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Full text of "Das denken in der medicin. Rede gehalten zur feier des stiftungstages der militärärztlichen bildungsanstalten am 2. august 1877"

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DAS DENKEN IN DER 
MEDICIN: REDE 
GEHALTEN ZUR 
FEIER DES 

STIFTUNGSTAGES... 

Hermann von Helmholtz 



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)enken in der Mediän. 



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Rede 



gehalten 



' Feier des Stiftungstages der militairärztlichen ßildungs- 
Anstalten am 2. August 1877 



von 



Dr. H. Heimholte. 



eitc Auflage, 

neu durchgearbeitet. 



Berlin, 1878. 
Verlag von August Hirschwald. 

N.W. Unter den Linden 68. 

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* Hochgeehrte Herren! 

Schon einmal, vor 35 Jahren, habe ich am 2. August vor 
einer ähnlichen Versammlung, wie die heutige ist, in der 
Aula dieses Instituts auf dem Katheder gestanden und einen 
Vortrag über die Operation der Blutadergeschwülste gehal- 
ten. Ich war damals noch Eleve des Instituts und gerade 
am Ende meiner Studienzeit. Da ich nie eine Blutader- 
geschwulst hatte operiren sehen, so war der Inhalt meines 
Vortrags freilich nur aus Büchern compilirt; aber Bücher- 
gelehrsamkeit spielte damals noch eine viel breitere und 
angesehenere Rolle in der Medicin, als man ihr heutzutage 
einzuräumen geneigt ist. Es war eine Zeit der Gährung, 
des Kampfes zwischen gelehrter Tradition und dem neuen 
naturwissenschaftlichen Geiste, der keiner Tradition mehr 
glauben, sondern sich auf die eigene Erfahrung stellen 
wollte. Meine damaligen Vorgesetzten urtheilten günstiger 
über meinen Vortrag als ich selbst, und ich bewahre noch 
die Bücher, welche mir dafür als Prämien zu Theil wurden. 

Die bei dieser Gelegenheit sich mir aufdrängenden Er- 
innerungen haben mir lebhaft das Bild des damaligen Zu- 
standes unserer Wissenschaft, unserer Bestrebungen, unse- 
rer Hoffnungen zurückgerufen und mich vergleichen lassen, 
■ was damals war, mit dem, was daraus geworden ist. Viel 
ist geworden. Wenn auch nicht Alles, was wir gehofft 
hatten, erfüllt wurde, und manches anders, als wir gehofft, 



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so ist auch manches geworden, auf das wir nicht 
gewagt hätten. Wie die Weltgeschichte vor dei 
unserer Generation einige ihrer seltenen Riesensch 
macht hat, so auch unsere Wissenschaft; daher < 
Schüler, wie ich, das einst wohlbekannte, damai 
matronenhafte Antlitz der Dame Medicin kaum 
erkennt, wenn er gelegentlich wieder in Beziehung 
tritt; so lebensfrisch und entwickelungskräftig is 
dem Jungbrunnen der Naturwissenschaften geworden 
Vielleicht ist mir der Eindruck dieses Gcg 
frischer geblieben, als denjenigen meiner niedi« 
Altersgenossen, die ich vor mir als Zuhörer vei> 
zu sehen heute die Ehre habe, und die, in dauern 
rührung mit der Wissenschaft und Praxis geblieU 
den in kleinen Stufen sich vollziehenden grossen 
rungen weniger überrascht und betroffen sein möger 
wird Ihnen gegenüber meine Entschuldigung sein 
ich von der in dieser Periode vorgegangenen Metann 
der Medicin rede, deren Entwickelungsergebnissc i 
zelnen Sie selbst freilich besser kennen werden i 
Für die Jüngeren aber unter meinen Zuhörern möc 
den Eindruck dieser Entwicklung und ihrer Ui 
nicht ganz verloren gehen lassen. Wenn diesclli 
legentlich in die Litteratur jener Zeit einen Blick i 
so werden sie dort einer grossen Zahl von Sätzen 
nen, die ihnen fast wie in einer vergessenen Spra< 
schrieben erscheinen müssen, so sehr, dass es inner 
ganz leicht werden wird sich in die Sinnesweise die 
wenig hinter uns liegenden Periode zurückzuversetzu 
liegt eine grosse Lehre über die wahren Principien n 
schaftlicher Forschung in dem Entwickelungsgan^ 
Medicin, und der positive Thcil dieser Lehre wird 



leicht durch keine vorausgehende Zeit so eindringlich ge- 
predigt, wie durch das letzte Menschenalter. Da mir selbst 
zur Zeit die Aufgabe zugefallen ist diejenige von den 
Naturwissenschaften zu lehren, welche die weitesten Ver- 
allgemeinerungen zu raachen, den Sinn der Grundbegriffe 
zu erörtern hat, und der deshalb nicht unpassend bei den 
englisch redenden Völkern der Name der „Natural Plii- 
loxophy" geblieben ist: so fallt es ja wohl nicht zu weit 
t aus dem Kreise meiner Berufsaufgaben und meines eigcnt- 
% liehen Studiums, wenn ich es unternehme hier von den 
. Principien wissenschaftlicher Methodik für die Erfahrungs- 
/ Wissenschaften zu reden. 

y Was meine Bekanntschaft mit den Gedankenkreisen 
\ der älteren Medicin betrifft, so hatte ich dazu ausser der 
e allgemeinen Veranlassung, welche für jeden gebildeten Arzt 
*. vorliegt, der die Litteratur seiner Wissenschaft und die 
1 Richtung, sowie die Bedingungen ihres Fortschreitens ver- 
stehen will, noch eine besondere, da mir mit meiner ersten 
i Professur in Königsberg vom Jahre 1849 — 1856 die Auf- 
f gäbe zufiel, in jedem Winter auch allgemeine Pathologie 
' vorzutragen, d. h. denjenigen Theil der Krankheitslehre, 
. der die allgemeinen theoretischen Begriffe von der Natur 
der Krankheit und die Principien ihrer Behandlung ent- 
• halten sollte. Die allgemeine Pathologie war von den 
Aeltcren gleichsam als die feinste Blüthe medicinischer 
Wissenschaftlichkeit angesehen worden. Tn der That aber 
hatte das, was früher ihren Inhalt gebildet, für den Jünger 
moderner Naturwissenschaft nur noch historisches Interesse. 

lieber die wissenschaftliche Berechtigung dieses Inhalts 
hatten schon manche meiner Vorgänger den Stab ge- 
brochen, wie namentlich kurz zuvor Heule und Lotze. 
Letzterer, der ebenfalls von der Medicin ausgegangen ist, 




halte in seiner allgemeinen Pathologie und Hiera 
mit vernichtendem kritischem Scharfsinne besonde 
lieh und methodisch aufgeräumt. 

Meine eigene ursprüngliche Neigung hatte i 
Physik getrieben; äussere Umstände zwangen mivl 
Studium der Mcdicin einzutreten, was mir durch < 
ralen Einrichtungen dieses Instituts möglich wurde, 
gens war es die Sitte der alten Zeit gewesen, das . v 
der Medicin mit dem der Naturwissenschaften zu 
gen, und was darin von Zwang lag, muss ich sohl 
als ein Glück preisen. Nicht allein, dass ich ii 
Periode in die Medicin eintrat, wo Jemand, der tu 
kaiischen Betrachtungsweisen auch nur massig bew 
war, einen fruchtbaren jungfräulichen Boden zur 13« 
rung vorfand, sondern ich betrachte auch das nie« 
sehe Studium als diejenige Schule, welche mir ein* 
lieher und überzeugender, als es irgend eine andere 
thun können, die ewigen Grundsätze aller wissense 
liehen Arbeit gepredigt hat, Grundsätze, so einfach 
doch immer wieder vergessen, so klar und doch in 
wieder mit täuschendem Schleier verhängt. 

Man muss vielleicht dem brechenden Auge desSter 
den und dem Jammer der verzweifelnden Familien ge« 
über gestanden haben, man muss sieh die schweren Fra 
vorgelegt haben, ob man selbst Alles gethan habe, was n 
zur Abwehr des Verhängnisses hätte thun können, und 
die Wissenschaft auch wohl alle Kenntnisse und Hülfsmit 
vorbereitet habe, die sie hätte vorbereiten sollen, um 
wissen, dass erkenntnisstheoretische Fragen über die }\ 
thodik der Wissenschaft auch eine bedrängende Schwe 
und eine furchtbare praktische Tragweite erlangen könne 
Der blos theoretische Forscher mag vornehm kühl dariilw» 



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lächeln, wenn Eitelkeit und Phantasterei sich für eine Zeit 
in der Wissenschaft breit zu machen und Staub aufzuwir- 
beln suchen, vorausgesetzt, dass er selbst in seinem Arbeits- 
zimmer ungestört bleibt. Oder er mag auch wohl Vor- 
urtheile der alten Zeit als Reste poetischer Romantik und 
jugendlicher Schwärmerei interessant und verzeihlich finden. 
Demjenigen, der mit den feindlichen Mächten der Wirklich- 
keit zu ringen hat, vergeht die Indifferenz und die Roman- 
j tik; was er weiss und kann, wird schärferer Prüfung aus- 
gesetzt, er kann nur das grelle harte Licht der Thatsachen 
brauchen, und muss es aufgeben sich in angenehmen Illu- 
sionen zu wiegen. 



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Ich freue mich deshalb einmal wieder vor einer fast 

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ausschliesslich aus Medicinern bestehenden Versammlung 
^ reden zu können, die die gleiche Schule durchgemacht haben. 
^ Die Mediän ist doch nun einmal das geistige Heimathland 
^ geworden, in dem ich herangewachsen bin, und auch der 
' ^. Auswanderer versteht und findet sich verstanden am besten 
5 in der Heimath. 

Um den Grundfehler jener älteren Zeit gleich mit 
einem Worte zu bezeichnen, möchte ich sagen, dass sie 
einem falschen Ideal von Wissenschaftlichkeit nachjagte in 
inseitiger und unrichtig begrenzter Hochschätzung der de- 
uetiven Methode. Zwar war unter den Wissenschaften 
.licht allein die Medicin in diesem Irrthum befangen, aber 
j keiner anderen Wissenschaft sind die Folgen davon so 
,j jjrell an das Licht getreten und haben sich dem Fortschritt 
nit solchem Gewicht entgegengestemmt, als gerade in der 
Medicin. Darum scheint mir in der That die Geschichte 
dieser Wissenschaft ein ganz besonderes Interesse in der 
jEnt\vickelungsgeschichte des menschlichen Geistes in An- 
spruch zu nehmen. Keine andere ist vielleicht mehr ge- 




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eignet zu zeigen, dass eine richtige Kritik der Erkenn 
quellen eine auch praktisch höchst wichtige Aufgal 
wahren Philosophie ist. 

Als Fahne gleichsam der alten deductiven M 
diente das stolze Wort des Hippokrates: 

„Gottähnlich ist der Arzt, der Philosoph ist. - 
Wir können es schon gelten lassen, wenn w 
richtig feststellen, was unter einem Philosophen zu 
stehen sei. Den Alten umfasste die Philosophie nod 
theoretische Kenntniss; ihre Philosophen betrieben 
Mathematik, Physik, Astronomie, Naturgeschichte in 
Vereinigung mit eigentlich philosophischen und niel 
sischen Betrachtungen. Will man also unter dem 
liehen Philosophen des Hippokrates einen Mann 
stehen, der vollendete Einsicht in den Causalzusan 
hang der Naturprocesse hat, so werden wir in der 
mit ihm sagen können, ein solcher wird einem Goti» 
lieh helfen können. So verstanden bezeichnet der Si 
drei Worten das Ideal, dem unsere Wissensehaft m 
streben hat. Ob sie es je erreichen wird, wer u 
sagen ? 

Aber auf so lange Frist ihre Hoffnungen hina 
schieben, waren diejenigen Jünger der Hedicin niel 
neigt, die sieh schon bei eigenen Lebzeiten gottähnli 
fühlen und Andern als solche zu imponiren wünscht 

Man setzte die Ansprüche an den <pih'>oo<po<; er Ii 
herab. Jeder Anhänger eines beliebigen welterklär 
Systems, in welches wohl oder übel die Thatsache 
Wirklichkeit hineinpassen mussten, fühlte sich als I 
soph. Von den Gesetzen der Natur wussten ja die 
lusophen jener Zeit nicht gerade viel mehr als dir 




— 9 — 



e Kritik k 
s( wichtig 



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gelehrten Laien; der Nachdruck ihrer Bestrebungen fiel 
also zunächst auf das Denken, auf die logische Consequenz 
und Vollständigkeit des Systems. Es begreift sich wohl, 
wie es in jugendlichen Bildungsperioden zu einer so ein- 
seitigen Ueberschätzung des Denkens kommen konnte. 
Auf dem Denken beruht die Ueberlegenheit des Menschen 
r Philo>f- üb cr d as Thier, des Gebildeten über den Barbaren; das 
lassen, « Empfinden, Fühlen, Wahrnehmen theilt er dagegen mit 
i Philo?<'{ seinen niederen Mitgeschöpfen und in Sinnenschärfc sind 
I'hi]us«»pt>' jj im man( he von diesen sogar überlegen. Dass der Mensch 
>pkfl seinem Denken die höchste Entwickelung zu geben strebt, 
runseseM 1 ' ist die Aufgabe, 'von deren Lösung das Gefühl seiner 
iVlieii tta-1 eigenen Würde, wie seine praktische Macht abhängt, und 
\so unw ein natürlicher Irrthum ist es, wenn man daneben als 
s eiflö* gleichgültig behandelte, was die Natur auch dem Thiere 
L n Causam- von seelischen Fähigkeiten als Mitgift gegeben hat , und 
,, n ivir B wenn das Denken sich von seiner natürlichen Grundlage, 
n ] einem f dem Beobachten und Wahrnehmen, glaubte loslösen zu 
zeichnet ' : können, um den lkarusflug der metaphysischen Speculation 
hM .,Kv.|j,ir zu beginnen. 

wird, rr In der That ist es keine leichte Aufgabe, die Ur- 

sprünge unseres Wissens vollständig aufzudecken. Eine 
f'jjiifltf'n ' ungeheure Menge davon ist überliefert in Rede und Schrift. 
M.'di'i» • Diese Fähigkeit des Menschen, die Wissensschätze der 
(>n wfiai Generationen zu sammeln, ist ein Hauptgrund seiner Ueber- 
VI1 walk '- legenheit über das auf ererbten blinden Instinct und nur 
nlfaf*^ individuelle Erfahrung beschränkte Thier. Aber alles über- 
welifl^' lieferte Wissen wird schon geformt übergeben; wo der 
TJiaistfk Berichterstatter es her hat, wie viel Kritik er angewendet, 
s j,.j, ali ! l ^ nunt mcnr zu ermitteln, namentlich wenn die 
CO j a ^' 1 Überlieferung durch viele Berichterstatter hindurch ge- 
a |ä <I gangen ist. Man muss es auf Treu und Glauben an- 



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nehmen; zur Quelle kann man nicht kommen, und wenn 
erst viele Generationen bei solchem Wissen sich beruhigt, 
keine Kritik daran geübt, ja auch wohl allerlei kleine 
Aenderungen, die sich schliesslich zu grossen sumrairten, 
daran angebracht haben, so werden oft sonderbare Sachen 
unter der Autorität uralter Weisheit berichtet und geglaubt. 
Eine seltsame Historie dieser Art ist die Geschichte des 
Blutkreislaufs, von der wir noch zu reden haben werden. 

Aber für den, der über die Ursprünge des Wissens 
rcflectirt, ist noch verwirrender eine andere Art der Ueber- 
lieferung durch die Sprache, die lange unentdeckt geblieben 
ist. Die Sprache wird nicht leicht Namen für Klassen 
von Objecten oder für Klassen von Vorgängen ausbilden, 
wenn nicht sehr oft und bei vielen Gelegenheiten die be- 
treffenden Einzeldinge und Einzelfälle zusammen zu nennen 
und Gemeinsames über sie auszusagen ist. Sie müssen 
also viele gemeinsame Merkmale haben. Oder wenn wir, 
wissenschaftlich darüber reflectirend, einige dieser Merk- 
male auswählen und als Definition zusammenstellen, so 
muss der gemeinsame Besitz dieser ausgewählten Merk- 
male bedingen, dass in den betreffenden Fällen noch eine 
grosse Menge anderer Merkmale regelmässig aufzufinden 
sind, es muss eine naturgesetzliche Verbindung zwischen 
den erstgenannten und den letztgenannten Merkmalen da 
sein. Wenn wir zum Beispiel die Thiere, welche von 
ihren Müttern gesäugt worden sind, mit dem Namen der 
Säuger bezeichnen, so können wir von ihnen weiter aus- 
sagen, dass diese alle Warmblüter sind, lebendig geboren 
wurden, eine Wirbelsäule haben, kein Quadratbein, durch 
Lungen athmen, getrennte Herzabtheilungen haben u. s. w. 
u. s. w. Also schon der Umstand, dass in der Sprache 
eines intelligent beobachtenden Volkes eine gewisse Aji- 



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zahl von Dingen mit einem und demselben Worte be- 
zeichnet wird, zeigt an, dass diese Dinge oder Fälle einem 
gemeinsamen naturgesetzlichen Verhältniss unterliegen; 
schon dadurch allein wird eine Summe von Erfahrungen 
der vorausgegangenen Generationen überliefert, ohne dass 
es so erscheint. 

Ferner findet sich der Erwachsene, wenn er über den 
Ursprung seines Wissens zu reflectiren beginnt, im Besitz 
einer ungeheuren Menge alltäglicher Erfahrungen, die zum 
grossen Theil bis in das Dunkel seiner ersten Kinderjahre 
hinaufreichen. Alles Einzelne ist längst vergessen; aber 
die gleichartigen Spuren, welche tägliche Wiederholung 
ähnlicher Fälle in seinem Gedächtnisse zurückgelassen hat, 
haben sich tief eingeschnitten. Und da nur das sich regel- 
mässig immer wiederholt, was gesetzlich ist, so sind diese 
tief eingegrabenen Reste aller vorausgegangenen Anschau- 
ungen gerade Anschauungen des Gesetzlichen in den Dingen 
und Vorgängen. 

Die beiden genannten Vorgänge verschaffen dem Men- 
schen den Besitz einer ausgedehnten Menge von Kennt- 
nissen, von denen er nicht weiss, wo sie herkommen, die 
dagewesen sind, so lange er zurückdenken kann. Wir 
brauchen nicht einmal auf die Möglichkeit einer Vererbung 
durch die Zeugung zurückzugehen. 

Die Begriffe, die er sich gebildet, die ihm seine Mutter- 
sprache überliefert hat, bewähren sich als ordnende Mächte 
ich in der objectiven Welt der Dinge, und da er nicht 
weiss, dass er oder seine Vorfahren diese Begriffe nach 
den Dingen ausgebildet haben, so scheint ihm die Welt 
der Dinge von geistigen Mächten, seinen Begriffen ähnlich, 
beherrscht zu werden. Diesen psychologischen Anthropo- 
morphismus erkennen wir wieder von den Ideen des 



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Pluto, bis zur immanenten Dialektik des Weltproceasej 
bei Hegel und zu dem unbewussten Willen Schopen- 
hauers. 

Die Naturwissenschaft, — und sie fällt in der altert" 
Zeit mit der Medicin im Wesentlichen zusammen, — folgi. 
dem Wege der Philosophie; die deductive Methode scliieL 
Alles leisten zu können. Sokrates hatte freilich dif 
inductive Begriflfsbildung in der lehrreichsten Weise ent- 
wickelt. Aber das Beste, was er geleistet hatte, blieb, 
wie es gewöhnlich geht, so gut wie unverstanden. 

Ich will Sie nicht durch das bunte Gewirr von patho- 
logischen Theorien hindurchfuhren, die je nach wechseln- 
den Neigungen ihrer Autoren, meist veranlasst durch dies« 
oder jenen Zuwachs naturwissenschaftlicher Kenntnisse, auf- 
tauchten und meist, wie es scheint, zuerst von Aerztei. 
aufgestellt wurden, die als grosse Beobachter und Heil- 
künstler, unabhängig von ihren Theorien, sich Ruhm und 
Ansehen erwarben. Dann kamen die weniger begabh-L 
Schüler, welche den Meister copirten, seine Theorie über- 
trieben, einseitiger und logischer machten, unbekümmert 
um den Widerspruch der Natur. Je strenger das System, 
auf desto wenigere und desto eingreifendere Methode! 
ptlegte sich das Heilverfahren zu reduciren. Je mehr di? 
Schulen den anwachsenden wirklichen Kenntnissen gegen- 
über in's Gedränge geriethen, desto mehr steiften sie sich 
auf die alten Autoritäten, desto intoleranter wurden si- 
gegen Neuerungen. Der grosse Reformator der Anatomie. 
Vesalius, wurde vor die theologische Facultät von Sa- 
lamanca geladen, mit Servetus wurde in Genf auch 
sein Buch, in dem er den Lungenkreislauf beschrieb, ver- 
brannt, und die Pariser Facultät verbot in ihren Hörsälen 
den von Harvey entdeckten Blutkreislauf zu lehren. 




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Dabei waren die Grundlagen der Systeme, von wel- 
chen diese Schulen ausgingen, zum grossen Theil natur- 
wissenschaftliche Anschauungen, deren Verwerthung inner- 
halb eines begrenzten Kreises durchaus in der Ordnung 
gewesen wäre. Was nicht in der Ordnung war, war nur 
der Wahn, dass es wissenschaftlicher sei alle Krankheiten 
auf einen Erldärungsgrund zurückzuführen, als auf verschie- 
dene. Die Solidarpathologen wollten Alles aus veränderter 
Mechanik der festen Theile, namentlich aus ihrer verän- 
| derten Spannung, aus dem Strictum und Laxum, dem Tonus 
und der Atonie, später aus den gespannten oder abge- 
spannten Nerven, den Stockungen in den Gefasscn herleiten. 
Die Humoralpalhologen kannten nur Aenderungen der 
Mischung. Die vier Cardinalflüssigkeiten, Repräsentanten 
der classischen vier Elemente, Blut, Schleim, gelbe und 
schwarze Galle, bei andern die Acrimoniac oder Dyscra- 
sien, welche durch Schwitzen und Purgiren ausgetrieben 
werden mussten, im Anfang der neueren Zeit auch Säure 
und Alkali oder die alehymistischen Spiritus und Quali- 
tates occultae der aufgenommenen Stoffe waren die Ele- 
mente dieser Chemie. Dazwischen spielten allerlei physio- 
logische Anschauungen, von denen einzelne merkwürdige 
K Vorahnungen enthielten, wie das fytepuror j^uov, die 
^eingepflanzte Lebenswärme des Hippokrates, welches 
j; 1 durch die Nahrungsmittel unterhalten wird, diese wiederum 
Um Magen kocht, und die Quelle aller Lebensbewegung ist; 
• hier ist schon die Frage angesponnen, die später von ärzt- 
I licher Seite zur Auffindung des Aequivalentverhältnisses 
zwischen mechanischer Arbeit und Wärme*), so wie zur 

*) J. R. Mayer, die organische Bewegung in ihrem Zusammen- 
hange mit dem Stoffwechsel. Heilbronn. 1845. — Die Mechanik der 
Wärme. Stuttgart. 1867. S. Anhang. 



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wissenschaftliehen Formulirung des Gesetzes von der Er- 
haltung der Kraft*) führte. Dagegen hat das *\>tv/u.a 
halb Geist, halb Luft, welches man aus den Lungen in 
die Arterien dringen und diese füllen Hess, viel arge Ver- 
wirrung angerichtet. Der Umstand, dass man in den Ar- 
terien todter Körper der Regel nach Luft findet, die freilich 
erst im Augenblicke, wo man die Gefässe anschneidet, 
hineindringt, verleitete die Alten zu dem Glauben, diese 
Luft sei auch im Leben in den Arterien enthalten. Dann 
blieben für das Blut nur die Venen übrig, in denen es 
nicht cireuliren konnte. Man meinte, es entstehe in der 
Leber, bewege sich von da zum Herzen und durch die 
Venen zu den Organen. Jede aufmerksame Beobachtung 
eines Aderlasses hätte lehren müssen, dass es in den Venen 
von der Peripherie kommt und zum Herzen hintliesst. Aber 
diese falsche Theorie hatte sich mit der Erklärung der Fie- 
ber und Entzündungen so verwebt, dass sie das Gewicht 



eines Dograas erhielt, welches anzugreifen gefährlich war. 

lndess der wesentliche principielle Fehler dieser Sy- 
steme war und blieb doch die falsche Art von logischer 
Consequenz, zu der man sich verpflichtet glaubte, die Vor- 
stellung, es müsse auf einen solchen Erklärungsgrund ein 
vollständiges, alle Formen der Erkrankung und deren Hei- 
lung umfassendes System gebaut werden. Die vollendete 
Kenntniss des Causalzusammenhanges einer Classe von Er- 
sebeinungen giebt allerdings schliesslich auch ein logisch 
consequentes System. Es giebt keinen stolzeren Bau des 
strengsten Denkens, als die moderne Astronomie, deducirt 
bis in die einzelnsten kleinen Störungen hinein aus New- 
tons Gravitationsgesetz. Aber einem Newton war ein 



*) II. llelmholtz, die Erhaltung der Kraft. 1847. Berlin. 



L. 





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Kepler vorausgegangen, der die Thaisachen induetiv zu- 
saniraengefasst hatte; und niemals haben die Astronomen 
geglaubt, dass Newton's Kraft das gleichzeitige Wirken 
andrer Kräfte ausschlösse. Fortdauernd sind sie auf der 
Wacht geblieben, um zu erspähen, ob nicht auch Reibung, 
widerstehende Mittel, Meteorschwärrae Einfluss haben. Die 
älteren Philosophen und Aerzte glaubten, sie könnten de- 
duciren, ehe sie ihre allgemeinen Sätze durch Induction 
gesichert hatten. Sie vergassen, dass jede Deduction nur 
so viel Sicherheit hat, als der Satz, aus dem deducirt wird, 
und dass jede neue Deduction zunächst immer nur wieder 
ein neues Prüfungsmittel ihrer eigenen Grundlagen an der 
Krfahrung werden muss. Dadurch, dass ein Schluss in 
sauberster logischer Methode aus einem unsicheren Vorder- 
satze hergeleitet wird, gewinnt er nicht um eines Haares 
Breite an Sicherheit oder an Werth. 

Charakteristisch aber für die Schulen, die auf solchen 
als Dogmen angenommenen Hypothesen ihr System er- 
richteten, ist die Intoleranz, deren Aeusserungen ich zum 
Theil schon eben erwähnt habe. Wer auf wohlgesicherter 
Basis arbeitet, kann einen Irrthum gern zugeben; ihm wird 
dabei nichts genommen, als das, worin er sich geirrt hat, 
Wenn man aber den Ausgangspunkt auf eine Hypothese 
gestellt hat, die entweder durch Autorität gewährleistet 
erscheint oder nur gewählt ist, weil sie dem entspricht, 
was man für wahr halten zu können wünscht, so kann 
jeder Riss das ganze Gebäude der Ueberzeugungen rettungs- 
los einreissen. Die überzeugten Anhänger müssen deshalb 
für jeden einzelnen Theil eines solchen Gebäudes denselben 
Grad von Infallibität in Anspruch nehmen, für die Ana- 
tomie des Hippokrates ebenso viel, wie für die Fieber- 
krisen; jeder Gegner kann ihnen nur als dumm oder 



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schlecht erscheinen, und die Polemik wird nach einer 
alten Regel um so leidenschaftlicher und persönlicher, je un- 
sicherer der Boden ist, der vertheidigt wird. Bei den 
Schulen der dogmatisch deduetiven Mcdicin haben wir 
reichlich Gelegenheit, diese allgemeinen Regeln bestätigt 
zu finden. Ihre Intoleranz wandten sie theils gegen ein- 
ander, theils gegen die Eklektiker, die bei verschiedenen 
Krankheitsformen verschiedene Erklärungsgründe herbei- 
holten. Letzteres in der Sache vollkommen begründete Ver- 
fahren trug in den Augen der Systematiker den Makel 
der Inconsequenz an sich. Und doch waren die grössten 
Aerzte und Beobachter, Hippokrat.es an der Spitze, 
Aretaeus, Galcnus, Sydenham, Uocrhave, Eklek- 
tiker oder wenigstens sehr laxe Systematiker gewesen. 

Um die Zeit, als wir Acltcre in das Studium der Mc- 
dicin eintraten, stand sie noch unter dem Einflüsse der 
wichtigen Entdeckungen, welche Albrecht von Haller 
über die Erregung der Nerven gemacht hatte, diese in Ver- 
bindung gesetzt mit der vitalistischen Theorie von der 
Natur des Lebens. Haller hatte die Erregungsvorgänge 
an den Nerven und Muskeln abgeschnittener Glieder ge- 
sehen. Das auffallendste daran war ihm gewesen, dass 
die verschiedenartigsten äusseren Einwirkungen, mechani- 
sche, chemische, thermische, zu denen später noch die 
elektrischen kamen, immer denselben Erfolg, nämlich Mus- 
kelzuckung, hervorriefen. Nach ihrer Einwirkung auf den 
Organismus waren sie also nur quantitativ unterschieden, 
nur durch die Stärke der Wirkung; er bezeichnete sie des- 
halb mit dem gemeinsamen Namen der Reize, nannte 
den veränderten Zustand der Nerven die Reizung, und 
deren Fähigkeit auf Reize zu antworten, welche mit dem 
Absterben verloren ging, die Reizbarkeit. Dieses ganze 



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Verhältniss, welches, physikalisch genommen, eigentlich 
weiter nichts aussagt, als dass die Nerven betreffs der- 
jenigen inneren Bewegungen, die nach der Erregung auf- 
treten, in einem äusserst leicht störbaren Gleichgewichts- 
zustand sind, wurde als die Grundeigenschaft des thieri- 
schen Lebens angesehen und ohne Bedenken auch auf die 
übrigen Organe und Gewebe des Körpers übertragen, für 
welche gar keine ähnlichen Thatsachen vorlagen. Man 
glaubte, dass sie alle nicht von selbst thätig wären, son- 
dern erst durch Reize den Anstoss erhalten müssten; als 
die normalen Reize galten Luft und Nahrungsmittel. Die 
Art der Thätigkeit erschien dagegen durch die besondere 
Energie des Organs unter der Leitung der Lebenskraft bedingt. 
Steigerung oder Herabsetzung der Reizbarkeit waren die Ka- 
tegorien, unter welche die sämmtlichen acuten Krankheiten 
subsumirt und aus denen die Indicationen für schwächende 
oder erregende Behandlung hergenommen wurden. Die 
starre Einseitigkeit und rücksichtslose Consequenz, mit 
welcher R. Brown dies System einst durchgeführt hatte, 
war allerdings gebrochen; doch wurden immer noch die 
leitenden Gesichtspunkte daher genommen. 

Die Lebenskraft hatte einst als luftartiger Geist, als 
Pneuma, in den Arterien gehaust, hatte dann beim Pa- 
racelsus die Gestalt des Archeus, einer Art hilfreichen 
Kobold's oder „ inwendigen Alchymistcn - angezogen, und 
ihre klarste wissenschaftliche Fassung als Lebensseele, 
Anima inscia, bei Georg Ernst Stahl erlangt, der in 
der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts Professor der 
Chemie und Pathologie in Halle war. Stahl war ein 
klarer und feiner Kopf, der selbst da, wo er gegen unsere 
etzigen Ansichten entscheidet, durch die Art, wie er die 
i cht igen Fragen stellt, belehrend und fördernd ist. Er ist 

2 



— 18 — 



derselbe, der das erste umfassendere System der Chemie, 
das phlogistische, gründete. Wenn man sein Phlogistoo 
in latente Wärme übersetzt, so gingen die theoretischen 
Grundzüge seines Systems wesentlich auch in Lavoisicr's 
über; nur kannte Stahl den Sauerstoff noch nicht, wo- 
durch einige falsche Hypothesen, z B. über die negative 
Schwere des Phlogiston, bedingt waren. Stahl's Lebens- 
seele ist im Ganzen nach dem Vorbilde dargestellt, wie 
sich die pietistischen Gemeinden jener Zeit die sündige 
menschliche Seele dachten; sie ist Irrthümern und Leiden- 
schaften, der Trägheit, Furcht, Ungeduld, Trauer, Unbe- 
dachtsamkeit, Verzweiflung unterworfen. Der Arzt muss 
sie bald besänftigen, bald aufstacheln oder strafen und 
zur Busse zwingen. Sehr gut ausgesonnen war es, wie er 
daneben die Notwendigkeit der physikalischen und chemi- 
schen Wirkungen begründete. Die Lebcnsseele regiert den 
Körper und wirkt nur mittels der physikalisch-chemischen 
Kräfte der aufgenommenen Stoffe. Aber sie hat die Macht 
diese Kräfte zu binden und zu lösen, sie gewähren zu 
lassen oder zu hemmen. Nach dem Tode werden die ge- 
hemmten Kräfte frei und rufen Fäulniss und Verwesung 
hervor. Diese Hypothese vom Binden und Lösen zu wider- 
legen, musste das Gesetz von der Erhaltung der kraft 
klar ausgesprochen werden. 

Die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts war schon 
zu sehr von Aufklärungsprincipien angesteckt, um Stahlt 
Lebensseele offen anzuerkennen. Man übertünchte sie mein 
naturwissenschaftlich als Lebenskraft, Vis Vitalis, wäh- 
rend sie im Wesentlichen ihre Functionen beibehielt un< 
unter dem Namen der Naturheilkraft in Krankheiten ein« 
hervorragende Rolle spielte. 

Die Lehre von der Lebenskraft trat ein in das puthu 



logische System der Erregbarkeitsänderungen. Man suchte 
zu trennen die unmittelbaren Einwirkungen der krank- 
machenden Schädlichkeit, soweit sie von dem Spiel blinder 
Naturkräfte abhingen, die Symptomata morbi, von denen, 
welche die Reaction der Lebenskraft einleitete, den Symp- 
tomata reactionis. Die letztern sah man hauptsächlich in 
der Entzündung und im Fieber. Dem Arzte fiel fast allein 
noch die Rolle zu, die Stärke dieser Reaction zu über- 
wachen und sie, je nach Umständen, anzustacheln oder zu 
dämpfen. 

Die Behandlung des Fiebers erschien jener Zeit als 
die Hauptsache, als der eigentlich wissenschaftlich be- 
gründete Theil der Medicin, woneben die Localbehandlung 
als verhältnissmässig untergeordnet zurücktrat. Die The- 
rapie der fieberhaften Krankheiten war dadurch schon 
sehr einförmig geworden, wenn auch die durch die Theorie 
indicirten Mittel, wie namentlich das seit jener Zeit fast 
ganz aufgegebene Blutlassen, noch kräftig gebraucht 
wurden. Noch mehr verarmte die Therapie, als die jüngere 
und kritischer gestimmte Generation herantrat und die 
Voraussetzungen dessen, was man als wissenschaftlich 
betrachtete, prüfte. Es waren damals unter den jüngeren 
Aerzten viele, die in Verzweiflung an ihrer Wissenschaft 
fast jede Therapie aufgaben oder prineipmässig nach einer 
Empirie griffen, wie sie Rademacher damals lehrte, 
welche grundsätzlich jede Hoffnung auf wissenschaftliches 
Verständniss als eitel ansah. 

Was wir damals kennen gelernt haben, waren nur 
noch Ruinen des alten Dogmatismus, aber die bedenklichen 
Seiten desselben traten noch deutlich genug hervor. 

Dem vitalistischen Arzte hing der wesentliche Theil 
der Lebensvorgänge nicht von Naturkräften ab, die, mit 

2* 



'20 - 



blinder Notwendigkeit und nach festem Gesetz ihre Wir- 
kung ausübend, den Erfolg bestimmten. Was solche ver- 
richten konnten, erschien als Nebensache und ein eingehendes 
Studium davon kaum der Mühe werth. Er glaubte mit 
einem seelenähnlichen Wesen zu thun zu haben, dem ein 
Denker, ein Philosoph und geistreicher Mann gegenüber- 
stehen musste. Darf ich es Ihnen durch einzelne Züge 
erläutern ? 

Es war eine Zeit, wo Auscultation und Pereussion 
der Brustorgane in den Kliniken schon regelmässig betrieben 
wurde; aber ich habe noch manchmal behaupten hören, 
es seien dies grob mechanische Untersuchungsmittel, deren 
ein Arzt von hellem Geistesauge nicht bedürfe; auch setze 
man dadurch den Patienten, der doch auch ein Mensch 
sei, herab und entwürdige ihn, als sei er eine Maschine. 
Das Pulsfühlen erschien als das directeste Verfahren, um 
die Reactionsweisc der Lebenskraft kennen zu lernen, und 
wurde deshalb als bei weitem das wichtigste Beobachtungs- 
mittel fein eingeübt. Dabei mit der Secundenuhr zu zählen 
war schon gewöhnlich, galt aber bei den alten Herren 
als ein Verfahren von nicht ganz gutem Geschmack. An 
Temperaturmessungen bei Kranken wurde noch nicht ge- 
dacht. In Bezug auf den Augenspiegel sagte mir ein 
hochberühmter chirurgischer College, er werde das Instru- 
ment nie anwenden, es sei zu gefahrlich das grelle Licht 
in kranke Augen fallen zu lassen; ein Anderer erklärte, 
der Spiegel möge für Aerzte mit schlechten Augen nütz- 
lich sein, er selbst habe sehr gute Augen und bedürfe 
seiner nicht. 

Ein durch bedeutende litterarische Thätigkeit berühmter, 
als Redner und geistreicher Mann gefeierter Professor der 
Physiologie jener Zeit hatte einen Streit über die Bilder im 



... 



» . » 



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Auge mit dem Collegen von der Physik. Der Physiker 
forderte den Physiologen auf, zu ihm zu kommen und den 
Versuch zu sehen. Der letztere wies dies Ansinnen ent- 
rüstet zurück: „ein Physiologe habe mit Versuchen nichts 
zu thun, die seien gut für den Physiker." Ein anderer 
bejahrter und hochgelehrter Professor der Arzneimittellehre, 
der sich viel mit Reorganisation der Universitäten beschäf- 
tigte, um die alte gute Zeit zurückzuführen, drang instän- 
digst in mich die Physiologie zu theilen, den eigentlich 
gedanklichen Theil selbst vorzutragen, und die niedere ex- 
perimentelle Seite einem Collegen zu überlassen, den er 
dafür als gut genug ansah. Er gab mich auf, als ich 
ihm erklärte, ich betrachtete selbst die Experimente als 
die eigentliche Basis der Wissenschaft. 

Ich erzähle Ihnen diese selbst erlebten Züge, um Ihnen 
anschaulich zu machen, wie die Stimmung der älteren 
Schulen und zwar die von gefeierten Repräsentanten der 
irztlichen Wissenschaft gegenüber dem andringenden Ideen- 
kreise der Naturwissenschaften war; in der Litteratur 
iahen diese Ansichten natürlich schwächeren Ausdruck ge- 
linden, weil die alten Herren doch zu vorsichtig und welt- 
gewandt waren. 

Sie begreifen, wie sehr eine solche Stimmung von 
influss reichen und geachteten Männern dem Fortschritt 
linderlich gewesen sein muss. Die medicinische Bildung 
-ner Zeit beruhte noch wesentlich auf Bücherstudium ; es 
ab noch Vorlesungen, die sich auf das Dictiren eines 
fettes beschränkten; für Versuche und Demonstrationen 
1 den Vorlesungen war zum Theil schon gut, zum Theil 
ur dürftig gesorgt; physiologische und physikalische La- 
»ratorien, wo der Schüler selbst hätte angreifen können, 
i!> es überhaupt noch nicht; für die Chemie war Li ebig's 



22 



grosse That, die Gründung des Giessener Laboratorium, 
schon vollzogen, aber anderswo noch nicht nachgeahmt 
worden. Indessen besass die Medicin in den anatomischen 
Ucbungen ein grosses Erziehungsmittel für selbstständige 
Beobachtung, welches den anderen Faeultäten fehlte und 
dessen Einlluss ich sehr hoch zu schätzen geneigt biu. 
Mikroskopische Demonstrationen kamen nur sehr vereinzelt 
und selten in den Vorlesungen vor. Die Instrumente waren 
noch theuer und selten; ich selbst gelangte dadurch in 
den Besitz eines solchen, dass ich die Herbstferien 1841 
in der Charite am Typhus darniederliegend zubrachte, als 
Eleve unentgeltlich verpflegt, und mich als Reeonvalescent 
im Besitz meiner aufgesparten kleinen Einkünfte sah. Das 
Instrument war nicht schön; doch war ich damit im Stande 
die in meiner Dissertation beschriebenen Nerven fortsätze 
der Ganglienzellen bei den wirbellosen Thieren zu erkennen 
und die Vibrionen in meiner Arbeit über Fäulniss und 
Gährung zu verfolgen. 

Ueberhaupt wer von meinen Studiengenossen Versuche 
anstellen wollte, musste dafür mit seinem Taschengelde 
einstehen. Eines haben wir dabei gelernt, was die jüngere 
Generation in den Laboratorien vielleicht nicht mehr so 
gut lernt, nämlich die Mittel und Wege, um zum Ziele zu 
gelangen, nach allen Richtungen hin zu überlegen und alle 
Möglichkeiten in der Ueberlegung zu erschöpfen, bis ein 
gangbarer Weg gefunden war. Aber freilich hatten wir 
auch vor uns ein kaum angebrochenes Feld, in welchem 
fast jeder Spatenstich lohnende Ergebnisse herauflordern 
konnte. 

Es war ein Mann vorzugsweise, der uns den Enthusias- 
mus zur Arbeit in der wahren Riebtang gab, nämlich Johan- 
nes Müller, der Physiolog. In seinen theoretischen An- 




- 23 - 

schauungen bevorzugte er noch die vitalistische Hypothese, 
aber in dem wesentlichsten Punkte war er Naturforscher, 
fest und unerschütterlich: alle Theorien waren ihm nur 
Hypothesen, die an den Thatsachen geprüft werden muss- 
ten, und über die einzig und allein die Thatsachen zu 
entscheiden hatten. Auch die Ansichten über diejenigen 
Punkte, welche sich am leichtesten in Dogmen versteinern, 
über die Wirkungsweise der Lebenskraft und die Thätig- 
keiten der bewussten Seele, suchte er unablässig mittels 
der Thatsachen fester zu begrenzen, zu beweisen oder zu 
widerlegen. 

Wenn auch die Technik anatomischer Untersuchungen 
ihm am geläufigsten war und er auf diese deshalb am 
liebsten zurückging, so arbeitete er sich doch auch in die 
ihm fremderen chemischen und physikalischen Methoden 
ein. Er lieferte den Nachweis, dass der Faserstoff in der 
Blutflüssigkeit gelöst sei, er experimentirte über Schall- 
fortpflanzung in solchen Mechanismen, wie sie sich in der 
Trommelhöhle finden, behandelte als Optiker die Thätig- 
keit des Auges. Seine für die Physiologie des Nerven- 
systems, wie für die Erkennt nisstheorie bedeutsamste Lei- 
stung war die feste thatsächliche Begründung der Lehre 
von den spezifischen Energien der Nerven. In Bezug auf 
die Scheidung der Nerven von motorischer und sensibler 
Energie lehrte er, wie der experimentelle Beweis des BelT- 
schen Gesetzes über die Kückenmarkwurzeln fehlerfrei zu 
fuhren sei, und betreffs der spezifischen Energien der 
Sinnesnerven stellt«' er nicht blos das allgemeine Gesetz 
auf, sondern führte auch eine grosse Anzahl von Einzel- 
untersuchungen durch, um Ausnahmen zu beseitigen, fal- 
sche Deutungen und Ausflüchte zu widerlegen. Was man 

i>is dahin aus den Daten der täglichen Erfahrung geahnt 

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— 24 - 



und in unbestimmter, das Wahre mit Falschem vermischen- 
der Weise auszusprechen gesucht, oder nur erst für ein- 
zelne engere Gebiete, wie Th. Young für die Farben- 
theorie, Ch. Bell für die motorischen Nerven fest for- 
mulirt hatte, das ging aus Müller's Händen in der Form 
classischer Vollendung hervor, eine wissenschaftliche Er- 
rungenschaft, deren Werth ich der Entdeckung des Gravi- 
tationsgesetzes gleichzustellen geneigt bin. 

Sein Geist und sein Beispiel vorzugsweise arbeitete 
fort in seinen Schülern. Uns waren schon vorausgegangen: 
Schwann, 11 c nie, Reichert, Peters, Remak, ich traf 
hier als Studiengenossen E. du Bois-Koy mond, Vir- 
chow, Brücke, Ludwig, Traube, J. Meyer, Lieber- 
kühn, IIa 11 mann; es folgten nach A. v. Graefe, 
W. Busch, Max Schultze, A. Schneider. 

Die mikroskopische und pathologische Anatomie, das 
Studium der organischen Typen, die Physiologie, die ex- 
perimentirende Pathologie und Arzneimittellehre, die Augen- 
heilkunde entwickelten sich unter dem Einfluss dieses mäch- 
tigen Anstosses in Deutschland schnell hinaus über das 
Maass der mitstrebenden Nachbarlander. Zu Hilfe kam 
das Wirken ähnlich gesinnter Zeitgenossen Müller's, unter 
denen vor allen die drei Leipziger Brüder Weber zu nennen 
sind, die in der Mechanik des Kreislaufs, der Muskeln, 
der Gelenke, des Ohrs festen Grund gemacht haben. 

Man griff an, wo man irgendwie einen Weg sah um 
einen der Lebensvorgänge verständlich zu machen; man 
setzte voraus, sie seien verständlich, und der Erfolg ent- 
sprach dieser Voraussetzung. Jetzt ist eine feine und 
reiche Technik für die Methoden des Mikroskopirens, der 
physiologischen Chemie, der Viviscctionen ausgebildet, 
letztere namentlich mit Hilfe des betäubenden Aethcrs und 



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- 25 - 



des lähmenden Curare ausserordentlich erleichtert, wo- 
durch eine Fülle von viel tiefer gehenden Problemen an- 
greifbar werden, die unserer Generation noch ganz hoff- 
nungslos erschienen. Das Thermometer, der Augen-, Ohren- 
und Kehlkopfspiegel, die Nervenreizung am Lebenden, ge- 
ben dem Arzte Möglichkeiten feiner und sicherer Diagno- 
stik, wo uns noch absolutes Dunkel erschien; die immer 
steigende Anzahl nachgewiesener parasitischer Organismen 
setzt greifbare Objecto an die Stelle mystischer Krank- 
heits-Entitaten und lehrt den Chirurgen, den furchtbar 
tückischen Zersetzungskrankheiten zuvorzukommen. 

Aber glauben Sie nicht, meine Herren, dass der 
Kampf zu Ende ist. So lange es Leute von hinreichend 
gesteigertem Eigendünkel geben wird, die sich einbilden 
durch Blitze der Genialität leisten zu. können, was das 
Menschengeschlecht sonst nur durch mühsame Arbeit zu 
erreichen holTen darf, wird es auch Hypothesen geben, 
welche, als Dogmen vorgetragen, alle Räthsel auf einmal 
zu lösen versprechen. Und so lange es noch Leute giebt, 
die kritiklos leicht an das glauben, von dem sie wün- 
schen, dass es wahr sein möchte, so lange werden die 
Hypothesen der ersteren auch noch Glauben finden. Beide 
Klassen von Menschen werden wohl nicht aussterben, und 
der letzteren wird immer die Majorität angehören. 

Zwei Motive sind es namentlich, welche die metaphy- 
sischen Systeme immer getragen haben. Einmal möchte 
sich der Mensch als ein über das Maass der übrigen Natur 
hinausragendes Wesen höherer Art fühlen; diesem Wunsche 
entsprechen die Spiritualisten. Andererseits möchte er un- 
bedingter Herr über die AVeit durch sein Denken sein, und 
zwar natürlich durch sein Denken mit denjenigen Begriffs- 



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— 26 — 

formen, zu deren Ausbildung er bis jetzt gelangt ist; dem 
suchen die Materialisten zu genügen. 

Wer aber, wie der Arzt, den Heil oder Verderben 
bringenden Kräften handelnd gegen übertreten soll, dem 
liegt unter schwerer Verantwortlichkeit die Verpflichtung 
ob, die Kenntniss der Wahrheit und nur der Wahrheit zu 
suchen, ohne Rücksicht, ob, was er findet, den W'ünschen 
der einen oder der andern Art schmeichelt. Sein Ziel ist 
ein ganz fest gegebenes, für ihn ist schliesslich nur der 
thatsächliche Erfolg entscheidend. Er muss streben voraus 
zu wissen, was der Erfolg seines Eingreifens sein wird, 
wenn er so oder so verfährt. Um dieses Vorauswissen des 
Kommenden oder des noch nicht durch Beobachtung Fest- 
gestellten zu erwerben, haben wir keine andere Methode 
als die, dass wir die Gesetze der Thatsachcn durch Beob- 
achtung kennen zu lernen suchen; und wir können sie 
kennen lernen durch Induction, durch sorgfältige Auf- 
suchung, Herbeiführung, Beobachtung solcher Fälle, die 
unter das Gesetz gehören. Glauben wir ein Gesetz ge- 
funden zu haben, dann tritt auch das Geschäft des Dedu- 
cirens ein. Dann haben wir die Consequenzen unseres 
Gesetzes möglichst vollständig abzuleiten, aber freilich zu- 
nächst nur um sie an der Erfahrung zu prüfen, so weit 
sie sich irgend prüfen lassen, und um durch diese Prüfung 
zu entscheiden, ob das Gesetz sich als gültig bewähre 
und in welchem Umfange. Dies ist eine Arbeit, die eigent- 
lich nie aufhört. Der ächte Naturforscher überlegt bei 
jeder neuen fremdartigen Erscheinung, ob nicht die best- 
bewährten Wirkungsgesetze längst bekannter Kräfte eine 
Abänderung erhalten müssen; natürlich kann es sich da- 
bei nur um eine Abänderung handeln, die dem ganzen 
Schatze der bisher aufgesammelten Erfahrungen nicht wider- 



27 



spricht. So kommt er freilich nie zur unbedingten Wahr- 
heit, aber doch zu so hohen Graden der Wahrscheinlich- 
keit, dass sie praktisch der Gewissheit gleich stehen. 
Lassen wir die Metaphysiker darüber spotten, wir wollen 
uns ihren Spott zu Heizen nehmen, wenn sie einmal Bes- 
seres oder auch nur ebensoviel zu leisten im Stande sein 
werden, als die inductivc Methode schon geleistet bat 
Noch aber sind die alten Worte des Sokrates, des Alt- 
meisters inductiver Begriffsbildung, über sie genau eben 
so jung, wie vor *2000 Jahren: „Jene glaubten zu wissen, 
was sie nicht wüssten, und er selbst habe wenigstens den 
Vorzug, dass er nicht vermeinte zu wissen, was er nicht 
wisse." Und wiederum: „Er wundere sich nur, dass Jene 
nicht merkten, wie unmöglich es den Menschen sei der- 
gleichen zu finden; da ja selbst die, welche auf ihre da- 
rüber vorgetragenen Theorien im allerhöchsten Grade ein- 
gebildet seien, unter sich nicht übereinstimmten, sondern 
sich wie die Rasenden ( T0 ? s pano/iews öfioüog) gegen einan- 
ander betrügen."*) ß^urrow ippovoowa^ nennt sie So- 

krates. Einen r Montblanc neben einem Maulwurfshaufen " 
nennt sich Schopenhauer**), wenn er sich mit einem 
Naturforscher vergleicht. Die Schüler bewundern das 
grosse Wort und suchen dem Meister nachzuahmen. 

Wenn ich gegen das leere Hypothesenmachen spreche, 
glauben Sie übrigens nicht, dass ich den Werth der acht 
originalen Gedanken herabsetzen wolle. Die erste Auffin- 
dung eines neuen Gesetzes ist die Auffindung bisher ver- 
borgen gebliebener Aehnlichkcit im Ablauf der Naturvor- 
gänge. Sie ist eine Aeusserung des Seelenvermögens, 

*) Xenophon Mcmorabil. I. 1. 11. 

**) Arthur Schopenhauer, von ihm. über ihn, von Krauen- 
s t ä d t und L i n d n c r. Berlin. 1 863. S. 653. 



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- 28 - 

welches unsere Vorfahren noch im ernsten Sinne .Witz" 
nannten; sie ist gleicher Art mit den höchsten Leistungen 
künstlerischer Anschauung in der Auffindung neuer Typen 
ausdrucksvoller Erscheinung. Sie ist etwas, was man 
nicht erzwingen und durch keine bekannte Methode er- 
werben kann. Darum haschen Alle danach, die sich als 
bevorzugte Kinder des Genius geltend machen möchten. 
Auch scheint es so leicht, so mühelos, durch plötzliche 
Geistesblitze einen unerschwingbaren Vorzug vor den Mit- 
lebenden sich anzueignen. Der rechte Künstler zwar und 
der rechte Forscher wissen, dass grosse Leistungen nur 
durch grosse Arbeit entstehen. Der Beweis dafür, dass 
die gefundenen Ideen nicht nur oberflächliche Aehnlich- 
keiten zusammenraffen, sondern durch einen tiefen Blick 
in den Zusammenhang des Ganzen erzeugt sind, lässt sich 
doch nur durch eine vollständige Durchführung derselben 
geben, für das neu entdeckte Naturgesetz also nur an 
seiner Uebercinstimmung mit den Thatsachen. Es ist das 
nicht etwa als eine Werthschätzung nach dem äusserlichen 
Erfolge anzusehen, sondern der Erfolg hängt hier wesent- 
lich zusammen mit der Tiefe und Vollständigkeit der vor- 
ausgegangenen Anschauung. 

Oberflächliche Aehnlichkciten finden ist leicht, ist unter- 
haltend in der Gesellschaft, und witzige Einfälle verschaffen 
ihrem Autor bald den Namen eines geistreichen Mannes. 
Unter einer grossen Zahl solcher Einfalle werden ja auch 
wohl einige sein müssen, die sich schliesslich als halb oder 
ganz richtig erweisen; es wäre ja geradezu ein Kunststück, 
immer falsch zu rathen. In solchem Glücksfalle kann man 
seine Priorität auf die Entdeckung laut geltend machen; 
wenn nicht, so bedeckt glückliche Vergessenheit die ge- 
machten Fehlschüsse. Andre Anhänger desselben Verfahrens 



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helfen gern dazu den Werth eines „ersten Gedankens ■ zu 
sichern. Die gewissenhaften Arbeiter, welche ihre Ge- 
danken zu Markte zu bringen sich scheuen, ehe sie sie 
nicht nach allen Seiten geprüft, alle Bedenken erledigt 
und den Beweis vollkommen gefestigt haben, kommen da- 
bei in unverkennbaren Nachtheil. Die jetzige Art Priori- 
tätsfragen nur nach dem Datum der ersten Veröffentlichung 
zu entscheiden, ohne dabei die Reife der Arbeit zu be- 
achten, hat dieses Unwesen sehr begünstigt. 

In den Letterkästen eines Buchdruckers liegt alle 
Weisheit der Welt zusammen, die schon gefunden ist und 
noch gefunden werden kann; man müsste nur wissen, wie 
man die Lettern zusammenzuordnen hat. So sind auch in 
den Hunderten von Schriften und Schriftchen, die alljähr- 
lich erscheinen über Acther, Beschaffenheit der Atome, 
Theorie der Wahrnehmung, ebenso wie über das Wesen 
der asthenischen Fieber und der Carcinome, gewiss schon 
längst alle zartesten Nüancirungen der möglichen Hypothesen 
erschöpft und unter diesen müssen nothwendig viele Bruch- 
stücke der richtigen Theorie sein. Wer sie nur zu finden 
wüsste! 

Ich hebe dies hervor, um Ihnen klar zu machen, dass 
diese Litteratur der ungeprüften und unbestätigten Specula- 
tionen gar keinen Werth für den Fortschritt der Wissenschaft 
hat; im Gegentheil, die wenigen gesunden Gedanken, die 
j darin stecken mögen, werden von dem Unkraut der Uebrigen 
^ zugedeckt, und wer nachher wirklich Neues und wohlge- 
prüfte Thatsachen bringen will, sieht sich der Gefahr un- 
zähliger Reclaraationen ausgesetzt, wenn er nicht vorher mit 
dem Durchlesen einer Menge absolut unfruchtbarer Bücher 
Zeit und Kräfte vergeuden und den Leser durch die Menge 
unnützer Citate ungeduldig machen will. 



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— 30 - 



Unsere Generation hal noch unter dem Drucke spiri- 
tualistischer Metaphysik gelitten, die jüngere wird sich 
wohl vor dem der materialistischen zu wahren haben. Kant's 
Zurückweisung der Ansprüche des reinen Denkens hat all- 
mälig Eindruck gemacht, aber Kant liess noch einen Aus- 
weg offen. Dass alle bis dahin aufgestellten metaphysi- 
schen Systeme nur Gewebe von Trugschlüssen seien, war 
ihm so klar wie dem Sokrates. Seine Kritik der reinen 
Vernunft ist eine fortlaufende Predigt gegen den Gebrauch 
der Kategorien des Denkens über die Grenzen möglicher 
Erfahrung hinaus. Aber die Geometrie schien ihm so etwas 
zu leisten, wie die Metaphysik es anstrebte, und er erklärte 
deshalb die Axiome der Geometrie, die er als a priori vor 
aller Erfahrung gegebene Sätze ansah, für gegeben durch 
transcendcntale Anschauung, oder als die angeborene Form 
aller äusseren Anschauung. Seitdem ist die reine Anschau- 
ung a priori der Ankerplatz der Metaphysiker geworden. 
Sie ist noch bequemer als das reine Denken, weil man ihr 
Alles aufbürden kann, ohne sich in Sehlussketten hinein- 
zubegeben, die einer Prüfung und Widerlegung fähig wären. 
Die nativistische Theorie der Sinneswahrnehmungen ist der 
Ausdruck dieser Theorie in der Physiologie. Alle Meta- 
physiker vereinigt kämpfen gegen jeden Versuch die An- 
schauungen, seien es sogenannte reine oder empirische, die 
Axiome der Geometrie, die Grundsätze der Mechanik oder 
die Gesichtswahrnehmungen in ihre rationellen Elemente 
aufzulösen. Eben wegen dieses Sachverhalts halte ich die 
neueren mathematischen Untersuchungen von Lobat- 
sch ewsky, Gauss, Riem an ii u. A. über die logisch mög- 
lichen Abänderungen der Axiome dcrGeometric und den Nach- 
weis, dass die Axiome Sätze sind, die durch die Erfahrung 
bestätigt oder vielleicht auch widerlegt, und deshalb aus 



- 31 - 

der Erfahrung gewonnen werden können, für einen sehr 
wichtigen Fortsehritt. Dass alle Seeten der Metaphysikcr 
sich darüber ereifern, darf Sie nicht irre machen; denn 
diese Untersuchungen legen die Axt an die scheinbar festeste 
.Stütze, die ihren Ansprüchen noch blieb. 

Ich bitte Sie nicht zu vergessen, dass auch der Mate- 
rialismus eine metaphysische Hypothese ist, eine Hypothese, 
die siel) im Gebiete der Naturwissenschaften allerdings als 
sehr fruchtbar erwiesen hat, aber doch immer eine Hypo- 
these. Und wenn man diese seine Natur vergisst, so wird . 
er ein Dogma, was dem Fortschritte der Wissenschaft ebenso 
hinderlich werden und zu leidenschaftlicher Intoleranz trei- 
ben kann, wie andere Dogmen. Diese Gefahr tritt ein, 
sobald man Thatsachcn zu leugnen oder zu verdecken 
sucht zu Gunsten entweder der erkenntnisstheoretischen 
Principien des Systems, oder zu Gunsten von Specialtheo- 
rien, die naturwissenschaftlich wenigstens klingende Erklä- 
rungen von einzelnen Gebieten zu geben suchen. So hat 
man z. B. gegen solche Forscher, welche aus den Sinnes- 
wahrnehmungen herauszulösen suchen, was darin von Wir- 
kungen des Gedächtnisses und der im Gedächtnisse zu 
Stande kommenden Verstärkung wiederholter gleichartiger 
Eindrücke, kurz der Erfahrung angehört, ein Parteigeschrei 
zu erheben gesucht, sie seien Spiritualisten. Als ob Ge- 
dächtnis*, Erfahrung und Ucbung nicht auch Thatsaehen 
wären, deren Gesetze gesucht werden können, und die sich 
nicht wegdeeretiren lassen, wenn sie auch nicht schon 
jetzt glatt und einfach auf die bekannten Gesetze der Er- 
regung von Nervenfasern und deren Leitung zurückzuführen 
sind, so günstigen Spielraum der Phantasie auch das Ge- 
wirr der Ganglienzellenfortsätze und Nervenfaserverbindun- 
gen im Gehirn darbietet. 



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32 - 

Ueberhaupt, so selbstverständlich der Grundsatz er- 
scheint und so wichtig er ist, so oft wird er vergessen, 
der Grundsatz nämlich, dass die Naturforschung die Ge- 
setze der Thatsachen zu suchen hat. Indem wir das ge- 
fundene Gesetz als eine die Vorgänge in der Natur be- 
herrschende Macht anerkennen, objectiviren wir es als 
Kraft, und nennen eine solche Zurückfuhrung der ein- 
zelnen Fälle auf eine unter bestimmten Bedingungen einen 
bestimmten Erfolg hervorrufende Kraft eine ursächliche 
Erklärung der Erscheinungen. Wir können dabei nicht 
immer zurückgehn auf die Kräfte der Atome; wir sprechen 
auch von einer Lichtbrechungskraft, elektromotorischen und 
elektrodynamischen Kraft. Aber vergessen Sic nicht die 
bestimmten Bedingungen und den bestimmten Er- 
folg. Wenn diese nicht anzugeben sind, so ist die angeb- 
liche Erklärung nur ein verschämtes Geständniss des 
Nichtwissens, und dann ist es entschieden besser, dafür 
ein offenes Geständniss zu geben. 

Wenn z. B. irgend ein vegetativer Process auf Kräfte 
der Zellen zurückgeführt wird ohne nähere Bestimmung der 
Bedingungen, unter welchen, und der Richtung, nach wel- 
cher diese wirken, so kann dies höchstens noch den Sinn 
haben auszudrücken, dass entferntere Theile des Organis- 
mus dabei ohne Einfluss sind; aber auch dies möchte in 
den wenigsten Fällen sicher constatirt sein. Ebenso ist 
der ursprünglich wohl bestimmte Sinn, den Johannes 
Müller dem Begriff der Reflexbewegung gab, allmälig 
dahin verflüchtigt, dass, wenn an irgend einer Stelle 
des Nervensystems ein Eindruck stattgefunden hat, und 
an irgend einer andern eine Wirkung eintritt, man dies 
erklärt zu haben glaubt, wenn man sagt, es sei ein Re- 
flex. Den unentwirrbaren Verflechtungen der Hirnnerven- 



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fasern kann man Vieles aufbürden. Aber die Aehnlieh- 
keit mit den Qualitates occultae der alten Medicin ist 
sehr bedenklich. 

Aus dem ganzen Zusammenhange meiner Darstellung 
geht wohl eigentlich schon hervor, dass das, was ich 
gegen die Metaphysik gesagt habe, nicht gegen die Philo- 
sophie gerichtet sein soll. Aber die Mctaphysiker haben 
sich von jeher das Ansehen zu geben gesucht, als wenn 
sie die Philosophen wären, und die philosophischen Di- 
lettanten haben sich meistens nur für die weitlliegenden 
Spcculationcn der Metaphysiker interessirt, durch welche 
sie in kurzer Zeit und ohne zu grosse Mühe die Summe alles 
Wissenswert hen glaubten kennen lernen zu können. Ich habe 
schon bei einer andern Gelegenheit*) das Verhältniss der 
Metaphysik zur Philosophie mit dem der Astrologie zur 
Astronomie verglichen. Jene hatte das aufregendste In- 
teresse tür das grosse Publikum, namentlich die vornehme 
Welt, und machte ihre angeblichen Kenner zu einflussreichen 
Personen. Die Astronomie dagegen, trotzdem sie das Ideal 
wissenschaftlicher Durcharbeitung geworden ist, rauss sich 
jetzt mit einer kleinen Zahl still fortarbeitender Jünger 
begnügen. 

Ebenso bleibt der Philosophie, wenn sie die Meta- 
physik aufgiebt, noch ein grosses und wichtiges Feld, die 
Kenntniss der geistigen und seelischen Vorgänge und deren 
Gesetze. Wie der Anatom, wenn er an die Grenzen des 
mikroskopischen Sehvermögens kommt, sich Einsicht in die 
Wirkung seines optischen Instruments zu verschaffen suchen 
muss, so wird jeder wissenschaftliche Forscher auch das 



») Tyndall, wissenschaftliche Fragmente, übers, v. A. Helm- 
holtz. Vorrede S. XXII. 

3 



Haupt Instrument, mit dorn er arbeitet, das menschliche 
Denken nach seiner Leistungsfähigkeit genau studiren 
müssen. Zengniss für die Schädlichkeit irrt hüml icher An- 
sichten in dieser Beziehung ist unter Anderem das zwei- 
tausendjährige Herumtappen der medicinischen Schulen. Und 
auf die Kenntnis* der Gesetze der psychischen Vorgänge 
müsstc der Arzt, der Staatsmann, der Jurist, der Geist- 
liche und Lehrer bauen können, wenn sie eine wahrhaft 
wissenschaftliche Begründung ihrer praktischen Thätigkeit 
gewinnen wollten. Aber die ächte Wissenschaft der Philo- 
sophie hat unter den üblen geistigen Gewohnheiten und 
falschen Idealen der Metaphysik vielleicht noch mehr zu 
leiden gehabt, als die Medicin. 

Nun noch eine Verwahrung; ich möchte nicht, dass 
Sie glaubten, meine Darstellung sei durch persönliche Er- 
regung beeinflusst gewesen. Dass Jemand, der solche Mei- 
nungen hat, wie ich Ihnen vorgetragen habe, der seinen 
Schülern, wo er kann, den Grundsatz einschärft: .Ein me- 
taphysischer Schluss ist entweder ein Trugschluss oder ein 
versteckter E r fa h r u ngssc h 1 u ss * , von den Liebhabern der 
Metaphysik und der Anschauungen a priori nicht günstig 
angesehen wird, brauche ich nicht auseinanderzusetzen. 
Metaphysiker pflegen, wie Alle, die ihren Gegnern keine 
entscheidenden Gründe entgegenzusetzen haben, nicht höf- 
lich in ihrer Polemik zu sein; den eigenen Erfolg kann 
man ungefähr an der steigenden Unhöflichkeit der Rück- 
äusserungen beurt heilen. 

Meine eigenen Arbeiten haben mich mehr, als die 
übrigen Jünger der naturwissenschaftlichen Schule, in die 
strittigen Gebiete geführt, und die Aeusserungen meta- 
physischer Unzufriedenheit haben mich deshalb auch mehr 



- 35 



als meine Freunde betroffen, wie ja Viele von Ihnen wissen 
werden. 

Um also nieine persönlichen Meinungen ausser Spiel 
zu lassen, habe ich schon zwei unverdächtige Gewährs- 
männer für mich sprechen lassen, Sokrates und Kant, 
welche beide sicher waren, dass alle bis zu ihrer Zeit auf- 
gestellten metaphysischen Systeme Gewehe von eitel Trug- 
schlüssen waren und selbst sich hüteten, ein neues hin- 
zuzufügen. Nur um zu zeigen, dass weder in den 
letzten 2000, noch in den letzten 100 Jahren sich die 
Sache geändert hat, lassen Sie mich schliessen mit einem 
Ausspruch des uns leider zu früh entrissenen Verfassers • 
der Geschichte des Materialismus, Friedrich Albert 
Lange. In seinen nachgelassenen „Logischen Studien - , 
die er schon in der Aussicht auf sein herannahendes Ende 
geschrieben hat, giebt er (S. (>) folgende Schilderung, die 
mir aufgefallen ist, weil sie eben so gut von den Solidar- 
und Humoralpathologen oder beliebigen anderen alten 
dogmatischen Schulen der Medicin gelten könnte. Lange 
sagt: .Der Hegelianer schreibt zwar dem Ilerbartianer ein 
unvollkommeneres Wissen zu als sich selbst, und umge- 
kehrt; aber keiner nimmt Anstand, das Wissen des An- 
dern gegenüber dem des Empirikers, als ein höheres, und 
wenigstens als eine Annäherung an das allein wahre Wissen 
anzuerkennen. Es zeigt sich also, dass hier von der Bün- 
digkeit des Beweises ganz abgesehen und schon die blosse 
Darstellung in Form der Deduction aus dem Ganzen eines 
Systems heraus als apodiktisches Wissen anerkannt wird.* 1 

Werfen wir also keine Steine auf unsere alten medi- 
cinischen Vorgänger, die in dunklen Jahrhunderten und 
mit geringen Vorkenntnissen in genau dieselben Fehler 
verfallen sind, wie die grossen Intelligenzen des aufgeklärt 



— 36 — 



sein wollenden neunzehnten Jahrhunderts. Jene machten 
es nicht schlechter als ihre Zeitgenossen, nur trat das 
Widersinnige der Methode an dem naturwissenschaftlichen 
Stoffe stärker hervor. Arbeiten wir weiter. Die Aerzte 
sind berufen in diesem Werke der wahren Aufklärung eine 
hervorragende Rolle zu spielen. Unter den Ständen, 
welche ihre Kennt niss der Natur gegenüber fortdauernd 
handelnd bewähren müssen, sind sie diejenigen, welche 
mit der besten geistigen Vorbereitung herantreten und mit 
den mannigfachsten Gebieten der Naturerscheinungen be- 
kannt werden. 

Um endlich unsere Consultation über den Zustand 
der Dame Mcdicin rite mit der Rpikrisis zu schliessen: 
so meine ich, wir haben alle Ursache mit dem Erfolge der 
Behandlung zufrieden zu sein, die ihr die naturwissen- 
schaftliche Schule hat angedeihen lassen, und wir können 
der jüngeren Generation nur empfehlen in derselben The- 
rapie fortzufahren. 



.V ii Ii a ii g- 

zu Seite 13. 



Dor Text der ersten Ausgabe enthielt nur die Worte: .Hier ist 
schon die Frage angesponnen, die später von ärztlicher Seite zur 
Aufstellung des Gesetzes von der Erhaltung der Kraft führte. - 

Dazu hat Herr J. R. Mayer in den von Dr. Fr. Hetz heraus- 
gegebeneu Mernora bil ie n , Monatshefte für rationelle praktische 
Aerzte. Jahrg. XXII. S. 524 die Bemerkung gemacht: .So viel 
mir aber bekannt, so wurde das I'rineip oder Gesetz von der Erhal- 
tung der lebendigen Kraft zuerst von dem grossen hollandischen 
Mechaniker Huyghens. einem Zeitgenossen Newton's. also schon 
vor etwa zwei Jahrhunderten aufgefunden und dann später nament- 
lich von Leibnitz gegen Descartes jn Schutz genommen. Dieses 
Gesetz ist also schon viel früher bekannt, als die in unsere Zeit fal- 
lende Entdeckung des mechanischen Wärme-Aequivalents mit seinen 
Beziehungen zur Median." 

Nun ist aber das Gesetz, welches ich unter dem Namen der Er- 
haltung der Kraft aufgestellt habe, wesentlich verschieden von 
dem, was die älteren Mechaniker das Gesetz von der Erhaltung 
der lebendigen Kraft nannten, wie denn auch in meiner Ab- 
handlung die beiden Namen in Gegensatz zu einander gebracht wor- 
den sind. Heide Gesetze sind allerdings öfter verwechselt worden, 
wie hier von Herrn Dr. H. Mayer, so auch von denjenigen andern 
Physikern, welche die Entdeckung des Gesetzes von der Erhaltung 
derKraft aufLeibnitz undNewton zurüekdatiren. DasältereGesetz 
von der Erhaltung der lebendigen Kraft sagt aus. dass die gesammte 
lebendige Kraft eines bewegten Massensystems bei gleicher relativer 
Lage der wirkenden Massen zu einander immer wieder denselben 
Werth erhält, unter der Voraussetzung, dass sämmtliche mit- 



38 



wirkende Kräfte einen gewissen analytischen Charakter haben, oder 
um den neuerdings von Sir \V. Thomson eingeführten Manien zu 
gebrauchen, in die Klasse der ronservuüven Kräfte gehören, lno 
älteren .Mechaniker wussten. dass «'im 1 grosse Anzahl von wichtigen 
und wohlbekannten Bewegungskräften, wie Gravitation. .Schwere. 
Elasticität, Flüssigkeitsdruck conservativ sind, daneben aber liesseu 
sie ohne weiteres Bedenken auch nicht consorvative Kräfte zu, wie ' 
Keibung. unelastischen Stoss u. s. w. 

Dagegen behauptet das Gesetz von der Erhaltung der 
Kraft, dass alle elementaren Naturkräfte conservativ seien, was 
offenbar eine ganz andre Behauptung ist, als die früher aufgestellte, 
wo diese Natur der Kräfte nur als Bedingung für einen gewissen 
Krfolg und als einer unter mehreren möglichen Fällen angenommen 
wurde. Meine Abhandlung über die Erhaltung der Kraft hat den 
ausgesprochenen Zweck, die Giltigkeit dieses zweiten Gesetzes an 
den That Sachen zu prüfen. 

Historisch genommen war um die Zeit, als die Herren K. Mayer 
und P.Joule ihre Arbeiten begannen, die wichtigste Lücke, die der 
allgemeinen Geltendmachung des letztgenannten Gesetzes entgegen- 
stand, die mangelnde Kenutniss der Aequivalenz zwischen Wärme 
und mechanischer Arbeit. Insofern war die Auffassung der Idee 
eines solchen Verhältnisses und dessen thatsächlicher Nachweis ein 
wichtiger Forlschritt. Aber es seheint mir die allgemeine Bedeutung 
eines der weitreichendsten Naturgesetze herabzuziehen, wenn man 
darin nur eine Beziehung zwischen Wärme und Arbeit sieht. Ich 
habe indessen dem in der vorher chirien Stelle von Herrn K. Mayer 
ausgedruckten Wunsche entsprechend den Te\t meiner Bede ge- 
ändert. Meine Absicht war gewesen ihm nicht weniger, sondern 
mehr zuzuschreiben, als er selbst für sieh in Anspruch nimmt. 

Was ich selbst in dieser Kichtung gethan habe, habe ich oben 
nur als die „Formul innig" des Gesetzes bezeichnet; in der Thai 
habe ich es nie als eine Entdeckung im eigentlichen Sinne be- 
trachtet oder dafür ausgegeben. I>ie Unmöglichkeit, eine Triebkraft 
ohne Verbrauch zu erzengen, halle sich seit ältester Zeit den Mecha- 
nikern aufgedrängt-: sie ward als induetiv gewonnene feste Ucber- 
zeugung der leitenden wissenschaftlichen Männer ausgesprochen, als 
die Europäischen Akademien den Bcschluss fassien. keine Mittei- 
lungen über die Erfindung eines Perpetuum mobile mehr anzunehmen. 
Was mich KU leisten blieb, war diejenigen Beziehungen zwischen den 
Naturkräften theoretisch fest zu defmiren und experimentell zu prü- 
fen, welche bestehen mussten. wenn kein Perpetuum mol ile möglich 



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sein sollte, um die allseitige Berechtigung und Gültigkeit der ge- 
nannten Induction festzustellen. Das war die Absicht meiner Arbeit. 
Die erste Veranlassung dazu war für mich, dass ich eine klare und 
priicise Bestimmung dieser Beziehungen nöthig fand, um die Zu- 
lässige it der auf Seite 17 erwähnten Theorie G. E. Stahl's zu 
prüfen. Meino Arbeit war. meiner eigenen damaligen l'eberzeugung 
nach, daher eine wesentlich kritische. Was darin von Entdeckung 
stockte, war das Ergebniss der Arbeit derjenigen, welche alle Wege 
zum Perpetuum mobile zu gelangen versucht und ungangbar ge- 
funden hallen. Von dieser Grundlage aus methodisch die bekannten 
physikalischen Gesetze analysirend. musste ich auch die Aequivalenz 
zwischen Wärme und Arbeit finden, welche wenige Jahre vorher die 
Herren R. Mayer und I'. Joule, ohne dass ich von ihnen wusste, 
ebenfalls gefunden hatten. Von letzterem lernte ich erst unmittelbar 
vor der Absendung meines Manuscripts einige seiner ersten, noch 
unvollkommeneren Versuche kennen. 

Ich behalte mir vor bei einer anderen passenderen Gelegenheit 
auf die Geschichte dieser Entdeckung zurückzukommen. 



(•(•druckt bei L. Schumacher in Berlin. 




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Hofmann, Prof. Dr Aug. Wilh., I )ic Organische Chemie und 'Ii'- Hcil- 
mittcllchrc. Rede. 8. 1871. 80 Pf, 

Roth, Dr. Em , Historisch-kritische Studien üher Vererbung auf physinl. 
und palhol. Gebiete, (ff. 8. 1877. 2 M. 

Virchow, Geh Rath, Prof. Dr. Rud. , l'eber die nationale Etltwiflto» 

lung und Bedculun;; der Naturwissenschaften. Kode. 18(55. 8. SO l'l. 

- — <!othe als Naturforscher und in besonderer Beziehung aul Schilter. 
Kine Rede nebst Erläuterungen. Mit Holzschnitten. 8. 18(18* I M. SO. 
— I)ie Fortschritte der Krie^sheilkunde besonders im Gebilde der 
Infeetionskrankbeiteu. Rede zur Stiftungsfeier der milit.-iirztl. Bildung 
Anstalten am 2. Aug. 1874 gehalten, gr. s. 1874. 1 M. 



li- ilriirkt bi-i I.. .s '. .im... Ii i in B*rltii.