
bei seinen Freunden Vogel und Trösch und im
Wirthshause.
20. April: Daniel Hemmeler geht um s/4 auf 4
Uhr weg zu Viktoria Dennler und bleibt bis 3 4
auf 5 Uhr weg.
Dann geht Gleicher um l/2ti Uhr wieder weg
und zwar mit dem fast betrunkenen Vogel —
kömmt erst um »/jD Uhr wieder.
21. April: Daniel Hemmeler geht mit Viktoria
Dennler spazieren während 1. Stunde.
Idem thut nicht viel und geht von 8'4 auf 5
bis Uhr zu Viktoria Dennler.
20. April: Mstr. Daniel Hemmeler geht spazieren
mit Vogel l/2 Stunde lang, mich verlassend.
Daniel Hemmeler geht zu Viktoria Dennler »/*
Stunde.
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Idem geht zur Gleichen und bleibt weg 5
Viertelstunden lang, ohne den Effekt hervorzu-
bringen. Der Esel! ....
1817: 27. April: Daniel Hemmeier geht um 5 Uhr weg
zu Viktoria Dennler und bleibt weg bis 8 Uhr.
28. April: Daniel Hemmeier steht alle Morgen
spät auf: circa l/2 8 oder 8 Uhr. Ich mag ihm
das gönnen ; doch wünschte ich dann auch, en retour
egard für mich, Aufmerksamkeit uud was ich gar
nicht erhalte.
Ende April: Auf den ganzen Monat bleibt Daniel
weg — Tage 6, Std. 2 3 4.
2. Mai: Daniel H. geht zur Viktoria Dennler
und bleibt vor dem Eßen 2l/2 Stunden lang weg.
Nachts 11 Uhr geht Er zu Viktoria D. und returnirt
um 4 Uhr Morgens.
4. Mai: Wie drängt man mich von allen Seiten!
Eltern, Gerber, Daniel, Pf. Wagner, Geschwister!
Ich soll heirathen! — Was? Geld! . . . eigene
Wahl! aber durch Vaters Seufzen hervorgebracht.
Oft bereut, ach, ohne Hoffnung zur Wiederkehr.
Elendes, schreckliches Leben! Damit meine Um-
gebungen fröhlich sein und lustig oder bequem
leben können, soll ich elend sein.
Heirathen soll ich bei schrecklichem Mangel,
beim Dasein meiner vielen Schulden, bei schreck-
licher Theuerung, bei halber Dienstlosigkeit, ohne
Stand, ohne Patent, ohne Aussichten, ohne Hoff-
nung, kränklich Gott, welche Dunkelheit!
Wenn ich mein ganzes Leben, wenn ich mein
Sein, Thun etc. betrachte, so nimmt mich Wunder,
daß ich noch bin. Wie viel Undank muß ich
ansehen! Genüsse habe ich keine und für die
Zukunft keine Erwartung, als, wenn ich heirathe,
die Anwartschaft auf ein elendes kurzes Leben.
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— 600 —
Nein, ich heirathe nicht, bis — körperlich, öko-
nomisch und ab Seite meines Patentes bessere
Zeiten da sind. Ich bin es der ersten Pflicht,
meiner Selbsterhaltung, schuldig. Wer will mir
dies wegraisonnieren ? — Gewiß Niemand.
Mit dem Daniel H. ernstliche Rücksprache ge-
nommen, mehr Aufmerksamkeit mir zu schenken.
Ihm geschenkt Schlenbach's Welthistorie mit
Kupfern.
Daniel H. geht um 1 Uhr zu seinen Freunden
und returnirt nach l/M2 Uhr. Mich läßt er allein.
Dan. H. geht an 3 4 auf 2 Uhr wieder zu seinem
Vogel und Trösch — um zu spazieren auf St.
Urban und kehrt erst um 3 4 auf 8 Uhr wieder.
So bin ich immer einsam! Soll das Aufmerk-
samkeit sein ?
1817: 7. Mai: Ich muß mein Leid bemerken, daß Daniel
H. tagtäglich negligenter wird. Wenig Aufmerk-
samkeit zeigt er mir, denn von den ehemaligen
gemeinem Verrichtungen will der junge Herr nichts
mehr thun. Ich, der ich eine unbegrenzte Auf-
merksamkeit habe, kann auf seine Dienste nicht
mehr rechnen ; von seiner Aufopferung ist längst
keine Rede mehr. Ach ! ich fürchtete nicht vergeblich
den Moment seines Ausflugs zu Freunden außer-
halb dem Hause!
Daniel H. kehrt sich an meine freundschaftlichen
Winke wegen seiner nicht ganz seltenen Unord-
nung nicht. Gebe ich Erinnerungen, Ermah-
nungen, so werden sie entweder bald vergessen
oder übel aufgenommen, weil Er in großen Un-
willen geräth, wenn man seine geglaubte Infalli-
bilität antastet. Wenn ich endlich barsch rede,
so hilft's ein paar Tage, und dann ist's bald wieder
im Alten. — — — Ordnung, Produkt der
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Regelmäßigkeit muß sein, muß vom 1. Juli
an streng eingeführt und beobachtet werden; oder
lieber will ich sterben, ungeachtet ich an Daniel
H. unendlich und so hänge, daß ich ihn über
Alles liebe, aber nicht über Alles schätzen kann!
1817: 8. Mai: Daniel H. geht auf eine Stunde nach dem
Musterplatz, kömmt dann um 2 Uhr wieder mit
Vogel, macht sich mit ihm bis 3 Uhr in meinem
Zimmer lustig; ich gab Beiden 3 Schoppen AVein
und Haselnüsse; dann geht er damit weg um
3 Uhr und returnirt um 4 Uhr.
Daniel H. geht wieder auf l/2 Stunde weg.
Idem geht um 8 4 auf 6 Uhr weg mit Vogel
und kehrt wieder um ^7 Uhr. Dann kommt
Vogel und geht erst um 7 und ,/4 Uhr. Daniel
H. entfernt sich zum Balle um 8 Uhr.
Zum erstenmal e, mein Daniel! für dich Ball!
ach! folgenreicher Schritt! ich — warnte brüderlich,
aber ach!!!
Ja! dieser Ball war folgenreich für mich!
Denn er öflnete mir die Augen über Daniel und
zeigte mir ihn in seiner ganzen Blöße! O ich Thor,
der ich ihm zu Liebe meine Harfe verbrannte! —
Nicht zu rechnen, daß Er mich nicht einmal um
meine Einwilligung befragte, kömmt der Herr
erst um 3 und i/i Uhr Morgens heim und belohnt
mich dann noch sonst mit Undank. Der Elende!
0. Mai: Daniel H. geht erst um 9 Uhr aus dem
Bette und ging bis 11 Uhr weg. Den ganzen
Nachmittag schob Er sich von eiuem Sessel zum
andern. Dann geht Er um l/i7 Uhr und returnirt
erst um 8\4 Uhr heim, etwas beübelt. Dann geht
er um 11 Uhr zum Tanze und returnirt um
7,6 Uhr.
10. Mai: Mit Daniel H. lange Rücksprache ge-
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— 602 —
halten wegeu seinem Verhalten. Ich gönne ihm
Freunde, ich bin glücklich dabei! aber Er soll
Vernunft dareinsetzen und mich nicht nur nicht
so vernachlässigen, sondern seine Liebe mit meinen
Aufmerksamkeiten in das völligste Gleichgewicht
setzen, da ich der Schöpfer seiner vielen, vielen
Freuden bin! Ach! er verspricht wohl, ob Er's
auch halten wird? Hoffe.
Daniel H. geht von 9 bis 10\4 Uhr wieder zum
Tanze und kommt halb krank heim. Ich laufe
für ihn in die Apotheke.
1817: 11. Mai: Daniel ist den ganzen Tag theils krank,
theils zu Allem untüchtig.
Dem Daniel in seiner Krankheit treulich ab-
gewartet.
Dem Daniel H. habe ich zwei Clvstiere gegeben
und ihm bis 10 Uhr Abends abgewartet und geholfen.
Den 20. und 21. Mai bleibt Daniel H. von 9 Uhr
bis um 1 Uhr des Morgens fort. Ich muß wachen
und für ihn im Schweiß erkalten.
21. Mai: Daniel H. thut den ganzen Tag nicht
viel, einige Briefe ausgenommen. Nachts von 9 Uhr
bleibt Er bis Uhr.
22. Mai: Der arme, von Viktoria Dennler ge-
plagte Daniel H. verzweifelt fast, ist bis um 5 Uhr
Abends zu Allem untüchtig, wo Er dann bis 7
Uhr arbeitet.
23. Mai: Daniel H. kommt mit Viktoria D. wieder
zum Frieden; ich begebe mich deswegen und um
zu traktiren zu derselben und verwende mich
mit Worten und Geschenken bei ihr eiue Stunde
lang.
25. Mai: Daniel H. bleibt von 1 Uhr bis 8 Uhr
weg und ist bei Viktoria D. Er behandelt mich
sonderbar, nachlässig und auf alte Art.
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— 603 —
1817: 29. Mai: Daniel H. bleibt des Abends von 10 bis
1 Uhr Morgens bei Elisabeth Bracher.
Ende Mai: Auf den ganzen Monat bleibt llemmeler
weg: 9 Tage.
I. Juni : War Daniel H. den ganzen Tag un-
tüchtig und krank; ich wartete ihm ab und pHegte
sein.
Den 10. Juni — ist Daniel llemmeler 10 Stunden
zu Allem unfähig, weil er Abends vorher ribotierte
bis um 12 Uhr, wo ich wachen mußte.
II. Juni: Daniel H. abseutirt sich seit 11 Uhr
des Morgens bis Abends um acht Uhr.
Den 12. Juni — befand sich Daniel H. den gan-
zen Tag krank. Ich wartete ihm ab und gab ihm
Arzneien.
Den 13. Juni befand sich Daniel H. den ganzen
Tag krank. Ich wartete ihm ab und gab ihm
viele Arzneien.
Er ist entsetzlich ungeduldig, eigensinnig und
bös, daß man kaum bei ihm aushalten kann.
14. Juni: Derselbe geht 2 Stunden zu Viktoria D.
15. Juni: Daniel H. bleibt 3 Stunden weg bei
Viktoria D. Nicht zu rechnen, wie oft Er seine
Arbeit vernachlässigt, Sachen verschiebt, Nichts
thut. (.) tempora, o mores!
Den 21. Juni — ist Daniel H. den ganzen Tag
nicht tauglich und schwärmt doch herum.
23. Juni: Ankunft von Vogel und Trösch —
derbe, nachdrückliche Rücksprache mit Daniel H.
wegen dem künftigen Umgang mit ihnen.
Öftere Abwesenheit des Daniel H., die ich nicht
einmal notire, weil sie zu häufig kömmt.
24. Juni: Daniel H. geht auf U/s Stunde zu
Vogel und versäumt allerhand.
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1817: 30. Juni: Dem Daniel H. Vorstellung gemacht et
ulia.
Wann, o Schicksal, wann wirst du mich be-
günstigen? Elendes Leben, wo meiner Jugend
Rest planlos und ungenützt hingeht! Und dennoch
arbeite ich rastlos! O, daß doch Niemand einen
Augenblick leichtsinnig wäre! — O unseliges
Schuldenmachen !
Bald, bald, wenn Gott nicht hilft
ist's aus, dann vermag Niemand mehr mich zu
retten! O, daß ich noch einmal ganz schulden-
frei sein könnte! Noch einmal — nie, nie
würde ich mehr so handeln — wie vorher! Wie
kann der Körper gedeihen, wenn immerwährende
Unruhe die Seele hinwirft? — Wie kann ich
einen Gedanken mit Festigkeit verfolgen, wie seine
Ausführung mit Energie bethätigen, wie auf freiem
Spielraum mich bewegen, wenn alle, alle Be-
rührungspunkte sklavisch mich fesseln — Alles
mich kettet?!?
30. Juni: Disput mit Daniel Hemmeier wegen
Undank.
Ende Juni: Auf den ganzen Monat bleibt Daniel
Hemmeier weg : 9 Tage, nicht zu rechnen kleinere
Abwesenheiten, Arbeiten für sich und zahlloses
Andre !
5. Juli: Daniel Hemmeier nokturnirt bei Viktoria
Dennler wie auch schon am 3. Juli.
0. Juli: Einsam sitz' ich hier, kein Daniel, der mich
tröstet, mich aufrecht hält und mir beisteht, wenn
schwache, melancholische Stunden mich umdüstern.
Welch' ein Mensch! Wo ist, wo bleibt die
Freundschaft, die er so hoch preist? Wo sein
hohes, inniges Gefühl für mich? Ach, es lebt
nur in seinem Innern und sein Aeußeres wendet
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sich zu Andern, die keinen Anspruch auf ihn
haben, als die Macht der Gewohnheit und den
Titel des bloßen Umgangs. Wo sind die seligen
Zeiten, da Er nur in mir und durch mich lebte?
Wo die Verhältnisse, die ihn allein an mich ban-
den? Wo die Reize, die er einzig in meinem
Umgang fand ? — Ach ! von allem dem ist nichts
mehr vorhanden, als das traurige Andenken, das mir
nur schmerzhafte Erinnerungen gibt! Und nun, was
ist zu thun — bei solcher Sachlage, wo ich mit großem
Aufwände von Kräften, mit Zeitverlust, mit star-
kem Geldauslegen, selbst auf Kosten meiner Ehre
und mit enormen Schulden, ohne Kredit, ohne
Gesundheit — keine Zwecke erreicht habe, als
die, welche der Zufall mir in die Hände
schickte oder in meine Lebensbahn warf??? —
Aenderung, Besserung, Hemmung der Leiden-
schaften, Herrschaft der Vernunft! Aber dann
auch Kälte gegen Daniel, Zurückziehung von ihm,
Ernst gegen ihn lind öftere Objurgation mit Ver-
nunft. — — Ha! herrliche Käthe, wenn man
noch im Labvriuth der schrecklichsten Verhält-
nissc ist und ohne ein Wunder sich nicht heraus-
winden kann ! O, wenn ich noch einmal wieder auf
deu alten Standpunkt käme, wie wollte ich mich
ändern, wie meinen ehedem festgesetzten Lebens-
plan konsequent ausführen! O Deus adjuvet!
Möge es noch heute geschehen! Dann würde,
dann müßte eine neue, herrliche Morgenröthe auf-
gehen in Erkennung wie im Handeln!
1817: Den 0. Juli — geht Daniel H. wieder am Abend
1 Stunde fort und richtet Verdruß im Hause an.
7. Juli: Derselbe ist den ganzen Tag krank; ihm
eine Arznei gegeben. Des Abends ein schreck-
liches Wetter; Einschlag in Bleybach.
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1817 : 8. Juli: Von J. J. Christen Avis vom Leeraus-
gehen meiner Lotteriezedeln. Soll ich denn Alles
verlieren und will Niemand und nichts mir helfen ?
10. Juli: Daniel H. geht am 9. Juli den ganzen
Tag fischen.
11. Juli: Von Bruder Emanucl Desgouttes einen
impertinenten Brief empfangen . . .
14. Juli: Von nun an bemerke ich Daniels Ab-
wesenheiten, Entfernungen und Regellosigkeiten
nicht mehr. Es gibt mir zu viel zu thun. Das
bemerke ich noch, daß Er in diesem Monat bei C»
Stunden sich hin und her absentirte und mich
unendlich reizte. Dennoch will ich hoffen, es
werde Alles noch zum Besten kehren und in
dieser Voraussetzung und weil mir solche Noten zu
viel zu thun geben, unterlasse ich es. Ebenso
mit dem Geben und Schenken.
1(5. Juli: Mit Sack und Pack gezügelt, d. i. dclo-
girt und in's neue Haus, den Bärenstock, trans-
portirt.
25. Juli: — Daniel — ich rufe wie einst Gott
unser Herr:
Saul, Saul, was verfolgest du mich? — denk* an
Donnerstag!!!
Damit bricht Franz Desgouttes' Tagebuch plötzlich
ab — es schließt mit einer Drohung, welche besagen
will, der Schreiber werde es dem Hemmeier nie vergessen,
«laß dieser am Donnerstag, beim Einzug in das neue ge-
meinsame Heim, den ersehnten Frieden in's Haus nicht
habe bringen wollen !
In diesem Tagebuche vielfach rührenden Inhalts hat
der Liebhaber Hemmeler's mit großer Peinlichkeit selbst
über die unbedeutendsten Geringfügigkeiten, die er seinem
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— 607 —
Liebsten zuwendete, genau Buch geführt und alles mit dem
Kostenpreise versehen; du finden sich immer wieder
Speisen, wie ßrödchen, Brezeln, Kuchen, Eier, Zucker,
Chocolade, Thee, Milch, Bonbons, Nüsse, Kirschen,
Trauben, Wein, Liqueur, Medizin und ihr Geldwert und
zwischendurch Ausstattungsgegenstände, wie Strümpfe,
eine seidene Weste, ein Spazierstock, ein Jagdgewehr und
deren Kosten — alles für den Hemmeier bestimmt —
aufgezeichnet. Und diese seine Eigenart erklärt er, indem
er — das einzige Mal an seinen Leser sich wendend —
in seinem Tagebuche niederschreibt:
1816: 21. Dezember: Dem Daniel Hemmeier allerhand zu
Gefallen gethan, mit Aufmerksamkeiten aller Art.
Du, der du einst etwa dies lesen mögest, glaube
nicht, daß Prahlsucht die Feder führte, als ich
das, was ich dem Daniel H. that, fleißig aufzeichnete.
— Nein! gewiß nicht. Sondern einzig die Sucht,
um mich von Zeit zu Zeit zu erinnern, daß ich
meine Liebe zu ihm in allerhand kleinen Aufmerk-
samkeiten zeigte und zugleich damit Er mir nicht
vorwerfen könne, ich besolde ihn zu wenig.
*
So nahte denn wohl vorbereitet die Katastrophe.
Desgouttes versuchte noch einmal, den Hemmeier zu er-
weichen; er gab diesem, während er krank lag, seine Ent-
lassung; es geschah das in keiner andern Absicht, als den
Jüngling „in sich selbst zu nöthigen", um längeres Ver-
bleiben in des ältern Freundes Hause anzuhalten, womit
ja dann freilich Desgouttes' Zweck, den Hemmeier von
sich völlig abhängig zu machen, beinahe erzielt gewesen
wäre; doch war die Kündigung dem Liebhaber im ge-
ringsten nicht Ernst, denn schon bei dem ersten Ausbruche
des Bedauerns seitens des Hemmeier blutete sein Herz.
Hemmeier aber war zu kalt und zu verschlossen, als daß
er sich offenherzig gegen Desgouttes hätte aussprechen
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— G08 —
mögen. Die Dienstmagd Salome Anderes war sehr ver-
wundert, als sie durch ihren Herrn vier Tage vor dem
Morde, am 25. Juli, erfuhr, ihr Neffe Hemmeier komme
fort; denn Hemmeier hatte es der Tante verschwiegen
und nun wollte diese ihn nicht fragen, weil er krank war.
Am 20. Juli müssen die Spuren geistiger Verwirrung bei
Desgouttes schon recht deutlich hervorgetreten sein; denn
der Pfarrer Friedrich Rütimeyer, der ihn, mit dessen
Vater er befreundet gewesen war, an diesem Tage in
seiner neuen Wohnung zum ersten und letzten Male be-
suchte, eilte bald weg, weil er aus Desgouttes' tiefliegen-
den Augen und entflammtem Gesicht schloß, daß es mit
ihm nicht ganz richtig sei; seine Blicke blieben, so sehr
er bemüht war, sich Zwang anzutun, wild und verstört.
In diesen Tagen des eigentlichen Mordentschlusses be-
lebte den Verzweifelten einzig der grobsinnliche Trieb
des Genusses oder der unausweichliche Drang des Mordens
mit der Absicht, zum Genüsse zu gelangen, der den
Unglücklichen zu der grausigen Tat bestimmt haben
mag. Am 27. Juli, einem Sonntag, besuchte er noch des
Abends um 10 Uhr die Familie des Schreiners Jakob
Herzig Vater und traf die Eltern und das achtjührige
Töchterchen bereits im Bette an; er veranstaltete mit
Hülfe des zweiundzwanzigjährigen Sohnes Jakob, den er
fortschickte, um Wein, Bier und Kssen zu holen, ein
Gelage, bei welchem er viel mit dem Säbel spielte und
den einfachen Leuten, deren Umgang er vor anderen den
Vorzug gab, zeigte, wie schön sein Säbel sich biegen
ließe. Am Montag, den 28. Juli, morgens, begab sich
Desgouttes in das Bett des Hemraeler und machte gegen
den Erwachenden allerhand unzüchtige Geberden, infolge
deren der Ueberraschte mechanisch aus dem Bette heraus-
und wieder hineinsprang und bestimmt erklärte, daß er
lieber sterben, als dem Willen Desgouttes' sich fügen
wolle ; nun stellte sich der Peiuiger, als ob der erwartete
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— 609 —
Widerstand des Jünglings ihn mit Bedauern und Herze-
leid erfülle, er bat ihn knieend um Verzeihung, die er
auch erhielt, und versprach ihm, dergleichen ihm nicht
mehr zuzumuten ; dieses ganze Spiel aber führte Des-
gouttes in der einzigen Absicht auf, den Hemmeier mit
einem Federmesser, das er bei sich führte, zu verletzen
oder zu töten und ihn dann zu vergewaltigen; war er
doch mit Mordplänen des Nachts eingeschlafen, mit
solchen in der Nacht aufgewacht und mit ihnen des
Morgens aufgestanden; aber als er nun glaubte, sein
Opfer beruhigt zu haben, und seinen Mordplan ausfuhren
wollte, da setzte der Bedrohte mit jammernden Worten
sich zur Wehr, und mit dem Ausruf des Mitleids:
„Lebe!" ließ Desgouttes noch einmal von seinem Vor-
haben ab; er ging in sein Schlafzimmer und onanierte.
Um 9 Uhr begab er sich zu seiner Zerstreuung in die
Wohnungen Herzig's und Bracher's. Während des Nacht-
essens kam die Frau Rosina Dennler zu Desgouttes; dieser
verließ den Tisch, zeigte ihr sein neues Heim und be-
merkte dabei, daß der Herameier das schönste aller
Zimmer habe; so könnte doch, meinte er, nichts mehr
fehlen an seiner Zufriedenheit, da Hemmeier beinahe
Meister wäre und hätte, was er wollte. Noch nach dem
Abendessen rieb er, als er sich mit Hemmeier allein be-
fand, nüchtern dessen Pudenda mit einer Komposition von
Cautharidenessenz, Salmiakgeist und Oel ein, „bloß um zu
beschauen"; dieses hat den Hemmeier „mannbarer" ge-
macht, aber eine Ejakulation nicht hervorgerufen. Als-
dann, gegen 10 Uhr, ist Desgouttes wieder zu Bracher's
gegangen, hat dort eine halbe Stunde verweilt und in
einem kleinen Rausche von allerhand Sachen, besonders
aber von dem Hemmeier gesprochen, wie er das schon
vorher gegen 6 Uhr getan hatte. Nachdem er die ein-
fachen Leute verlassen, lief er über das Kircheufeld zu
hinein Mädchen, das er beschlief, und traf um 11 Uhr
Jahrbucb V. 39
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— 610 —
wieder in seinem Hause ein; als er hier sein Zimmer be-
trat, rief ihm Hemmeier zu, er sei eben noch rechtzeitig
eingetroffen ; Desgouttes aber scheute sich, zum Hemmeier
hinüber zu gehen, weil er nicht wollte, daß dieser seine
Trunkenheit bemerke. Um halb 12 Uhr trat er an die
Tür des Schlafzimmers der Dienstmagd Salome Anderes,
pochte an, gab auf die Anfrage der Magd, was er wolle
und ob sie aufstehen solle, die Antwort „nein!" und ging
wieder fort. Nach festem Schlafe wachte er in der
Morgendämmerung gegen 3 Uhr mit wehmütigen Em-
pfindungen auf, erhob sich, ergriff eine kleine Flasche
Liqueur, die auf dem Ofen stand, und trank in Hast da-
von; da fuhr ihm der Gedanke durch den Kopf: „Wie,
wenn du ihn jetzt tötetest?" Und dann wieder: „Wenn
du seiner noch vorher genießen würdest?* So stand er
im bloßen Hemde in seinem Schlafzimmer am Ofen.
Schnell trank er, wie um sich Mut zu holen, die Flasche
bis fast auf den Grund leer und geriet, ein zum Morde
geeignetes Instrument suchend und ein Taschentuch er-
greifend, in entsetzliche Wildheit, in „Kannibalenwut* ; in
der Mittelstube fand er einen Pfriem, warf ihn aber
wieder hin, indem er dachte, durch ihn würden Hemnieler^
Leiden zu lange währen und die lange Leidenszeit könnte
den Mörder verraten; dann stieß er auf ein frisch ge-
schliffenes Messer, das er schnell ergriff und öffnete;
dieses in der rechten Hand haltend, stürzte er in
Hemmeler's Schlafzimmer. Hier lag der Schutzlose mit
unbedeckter Brust auf dem Rücken im Bette, seine
linke Seite dem Trunkenen zugewendet. Dieser suchte
mit der linken Hand die Herzgegend und versetzte ihm
mit dem Messer einen Stich dahin. Mit der Frage: „Was
soll das?* schlug Hemmelcr die Augen auf, schrie zwei-
mal laut und warf sterbend einen wehmütigen Blick auf
seinen unglücklichen Mörder; da hörte dieser die Magd
vor der verschlossenen Türe fragen, was dem Daniel
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— 611 —
fehle, weshalb er schreie, und er gab zur Antwort :
„ Hemmeier träumt nur; es ist nichts!" Die große Menge
des aus der Wunde des Verblutenden hervorsprudelnden
warmen Blutes versetzte den verstörten Mörder in
Schrecken und Grausen und er rannte in sein Zimmer, von
wirren Gefühlen bestürmt; so war ihm noch nie gewesen.
Auf einmal wachte, als wenn dem Drama der Schlußakt
fehlte, seine Wollust auf und ging schnell in Satyriasis
über; er eilte in das Zimmer des Hemmeier zurück und
deckte den verblutenden Körper bloß; allein der Anblick
des Erstarrenden erfüllte ihn mit physischem Abscheu
gegen Befriedigung seiner Sinnenlust. „Boshaft wütend"
über die Unmöglichkeit, unter solchen Umständen Wollust
ausüben zu können, goß er ein Fläschchen Scheide wasser
auf die Geschlechtsteile seines Opfers hin und fühlte
jetzt auch moralischen Abscheu gegen die Luststillung;
so ergriff er, wie zum Abschied, des Geliebten Hand und
zog die Decke über den Leib des Sterbenden bis an den
Hals; sein Entsetzen ging in Wehmut und völlige Ab-
spannung über und so drückte er dem, den er über alles
geliebt hatte, die Augen zu. Dann packte ihn die Angst
vor Entdeckung, die Furcht vor der Schande, welche er
seiner Familie bereitet, und er kroch auf allen Vieren
durch das Mittelzimmer, dessen Fenster nicht verschleiert
waren, in sein Schlafgemach, kleidete sich an und verließ
das Haus — ohne Plan und ohne klare Besinnung. Er
fühlte noch große Liebe zum Leben, war sich noch nicht
klar über den unersetzlichen Verlust, den er sich selbst
bereitet hatte, und wähnte noch, der Welt durch ein
nützliches Leben, dem er fortan sich widmen wollte, mehr
bieten zu können als durch einen schimpflichen Selbst-
mord. So wurde er gefangen, verhört, verurteilt und ge-
richtet, wie im T. Abschnitt dargestellt ist.
39»
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I
— 612 —
IV. Die Beurteilung des Falles Desgouttes
durch Zschokke und Hößli.
In Heinrich Zschokke's „Gespräch über die Liebe" lenkt
sich die Unterhaltung „gleich anfangs, wie dies immer zu ge-
schehen pflegt, auf die widerlichste Merkwürdigkeit des
Tages*: die Ermordung des Hemmeier (Walter) durch
Desgouttes (Lukasson). Den Wortführern des Gesprächs
erscheint die verbrecherische Tat um so rätselhafter, als
Desgouttes den hingemordeten Freund noch bis zum
letzten Augenblicke geliebt und denselben im Schlafe
erstochen hat; so konnte sie, nach jedermanns Urteil,
doch nur in einem Anfall von Wahnsinn geschehen sein.
War es doch bekannt, daß Desgouttes, von jeher unge-
stümen und mit sich selbst entzweiten Wesens, zwischen
leichtsinnigen Ausschweifungen und schwermütigen Bereu-
ungen schwankend, zuletzt immer das unselige Mittel
der Selbstbetäubuug durch starke Getränke ergritt' Die
Frage, wie der tugendhafte Jüngling Hemmeier eines
solchen Ungeheuers Freund sein konnte, wird dahin
beantwortet, daß auch sein Mörder, ungeachtet seiner
Leidenschaften und Vcrirrungen, doch im Besitze von
Tugenden, die ihn liebenswürdig macheu konnten, gewesen
sein mußte. Man kommt darin überein, den Verbrecher
nicht zu verdammen: weil böse Taten überhaupt nur aus
Irrtum oder Krankheit des Gemüts geschähen; Desgouttes
aber wurde durch eine unharmonische Entfaltung seiner
Natur zum Verbrechen hingejagt; er ward durch eine
wütende, alle Vernunft, alle Tugend zerstörende Leiden-
schaft, welche er nicht zur rechten Zeit meisterte und
welche ihn zum Wüstling machte, unglücklich und endlich
zum rasenden Mörder. Desgouttes „mußte nicht nur nach
dem Gesetz sterben, sondern er war auch strafbar."
Holmar, der in Zschokke's Gespräch Hößli's Idee vertritt
und (S. 270) von sien selber gesteht, er wäre vielleicht
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auch unglücklich geworden, wenn er als Jüngling den
mit unbestimmter Sehnsucht gesuchten Freund gefunden
hätte, steht mit seiner Auffassung allein: „In Griechen-
land wäre er vielleicht der großen Künstler, der Weisen
oder Vaterlandshelden einer geworden, durch die Freund-
schaft der Seelen, bei uns ward er dadurch Mörder und
die Gesetze führten ihn zum Rabenstein. Sein ganzes
Leben voller Widerspruch und Verirrung; sein Alles-
opfern für den Geliebten; sein ewiges Bemühen, diesen
zum vollkommensten, tugendhaftesten und edelsten Mann
zu bilden; sein Kampf mit sich und einer Leidenschaft,
die ihn irre an sich selbst machte; seine Anstrengungen,
Zerstreuung zu finden; sein geflissentliches Streben, sich
selbst mit geistigen Getränken zu betäuben; seine wieder-
holten Entschlüsse zum Selbstmord ; endlich die Ermord-
ung des Freundes — Alles erklärt sich aus seiner nicht
anerkannten Seelenberechtigung. •
* *
*
Und hören wir nun Hößli selbst, so sieht er in
Desgouttes „eine Natur, die in sich, in ihren Tiefen,
verborgnen Lebenswurzcln, uns unsichtbar, doch ewig
gewiß, alle jene Blumen und Kunstgestalten der griechi-
schen Muse des Eros, wie die Qualen und die Verworfen-
heit eines Desg. verbindet." (Eros II Seite 351) „er, der
Ermordete, war zwar ein Mörder, aber unsere Irridee hat
ihn zuerst zum verlornen und lasterhaften Menschen und
endlich dadurch zum Mörder gemacht; er hatte weder
eigentliches Dasein noch Leben mehr zu verlieren, darum
spielte er mit beiden fürchterlich ..." (Eros II 213).
Die ganze Fürchterlichkeit solcher Wesen wie Desgouttes
erklärt Hößli für begründet durch moralische Zernichtun^
in Folge ihrer völligen Verkennung und daher für not-
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— 614 -
wendig und natürlich. Eine Bestätigung für die Richtig-
keit seiner Auffassung des Wesens Desgouttes' sieht er
in dessen Verhalten nach der Gefangennahme unter dem
suggestiven Einflüsse seiner Richter, besonders in der
rührenden Standrede. „Wenn ich," sagt Hößli (Eros I S.
61), „in Dr. J. F. Eisenharte Rechtshändeln des achtzehn-
jährigen, am 10. Juni 1651 verbrannten Mädchens letzte
Worte im Briefe an ihre Mutter (sie war zu ihrer Zeit
ein sehr gebildetes Mädchen, gebildeter als Desgouttes
in der seinigen war) lese: „Aber ich habe nun Gnade
gefunden, dem Teufel abgesagt, mich zu meinem Jesu
begeben, bei dem will ich nun leben und sterben ! Amen.
Amen", so habe ich auch den armen unglückseligen
Desgouttes leibhaftig vor mir."
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6. Herzog August der Glückliche
(1772—1822)
(mit 5 Textbildern).
KaXov tm6Q tov xalov ^n/jaxeiv
(Im Genüsse des Schönen sterben ist schün)
Epigraph August des Glücklichen.
„ . . . er war eine so buntschillernde
Erscheinung, daß man mit wenig Worten
Uber ihn nicht auskommt"
H. A. 0. Reich ard 1877, 505.
Aemil Leopold August, der zweitgeborene Sohn
des Herzogs Ernst II. von Sachsen-Gotha und Altenburg
mit der Herzogin Charlotte, der Tochter des Herzogs
Anton Ulrich von Sachsen - Meiningen, erblickte am
23. November 1772 in Gotha das Licht der Welt. Von
seinen drei Brüdern — Schwestern hatte er nicht —
— wurde der jüngste, Ludwig, 1777 geboren, nur 6 Tage
alt und der älteste, der am 27. Februar 1770 geborene
Erbprinz Ernst, starb bereits im Alter von 9 Jahren
(November 1779). Die Erziehung der beiden übrig
gebliebenen jungen Prinzen, Augusts, der nun Erbprinz
war, und seines um 2 Jahre jüngeren Bruders Friedrich,
leitete anfangs der aus Stuttgart berufene Freiherr Joachim
Erust von der Lühe und späterhin der waadtländische
Naturforscher Legationsrat Samuel Elisa von Bridel-
Brideri. Da beide Knaben von zarter Gesundheit zu
sein schienen, so wTurden sie von den besorgten Eltern zu
ihrer Kräftigung im Jahre 1788 nach Genf geschickt ;
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— 616 —
hier erlernte der Erbprinz die Beherrschung der franzö-
sischen Sprache. Erst 1791 kehrten beide Prinzen nach
Gotha zurück. Daheim waren Vorlesungen des jenaischen
Professors Ulrich über Philosophie, des Geheimrats von
der Becke über Geschichte und über Staatsrecht des
deutschen Reichs, des Archivars Welker über die vater-
ländische Geschichte bestimmt, der allgemeinen Bildung
der beiden Jünglinge den Abschluß zu geben. Alsdann
nahm der Erbprinz August an den Sitzungen des
Ministeriums teil, um mit den Regierungsgeschäften ver-
traut zu werden.
Noch nicht 25 Jahre alt, vermählte sich der Erb-
prinz August auf den Wunsch seines Vaters am 21.
Oktober 1797 mit der am 19. November 1779 geborenen
achtzehnjährigen Prinzessin Louise Charlotte von
Mecklenburg-Schwerin r), welche aber, nachdem sie dein
Gatten am 21. Dezember 1800 ein Töchterchen Louise
geschenkt hatte, schon am 4. Januar 1802 im Wochen-
bette verstarb. Schon ein und ein drittel Jahr später,
am 24. April 1801, ging der Erbprinz eine zweite Ehe
ein mit der ihm ziemlich gleichalterigen Karoline Amalie,
der jüngsten, am 11. Juli 1771 geborenen Tochter des
Landgrafen und späteren Churfürsten Wilhelm von
Hessen-C assel, eine Ehe, welche kinderlos geblieben ist.
Nach dem Ableben seines Vaters Ernst II. am
20. April 1804 trat der Erbprinz, 31 Jahre alt, als
Herzog August die Regierung des Herzogtums Sachsen -
Gotha und Altenburg an; er hat sie in einer für ganz
Deutschland äußerst kritischen, durch die Schlacht bei
Jena genügend gekennzeichneten Zeit achtzehn Jahre
•) Ueber die erste Gemahlin des Erbprinzen August, Louise
Charlotte, eine Tochter des nachmaligen Großherzogs Fr. Franz
von Mecklenburg-Schwerin mit der Prinzessin Auguste, Tochter
des« Prinzen Johann August von Kode, äußert sich 1902 Katharina
von Bechtolsheim Seite 111—112.
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— 617 —
hindurch glücklich geführt; „er hatte ein unerschütter-
liches Vertrauen auf sein Glück, wie er denn auch zu
sagen pflegte, daß, wenn er einen Beinamen führen
sollte, es der des Glücklichen sein müßte." *) «Klug be-
sorgt und umsichtig lavirte er, ohne seiner Würde etwas
zu vergeben, durch die schwierigen politischen Ver-
hältnisse, die Deutschland einen andern Charakter gaben,
so daß Napoleon selbst ihn einen der geistvollem deutschen
Fürsten nannte.* 2) Schnell und unerwartet starb der
Herzog, der niemals ernstlich krank gewesen war, noch
nicht volle 50 Jahre alt, am 17. Mai 1822 in Folge „einer
in den Körper geschlagenen Flechte" *) nach kurzem
Krankenlager und wurde auf der „Insel* im Park zu
Gotha neben seinem Vater und seinen im Tode ihm
vorausgegangenen beiden Brüdern beigesetzt.
Herzog Augusts zweite Gemahlin4) überlebte den
Gatten sechsundzwanzig Jahre; sie starb am 22. Februar
1848 und wurde zu ihrem Gemahl auf der Parkinsel be-
stattet. Mit Augusts jüngerem Bruder Friedrich6),
seinem Nachfolger in der Regierung des gothaischen
Landes als Friedrich IV., der unter der Wirkung eines
Gehirn polypen nach kaum dreijähriger Regierung schon
am 11. Februar 1825 verstarb, erlosch sein Stamm.
Durch seine einzige Tochter Louise6), die spätere
*) Jacobs 1822, Seite 499— f»00; Beck I 1868, Seite 481.
2) v. Weber 1 1864, Seite 322. — 9) Beck 1875 Seite G83.
*) Uober Augusts zweite Gemahlin, Karoline Amalie, üuüert
sich Louise Seidler 1874 Seite 80 und Katharina von Bechtolsheim
1902 Seite 112.
ft) Sein liebenswürdiges Wesen hebt v. Weber I 1804 S. 374
hervor und sein schreckliches Leiden schildert H. A. 0. Reichard
1877 Seite 610-514.
*) Nach Galletti V 1824 S. 26 hieß sio Dorothee Louise, nach
Beck 1 1868 S. 430 Louise Pauline Friederike Charlotte Auguste;
Uber sie handelt Louise Seidler 1874 S. 86-88, welche mit ihr be-
kannt wurde zur Zeit, als sie noch Herzogin von Coburg war.
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— G1S —
Gemahlin des Herzogs Ernst von Sachsen - Coburg-
Saalfeld, deren zweiter Sohn, Albert, Prinzgemahl der
britannischen Königin Viktoria wurde, ist Aemil Leopold
August Urgroßvater des gegenwärtig regierenden Königs
von England, Eduard VII.
*
Aemil Leopold August machte als Herzog einen
Unterschied zwischen seinen Taufnamen Aemil und August;
seines Rufnamens August bediente er sich als Regent und
in Geschäftssachen, den Namen Aemil, den er seinem
Paten Friedrich dem Großen folgend und diesem zum
Andenken Emile schrieb, gebrauchte er als Mensch im
freundschaftlichen Verkehre und in seinen Briefen.1)
Diese Doppelnamigkeit war nicht eine leere Spielerei,
sondern von tieferer Bedeutung und dem Herzoge,
dem das reiu Menschliche hoch galt, ein inneres
Bedürfnis; er selbst versicherte, als er das Gesuch
einer sehr geliebten Person nicht erfüllen konnte, auf
den durch seine Unterschrift bezeichneten Unterschied
des Fürsten und Freundes verweisend, als August nicht
erfüllen zu können, was er als Aemil gern gewünscht
hätte.2) Es läge daher nahe und ist auch vorgeschlagen
worden, in eiuer Lebensbeschreibung des Herzogs seine
Namen Aemil und August zur Inhaltsbezeichnung ihrer
zwei Hauptabteilungen zu verwenden.8) Es kann indessen
hier der Ort nicht sein, den Regenten August zu schildern;
vortreffliche Charakteristiken desselben haben von
Wüstemann, Eichstädt und diesen folgend von Lupin auf
Illerfeld, ferner Galletti, Beck und der geheime Kriegsrat
H. A. O. Reichard entworfen. Die Behauptung, um die
Regieruug seines Landes habe sich Herzog August wenig
») von WUsteniann 1823 Seite 7.
«) von WUfltemann 1823 Seite 7—8.
■1) von Wüsteinann 1823 Seite 8.
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— 619 —
gekümmert, er habe sie lediglich seinen trefflichen
Ministern überlassen1), deckt sich weder mit dem Hinweise
auf „oft sehr bedenkliche Regierungs-Geschäfte" des
Herzogs*), noch mit der bestimmten Angabe, daß viele
Aenderungen seiner Regierung aus seinem Geist hervor-
gegangen sind*), noch mit der Versicherung, daß er die
Regierungsgeschäfte, die er mild und gerecht führte, bis
zu seinem Ende ohne Aufschub erledigte.4) Als Regenten-
Tugenden des Herzogs August werden hervorgehoben
sein ausgesprochener und unbeugsamer Sinn für Recht
und Billigkeit5), welcher ihn nicht nur hinderte, jemals
den Lauf eines gerichtlichen Verfahrens zu hemmen6),
sondern auch dahin führte, daß aus seiner Regierungs-
zeit nicht ein einziger Gewaltstreich, nicht eine einzige
vorsätzliche Ungerechtigkeit zu berichten ist.7) Der
Herzog ehrte Anhänglichkeit8), aber er besaß auch
selbst diese Tugend und harrte in schwerer Zeit bei
seinem Volke aus ohne Furcht um seine Person.9) Er
war ein eifriger Wohltäter seines Landes10) und trug
Sorge für die Verschönerung seiner Residenzstadt.11)
Jedermann aus seinem Volke stand der Zutritt zu ihm
offen.12) Auch liebte er das Volk und ganz besonders
seine Altenburger Bauern, die er seine „Rembrandts" zu
nennen pflegte.18) Als er im Februar 1819 zum Landtage
in Altenburg weilte, erschien er auf einem am 2. Februar
von der vereinten Kasino- und Ballgesellschaft im Gast-
hofe zum Hirschen veranstalteten Maskenballe in der Tracht
eines Altenburger Bauern, begleitet von der Frau Hofrat
») Louise Seidler 1874 Seite 84. — ») Galietti V 1824 Seite 42.
— ») von Wllatemann [Geh. Kanzleisekretär] 1823 Seite 20. —
*) Jacobs VII 1840 Seite 177—178. — %) Reichard 1877 Seite 183.
— ") Derselbe Seite 490. — 7) Derselbe Seite 482—483. — *) Der-
selbe Seite 482. — ") Derselbe Seite 484; Jakobs VII 1810 Seite 178.
— I0) Reichard 1877 Seite 484. — u) Derselbe Seite 484. —
»*) Derselbe Seite 479 — u) G. bei Hennings 1832 Seite 27.
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- 620 —
Pierer als seiner Bäuerin; er hatte, anstatt einen Hof-
schneider mit der Anfertigung eines solchen Bauern-
anzuges für sich zu betrauen, das Festkleid, welches er
trug, von dem Bauern Michael Pohle entliehen und stiftete
diesem dann für seine Gefälligkeit einen silbernen Becher
mit der Inschrift: „Ehret der Väter Sitte und ihre
Tracht." Erst nach 11 Uhr hat er den Ball, auf dem er
sich zwanglos bewegte, verlassen. Aus Dankbarkeit
brachten die Altenburger Bauern dem Herzoglichen Paare
durch acht Deputierte, je vier Männer und Frauen, im
März 1819 als Geschenk die vollständige Tracht eines
Bauern und einer Bäuerin, welche der Herzog und die
Herzogin mit Hülfe der Deputierten anlegten; bei diesem
Anlasse äußerte launig der Herzog, er werde nun endlich
so glücklich sein, die Waden seiner Frau zu sehen, die
er noch nie zu sehen gekriegt habe.')
Bei so großen Tugenden bestanden die Regenten-
Schwächen des Herzogs hauptsächlich darin, daß er
Geldeswert nicht kannte2) und eine allzugroße Liebe zu
äußerm Prunke besaß8), welche ihn zu unnötigem Auf-
wand trieb.4) Auch herrschte am Hofe eine Günstlinge
Wirtschaft*); diese ging aber nie so weit, daß es möglich
gewesen wäre, den Herzog lange zu täuschen.0) „Nie-
mand besaß außer dem ihm angewiesenen Wirkungskreise
eine fremdartige Einwirkung; jeder Versuch, sie zu er-
langen, hätte sofortige Abfertigung oder (ging eine Er-
örterung vorher) nachher eine desto beschämendere zu
erwarten gehabt. Anmaßung und Unrechtlichkeit fanden
an ihm einen entschiedenen und offenen Feind."7)
* *
*
') Hempel 1819 besonders Seite 23—24; 35—36; 53—54; 65;
67; 79 und 83. — •) Reichard 1877 Seite 486. — *) Derselbe Seite
491. — *) Derselbe Seite 484—485. — 6) Derselbe Seite 486—487.
— «) von Wüsteraann 1823 Seite 9. — ') von WUstcmann 1823
Seite 14.
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— G21 —
Die Persönlichkeit des Herzogs als Mensch mit
wenigen Strichen zu zeichnen, ist eine Unmöglichkeit; nur
allzu leicht wird er dem, der ihn nicht begreift, zur
Karikatur1) . . „er war eine so buntschillernde Er-
scheinung, daß man mit wenig Worten über ihn nicht
auskommt."2)
„Einer der geistvollsten Fürsten, die ich kenne*3)
— „ein Fürst, der zu den merkwürdigsten Erscheinungen
unserer Zeit gehört"4) — „von unbezweifelbarer
Genialität, mit Excentricität gemischt*5) — alles dieses
sagt zwar mit wenigen Worten viel, erschöpft aber die
Eigenart des Mannes bei weitem nicht; mehr enthalten
schon die Epitheta: „geistreich und edel*8) oder „Große
Klugheit, kein bösartiges Herz, aber beißender Witz,
dabei Gefühl für Edelrauth — das waren allerdings die
Grundziige seines Charakters.*7)
Im Wesen des Herzogs August flößen zwei an-
scheinende Gegensätze zu einem nicht unharmonischen
Ganzen zusammen; das waren gewinnende Liebenswürdig-
keit und beißender Witz. Seine Liebenswürdigkeit konnte
bezaubern8); aber seine Satire schonte niemanden; bald
wirkte sie verblüffend, bald verletzend ; aber den, welchen
er beleidigte, versöhnte er durch Huldbeweise.9) Seine
beißenden Epigramme, Rätsel, Wortspiele und Witzworte,
die fast alle den Stempel plötzlicher Eingebung tragen,
so daß Jean Paul Friedrich Richter ihn ohne Schmeichelei
den „witzigsten Fürsten* nennen konnte10), wurden meist
») So nennt ihn Louise Scidlcr 1874 Seite 88 einfach „dieses
SröUte Original mner Zeit.4' - -) H.A. 0. Reichard 1877 Seite 505.
— ') Napoleon I. bei von Weber 186-1 Seite 821; 322; G. bei
Hennings 1832 Seite 27. — *) Jacobs VI 1837 (1828) Seite 450. —
ß) von Weber I 1804 Seite 373. — ö) H. A. 0. Reichard 1877 Seite
505. — ') Derselbe Seite 482. — H) wie sie den Komponisten Carl
Maria von Weber bezauberte; von Weber 1 1864 Seite 325. —
•) von Weber I 1864 Seite 328. — ,0) Richter 1805 Seite 14.
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— 622 —
bei Tische laut vorgebracht, durch die umstehenden
Dieuer weiter verbreitet und bisweilen zum Stadtgespräche.
„Die Vornehmen fürchteten daher diese Satyre des
Herzogs, weil sie oft wunde Flecke traf, und so wurde
manche Schlechtigkeit verhütet. Man scheute sich mehr
vor dein Herzog August und seinem Spott, als vor dem
würdigen Ernste seines trefflichen Vaters, der es höchstens
bei einem stummen Achselzucken bewenden ließ, wenn
es ihm zu arg wurde."1)
Leider sind die Scherze des Herzogs August nicht
gesammelt worden; immerhin wurde genug zur Charakter-
istik ihres Schöpfers durch den Druck bekannt2); nur
einige wenige für die Eigenart des Herzogs besonders
typische, aus Werken entnommen, in denen man sie kaum
vermutet, mögen hier Platz finden. Dem Kammerherrn
Ernst Ludwig Karl von Seebach, einem höchst achtungs-
werten Herrn von wenig gesellschaftlichen Talenten, der
neben ihm bei Tische saß, gab der Herzog das leicht zu
erratende Rätsel auf: „Was ist das? Die erste Silbe ist
ein großes Wasser, die zweite ist ein kleines Wasser —
das Ganze aber ist doch unbeschreiblich trocken."8) —
Auf einem Maskenballe bemerkte der Herzog, wie ein
junger Kaufmann namens Tröbsdorf, den er unter der
Verkleidung erkannt hatte, einer weiblichen Maske stark
den Hof machte; der Herzog trat auf ihn zu, klopfte
ihm vertraulich auf die Schulter und sagte laut: »Tröbs-
dorf mit der Elle — verliebt sich schnelle!" Der An-
') Reichard 1877 Seite 483—484. Derselbe sagt Seite 501 :
„Diese Spiele des Witzes zu sammeln, wäre ein verdienstliches
Werk" . . .
*) In der am Schluß aufgeführten Literatur sind deren etwa 80
enthalten; sie finden sich bei Appun, Beck (I 1868 Seite 449—451),
Förster (Iii 1817 Seite 787: IV 1854 Seite 834), G. bei Hennings
(1832 Seite 25—27), Keichard (1877 Seite 483; 495; 500—505),
Louise Seidler (1874 Seite 90—91) und von Weber (I 1864 Seite 323).
') „Anekdote" 1805; Louise Seidler 1874 Seite 91.
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— 623 —
geredete, welcher sein Gegenüber sofort erkannte, ant-
wortete mit großer Geistesgegenwart: „Ich führe meine
Elle mit Verstand — das Scepter ruht in August'*
Hand!" Weit entfernt, „dergleichen gegen ihn gerichtete
Sarkasmen" übel aufzunehmen, ergötzte sich der Herzog
darüber im Gegenteil außerordentlich; eine passende Ent-
gegnung imponierte ihm ; auch konnte er über eine solche
aus vollem Halse lachen1); Freimut und geistreiche
Lebendigkeit sprachen ihn an.2) — Eines Tages erschien
er bei einer festlichen Gelegenheit im Kreise des ver-
sammelten großen Hofstaates und sprach mit jedem der
Anwesenden außerordentlich freundlich einige Worte, die
indes auch jeden ein sehr verdutztes Gesicht machen
ließen. Als man sich nach der Feier eifrig fragte: »Was
hat der Herzog zu Ihnen gesagt?", äußerte der Erste:
„Wunderbar! mir sagte er höchst liebenswürdig: „Eins!
zwei! drei!". »Und mir", sagte der Nächste, „rief er
höchst herablassend in's Ohr: „Vier! fünf! sechs!", und
so hatte der Herzog, statt des ebenso wenig sagenden
Courgesprächs, zählend seinen fürstlichen Cercle gemacht. *)
Goethe teilt 1808 4) von ihm mit: „Ich habe mich nicht
über ihn zu beklagen; aber es war immer ängstlich, eine
Einladung zu seiner Tafel anzunehmen, weil man nicht
voraussehen konnte, welchen der Ehrengäste er schonungs-
los zu behandeln zufällig geneigt sein möchte'1. Und der
Herzog fragte eines Tages die aus Weimar gebürtige
Malerin Louise Seidler: „Was macht Euer Kunstpapst ?u
Damit raeinte er Goethe5). Auch nannte er Goethe einen
„Pedanten««).
-
») Louise Seidler 1874 Seite 91. — Sonderbar klingt gegenüber
diesem „Lachen ans vollem Halse" Jacobs Versicherung (VII 1810
Seite 177): „Sein Geist schien immer in Bewegung. Ich habe ihn
nie gähnen, aber auch nie von Herzen lachen gesehn". — e) Reichard
1877 Seite 882. — ') von Weber I 1864 Seite 323. — ") J. W.
von Goethe (1808) 27. Teil Seite 181 n. 695. — *) Louise Seidler
1874 Seite 90. — •) Beck 1 1868 Seite 448.
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— 624 —
Des Herzogs weiches, gefühlvolles Herz erfreute gern
andere; er war von so wohltätiger Sinnesart, daß ihm
nichts größere Freude bereiten konnte, als Geschenke zu
geben, worin seine Freigebigkeit keine Grenzen kannte1);
daß die Wahl seiner Geschenke bisweilen recht un-
zweckmäßig ausfiel, so wenn er einem Küchenjungen eine
astronomische Uhr schenkte, den Frauen kleiner Beamten
mit Blumenguirlanden gezierte seidene Schleppkleider an-
fertigen ließ*) oder aus Dankbarkeit kleine Gegenstände,
einen Fächer*), Ringelchen und dcrgl. fortgab, die für
jeden anderen, als einen Liebhaber wie er selbst,
wertlose Dinge waren4), kann seiner wohlwollenden Ge-
sinnung keinen Abbruch tun, da diese Geschenke für ihn
großen Wert besaßen und er sich dennoch ihrer ent-
äußerte, und konnte auch überdies in jedem Falle seinen
ganz besonderen Grund haben. Diese Freigebigkeit war
weit eutfernt, eine Schwäche zu sein, da der Herzog An-
maßungen auch seiner Begünstigten scharf zurückzuweisen
pflegte5). Eine ganz besondere Leidenschaft, welche viel-
leicht seiner Liebe zu Kindern entsprang, hatte er für
das Gevatterstehen : er bot sich selbst als Paten an, gleich-
viel, ob es sich um das Kind einer vornehmen Familie
oder um das eines Lakaien handelte0). Er anerkannte Ver-
dienste jeder Art, ermunterte Talente, unterstützte die Armut
aus seinen Handgeldern und begünstigte überall nicht die
Aristokratie der Geburt, vielmehr mit sichtlicher Vor-
liebe die des Wissens, des Könnens und der Bildung.7)
Des Herzogs Schwächen als Mensch bestanden gegen-
über allen diesen Vorzügen namentlich in grenzenloser
») Beck I 1868 Seite 446; Louise Seidler 1874 Seite 89.
9) Louise Soidler 1874 Seite 89. — *) Dem Oberbibliothekar Rat
Vulpius- Weimar nach G. bei üennings 1832 Seite 27; von Weber I
1864 Seite 823. — *) von Wober I 1864 Seite 374. — ») G. bei
Hennings 1832 Seite 27; Beck 1 1868 Seite 446. — •) Reichard 1877
Seite 500. — *) Herapel 1819 Seite 83.
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— 625 —
Eitelkeit1), Geneigtheit zum Zorn8), Neigung zur Reizbar-
keit8), Mangel an Geduld4), völligem Mangel an Ver-
ständnis für Geldsachen5) und daraus hervorgehender
Verschwendungssucht8). Es fehlte ihm, der viele seiner
Günstlinge verachtete, an einem von ihm geprüften, an-
erkannten und aufrichtigen Freunde, dessen ernste Vor-
stellungen seinem hellen Verstände eine würdigere Rich-
tung gegeben haben würden; Beweis dafür ist, daß er in
seinem reiferen Alter manche Auswüchse aus eigener
Ueberlegung beseitigte7).
Lässiger Bequemlichkeit ergab der Herzog sich allzu-
gern. Gegen Abhärtungen des Leibes besaß er starke
Abneigung. Ritterliche und militärische Uebungen, Reiten,
Jagen, Schießen waren ihm zuwider8). Die einzige Be-
wegung, welche ihm behagte, war der Tanz, dem er sich
mit Anmut und Grazie hingab; um die Tanzlust zu för-
dern, besuchte er auch Tanzvereine der höhern Stände
seiner Residenzstadt Gotha9). In den späteren Jahren
lag er viel zu Bett und erhob sich erst zur Zeit der
Mittagstafel; im Bette liegend, mit Ringen geschmückt,
empfing er Besuche, auch seinen Ministerrat und die
Gesandten, hier diktierte er seine Briefe und seine in
Worte gebrachten Phantasieen10). An eine geregelte
Lebensweise sich zu binden, widerstrebte seiner
Natur11).
Den Herzog beherrschte eine Prachtliebe, die er nur
schwer zu zügeln vermochte. Die Einrichtung seiner
») Reichard 1877 Seite 48ö; 486; 491—492. — ») G. bei Hennings
1832 .Seite 4. — ') Beck I 1868 Seite 447. — *) G. bei Henninga
1832 Seite 4. — ») G. bei Hennings 1832 Seite 26; Beck I 1808
Seite 447.— «) Louise Seidler 1871 Seite 89—90. — ;) Reicbard 1877
Seite 485. - h) Beck 1 1868 Seite 446—447. — 9) Eichstädt 1823
Seite 21—22; 1849 Seite 54; Galletti V 1824 Seite 41—42; Beck I
1868 Seite 447. — l0) Beck I 1868 Seite 447; Reichard 1877 Seite
494. u) Jacobs VII 1840 Seite 177.
J.hrbuoh V. 40
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- 62G -
Gemächer1), der Glanz des Hofes8), die zahlreichen
Stellen seines Hausstaats, welche er neu geschaffen hat8),
legen dafür Zeugnis ab; doch wird anerkannt, daß er
begründeten Vorstellungen, wie der des alten Obergärtners
Wehmeyer, der an der Ueberzahl der kostspielig zu
unterhaltenden Kieswege Anstoß nahm, obwohl er sich
anfangs solchen gegenüber ablehnend verhielt, in der Folge
doch sich zugänglich zeigte*); dagegen versagte sich der
Herzog ohne Schwierigkeit den Aufwand für Reisen in
entfernte Länder, für Jagden, für Theater, für Spiel und
für kostspielige Liebschaften mit Frauen5).
Herzog August gehörte der lutherischen Kirche an,
doch zeigte er eine ausgesprochene Vorliebe für [den
römisch-katholischen Kultus, „vielleicht nur, weil ihm
dieser die Farben darbot, deren er zu seinen Gemälden
bedurfte"0); er trat aber nicht, wie sein unglücklicher
Bruder und Nachfolger Friedrich, zur katholischen Kirche
über, nahm vielmehr wie sonst alljährlich auch auf seinem
Sterbebette das Abendmahl nach lutherischem^ Ritus 7)-
Lebhaftes Interesse gab er auch für die indischen.
Religionslehren kund8).
Seine politische Auffassung war der der Mehrzahl
seiner deutschen Zeitgenossen entgegengesetzt; er verehrte
schwärmerisch Napoleon; der Umschwung der Verhält-
') Beck 1 1868 Seite 442-444; Louise Seidler 1874 Seite 93
bis 94. Beschreibung des Fliederziinmers bei Appun "£ 1900. —
9) Reichard 1877 Seite 492. — s) Galletti V 1824 Seite 42. —
») Reiehard 1877 Seite 484. — s) Galletti V 1824 Seite.46— 47.^—
«) Jacobs VII 1840 Seite 177. — 7) Beck 1 1868 Seite 447—448. Nach
Reiehard 1877 Seite 505 verlangte er das Abendmahl von dem
greisen Oberhof'prediger Schäffer, der als Kanzelredner den auf ihn
gesetzten Hoffnungen nicht entsprochen hatte, nur um ihn nicht zu
kränken, mit der Begründung: „Ich schätze den Mann, denn er
glaubt, was er lehrt." — ") Louise Seidler 1874 Seite 160;.
ISO- 187.
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— 627 —
nisse im Jahre 1813, dem er sich klug unterwarf, berührte
ihn nicht angenehm1).
Dem Herzog August war ein so hochgradiger
Sammeltrieb eigen, daß er sein eigenes und ein geerbtes
enormes Vermögen durch Ankauf von Raritäten aller Art
verschwendete*); der Sammelgeist der sächsischen Fürsten
war auf ihn übergegangen; seine Wohnräume und sein
Schlafzimmer bargen reiche Galerieen von Seltenheiten
und Merkwürdigkeiten aus allen Gebieten der Natur, der
Kunst und der Literatur bunt durcheinander; so kam
unter anderem die Seetzen'sche (asiatische) Sammlung und
das auch jetzt noch bedeutende chinesische Kabinett des
Herzogs zu Stande8). Wenn Alex, von Sternberg sagt:
Herzog August war in China mehr zu Hause als auf dem
Friedensteine4), so ist das indes wohl nur eine von den
vielen in Bezug auf diesen Herzog beliebten Uebertreib-
ungen.
Die Beschäftigung mit Kunst und Wissenschaft, die
Unterhaltung mit durch Kenntnisse, Genie oder Bildung
ausgezeichneten Männern und literarisch gebildeten geist-
reichen Frauen zog Herzog August den gewöhnlichen
Hof Versammlungen vor5). Er selbst war mannigfach be-
gabt. Er hatte nicht griechisch gelernt, während sein
Vater den Homer- in der Ursprache lesen konnte, und
auch von den neueren Sprachen beherrschte er nur die
französische gut und sprach sie gern; erst nach und
nach wurden auch seine wissenschaftlichen Neigungen
ernster6); der Grundzug seines Wesens war eben ein
künstlerischer. Der VVitter'schen Schauspielergesellschaft
räumte er mehrere Jahre hindurch sein Hoftheater ein,
») Beck 1 1868 S. 147. — -) Louise Seid ler 1874 Seite 89. —
*) Reiehard 1877 Seite 496—199. — l) nach Beck 1 1868 Seite 415; wo
v. Sternberg diesen Ausspruch getan, ist mir verborgen geblieben;
Beck gibt es nicht an. — A) Galletti V 1824 Seite 41. — ") Jacobs
VI 1837 (18-J3) Seite 484; Reichard 1*77 Seite 493—494.
4M*
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— 628 —
erteilte aber hernach der Feuersgefahr wegen die Er-
laubnis nicht mehr1). Viel beschäftigte ihn das Zeichnen ;
er war Meister im Entwerfen und Ausführen besonders
landschaftlicher Gegenstände durch flüchtige Federzeich-
nung*). Kunstwerke der Architektur auszusinnen, war
eine seiner liebsten Beschäftigungen; nach seinen Angaben
entwarf ein talentvoller gothaischer Architekt viele Risse
von Bauwerken, in denen sich die reiche Phantasie oder
der richtige Geschmack ihres Erfinders zeigt Während
er diktierte, zeichnete er oft mit der Feder oder dem Bleistift,
um durch reiche, sinnvoll angelegte Landschaften, meist
Inseln, seine Besitzungen, wie er scherzte, zu vermehren ;
auch gelangen ihm Karikaturzeichnungen gut4); in den
Federzeichnungen kleiner Landschaften gelang ihm be-
sonders der Baumschlag4). Der Kandelaber auf der
Höhe von Altenbergen wurde 1811 nach dem Entwürfe
des Herzogs August errichtet*); mit der Ausführung
seiner Ideen konnte er den Maler Joseph Grassi*) vollauf
beschäftigen. Nicht minder lebhaftes Interesse wandte
er der Tonkunst zu, wenn auch zu tieferem Eindringen
und beharrlichem Fleiße seine Natur nicht neigte. Mit
Hülfe seines Kapellmeisters Louis Spohr und nach dessen
Fortgang Andreas Hombergs setzte der Herzog selbst
Lieder und Sonaten auf7). Einige seiner Gedichte wurden
durch Kompositionen von Himmel und Carl Maria von
») Galetti V 1824 Seite 41. - a) G. bei Hennings 1832
Seite 15 nota*). — ») Jacobs 1822 Seite 502; nach diesem von
Lupin auf Illerfeld 182(5 Seite 74; Beck I 1868 Seite 443. —
«) Reichard 1877 Seite 493 und 494. — B) Appun 1900. —
a) Ueber den Maler Professor Joseph Grassi 1756 — 1838, gebürtig
aus Udine, handeln Galletti V 1824 Seite 40; v. Sternberg 1857
Seite 94; Beck I 1868 Seite 445: Louise Seidler 1874 Srtte 249.
- 7) Jacobs 1822 Seite 502; VI 1837 (1823) Seite 465-466; Galletti
V 1824: von Lupin 1826 Seite 74; von Weber I 1864 Seite 321:
326; 373-374; 381; Beck I 1863 Seite 440; 442; Reichard 1877 Seite
194-495.
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— 629 —
Weber dem weiteren Publikum bekannt1). Den größten
Teil seinerZeit aber nahmen sein ausgedehnter Brief Wechsel
und seine phantasiereiche schriftstellerische Tätigkeit in
Anspruch; lebte er doch in seiner Phantasie wie in der
Wirklichkeit; besaß er doch eine divinatorische Kraft oder
glaubte wenigstens an eine solche in sich und überredete
sich gern, daß auch seine Träume der Abdruck des
Wirklichen wären8). Bei seiner Schriftstellerei kam ihm
sein phänomenales Gedächtnis zu Statten8). Seine Schrift-
stellerei selbst aber, ebenso des Herzogs ausgesprochene
Weiblichkeit erheischen an dieser Stelle je ein besonderes
Kapitel.
Diese allgemeine Schilderung des Wesens des Herzogs
August beschließt wohl am besten eine auf manchen seiner
Porträts in Kupferstichen befindliche recht passende Unter-
schrift :
„Beschützer des Kechts, von den Musen geliebt und
der Grazien Zögling*'4).
Des Herzogs Weiblichkeit.
Alle Nachrichten über den Herzog August stimmen in
einem Punkte, der für die Beurteilung seiner Geschlechts-
natur von wesentlicher Bedeutung ist, überein: „Daß
ungeachtet des hohen Wuchses und der regelmäßigen
schönen Formen seines Körpers eine fast weibliche Weich-
heit bemerkt werden konnte"5) .... „Schlank und von
hohem Wüchse, hätte er im Bau der Brust, der Hüften
und Arme ein schönes Modell des Bacchus gegeben, die
Umrisse seiner Glieder waren leicht und fließend; Hände
und Füße vorzüglich schön; die Haltung des Körpers
') Jacobs VI 1887 (1823) Seite 4G5; Beck 1 1868 Seite 440.
— *) Jacobs 1822 Seite 502. — *) Derselbe 1822 Seite 502. —
4) Appun 1000. — ») Beck I 1868 Seite 429.
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— 630 —
zum weiblichen hingeneigt*1) .... „Obgleich sich sein
Teint und die Bildung seines Körpers zur weiblichen
Natur neigte, konnte er, bei seinem hohen Wuchs im
richtigsten Ebenmaaße, für einen schönen Mann gelten*2).
Lassen wir von den Personen, welche auf Grund
engerer persönlicher Berührung mit Aemil August wirklich
Beobachtetes über ihn berichten konnten, zuerst die
Frauen zu Worte kommen, so haben die Malerin Louise
Seidler und die Hofdame Katharina Bueil (spatere von
Bechtolsheim) ihn schon kennen gelernt, als er noch Erb-
prinz war. Die Seidler, eine Weimarerin, teilt mit, daß
der „phantastische Erbprinz* im Hause ihrer Tante Et-
tinger in Gotha verkehrte und auch nicht fortblieb, als
er den Thron bestiegen1), daß er nach einem Hof balle seine
sämtlichen Tänzerinnen mit Pariser Blumen fürstlich be-
schenkte4); seine zweite Gemahlin habe ihn, dessen Geist
sie anstaunte, schwärmerisch geliebt5); und sie schildert
den Herzog mit folgenden Worten: „Dieses größte Ori-
ginal seinerZeit war schön von Gestalt ; seine Erscheinung
hatte etwas Damenhaftes, besonders wohlgeformt waren
seine sorgfältig gepflegten Hände und seine Füße. Auch
der Kopf wäre schön gewesen, hätte ihn nicht ein schie-
lendes Auge verunstaltet. Barock in Allem, was er that,
liebte er es, bisweilen mit einem türkischen Shawl drapirt
oder in noch phantastischeren Costümen zu erscheinen.
Gewöhnlich trug er eine ä la Titus gelockte Perücke
vom zartesten Blond, die in Paris verfertigt war. Der
Herzogliche Bibliothekar und Sekretär, mein guter Onkel
Jacobs, berühmt als gelehrter Philolog, mußte zu seinem
größten Kummer sehr oft wegen dieser Perücke mit
pariser Friseuren correspondiren. Des Herzogs Finger
— die Daumen ungerechnet — strotzten von kostbaren
•) Jacobs 1822 Seite 497: wörtlich aufgenommen von Lupin
auf Illerteld 182(i Seite 70. — 2) G. bei Hennings 1832 Seite 3.
— ') Louise Seidler 1S74 Seite 32. - *) Dieselbe Seite 33. —
r') Dieselbe S.-ite H>.
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Aemil August als Erbprinz
(nach einem Oelgcmalde von Jos. Grassi).
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— 632 —
Ringen, die Arme von Spangen und Armbändern. Oft,
wenn er sich einbildete, krank zu sein, blieb er Wochen
lang im Bette liegen. Dort ertheilte er Audienzen und
empfing seine Damen. Als ich mit meiner Tante mich
einst nach seinem Befinden erkundigte, nahm er auch
unsern Besuch in seinem Bette liegend an. Während des
Gespräches streifte er den Aermcl seines weiten weißen
Nachtgewandes kokett bis an die Schulter zurück und
zeigte uns den mit einer ganzen Reihe der prachtvollsten
Armbänder geschmückten Arm. Den Kopf bedeckte eine
Art Haube, mit kostbaren Spitzen garnirt. Großen Werth
legte er auf die Toilette der Frauen, welche er mit
Kennerblick musterte; mit seinen Bemerkungen darüber
hielt er nicht zurück; „das ist ja ein wahres Pfauenkleid",
sagte er, als ich einst in einem Gewände von buntem
Seidenstoff erschien; bei einer anderen Gelegenheit rief
er aus: „Welch ein schöner, feiner Sammt!" und strich
mit der Hand über meinen Rock. Parfüms aus Paris
verbrauchte er in Menge; ein besonderes Vergnügen fand
er darin, Eintretenden ganze Gläser davon entgegen zu
schütten."1) B Uebertrieben eitel, wie Herzog August war,
hatte er die Eigenheit, sich von allen Malern, die nach
Gotha kamen, portraitiren zu lassen, um zu sehen, wie
jeder ihn auffasse. Ich hatte ihn zu malen in einem
violetten Sammetrock und einer Weste von Goldstoff.
Von dieser Weste erbat ich mir eine kleine Probe, um
den Stoff richtig nachzuahmen. „Nein!", sagte er, „keine
Probe, sondern ein ganzes Stück von der Goldtresse
sollen Sie haben." Wollte Jemand seine Freigebigkeit
abwehren, so verdoppelte er sie; ich weiß dies aus eigener
Erfahrung. Bisweilen genoß ich den Vorzug, mit ihm
und seinem Kammerherrn allein zu speisen; nach der
Tafel ging der Herzog auf und nieder und ließ sich von
') Louise Seidler 1874 .Seite 88—89.
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— 633
mir erzählen oder er that in seiner originellen Art allerlei
Fragen.*1) Das von der Seidler entworfene Bild des
Herzogs vervollständigt der folgende Zug: «Excellenz
von Thümmel, der vormalige Minister, war ein schöner,
origineller, geistreicher Mann, von dem die geheime Ge-
schichte berichtet, daß er sich die Gunst der damaligen
Erbprinzessin von Gotha, geboraen Prinzeß von Mecklen-
burg, erworben, deren weibischer Gemahl — der wunder-
liche Herzog August — dem Lande keinen Erben ver-
hieß.148) . . Katharina Freifrau von Bechtolsheim, geborene
Gräfin Bueü, etwa 15 Jahre jünger als der Herzog
August und Hofdame seiner zweiten Gemahlin, äußert
sich über diesen also: „An einem der Tage, die Frau
von Stael bei uns zubrachte, wobei sie von Benjamin
Constant begleitet wurde, kam auch Herzog August
von Gotha, um ihre Bekanntschaft zu machen, noch ehe
sie an seinem Hofe erschien. Was soll ich von diesem
seltsamen Manne sagen, der, von Phantasie, Witz und
Geistesfülle strotzend, der verkehrteste Kopf war, den
ich je gesehen? — Von meinen Kinderjahren an von
ihm mit zuvorkommender Güte überhäuft und bald nach
jener Zeit, hauptsächlich durch ihn, zur Hofdame seiner
Frau erwählt, begegnete er mir von Neuem auf das
Freundlichste. Gern las er mir und noch einigen Damen
seine Gedichte und Romanzen vor. Trotz aller Güte und
Zuvorkommenheit, die er mir beständig und bei jeder
Gelegenheit bewies, konnte ich ihm jedoch nicht nur
l) Louise Seidler 1874 S. 90. - *) Dieselbe S. 101. Und S. 86—87
sagt die Seidler mit Bezug auf die einzige Tochter des Herzog«,
Louise: „Auch die sarkastische Art des Herzogs hatte sicherlich
keine gute Wirkung auf das junge, leicht empfängliche tiemtith:
einmal hörte ich selber bei einem Souper im engeren Kreise des
Hofes, zu welchem ich mit meinen Tanten eingeladen war (die
Herzogin war nicht anwesend), was für unpassende Neckereien der
Vater sich gegen seine Tochter erlaubte." Leider verschweigt die
Seidler, welcher Art diese Neckereien waren.
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— 034 —
keinen Geschmack abgewinnen, sondern fühlte mich sogar
im grellsten Gegensatz zu seinem ganzen Wesen und
seinen phantastischen Anschauungen. Wie auf glühenden
Kohlen befand ich mich, wenn er mir dieselben im Feuer
der Rede auseinandersetzte, fa9t noch mehr als da er sie
vorlas. Ich konnte in meinem damaligen Alter viel
weniger als späterhin verbergen, was ich dachte und
fühlte, begreife daher "nicht, daß ich ihm nicht bald
ebenso unerträglich wurde, als er es mir gewesen. Ob
ihn davon bisweilen etwas anwandelte, weiß ich nicht,
jedenfalls konnte ich es nicht bemerken; sehr wunderte
ich mich, als er sich einstmals mit einer geistvollen
jungen Person, der Tochter des Dichters Gott er und
Schwester der Frau von Sehe Hing, verabredete, mich
in einem Sonett zu besingen, das sie mir, zugleich mit
dem ihrigen, zeigte. — 1 lerzog August traf mit Frau von
Stael bei uns gerade an einem Tage zusammen, an dem
sein phantastischer Kopf übersprudelte; die beiden konnten
über keinen Gegenstand einig werden. Ohne eigentlich
interessant zu sein, war das Gespräch in seiner Art
merkwürdig, ich fand es sogar ermüdend und wünschte
ihn in meinem Herzen weit hinweg, worin mir aber nicht
gewillfahrt wurde, und es dauerte übermäßig lange, bis
er uns verließ.*1)
Während das Ueb erweibliche im 1 lerzog August
auf beide Frauen unsympathisch wirkte, fällt das Urteil
der Männer mehr ungleich aus.
Goethe schrieb von ihm im Jahre 1808: »Des re-
gierenden Herzogs August von Gotha darf ich nicht
vergessen, der sich als problematisch darzustellen und
') von Bechtolsheim 1902 .Seite 103 — 105. Katharina von
Bechtolsheim, damals noch Gräfin Bueil, lebte bei ihrem Pflegevater,
dem französischen Enzyklopädisten und Literaten Friedrich Melchior
Baron von Grimm; der oben geschilderte Besuch der Madame de
Stai-1 fällt in das Jahr 1804.
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— 635 —
unter einer gewissen weichlichen Form angenehm und
widerwärtig zu sein beliebte" . .
- Der Philologe Friedrich Jacobs, dem der Herzog
August von 1810 ab viel in die Feder zu diktieren pflegte,
legt die weibliche Natur desselben in folgender Schilderung
fest: „Der Bau seines Körpers war ausgezeichnet zu
nennen, sowohl wegen seiner Größe, als wegen seiner
Regelmäßigkeit, Die starke Rundung seiner Hüften gab
ihm einen weiblichen Charactcr, dem auch die Weichheit
seiner Muskeln und die Weiße seiner Farbe entsprach.
Diesen äußerlichen Kigenschaften waren auch seine Nei-
gungen analog, die mehr den Stempel des Weiblichen als
des Männlichen trugen, seine Liebe zum Putze und, in
j ungern Jahren, zu phantastischer Bekleidung und zum
Gebrauche kosmetischer Mittel. Auch Anderes hing durch
geistige Fäden mit dieser Anomalie zusammen; vorzüglich
eine gewisse divinatorische Kraft, die ihn auch das wahr-
nehmen ließ, was in einer Ferne geschah, zu der seine
sehr kurze Sehkraft nicht reichte. Das Innere Anderer
errieth er leicht*2)
Der Komponist Carl Maria von Weber hat eine
Schilderung des ihm befreundet gewesenen Herzogs ge-
geben, welche die Haupteigenschaften desselben, seine
Weiblichkeit uud sein weiches Empfinden mit seiner
Spottlust in sinnlich-harmonischer Verschmelzung veran-
schaulicht: „Seine Erscheinung hat Etwas ungemein
'! Johann Wolfgang von Goethe 1808 Seite 181 n. 695. — Der
Herausgeber der angezogenen Ausgabe setzt Seite i:A zu n. (i9ö
hinzu: „Herzog August von Gotha war problematisch bis
zum entschiedenen Sonderling, und in seiner weichlichen Form
ging er so weit, dali er bei öffentlichen Veranlassungen in Frauen-
kleidern erschien. Ueber das Zusammentreffen mit ihm 1808 in
Karlsbad spricht G. ähnlich wie hier sieh im Brief an Frau v. Eyben-
berg vom 12. August aus, desgleichen in ungedruckten Briefen an
Silvie v. Ziegesar vom 3. und 5. desselben Monats."
-) Jacobs VII 1840 Seite 177.
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— 636 —
Edles und, trotz seiner hoben Statur, Weiches, fast Weib-
liches, woher auch seine Liebhaberei für weibliche Putz-
stücke rührte. Das Obergesicht mit der runden, -fast
Schiller'schen Stirn, der feingeschnittenen, krummen Nase,
den schönen, tiefen Augen bewohnte der Ausdruck fast
lieblich zu nennender geistvoller Freundlichkeit^ während
das Ganze durch die faunisch emporgezogenen Winkel
des sinnlich geformten Mundes mit etwas vorgeschobener
Unterlippe einen Beigeschmack von Satyrhaftem erhielt,
der indeß der Interessantheit der Erscheinung keinen
Abbruch that." . . . Ueber des Herzogs Gefallen an
weiblichem Putz heißt es bei von Weber: . . . „Ein
andermal erschien er mit einem Frauenrocke zum Galla-
anzuge oder in römischem Costüm mit Toga, rothen
Corduan-Schnürstiefeln und einem Kranz im Haar oder
mit einem Frauenschleier auf dem Hute, ein drittes Mal
überreichte er Vulpius für eine Hofdienstleistung zur
Belohnung einen — Fächer, den die Gräfin Cosel getragen
hatte u. s. w., ohne daß er sich indeß solche Scherze je-
mals in Staatsgeschäften erlaubt hätte. Fast täglich er-
schien er mit anders gefärbtem Haar, sodaß ihn sehr oft
seine eigenen Diener nicht kannten.*2) „Ein Freund des
heitern Glanzes, der vornehmen Form und feinen Sitte,
wachte er streng darüber, daß in den Ton des Hofes
kein Anklang von der militärischen und jagdmäßigen
Derbheit kam, die damals an vielen kleinen Höfen, in
Nachahmung des Napoleonischen Soldatenhofes zu Paris,
an die Stelle der gedrechselten Haarbeutelformen trat,
mit denen man sich fünfzig Jahre lang gegenseitig ge-
quält hatte.«8)
Die Eigentümlichkeiten, welche den Herzog August
als Sonderling erscheinen ließen, glaubte der gothaische
Geheime Kriegsrat H. A. O. Reichard unparteiischer als
') von Weber I 1864 Seite 323—824. — «) von Weber I 1864
Seite 323. — *) von Weber I 1864 Seite 824.
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— 637 —
irgend ein anderer würdigen zu können; da er weder
über des Herzogs Ungnade zu klagen, noch ausgezeichneter
Gnadenbezeugungen von ihm sich zu rühmen hatte, so
konnte er sich mitten zwischen Lob und Tadel stellen.
Er macht sich daher nicht ganz die schiefe Auflassung
L. A. Böttiger's zu eigen, der in einem Briefe an Reichard
vom 25. Mai 1822 den ihm persönlich bekannten Herzog
„aus Eitelkeit Weichling, aus Witzsucht Sonderling,
übrigens den edelsten Menschen, und dabei sehr klug"
genannt hatte.1) Freilich führt auch er den weibischen
Zug in des Herzogs Wesen, seinen Anschluß an einige
Damen in den ersten Jahren seiner Regierung und seinen
Umgang mit „schönen Mannspersonen " auf seine
»grenzenlose Eitelkeit" zurück; diese wiederum erklärt
er als durch falsche Erziehung ursprünglich geweckt und
durch Schmeicheleien mancher Speichellecker in seiner
Umgebung genährt.2) Als eine Kundgebung seiner
Eitelkeit faßt er auch des Herzogs Vergnügen auf, sich
derart oft malen zu lassen, daß überhaupt nur wenige
Maler nach Gotha gekommen wären, die ihn nicht gemalt
hätten; bald ließ er sich als Apollo, bald als Raphael,
bald in einer andern Maske malen; als das dem Herzoge
ähnlichste Bild erklärt er das Bild von Grassi, welches
den Herzog im Momente des Diktierens darstellt und,
durch Steinla in Kupfer gestochen, dem 12. Bande von
Hennings' Deutschem Ehrentempel, Gotha 1832, beigegeben
ist8) ; mit der Eitelkeit bringt Reichard die üppige Pracht-
entfaltung des Hofes, welche in Gotha seit den Tagen
der geistreichen Louise Dorothea nie so glänzend ge-
wesen, wie unter dem Herzog August, in Zusammenhang;
nach dessen Tode wich das Gewühl schöner gestickter
Uniformen, das Rauschen prächtiger seidener Gewänder,
») Reichard 1877 Seite 482. — ■) Derselbe 1877 Seite 485. —
8) Derselbe 1877 Seite 485. Eine verkleinerte, aber getreue Wiedergabe
diese« Bildes findet der Leser auf Seite 639 dieser Arbeit
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— 638 —
das Gedränge von Lakaien und der strahlende Schimmer
der Kerzen plötzlich einer unheimlich-gespensterhaften
Oede in dem leereu, unermeßlichen Gebäude des Frieden-
steins1); die Eitelkeit veranlaßt« auch den Herzog, sieh
mit Orden zu schmücken, deren er elf bei seinem Tode
besaß; gewöhnlich trug er eine große Schnalle eigener
Erfindung, einen ovalen Goldreif mit acht verkleinerten
Ordenskreuzen2). In seiner Prachtliebe nicht weniger
als in der freigebigen Fordernis aller Künste und Wissen-
schaften findet ihn Reichard Lorenzo von Medici, dem
Prächtigen, vergleichbar8); allein an Ringen fand man
bei seinem Tode hunderte; sie waren oft von einer sehr
geistreich ersonnen en Fassung und Form, welche der
Herzog selbst angegeben. „Er hatte dazu einen jungen
Künstler namens Rosenberg angeleitet, der, ohne im
Auslande einen langen Aufenthalt genommen zu haben,
doch mit den Künstlern von London und Paris wett-
eifern konnte; er starb kurze Zeit vor seinem fürstlichen
Herrn.*4) Als einen besondern Zug des Herzogs führt
Reichard an, daß er in Gegenwart von Damen es
manchmal liebte, „schmutziger, unanständiger Ausdrücke*
sich zu bedienen; als einmal eine nicht gerade vornehme
Dame durch solche Ausdrücke veranlaßt mit den Worten
aufstand: „Ich merke, Ew. Durchlaucht wünschen, daß
wir uns entfernen sollen*, brachte ihn dieser Freimut
sogleich zum Schweigen — ein Beleg, wie er feine
Zurechtweisungen nieht übel nahm6). Was Reichard über
den Verbrauch des Herzogs an Pomaden u. dergl. und
von seiner Günstlingswirtschaft mitteilt, sei hier wörtlich
wiedergegeben: „Leider hatte man dem Herzog August
weder in seiner Jugend, noch selbst später Geld in die
Hände gegeben oder ihn auch nur mit dem Geldwerthe
») Reiohard 1877 Seite 492—493. — «) Derselbe 1877 Seite 493.
— s; Derselbe 1877 .Seite 485; 491: 493. — ') Derselbe 1877 Seite
491. - ■•) Derselbe 1877 Seite 503.
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August,
Herzog zu Sachsen-Gotha und Altenburg.
Aus „Deutscher Ehren-Tempel", Zwölfter Band, Gotha 1832.
J. v. Grassi gem. M. Steinla gest.
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— 640 —
vertraut gemacht; der Fürst, der Tause.nde wegschenkte,
wäre nicht im Stande gewesen, einen Thaler nach Groschen
uud Pfennigen zu zählen. Es ging ihm, wie dem Spieler,
der mit Marken spielt und diese zu ganzen Händen voll
auf die Karte setzt, während er mit wirklichem Golde
oder Silber sich weit anders bedenken würde. Weil es
ihm immerfort an baarem Gelde gebrach, so war er in
Waaren über Gebühr freigebig, denn diese konnte er zu
hohen Preisen und Procenten stets auf Wechsel erhalten ;
da jedoch zuletzt deren Zahlung nach zwanzig- und
mehrjährigen Fristen angesetzt war, so kosteten dem
Fürsten die Artikel, welche er verschenkte, das Zehn-
und Zwanzigfache ihres wahren Werthes. Beispielsweise
fand man gelegentlich der Inventur in einem Zimmer
Oele, gebrannte Wasser, Eaux de seuteur, Pomaden,
Schminken, Obstweine und ähnliche Dinge immer zu
zwölf Dutzenden; nach den Rechnungen hatte das alles
nicht weniger als vierzigtausend Thaler gekostet, war aber
nun keine viertausend werth, denn der Fürst hatte das
Depot vergessen und vieles war verdorben. Die Bestände
wurden nachher verkauft und mehrere tausend Thaler
daraus gelöst.
„Der Herzog äußerte in meiner Gegenwart einmal
bitter: mit allen seinen Wohlthaten schatte er sich doch
nur Undankbare. In der That wurden seine Geschenke
häufig ganz ungescheut von deu Beschenkten mit 25
oder 30 Procent ihres Werthes an den Dritten wieder
versilbert, worin namentlich Palmer1) Starkes leistete.
Daß die geschenkten Waaren von den Empfängern um-
getauscht wurden, war das Gewöhnliche; so z. B. hatte
er in Leipzig für einige hundert Dukaten echtes Rosenöl
gekauft und unter verschiedene Personen aus seiner
') Ueber Palmer, den „Regicrnnga-Paliuer", und seinen Einfluß
auf den Herzog handelt Reichard 1877 S. 483; 48«; 487—491. Er
soll Jude gewesen sein, seine Frau eine Köchin aus Wien.
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— 641 —
Umgebung vertheilt; die alte Generalin von Zastrow ver-
tauschte das, was sie empfangen, sogleich wieder gegen
andere, ihr nützlichere Dinge um hundert Thaler. Erfuhr
er dergleichen, so nahm er es bisweilen übel; ungehalten
war er z. B., als der Gratulationsgesandte eines Hofes,
dem er bei seinem Regierungsantritte eine Dose mit
einem Brillanten im Werthe von 5000 Thalern gab, letzte-
ren an einen Juwelier verkaufte. Als ein Günstling von
ihm die Patentpistolen aus dem Nachlasse des Herzogs
Ernst erhalten und zu Gelde gemacht hatte (ich gedachte
oben dieser Pistolen als eines Gegenstandes, meiner stillen
Wünsche) mußte der Käufer sie zurückgeben und sich
ein paar andere in Suhl bestellen. Dann wiederum —
je nachdem er bei Laune war — litt der Herzog, daß
die von ihm an seine Günstlinge geschenkten Häuser,
Mühlen, Landgüter u. s. w. von den Empfängern wieder
verkauft werden durften. Ein heimgefallenes, ansehn-
liches Lehen, Liebenstein, schenkte er noch ein Jahr vor
seinem Tode einem Lieblinge, dem er es versprochen
hatte; denn strenge Gewissenhaftigkeit im Halten einer
einmal gegebenen Zusage war eine seiner Tugenden.
Jener verkaufte Liebenstein schon einige Wochen darauf.
Wenn es wahr ist, daß die Schuldeumasse des Herzogs
bei dessen Tode 541 000 Thaler betrug, so ist ihre Größe
nicht nur kein Wunder, sondern es erscheint bei dem
vorhin von mir geschilderten Geschäftsgange eher
wunderbar, daß sie nicht weit riesiger ist, denn wenn
man mit den 18 Regierungsjahren in jene Summe hinein-
dividirt, so fällt noch immer wenig genug aufs Jahr;
es giebt Regenten seiner Zeit, gegen deren Schuldenhöhe
die Verschuldung des Herzogs August als eine wahre
Kleinigkeit gelten kann.- ')
Alles in allem war der Herzog von einer eigenen,
höchst bezeichnenden, buntscheckigen Vielseitigkeit seines
~')" Roichard 1877 Seite 480—487.
Jahrbuch V. 41
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— 642 —
Wesens. „Er war — besonders wenn er es sich vor-
genommen hatte — im Umgange der liebenswürdigste,
aufheiterndste, geistreichste, glänzendste, hochsinnigste>
dezenteste, würdevollste Sterbliche; allein er konnte
in ganz demselben Grade auch das grelle
G e gen t heil von dem allen sein."1) Seine Be-
trachtungen über den Herzog August schließt Ileichard
mit den Worten: „Und wenn auch kein Ernst II., so
war Herzog August doch sieher nicht die groteske
Carieatur, zu der man ihn, ohne auch nur das aller-
geringste Gute an ihm zu lassen, hat machen wollen, und
zwar leider vielfach gerade von solcher Seite, die dem
Verewigten für manche Wohlthat dankbar verpflichtet
gewesen wäre." *)
Eine solche Karikatur hat von den Schriftstellern,
welche dem Herzoge persönlich begegnet waren, Friedrich
Förster aus ihm zu machen versucht, indem er denselben
bei Gelegenheit der Schilderung einer dem Herzoge zu
Ehren veranstalteten Festlichkeit zu Altenburg folgender-
maßen beschreibt: „Eine komischere Erscheinung wie
diese Durchlaucht ist mir in meinem ganzen Leben nie
wieder zu Gesicht gekommen. Er war damals wohl
schon ein Mann von reifen Jahren, verwandte aber die
Toilettenkünste des Boudoirs einer Pariser* Modistin
darauf, für eiue weibliche Schönheit zu gelten. Es war
von ihm bekannt, daß er einst, als Fanchon verkleidet,
mit dem Leierspiel der Savoyardin die Leipziger Messe
besucht und auf Classig's Kaft'eehause, in Auerbach'**
Keller, in der „blauen Mütze" und anderen Kneipen gute
Geschäfte gemacht hatte. Er trug eine blonde Locken-
perrücke, schielte ganz verzweifelt, war roth und weiß ge-
schminkt, unter einem rosaseidenen Gilet schimmerten
Blonden am feinen Battistchemisett, dessen Brillantknöpfe
') Kek'barti 1*77 Seite 503. — *) Derselbe 1877 Seite 505.
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— 043 —
absichtlich gelöst wareD, um die Wellenlinien des
Schwanenhalses und des Busens sehen zu lassen; an den
schön gepflegten Fingern seiner alabasterweißen Hände
rosige Nägel, so lang, daß man hätte Kämme daraus
schnitzen können. Insonderheit erschien Sc Durchlaucht
Herzog August von Gotha als Griechin
(nach einem Bilde der „Gartenlaube" 1857, Nummer 7, Seite 93)
am Frühstückstische in vollständiger Pameutoilette, mit
einem Morgenhäubchen von den feinsten Brüsseler
Kauten, Mantille, Spitzenkragen und dergleichen Aermeln,
die jedoch sehr kurz waren, da er seine Oberarme für
die schönsten Gliedmaßen seines Körpers hielt. Als eine
der anwesenden Damen einen Blick nach den unteren
41*
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— G44 —
Partien richtete, warnte er scherzend, da es Gefahr
bringe, wenn man sich nicht an den, den höheren
Regionen angehörenden Schönheiten Melusinens begnüge.
— Uebrigens mußte man dem Herzoge Witz und selbst
einen Anflug von dem Humor Jean Pauls zugestehen,
mit dem er eine Zeit lang in sehr freundschaftlichem Ver-
kehr stand, den er aber mit einem allerhöchst unhöflichen
Briefe abbrach. — Einige seiner Witze, welche er bei Tische
losließ, sind mir im Gedächtniß geblieben." ') In Förster'«
Geschichtswerk ist der Herzog ihm „der Durchlauchte
Kakerlak von Gotha.* 2)
Daß Schriftsteller, die den Herzog August nicht
persönlich kannten, eine Karikatur aus seinem Bilde
machten, ist weniger verwunderlich. So Perthes3), der
nur erzählt, was er vom Hörensagen weiß, so Alexander
v. Sternberg 4).
Bezüglich der Frauen, deren Umgang der Herzog
suchte, bemerkt von Wüstemann: „Sein Sinn für das
Innerlich-Schöne und Feinheit im Umgang zog» ihn zur
Gesellschaft der Frauen hin, in denen er jedoch nur eben
diese Eigenschaften suchte und ehrte: äußere Schönheit
war dazu nicht nöthig, wohl aber Anspruchslosigkeit und
Tugend.« 4)
Wie sehr aber der Herzog selbst sich als Weib
fühlte und wie wenig hoch er seine Männlichkeit be-
») Friedrich Fürstor 1873 Seite 12—18. — 5) Derselbe IV 1854
Seite 334. — a) Friedrich Perthes III Seite IG— 17.
4) A. von Sternberg, Jena und Leipzig 1844 II Seite 8 — 5 und
8 — 11. Ich muß hier zu S. 489 meines Quellenmaterials im 4. Jahr-
gang dieses Jahrbuchs berichtigen, daß v. Sternberg mit seinem
weibischen Herzoge von Gotha nicht den Herzog Friedrich, sondern
Aemil August im Sinn hatte.
6) v. Wlistemann 1823 S. 14. — Seite 5 heißt es daselbst:
„Kein Name eines Favoriten männüchen oder weiblichen Geschlechts
ist seit mehreren Menschenaltern verflucht worden."
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— 645 —
wertete, hat er in einem Briefe an seine Freundin
Fräulein Sidonie von Dieskau unter dem 19. November
1815 markaut zum Ausdruck gebracht, in dem er seinen
Zustand also schildert: «Hell flackerten Selbstliebe und
Selbstachtung in mir auf, und mich stärker und besser
fühlend als vorhin fielen bald von meinem Ich die müh-
sam mir angeklebten erbärmlichen Schlacken der mir an-
gezwängten Männerey."1) . . .
Bringt man die von allen Augenzeugen bestätigte
zum Weiblichen neigende Körperbildung des
Herzogs August in Verbindung mit dem weibischen
Zug in seinem Wesen und seinem von Reichard
betonten „Umgang mit schönen Mannspersonen",
so kann kaum ein Zweifel obwalten, daß der Herzog
Urning war; wofür seine Zeitgenossen ihn hielten, sprach
die Seidler aus, indem sie mitteilte, daß man Leibeserben
von ihm nicht erwartet habe. Die Berechtigung dieser
Annahme findet noch eine weitere Stütze in dem Um-
stände, daß Aemil Leopold August im zweiten Jahre
seiner Regierung eine Novelle verfaßte und drucken ließ,
welche die Genuß suchende leidenschaftliche Liebe zweier
schönen Jünglinge zu einander als eine Glückseligkeit
und als eine Naturnotwendigkeit ohne sittliche Bedenken
dem Leser vor Augen führt. In welcher Weise und in
welchem Maße der Dichter des „Kvllenion" seine eigene
urnische Natur auslebte oder unterdrückte und vor der
Welt verbarg, erfahren wir nicht; mau wird aber kaum
umhin können, eine bezeichnende Schilderung A. v.
Sternberg's, falls sie Wahrheit ist, auf August des
Glücklichen unbefriedigtes urnisches Empfinden zu be-
ziehen: a August konnte auch sehr traurig sein, ja es
gab besonders in seinem letzten Lebensjahre bei ihm
') Eichstädt 1823 Seito 50; 1849 Seite 80; G. bei Hennings 1832
Seite 22; Reichard 1877 Seite 495.
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— G4Ö —
Stunden, in denen eine wahrhaft dämonische, mit den
schwärzesten Gebilden gefüllte Hypochondrie bei ihm die
Oberhand gewann1). Alsdann war der französische Stutzer
und Spötter gar nicht mehr wieder zu erkennen. Er
trieb sich dann Nachts herum, durchirrte mit fliegendem
Nachtgewande, eine Kerze in der Hand, die Säle seines
Palastes und schien irgend etwas Geheimnißvolles zu
suchen, das er nicht fand. Er stieß namenlos rührende
und erschütternde Klagen aus, die in der Stille und Ein-
samkeit der Nacht die Seele jedes lebenden Wesens, das
sich in seiner Nähe befand, tief bewegten. Hatte er
seinen nächtlichen Lauf vollendet, so warf er sich auf die
Teppiche seines Schlafgemaches und wimmerte, indem er
sich unter Schmerzen wand. In der Seele dieses Mannes
mußte in diesen Augenblicken etwas vorgehen, was nicht
Schein und nicht Lüge war. Diese Stunden söhnten mit
seinen Bizarrerien und Lächerlichkeiten aus, denn un-
willkürlich empfand der Beobachter der menschlichen
Natur, tfaß ein Wesen, das so zu leiden im Stande war,
die Tiefen und Geheimnisse der Sterblichen zu ahnen
verstand und daß sein irregehender Geist nach einer
Größe suchte, die er nicht zu erfassen und festzuhalten
verstand. Seine Widersacher erfuhren von diesen Stunden
nichts, sonst hätten sie ihn milder beurtheilt.*2)
Herzog Augusts Schriftstellern.
Jahre hindurch führte Herzog August mit wenigen
auserwählten befreundeten Personen unter Beobachtung
gewissenhaftester Hegelmäßigkeit einen Briefwechsel,
blieb aber auch sonst schwerlich irgend Einem, der an
ihn schrieb, die Antwort schuldig. Alle seine Briefe
zeichnen sieh durch einen von ihm selbst geschaffenen
') Nach dem Tode Rodenbergs, verjrl. Seite 68S.
'-*) A. v. Sternberg 1n"m Seite 91.
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— 647 —
Stil, uDgewöhnliche Ideen, zarte und geistreiche Wendungen
aus; wie seine mündliche Unterhaltung zeigten auch seine
Briefe eine unerschöpfliche Fülle der Wendungen und Ge-
danken und verrieten überall seinen „opalisirenden" Geist;
auch wenn, was selten vorkam, ihn alltägliche Begebenheiten
darin beschäftigten, so geschah es immer in ungewöhnlicher
Form1). Seine Briefe verdienten die Aufbewahrung.2)
Als Probe des Briefstils Aemil Augusts diene
sein Brief an den siebenjährigen Knaben Eduard Manso;
er ist die Antwort auf ein von dem Knaben an ihn
gerichtetes und mit dem Geschenke eines Ringes be-
gleitetes Glückwunschschreiben zum Geburtstage des
Herzogs :
„Ja freylich, mein Eduard, war mir der gestrige Tag
ein wichtiger, ein mild-herber Tag. Ja freylich war es
») Jacobs 1822 Seite 500; von Lupin 1826 Seite 72; Jacobs
VI 1837 (1S23) Seite 456 — 403 ; G. bei Hennings 1*32 Seite 4; von
Weber 1 1804 Seite 321; 323; Heek I 1808 Seite 148; Reiehard
1877 Seite 491-495.
2) v. Wüstemann 1823 Seite 20. Gedruckt sind von des Herzogs
Briefen meines Wissens solche an die Frau von Stael (bei Eich-
städt 1823 Seite 53—50; 1849, Seite 89-91; G. bei Hennings 1832
Seite 24 — 25); an die junge Gräfin Sidonjie von Dieskau
1815—1822 (Eichstädt 1823 Seite 48—53; 1819 Seite 79— 83: G. bei
Hennings 1832 Seite 20-24; Reiehard 1877 Seite 495); an Papst
Pius VII (Jacobs VII 1840 Seite 522—520; Louise Seidler 1874
Seite 93; Reichard 1877 Seite 400 und 495 nota 1); an die Malerin
Therese Emilie Henriette aus dem Winckel, 1800
bis 1811 (von Metzseh -Schiibach 189:$); an Jean Paul
Friedrich Richter (Richter 1805 Seite 10—21, 23—25,
20—27, 30—32, 35—30): an den kranken Dichter Ernst Wagner
(Mosengeil II 1820 Seite 17 — 70; Seite 91; G. bei Hennings
18: fci Seite 4—20; von Weber I 1864 Seite 323): die Briefe an
Jean Paul und Ernst Wagner sind nach v. Weber „Muster des
Ausdrucks einer edlen, großen, oft fast Uberreichen, für Freundschaft
tief empfänglichen Seele". Leider haben Jean Paul und Mosengeil
es für nötig befunden, die Briefe des Herzogs zu kastrieren (Richter
1805 Seite 37: Mosengeil II 1826 Seite 17).
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— 648 —
mir gestern recht schön, recht wunderbar zu Muthe,
mein lieblich liebes Kind ! Aber erst als ich Deine Worte
gelesen, als Dein Ring, Dein schöner, lieber Ring meine
Rechte schmückte, da verschwand alles Herbe, alles
Trübe. Hättest Du ihn nicht selbst bringen können,
mein zarter Liebling? Freylich, die Wege sind sehr
böse; aber Du kömmst mir immer wie ein gewisser
Junge vor, den ich nur aus den Bildern kenne und
den Du hoffentlich recht spät wirst kennen lernen und
von dem Dir Deine Emilie viel Gutes und Auguste viel
Böses zu erzählen hat. Nim ms nicht übel: aber bey
Dir fällt mir immer der Junge ein; und da bild* ich
mir immer ein, Du hättest zu mir fliegen können; da
wäre freylich der gestrige Tag noch weit, weit schöner
gewesen. Weißt Du wohl, Eduard, Deine Schwestern,
die immer in der Stadt sind und immer in der Stadt
viel zu thun und zu schaffen haben, hätten mir Deinen
schönen Ring bringen können. — Doch nein, die kommen
nicht zu mir; die haben mich lange vergessen. Emilie hat
viel zu viel zu hoffen, Auguste hat viel zu viel zu wünschen,
als daß die an mich denken könnten. Grüße sie, doch
ohne mich zu nennen. Umarme sie und die lieben Eltern.
Bleibe gut und mir gut. Emile."1)
Mit besonderer Vorliebe betrieb der Herzog in seinem
einförmigen Lebeu poetische Arbeiten, welche sich wie
seine Briefe durch Zartheit und großen Reichtum unge-
l) Eichstädt 1823 Seite 57; 1819 Seite 85— 86; G. bei Henning*
1832 Seite 25. — Reichard 1877 Seite 494—495 findet in der Ver-
öffentlichung dieser flir die Üeflentliehkeit ursprünglich nicht bestimmt
gewesenen Ergieüungen und in der der Briefe des Herzogs an die
Gräfin Sidonio von Dieskau (eine Probe aus diesen siehe vorher
Seite 645) eine Taktlosigkeit und eine Beschimpfung seiner
eigenen in Ciceronianisohem Latein verfaßten Schrift „Memoria
Augusti" seitens des gelehrten Philologen Eichstädt Man kann
darüber verschiedener Ansicht sein, wie dieses auch die unbeanstandete
Aufnahme derselben Briefe durch G. bei Hennings 1832 beweist.
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- 649 —
wohnlicher Wendungen und Ideen auszeichnen.1) Er war
nicht nur Schöpfer musikalischer Liederkompositioneu
in denen Kenner seine Eigenartigkeit wieder finden
wollen2), sondern auch Dichter und Verfasser einer An-
zahl poetischer Prosa werke; von diesen wurde nur ein
einziges, sicher und allein von ihm herrührendes, durch
den Druck bekannt, nämlich die 1805 erschienene Novelle
«Ein Jahr in Arkadien."8) Nach einigen Angaben4)
hätte der Herzog noch eine Uebersetzung der „Lettres
d'un Chartreux par Charles Pougens* (Briefe eines Kar-
thäusers) verfaßt und in wenigen Exemplaren für seine
vertrautesten Freunde drucken lassen; allein nach Eich-
städt*) erscheint die Autorschaft des Herzogs ungewiß und
nach Jacobs0) hat er zwar diese Uebersetzung begonnen,
sie jedoch wieder aufgegeben und den Geheim-Sekretär
Wüstemann, späteren Geheimen Rat von Wüstemann zu
Altenburg mit der UebersetzuDg der „Lettres* betraut,
sich dann die fertige Uebertragung vorlesen lassen, Einiges
geändert, einiges Eigene hinzugefügt und das Werkchen
so in Druck gegeben.7)
') Ueber den Herzog Aemil August als Schriftsteller haben sich
mehr oder weniger ausfuhrlich verbreitet: Jacobs 1822 Seite 500
bis 504; von Lupin 1826 Seite 72—75; von WUstemann 1823 Seite
19; Galletti V 1824 Seite 41; G. bei Hennings 1882 Seite 28-41;
Jacobs VI 1837 (1828) Seite 456-15«; 464-492; von Weber 1 1864
Seite 322—823 ; 373, 570; Beck I 1868 Seite 440—441; 1875 Seite
683; Louise Seidler 1874 Seite 91—92; Reichard 1877 Seite 494 bis
496; v. Bechtolsheim 1902 Seite 101—105; 112. — a) Jacobs 1822
Seite 501. — s) Jacobs 1822 Seite 500 und öfter; von WUstemann
1823 Seite 19. — *) G. bei Hennings 1832 Seite 33—35 (woselbst
die Briefe 2, 7 und 11 abgedruckt sind); Beck I 1868 Seite 441;
1875 Seite 683; Reichard 1877 Seite 496. — ") Eichstädt 1823 Seite
32; Seite 70 nota 32; 1849 Soite 95 nota 30. — «) Jacobs VI 1837
(1823) Seite 471—473; 491—492 nota 8. — Das Werkchen muß
sehr selten sein; es führt den Titel: „Vierzehn Briefe eines Kar-
thäusers. Geschrieben im Jahre 1755 zu Paris. Horausgegeben von
Karl Pougens. Paris 1820." Darunter stehen die verschlungenen
Initialen E und A. Es ist nur 45 Seiten stark. In kl. 8°.
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— G50 —
Den Herzog haben wenigstensdrei große poetische
Prosawerke beschäftigt, welche nicht zum Drucke gelangten.
Noch vor seinem Regierungsantritt nahm seine Aufmerk-
samkeit der weitläufige Plan zu einem Märchen in An-
spruch : das P o 1 y u e o n oder Panedone; nach seinem
Regierungsantritt ein Werk, das ohne Titel blieb und ein
Roman A em il ia (Emilia) oder Em i lianische B r i efe.1)
1. Polyneon (Viel-Neu) oder Panedone (All-
Lust3) nach der Hauptfigur des Romans, einem auf eine
entfernte Insel verbannten Götterwesen Panedonia,
neben welcher als zweite Hauptperson ein lykaonischer
Jäger Barys steht; in die Geschicke der aus ihrem
Himmel Verwiesenen sind noch verflochten: ein blühender
Jüngling Cvparissus, ein anmutiger Flötner und ein blasser
König. Nach des Dichters Angaben stellte Grassi die
vornehmsten „in diesem Labyrinth" sich bewegenden Per-
sonen in sieben großen Bildern dar8); eins derselben zeigt
uns Panedonia4), zum Himmel aufschauend, eine Leier in
*) Wenn ich Jacobs recht vorstanden habe, so muß aber
der Herzog noch an einem vierten Werke gearbeitet haben; der
Kaltsinn, meint Jacobs VI 1837 (1823) Seite 465, mit welchem
„Ein Jahr in Arkadien" aufgenommen wurde, dürfte verursacht
haben, daß der Herzog ein ähnliches Werk, das er um jene Zeit
unternahm und von deui sich Anlange in seinem Nachlasse fanden,
unvollendet ließ; leider wird weder ein Titel genannt, noch der Inhalt
angedeutet. Vielleicht „Schwarz und weißa (v. Metzseh-Schilbat-'h
18i>3 Seite 7). — *) Heichard nennt 1877 Seite 4'.>"> den Roman „Pane-
donia4'1 und fügt bei: „(in Grassi s lebensgroßem, idealisirten Portrait :
Bildniß des Herzogs in schwarzer spanischer Tracht. Es wird noch
jetzt im .Schlosse zu Gotha gezeigt legt er die Hand darauf).44 —
:1) Nach Reichard 1877 Seite -10« [Fußnote) wären es im Ganzen nur
G Bilder, welche in der Herzoglichen Gemäldegalerie zu Gotha in
der Abteilung VI als Nummer 5, G, 7, 9, 10 und 11 autbewahrt
werden; nach Louise Seidler 1 S7 1 Seite 7"» wurden die Bilder laut
Katalog der Gemäldegalerie 1W9 gemalt.
l) Dieses Gemälde Grassi's veraulaßte Jacobs zu einem Sonett
an den Maler (veröffentlicht bei Jacobs VI 1*37 Seite 477 — 478
nota 3) und als Grassi es dem Herzog gab, dichtete dieser mit Be-
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— 651 —
der Hand; diese sieben Bilder waren ursprünglich be-
stimmt, ein Schlafzimmer zu schmücken, in dem der
Herzog alle Herrlichkeiten eines Feenterapels vereinigen
wollte; das Zimmer ist aber nicht gebaut, das Märchen
nicht zu Ende geführt worden und so fehlt diesen schönen
Gemälden der erläuternde Kommentar.1)
2. Nach dem Antritt seiner Regierung begann Aemil
August ein neues poetisches Werk, dem er einen Titel
nicht gegeben hat. Der Roman sollte ganz aus Briefen
zweier Freundinnen hohen Ranges bestehen; die eine
dieser Freundinneu war die geistreiche Baronin Cäcilie
von Werthern, die andere — der Herzog Aemil August
im Charakter einer jungfräulicheu Witwe unter dem
Namen einer Großherzogin Anna. Da die Baronin von
Werthem bald das Interesse an dem Briefwechsel verlor,
so führte der Herzog den Roman allein, teils in Form
eines Tagebuchs, teils in Briefform, fort; manches in
diesem Roman beruhte für den Eingeweihten auf persön-
lichen Verhältnissen des Verfassers und der Roman
zug auf zwei andere Gestalten seines Märchens Panedone mit Bei-
behaltung der Keime des Jacobs'sehen Sonetts als Fortsetzung noch
zwei Sonette hinzu: ,.Der Sybarit" und „Der Lykaonier" (ver-
öffentlicht bei Jacobs VI 1837 (1823) Seite 478 und* 179;.
') Jacobs VI 1X37 (18*23) Seite 466— 407. „Das Polyneon . . . ein
grotfes episches Mährehen über die Liebe . . ., welches alles, was groüe
Keuntnilie und grolle Kräfte von Frucht- und Blumen-Gewinden, Perlen-
schnuren und Venus-GUrteln in einander flechten können, zu seinem
Zauber-Kreis der Liebe rimdet. Doch das was schildert, kann nicht
selber geschildert werden; der Kreis wird zuletzt ein Trauring — der
Ring ein Juwel — der Juwel ein Lichtblick — der Blick ein
Geist. Der Tadel, womit man das Polyneon so gut belegen kann
als mit Lob, ist blolt schwerer zu verdienen als zu vermeiden.
Line geniale Phantasie ist, gleich dem Luftballon, leicht in die
Höhe und in die Tiefe zu lenken: aber das wagrechte Richten wird
bei beiden etwas schwer: indessen hielt man es bisher doch für das
gröltere Wunder, sich in den Himmel zu erheben, als mich darin zu
steuern." Jean Paul (Richter 1X05 Seite 15).
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— 652 —
wurde unabgeschlossen bei Seite gelegt, als diese Ver-
hältnisse sich änderten.1)
3. Erailiani8che Briefe.5) In diesen Briefen und
Tagebuch blättern erscheint der Herzog in doppelter Ge-
stalt, als eine Jungfrau Emilie und als ein Fürst, an
dessen Hof ein junger von Emilie heftig geliebter Jüng-
ling Xaver lebt; beide Hauptpersonen, die der Idee nach
nur eine sind, werden ganz verschieden, Emilie mit zärt-
licher Vorliebe, der Fürst mit oft an Bitterkeit streifen-
der Ironie behandelt. Dieses Werk, das den Herzog bis
an seinen Tod beschäftigte, war ihm selbst von allen das
liebste; „es ist geschlossen, aber nicht vollendet . . .
Das Mangelnde zu ergänzen, wäre Niemand im Stande,
sollte er auch vollkommen in die Gedanken des Herzogs
eingeweiht sein ... In der Ausführung aber seine
Manier nachzubilden, würde ein eitles Bemühen sein."3)
Friedrich Jacobs, „unter dessen Fingern der Armida-
Garten entstanden ist"4), veröffentlichte sieben von ihm
verfaßte und dem Herzoge gewidmete Gedichte, welche
in Beziehung auf die Emilianischen Briefe „die Stelle
eines convexen Spiegels vertreten können, der die Gegen-
stände einer weiten Gegend in einem engen Räume ver-
kleinert zeigt", und er faßt sein Urteil über die schrift-
stellerischen Fähigkeiten des Herzogs also zusammen :
„Das Einzelne ist reich, neu, glänzend, oft wunderbar und
außerordentlich; aber das Ganze leidet an dem Mangel
fortschreitender Bewegung, der sich aus der Art seiner
Entstehung und Fortbildung, vielleicht auch überhaupt
») Jacobs VI 1837 (1823) Seite 407-468. — «) Keichard 1877
Seite 495 nennt den Roman „Erailia" nnd sagt S. 496, der Herzog
habe das bändereiche Werk besonders gern in engvertraaten
Kreisen vorgelesen und viele Lebende hätten zu den darin auftreten-
den Personen gesessen. — s) Jacobs VI 1837 (1823) Seite 468—470;
482—491 nota 5, 6, 7. — *) Jacobs VI 1837 (1823) Seite 484—491
nota 7.
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— 653 —
aus der Eigentümlichkeit des Verfassers erklärt. Für
ihn war die Abfassung eines Romans nicht ein Geschäft,
sondern eine Ergötzung, wobei er sich gern mit Bequem-
lichkeit auf breiten Bahnen bewegte, ohne durch die vor-
aus bestimmte Richtung eines festen Plans gebunden zu
sein. Fast immer dictirte er. Wenn nun der dazu Be-
rufene an den bestimmten Tagen zur bestimmten Stunde
erschien, fuhr der Herzog an der Stelle fort, wo er in
der vorhergehenden Sitzung abgebrochen hatte, und di-
ctirte oft drei und vier Stunden nach einander, ohne
Unterbrechung, die geistreichsten Dinge in der gewähl-
testen Sprache und in gut geordneten, wohlklingenden
und richtig gebildeten Sätzen. Nie verwirrte, nie ver-
besserte er sich. Der erste Wurf hätte für den Druck
genügt"1)
Ein zwar wenig umfangreiches Werk des Herzogs,
das aber den großen Vorzug besitzt, abgeschlossen zu
sein und gedruckt vorzuliegen, ist das Kyllenion.
„ K YA A /LY !ONu (Kyllenion) ist nur der Untertitel der
Novelle:
„Ein Jahr in Arkadien. 1805."
Diese 124 Seiten starke Novelle erschien zu Gotha
bei Ettinger in Oktav und enthält ein Titelbild und eine
Schlußvignette. Ziemlich die Hälfte der Novelle schildert
die anfangs hoffnungslos erscheinende, später aber doch
Entgegenkommen findende glühende Liebe des jugendlich
schönen arkadischen Hirten Iulanthiskos zu dem männlich
schönen reichen Arkadier Alexis und es kann daher das
Werkchen als die erste deutsche urnische Novelle
in Anspruch genommen werden. Sie verdankt ihre Ent-
stehung den Lobpreisungen der Geßner'schen Idyllen,
durch die eine sechszehujährige Französin, die Gräfin
•) Jacobs 1822 Seite 501—502; VI 1837 (1823) Seite 482 -48S
nota 6.
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— 054 —
AdMe de Bueil, den Widerspruch des Herzogs so reizte,
daß er sich anheischig machte, da die Gräfin vor-
nehmlich den griechischen Geist der Geßuer'schen Idyllen
hervorgehoben hatte, selbst Idyllen zu sehreiben, welche auf
eine ganz andre Art durch und durch griechisch sein
sollten; durch dieses Versprechen kann nach Jacobs
manches im Kyllenion Getadelte erklärt werden. Die
Novelle besteht aus 14 Kapiteln, deren 12 die Namen
der atheniensischen Monate tragen; der Inhalt ist nach
Jacobs „an persönliche, aber nur leise angedeutete Ver-
hältnisse geknüpft.* Pas Manuskript ging vor dein
Drucke durch Jacobs' Hände und kehrte „mit einigen un-
bedeutenden Veränderungen und einem Sonett „Arkadien*
an den Herzog zurück, der an demselben Tage in einem
Sonett „Ruf" darauf mit den nämlichen Keimen er-
widerte1). Gewidmet hat Herzog August seine Novelle
der Tochter seines Verlegers, des Kommissionsrats Karl
Wilhelm Ettinger, Karoline Ettinger, der späteren Frau
Arnold in Bromberg, deren Mädchennamen das dem
Werkeben Seite 3 vorgedruckte Akrostichon verrät2).
Die Zeit, in welcher die Novelle erschien, war ihrer
Verbreitung nicht günstig; ihr Verfasser war nur wenigen
bekannt; „die kritischen Tribunale sehwiegen; auch in
leichtern Tagblättern geschah ihrer nicht oft Erwähuung";
') Abgedruckt bei Jacobs VI 1837 (1823) Seite 475—477.
e) Jakob« VI 1837 (1823) Seite 465 und S. 474—475 nota 1.
Nach Kciehard 1877 Seite 496 war Karolino Ettinger, Keichard's
Nichte, ein «damals in ihrer Blüthe stehende» sehr gebildetes
Frauenzimmer, welches mit anmuthiger Jugendfrischo und ein paar
schönen Augen Begabung und Liebenswürdigkeit vereinigte". Ihr
ist auch noch ein anderes Werk gewidmet worden, nämlich „Die
Einsamen im Chiusato. Eine i»ienientesische Novelle" mit demUntertitel
„Das geraubte Landraadchen". Arnstadt und Rudolstadt, Langbein
und Kläger. 2 Teile. 1802 (278 und 272 Seiten). „Seiner ver-
ehrungswürdigen Freundin Karoline Etting er hochachtungsvoll
gewidmet vom Verfasser". Der „Prolog des Autors" dieser
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— 655 —
die kleinen, der Novelle eingewebten Gedichte setzte der
Herzog selbst in Musik1).
In der Nummer 115 vom 24. September 1805 der
„ Zeitung für die elegante Welt" (Leipzig) erschien ein
mit »Aug. Klingemann" unterzeichneter Bericht über die
ohne den Namen ihres Verfassers erschienene Novelle
folgenden Wortlauts:
„Zwölf arkadische Monate mit ihren Blumen und
Früchten lieblich dahin gezaubert Die darin verflochtenen
Idyllen sind größtenteils nur Staffage und von den
Blumengewinden so überhüllt, daß oft die Gestalten nur
zum Theil erscheinen und die ganze Handlung sich in
einen Kuß auflöst. Uebrigens ist es eine romantische.
Natur, die diesen Blumengarten in das Alterthum hinein
versetzt, und antik ist eben an dem Werke nichts als
der Theil, der das angehängte Lexikon nothwendig macht,
bei dem man entweder bedauern muß, daß die Unwissenheit
so vieler Leser es nothwendig machte, oder daß die Muse
des Dichters nicht ohne einige Koketterie ihn begeisterte."
Diese Kritik gab dem Herzog Anlaß, sich in seiner
ganzen Eigenartigkeit zu zeigen ; er lud den Redakteur
der Zeitung, den Dichter Siegfried August Mahlmann,
nach Gotha an seinen Hof. Mahlmann kam und wurde
in einer Staatskarosse mit Hoffourier und Haiducken
abgeholt. Der Herzog bewillkommnete ihn als eine der
größten Kapazitäten, bat um seine Freundschaft und
wünschte eine Vorlesung von ihm zu hören, zu welcher
Novelle 1 Seit«; 4 ist „Kajetan **♦*♦*" unterzeichnet. Man
könnte auf Grund dieser Widmung, der liebevollen Schilderung
der Natur und des einfachen Landlebens, de» Doppeltitels und der
Anonymität des Verfassers im Herzog August den Schöpfer auch
dieser Novelle vermuten und sogar in den sechs Sternen (V August)
die Bestätigung dieser Vermutung erblicken ; da aber diese Novelle
Urnisches nicht enthält, so kann die angeregte Frage hier unerörtert
bleiben.
*) Jacobs VI 1837 (18Ü3) Seite 4G.r>— 46(3.
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— 056 —
der nächste Abend bestimmt wurde ; der Herzog erklärte,
zu dieser Vorlesung sei der gesamte Hof bereits ein-
geladen und er habe schon eine geeignete Schrift für
den Vortrag gewählt. Da erfuhr die stolze Herzogin zu
ihrem Entsetzen von der Oberhofmeisterin, daß Mahl-
mann bürgerlicher Herkunft, nur ein Zeitungsredakteur
und ohne Titel sei; unter solchen Umständen, erklärte
sie, könne Mahlmann bei Hofe nicht erscheinen und der
Herzog ordnete daher an, daß der Minister von Francken-
berg in aller Eile ein Hofratsdiplora für den Vorleser
ausfertige1). Zur Vorlesung aber hatte der Herzog —
sein Kyllenion bestimmt und Mahlmann kam in ziemliche
. Verlegenheit, da er die spöttischen Neckereien des Herzogs
ertragen mußte8).
Ein von Friedrich Jacobs8) unterschriebenes Urteil
über das Kyllenion hat Eichstädt4) gefällt; er rühmt an
ihm besonders die Lebendigkeit und Glut der Phantasie^
eine gewisse Kühnheit der Gestaltung, einen bewunderns-
würdigen Reiz der Neuheit und durch Belesenheit
erworbene Kenntnis griechischer Eigenart. Demgegenüber
klingt es herb, wenn ein anderer Kritiker5) die Novelle
bloß deshalb „völlig geschmacklos und unlesbar* fiudet,
„weil jedes Ding, das im gewöhnlichen Leben vorkommt,
hier mit einem griechischen Namen genannt wird*.
Auch den urnischen „Liebeshandel", der den Kern
der Novelle bildet, findet dieser Kritiker „vor lauter
') Der Verfasser der Lebensgeschicbte Siegfried August
Mahlraann's, K. L., in „Mahlmann's sämintlicbe Werke" (8 Bändeben
Leipzig, Volkmar 1839—40) teilt I 1839 Seite 20 nur mit: „Der
Herzog von Sachsen-Gotha ehrte sein Verdienst durch Ertbeilung
des Hofrathstitels."]
2) Beck I 1808 Seite 448—449.
») Jacobs VI 1837 (1823) Seite 475 nota 2.
l) Eichstädt 1823 Seite 30—32; 1849 Seite 62— 61 ;S. 91 nota 29.
*) A. v. Sternberg 1857 Seite 91.
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— 657 —
Ziererei und Schwulst bitter langweilig." Wolfgang
Menzel tut die Novelle kurz als „vorzugsweise senti-
mental" ab1). Ein lebender Schriftsteller bezeichnete
mir die Arbeit als bei manchen Mängeln und Flüchtig-
keiten schön und eigenartig; selbst in Neu Wortbildungen
sei der herzogliche Dichter glücklich, so z. B. mit dem
Neu wort „ Einton" für das eintönige Picken des Spechtes.
Das Nachfolgende ist der urnische Auszug aus dem
„Kyllenion" (der Name wurde dem arkadischen Gebirge
Kyllene entnommen). Ein passender Titel für diesen
Auszug als solchen würde
„Julanthiskos 2) and Alexis
oder
Verbotener Himmel"
sein, da es sich bei der Freundschaft zwischen den
genannten schönen Jünglingen um leidenschaftliche Liebe
oder, wie die allwissende Alethophone sich ausdrückt 3),
um „Verbotenen Himmel* handelt.
') Wolfgang Menzel III 1859 Seite 74: „Die Natürlichkeits-
periode; die Gräkomanie".
lieber das Kyllenion handeln besonders: Jacobs 1822 Seite
300: 1823 Seito 86; VI 1837 (1823) Seite 464— 467 : von WUstemann
J823 Seite 18; Eichstädt 1828 Seite 30—32 ; 69; 1849 Seite 62—64;
91: Galletti V 1824 Seite 41; G. bei Hennings 1832 Seite 28—30:
von Weber I 1864 Seite 322; 373; Beck 1 1808 Seite 440; 448 — 449;
Louise Seidler 1874 Seite 92; Reichard 1877 Seite 496. Ferner:
„Todesfälle" 1822.
2) Der grichische Name Julanthiskos bedeutet „männliche
Blüte" und miiüte demnach mit I geschrieben werden, während er
in der Novelle «tets mit J gedruckt steht.
*) St-ite 17 des Kyllenion, Seite 664 dieses Jahrbuchs.
Jahrbuch V. 42
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Szene aus dem „Kyllenion":
Das Dankopfer vor der wundertätigen schlanken Hermes-Säule
(zu Seite 680 dieses Jahrbuchs).
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— 659 —
Kannst Du den Flug mit mir, o Freundinn, wagen,
Auf leichten Schwingen zu der Dichtung Aun?
Rasch sollen Dich die Purpurschwäne tragen;
Orangenduft soll süß herniederthaun.
Leicht trenn' Aurorens Saum der goldne Wagen;
Ihn wird der Hören Schaar bewundernd schaun.
Nichts soll der Reise Götterlust Dir trüben;
Eil unverzagt! Dir will ich Zauber üben!
Entfleuch des schwülen Tages bangen Sorgen,
Trägt Dich der treuen Freundschaft Schwanenpaar!
Tränk* Deinen Blick im Purpur schöner Morgen;
Jasmin, Granaten flechte Dir ins Haar.
Nimm! Dir will ich Euterpens Chelys borgen;
Gestimmt und rein ist ihrer Saiten Paar.
Ergreifen muß ich meiner Schwäne Zügel;
Reich' mir die Hand! Wir sind auf meinem Hügel.
42*
— 0*50 —
Eros.
In des Orasis friedlich stillen Auen
Erreicht mein Götterflug sein holdes Ziel.
Bald werd' ich Wunder über Wunder schauen,
Die ich geschaffen, mir zu leichtem Spiel.
Soll ich der Mutter trüben Winken trauen?
Wozu der Zwang, der niemals mir gefiel?
Soll ich nicht mehr auf meine Allmacht bauen? —
Für schwache Menschen wäre das zu viel!
•
Ich mag nicht lösen meine Zauberbinde;
Ich kann nicht missen meine leichte Schwingen,
Die Fackel nicht und auch die Waffen nicht;
Und wenn ich hier den Widersacher finde,
Wie mag mir dann der schwere Kampf gelingen,
Wenn mir's an Zauber und an Reiz gebricht?
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— 661 —
Die Verheißungen.
Nie hatte man bey einem Feste so kunstreiche Tänzer
und Tänzerinnen gesehn ; doch der Koryphant ») Alexis mit seiner
göttlichen Eburgestalt, in welcher männliches Ebenmaas und
jungfräulicher Mildreiz mit erhabener Einfalt und ruhiger stolzer
Kälte unbegreiflich schön zusammen schmolz, übertraf an Kunst-
Geschmeidigkeit und zephyrinischer Leichtigkeit alles; auch den
schönen braunlockigen, feueräugigen , lieblichen Julanthiskos
schier. Schon längst hatte man beide Beherrscher der Herzen
einstimmig als Anführer jeder Freude, jedes Spiels, jedes Tanzes
in Arkadien erkohren. Sie beneideten sich aber nicht. Phoibos-
Alexis war der Liebling der Männer und der Frauen; hingegen
Hermes-Julanthiskos der Apfel des Neides für die Mädchen.
Julanthiskos saß mit mühsam verhaltenen Zähren und
stützte das welke schmollende Haupt mit der glühenden Rechten;
neben ihm die niedliche Freundin und Base Nikrion, mit den
Fingerspitzen seiner Linken nachlässig in ihrem Schoose tändelnd.
Aber, lieber Bruder, so fasse dich! Ist denn ein versagter Kuß,
ein unterbrochenes Spiel, ein schnelles Schweigen bey deinem
Nähern und ein fortgesetztes Gespräch mit den eleusinischen
Jungfrauen, sind denn das alles, guter Julanthiskos, so grausame
Beleidigungen? Ach! und giebt es keine unter uns, die dich
zerstreuen kann? — Liebe Base, holdblickende Nikrion, wählte
mich nicht die gastfreundliche Wirthinn, die Spiele zu ordnen,
und sollte nicht bey dem Tone meiner Stimme, bey dem Winken
meiner Blicke das schwer zu fesselnde Vergnügen und die leicht
zu verscheuchende Freude ihren Rosenthron zwischen uns auf-
stellen; ist es nicht so? Und der Stolze da .... und
Julanthiskos wies auf Alexis, der, sorglos zwischen Mitylenis
und Eunome auf das Ruhebett hingegossen, freundlich ihm
gegenüber mit der holden Wirthinn und ihrer Freundinn plauderte.
Dabey wurde seine Stimme kindlich schmollend, und er warf
trutzig die zarten Rosenlippen schwellend auf, das lockige
Maiaporhaupt*) mürrisch schüttelnd. Nein; der Böse da, dem
ich freylich nicht den Rang in Liebreiz und königlicher Hoheit
und städtischer Bildung und mystischer Weisheit streitig machen
kann, könnte doch fühlen, wenn man ihn liebt. — Und könntest
du dich, unterbrach ihn ungeduldig seine Freundinn, ihm mit leiser
Drohung einen kleinen Schlag auf die Wangen gebend, und mit
ihrem schalkhaften Auge die doppelte Röthe der Schaam auf
seine Wangen verbreitend; ach! könntest du doch die Männer
') Anführer de» Tanzes.
-) Sohn der Maja, Hermes.
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— 662 —
kennen lernen, die am liebsten, wie die Parther, fliehend ver-
wunden, — und dabey stand sie auf, um sich unter die Schaar
der Mädchen zu mischen, die mit neidischen Blicken die ver-
traulich Plaudernden bewacht hatten. Auch Julanthiskos erhob
sich langsam, ordnete das leichte Gewand in zierliche Falten,
und reichte seiner Freundinn die Hand zum Tanze; denn eben
spielte das Chor eine leichte, wirbelnde Weise, und im schnellen
Strome der raschen Freude wollte er seine Laune verrauschen.
Aber Alexis plauderte noch mit den vier reizenden Jung-
frauen. Ja, das — das wollen wir; und dabey funkelten doppelt
schön in dem Glanz einer heiligen, göttlichen Freude seine
langgewimperten Onyx-Augen, und der gewöhnliche Stolz milderte
sich zum Ausdruck der fröhlichsten Schwärmerey. Auch
Eunome und ihre Tochter Agathyllis haben viel durch des Orasis
Verheerungen gelitten; — und er legte drey kleine Goldmünzen
in den verschleyerten Kalathiskos, den Alcine, die Barmherzige,
unter ihren Gästen sammelnd herumgetragen hatte. Auch die
Überreste der Speisen, sagte sie, bekommen meine armen
Arkadischen Landsleute. Alexis flüsterte, das Gähnen mit dem
Saum seiner Chlamys1) bergend: Beim Anteros! Julanthiskos
ist schön! der Myris ins Ohr. Ihr schwört bey dem rechten
Eide, flüsterte schalkhaft seine Nachbarinn Mitylenis, denn du
bist jetzt sein Priester; und — sein Opfer? — entgegnete, sich
unwissend stellend, der verführerischte der Männer. Sprechet
leise, lispelte die schlaue erröthende Eunome ihrem
Nachbar ins Ohr raunend: den du lobest und doch so streng
mishandelst! Misbilligend und kalt lächelnd hüpfte Alexis von
dem aufschwellenden Polster, mit leichter Verbeugung die vier
Jungfrauen grüßend. Eben schwiegen die Töne und die ermüdeten
Paare warfen sich hastig athmend auf den bunten Teppich der
niedern Periklima*). Er ergriff den verlegenen Julanthiskos bey
der weigernden Hand und schwebte schnell mit ihm den
weiten Raum des Tanzsaals auf und nieder. Man kann nicht
immer tanzen, nicht immer plaudern, nicht immer spielen. Die
Lampe will Oel und die Freude Abwechselung, sagte er, nach einem
langen Schweigen, und Julanthiskos nach einem langen Seufzer —
„die Liebe — Gegenliebe." — Was! Du minnest so? armer
Knabe, unterbrach ihn achselzuckend der Undankbare, und maß
ihn mit zweifelnden Blicken. Eine Taube wird es wohl seyn,
Kleiner? — Nein, ein Pfau! — und die Jünglinge trennten sich
flugs mit Groll im Herzen. Julanthiskos hat recht gesprochen.
Liebe stirbt ohne Gegenliebe. Aber Alexis sagte auch die
») ein kurzer Mantel.
-) ein Sofa, das an der Wand hinlaufend das Zimmer einfaßt.
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— tW3 —
Wahrheit: Man kann nicht immer tanzen, und immer plaudern, und
immer spielen; denn die Langeweile fing schon an ihre Giftnebel
über die ermüdeten Gäste auszugähnen, zumal da die entzweyten
Könige des Festes, jeder verstimmt in seiner Ecke schmollte.
Alles seufzte, sich die Augen reibend, acht wo bleibst du, holde
Veränderung? Aber sie blieb nicht aus. Plötzlich öffneten
sich die cedernen Pforten des Saals. Das Katapetasma'V mit
Fimbrien*) und Scharlach-Säumen geziert, rauschte auf, und
athemlos kam hereingestürzt eine der Dienerinnen Alcinens,
freudig rufend: Heute ist unserm Hause Heil widerfahren, und
das bey so später Nachtzeit! Die göttliche Alethophone verlangt
ein festliches Kleid und einen Becher Wein. Nachdem sie sich
gewärmt, ihre Lyra gestimmt, die Haare gesalbet und mit Raute
gekrönt, entbietet sie ihren Gruß durch mich der edlen Wirthinn,
und wünscht ihr und den Gästen auf verlangte Weise die Zukunft
zu enthüllen. — Sie sey mir willkommen! rief, der Räthselhaften
entgegeneilend, Alcine. Alles schlug mit freudiger Ungeduld in
die Hände, alles drängte sich jauchzend und neubegierig nach
der Pforte; und Alexis, Mitylenis und Eunome raunten sich
verstohlen zu: Eleusis! — Plötzlich theilten sich die gedrängten
Haufen. Freymüthig und edel trat die hehre Demeterissa in
den hell erleuchteten Saal und grüßte alle mit den Worten:
ATAnAN KAI QlsiSWAN <DI4()i2.*)
Wie eine längst Bekannte grüßte sie alles, Jung und Alt,
Weib und Mann, Jungfrau und Jüngling, Mädchen und Knabe,
freundlich nahend, aber jedes Herz mit Ehrfurcht und traulicher
Rührung füllend. Man wagte nicht zu fragen, man unterstand
sich nicht zu bitten, und alles schwieg zagend und hoffend; nur
die, welche Eleusis geflüstert hatten, verbargen ihre heftige
Freude unter dem vielsagenden Lächeln der milden Geheimniß
ahndenden Zuvorkommniß. Aber Alethophone errieth aller
Wunsch, und setzte sich, ihre Lyra stimmend, auf den vergoldeten
Hippogriphen-Sessel der freundlichen Wirthinn. Ich kam, sagte
die Vielwissende, zu trösten, zu warnen; und dabey drückte sie
lieblich mit ihrer Wange Alcinens Fingerspitzen, welche die hinter
ihr stehende ihr auf die runde Eburschulter gelegt hatte, und ihr
schöner Mund umgrübte sich wie zum Kusse. Nun verlangte
sie von jedem die Reihe herum seine Lieblingsweise zu hören,
und sagte jedem in dem bekannten Rhythmus eine Lehre, oder
eine Weissagung. Jeder fühlte die Wahrheit; jede Wange färbte
') der die Thiiren bedeckende Vorhang.
*) Fransen.
s) Eine freundschaftliche, glückverheißende Begriiüungsformel.
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— 664 —
sich vor Hoffnung oder Scham; aber alle schrieben sich tief ins
Herz, was sie gesungen, denn selbst der Tadel der Holden war
schonend und schmeichelnd. Zu julanthiskos wandte sie sich,
die Allwissende, ihm einen Kuß auf die bescheidenen Wimpern
drückend:
Lieblicher, wohin, wohin? —
Über Gluthen, über Sehnen,
Über Küsse, über Reize
Treibet dich dein kühner Sinn,
Nach verbotnem Himmel hin.
Julanthiskos verbarg sich erröthend, und ein Strahl der
Hoffnung erheiterte sein trübes Gemüth; denn als sie ihn küßte,
sagte sie ihm leise: Treue siegt. Aber als er sich unter die
Menge der jungen Arkadierinnen zurückzog, warf ihm der stolze
Alexis einen spöttischen Blick zu, der diesem aber einen strengen
von der alles bemerkenden Sängerinn zuzog.
Treue siegt;
Treu' erringt den schönsten Preis.
Laß dich nicht erschrecken
Durch des Stolzen Kälte;
Strahlen folgen Strahlen
Bis die Wolken schwinden.
Und die Herzen der trauernden Ungeliebten füllten sich
mit Hoffnung, und ihre bleichen Wangen glänzten im Rosenlicht
der Ahndung; aber Julanthiskos mußte seitwärts treten, um seine
Zähren zu verbergen, und Alexis sein schadenfrohes Lächeln;
aber Cypariß und Minoe drückten sich freudig die Hände, sicher
vor Älternzwang durch Alethophone's schützende Gegenwart.
Noch manches sang die Demeterissa1), was nur einige verstanden ;
dann hüllte sie sich in ihre tausendfaltigen Schleyer, und nach-
dem sie jedes gegrüßt, und im Weggehen der Wirthinn lieb-
kosend den schönen Arm gereicht hatte, und als Jung und Alt
sie lobend und dankend und preisend, bis an die Cedernpforte
des Saales geleitete, wandte sie sich noch einmal um, und ent-
hüllte noch einmal ihr hehres Angesicht. Dreyfacher Huldreiz
verbreitete sich über Alethophone's göttliche Züge, und indem
sie die glückdeutende Linke Jutanthisken und die strafende Rechte
Alexis reichte, sprach sie weissagend also:
Wenn des Stiers und des Adlers Geblüt dich, König
der Berge,
Netzt, und zierliches Gold des Gottes Wangen umglänzet,
Welcher die Fluren beglückt, die Wiege sich findender
Geister:
Dann, o Eros, umarmt dich Anteros, ewig versöhnet.
*) l'riesterin der Demeter oder Ceres.
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665 —
Und als die Kraft des heiligen Ausspruchs zwey sich grol-
lende Herzen erweicht hatte, verhüllte sie sich wieder, von neuem
ihrer Wirthinn Arm umschlingend. Plötzlich verstummte das
Chor, es erloschen die Lampen, und jeder schlich ermattet und
betäubt zur Lagerstätte; aber nicht um zu schlafen, nein, um
nur von Alethophonen wachend zu träumen. — Was Julanthiskos
geträumt, ließen seine Korallenlippen und seine blassen Wangen
ahnden; auch Minoens und Cyparissens hoffendes Nähern bey
Pans Bomos ') schien ihrer Träume Folge zu seyn. Was aber
manchem andern erschienen, wissen nur Alethophone und die
alles ergründenden Götter; denn nicht alle waren zum Opfer
geblieben.
Die Jagd.
Zephyros heulte durch die entblätterten Wälder, und
schwarze tiefe Wolken wälzten sich über die kalten, öden, über-
schwemmten Auen. Hier und da fielen einzelne schwache Sonnen-
strahlen durch schräge Regengüsse und wirbelnde Schnee-
gestöber. Dort umkreisten Flüge von magern Raben hungrig-
krächzend den fetten dampfenden Rauch der sorgfältig über-
moosten Wohnungen, und nur schwach blöckten die eng zusammen
gedrängten Schaafe, die trockene Fütterung wiederkäuend; und
schwächer möckerten die gesonderten Ziegen, behaglich das ihnen
dargebotene Salz leckend ; und um Stall und Hütte schlichen
• in frühem Dämmern des langen Abends ausgehungerte Wölfe,
mit ekelhafter Gier den Auswurf der Hütten erharrend, und
hämisch heulend und zähnknirschend um die häßliche Kost
streitend. Von innen lagen die Hunde mit steifen Ohren, längs
den Schwellen das stumme kampfgierige Haupt platt auf die
Erde gelegt. Zornig funkelten die treuen Augen, und langsam
und rund bewegte sich der langhaarige Schweif. Bey dem hell-
lodernden Feuer saß julanthiskos stumm und sehnend, das krause
Haupt in eine phrygische Mütze gehüllt, und die betenden Blicke
wehmütig und fromm auf das schwarz berauchte Hermesbild
geheftet, bedacht' er das Lied der weissagenden Thrazierinn.
Sein Bruder Barys, der rohe Hipparchos2) aus Larissa, der ihn
besucht hatte, um mit ihm die Wölfe zu bejagen, saß, die halb-
garen Rüben mit seinem breiten geraden Xiphos3) in der Asche
') Altar.
2) Anführer der Reiterei.
") Degen.
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— 066 —
wendend. An der Wand hingen sein Schild, seine Speere und
sein Helm, neben den Waffen, dem Hirtenstab und der Röte
seines reizenden Wirthes. In einer Ecke glänzten an hohen,
dünnen Lampadophoren1) die doppeltdochtigen Lampen, und
verbreiteten ihr ungewisses Licht über die glatt getäfelte Zelle,
und in der andern Ecke saßen auf der niedern Bank der alte
treue Myrion und der muntre Phryx, der eine Kalathisken, der
andere Diktyen *) flechtend. Barys hatte genug von Schlachten
und Gelagen, Spielen und Festen, Orgien und Lampsakalien3)
gelogen, worauf Julanthiskos, der minnezerstreute, nicht hörte,
als er, das schwarze, dick- und nahgebraunte Auge nach
dem Innern der Zelle wendend, mit rauher gebieterischer Stimme
rief: Sklaven, flugs! des besten Weins einen Becher; einen
weiten, tiefen Becher, denn das Reden und der Rauch haben mir,
beym Priap! die Gurgel ganz zugeschnürt; und du Julanthiskos
bist so zerstreut und so wunderlich, wie eine Braut beym Gesänge
der Paranymphen.') Kannst Du noch immer nicht den stolzen
Alexis vergessen, und seine Sprödigkeit? Ein Seufzer war die
traurige Antwort des Hoffnungslosen. — Beim Pan! so biete ihm
einen Becher, oder einen schön geschnittenen Krug. — Ach !
was ich ihm biete, verschmäht ja der Böse. — Ey, so vergiß
ihn, bei dem freudebringenden Gott! Barys wollte noch etwas
härteres sagen, als der dienende Knabe mit den tiefen, blinken-
den Kratern herein trat, und sie ihm lächelnd darbot. Der
durstige Krieger trank hastig, und reichte Phryx das leere Gefäß
wieder zurück, ihm so dankbar die Wangen streichelnd, daß der
Knabe darüber erröthete. Dann sprach er mit ungewischten
Lippen, daß er dem Sklaven mit dem getrunkenen Naß die Stirne
besprützte: Sing' mir ein Lied, Bube, aber ein kurzes; denn es
scheint, als wittere der Hund einen Wolf in der Nähe. Phryx
spähte Erlaubniß in den Augen seines Herrn, und als Julanthiskos
traurig ein gefälliges, brüderliches Ja nickte, begann Phryx die
muntere Weise:
Wer sich wund gekämpft, der trinke;
Wer sich matt gejagt, der trinke;
Wer sich müd' geküßt, der trinke;
Wer sich arm gespielt, der trinke;
Wer sich stumm gegrämt, der trinke!
») Gestell zur Befestigung der Leuchter.
*■) Netze.
s) Geheime und ausschweifende Feste des Bacchus und des
Gottes der Gärten.
*) Brautfuhrerinnen.
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— 667 —
Und dabey reichte er einen kleinern Becher seinem durch
Zähren lächelnden Herrn. — Auf einmal unterbrach Melag und
Okypos lauteres Bellen Gesang und Gespräch. Hastig raffte
der jagdliebende Barys seines Bruders Waffen von der Wand,
und ungeduldig schnaubend durch die Kammern, die Flur und
die Vorhalle rennend, kam er an die verriegelte Hausthür, wo
die ungeduldig kratzenden Hunde ihr Gebell hören ließen. Mit
einem: Beym Priap! dem muß ich den Hals brechen! riß er die
Thür auf und stürzte mit den wüthigen Bestien in den beschneieten
Hof hinaus, schwang sich über die blätterlosen, bereiften Hecken
hinweg, sah in der Ferne noch die fliehenden Unthiere, wollte
immer den Feinden nach, und fiel — o weh! über eine im
Schnee versteckte Pinienwurzel. Übelgelaunt und mit blutiger
Nase hinkte er wieder in die warme Hütte zurück. Dem habe
ich, beym lampsakalischen Kolosse, einen Stich beygebracht, an
den er lange denken wird, sagte er, die ungebrauchten Waffen
an die Wand hängend. — Hat Dich der Wolf gebissen? fragte
spöttisch Julanthiskos, als er sah, dass sich Barys das Blut mit
der Chlamys abwischte. Mismuthig setzte sich der Thessalische
Held, und zog seine Mächära1), nicht um den erlegten Wolf zu
zerstücken, nein, um die angespießten Rüben aus der Asche zu holen.
Aber ach! sie waren verbrannt. Hoch lachte Julanthiskos; mürrisch
sprang darob Barys auf, um in Morpheus Armen zwischen den
weichen Bärenhäuten des nächtlichen Lagers von Beute, Wollust,
Gewinnst und Rausch zu träumen; und Phryx, der schadenfroh
von ferne die unglückliche Jagd belächelt hatte, sang ganz leise,
als er Barys den Schlaftrunk und das rauchende Melikrama 2)
reichte:
Wer sich blutig fiel, der trinke.
Der Traum.
Blaue Sommernebel überzogen von der Morgengluth
niedergedrückt die tiefen Kühlen der Waldthäler, die in dem
Schatten der hohen Gebirge lagen, welche ihre runden Arme
um die bethaueten Wiesen lagerten. Blöckend weideten in den
feuchten Tiefen Nikrions dürstende Heerden; aber ihre bräun-
lichen Ziegen hüpften in wilden Schaaren die schroffen Felsen
am See auf und nieder, das Kaperngesträuch und die wilden
Weinranken benagend. Lykanor, der treueste Diener der
') Schwert.
*) Ein aus Wein und Honig gemischtes Getränk.
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schönen Hirtinn, lag im Schilfe und neben ihm sein Hund.
Lykanor saß stumm, den braunen Finger auf die Lippen geheftet,
in der andern Hand die eben geschälten Rohrstängel haltend,
die er zur Flöte für seine Gebieterinn bestimmt hatte, deren
streng wiederholtes Pst! seinen frohen Liedern ein schnelles
Ende gesetzt hatte; denn Nikrion saß träumend im Schatten
der Haselbüsche am murmelnden Bach, und stützte das matte
Köpfchen, die großen Feueraugen halb schließend halb öffnend,
auf ihre Rechte, mit der Linken den krummen Hirtenstab nachlässig
haltend. Zu ihren Füßen im hohen Farrenkraut lag ihr mit
rosenrothem Rittersporn und feuerfarbigem Mohn gefülltes Hüt-
chen und auf der andern Seite stand ihr zierliches Galakterion ').
Die reizende Schwärmerinn hätte noch länger geträumt in dem
dunkeln Schatten der Haselbüsche, ihr lykaonischer Diener noch
länger stumm und müssig gelegen im hohen flüsternden Schilfe des
Sees, wären nicht die Freundinnen Mitylenis und Eunome mit
ihren Heerden durch die nämlichen Fluren daher gezogen, und
hätten nicht die Weitsehenden ihre Vielgeliebte in der Tiefe der
düstern Gesträuche erspäht. Wachst du, oder träumst du,
kleiner Liebling unsrer Gemüther, frug auf einmal das plötzlich
sich nahende Schwesternpaar? Du reibst dir noch die schwarz-
beschirmten Wimpern; schnelle Röthe bedeckt deine Stirn, und
du seufzest gar verlegen, zierliche Nikrion. Neckend ergriff sie
Eunome bey dem lieblich gegrubten Kinn und Mitylenis bey den
rosigen Fingerspitzen und flüsterte ihr ein bedenkliches, Bist du
verliebt? oder was fehlt dir? ins kleine Ohr. Also antwortend
erhob sich die Schönste aus Arkadien, freudig die weit ge-
öffneten Augen gen Himmel kehrend, und dabey entschlüpfte
ihren Korallenlippen ein hoffender Seufzer: —
Langersehnte Götterbotinnen seyd ihr mir, ihr holden Ge-
fährtinnen. Ja, du traumdeutende Mitylenis, du räthsellösende
Eunome. Laßt euch umarmen, ihr theuern, holden Schwestern,
denn ihr kommt mir in einer herrlichen Stunde. Dank euch,
Erebos und Morpheus; und dabei ergriff die Fromme das hoch-
gefüllte Galakterion, und besprengte siebenmal den Boden und
streute feuerfarbigen Mohn und Ajax rosige Blumen zu den
Füßen der Deutung bringenden Schwestern; dann winkte sie
dem schwarzen Hirten, sich zu entfernen. Du träumtest also,
liebes Mädchen, fragte freundlich nach kurzem Nachdenken die
edle Mitylenis; und das nach der hohen Mitte der Nacht, als
schon Phosphoros, der Liebe-weckende, dem argolischen Meere
entstiegen war? Sage, wenn opfertest du zum letztenmal
Hygiäen und den Nymphen? Vor vier Tagen, erwiederte Nikrion,
,: Milchgefäü.
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sittsam erröthend. Was aßest du, ehe du einschliefest? Einige
Feigen und etwas Melimala '). Nun erzähle und laß die Grillen
weichen, denn die Allmächtigen meynen es gut mit dir, da sie
uns so früh zu dir senden. Wir kamen, setzte die jüngere
Eunome hinzu, dich zu bitten, uns das neue Lied zu lehren,
welches jüngst der reiche Alexis aus Megalopolis euch bey
Myris Feste sang, und welches du auf deiner Flöte so zierlich
begleitetest. Gern, holde Freundinnen, will ich mich damit
lösen. Setzt euch ; hier ist es kühl, weich und trocken. Ge-
fällig griff sie in ihren Kalathiskos, um die beschriebenen Rinden
zu suchen, worauf sie Alexis Lied gegraben, ihre Ungeduld und
ihre Wißbegierde unterdrückend. Nein, bey den Nymphen, sagte
noch Eunome, sich liebend an sie schmiegend: erst erzähle
deinen Traum, denn darum sind wir doch hier; dann ist es
noch immer Zeit, uns dein Lied zu lehren. Auch kommen wir
eben von jenen Hügeln, wo wir Julanthiskos weinend fanden;
auch ihm brachten wir Frieden. — Und mit welcher Botschaft,
fragte lächelnd Nikrion, oder welchem weissagenden Spruch?
Ei, beym Pan! rief schalkhaft Eunome, was geht dich der
schöne Jüngling an? Was er mich angeht? — Alexis Lied,
Julanthiskos Thränen, Myris Feste .... Erlaube, daß ich einmal
errathen darf. Vermuthlich frug er euch, ob man ihn immer
mishandeln würde, und ob stets minnearm und schmerzenreich
seine Tage über ihn wegschleichen würden? — Errathen! kleine
Pythia, riefen lachend die Freundinnen. Ja, der trostlose Jüng-
ling wollte wissen, ob stets der spröde Alexis ihn verhöhnen
würde, wie jüngst an Myris Fest. Wir sagten: Wenn Alexis
bespritzt von dem feindlichen Blute liegt, hingestreckt an des
Kyllene gähnendem Abgrund, findest du, lieblicher Jüngling, nach
dreyßig Tagen und Nächten Minne in Klüften und Minne am
heiligen Male; doch mußt du opfern das herrlich glänzende
Strephon*) dem schützenden Sohne der Maja. — Doch auch du
träumtest von Julanthiskos? — Damit endigten die allwissenden
Jungfrauen ihre vielbedeutende Rede. Warum soll ich läugnen,
sagte Nikrion, und schlug beherzter die Augen auf. Ja, eine
Art von Julanthiskos war's, der mich führte; aber große Riesen-
schwingen bogen sich noch über den Scheitel und die mächtigen
Pinnen3) berührten die Erde. Eburn und blendend die unver-
gleichliche GöttergestaJt, phönix4) die serischen ') Haarschleifen
auf der ehrfurchtgebietenden Stirn. Majestätisch und voller
Siegreiz schwebte er daher, tadellos und gewandlos. Wo er
sich hinwandte glänzte Morgenroth; und Hyacinthendüfte um-
') Honieräpfel. — *) Halsband. — ') Schwingen. — l) dunkel
purpurrot. — '•) seidenen.
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flössen ihn überall, — gemischt mit des Euphons süßem Getön.
Mit der Flöte, die er hielt, berührte er mir die Augen, und vor
mir lag eine Rose, größer wie dieses Thal und schillernd und
funkelnd in tausend Farben, und aus der Rose sprudelte ein
ambrosischer Lichtstrom, warm und höher als der Olymp und
der Sitz der Unsterblichen. Rechts, sagte er mir, unter diesem
Rosenblatte ist Hyacinthos Grab; links, der Dioskuren Wiege;
hier Orions Lager, und zu deinen Füßen Narcissens Quelle.
Plötzlich entflog aus jedem Lichttropfen der Quelle eine bunte
phantastische Ephemere, aber jede trug ein schönes Kinderhaupt,
und küsste den nackten geflügelten Gott im Vorbeyfliegen, so
dass zuletzt keine Stelle seiner herrlichen Gestalt ungeküßt blieb.
Ich erkannte unter der Menge Julanthiskos Züge, menschlicher
und arkadischer, aber doch meinem himmlischen Führer ähnlich.
Die Julanthiskische Grille verschmolz sich mit ihr. Ihre Locken
wurden brauner und ihre Färbung menschlicher; ihre Schwingen
und die Rose verschwanden. Beschämt und getäuscht zog ich
die Hand zurück. Eros wollte ich folgen, aber nicht einem
arkadischen Flöter. Und mit einem Schrey des Zorns erwachte
ich, und noch immer schwebt die entgötterte Liebe um mich
her, und erfüllt mein Herz mit Scham und Groll. — Nähre dieses
Gefühl, riefen begeistert die weissagenden Jungfrauen; nimm
diesen Ring. Hier erblicke den Käfer und drunter gegraben die
Schlange und den Hahn und das Wiesel. In Eleusis wirst du
finden, wonach du so lange schon schmachtest. — Weiter
wollten sie reden; aber Julanthiskos kam mit seiner Heerde, und
die Schwestern flüsterten schalkhaft der schönen Träumerinn ins
Ohr: „Nimm dich in Acht; da kommt der entgötterte Eros.«
Aber Unwillen und Zorn entschwanden schnell aus Nikrions
trefflichem Herzen, denn Thränen des Unmuths bedeckten des
Jünglings glühende Wangen. „Lieber Nachbar", rief sie, ihm mit
sanfter Holdseligkeit die Flöte reichend, „Mitylenis und Eunome
wünschen,* daß ich das Lied singe, das ich jüngst bei Myris
bließ. Bitte, komm!" und er kam und begleitete sanft und
schön Nikrions Silberstimme, daß die Vögel des Waldes
schwiegen und die Hirten und Hirtinnen der Nähe herzueilten:
Kennst du das Thal, der Vorzeit Zauberspiegel,
Wo ewig Unschulds-Lilien blüh'n?
Es ist des Traumes Geisterland.
Kennst du das Thal — es glänzt in Phöbos Strahlen —
Wo üppig Cypris Rosen glüh'n?
Es ist des Traumes Geisterland.
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Kennst du das Thal, umstrahlt vom Zukunftsterne,
Wo singend jede Welle rollt?
Es ist des Traumes Räthselland.
*
Julanthiskos Thränen rollten in der Flöte sanft hüpfendem
Tacte, und er dachte an der Schwestern tröstende Weissagung.
Auch die singende Hirtinn dachte an Eleusis und der heiligen
Alethophone Umarmung, und ihre Blicke verließen nicht den
räthselhaften Ring, den sie eben von den Freundinnen erhalten.
Lange standen Julanthiskos und Nikrion in Gedanken verlohren,
und hatten nicht gemerkt, daß die Jungfrauen der Wahrheit
durch das Gebüsche verschwunden waren. — Ich werde doch
endlich glücklich lieben, seufzte der hoffende Jüngling! In
Eleusis werde ich Frieden und Vollkommenheit finden! flüsterte
Nikrion, ihren Ring küssend; und sie trieben ihre Heerden
weiter in den Wald hinein, denn die Sonne glühte am hohen
Mittage.
Die Früherndte.
Bei Pans [von fünf riesenmäßigen Feigenbäumen malerisch
umstrickten und vom brausenden, sich nördlich in den heiligen
Nymphensee am Fuße des entfernten Kyllene ergießenden Orasis
bespülten] Altare saßen die Schwestern Myris und Alcine im
Schatten mächtiger Buchen, um welche sich rothbeeriges Geisblatt
und zierlich gefächerte Waldreben, Kränze windend, hinauf
klammerten, und schieden die rothwangigen Gaben des Herbstes
in hohen Kalathisken1) und auf breiten Diskoiden*) und in tiefe
kleinere Kraterinen3), alle zierlich und eng und haltbar aus
Weiden, Rohr oder Binsen geflochten. Neben ihnen saßen die treuen
Mägde, lasen und halfen, säuberten und wählten. Larig war die
Arbeit, denn überschwenglich waren dieses Jahr Pans frühe
Wohlthaten. Zu ihnen gesellte sich die muntere Phylis und
Teukrion, ihr älterer Bruder. Auch die Muhme Lesbia mit
ihrem Bräutigam, dem Megalopolischen Barys, und Barys der
Jäger, des reizenden Julanthiskos älterer Bruder, und Kleanth
mit Leucinoe, Melissa und Psyche, alle Freunde, oder nahe mit
Myris und Alcine verwandt. Singend, plaudernd und lachend
vergingen die geschäftigen Stunden. . . . Die Sonne schien heiß
und feurig durch die welkenden Blätter, und die jauchzenden,
naschenden und küssenden Freunde setzten sich eng und ver-
») Körbchen. — ■) Schüsseln. — ") Schalen.
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traulich in die kühlen Schatten der Stämme zusammen. Die
Mädchen hatten gesungen, und die Jünglinge jeder sein Mährchen
erzählt. Jetzt kam die Reihe an Barys und seinen Bruder
Julanthiskos. Barys ergriff die gelbe Flöte, nachdem er sich die
mit dem Blute der Kirschen gefärbten Lippen abgewischt.
Julanthiskos stimmte die hohle, braungefleckte Zistra in den
weichen Lydischen Modus. Eben will er das Lied der Schwalben
beginnen, als sie alle fröhlich und begeistert ausrufen: „Sieht
er nicht aus, der Liebliche, wie Hermes-Zistrophoros!"
Bescheiden erröthend verbeuget er sich hold und demüthig,
während der ältere spöttisch unter den tiefgedrückten Braunen
zu ihm hinaufschielte. Doch Julanthiskos lächelt dankend und
beginnt das liebliche Lied:
Chelidon, wohin, wohin? —
Über Berge, über Flüsse,
Über Länder, über Meere
Treibet mich mein innrer Sinn
Nach entferntem Frühling hin.
Chelidon, woher, woher?
Über Meere, über Länder,
Über Flüsse, über Berge,
Fand ich's fremd und freudenleer;
Darum komm' ich reuig her.
Chelidon, so bleibe hier;
In dem Schatten unsrer Hütte
Findest Ruhe du und Minne. —
Ewig rasten räthst du mir?
Nein; nur Wechsel lieben wir.
Nachdem der reizende Sänger geendet und sich wieder
zu den Rissen der holden Hirtinnen gesetzt, begann von neuem
das muntere Gespräch. Nur ein Mann konnte das Lied des
Wankelmuths singen, sagte, seufzend Lesbia — und des Undanks
dazu, seufzte Philis, — und der Eitelkeit, lächelte bitter Leucinoe.
— Aber Julanthiskos ist ja nicht alles dieses? flüsterte erröthend
Alcine. Auch wollte ich alles dieses nicht rühmen, antwortete
der fein Hörende; auch ich kenne mein Geschlecht, und Thränen
traten ihm ins dunkle blaue Auge. — Ihr sehet, Schwestern,
daß euer Urtheil den Holden betrübt, und dabey hielt sie den
traurigen Jüngling zurück. Er geht ja nicht mit seinem Bruder
und den andern Männern zu den berauschten schreyenden
Winzern, oder zu den frechsten Dirnen, wie er; nein, er bleibt
bey uns, ob wir gleich ihn miskannten. Alle die Mädchen
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baten ihn um Verzeihung und küßten ihn zärtlich. Acine setzte
ihm einen Kranz von Myrthen und Spätveilchen auf das
gebückte Haupt; und Myris und Melissa kränzten mit Wintergrün
seine Chelys, und Psyche salbte die Fingerspitzen mit köstlicher
Myrrha; aber alle ernannten ihn zum Könige des herbstlichen
Festes; und sie plauderten und sangen noch lange, obgleich die
neidischen Jünglinge sie schmollend verließen, um ihren Groll
in dem berauschenden Saft der Reben zu ersäufen. Julanthiskos
blieb bescheiden, denn unter den Gehenden war sein Bruder. Jetzt
tönte das ferne Evoe! Mein Bruder opfert, und wir vergessen
undankbar, daß diese Schätze Pans Gaben sind. Sein Altar
stehet leer, und wir sammeln und genießen. Ein heiliges Feuer
begeisterte alle. Dankbarkeit und Götterfurcht erfüllten jedes
Herz. Die Wirthinnen ergriffen mit jungem Most gefüllte Becher
und begossen damit zur Weihe das unter den Feigenbäumen
errichtete Mal. Julanthiskos bekränzte die Zweige mit späten
Blüthen, und die Abendsonne beschien lächelnd das schönste
Fest der Dankbarkeit. Aber der Mond beleuchtete bey seinem
Untergehn die blassen Gesichter der Männer, wo die Farbe des
Ekels und des Nachrausches schon lange die der Reue und der
Schaam verscheucht hatte. —
Die Hoffnung.
Der Herbst schüttelte mit seinen lohfarbenen Sperber-
schwingen feuchte röthliche Abendwolken und rasselnde gekrümmte
Blätter und schwärzliche Schiefersplitter in das trockne Moos
und die welkenden Geniststräuche, über die runden Abfälle des
heiligen Kyllene, in die tiefen wärmern Thäler, die der hoch-
uferige Orasis schäumend laut durchmurmelt. Nur die immer-
grünen Eichen, die stolzen kernreichen Pinien, die harzigen
Mastixbäume, die glänzenden Tinos, die korallentragenden Stech-
palmen, und die Felsen umklimmenden Smilaxbüsche trotzten
dem alles Verheerenden. Phoibos streckte segnend seine goldenen
Arme über Arkadien aus, und ruhte sein purpurlockiges Götter-
haupt an die Lazurpfosten seiner nächtlichen Kammer, eh' er
Messenien und Elis sein Abschiedslied hören ließ, und bange,
süße Ahndung zirpte wie Grillenklang durch die müden Herzen.
Julanthiskos stand freudenlos unter den hervorragenden Felsen,
schlaff hing sein schönes Haupt auf die matt wallende Brust
herab, naß und ungekräuselt die weichen bräunlichen Locken um
Nacken und Schultern. In der unthätigen Rechten hielt er einen
Kranz von späten Veilchen und Wintergrün, in der Linken
Jahrbuch V. 43
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*
schwebte in der unbekümmerten Fingerspitze der schlaffe Bogen.
Von den weißen Hüften war das kurze ätolische Jagdgewand
zu den Knien herab geglitten, und zu seinen gekreuzten Füßen
lag im hohen Moose der Vorhöhle sein leichter, pfeilreicher
Köcher. Des schönen Knaben treue Jagdgefährten, Melos, Kyanos,
Okypos, die spitznasigen Verfolger der Rehe, durch eine Kuppel
gefesselt, schlichen wähnend, als hielte sie noch ihr träumender
Herr, längs dem schwärzlichen Schieferfelsen mit tiefstreifenden
Schnauzen die weit duftenden Pilze des Herbstes auswitternd.
— Aber der Unzufriedene fühlte nicht die kalte Feuchte des
Heiligthums der Hamadryaden ; er hörte nicht das ängstliche
Mökkern eines zarten verirrten Lammes, das längs dem steilen
Abhang der Untiefen athemlos durch das welke Moos kletterte,
daß die rollenden Kiesel und die gebröckelte Erde raschelnd
in die Felsenklüfte herabfielen; und von ihm ungehört ahmte
Echo seine Seufzer, und das Angstgestön des zitternden Lammes»
und das Rauschen der Blätter und Steine nach. Auch hörte er
nicht das entfernte Rufen Onikleiens; er sah auch nicht in seiner
traurigen Zerstreuung einen riesenmäßigen Lämmergeyer, der in
weiten, dann in engern und immer engern Kreisen die niedere
Luft vor Julanthiskos düsterm Schmollwinkel pfeifend durch-
schnitt. Ach! er hörte und sähe nichts; denn er träumte von
unbelohnter Freundschaft und mordendem Undank. — Auf ein-
mal schlugen dreymal seine drey Gefährten an. Durch den
wohlbekannten Ton schallte das ängstliche Rufen einer athem-
losen Mädchenstimme. Sich selbst unbewußt, blickte er durch
die Zähren des Unmuths, rasch Bogen und Pfeile ergreifend.
Er hörte noch einen krachenden Fittigschlag des gierigen
Mörders, und blutend rollte Onikleiens unschuldiger Liebling von
Felsen zu Felsen in die unendliche Tiefe. Umsonst sandt er
den unsichern Pfeil von der kaum gespannten Sehne, und eben
so umsonst schallte das zürnende Gebell seiner Hunde in das
Thal hinab. Der König der Klüfte hatte glücklich gejagt. Mis-
muthig und ärgerlich wollte Julanthiskos in seine Lieblingshöhle
zurückkehren; da lag hinter ihm höher am Abhänge des Berges
blaß und erstarrt im blutigen Farrenkraut Onikleia, die schönste
der Hirtinnen, das Gewand zerrissen, und die schwarzen üppigen
Locken hingen herab über Stirn, Wangen und Busen, und die
grüngelben Blätter des Farrenkrauts schlugen hoch, wie eine Laube,
über der lang hingegossenen Mädchengestalt zusammen, als
freuten sie sich des schönen Fangs. Julanthiskos schöpfte
erweckendes Kalt aus der nahen Quelle, und bestrich damit die
zarten Schläfen der langsam Erwachenden. Ein sprödes Ach !
entfuhr den sich wieder röthenden Lippen, und spröder stieß sie
den verlegenen Knaben zurück. Mit einem Ach! richtete sie
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sich auf, in die verwirrten Gewänder sich hüllend. Glücklich
für beyde kam die jüngere Molyssa herzugestürzt. Die undank-
bare Spröde befahl im kalten Ton dem reizenden Jäger, den
Ort zu verlassen. Er nahm bitter lächelnd seine Pfeile, seinen
Köcher, seinen Bogen, und verhüllte seine zu entblößte Gestalt
in das ätolische Jagdgewand. Er ergriff schmollend die Leitseile
seiner schnellfüßigen Hunde, und stieg den heiligen Berg mit Groll
gegen die undankbaren Menschen im Herzen herab; und im
Herabsteigen hörte er noch lange das fruchtlose Jammergeschrey
der trostarmen Schäferinnen. — An der Flamme seines heimi-
schen Heerdes schwur er bey dem Heiligthum der Hamadryaden,
sobald nicht wieder auf Männerliebe und Mädchendank zu
rechnen; aber ein Etwas stahl sich in ihn mit der leuchtenden
Wärme, die seinen Körper durchdrang, und lächelnd grub sich
die Hoffnung einen werthen Namen in sein treues, zärtliches
Herz. Hermes — lispelte er — und ihr heiligen Nymphen, die
ihr meines Unmuths und meiner Wünsche Zeuginnen wart! —
und indem er so dachte, hüpften seine Pulse freudiger; und
lächelnd setzte er den Veilchenkranz dem rusigen Hermeshaupte
auf, und das Lied der Hoffnung:
Nenne mir bey drohenden Gefahren
Jenen Stern, der niemals sich verbirgt,
Dessen Glanz das tödtende Entsetzen
Mächtig in der Zukunft Raum verbannt.
Nennen will ich meines Führers Namen,
Hoffnung, dich, des Glückes Morgenstern —
entquoll seinen Rosenlippen. Wie beschämt gedachte er des
Eides bey der Hamadryadischen Höhle, und schlug noch immer
die Cyanen-Augen von langen schwarzen Wimpern beschattet,
in die hochrothe Gluth; aber eine mächtige Stimme, wohllautend,
übermenschlich, erscholl durch die gemächliche Hütte, ihn nennend.
Zitternd sank er zu dem heiligen Wunderbilde der Vorzeit, und
um den schlanken Hals des herabblickenden Gottes wand sich
ein leuchtendes Strephon. Da gedachte er plötzlich der tröst-
lichen Verheißungen, welche ihm die Jungfrauen der Weihe
gegeben hatten, und die herrliche Ahndung, die des Jünglings
hochklopfendes Herz bey diesem Gedanken durchbebte, täuschte
ihn nicht. Julanthiskos ward überzeugt, daß kein Freundschafts-
bund gedeiht ohne Beständigkeit und ohne Majapors segnende
Macht; und dieses Bewußtseyn war eben die Stimme Hermes
Philozügetes1), der an jenem glücklichen Abend über Arkadien
wegflog.
) des Freunde verbindenden.
43»
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Die Erfüllung.
Du, Mynion, bleibst in der Hütte, und du, Limeus, weidest
die leicht sich zerstreuenden Ziegen längs der hohen Ufer des
Orasis; und du endlich, erfahrner Phryx, führst die Lämmer
seitlang der lotusreichen Tiefen der warmen Quellen. Nimm
diesen Kalathiskos und pflücke mit schonenden Fingerspitzen
auf den sammtigen Blättern mir die schwarzen leicht zerschmelzen-
den Beeren des Herbsts; denn durchnässende Nebel umhüllen
schon des Kyllene Steilen. Du aber, Mynion, erhalte das kleine
Feuer und öffne klüglich die Züge. des Heerdes, damit der Rauch
die Kammern nicht verderbe. Also sprach Julanthiskos, der
schönste der arkadischen Jünglinge, die schwankenden Speere von
der glattgetäfelten Wand herablangend, und den braunen flachen
Hut sich unter das weiche Kinn festriemend. Du, Phryx, hefte
mir auf der linken Schulter den runden Mantel deines Mutter-
landes. Recht! Noch einmal wandte er grüßend das bräunlich
gelockte Haupt zu dem schützenden Bilde des Gottes, selbst
nicht ahndend, daß er so bemäntelt und behütet wie ein unbe-
flügelter Hermes aussah, und verließ, nachdem er alles besorgt,
schnell die älterliche Wohnung. Zuerst eilte er durch den
schattigen Gang der Reben, dann durch den Garten der obst-
tragenden Bäume, dann über die Wiesen am Orasis, dann bey
Menalkas Hütte und bey Grynions und Myrtills Wohnungen
vorbey, itzt bey dem Kedrischen Born, der bey den Cypressen
rauscht, dann schnellen Trittes den Hügel hinauf; jetzt unter den
immergrünenden Eichen, dann bey dem Ulmenwalde vorbey und
den Tinosgebüschen, dann bey den hohlen Felsen der Schiefer-
brüche. Jetzt grüßt er Minoe, die Neuvermählte; schäkernd
hält sie ihn beym flatternden Mantel. Wo so schnell hin,
Julanthiskos? Zwar sind wir gewohnt, daß du den scharfen
Wurfspieß dem krummen Schäferstab vorziehst, doch nie sah
ich dich so schnell die Räume durchschneiden. Höre, was zieht
dich den mit Herbstnebel bedeckten Kyllene so unwiderstehlich
hinauf? Ich lasse dich nicht eher los, du sagst mir den Zweck
deines Eilens, oder du singst mir ein Lied. Sagen kann ich
dir nicht den Zweck meines Strebens, denn ich weiß noch nicht
die Beute der Jagd, die mir zu Theil wird; aber singen will ich
dir wohl ein Lied, und was noch mehr ist, das Liebiingslied
deines Cyparissos. Doch zuerst gieb mir einen Kuß. — Wenn du
gesungen, so will ich sehen, ob es der Mühe lohnt. Und
Julanthiskos stimmte das Lied des Jägers Arkas in dem Phrygi-
schen Modus an:
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— G77 —
Beym kindlichen Strahl des erwachenden Phoibos
Ergreifen wir Speere,
Pfeil, Bogen und Hörner,
Und folgen dem Drange
Zum Hayne, zum Walde ;
Und folgen dem Streben
Nach Beute, nach Ruhm.
Beym göttlichen Glühn des alltreffenden Phoibos
Verlassen wir Speere,
Pfeil, Bogen und Hörner,
Und schleichen ermüdet
Zu kühligen Grotten,
Und folgen dem Durste
Zum murmelnden Bach.
Beym scheidenden Purpur des segnenden Phoibos
Heimkehren wir singend.
Es klirren die Waffen;
Es tönen die Hörner.
Wir folgen belastet
Dem plaudernden Zuge,
Mit Beute, mit Ruhm.
Ehe er das Lied geendet, kam Cypariß selbst, und mit
dem letzten Klange der phrygischen Weise hielt Minoe und ihr
Gatte liebkosend und lobend den unwiderstehlichen Jüngling in
ihren Armen; aber hochglühend entwand sich der Reizende, und
entfloh wie der unaufhaltbare Pfeil den Hügel hinauf, und durch-
schnitt den Raum und die Herbstnebel. Noch lange sprachen
die Gatten von Julanthiskos, dem schönsten der Jünglinge, dem
vorzüglichsten der Sänger, und dem raschesten, muthigsten der
Jäger aus dem kyllenischen Gau, ehe sie heimkehrend die
blöckenden Lämmer und die hüpfenden Ziegen in ihre
geräumigen Hürten gesammelt hatten. Julanthiskos, von Kälte
und Nebel durchnäßt, hatte umsonst Wälder und Büsche durch-
späht, war umsonst von Felsen zu Felsen gehüpft, denn heute war
der heilige Berg wie ausgestorben. Hier und dort hackte ein
einsamer Specht die glatte Rinde des Lorbeerbaums, oder die
dicke Borke der Korkeiche, und die nachäffende Echo wieder-
holte den Einton, oder sie schrie dem heisern Pfeifen des gierigen
Weihe oder des fernhorstenden Aar nach, oder brüllte schwach
und traurig wie der Büffel in moosigen Klüften. Alles war öde und
schauerlich. Selbst die zaghaften Eidechsen schlüpften langsam
über die rothen Nadeln der Pinien durch das welkende Farrenkraut,
i.-.*! c . 2 c.t.ic i i* . — z...u<*.. i.i i.iTO \\ irr* . ^ — - . 2 i»*.w_r!.
Keine Grille wagte zu zirpen, und Julanthiskos ahndender Seui'zer
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und ungeduldiger Fußtritt war der einzige Klang, der mühsam die
dichten, grauen, kalten Nebel durchdrang. Doch wer hemmt den
rastlosen Schritt des spähenden Jägers? Wer vermag der suchen-
den Hoffnung der Liebe einen neuen Weg zu lehren? Julanthiskos
seufzte sehnend dreymal: Alexis. — Da hörte er plötzlich fernes
ängstliches Rufen, und sein Alexis wurde Gegenruf. Er stürzte von
Felsen zu Felsen, nur der Stimme der Ahndung folgend; denn
undurchdringliche Nebel und herbstliche kalte Schatten bedeckten
die schlüpfrigen Schiefer, und die glatten niedergedrückten Geniste
und Haiden der kyllenischen Einöden. Itzt klang es wieder wie
Hülfe, Hülfe! und Julanthikos mußte sich wenden, denn die Klage-
stimme kam von der entgegengesetzten Seite ; aber näher und ver-
nehmlicher, bekannter und theurer klang das flehende Hier, Hier!
Krampfhaft schlug ihm das ungeduldige Herz; itzt drängte er sich
durch die eng gepflanzten Stämme hoher Pinien, dann wieder durch
die verwirrten Dornen der Kapern und Hippophaen, und die wilden
Gestrüppe der Felsen; zuletzt schurrte sein müder Fuß bis an den
jähen Abhang einer schwarzen Untiefe, und durch den graublauen
Schleyer am entgegengesetzten Rande erkannte er die geliebte
Gestalt seines Alexis. Die Freude, ihn endlich zu treffen, ver-
scheuchte schnell den innerlichen Schauder des Schwindels. Bist
Du es, Julanthiskos? tönte es schwach jenseits der Kluft; bist Du
es, Alexis? erschallte es entzückt, doch athemlos diesseits. Komm,
ach! komm; — und ein mächtiger Sprung über den fürchterlichen
Felsensturz vereinigte, die sich vielleicht sonst nie gefunden hätten.
Der reiche Bewohner des Kyllene, Besitzer der schönsten Palläste
und Gärten in Arkadien, ja selbst im ganzen Hellas, der stolze
Jüngling, um den so lang der treueste der Hirten gedient hatte, lag
verwundet und matt, durchnäßt und waffenlos auf dem blutigen
Felsen. Gejagt hatte er die brüllenden Bewohner dieser nebelichten
Höhen. Der Wege unkundig, von seinen Dienern verlassen, war
er in die Irrgänge der übereinander gestürzten Basaltklippen
gerathen. Den letzten Wurfspieß hatte er seinem grimmigen
Gegner in den feisten Wanst gerennt, und rollend und sinkend
stürzte das gehörnte Ungeheuer auf seinen Sieger, ihn zu
zerquetschen drohend; und so fand ihn Julanthiskos verwundet
und mit Blut bespritzt neben dem noch röchelnden Büffel.
Die Jünglinge wurden endlich von Alexis Sklaven gefunden, wie
sie Mund an Mund auf dem weichen Moose einer der Kylieni-
schen Höhlen schlummerten. Alexis, der Gerettete, war nicht
mehr undankbar, und Julanthiskos, der Findende, nicht mehr
unglücklich; mit Alexis Strephon geschmückt Julanthiskos, und
in Julanthiskos Mantel eingewickelt Alexis.
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— 679 —
Das Dankopfer.
Der nasse Spätherbst hatte sein schäckiges Gewand über
die Thäler gebreitet und schier die Bäume entblättert. Gesammlet
waren die Früchte in die trocknen Speicher. Die blockenden
Heerden begnügten sich mit der dunkeln Kost des Spätjahrs.
Die Jungfrauen bekränzten sich die Stirn mit der blassen Mutter
des Krokus. Der buntgefleckte Sperber wußte schon längst
nicht mehr, was es gewesen, verfolgte schreyend durch das
rauschende Laub die Pfleger seiner nackten Kindheit, und die
goldgefiederten Ammern umkreisten zwitschernd die platten
Dächer der Schäfereyen. Alles verfolgte sich, aber nicht wie
im Frühling zur Liebe, sondern zum Krieg und zum Mord; und
der arkadische Jüngling vertauschte das ländliche Pedum ')
mit den scharfgespitzten Melien*), und die leichte Hirtentracht
gegen den wärmeren phrygischen Mantel, und anstatt des glatten,
beschattenden Basthuts hüllte er die krausen Haare in die sackige
Mütze der Lakonier, die doppelten Riemen sich unter das Kinn
schlingend; denn frischer wurden die feuchten nebelichten Tage,
traurig die langen düstern Abende. Der hämische Winter verließ
schon seine unterirdischen Schlupfwinkel, und Zephyros, der
Wolkensammelnde, verbarg mit Eis und Schwarz die blassen
Sterne. Ach, nur selten blickte Phoibos über die traurige Flur,
wenn er die Safran-Rosse in dem Ionischen Meer badete, und die
kupfernen Gewölbe seiner westlichen Halle von seiner Nähe
erglüh'ten. — Seht ihr, Brüder, den glänzenden Anblick des
sinkenden Tages, sagte Menalkas, sich zu seinen Brüdern Mikon
und Myrtillos wendend, die mit Reißig beladen ihm folgten
schneH hinab den steinichten Hohlweg des steilen Kyllen's; seht
die goldenen Streifen, die sich in das dunkelblaue Thal wie
Lichtströme hinabgießen, wie sie kämpfend mit dem kalten
Nachtnebel die runden Schirme der Pinien, die Nadeln der
Kypressen und die lohfarbige Krone der Nußbäume vergolden?
Laßt uns, Brüder, hier ausruhen bey dem schwarzbeerigen Kassis,
den stachlichten Kapergebüschen und den braunroth gefärbten
Akanthen, die üppig ihre mächtigen Ranken so frech um den
dunkeln Hermes winden. Als ich den centnerschweren Aenogyps*)
mit den Pfeilen erzielte, schwur ich's beym Maiapor, dem Be-
schützer dieser Klüfte, ihm den gemordeten Wütherich der Heerden
zu opfern; billig ist, daß ich das Gelübde halte. Seht, ihr
Brüder, gerade traf ich sein Herz, und der wiederhakende Pfeil
hängt noch blutig in der zähen Haut. Du, Myrtillos, nimm die
') Hirtenstab. — *) Spielten. — ■*) ein Geier der grollten Art,
der Lämmergeier.
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— 680 —
eine der Schwingen, und du, Mykon, die andere, und entfernt
euch jeder in entgegengesetzter Richtung. Beym lampsakalischen
Gotte! mehr als vier Orgyen mißt seine Spannung. Sieh' die
fürchterlichen Krallen. Gewiß war es dieser, der noch jüngst
mit dem Schlag seiner kupferfarbigen Schwingen Onikleiens
geliebtes Lamm von jenem Felsen herabstürzte. Ach! noch
weint sie, die Thörinn, um den zerschmetterten Liebling; dabey
gab er einen zürnenden Schlag dem erstarrten Mörder, daß sein
schlaffes Riesenhaupt zurückfiel. Laut lachend legten die rüstigen
Brüder den König der Vögel zu dem Fuß des hundertjährigen
Bildes. Zu groß für deinen Petasus») wären die schweren
Flügel gewiß, sprach unverschämt der jüngste der Brüder; und
die rohen Gesellen rannten mit frechem Gelächter den Berg
herab, daß die runden Steine ihnen lärmend nachrollten. Von
weitem in den Myrthengebüschen versteckt, hatte Julanthiskos,
der blauäugige, der reizendste unter den Kylienischen Knaben,
das ländliche Opfer bemerkt. Leicht und schlank und braun-
gelockt, wie der göttliche Beherrscher von Paphos, hüpfte er
aus den schwarzgrünen Gebüschen, daß die bräunliche Chläna
um den runden Nacken flog, und die krausen Locken um die
schalkhaften Augen und die durch den kalten Abendwind hoch-
gefärbten Wangen. Nimm auch, schönster der Götter, das Opfer
eines dankenden Gemüths an; auch du, Leiter der Verirrten,
Beherrscher der Schatten, Wohlthäter der Lebenden wie der
Todten, auch du hast mir ein Herz zugewandt, was mich lange
mit grausamer Härte peinigte; und dabey hing der Glückliche
ein goldenes Strephon dem Gotte um den gesenkten Hals. —
Du hast mich gelehrt den Weg bey Nacht und Graus. Ach!
und in meines Alexis prächtiger Wohnung fand ich mehr Glück
und Wonne, als ich je geträumt hatte. Vor Freundschaft glühend
und vor Ehrfurcht sank der liebliche Beter zu dem Fuße der
schlanken Hermessäule nieder. Freundes-Arm schlang sich um
den freudebebenden Julanthiskos. Alexis, der reiche Bewohner
des Kyllene, war seinem neuen Liebling nachgefolgt. Komm,
sagte er, mit ihm die Fingerspitzen zärtlich verschränkend und
die Lippen ihm auf die weißen Schultern drückend, komm, treues,
frommes Gemüth. Einmal führtest du mich durch Irrwege und
Dunkel; itzt stütze dich auf meinen Arm, ich will dich führen.
Stumm folgte der Überselige seinem Beschützer nach. Ich will
dich ein Lied lehren, sagte endlich Alexis nach langem Schweigen,
ein Lied, das unsern düstern Weg kürzet. Kommen wir zu Hause,
so schenke ich dir eine Lyra; du rührst sie ja. Julanthiskos, höre
t:i:ch, da wir r.ns kaum sehen:
') üer beschwingte Hut des Hermes.
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— 681 —
Treue siegt;
Treu' erringt den schönsten Preis.
Laß dich nicht erschrecken
Durch des Stolzes Kälte;
Strahlen folgen Strahlen,
Bis die Wolken schwinden.
Treue siegt;
Treu' erringt den schönsten Preis.
Laß dich nicht verdrießen,
Lang umsonst zu dienen.
Tropfen folgen Tropfen,
Bis die Felsen weichen.
Treue siegt;
Treu' erringt den schönsten Preis.
Auch du hast durch Treue mein Herz erweicht; ach! wie
vermag ich dir zu lohnen? — Ach, erwiederte Julanthiskos, mit
dieser Hoffnung senkte an Myris Feste Alethophone einen
erheiternden Strahl in mein gekränktes Herz, und mit eben diesen
Tönen, von dir damals unbeachtet, begrüßte mich die göttliche
Seherinn, welcher die Räthsel der Zukunft klar und offenbar sind.
— So sprach er dankbar gerührt, und zog den Freund fester an
sich, in seinen Arm sich schlingend. Und so verschlungen gingen
sie neben einander, und es wurde immer kälter und finsterer, und
sie mußten ihre Schritte verdoppeln. Aber endlich wurden die
Wege ebener und bequemer die Rasenstiege. Unter entblätterten
Granatbäumen und durch Ulmengänge, die welker Wein umschlang,
gingen sie itzt; dann durch die niedrige Befriedigung aus glatten
Quadern, an deren Eingang zwey eherne Karyatiden standen, hohe
Körbe auf den zierlichen Häuptern tragend. Ach, nun sind wir
h Hesperiens Gärten! rief der entzückte Jüngling, zog seinen
Führer durch die Thymian- und Lavendelbüsche und durch die
starkriechenden Chirandus- Gesträuche, vor dem rauschenden
Wasserbecken vorbey, die fünf Marmorstufen hinauf; denn finstre
Nacht bedeckte den zierlichen Wintergarten und die herrliche
Wohnung des reichen Alexis, und die Freunde umarmten sich nicht
eher als in der räumigen Stoa; dann eilten sie zusammen in das
wärmende Bad, wo hochgeschürzte Korinthierinnen ihre erstarrten
Glieder mit köstlichen Salben rieben; dann zu der gewürzten
Tafel, und dann sanken sie schlaf- und wonnetrunken auf das
schwellende Lager, nachdem lu'?r»this''r»« «e«n*r» Alevi«* für ein
rndcrcs prächtigeres Strephon ;. • ' :•.:. :;] [ \ j.r... : ; .../er
zärtlich gedankt, und den Kyileniscnen Hermes noen einmai ge-
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— 682 —
priesen; und sie entschliefen Hand in Hand, um sich nie zu ver-
lassen. Und noch hängt Julanthiskos Strephon an dem Halse des
wunderthätigen Bildes, aber Menalkas, Mykons und Myrtillos
blutiges Opfer ward bald die Speise der unreinsten der Vögel. —
Das Thal der Orakel.
Phoibos, der mächtige Schützer der Eleusinischen Waller,
bannte den flockigen Schnee und den schneidenden Frost, den
durchdringenden Nebel und alle die erstarrenden Begleiter des Win-
ters hinauf zu den Eisspitzen des Erymanthos, in die Pinienthäler
des kältern Achaiens, und der thauende Athem seiner laut
wiehernden Rosse erfüllte, warmem Nebel gleich, das glückliche
Arkadien; denn der goldgelockte Herrscher des Tages lächelte
segnend den ungeduldigen Jungfrauen, die enggedrängt auf dem
dicht verschleyerten^Wagen von nichts als von Mysterien und von
Wundern träumend plauderten, und von seinen wärmenden
Strahlen getäuscht die Byssus-Kalyptrien von den hoffnungglühen-
den Stirnen entfalteten. Itzt verläßt der Zug der Eleusinischen
Neophyten l) den schwarzen, lautröpfelnden Wald, wo die grauen
Vögel Aphroditens buhlend und zwitschernd sich wiegen. Itzt
sprengen die Reiter heran, unter ihnen Alexis der herrliche, und
Julanthiskos, der nicht minder liebliche, und ihre gleichen
Scharlach-Chlänen1) flattern durch die milden Lüfte dahin. Ähnlich
den Dioskuren fliegen sie über das weiche Moos. — Itzt halten
sie, und demüthig trennt sich bey Alethophonens Namen die
harrende Menge. „Schweigt, ihr Männer, schweiget, ihr Jünglinge,"
so sprachen sie im festen Tone, „daß kein beleidigendes Lied mit
dem Grimm der Scham den erstummenden Jungfrauen die Brust
engt. Alle sind Alethophonens Freundinnen. Schweigt, ihr spotten-
den Sänger, wenn ihr eure Rinder und eure Heerden und eure Hütten
liebt." Also sprachen die vorüberjagenden Jünglinge, und ruhig
und ungestört rollt der Wagen der zagenden Jungfrauen über die
dumpftönende Brücke des Orasis; und noch lange stehen mit
offenem Munde die sonst so unverschämten Spötter und wissen
nicht, sind es Menschen oder Heroen, die ihren Mund also banneten.
Ungestört und ungehöhnt blieb also das herrlich bespannte Fuhr-
werk der werdenden Demeterissen, Dank der allmächtigsten der
Sängerinnen und ihren Gesandten. Jetzt zieht sich langsam der
Zug längs den nassen Ufern des heiligen Sees, wo vor wenig
') Neu-Eingeweihte.
a) warine Mäntel.
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— GS3 —
Monden Eros bey nächtlicher Weile zwey lang getrennte Minnende auf
ewig vereint, dann an dem Fuße des Ulmenwaldes, wo einst die
spröde Onikleia das Lied der Bienen gesungen und ihre Sprödigkeit
abgelegt, dann die südlichen immergrünen Hayne des göttlichen
Kyllene hinauf. Itzt halten sie bey dem wunderthätigen Bilde des
dort erzeugten Gottes, sein goldenes Strephon bewundernd; itzt
steigen die holden Jungfrauen aus — Charikleia, Mäotis, Alkmena,
Charis, Julanthiskos Base Nikrion und die Schwestern, Alexis Freun-
dinnen, die reichen Töchter aus Mantinäa. Hier umarmten sich die
sich einst fliehenden Freunde, Hermes und Anteros opfernd. An
dieser heiligen Stätte fand jede Kommende eine Gastfreundinn oder
eine Verwandte unter dem versammelten Hirtengeschlechte, und
Küsse wechselten mit Küssen, und Gaben mit Gaben, und herzliches
Kosen mit herzlichem Kosen. Nachdem Minoe und Nikrion sich
geküßt und sich hundert Fragen gemacht und beantwortet, flüsterte
die jüngst vermählte Hirtinn ihrer städtischen Freundinn ins Ohr:
„Du weißt also, wer uns die schwere Leyer brachte?" Ja, bey der
Weisheit verwahrenden Göttinn, dein Herz hat sich nicht geirrt:
Der falsche Jüngling war die Allwissende. — Doch es flüsterte durch
die Gipfel der immergrünen Eichen wie Dämonen-Lied:
Schweigen ziemt der Wallerinn,
Schweigen ziemt den Liebenden,
Schweigen ziemt den Wissenden,
Schweigen ziemt den Hoffenden,
Drum so schweigt und schweigt und schweigt.
Erschrocken kehrten die Freundinnen zu den übrigen Jung-
frauen; erblaßt und Thränen in den Augen trennten sie sich,
denn Ahndung sagte ihnen, daß sie sich nie wieder sehen würden.
Über Korinth ging der Zug; denn Julanthiskos Hodoiporos >)
und Alexis wollten bey dem Bruder Barys übernachten ; auch waren
mehrere der Jungfrauen von der Reise ermattet. Segnend blickten
ihnen, so lange sie konnten, Minoe und Cyparissos nach; und als sie
wieder in ihre Hütte heimgekehrt, setzte sich die treue Hausfrau an
dem Heerde nieder, wo sie einst Liparos Ring vergraben hatte,
stimmte zur traurigsten Weise ihre Chelys, und sang zum bebenden
Saitenklang das Lied der Trennung:
Sterne trennen sich von Sternen,
Und der Thau benetzt die Flur;
Geister trennen sich von Geistern,
Und es löschen Opferpflammen,
») der Wanderer.
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— 634 —
Herzen trennen sich von Herzen,
Und es löschen beyder Leben.
Sterne rollen nah' an Sternen,
Und es werden neue Sonnen;
Geister schmelzen sich mit Geistern,
Und es rauschen Hekatomben;
Doch wo Herz von Herzen scheidet,
Giebt es weder Schlaf noch Lethe ! »)
Cypariß, der liebende Hirte, nahm die eburne Chelys und
hing sie stumm an die glatt getäfelte Wand des wirthbaren Zimmers;
aber Minoe, die trostlose Freundinn, weinte lang, ob es ihr gleich
an Thränen gebrach, denn sie wußte, daß die Base Nikrion und
Julanthiskos Hodoiporos nicht wiederkehren und daß sie in dem Thal
der Orakel bald die Hirten und Arkadien vergessen würden; ach!
und Vergessen ist Trennung auf Ewigkeit, denn es trennt auf
Ewigkeit. —
Schlaf und Hoffen flohen die Arme, und nur ein trauriges
Gefühl erfüllte ihr 6angendes Herz, das, ihre Freundinn nie wieder
zu sehen, und eine Angst, die, den wundersamen Pilger oder Aletho-
phonen, die Allmächtige, beleidigt zu haben. — Immer hörte sie
noch das Lied, das in dem Eichenwald erklang, als sie von ihrer
Freundinn und von Alexis und von Julanthiskos Abschied genommen.
Schweigend saß sie, hoffnungslos und ahndungslos, die Zukunft
stumm erwartend.
[Ein Pilger von Eleusis mit Gruß von Nikrion, Minoe's und
Julanthiskos' Base, nebst einem Briefe von Minoe fordert sie auf,
mit Cypariß nach Alsotheonien zu wandern, dem Lieblingsthale
Alethophonens, der Beschützerinn Arkadiens].
Itzt umfaßten Alethophonen Julanthiskos und seine Base
Nikrion und Chrysotrichiens kleiner Bruder Eranthos, benetzend
ihr leichtes Gewand mit Thränen des Dankes, der Hoffnung und
der Ahndung. Aber Julanthiskos, lieblicher Jüngling, thatst du
unrecht, mein Lied nicht zu vergessen? Und warum ist Alexis
nicht mit seinem Freunde hier? Ach! entgegnete Alethophonen
der überglückliche Hirt: Spotte nicht länger über meine kindische
Kleinmuth. Alexis blieb daheim schamhaft erstaunend und über
Eros und Anteros Frieden erröthend. Die Thessalische Jungfrau
küßte ihn auf die Korallenlippen. Ein herrliches Gewand faltete
'; Dieses ver.i Herze,; auch komponierte Lied vun.lo bei
»einem Begräbnisse gesungen [Beck 1 lHtid Seite 445; Appun 1900:.
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- 685 -
sich um seine majaporische Gestalt, und er lag doppelt reizend in
seines Beschützers Armen, der nicht gewagt hatte, seinen Wankel-
sinn der Allmächtigen zu gestehen. Sie behielt aber die reizende
Base und den kleinen Eranthos bey sich. Julanthiskos Bruder,
der rohe Jäger, der ungebildete Hipparche, Barys, kannte nicht den
Weg nach Alsotheonien; drum blieb er in Korinth, um sich in den
Warfen Ares und Cyprias zu üben, und wie sonst zu schwelgen,
zu buhlen und spielen.
Es kamen noch andere Arkadier und Arkadierinnen gebessert,
geheilt, getröstet und beglückt; aber alle kamen, um zu danken, aus
ihrer niedern Alltäglichkeit zu Alethophonen herauf getragen. Ja,
so erhebt Gebet und Dank den niedern Bewohner des Staubes
zur fernen Gottheit. Aber die bescheidene Zauberinn bewunderte
nur der Hirten Dankgefühl, wie die geringste, aber die seltenste
der Tugenden. Gerührt wandte sie sich zu den neunmal neun
verschleyerten Königinnen: „Anfangs des Jahrs sang ich, und mein
weissagendes Lied erkaufte mir alle diese Herzen. Seyd so gütig,
ihr Verehrten, und singet mir ein Lied am Ende des Jahrs, daß ich
meine Erdenbannung und meine Unvollkommenheit vergesse, ehe
mich Eros und Anteros, die Versöhnten, abholen." Die neunmal
neun Königinnen sangen — doch die Welten und die Sonnen
schwammen in unnennbarer Lust, und ihre Unvollkommenheit
kleidete sich in Himmelsträume ein, und die Unermeßlichen, wie
das kleine enge Arkadien, wußten nicht, was die neunmal neun
Königinnen der Allmacht sangen. Nikrion vergaß bald die Welt
und ihre unbelohnte Liebe, und der kleine Eranthos lernte nie
Männer hinter den purpurnen Vorhängen der krystallenen Propyläen
kennen.
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— 686 —
A n t e r o s.
In düstern Wäldern, unschuldsvollen Auen,
Erfinden wir des Daseyns hohes Ziel. —
Bald werden wir vereint die Himmel schauen,
Vergessen bald der Kindheit thöricht Spiel.
Mir magst Du, Eros, künftig immer trauen ;
Ich raube nicht, was einmal Dir gefiel.
Du kannst getrost auf meine Allmacht bauen;
Ich täusche nicht, verspreche nicht zu viel!
Wozu des kurzen Truges mürbe Binde?
Wozu des Wahnes matte Mückenschwingen? —
Wir blenden nicht und wir verwunden nicht!
Und wenn ich hier auch Männerherzen finde,
So soll durch Dich das Bessern mir gelingen,
Wenn mir's an Zauber und an List gebricht.
Schlußvignette der Novelle „Kyllenton".
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— CSS
Nachwort
Es wäre zu wünschen, daß die Akten über den
Herzog August noch nicht geschlossen sein möchten, in
einer Zeit besonders, welche erst beginnt, den Regungen
auch der Menschenseele mit Vorurteilslosigkeit nachzu-
forschen. Solcher Zeit wird die Aufgabe zufallen, den
Widerspruch zu lösen, welcher in der Beurteilung dieser
buntschillernden Menschen-Erscheinung durch zwei ihr
nahe gestandene Männer zu liegen scheint, von denen
der eine sagen konnte: „Hätt' er ein Herz, sein Dichter-
kopf wäre der größte* l) und der andere ein goldenes
Herz entdeckte mit den Worten: .Wem vergönnt war,
das innere Heiligthum zu beobachten, der schätzte diesen
Vorzug; ein Blick in dasselbe zeigte eines der edelsten
Gemüther, das je gewesen.*2)
Literatur über Emil August.
„Anekdote". In: Zeitung fllr die elegante Welt. Leipzig, Georg
Voll. 1805. Nummer 177 vom 28. September. Spalte 936.
Anonym, Ulrich Jaspar Seetzen. In: Zeitgenossen. Biographieen
und Charakteristiken. Leipzig und Altenburg, F. A. Brockhaus.
Zweiten Bandes dritte Abtheilung. 1817 (1818). Seite 83—106
[Des Herzogs August wird Seite 86 und 105 gedacht].
A[ppun|(G.), Ein Erinnerungsblatt an Herzog August von Sachsen-
Gotha und Altenburg 1801—1822. In: Gothaischea Tageblatt,
52. Jahrg. 1900. Nr. 253, 27. Oktober. Zweites Blatt.
von Bechtolsheim (Katharina), Erinnerungen einer Urgroßmutter
(Katharina Freifrau von Bechtolsheim geb. Gräfin Bueil) 1787
—1825. Mit Originalbriefen von Goethe, Wieland, Herder,
Kaiserin Katharina II., Kaiser Alexander I. und Kaiserin Maria
von Kuliland, Herzog Carl August von Weimar, Ernst II. von
Sachsen-Gotha, Frau von Staei, Fürst von Ligne, Graf Segur,
l) Jean Paul Friedrich Richter an Villiers 1810 bei Beck 1
1868 Seite 418.
Ä) von Wlistemann 1823 Seite 12.
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— 089 —
FUrst-Primas von Dalberg und von anderen. Herausgegeben
von Carl Graf Oberndorff. Mit 12 Illustrationen und 6 Faesimile-
Beilagen. Berlin, F. Fontane & Co. 1902. XIV und 471 Seiten
in 8«.
Beck (August), Geschiebte des gothaischen Landes. Gotha, E. F.
Thienemann. 1868. Band I. Geschichte der Regenten. VIII
und 536 Seiten in 8°. Seite 128—451.
August: Emil Leopold, Herzog von Sachsen-Gotha und Alten-
burg. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Erster Band.
Leipzig, Dnncker & Humblot. 1875. Seite 681—683.
Döring (Friedrich Wilhelm), Ad memoriam tristissima morte populo
suo nuper erepti serenissimi Saxoniue ducis Aemilii Leopoldi
Augusti a. d. IV. Iul. hora deeima summa pietate in Gymnasio
nostro celebrandam omni, qua decet, verecundia invitat Fridericus
Guilielmus Doering Gvmnasii Gothani director. Gothae literis
Reyherianis. MDCCCXXII. 12 Seiten in 4°.
Frid. Guil. Doeringi Commentationea Orationes Carmina latino
sermone conscripta. Accedunt Friderici Jacobsi Epistola ad
Doeringium senera felicissimum et E. F. Wuestemanui Oratio in
Doeringi memoriam habita. Norimbergae. Sumtibus Friderici
Campe. 1839. XL und 308 Seiten in 8°. Enthält: 1. Oratio
in memoriam serenissimi ducis Aemilii Leopoldi Augusti habita
4 Jul. 1822. Seite 147 — 155, IL — 2. Pompam solemnem qua
prineeps juventutis Serenissimus Aemilius Augustus Leopoldus
cum nova conjuge serenissima Luisa Charlotta ducis serenissimi
Suerino-Megapolit. filia urbem ingressus est celebrat Gymnasium
illustre Gothanum. Elegia.') Seite 197—200, I. — 3. Prineipi
juventutis serenissimo Aemilio Leopoldo Augusto cum nova
conjuge serenissima Carolina Amalia serenissimi terrarum
Cattiacarum prineipis filia faustissimis auspieiis urbem ingre-
dienti pietatem suam reverenter declarat Gymnasium illustre
Gothanum.0) Seite 201—202, 11.
Düring und K r i e s , Reden bey der zum Andenken des Hochsei. Her-
zogs Herrn Herrn Aerail Leopold August im Gymnasium zu Gotha
den 4. Jul. 1822 angestellten Todtcnfeyer gehalten von Friedrich
Wilhelm Döring, Director des Gymnasiums und Friedrich Kries
Professor. Auf Allerhöchsten Befehl dem Druck Ubergeben.
Gotha, Reyher. 38 Seiten in 8°.
') Kditio prima mcn.«c Novt'inbri l~J7. * pg. in 4".
*) Kdilio prima menso Maj. 18o2. 8 pg. iu 4°.
.Talirbucb V. 44
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— 690 —
Eichstädt (Heinrich Carl), Memoria Augusti Ducis Saxonia»
Principis Gothanoruin atque Altenburgensium. Scripsit Henr.
Carolus Abr. Eichstadius. Editio altera auctior et emendatior.
Gothae in libraria Henningsiana. 1828. VIII und 74 Seiten
in 4°.
Henr. Car. Abr. Eichstadii Opuscula Oratoria. Orationes
Memoriae Elogia quorum duo inedita Schilleri et Ludenii
memoriae dicata. Collectioneni ab auctore inchoatam post eius
mortem absolvit indices adiecit Herrn. Jo. Chr. Weissenborn.
Jenae in libraria Maukiana. MDCCCXLIX. XXXU und 804
Seiten in 8°. Enthält: 1. Parentalia serenissimo nuper principi
ac domino Augusto duci Saxoniae principi Gothanorum atque
Altenburgensium sacra in templo Paulino academico rite concelr-
branda indicuntur. Seite 14—15. — 2. Oratio de felicitate
Acaderaiarum ex virtutibus principum oriunda in parentaübua
academiciB Augusto duci Saxoniae die XXX Jim. a. MDCCCXXIl
celebratis in templo Paulino dicta. Seite 16 — .HO. — 3. Memoria
Augusti ducis Saxoniae principis Gothanorum atque Alten-
burgensium. Seite 31 — 95.
Förster (Friedrich), Preußens Helden in Krieg und Frieden. Eine
Geschichte Preußens seit dem großen Kurfürsten bis zum Ende
der Freiheitskriege. In Biographien seiner großen Männer.
Berlin, Gustav Hempel.
Dritter Band, 1847, Seite 684; Seite 787.
Vierter Band, 18-54, Seite 834.
Kunst und Leben. Aus Friedrich Förster's Nachlaß. Heraus-
gegeben von Hermann Kletke. Berlin, Gebr. Paetel. 1873.
VIII und 240 Seiten in 8°.
G. (D.), Emil Leopold August, Herzog zu Sachsen-Gotha und
Altenburg. In: Deutscher Ehren-Tempel. Bearbeitet von einer
Gesellschaft Gelehrter und herausgegeben von W. Hennings,
Herzoglich Sächsischem Geheimen Legations-Rath. Gotha,
Hennings. Zwölfter Band. 1832. 41 Seiten in 4° mit dem
Kupferstich „August, Herzog zu Sachsen-Gotha u. Altenburg*'.
Gallttti (Johann Georg August), Geschichte Thüringens. Gotha
beym Verfasser und Ettinger. 6 Bände in 8°. Sechster und
letzter Band. 1785. XVI und 392 Seiten nebst 4 Geschlechts-
tafeln. Seite 237; 246; 257 und 336.
In SächsischeProvinzialblätter, Mai 1 822 (nach Beck 1868 1 S. 428).
Geschichte und Beschreibung des Herzogthums Gotha, Gotha,
C. W. Ettinger. 4 ältero Theile: 1779-1781. — Theil V 1824.
116 Seiten in 8". S. 25-47.
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— 691 —
von Goethe (Johann Wolt'gang), Tag- und Jahres-Hefte als Er-
gänzung meiner sonstigen Bekenntnisse (1749 — 1822). In :
Goethe's Werke. Nach den vorzüglichsten Quellen revidirte
Ausgabe. 27. TheiL 1. Abtheilung. Berlin, Gustav Hempel
(Ohne Jahr). Seite 1—291; Anmerkungen von W. Frh. v.
Biedermann Seite 359—548. Register Seite 638.
Heid ler (Carl), Blüthen der Phantasie. Zeitz 1819.
Hempel (Friedrich Ferdinand), Herzog August von Sachsen- Alten-
burg und Seine Bauern, eine erfreuliche Geschichte unsrer
Tage. Altenburg, Verlag der Kedaction der Osterländischen
Blätter. 1819. 92 Seiten in 4°.
Hennings, siehe D. G.
von Hoff (Karl Ernst Adolph), Aufsätze in „Jenaische allgem.
Litter.-Zeitung, Mai 1822, oder Gothaische privilegirte Zeitung
1822, Nr. 100" (nach Beck 1868 I Seite 428 Fußnote 236). In
der vier Bänden „Jeuaische allgemeine Literatur- Zeitung"
19. Jahrgang, 1822, fand ich nichts über den Herzog August;
in dem Exemplar „Privilegirte Gothaiscbe Zeitung. Auf das
Jahr 1822." der Berliner Königlichen Bibliothek fehlt die auf
der 4. (unpaginierten) Seite der Nr. 100, 26ste Woche, Frey tags
den 21. Junius, angekündigte, den Nekrolog des Herzogs August
Durchl. betreffende „Extra-Beylage."
Jacobs (Friedrich), Nekrolog. Emil Leopold August, Herzog von
Sachsen-Gotha und Altenburg. In: Allgemeine Literatur-
Zeitung. Vom Jahr 1822. Halle und Leipzig. Zweyter Band.
May bis August. — Julius 1822, Nummer 172. Spalte 497—504.
Vermischte Schriften von Friedrich Jacobs. — Erster Theil,
Gotha, Ettinger, 1823. XXVIII und 546 Seiten. — Sechsler
Theil, Leipzig, Dvk, 1837. XXXII und 592 Seiten. — Siebenter
TheiL Leipzig, Dyk. 1840. XXVIII und 620 Seiten in 12°. -
Inhalt: Theil I: Rede zum Andenken Herzog Ernst des Zweyten
im Gymnasium zu Gotha in Gegenwart des regierenden Herzogs
August gehalten den 9ten Junius 1804. Seite 1 — 86, 1 (ttb« r
Emil August Seite 81—86).
Theil VI: Zerstreute Blätter: 3. Allotria. 1828. Seite451— 463:
Romantische Studien des Herzogs August Emil Seite 456. —
Erklärung einer Inschrift S. 458—463. — 4. August Emil als
Schriftsteller. 1823. S. 464-473: Das Kyllenion Seite 464. -
Polyneon Seite 466. — Roman ohne Titel Seite 467. — Erailia-
nische Briefe Seite 468—470. — Briefe eines Kartheusers Seite
471—473. — Anmerkungen. Seite 474—492. — Sonnette
durch das Kvllenion veranlaßt Seite 475—479. — Terzinen auf
44*
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— 092 —
Pin Gemiihlde von Grassi Seite 480. — Sonnette und Elegien.
Seite 485 — 191. — Verbesserungen S. 592.
Theil VII: Personalien gesammelt von Friedrich Jacobs. Mit
dem in Stahl gestochenen Bildnisse des Verfassers. — August
Emil, Herzog von Gotha. Seite 170—179. — 50. Herzog
August Emil. Seite 517—521. — 51. August Emils Brief im
Pius VII. Seite 522-520.
Kletke, siehe Förster.
Klinge mann (August). Ein Jahr in Arkadien. In: Zeitung (Vir
die elegante Welt. I^eipzig, Georg Voß. 1805. Nummer 115
vom 24. September. Spalte 918.
Jean Paul, siehe Richter.
von Lupin auf Illerfeld (Fr.), Biographie jetzt lebender, oder
erst im Laufe des gegenwärtigen Jahrhunderts verstorbener
Personen, welche sich durch Thaten oder Schriften denkwürdig
gemacht haben. Stuttgart & Tübingen, J. G. Cotta. Erster
Band. 1826. VIII und 718 Seiten in 8°. August (Emil Leopold ;
Seite 70—75.
Menzel (Wolfgang), Deutsche Dichtung von der ältesten bis auf
die neueste Zeit. In drei Bänden. Stuttgart, Ad. Krabbe.
1858-1859. 8". 3. Band 1859 Seite 71.
von Metzsch-Schilbach (Wolf), Briefwechsel eines deutschen
Fürsten mit einer jungen Künstlerin (Herzog August von Sachsen-
Gotha und Altenburg und Fräulein aus dem Winckel). Mit zwei
Porträts. Berlin, Karl Siegismund. 1893. 908 Seiten in 8°.
Mosengeil (Friedrich), Briefe Uber den Dichter Ernst Wagner:
enthaltend : Lebensgeschichtliche Nachrichten ; Mittheilungen aus
dem handschriftlichen Nachlasse des Dichters: Auszüge aus
Briefen von ihm selbst; vom Herzoge August von S. Gotha;
Jean Paul Friedrich Richter; Fichte u. A. herausgegeben
von Friedrich Mosengeil. Schmalkalden, Varnhagen. 1 82G.
228 und 164 Seiten in kl. 8". [Zweites Bändchen Seite 17—70;
Seite 91).
Graf Obern dorff (Carl), siehe von Bechtolsheim.
Perthes (Clemens Theodor), Friedrich Perthes Leben. Nach dessen
schriftlichen und mündlichen Mittheilungen aufgezeichnet. Gotha,
Perthes. 3 Bände 1848—1852—1855 in 8V) — Ucber Herzog
August: III Seite IG— 17.
M Acht-- (Jubiläum«.. iAus(?ube. A Hänik-. (iotlia 18%. 8". — Band A 8«?ite
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— 003 —
Reichard (Heinrieh August Ottokar), Gotha. Aus dem Briefe
eines Reisenden im Junius dieses Jahres. In : Beilage zur All-
gemeinen Zeitung. Donnerstag 4. Jul. 1822. Nr. 109. Seite
133—434 (nach Keichard: H. A. 0. Reichard 1877, Seite 503»
von ihm verfaßt, ebenso ein mir unbekannt gebliebener Aufsatz
über den Herzog August in der „Staatszeitung'4).
H. A. O. Reichard (1751-1828). Seine Selbstbiographie
Uberarbeitet und herausgegeben von Hermann Uhde. Stuttgart,
J. G. Cotta. 1877. VI und 554 Seiten in 8°.
Richter (Jean Paul Friedrich), JeanPaul's Freiheits-Büchlein; oder
dessen verbotene Zueignung an den regierenden Herzog August
von Sachsen-Gotha; dessen Briefwechsel mit ihm; — und die
Abhandlung Uber die Prelifreiheit. Tübingen, J. G. Cotta.
1805. 128 (nicht 138) Seiten in 8°.
Seid ler (Louise), Erinnerungen und Leben der Malerin Louise
Seidler (geboren zu Jena 1786, gestorben zu Weimar 1866).
Aus handschriftlichem Nachlaß zusammengestellt und bearbeitet
von Hermann Uhde. Berlin,. W. Hertz. 1874. X und 480 Seiten
in 8°. — Zweite, umgearbeitete Auflage. 1875. X und
396 Seiten.
von Sternberg (Alexander), Jena und Leipzig. Novelle in zwei
Theilen. Berlin, Leseeabinet. 1814. 282 und 274 Seiten. —
lieber den Herzog ohne Namennennung U Seite 3 — 5 und 8 — 11.
v. S t g. (A. v. Sternberg), Aus der guten alten Zeit. Nr. 2. Fürst-
liche Sonderlinge. In : Die Gartenlaube. Leipzig, Ernst Keil.
1857, Nr. 7. Seite 93—95. Mit einem Textbilde ».Herzog
August von Gotha als Griechin" Seite 93.
„Todesfälle44. In: Allgemeine Literatur-Zeitung. Vom Jahre
1822. Halle und Leipzig. Zweyter Band. May bis August.
Nummer 165. Julius 1823. Spalte 147.
Uhde (Hermann), siehe Reichard und Seidler.
von Weber (Max Maria), Carl Maria von Weber. Ein Lebensbild.
Leipzig, Ernst Keil. 3 Bände. 1864—1866 in 8°.
von Wüstem an n (Ernst Friedrich), Gothaischer genealogischer
Kalender auf das Jahr 1823. Sechzigster Jahrgang. Gotha,
Justus Perthes. — Ueber Herzog August' Seite 7—22; Seite 34.
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7.Mademoiselle Maupin ( 1 673— 1 707)
„ — je suis d'un troisiöino scxe u part ijui
n'a pas encore de nom: au dessus ou au
dessous, plus dttfectueux ou superieur" . . .
Thäophile Gautier:
„Mademoiselle de Maupin" (1835).
„ M ademoiselle Maupin" war die Tochter des
Herrn d' Aubigny, eines Sekretärs des Grafen
d'Arraagnac. Geboren im Jahre 1673 wurde sie in
sehr früher Jugend und wohl gegen ihre Neigung mit
eiuem Herrn Maupin aus Saint-Germain-en Laye ver-
heiratet, lebte aber nicht mit ihrem Manne zusammen,
sondern erlangte für ihn eine Anstellung in den Filialen
der Provinz. Sie besaß eine natürliche leidenschaftliche
männliche Vorliebe für den Gebrauch der Waffen und
als sie während der Abwesenheit ihres Gatten die Be-
kanntschaft des Fechtmeisters S {»ranne machte, ent-
sprach es ihrem natürlichen Triebe, sich an diesen, der
an ihren weiblichen Reizen Gefallen fand, eng
anzuschließen und bei ihm Unterricht in der
Fechtkunst zu nehmen ; dabei zeigte sie eine solche
Geschicklichkeit und machte so schnelle Fortschritte,
daß sie bald ihren Lehrmeister überholte und imstande
war, es mit dem geschicktesten Fechter aufzunehmen.
Ihrem Lehrer und Liebhaber folgte sie nach Marseille.
Hier zwang die Not des Lebens das Paar, noch von
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— 695 —
anderen ihrer natürlichen Anlagen als dem Fechttalent
Gebrauch zu machen, und da beide eine gute Stimme
besaßen, so wurde es ihnen nicht allzuschwer, an der
Marseiller Oper Beschäftigung zu finden. Als Sängerin
wollte Frau Maupin nicht Madame Maupin sein, sondern
nannte sich Mademoiselle Maupin und sie wurde wegen
ihrer hervorragend schönen Stimme, einem Konteralt,
der ausgesprochene Liebling des Publikums. Indes
nicht lange sollte diese Oper des Besitzes der Maupin
sich erfreuen und die Schuld daran trug ein Liebes-
abenteuer.
Der Maupin, die es liebte, Männerkleidung zu tragen,
hatte sich als einer neuen Sappho eine so zärtliche Zu-
neigung zu einer jugendlichen Marseillerin (aus guter
Familie) bemächtigt, daß die Eltern des jungen Mädchens
es für nötig hielten, ihr Kind vor den gefährlichen Ein-
flüssen der Sängerin zu schützen und in einem Kloster
von Avignon zu verbergen. Allein die Leidenschaft
macht verwegen. Der Maupin gelang es, den Zufluchts-
ort ihrer Angebeteten zu ermitteln und schnell ent-
schlossen meldete sie sich im Kloster zu Avignon als
Novizin an und ward unter ihrem Mädchennamen als
Demoiselle d'Aubigny aufgenommen. Ungeachtet sie hier
völlig ungestört ihrer Liebe leben konnte, scheint der
dauernde Aufenthalt im Kloster ihr doch wenig behagt
zu haben; denn als gelegentlich eine Nonne gestorben
und eben begraben war, verfiel die Maupin auf einen
höchst abenteuerlichen Gedanken, den sie auch zur Aus-
führung brachte. Sie grub in der Stille den Leichnam
der Nonne aus, schleppte ihn in das Bett ihrer Geliebten,
steckte Bett und Zimmer in Brand und benutzte den
durch die Feuersbrunst (welche das Kloster in Asche
legte) entstandenen Wirrwarr, mit ihrem Herzblatt un-
bemerkt zu entfliehen. Als dann später nicht nur die
Flucht entdeckt, sondern auch die näheren Umstände
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— 696 —
derselben durchschaut wurden, machte man der Demoi-
selle d'Aubigny den Prozeß; es ward zunächst versucht,
das jugendliche Opfer ihren Händen zu entreißen (ein
Versuch, welcher zwei Gerichtsdienern das Leben
kostete); nachdem aber alle Schritte als vergeblich sich
erwiesen hatten, wurde sie zum Scheiterhaufen verurteilt,
ohne daß sie vor Gericht erschienen wäre [par contumace];
doch dieser Gerichtsspruch ward wieder aufgehoben, als
eines Tages die junge Marseillerin bei ihren beglückten
Eltern wieder auftauchte.
Inzwischen hatte unsere Heldin in der Provinz ein
unstätes Leben voller Abenteuer geführt; sie war aus
der Männertracht^ die sie vorzüglich kleidete, nicht her-
ausgekommen. Auf ihren Irrfahrten gelangte sie endlich
auch nach Paris. Hier debütierte sie unter dem Namen
ihres Mannes als Mademoiselle Maupin im Dezember
1690 in der Oper des Palais Royal. In Lully's Oper
„ Cadmus et Hermioue* sang und spielte sie die Rolle
der „Pallas". Mit ihrem seltenen Konteralt bei hervor-
ragender schauspielerischer Begabuug erntete sie bei
ihrem ersten Auftreten allgemeinen Beifall; um ihre Er-
kenntlichkeit den Beifall klatschenden Zuschauern kund
zu tun, erhob sie sich in ihrem Wagen und begrüßte
das Publikum, indem sie ihren Helm vom Kopfe nahm:
neues Beifallklatschen! Wirklich war sie sehr hübsch,
besaß prachtvolles Haar und eine Adlernase, und voll-
kommen schön waren auch ihr Mund, ihre Zähne und
ihr Buseu. Ob sie gleich nicht eine Note kannte,
wußte sie durch ein erstaunliches Gedächtnis sich zu
helfen. So konnte sie ein und ein halbes Jahrzehnt hin-
durch — freilich nicht ohne freiwillige Unterbrechung
ihrerseits — auf der Pariser Oper in den ersten Rollen
verwendet werden.
Wenn die Maupin in Paris Lust verspürte, für ihr
angetane Beleidigungen sich zu rächen, oder wenn sie
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— 697 —
verliebten Abenteuern nachgehen wollte, so vertauschte
sie ihr Frauenkleid mit Mannestracht.
So war sie von einem männlichen Kollegen an der
Oper, dem Sänger Dura^ni *), beleidigt worden und
wartete seiner eines Abends auf der Place des Victoires;
in ihrer Männerkleidung unerkannt geblieben, wollte sie
dem Ankömmling den Degen in die Hand zwingen, um
sich mit ihm zu schlagen ; da er aber sich weigerte, so
gab sie ihm eine Tracht Prügel und entriß ihm Tabaks-
dose und Uhr. Am nächsten Morgen gab Dum£ni bei
der Probe sein Abenteuer, das viel Aufsehen erregt hatte,
zum besteu; allein er erzählte es nicht dem wahren Vor-
gange gemäß, sondern mit andern Umständen, indem er
sich rühmte, am Abend vorher von drei Straßenräubern
überfallen worden zu sein und sich tapfer zur Wehre
gesetzt zu haben; die Uebermacht aber habe ihn über-
wältigt und ihm Uhr und Tabaksdose entrissen. Nach-
dem Dumdni die Erzählung seiner Großtaten beendigt,
trat die Maupin, welche unter seinen Zuhörern sich be-
funden hatte, vor und rief ihm zu: „Da hast du mal
schön gelogen! Du bist nichts weiter als ein feiger
Maulheld, denn ich, ich ganz allein, habe dich verhauen;
hier hast du Uhr und Tabaksdose wieder; sie sollen als
Beweis für meine Behauptung dienen." Ein anderer
Kollege der Maupin, der Sänger Gabriel Thdveuard *),
der sie ebenfalls beleidigt hatte, fürchtete nach dem Bekannt-
werden dieses Streiches der Sängerin, daß ihm Aehnliches
bevorstehe ; er fand es für gut, drei Wochen hindurch dem
Palais Royal fern zu bleiben, und um sich ganz aus der
•) Dumcni, oder Dumeanil, starb 1715; seine Glanzrollen
waren: Atys, Mödor, Phaeton, Renaud, Araadis.
2) Thevenard starb 1741, 72 Jahre alt, ein schöner Baryton-
Tenor; er Hang zehn Jahre hindurch mit der Rochois, im ganzen
vierzig Jahre (bis 1730), und trank so gut wie er sang („il buvoit
aussi bien qu'il chantoit." Anecdotes dramat. III 1775 S. 472).
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— 698 -
Klemme zu ziehen, wählte er schließlich den Ausweg,
die Maupin um Verzeihung zu bitten.
Unter den Besuchern des Wintergartens befand sich
auch ein gewisser Baron de Servan, ein Geck und Prahl-
hans von grenzenloser Eitelkeit. Dieser Mann besaß einen
wahrhaft herkulischen Körperbau und eine schallende
Stimme, zeigte ein anmaßendes Benehmen und prahlte
gern mit den vielen Duellen, die er hervorgerufen
haben wollte. Eines Abends ging er wieder sein Ver-
zeichnis all der Schönen durch, welche der Leidenschaft
für ihn zum Opfer gefallen sein sollten, und redete bei
diesem Anlaß abfällig von einer jungen Balletttänzerin ,
einem Fräulein Pdrignon, deren untadelhafte Aufführung
jeglicher Verleumdung trotzte. Ein allgemeines Gemurmel
der Mißbilligung einer so unedlen Leistung, welches durch
den Garten lief, hinderte den Baron nicht an der Fort-
setzung seines albernen Geschwätzes. Da erhob sich die
Maupin, welche in einer Ecke des Saales auf einem
Polster geruht, schweigend gelauscht und den
Baron hatte ausreden lassen, trat plötzlich hervor und
wandte sich stolz dem Schwätzer zu; in ihrem männlichen
Lieblingsge wände sah sie aus wie ein stattlicher junger
Kavalier. „Wahrhaftig*, rief sie, „ich wundere mich über
die Geduld der Anwesenden ! Ihre dreisten und dummen
Fälschungen fordern nicht allein Zurückweisung, sondern
sofortige und ganz exemplarische Züchtigung. Sie sind ein
ehrloser Lügner, und ich bin es, der Ihnen dieses ins
Gesicht sagt." „Aber bitte, wer sind Sie, mein Herr?"
fragte vor Wut bebend der Baron. „Der Chevalier de
Raincy — ein weit besserer Edelmann als Sie und bereit,
Ihnen eine nützliche Lehre zu erteilen," antwortete die
Maupiu mit verächtlicher Gebärde. Ihre Lehre aber war
von durchschlagender Wirkung. Der Baron erhielt einen
Pistolenschuß in den Arm, welcher eine Amputation
unumgänglich nötig machte. Und als er erfuhr, daß
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— 699 —
die Hand eines Weibes ihn so zugerichtet, verfiel der
Herkules in eine unbeschreibliche, unbändige Wut; — er
verließ Paris und zog sich auf seine Güter zurück. ')
Der eigenartige Liebestrieb dieses Weibes zu Personen
des eigenen Geschlechts war so stark, daß die Maupin
von dieser Seite häufig Unannehmlichkeiten sich aussetzte, •
zumal sie es an aller Vorsicht fehlen ließ. So belästigte
sie durch die zärtlichsten Zudringlichkeiten die jugend-
liche Opernsängerin Mademoiselle Moreau, wurde von
dieser aber abgefertigt. Auf einem von dem einzigen
Bruder des Königs Ludwig des Großen in dem Palais
Royal gegebenen Ballfest hatte sie, nach ihrer Gewohn-
heit als Mann gekleidet, sich dazu hinreißen lassen, einer
Dame Anträge zu stellen, welche seitens des männlichen
Begleiters der Dame als die größte Beleidigung aufgefaßt
wurden. Drei von den Freunden dieser beleidigten Dame,
über die Handlungsweise der Maupin entrüstet, beschlossen,
sie auf der Stelle dafür abzustrafen, und lockten sie auf
den Hof; mutig trat sie heraus, griff zum Degen, schlug
alle drei Gegner zu Boden und kehrte, als sei nichts
geschehen, in den Ballsaal zurück. Bei dem hohen Ball-
geber, dem dieser Vorfall zu Ohren kam, brachte die
Maupin es fertig, daß er Gnade walten ließ.
Mitten in ihrem glänzendsten Erfolge als Opern-
sängern! kam die Maupiu auf den Einfall, Paris zu ver-
lassen und nach Brüssel überzusiedeln. Hier wurde sie
die Maitresse des Kurfürsten von Baiern, der, nachdem
er ihrer überdrüssig geworden, sie im Stiche ließ, um
seine Gunst der Gräfin d'Arcos zuzuwenden. Behufs Ab-
findung sandte er der Maupin eine Börse mit 40 tausend
l) Ellen Clayton I 1863 Seite 56-57. Für diese Geschichte
mit dem Baron de Servan, deren Quelle die Clayton nicht angibt,
habe ich eine französische Urquelle nicht aufgefunden und schliefe
daraus, daü mir doch noch eine auf die Maupin bezügliche UrqueUo
niuU entgangen sein.
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— 700 —
Franken und den Auftrag, Brüssel sofort zu ver-
lassen. Als Ueberbringer dieses Auftrages und der Geld-
summe war kein andrer als der Graf d' Arcos selbst
bestimmt worden. Die Maupin empfing den Abgesandten,
wie man einen Diener empfangt; sie nahm die Börse und
warf sie ihm an den Kopf mit den Worten, das sei der
Lohn für einen Geschäftsmann wie er. So verließ sie
Brüssel mit einer vom Kurfürsten von Baiern ihr zuge-
standenen Pension von jährlich 2 tausend Franken.
Die Erzählungen von dem wunderbaren Spanien,
welche ihr zu Ohren gekommen waren, erregten ihre
Einbildungskraft und sie redete sich ein, daß in diesem
angenehmen und glücklichen Lande ein Erfolg ihrer
Kunst ihr sicher sei. Allein schon bald sah sie sich
grausam enttäuscht und ging in ihren Vermögensverhält-
nissen schnell so zurück, daß sie gezwungen wurde, eine
Stelle als Kammerzofe bei der Grätin Marino, der Gattin
des Ministers, anzunehmen. Diese Dame war äußerst
verdreht und eigensinnig; die arme Soubrette hielt dennoch
lange ohne Murren bei ihr aus, da sie, bei allen ihren
Fehlern, eine sehr gute Natur besaß und eines sorglosen
Temperaments sich erfreute; zuletzt aber war dennoch
auch ihre Geduld erschöpft und sie entschloß sich, das
ihr lästige Amt aufzugeben, jedoch nicht, ohne vor ihrem
Weggang für alles, was sie hier erduldet hatte, sich zu
rächen. Als sie eines Tages die Gräfin für einen Hofball
zu putzen hatte, brachte die mutwillige Exsängerin beim
Ordnen der Coiffure ihrer Dame eine Anzahl kleiner
roter Radischen, von ihren ßlättchen umrahmt und mit
großen schwarzen Nadeln befestigt, im Nackenhaare ihrer
Gebieterin an; Stirn und Schläfen bedeckte sie zur Her-
vorbringung einer bezaubernden Wirkung mit Federn der
Unterschwanzdecken des Marabut (einer äthiopischen
Storchart, Leptoptilus crumenifer Lesson). Die so ge-
schmückte Grätin warf eineu wohlgefälligen Blick in den
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.— 701 —
Spiegel und begab sich in gehobener Stimmung auf den
Ball, woselbst der eutscheidende Eindruck, den sie dort
hervorrief, sie in eine Aufregung wonniger Eitelkeit ver-
setzte, bis ein vorsichtiger Freund ihr die Wahrheit ge-
stand. Schleunigst verließ sie rot vor Schani und vor
Wut fast erstickend in ungestümer Hast den Ballsaal.
In fliegendem Zorn erreichte sie ihre Wohnung, um ihn
an der verräterischen Kammerzofe auszulassen; aber es
war zu spät — diese hatte klugerweise ihre Rück-
reise nach Paris bereits angetreten.1)
In Paris trat sie wiederum bei der Oper ein, ohne
jedoch ihre großen Erfolge der früheren Zeit wieder
erriugen zu können. Sie schloß sich nun dem Grafen
d'Albert an, einem ehrlichen Liebhaber, der sie schon
einmal umworben hatte, anscheinend der einzige Mann,
dem die Maupin eine gewisse Anhänglichkeit bewahrte.
Auf einmal aber gab ihre Laune ihr ein, sich von allen
ihren Liebhabern loszusagen, mit den außer ihrer Gage
allein ihr verbleibenden Mitteln des Kurfürsten von Baiern
ein regelmäßiges Leben zu führen, ihren bis dahin ver-
nachlässigten Ehemann nach Paris kommen zu lassen und
mit diesem in vollständigster Einigkeit bis zu seinein im
Jahr 1701 erfolgenden Tode zu leben.
Endlich um die Mitte des Jahres 1705 — die Maupin
war jetzt 32 Jahre alt — entstand bei ihr der Plan, auch
dem Theater zu entsagen. Da sie nichts Folgenschweres
zu unternehmen pflegte, ohne ihres redlichsten Liebhabers,
des Grafen d'Albert, Rat einzuholen, für den sie so viel
Achtung wie aufrichtige Freundschaft empfand, so schrieb
sie diesem, teilte ihm ihren Entschluß, sich von der Welt
zurückzuziehen, mit und bat ihn um seine Ansicht darüber;
sie erwarte, daß er diesen ihren Entschluß billige, um
') Elim Cluyton 1 Seite 59—00. Auch von diesem Passus, dem
Aufenthalt der Maupin in Spanien, gilt das in der Fußnote Seite
G99 dieser Arbeit Gesagte.
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— 702 — .
ihu mit desto größerem Vertrauen unternehmen zu können.
Das Schreiben der Maupin war der Anlaß zu einer Ant-
wort des Grafen, welche von dem starken und nachhaltigen
Eindruck Zeugnis gibt, den die Maupin auf den Grafen
gemacht; der erhaltene Teil dieser Antwort lautet:
„ Bedenken Sie auch, an wen Sie sich wenden? Ist
es meine Religion, die Sie auf die Probe stellen wollen,
mein Herz, meine Gefälligkeit? Und rechnen Sie etwa
darauf, indem Sie mich um Rat befragen, daß ich Herr
genug meiner eigenen Empfindungen sei, um Sie in den
Ihrigen bestärken zu können? Haben Sie die Vorstellung
von dem gänzlich verloren, was ich Ihnen gegenüber bin ?
Man will mich zwingen, mein eigenes Unglück gut zu
heißen — heißt das nicht, mich zu all' meinem Unglück
noch beschimpfen? Und verdienten nicht Sie, für Ihre
Ungerechtigkeit dadurch gestraft zu werden, daß ich
gegen Sie Partei für die Welt nähme ? Dessen bin ich
gewiß, daß bei Ihnen kein Zweifel besteht über den An-
teil, den ich an allem nehme, was Ihr Glück bewirken
kann; allein übersehen Sie dabei nicht, daß Sie das, was
Sie erstreben, nur auf Kosten meiner Wünsche erreichen
können und nicht ohne daß es mir meine Ruhe raubt?
Müssen Sie nicht furchten, indem Sie mich nötigen, für
das, was Sie treiben, mich zu interessieren, daß ich mir
alle Mühe gebe, Ihnen den geplanten Schritt zu wider-
raten? Und können Sie sich verständigerweise einem
Manne anvertrauen, dem es unmöglich ist, ohne Verrat
an seinen eigenen Interessen, ehrlich und aufrichtig zu
raten? Das alles wissen Sie; in dem Augenblick, in
welchem Sie der Welt entsagen, gehen unsere Wege aus-
einander. Welch einen Koloß von Güte machen Sie aus
mir, damit ich der guten Meinung, welche Sie von mir
hegen, entsprechen könne! Und wie schwer kommt es
mir zu stehen, daß ich Sie von meiner Aufrichtigkeit
überzeugt habe! Es fehlt nur noch, daß ich mich von
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— 703 —
mir selbst loslöse, um mich ganz Ihnen anzupassen; daß
ich alle Gefühle von Empfindlichkeit und Zärtlichkeit
ersticke; daß ich endlich Ihnen gegenüber eine Sprache
führe, welche den wahren Regungen meines Herzens
schnurstracks zuwider läuft, und daß ich mich opfere, um
Ihnen zu gefallen. Niemals wirkt die Vernunft so mächtig
auf die Natur. So setzen Sie denn auf dieses Opfer den
vollen Lohn, den es wert ist; es ist das größte, welches
ich gebracht habe und je in meinem Leben bringen
kann/ Im Verlaufe des Schreibens entwickelte der Graf
d' Albert der Maupin alle Gründe, welche sie veranlassen
könnten, der Welt weiter anzugehören, ohne ihr zu ver-
schweigen, daß noch triftigere Gründe ihr die Weltent-
sagung nahelegten, und konnte so nicht umhin, die Mau-
pin in ihrem Beschlüsse zu bestärken. Und die Maupin
führte ihren Entschluß auch aus; sie zog sich in ein
Kloster zurück, in welchem sie (im Gerüche besonderer
Heiligkeit) schon im Jahre 1707 verstarb.
* *
Karl Heinrich Ulrichs hat die Absicht gehabt,
in seiner geplanten Zeitschrift „Uranus" unter den „histo-
rischen Urninginnen * zuerst der „Fechtmeisterin Maupin*
ein Biogramm zu widmen1); diese Absicht hat er leider
nicht ausgeführt; es ist hier der Versuch gemacht worden,
das Versäumte nachzuholen.
Aus den im Literatur-Anhänge aufgeführten, die
Maupin betreffenden wenigen Schriften sind hier die
französischen Quellen zu Grunde gelegt; das der
englischen Quelle Entnommene ist besonders ange-
geben. Zusätze der deutschen Darstellung, deren
Quellennachweis ich nicht führen kann, sind durch eine
runde Klammer ( ) kenntlich gemacht.
■) K. H. Ulrichs: „Prometheus", Leipzig, Serbe, 1870, Seite SO»
unter 9).
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— 704 —
Es wäre im höchsten Grade verwunderlich, wenn der
reiche Romanstoff dieses kurzen Menschenlebens nicht
einen Nachdichter gefunden hätte. Er ist ihm auch ge-
worden: in der Person des französischen Schriftstellers
T lyophile Gautier(1811 — 1872), welcher in seinem
kecken Roman „Mademoiselle de Maupin*1) die Natur
unserer Heldin in durchaus selbständiger Erfindung durch
Umgestaltung in eine Art Zwitterwesen mit Beibehaltung
ihres Namens verwendet hat. Er läßt sie in der Gesell-
schaft unter dem Namen Madelaine de Maupin als Weib
und unter dem Namen Theodore de S<?rannes als Mann
auftreten und legt ihr selbst ein unzweideutiges Bekennt-
nis ihrer Zwitternatur in den Mund: ,In Wirklichkeit,
weder das eine noch das andere der beiden Geschlechter
Mann und Weib ist mein Geschlecht, ich besitze weder
die schmähliche Unterwürfigkeit, noch die Aengstlichkeit,
noch die Kleingeistigkeit des Weibes; ich habe auch nicht
die Fehler der Männer, ihre widerliche Schlemmerei und
ihre rohen Triebe: — ich gehöre einem dritten Sonder-
Geschlecht an, das einen Namen noch nicht erhielt : höher
oder tiefer stehend, mangelhafter oder vollkommener*);
l) Theophile Gautior, Modenioiselle de Maupin, Paris,
E. Renduel, 183b. 8°. — Nouvelle edition, Paris, G. Charpentier Co.,
1885, 1 vol., 421 Seiten.
A. B., La preface de Mademoiselle de Maupin dans l'edition
originale et dans les editions actuelles. in: La Curiosite litteraire
et bibliographique, premiere serie, Paris, 1. Liseux, 1880. Seite 159
bis 104.
Ein Porträt der Maupin habe ich leider nicht aufgetrieben.
Der Homan Gautier's aber scheint auf die Phantasie darstellender
Künstler mehrfach befruchtend eingewirkt zu haben; so bringt
Aubrey Beardsley in seinem „The later work. With upwards
of 170 designs, including 11 in photogravure and 3 in colour.4'
London 1901 in 4°, als Frontspice ein Phantasiebild der „Mademoi-
selle de Maupin'4 in Männertracht.
a) Dieses ist die Uebersetzung des Motto Seite 094 dieser
Arbeit.
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— 705 —
mir ward der Leib und die Seele eines Weibes, der Geist
und die Kraft eines Mannes und ich habe zu viel oder
nicht genug vom einen und vom andern, um mit einem
von beiden mich paaren zu können."1)
Literatur über die Maupin.
a. Die französischen Quellen:
Anco dolos Dramatiques. Tome troisieme. Paris, Duohesne.
1775. Article „Maupin". Seite 328—334.
Biographie universelle ancienne et moderne. Nouveile Edition.
Paris, C. Deplaces. Tome XI. 1852. Article „Dumeni ou
Dumcsnil" par Z. Seite 515. — Tome XXV II. 1860. Article
„Maupin" par A. B-t. Seite 881—332.
Biographie universelle des MusicienB et Bibliographie
generale de la Musique. Deuxieme edition. Par F. J. Fetis.
Paris (8 Bände und 2 Suppleinentbände). Tome VI. 1870.
Seite 36—37.
Bibliotheque historique illustre. L'ancienne France. Le
Theatre: Mysteres — Tragüdie — Comedie et la musique:
instrumenta — Ballet — Opera jusqu'en 1789. Ouvrage illustre
de 22* gravures et d'une Chromolithographie. Paris, Firmin-
Didot & Cie. 18*7. Auch: Le Theatre et la Musique. 304
Seiten in 8°.
Dictionnaire des Operas par Felix Clement et Pierre La-
rousse. Paris, Administration du gnind Dictionnaire uuivereal.
Ohne Jahr. Article: „Cadmus et Hermiono". Seite 128.
b. Die englische Literatur:
Clav ton (Ellen Creathone): Queens of Song: boiog memoire of
some of the most celebrated teruale Vocalists who havo appe-
ared on the lyric »tage, from the earliest days of Opera to the
present time. To which is added a chronological list of all
the operas that have been perforraed in Europe. By Ellen
Creathone ('layton. In two Volumes. London, Smith, Eider
& Co. 18M in 8°. With six portraits. Vol. I. With 2
portraits. XVI und 382 pg. — Vol. iL With 4 portraits.
452 pg. — Urber die Maupin handelt Band I Seite 52—61.
') Theophile Oautier, Mademoisellc de Maupin, nouveile
edition, Paris, 1885, Seito 398.
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— 706 -
c. Die deutsche Literatur:
Schilling (Gustav): Encyclopädie der gesammten musikalischen
Wissenschaften oder Universal-Lexikon der Tonkunst Neue
Ausgabe. Stuttgart, Franz Heinrich Köhler. IV. Band. 1840.
Seite 606—607.
Allgemeines Theater-Lexikon oder Encyklopädie alles
Wissenswerthen für Bühnenkünstler, Dilettanten und Theater-
freunde. Herausgegeben von R. Blum, K. Herloßsohn, H.
Marggraff. Altenburg und Leipzig, Expedition des Theater-
Lexikons (H. A. Pierer, C. Heymann). Band V. 1841. Ar-
tikel „Maupin": Seite 258-259.
Paul (Oscar): Handlexikon der Tonkunst. 2 Bände. Leipzig,
Heinrich Schmidt. 1873. Zweiter Band. Artikel „Maupin":
Seite 86.
Berichtigung einiger Druckfehler:
Seite 508 Zeile 4 von oben ist zu lesen: zu dieser Schrift — statt:
diese Schrift
„ 545 „ 13 „ „ „ „ „ Flav. Philost.
„ 548 „ 10 „ „ „ „ „ durchaus — statt : duchaus
557 „ 1 „ „ „ „ ergänzen: 5.
„ 616 „ 18 „ „ „ „ lesen: 1801 — statt: 1802
628 ist in Fußnote B) vor Appun zu ergänzen: Rcichard 1877
Seite 502;
649 muß es in Zeile 5 der Fnßnote ') heißen: Jacobs VI 1837
(1828) Seite 456— 4fi8; (1823) Seito 464—492.
657 Zeile 1 der Fußnote e) ist zu lesen: griechische — statt:
griebische
701 Zeile 1 der Fußnote ') ist zu lesen: Mademoiselle — statt:
Modomoiselle
Druck von G. Reichardt, Groitzsch.
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