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Full text of "Der alte Orient Erganzungsband"

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Der Alte Orient 

Gemein verständliche Darstellungen 
hr»g. v. d. V orderasiatttchco Gesellschaft 


Ergänzungsband II 

Preis 4.90 M. 

gebunden in Iminen 5 Kl. 




DER 


BABYLONIER und ASSYRER 

** *** 

EIN ÜBERBLICK 

VON 

OTTO WEBER 


MIT 1 SCHRIFTTAFEL UND 2 ABBILDUNGEN 




LEIPZIG 

J. C. HINRICHS'sche BUCHHANDLUNG 

1907 



DIE LITERATUR 

DER 

BABYLONIER und ASSYRER 

EIN ÜBERBLICK 

VON 

OTTO WEBER 


MIT 1 SCHRIFTTAFEL UND 2 ABBILDUNGEN 



LEIPZIG 

J. C. HINRICHS’sche BUCHHANDLUNQ 
1907 


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3 0 • I » 



Der Alte Orient. 
Gemeinverständliche Darstellungen 

herausgegeben von der 

Vorderasiatischen Gesellschaft. 

2. Ergänzungsband. 


Das Recht der Übersetzung wird Vorbehalten. 


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Meiner lieben Frau 

herzlich zugeeignet 



Vorwort. 

Vor reichlich 20 Jahren hat Carl Bezold es unternommen, die 
babylonisch-assyrischen Keilschrifttexte nach literarischen Gattungen 
zu ordnen. Sein „Kurzgefasster Überblick über die babylonisch- 
assyrische Literatur“ (Leipzig 1886) wollte in seinem Hauptteil nichts 
anderes bieten, alseine Aufzählung der einzelnen bis dahin veröffent- 
lichten Texte mit erschöpfenden Hinweisen auf die Fachliteratur. 
Er hatte ausschliesslich die Bedürfnisse des Fachmannes im Auge, 
der in ihm ein bequemes Orientierungsmittel finden sollte. Bei 
dieser einzigen Vorarbeit ist es in Deutschland geblieben. Da- 
gegen ist in England die Wissenschaft auch auf diesem Gebiet 
sehr bald dem Aufklärungsbedürfnis fernerstehender Kreise ent- 
gegengekommen. Schon im Jahre 1878 erschien Sayces „Baby- 
lonian Literature“, die noch im selben Jahre in deutschem Ge- 
wände zur Ausgabe gelangte. Irreführend ist der Titel des im 
Jahre 1901 von R. F. Harper herausgegebenen Werkes „Assyrian 
and Babylonian Literature“, das nach einer kurzen Einleitung aus 
der Feder des Herausgebers lediglich Literaturproben in englischer 
Übersetzung darbietet. Unbekannt geblieben ist mir die Be- 
arbeitung der babylonischen Literatur im 1. Band von Heinrichs 
Allgemeiner Literaturgeschichte (1903) durch Mahler. In jeder 
Hinsicht unzureichend ist die Behandlung des Gegenstandes in 
Haberlandts „Literaturen des Orients“ (Sammlung Göschen 163). 

Neben Bezold’s „Überblick“ ist nur ein einziges Buch zu 
nennen, das Anspruch hat, als Darstellung der babylonisch- 
assyrischen Literatur ernst genommen zu werden, das ist 
des Florenzer Assyriologen Teloni „Letteratura Assira“ (Milano 
1903, Manuali Hoepli 337 — 338). Die Erscheinungsform dieses 
Werkchens — die Manuali Hoepli entsprechen etwa unserer 
„Sammlung Göschen“ — hat freilich eine sehr gedrängte und 
oft summarische Behandlung des Stoffes nötig gemacht In 


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VI 


einigen Paragraphen jedoch, so namentlich in den Einleitungs- 
fragen, bei der Besprechung der sog. „wissenschaftlichen“ Texte 
gibt Teloni sehr reichlich, so daß ich für diese Partien auf ihn 
verweisen kann. 

Die folgende Darstellung wendet sich vor allem an Nicht- 
assyriologen ; diesen eine Vorstellung von der babylonisch- 
assyrischen Literatur zu vermitteln, war meine Aufgabe. Daher 
war es geboten, die Texte so oft als möglich selber sprechen 
zu lassen, auf zusammenfassende Übersichten großen Wert zu 
legen und Einzelheiten nicht in den Vordergrund treten zu lassen. 

Daß es sich für mich nicht darum handeln konnte, eine 
Geschichte der babylonisch-assyrischen Literatur zu schreiben, 
daß vielmehr eine solche mangels aller Vorarbeiten heute noch 
gar nicht geschrieben werden kann, habe ich in § 1 eingehend 
dargelegt. 

Ausdrücklich möchte ich hier mein Verhältnis zu den ge- 
gebenen Textproben, d. h. zu ihrer Übersetzung klarstellen. 

Für die epischen Texte liegen die Arbeiten Jensens, für viele 
und gerade die wichtigsten der im engeren Sinn „religiösen“ Texte, 
wie Hymnen, Gebete, Psalmen, Beschwörungstexte, Ritualtafeln, 
die Zimmems vor. Ich glaube, es konnte sich für mich gerade in 
dem vorliegenden, zunächst für Femerstehende bestimmten Buche 
nicht darum handeln, in jedem Falle und um jeden Preis eine 
eigene, neue Übersetzung zu liefern. Maßgebend konnte für 
mich nur der Wunsch sein, eine zuverlässige Übersetzung zu 
geben. Von uns jüngeren steht jeder, der heute mit den baby- 
lonischen Epen arbeitet, auf Jensens Schultern, und mag er im 
einzelnen noch so vielfach zur Vertiefung des Verständnisses 
beitragen — und es ist im Kleinen wie im Großen noch sehr 
viel zu tun übriggeblieben — , die gewaltige Geistesarbeit, die 
Jensen in seinen „Mythen und Epen“ geleistet hat, ist für alle 
künftige Beschäftigung mit ihnen die unentbehrliche Unterlage. 
Bei der Darstellung der epischen Stücke habe ich in der Haupt- 
sache Jensens Übersetzungen zu gründe gelegt. Nun brachte es 
wohl die ganze Art meines Buches mit sich, daß auch ästhetische 
Rücksichten nicht völlig unbeachtet bleiben durften. Wenn ich 
infolgedessen in vielen Fällen gezwungen war, an Jensens Über- 
setzung leise dies und jenes Wort zu verschieben oder durch 
ein anderes zu ersetzen, so ändert das nichts an der Tatsache, 
daß das geistige Eigentumsrecht in erster Linie Jensen zusteht. 


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VII 


Daß ich übrigens, wo es mir geboten schien, auch tiefergreifende 
Änderungen, manchmal im Anschluß an Zimmern oder Winckler, 
nicht gescheut habe, ist selbstverständlich und ändert gleichfalls 
nichts daran. 

Ähnlich ist mein Verhältnis zu den von Zimmern bearbeiteten 
Texten; doch war es hier fast immer möglich, einfach Zimmern 
selbst das Wort zu geben. 

Sehr viel freier war meine Stellung zu den übrigen Texten. 
Daß ich auch hier der Vorarbeit anderer das Beste danke, will 
ich aber gleichfalls gerne bekennen. Wenn ich nicht immer 
genau zwischen Mein und Dein geschieden habe, so hat das 
seinen Grund vor allem in dem Charakter meines Buches. Gleich- 
wohl wird man meist auch hier unschwer erkennen, wem wir 
das Verständnis der behandelten Texte danken. 

Ursprünglich war es beabsichtigt, dem Buche einen Index 
beizugeben, der zugleich den Fernerstehenden alle im Texte vor- 
kommenden Eigennamen und anderes der Aufklärung bedürftige 
erläutern sollte. Ich habe aber schließlich davon Abstand ge- 
nommen. Die Gliederung des Ganzen ist, wie ich glaube, durch- 
sichtig genug, um alles an seinem Ort leicht finden zu lassen. 
Sachliche Aufklärungen sind am bequemsten aus der eben voll- 
endeten 2. Auflage von A. Jeremias’ „Das Alte Testament im 
Lichte des Alten Orients“ (Leipzig, J. G Hinrichs) oder aus der 
von H. Zimmern und H. Winckler bearbeiteten 3. Auflage von 
Schräders „Die Keilinschriften und das Alte Testament“ (Berlin, 
Reuther & Reichard) und, soweit er fertig vorliegt, aus F. Hommels 
„Grundriß der Geographie und Geschichte des Alten Orients“ 
(München, C. H. Beck) zu erholen. 

Die nunmehr abgeschlossene Arbeit ist unter sehr erschwe- 
renden Umständen zustande gekommen. Die Entfernung von 
allen bibliothekarischen Hilfsmitteln mußte gerade bei ihr außer- 
ordentlich unangenehm sich geltend machen. Wenn ich gleich- 
wohl nichts Wesentliches übersehen haben sollte, so danken die 
Leser das mit mir der nie versagenden Hilfsbereitschaft meines 
einstigen Lehrers, Herrn Professor Hommel in München, der 
mich nicht nur mit seiner Bibliothek aufs wirksamste unterstützt, 
sondern mir auch manchen wertvollen Hinweis gegeben hat. 

Zu herzlichem Dank fühle ich mich auch verpflichtet der 
Verwaltung der Münchener Hof- und Staatsbibliothek und unter 
ihren Beamten vor allem meinem ehemaligen Studiengenossen 


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VIII 


Herrn Dr. Gratzl, dessen freundschaftliche Dienstwilligkeit auch 
großen Zumutungen gegenüber standgehalten hat Ohne die 
tätige Mithilfe der Genannten hätte das Buch nicht vollendet 
werden können. Ich fürchte aber, daß auch so noch manche 
Spuren die Ungunst der Verhältnisse, unter denen ich arbeiten 
mußte, verraten werden. Es war mir z. B. sehr oft nicht mög- 
lich, die zitierte Literatur auch bei der Korrektur nochmals ein- 
zusehen und die Zitate nachzuprüfen. In einigen Fällen habe 
ich mich in Rücksicht auf die wünschenswerte Vollständigkeit 
der Literaturangaben notgedrungen auch dazu entschließen müssen, 
Arbeiten zu zitieren, die ich gar nicht einsehen konnte. 

Für die in diesen Verhältnissen wurzelnden Mängel bitte ich 
um freundliche Nachsicht. 

Herzlichen Dank möchte ich auch dem Herrn Verleger aus- 
sprechen. Von ihm ging die Anregung zu dieser Arbeit aus, 
er hat sie in entgegenkommendster Weise gefördert. 

Wenn der Druck im großen und ganzen zuverlässig ist, so 
danken dies die Leser mit mir nicht zum geringsten der uner- 
müdlichen Mithilfe meiner Frau. 

Neuburg a. Donau, Ende November 1906. 

Otto Weber, 


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IX 


Inhaltsübersicht. 

Einleitung. 3eil * 

§ 1. Begriff und Inhalt der babylonisch-assyrischen Literatur- 
geschichte 1 

§ 2. Sumerer und Semiten in Babylonien und ihre Stellung 
in der Literaturgeschichte: 

1. Die Sumerer . . . . . . . . . . . . 5 

2. Die Babylonier und Assyrer 7 

. 8 3. Die Erfindung der Keilschrift 8 

8 4. System und Entwicklung der babylonischen Keilschrift: 10 

1. Zeichen und Zeichennamen . . ■ . . , 12 

2. Entstehung der Keilschrift 16 

3. Material 19 

8 5. Die Sprachen der Keilinschriften: 

1. Allgemeines 21 

2. Die sumerische Sprache 22 

3. Die babylonische und assyrische Sprache . 24 

§ 6. Das Schriftwesen in Babylonien und Assyrien: 

1. Die Schreiberzunft und die Terminologie ■ 25 

2^ Das Schreibmaterial und seine Formen . . 26 

3. Die Bibliothek Assurbanipals 27 

8 7. Die Wiederauffindung der Keilschrittdenkmäler und 

ihre Sammlung in modernen Museen 29 

Kap. 1. Die poetische Literatur im allgemeinen. 

8 8. Einteilung und allgemeine Charakteristik 32 

8 9. Die poetischen Formen 35 

Kap. 2. § 10- Die epischen Dichtungen im allgemeinen . 38 

Kap. 3. Die babylonischen Schöpfungsmythen. 

8 11. Allgemeines . . . 40 

8~12. Das Epos Enuma elisch 44 


und ihr Verhältnis zu Enuma elisch: 

1. Berosus. . . . . . . . , s . . . . §2 

2. Damasciu s . ■ ■ , . , = = , , , . . 55 

8 14. Die sog. Schöpfungslegende von Eridu (?).... 56 

8 15. DT 41 58 


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• — X — 

Seite 

8 16. „Als Anu den Himmel erschuf“ 58 

8 17. Die Legende vom Zahnschmerzwurm •••••• |>9 

§ 18. Legenden über die Erschaffung von Sonne und Mond 6Ö 
Kap. 4. Weitere Legenden aus dem Kreis des Schöpfungs- 
mythus. 

§ 19. Die Legende vom Frühjahrsmond 61 

§ 20. Bel und der Labbu . . . 63 

8 21. Der göttliche Sturmvogel Zu: 

1. Der Raub der Schicksalstafeln 65 

2, Die sog. Überlistung des Zu (?) .... 66 

Kap. 5. § 22. Der Etanamythus 69 

. Kap. 6. § 23. Das Gilgameschepos 71 


Kap. 7. Sintfluterzählungen und Verwandtes. 

8 24. Die Fluterzählung im Gilgameschepos 93 

8 25. DT 42 93 

8 26. Ea und Atarchasis 94 

8 27. Das „Fragment Scheit“ 95 

8 28. Die Flutgeschichte nach Berosus 97 

-8 29- Dir mythologische Charakter der Flutsage . . ■ ■ 97 

Kap. 8. Unterweltmythen. 

' S 30. Die Höllenfahrt der lstar 99 

' § 31. Nergal und Erischkigal 102 

Kap. P. ' Die übrigen Mythen. 

8 32. Der lra-Mythus 104 

8 33. Der Mythus von Adapa 108 

§ 34. Ninibmythen 111 


Kap. 10. Hymnen, Gebete und Psalmen. 

•8 35. Allgemeines 115 

•8 36. Hymnen 122 

8 37. Gebete 126 

§ 38. Psalmen, Klagelieder, BuBpsalmen: 

• • 1. „Literarische Psalmen“ 133 

2. Klagelieder und Bußpsalmen 139 

Kap. 1 L Beschwörungstexte. 

8 39. Allgemeines 147 

8 40. Handerhebungsgebete 153 

'§ 41. Die Beschwörungsserie Maqlü 156 

§ 42, Die Beschwörungstafeln Schurpu 159 

8 43< Die Labartu-Texte . 164 

• 8 44.- Die Serie „Utukki limnuti“ 166 

§ 45. Sonstige Beschwörungstexte: 

1. Aschakki maryüti 16Q 

2. Ti'u 170 

3. Alam-nig-sag-il-la im-ma-ge 170 

4. Alam-nig-sag-il-la ku-sche-kan 171 

5. Luch-ka 171 


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— XI — 

S^it» 

6. Tablet „K“ 172 

7. Tablet „N* und anderes 174 

Kap. 12. Orakelanfragen und Orakelaussprüche. 

8 46. Allgemeines 176 

8 47. Anfragen an den Sonnengott 177 

8 48. Die sog. „Ikribu-Texte“ 180 

§ 49. Orakel an Assarhaddon und Assurbanipal .... 181 

Kap. 33. § 50. Ritualtexte 183 

Kap. 14. § 51. Omina-Texte 183 

Kap. 15, Historische Inschriften. 

8 52„ Vorbemerkungen 193 

8 53. Historische Legenden: 

1. Der König von Kutha 202 

2. Die Belagerung von Erech 205 

3. Die Geburtslegende Sargons und anderes . 206 
§ 54. Die historischen Inschriften der babylonischen Könige: 

1. Geschichtlicher IJherhlick . . . . . 203 

2. Der literarische Charakter der babylonischen 
Königsinschriften: 

a. Altbabylonische Inschriften bis auf 

Ham'murabi ■ . . , . . . . , s 215 

b. Die babylonischen Königsinschriften 

seit Hammurabi . . . . . . . , 221 

'§ 55. Die historischen Inschriften der assyrischen Könige: 

1. Geschichtlicher [Jherhliek ...... . 224 

2. Der literarische Charakter der assyrischen 

Königsinschriften . . 226 

8 56. Die historiographischen Texte i 233 

I. Die babylonischen Chroniken: 

1. Die sog, synchronistische Geschichte . . . 234 

2. Babylonische Chronik A (bzw. S) ■ . . . 235 

3. Babylonische Chronik P 235 

4. Babylonische Chronik B 236 

5. Nabonaid-Cyrus-Chronik 236 

II. Die chronologischen Listen der Babylonier: 

1. in griechischer Überlieferung 237 

2. in keilschriftlicher Überlieferung 237 

3. Die babylonischen Jahreslisten 238 

Hl, Die chronologischen Listen der Assyrer. ■ . . 233 

1. Die reinen Eponymenkanone 240 

2. Die Eponymenlisten mit Beischriften . . . 240 
Kap. 16. Urkunden der Staatsverwaltung. 

8 57. Politische Dokumente 241 

8 58. „Grenzsteine“: Freibriefe, Belehnungsurkunden . . . 245 

8 59. Zensuslisten von Harran 247 

Kap. 17. Rechts- und Verwaltungsurkunden. 

§ 60. Allgemeines ■ . 24S 


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XU 


Seile 

8 61. Die sog, sumerischen Familiengesetze 250 

8 62. Der Kodex Hammurabi 251 

8 63. Bruchstücke von Gesetzestafeln 256 

8 64. Sonstige Texte privatrechtlichen Inhalts 257 

§ 65. Urkunden der Tempelverwaltung 260 

Kap. 18. Briefe. 

§ 66. Allgemeines 263 

8 67. Briefe der Hammurabizeit 268 

6 68. Die Tel-el-Amarnabriefe 270 

8 69. Briefe aus der Sargonidenzeit 276 

8 70. Briefe aus der Zeit des neubabylonischen und per - 
sischen Reiches 281 


Kap. 19. Wissenschaftliche Texte. 

8 71. Allgemeines 282 

8 72, Philologische Texte 286 

I. Syllabare 286 

II. Lexikalische Texte , a • . . . . • ... 28 9 

III. Qrammatische Texte 291 

IV. Paläographische Texte 292 

V. Wörterlisten mit sachlicher Anordnung . . . 293 

VI. Schülerarbeiten 294 

VH. Präparationen bezw. Kommentare 295 

VIII. Kataloge 296 

8 73. Sonstige wissenschaftliche Texte 291 


✓ Kap. 20. Volkstümliche Literatur. 

8 74. Allgemeines 301 

§ 75. Tierfabeln 303 

8 76. Sprichwörter. 306 

. 8 77. Texte zur Sittenlehre 307 

Altbabylonische Bilderzeichen und Schriftproben . . . 311/12 


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XII! 


Abkürzungen. 

AB: Assyriologische Bibliothek, herausg. von Delitzsch und Haupt. 
Leipzig, J. C. Hinrichs, 1881 ff. 

ARW: Archiv für Religionswissenschaft. Bd. 1 — 6 herausg. von Ths. 
Achelis, Tübingen und Leipzig (Mohr), 1898 ff.; Bd. 7 ff. herausg. 
von A. Dieterich. Leipzig (Teubner), 1904 ff. 

ASKT: Haupt, Akkadische und sumerische Keilschrifttexte. Leipzig, 
J. C. Hinrichs. 

AO: Der alte Orient. Gemeinverständliche Darstellungen, herausg. 
von der Vorderasiatischen Gesellschaft. Leipzig, J. C. Hinrichs, 
1899 ff. 

BA: Beiträge zur Assyriologie, herausg. von Delitzsch und Haupt. 
Leipzig, J. C. Hinrichs, 1889 ff. 

BE: Zitationsweise eines Teiles der Denkmäler der Berliner Museen. 

Bezold, Catalogue: Catalogue of the Cuneiform Tablets in the Kouyunjik 
Collection of the British Museum, vgl. S. 31. 

Br. Mus. mit einer Zahlengruppe bedeutet eine Tontafel aus dem 
British Museum in London. 

Brünnow, List: A Classified List of . . . cuneiform Ideographs, Leyden 
1887 ff. 

Budge-King, Annals: Annals of the Kings of Assyria 1. London 1902. 

CT: Cuneiform Texts from Babylonian Tablets in the Brit. Museum, 
1896 ff. 

Dicouvert es: E. de Sarzec et L. Heuzey, Decouvertes en Chaldee. 

Delitzsch, AL>- 3- *: Delitzsch, Assyrische Lesestücke, 2., 3. u. 4. Auf- 
lage. Leipzig, J. C. Hinrichs. 

DT: Sammlung „Daily Telegraph“ im Brit. Museum. 

H, Harper: Assyrian and Babylonian Letters, 1891 ff. 

Haupt, ASKT: s. ASKT. 

Haupt, Nimrod(epos): Das babylonische Nimrodepos. Keilschrifttext 
.... nach den Originalen im Brit. Museum kopiert u. herausg. 
von P. Haupt. (AB Bd. III) Leipzig, J. C. Hinrichs, 1884—1891. 

Hilprecht, OBI: Old Babylonian Inscriptions, chiefly from Nippur (The 
Babylonian Expedition of the University of Pennsylvania, Vol. I), 
1893. 1896. 

Hommel, Grundriß: Grundriß der Geographie und Geschichte des 
Alten Orients, 2. Aufl. (Handbuch der klass. Altertums -Wissen- 
schaft, herausg. von Iwan v. Müller, III, 1. Abt.). München, C. H. 
Beck, 1904. 

Jastrow, Religion: Die Religion Babyloniens und Assyriens von Morris 
Jastrow jr. Giessen, Töpelmann, 1903 ff. 

Jeremias, ATAO: Das Alte Testament im Lichte des Alten Orients. 
Handbuch zur biblisch-oriental. Altertumskunde von Dr. Alfred 
Jeremias. Leipzig, J. C. Hinrichs, 1. Aufl. 1904, 2. Aufl. 1906. 


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XIV 


Jeremias, BNT: Babylonisches im Neuen Testament von Dr. Alfred 
Jeremias. Leipzig, J. C. Hinrichs, 1905. 

JRAS. Journal of the Royal Asiatic Society. London 1834 ff., 1865 ff. 

K: Kuyunjik-Sammlung des Britischen Museums. 

KAT’: Eberhard Schräder, Die Keilinschriften und das Alte Testament, 
3. Aufl., bearbeitet von Hugo Winckler und Heinrich Zimmern. 
Berlin, Reuther & Reichard, 1903. 

KB: Keilinschriftliche Bibliothek, herausg. von Eberhard Schräder. 
Berlin, Reuther & Reichard, 1889 ff. 

KH: Kodex Hammurabi. 

King, Sev. Tabl.: King, The Seven Tablets of Creation. London, 
Luzac, 1902. 

King, Studies: Studies in Eastern History I: Records of the Reign of 
Tukulti-Ninib 1. London, Luzac, 1904. 

L^normant, Magie : Lenormant, Die Magie der Chaldäer, deutsche Aus- 
gabe, 1879. 

MVAO: Mitteilungen der Vorderasiatischen Qesellschaft. Berlin, Wolf 
Peiser, 1896 ff. 

OLZ: Orientalistische Literaturzeitung, herausg. von F. E. Peiser. Berlin, 
Wolf Peiser, 1898 ff. 

PSBA: Proceedings of the Society of Biblical Archaeology. 

Recueil: Recueil de travaux. 

Reisner: Sumerisch-babylonische Hymnen. 

Rm, Rm*: Sammlung „Rassam“ des Brit. Museums. 

Roscher: Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Leipzig, 
Teubner. 

Sm: Sammlung „Smith“ des Brit. Museums. 

Thompson, The devils: The devils and evil spirits of Babylonia, by 
R. Campbell Thompson. London, Luzac, 1903 — 4. 

TSBA: Transactions of the Society of Biblical Archaeology. 

VAB: Vorderasiatische Bibliothek. Leipzig, J. C. Hinrichs. im (Er- 
scheinen.) 

VATh: Bezeichnung für Tontafeln des Berliner Museums. 

Weißbach, Miscellen: Babylonische Miscellen, herausg. von F. H. Weiß- 
bach. Leipzig, J. C. Hinrichs, 1903. 

Winckler, F.: Altorientalische Forschungen von Hugo Winckler. Leipzig, 
E. Pfeiffer, 1893 ff. 

Winckler, TB' 2 : Winckler, Keilinschriftliches Textbuch zum Alten Testa- 
ment, 2. Aufl. Leipzig, J. C. Hinrichs, 1903. 

Winckler, UAOO: Untersuchungen zur altorientalischen Geschichte von 
Hugo Winckler. Leipzig, E. Pfeiffer, 1889. 

WZKM: Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlands. 

ZA: Zeitschrift zur Assyriologie, herausg. von Carl Bezold. 

ZDMO: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft. 

Zimmern, Beiträge: Beiträge zur Kenntnis der Babylonischen Religion. 
Leipzig, J. C. Hinrichs, 1901 (AB XII). 

IR, II R etc.: H. Rawlinson, Cuneiform Inscriptions of Western Asia. 


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XV 


Verbesserungen und Nachträge. 

S. 2 Anm. 1 lies § 72, VIII. 

S. 14 Z. 7 v. u. lies ■iuUd* < ; hi . 

S. 17 Z. 16 v. u. lies ohne alles. 

S. 23 Anm. 1 lies § 72. 

S. 25 Z. 12 v. u. lies § 72. 

Zu S. 26 Z. 13 v. o. vgl. den Aufsatz Messerschmidts „Zur Technik 
des Tontafel-Schreibens“ (OLZ 1906 Nr. 4, 6 u. 7), wo auch die 
sonstige Literatur zur Frage berücksichtigt ist. Dasselbe Thema 
wie auch andere Probleme der babylonischen Schrifttechnik 
erörtert Clay in der Einleitung zum XIV. Band der „Babylonian 
Expedition of the Univ. of Pennsylvania“. 

S. 29 Z. 19 v. u. lies § 72, VIII. 

Zu S. 32 vgl. jetzt die Bearbeitung des Textes K 3476 durch Zimmern, 
in den Ber. der Phil.- Hist. Klasse der K. S. Oes. d. W. zu 
Leipzig, LVill, S. 127 ff. Danach ist die frühere Meinung Zim- 
merns nicht mehr vollständig aufrecht zu erhalten. Der Text ist 
vielmehr als eine Art sachlichen, mythologischen Kommentars 
zum Opfer- bzw. Sühneritual aufzufassen, ähnlich denen, die 
unten S. 185 kurz gestreift sind, über die ich in meiner „Dämonen- 
beschwörung“ S. 19 f. gehandelt habe. 

S. 34 Z. 1 v. u. lies zu einer. 

Zu S. 38 oben (Zwiegespräch zwischen Marduk und Ea) vgl. S. 161 f. 
und S. 305 Mitte. Über die an der letzten Stelle gestreifte 
Parallele zu dem Zwiegespräch zwischen Marduk und Ea, das 
zwischen Samas und Ea, vgl. jetzt meine Ausführungen in OLZ 
1907 Nr. 1. 

S. 38 Z. 16 v. u.: lies § 72, VIII. 

Zu § 12 ist jetzt H. Winckler, Die babylonische Weltschöpfung (AO 
VIII, 1) zu vergleichen. 

S. 48 Z. 2 v. u.: Es liegt vielleicht eine Anspielung auf diese Stelle des 
Epos, die „imittu Anschars“ vor, wenn Hammurabi sich in seinem 
Titel als den bezeichnet, der die „imittu Marduks“ errungen hat 
(vgl. Louvre 1,6; Codex Hamm. 25, 28 und unten S. 221). 

S. 53 Anm. 1 lies um-mu chu-bur. 

Zu S. 90 ff. vgl. auch den wertvollen Aufsatz Kuglers „Die Stemenfahrt 
des Qilgamesch“ (Stimmen aus Maria-Laach, 1904, Heft 4 u. 5), 
der mir leider erst nach der Drucklegung der betr. Bogen zu- 
gänglich geworden ist. Kugler stellt hier die Meinung auf, daB 
das babylonische Oilgameschepos sich nicht auf der Erde, sondern 
am gestirnten Himmel vollziehe. Die Züge der beiden Helden, 
wie die Reise Oilgameschs nach der „Insel der Seligen“ sind 


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XVI 


nach Ostea gerichtet und schließen sich vorzugsweise an den 
Jahreslauf der Sonne und den dadurch bedingten Wechsel der 
Jahreszeiten an. 

In dem S. 72 Z. 7 v. o. erwähnten, jetzt unter dem Titel 
„Das Oilgameschepos in der Weltliteratur“ erschienenen Buche 
bemüht sich Jensen um den Nachweis, daß das Gilgameschepos 
eine „spezifische Verquickung von Vorgängen am Himmel mit 
solchen auf der Erde darstelit und himmlische Geschehnisse (wie 
Aufgang und Untergang der Gestirne) und solche auf der Erde 
in eigenartiger Weise interpretiert“. 

Die ungemein verwickelte Frage nach dem Sinne des Epos 
und nach seinem astralen Hintergrund bedarf noch eingehender 
Prüfung. 

S. 104 oben lies Kap. 9. 

S. 112 oben lies Kap. 9. 

S. 211 Z. 17 v, u. lies § 68. 

Zu S. 221 Z. 16 v. o. vgl. den Nachtrag zu S. 48. 

S. 233 oben lies § 56. 

S. 236 Z. 6 v. o. lies Samas. 

Zu S. 243 unten. Die Worte „damit der Starke dem Schwachen nicht 
schade“, mit denen Assurbanipal in allen einschlägigen Texten 
die Einsetzung seines Bruders Samassumukin zum König von 
Babel motiviert, sind eine uralte staatsrechtliche Formel, die dem 
Wortlaute nach schon im Kodex Hammurabi zweimal (1,37 u. 
24, 59) sich findet; vgl. Winckler, Gesetze Hammurabis S. 2 
Anm. 6. Auf sie spielt offenbar auch Sargon, Cylinderinschrift 
50, an. 

S. 254 Z. 16 v. u. lies „der die Stele als Beute . . . 

Zu S. 266: In den Briefen der Tel-el-Amarnazeit fehlt häufig das Wort 
ki-bi-ma in der Eingangsformel. 

Zu S. 275 Anm. 2: Vgl. jetzt auch Winckler, OLZ 1906, Nr. 12, Sp. 
621 ff. (auch separat erschienen). 

S. 287: Ein weiteres Fragment zu S b hat Hrozny in ZA 1906 ver- 
öffentlicht. 

Zu S. 307 : Interessant ist, daß das Gleichnis vom Weib als dem Acker 
des Mannes sich sowohl in einem altägyptischen Weisheitsbuche 
(von ca. 2000 v. Chr.), als auch im Koran findet. Vgl. Spiegelberg 
in AO VIII, 2 S. 30. 

Zu S. 312: In der 1. Zeile der Transcription lies als 2. Zeichen „Dam“ 
statt Nin. 

Der wiedergegebene Text bildet die Vorderseite einer Stein- 
tafel aus Nippur (OBI Nr. 123) und lautet in Übersetzung: 

1 Damgalnunna, * seiner Herrin, • hat Dungi, * der mächtige 
Mann, s König von Ur, * König von Sumer und Akkad 
[Rückseite: ihren Tempel in Nippur erbaut.] 


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Einleitung. 

§ i. Begriff und Inhalt der babylonisch-assyrischen 
Literaturgeschichte. 

Jede Literaturgeschichte eines Kulturvolkes aus ferner Ver- 
gangenheit ist naturgemäß in der Begrenzung des Stoffes so 
weitherzig wie möglich. Sie kann sich nicht darauf beschränken, 
literarische Erzeugnisse von ästhetischen Qualitäten oder Absichten 
zu verzeichnen, sie wird vielmehr auch dem kulturgeschichtlichen 
Interesse einen breiten Spielraum lassen müssen und infolgedessen 
den Begriff Literatur in seinem ursprünglichen Wortsinn zur 
Geltung bringen und das gesamte Schrifttum in den Kreis seiner 
Betrachtung ziehen. 

Von einer Literaturgeschichte, einer Darstellung der ge- 
schichtlichen Entwicklung, kann bei der babylonisch-assyrischen 
Literatur heute noch kaum die Rede sein, da nicht weniger als alle 
Vorarbeiten dazu fehlen. Es kann ja kaum etwas Verlockenderes 
geben, als in dem ungeheuren Spielraum einer mehr als 3000 jäh- 
rigen, in ihren Grundzügen und vielfach bis in intime Einzel- 
heiten klar zutage liegenden Völkergeschichte die Entwicklungs- 
geschichte des geistigen Lebens an der Hand der literarischen 
Denkmäler zu verfolgen. Auf den ersten Blick hat es auch den 
Anschein, daß für ein solches Unternehmen gerade die babylonisch- 
assyrische Literatur die sichersten Unterlagen bieten müßte in 
der beispiellosen Masse ihrer Denkmäler, bei der Möglichkeit, ihre 
Entstehungszeit oft ganz genau, oft wenigstens annähernd zu 
bestimmen. Trotzdem aber wird ein Versuch, aus der babylonisch- 
assyrischen Literatur eine über die allgemeinsten Umrisse hinaus- 
gehende Geschichte des Geisteslebens der Babylonier und Assyrer 
zu gewinnen, wohl für alle Zeiten unfruchtbar bleiben. Der 
Grund dafür liegt in dem absoluten Mangel jedes persönlichen 
Moments im gesamten Schrifttum der Babylonier und Assyrer, 

Weber, Literatur. 1 


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2 


Einleitung. 


Es gibt wohl in der ganzen Weltliteratur kein weiteres Beispiel, 
daß ein Volk bei denkbar intensivster literarischer Betätigung auch 
nicht einen einzigen sicherenAutomamen überliefert 1 . Dieses absolute 
Zurücktreten der Persönlichkeit des Schriftstellers ist nur denkbar, 
wenn alle Schriftstellerei ganz anderen als literarischen und künst- 
lerischen Zwecken dient; wenn es nicht gilt, neue Werte zu 
schaffen, neue Gedanken in neue Formen zu giessen; wenn viel- 
mehr alle literarische Betätigung sich in dem Streben erschöpft, 
das Altüberkommene in der Überlieferung zu erhalten, weil es 
seinem Inhalt nach verbindlicher, normativer Art ist und einer 
Weiterbildung nicht bedarf oder gar nicht fähig ist; wenn alle schein- 
baren Neuschöpfungen infolge der geltenden Weltanschauung 
gar nichts anderes sein können, als eine Anpassung des Überlieferten 
an die momentanen Bedürfnisse. Die Weltanschauung, die von 
dem Grundgedanken beherrscht ist, daß alle Entwicklung nur und 
ausschließlich einer Wiederbelebung einer präexistenten Norm 
zustrebt, kann gar keine neuen Wege und neuen Ziele suchen 
oder gar finden. Alles Geistesleben muß sich in ihrem Bann 
in einem ewigen Kreislauf vollziehen. 

So stehen wir tatsächlich vor der Erscheinung, daß es in der 
babylonischen Literatur im großen und ganzen keine Antike und 
keine Moderne und keine Mittelglieder, die von der einen zur 
andern führen, gibt, sondern der fast 3000jährige Zeitraum, durch 
den uns die Denkmäler begleiten, zeigt ein in allem Wesentlichen 
stets gleichartiges Bild des geistigen Lebens. Wenn wir die rein 
äußerlichen, den literarischen Charakter der Dichtung völlig un- 
berührt lassenden Zusätze und Interpolationen außer acht lassen, 
läßt sich in den allermeisten Fällen nicht entscheiden, ob ein Text 
aus dem 20. oder dem 7. Jahrhundert v. Chr. stammt Bei einigen 
Hymnen sind wir in der glücklichen Lage, Abschriften aus der 
ältesten wie aus der jüngsten Zeit der babylonischen Geschichte, 
die mindestens 2000 Jahre auseinander liegen, zu besitzen: sie 
sind in dieser langen Zeit fast vollständig unverändert geblieben. 
Der Grund liegt darin, daß alle Literatur im höheren Sinne ent- 
weder kultischen Zwecken diente, wie der ganze Kreis der Hymnen, 
Gebete, Psalmen, Beschwörungstexte, oder eine Versinnbildlichung 
der Lehre darstellte, wie mehr oder weniger alle Mythen und 
Legenden. Das Verhältnis ist ein ähnliches, wie wenn einer 


1 Über die Autoren(?)namen der sog. Epenkataloge s. §71, VII. 


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§ 1. Begriff der babylonisch-assyrischen Literaturgeschichte. 3 

späten Zukunft aus dem ganzen Mittelalter nichts als Bibel- und 
Missale-Handschriften aus den verschiedensten Zeiten in zahllosen 
Fragmenten überliefert würden und ihr daraus die Aufgabe er- 
wüchse, eine Literaturgeschichte der europäischen Völker des 
Mittelalters zu konstruieren. Wie in diesem Falle die Kritik zu- 
nächst dazu kommen müßte, die absolute Gleichförmigkeit der 
literarischen „Produktion“ in diesen 15 Jahrhunderten zu konsta- 
tieren, und endlich dazu käme, die Entstehung der ersten Vorlagen 
dieser Stücke in Bausch und Bogen in eine „vorgeschichtliche“ 
Zeit zurück zu verlegen, so hat auch die’ Prüfung der babylonischen 
Literatur höheren Stils allmählich zu der Erkenntnis geführt, daß 
wir in der Hauptsache nur Kopien und Nachahmungen von 
Vorlagen haben, die in einer für uns noch vorhistorischen Zeit 
entstanden sind. Mit dieser Erkenntnis steht aber die Literatur- 
geschichte auch schon am Ende ihrer Wirksamkeit, es bleibt 
für sie kaum mehr etwas zu tun; denn die Sammlung von 
Varianten, die das einzige Ergebnis einer literaturgeschicht- 
lichen Betrachtung dieser Denkmäler bleiben muß, wird an 
belangreichen Zeugnissen einer stattgehabten Entwicklung nur 
der Erkenntnis der religiösen und geschichtlichen Entwicklung 
Dienliches zutage fördern; von einer Entwicklung des literarischen 
Stiles, von der Umgestaltung literarischer Stoffe, von der Ent- 
wicklung der Ausdrucksformen, der Mittel zur Belebung und 
Veranschaulichung des Inhalts, kurz, von allem, was nur eine 
Einwirkung einer vom Banne der Überlieferung freien Persönlichkeit 
sein kann, wird sie nicht viel ergeben. 

Diese Sätze klingen paradox, wenn man bedenkt, daß es ja doch 
der alttestamentlichen Forschung unter viel schwierigeren Verhältnissen 
gelungen zu sein scheint, auch anonyme Stücke, wie z. B. die Quellen- 
schriften des Hexateuch, die unter falscher Etikette laufenden Propheten- 
reden und Psalmen chronologisch wenigstens annähernd zu bestimmen. 
Aber hier ist der Zufälligkeit der Überlieferung, die das Licht der Ge- 
schichte in recht verschiedener Intensität über die einzelnen Perioden 
verteilt, sicherlich viel zu wenig Rechnung getragen worden, ln sehr 
vielen Fällen ist die Zeitbestimmung lediglich auf subjektives Ermessen, 
auf persönliche Eindrücke gegründet, zwingende, jeden Widerspruch 
ausschließende Beweisgründe liegen nur selten vor. Ein charakteristisches 
Beispiel sind Sacharja, Kap. 9—14, die bis in die jüngste Zeit in die 
vorexilische Periode, in die Zeit der Diadochenkämpfe und in das 
2. Jahrh. versetzt worden sind und immer mit der Versicherung, daß 
eine andere Ansetzung ganz unmöglich sei. Auch Budde hält nur das 
2. Jahrhundert für die Zeit, in der „wir Tatsachen genug zur Verfügung 
haben, um mit Aufgebot von einigem Scharfsinn für jedes X eine be- 

1 * 


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4 


Einleitung. 


nannte Größe einsetzen zu können“. „Aber leider ist diese Möglichkeit 
vor allen Dingen darin begründet, daß uns einzig und allein für diese 
Zeit ausführliche Geschichtsberichte zu Gebote stehen.“ „Es ist mit 
ziemlicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß das für andere Zeitab- 
schnitte ebensogut glücken würde, wenn uns da ebenso reichlicher Stoff 
zu Gebote stände.“ Hier* spricht es einer der verdienstvollsten Ver- 
treter der literarkritischen Schule unumwunden aus, daß die Lücken der 
geschichtlichen Überlieferung gelegentlich die stärkste Stütze literar- 
kritischer Ergebnisse sein können. Eine Desavouierung durch monu- 
mentale Zeugnisse braucht ja die Bibelkritik kaum zu befürchten, daher 
ist die Zuversicht zu den Ergebnissen nur selten von Zweifeln an der 
Tragfähigkeit des Fundamentes erschüttert. Anders in der Keilschrift- 
forschung. Da kann jeder Spatenstich logisch unantastbare Beweis- 
ketten zerschneiden, wenn er z. B. zu einem dem Assurbanipal in den 
Mund gelegten Gebet eine mehr als 1500 Jahre ältere, bis auf redaktio- 
nelle Abweichungen völlig gleichlautende Vorlage zutage fördert. Da- 
durch ist ganz von selbst der Assyriologie bei allen zeitlichen Bestim- 
mungen literarischer Stücke größte Zurückhaltung geboten. 

Das Beobachtungsfeld der literargeschichtiichen Untersuchung 
ist einmal die dichterische Form, dann das Verhältnis des Stoff- 
lichen zu der gestaltenden Idee. 

Wenn es nun auch bei der Lage der Dinge aussichtslos ist, 
eine Entwicklungsgeschichte der babylonischen Literatur skizzieren 
zu wollen, so bietet eine Betrachtung und Darstellung der vor- 
handenen Materalien nach ihrer formalen Seite, wie auch in 
Rücksicht darauf, wie das Stoffliche der gestaltenden Idee dienstbar 
ist, einer — allerdings zukünftigen — Forschung die dankbarsten 
Aufgaben. Auch in Babylonien und Assyrien offenbart die Vor- 
geschichte der sprachlichen Ausdrucksweise ein reichhaltiges Kapitel 
versteinerter Kulturgeschichte; Bilder und Gleichnisse, die Meta- 
phern, kurz, alle Mittel, die zur Belebung der Darstellung, zur 
Veranschaulichung des Inhalts dienen, standen der orientalischen 
Beredsamkeit wie heute, so zu allen Zeiten in verschwenderischer 
Fülle zu Gebote. Und die verhältnismäßig große Zahl literarischer 
Erzeugnisse, in denen stoffliche Überlieferungen der Verkörperung 
tiefer liegender Ideen dienstbar gemacht werden, erschließt der 
vergleichenden Betrachtung durch ihre Mannigfaltigkeit ein reiches 
Arbeitsfeld. Die Assyriologie hat diese Seite ihrer Aufgaben noch 
kaum gestreift Infolgedessen kann auch auf den folgenden 
Blättern keine Rede davon sein, das eigentlich literarische Moment 
so wie es sein sollte in den Vordergrund zu stellen, es kann 


1 Das prophetische Schrifttum S. 55 (1906). 


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§ 1. Begriff der babylonisch-assyrischen Literaturgeschichte. 5 

sich vielmehr in der Hauptsache nur darum handeln, einen Über- 
blick über das Material selbst zu geben, den Inhalt zu skizzieren 
und so eine Vorstellung von dem babylonisch-assyrischen Schrift- 
tum überhaupt zu vermitteln. Nur im Vorübergehen kann auch des 
spezifisch literarischen Charakters der Denkmäler gedacht werden. 

Das uns heute schon zugängliche Material an schriftlichen 
Dokumenten aus dem Zweistromland ist von ganz außerordent- 
licher Reichhaltigkeit und Mannigfaltigkeit. Ziffernmäßig entzieht 
es sich vollständig jeder auch nur annähernden Schätzung und 
inhaltlich umspannt es den ganzen Kreis der literarischen Gattungen. 
Nur für die Existenz der dramatischen Dichtung ist bis heute 
kein sicheres Beispiel gefunden worden. 

Literargeschichtlich erwecken das lebhafteste Interesse die 
epischen Dichtungen, in denen mythologische Stoffe dichterische 
Gestaltung gewonnen haben. Vornehmlich für die Religionsge- 
schichte sind unschätzbare Quellen die lyrischen Texte, Hymnen, 
Gebete, Psalmen und die Beschwörungstexte, sodann die Ritualtexte 
und Omina; die Geschichtsforschung besitzt in den Königsinschriften 
und historiographischen Texten, in den öffentlichen Urkunden und 
Briefen historische Quellen, denen an Authentizität und unmittel- 
barer Verwendbarkeit kein anderer Zweig der Altertumskunde etwas 
Gleichartiges an die Seite stellen kann. Die Kulturgeschichte ge- 
winnt in den Gesetzen, Verträgen, Listen ein unmittelbares Zeugen- 
material von beispielloser Mannigfaltigkeit und Reichhaltigkeit 
Verhältnismäßig wenig ist es, was wir von volkstümlicher Literatur, 
Fabeln, Spruchdichtung, Rätseln u. dgl. haben. Dagegen ist uns 
das Studienmaterial, das in Babylonien und Assyrien der Auslegung 
der Literaturdenkmäler gedient hat, auch für unsere gleichartigen 
Bemühungen von unschätzbarem Wert 

Nach den eben entwickelten Grundzügen wird unten das 
babylonisch-assyrische Schrifttum zu skizzieren sein. 

$ 2. Sumerer und Semiten in Babylonien und ihre 
Stellung in der Literaturgeschichte. 

1. Die Sumerer. 

Die Vorläufer der semitischen Bewohner Babyloniens waren 
in dessen südlichem Teile, hauptsächlich südlich und westlich 
vom Euphrat, aber auch darüber hinaus, die Sumerer, ein Volk, 
dessen Verwandtschaftsverhältnisse noch heute ungeklärt sind, das 
aber jedenfalls weder der semitischen noch der indogermanischen 


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6 


Einleitung. 


Rasse angehört und wohl aus Innerasien eingewandert sein muß; 
mancherlei weist auf einen Zusammenhang mit der uralaltaischen 
Gruppe hin. Unmittelbare historische Nachrichten über die Sumerer 
haben wir nicht. In der Zeit, aus der unsere ältesten Urkunden 
stammen, etwa am Ausgange des 4. Jahrtausends, war das semi- 
tische Element bereits zur ausschließlichen Geltung gekommen. 
Daß die Mehrzahl der alten Königsurkunden in sumerischer Sprache 
abgefaßt sind, kann dagegen nicht geltend gemacht werden: die 
Eroberer haben die höher stehende Kultur der Unterworfenen in 
ihren Dienst gestellt, haben alle festen Organisationen, die sie 
vorfanden, ihren Zwecken dienstbar gemacht, der Not gehorchend 
oder in politischer Einsicht — , jedenfalls unter Wahrung der alten, 
geheiligten Formen, unter Schonung der religösen und nationalen 
Überlieferung der Eingesessenen, in die sie im Laufe der Zeit 
hineingewachsen sind. So hat sich eine Verschmelzung der ver- 
, schiedenen Bevölkerungsteile vollzogen. In den alten Formen 
ist ein neuer Geist groß geworden, der sich immer selb- 
ständiger entfaltet hat: der babylonische Semitismus. Ob auch 
nur ein einziger unter den zahlreichen Herrschern der ältesten Zeit, 
deren Denkmäler wir haben, der sumerischen Rasse angehört habe, 
wissen wir nicht, wir können es aus mancherlei Gründen nicht 
einmal für wahrscheinlich halten. Soviel aber dürfte sicher sein, 
daß die ganze Form, in der sich uns das offizielle und kulturelle 
Leben im ältesten Babylonien, namentlich im Süden — der 
Norden war schon viel früher von Semiten besiedelt — nach 
den Denkmälern darstellt, von den Sumerern geschaffen worden ist. 

Den Sumerern gebührt jedenfalls auch in der Geschichte 
der Keilschriftliteratur eine bevorzugte Stellung: sie sind die Er- 
finder der Schrift und von dem, was an künstlerischer Literatur 
überliefert ist, geht sicher ein bedeutender Teil auf ihre Anregung 
zurück, wenn auch vielleicht nur im letzten Grunde. Freilich ist 
es bei demTieutigen Stande unserer Kenntnis der ältesten Geschichte 
des Zweistromlandes und bei dem verfügbaren, wenn auch großen, 
so doch sehr lückenhaften Quellenmaterial völlig unmöglich, den 
Sumerern den Platz auch tatsächlich einzuräumen, der ihnen ge- 
bührt, die Verdienste, die sie um die Entwicklung des Schrifttums 
haben, näher zu umschreiben, den Anteil, der von den über- 
kommenen Schätzen ihnen zukommt, auszuscheiden. Was wir 
von den Sumerern wissen, ist außerordentlich wenig, es ist nicht 
viel mehr, als_daß sie existiert haben — auch das wird übrigens 


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§ 2. Sumerer und Semiten in Babylonien. 7 

bestritten — , daß sie die Schrift erfunden haben, daß es ihre Sprache 
ist, in der die ältesten Denkmäler der Könige und Fürsten reden, 
die als heilige Kultussprache von den einwandernden Semiten 
übernommen und in heiliger Übung erhalten worden ist bis zur 
spätesten Zeit, bis an die Grenze der christlichen Zeitrechnung. 
Inwiefern der Inhalt der in sumerischer Sprache überlieferten 
Denkmäler auf das alte Volk von Sumer zurückgeht, darüber 
können wir nichts als Vermutungen aufstellen. Wie es im Laufe 
der Zeit zu einer völligen Verschmelzung von beiden Rassen, 
bezw. zur Aufsaugung der einen durch die andere gekommen 
ist, so scheint es auch bald im Geistesleben geworden zu sein. 
Weder religionsgeschichtlich noch literargeschichtlich läßt sich 
zwischen sumerischem und semitischem Gut eine reinliche Schei- 
dung vollziehen. Soviel nur wissen wir, daß die Schrift, obwohl 
sie dem semitischen Idiome so schlecht wie nur möglich auf 
den Leib paßt, die Herrschaft über die siegreichen Eindringlinge 
behauptet hat, und wir können vernünftigerweise daraus nur die 
eine Folgerung weiter ziehen, daß die Einwandernden von dem 
kulturell viel höher stehenden Volk mit der Schrift auch die be- 
grifflichen Elemente, die geistige Vorstellungswelt, religiöse An- 
schauungen und Bräuche in mehr oder weniger großem Umfang 
übernommen haben, jedenfalls sich von ihnen aufs stärkste haben 
beeinflussen lassen. Das, was uns historisch greifbar ist, muß 
freilich jetzt als einheitliche Größe angesehen und gewürdigt 
werden; wir können nur die Sprachen scheiden, die Religion und 
Literatur aber nennen wir schlechthin und ohne Rücksicht auf 
genuin sumerische oder semitische Bestandteile „babylonisch“. 

2. Die Babylonier und Assyrer. 

Ein ähnliches geistiges Abhängigkeitsverhältnis wie zwischen 
den Sumerern und Babyloniern besteht zwischen den Babyloniern 
und den Assyrern, nur daß das helle Licht der Geschichte, in 
dem sich ihre Beziehungen entfalten, uns diese wesentlich klarer 
sehen läßt Die Babylonier waren ein altes Kulturvolk, das den 
Zenith seiner Bahn schon überschritten hatte, als die Assyrer auf 
dem Plane erschienen und langsam anfingen, in der Weltgeschichte 
eine Rolle zu spielen. Die bedeutsamsten Werke der babylonischer 
Literatur waren längst vorhanden und hatten weite Verbreitung 
im ganzen alten Orient gefunden, alle literarische Gattungen waren 
vollauf entfaltet und hatten feste Formen gewonnen. Es ist selbst- 


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8 


Einleitung. 


verständlich, daß dem rasseverwandten Volke, das ohne weiteres 
die Sprache des Kulturvolkes verstand und im ganzen Verlauf 
seiner Geschichte in denkbar engster politischer, wirtschaftlicher 
und geistiger Berührung mit jenem geblieben ist, an allen Errungen- 
schaften der ganzen Kulturentwicklung in Babylonien alsbald 
der mühelose nachbarliche Mitgenuß zufiel. 

Selbständig weitergebildet haben die Assyrer diese Kultur 
nicht, wenigstens nicht auf literarischem Gebiet, während man in 
der bildenden Kunst wohl eher von einem spezifisch assyrischen 
Stil reden kann. In literarischen Dingen sind es namentlich zwei 
Spezies, welche unter der Pflege des assyrischen Volkes eine 
eigenartige Entwicklung nehmen: 1. die Schrift, und 2. die offi- 
zielle Geschichtschreibung einzelner Könige, welche sich in Assyrien 
zur Annalenform versteinert. Wenn wir auf dem Gebiete der 
religiösen Literatur in manchen Fällen ganz deutlich ein assyrisches 
Stück als solches erkennen, so gründet sich das nicht auf eine 
selbständige Entwicklung der dichterischen Form oder des Ge- 
dankeninhalts, sondern auf rein äußerliche, lediglich redaktionelle 
Zutaten und Abänderungen (Ersetzung babylonischer Göttemamen 
durch assyrische u. a.), die besser als alles andere dartun, daß 
die Assyrer der babylonischen Literatur gegenüber lediglich als 
Empfangende sich gefühlt haben. 

# 3. Die Erfindung der Keilschrift. 

Die Alten haben, wie alle Fragen, deren Beantwortung jen- 
seits ihres Wissens und ihrer Erfahrung lag, auch die Frage nach 
dem Ursprung der Keilschrift auf sehr einfachem Wege gelöst: 
sie haben sie auf göttlichen Ursprung zurückgeführt Gelegentlich 
wird die Erfindung der Tafelschreibkunst allen Göttern zugeschrieben; 
von Adapa heißt es, daß er „den geheimen Schatz der Tafel- 
schreibkunst lehrt“; Nusku ist der Griffelträger, der Schreiber im 
Rat der Götter zu Nippur, und noch in assyrischer Zeit heißt er 
„der Gott mit dem glänzenden Schreibgriffel“; von Senacherib 
wird Cha-ni als „Gott der Tafelschreiber“ erwähnt, ln ganz be- 
sonderer Weise aber gilt Nebo, der Stadtgott von Borsippa, als 
der Gott der Tafelschreibkunst, als Schutzherr der Schreiberzunft. 
Er ist der „Schreiber des Alls“, der „Schreiber von Esagil“, der 
Gott, „der den Tafelstift hält, den Schreibschaft ergreift“; auch in 
der späteren Überlieferung wird bei den Mandäem Nabu-Merkur 
als der „Schriftkundige und Weise“, bei den Arabern der ‘Utharid- 


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§ 3. Die Erfindung der Keilschrift 


9 


Merkur als der „Stern des Schreibers“ bezeichnet. Der größte 
Literaturfreund des Altertums, der Sammler literarischer Schätze der 
Vorzeit, Assurbanipal, bezeichnet den ganzen Inhalt der auf seinen 
Befehl abgeschriebenen Tafeln als „Weisheit Nebos“ und rühmt 
sich am Schlüsse fast jeder Tafel, daß ihm Nebo und dessen Ge- 
mahlin Taschmetu das Verständnis der Tafelschreibkunst geöffnet 
haben; nach Berosus führen die Babylonier die Kenntnis der 
Schrift auf die Offenbarung des Oannes (= Ea?) zurück. 

Mit dieser Lösung der Frage nach dem Ursprung der Keil- 
schrift können wir uns freilich nicht zufrieden geben ; wir müssen 
versuchen, aus dem Charakter der Schrift ihre Vorgeschichte zu 
lesen. Dabei lassen sich folgende Tatsachen sofort und unwider- 
leglich feststellen; 

1. Die Keilschrift kann nicht von Semiten ausgebildet worden 
sein, ihre Ausdrucksmöglichkeiten werden der Eigenart des semi- 
tischen Lautbestandes schlechterdings nicht gerecht; sie muß viel- 
mehr ursprünglich das Ausdrucksmittel für die nichtsemitische 
Sprache, von der uns zahlreiche umfängliche Proben in Keil- 
schrift erhalten sind, die die Babylonier selbst als Sprache von 
Sumer bezeichnen, gewesen sein. 

2. Die Keilschrift geht im letzten Grunde auf Bilderzeichen zurück. 

Diese beiden Thesen sind aber auch die einzigen festen 

Punkte, die wir aus der Prüfung des uns vorliegenden Materials 
für die Frage nach dem Ursprung der Keilschrift gewinnen. 
Darüber hinaus können uns nur allgemeine ethnologische Er- 
wägungen und Vergleichung anderer Bilderschriftsysteme, wie des 
ägyptischen, chinesischen, hethitischen, mexikanischen führen — 
insoweit uns aber die Kontrolle an keilschriftlichen Denkmälern 
unmöglich ist, natürlich ohne die Gewähr wirklicher, unanfecht- 
barer Richtigkeit der auf diesem Wege gewonnenen Lösungen. 

Die Versuche, aus der Entwicklung der Keilschrift in den Jahr- 
tausenden, aus denen uns Schriftproben vorliegen, auf die treibenden 
Kräfte zu schließen, welche bei der Schaffung der Schrift bestimmend 
gewesen sein mögen, sind von vornherein bedenklich, weil die Ent- 
wicklung der Schrift vielfach an Äußerlichkeiten, wie das Material, ge- 
bunden war, die bei den ersten Schreibversuchen überhaupt noch gar 
keine Rolle gespielt haben, sodann weil die berufenen Pfleger der 
Schreibkunst, die Priester, hinreichend verdächtig sind, bei ihren Studien- 
versuchen, die auf den ersten Blick als die natürlichen Führer für die 
Untersuchung der Frage erscheinen, sich von Spekulationen haben 
leiten zu lassen, deren Verfolgung uns von dem Ziel der Aufgabe nur 
ablenken kann. 


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10 


Einleitung. 


Anderseits muß aber doch davor gewarnt werden, die Bemü- 
hungen der babylonischen Schriftgelehrten um die Ergründung des Ur- 
sprungs und Wesens der Keilschrift allzu gering zu schätzen. 

Solange wir nicht Denkmäler einer naiveren Oestalt der Keil- 
schrift haben, haben wir auch kaum Aussicht, dem „Schaffenstrieb 
der werdenden Schrift“ auf die Spur zu kommen, denn von irgend- 
welchen Merkmalen einer „werdenden“ Schrift tragen auch unsere nach- 
weisbar ältesten Inschriften nichts an sich. Das sicherste Zeichen einer 
im Fluß befindlichen, nach festen Ausdrucksformen strebenden Entwick- 
lung ist eben doch immer die Anschaulichkeit, und diese ist bei vielen 
Zeichen in den ältesten Texten nicht größer als in viel jüngeren, bei 
mindestens ebensovielen aber eher geringer. 

Die Traditionsketten, an denen sich die Kunde von der Vergangen- 
heit in den priesterlichen Bildungszentren Babyloniens den späteren 
Oeschlechtern vermittelt hat, haben sich mehr und mehr als zuverlässig 
erwiesen ; es geht — bei allem Recht zur Kritik — nicht mehr an, eine 
„wissenschaftliche“ Meinung der späteren babylonischen Archäologie 
von vornherein als Spintisiererei abzutun. Die Möglichkeit bleibt 
immer zu erwägen, daß solche „Spekulationen“ tatsächlich den Kern 
der Sache treffen — auch dann, wenn sie für unsere Begriffe von 
folgerichtiger Entwicklung abstrakt oder gekünstelt erscheinen. Wir 
kennen jetzt die geistige Entwicklung Babyloniens gut genug, um auch 
einem hohen Altertum, ja der vorhistorischen Zeit ein recht reichliches 
Maß von Abstraktion und Spekulation, von Künstelei und Unnatürlich- 
keit zuzutrauen. 

Es ist daher wissenschaftlich vielleicht ergiebiger, sich vorläufig 
an das Tatsächliche zu halten und die vorhandenen Materialien immer 
eingehender zu erforschen — zunächst ohne den Ehrgeiz, immer gleich 
auch den letzten Orund und die letzte Form jeder Erscheinung zu er- 
kennen, die reichen Sammlungen der babylonischen Schriftgelehrten 
dankbar zu benützen und zu ergänzen. Wenn wir zunächst auf diesem 
Wege auch nur dazu kommen, zu erfahren, wie sich in der Überliefe- 
rung der babylonischen Schriftgelehrsamkeit die Entstehung der Zeichen 
ausnimmt, so ist das ein keineswegs gering zu schätzendes wissen- 
schaftliches Ziel. Die Zukunft, die Erschließung neuer, ursprünglichere 
Zeichen aufweisender Denkmäler mag dann weiter führen. 

# 4. System und Entwicklung der babylon. Keilschrift. 

Literatur: Die Untersuchungen über die Entstehung der Keilschrift 
sind eröffnet worden mit den für alle Zeit grundlegenden Ausführungen 
J. Opperts im 2. Bd. der Expedition en Mesopotamie (1859). 
Er hat zum ersten Mal die These: „Alle Keilschriftzeichen sind aus 
Bildern entstanden“ im einzelnen zu begründen versucht. Eine Reihe 
von Urbildern hat er definitiv richtig bestimmt. W. Houghton hat 
in dem Aufsatz: „On the Hieroglyphic or Picture Origin of the Characters 
of the Assyrian Syllabary“ (TSBA VI, 1879, S. 454—483) zum ersten Mal 
den Gedanken verfochten, daß die Zeichen als ursprünglich aufrecht- 


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§ 4. System und Entwicklung der babylon. Keilschrift. 


11 


stehend zu denken sind, er ist aber vor der Inkonsequenz, statt die 
Zeichen immer mit der Spitze beginnend nach rechts aufzurichten, auch 
gelegentlich gerade umgekehrt zu verfahren, nicht zurückgeschreckt. 
Seine Erklärungsversuche haben sich überhaupt nur wenig förderlich 
erwiesen. Auch F. Hommel hält von Anfang an die vertikale Rich- 
tung für die ursprüngliche bei allen Zeichen (Geschichte Babyloniens 
und Assyriens, 1884, S. 35 ff.), ln seiner Schrift: Der Babylonische Ur- 
sprung der ägyptischen Kultur 1892 S. 61 ff., vergleicht er überdies 34 
vertikal gestellte babylonische mit „entsprechenden" ägyptischen Zeichen. 

Oppert hatte sich bei der Erklärung der Schriftzeichen auf das 
Babylonische beschränkt. Seit Houghton wurden alle erreichbaren 
anderweitigen Biiderschriftsysteme, das chinesische, ägyptische, mexi- 
kanische zur Vergleichung herangezogen. Dabei wurden aber die 
mannigfachen Fingerzeige, die die Schriftentwicklung auf dem Boden 
Mesopotamiens, besonders aber die Überlieferung der einheimischen 
Schriftgelehrten bieten, so gut wie völlig außer acht gelassen. 

F. Delitzsch hat durch gründliche Ausbeutung dieser beiden Er- 
kenntnisquellen in seinem Werke „Die Entstehung des ältesten Schrift- 
systems oder der Ursprung der Keilschriftzeichen“ 1897, Nachwort 
1898, die Erforschung des Keilschriftsystems auf eine völlig neue Grund- 
lage zu stellen versucht. Die Hoffnung, daß durch diese Veröffent- 
lichung die Frage nach dem Ursprünge der Keilschriftzeichen so in Fluß 
kommen würde, daß sie kaum wieder ganz zum Stillstand kommen 
werde (Zimmern), ist freilich leider nicht in Erfüllung gegangen. Das 
Ergebnis der leidenschaftlichen Diskussion war nach der positiven wie 
negativen Seite ein außerordentlich dürftiges. Die Nachprüfung der 
einzelnen Aufstellungen Delitzschs ist nur sporadisch erfolgt, die vielen 
Punkte, an denen Delitzschs Ausführungen zur Ergänzung und Weiter- 
verfolgung auffordem, sind kaum beachtet. Hauptsächlich mit der 
„Methode“ Delitzschs setzt sich auseinander F. E. Peiser in MVAG 
1897, 4, S. 21 ff. (Zur Frage nach der Entstehung der Keilschrift), der 
manche recht einleuchtende allgemeine Gesichtspunkte bietet, ohne, was 
sehr wünschenswert gewesen wäre, aufs einzelne einzugehen. Durch 
Delitzschs Publikation veranlaßt waren die vorläufigen Mitteilungen 
F. Hommel s auf dem Pariser Orient. Kongreß Sept 1897, denen als 
Erläuterung 4 Seiten 4° in Autographie: „Der hieroglyphische Ursprung 
der Keilschriftzeichen“ beigegeben waren, eine Zusammenstellung der 
nach Hommel auf Bilder zurückzuführenden Zeichen. 

Von besonderer Wichtigkeit ist noch die Einleitung von Thureau- 
Dangins Recherches sur l’origine de l’Ecriture Cuneiforme (1898), der 
eine Klassifikation der ältesten Denkmäler nach epigraphischen Gesichts- 
punkten durchgeführt hat 

Eine weitere Darstellung hat das Problem erst in jüngster Zeit 
wieder erfahren von Ch. Fossey, Manuel de l’Assyriologie Bd. 1 
(1904) S. 245 ff. Leider behandelt er gerade die Frage der Schriftent- 
wicklung nur wenig eingehend. In einigen Punkten, so bezüglich der 
Zeichengruppen, der Gunierung schließt er sich Delitzsch an, glaubt aber 
doch, daß die von Delitzsch befolgte Methode nicht zum Ziel führen könne. 


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12 


Einleitung. 


Zeichensammlungen: 

Eine das gesamte epigraphische Material vorführende und allen 
wissenschaftlichen Gesichtspunkten, so vor allem der babylonischen Tra- 
dition gerecht werdende Sammlung der Keilschriftzeichen aus allen 
Perioden besitzen wir noch nicht. Als vorzügliche Vorarbeiten dazu 
sind zu nennen A. Amiaud et L. Mechineau, Tableau compare des 
fecritures Babylonienne et Assyrienne, archaiques et modernes, 1887 
und die obengenannten Recherches von Thureau-Dangin, welche 
vor dem erstgenannten Werke die Verwertung der epigraphisch 
überaus ergiebigen alten Nippurtexte und der ältesten Inschriften von 
Telloh voraus haben, aber nur die Denkmäler bis zur 1. babyl. Dynastie 
ausschließlich berücksichtigen. In kleinerem Maßstabe bietet F. De- 
litzsch in der 4. Aufl. seiner Assyrischen Lesestücke eine vergleichende 
Darstellung des Zeichenmaterials in den verschiedenen Entwicklungs- 
stadien. Auch das „Verzeichnis der alt- und neubabylonischen und 
assyrischen Zeichen“ in R. Brünnows „Indices“ zu seiner „Classified 
List“, 1897, S. 303 ff. ist zu erwähnen. 

1. Zeichen und Zeichennamen. 

Wir kennen im ganzen rund 400 einheitliche Schriftzeichen; 
von diesen dienen etwa 100 vorwiegend zur Bezeichnung der 
einfachen Silben (der Vokale und der Verbindung eines Vokales 
mit einem Konsonenten), etwa 140 vorwiegend zur Bezeichnung 
geschlossener Silben, etwa 160 werden als Silbenzeichen über- 
haupt nicht gebraucht, sondern dienen ausschließlich als Ideogramme, 
als Begriffszeichen. Die meisten Schriftzeichen sind vieldeutig, 
sie haben mehrere Lautwerte; die vorwiegend für einfache Silben 
gebräuchlichen Zeichen dienen sehr oft auch zur Bezeichnung ge- 
schlossener Silben (Ud = tu, tarn, par, pir, lach, lieh, chisch; Be = 
bad, mit, til, ziz, bit, but, mut, zuz). Sehr selten werden Zeichen, 
die vorwiegend für geschlossene Silben gebräuchlich sind, auch 
für offene gebraucht (tum = ib; kak = da; char = ur;). Fast alle 
Silbenzeichen aber dienen außerdem auch als Begriffszeichen, als 
Ideogramme und zwar haben viele Zeichen außer mehreren 
syllabischen, auch eine ganze Anzahl und oft sehr verschieden- 
artige ideographische Werte. 

Was das Verhältnis der Silbenzeichen zu dem Lautbestand 
anlangt, so fällt vor allem die Tatsache auf, daß die verschiedenen 
Arten der Gutturale, Labiale, Dentale, und Sibilanten wohl im 
Anlaut, nicht aber im Auslaut unterschieden werden. So gibt es 
besondere Zeichen für ba, pa; du, tu, thu; ga, ka, qa; zi, si, <;i, 
nicht aber für ab, ap; ud, ut, uth; ag, ak, aq; iz, is, i; etc 
Bei den Zeichen für geschlossene Silben werden die verschiedenen 


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§ 4. System und Entwicklung der babylon. Keilschrift. 13 

Gattungen der Konsonanten meist auch im Anlaut nicht unter- 
schieden. Es ist übrigens auch bei den Zeichen für offene 
Silben die Differenzierung der anlautenden Konsonanten nicht 
streng durchgeführt Vielfach handelt es sich dabei um Willkür 
des Schreibers, oder aber um dialektische, besonders vulgäre Formen. 

Die Verschiedenheit der Lautwerte einzelner Zeichen geht 
in den meisten Fällen zurück auf die Verschiedenheit der Bedeu- 
tungen der betreffenden Ideogrammwerte bezw. auf die verschiedene 
Aussprache derselben im Sumerischen. So hat das Silbenzeichen 
bu in der sumerischen Aussprache bu die Bedeutungen baqämu, 
napächu, in der Aussprache gid Bedeutungen wie aräku, nasächu, 
sanäqu; in der Aussprache sir Bedeutungen wie ga?ä<;u, na- 
märu, schichu. — In vielen Fällen erklärt sich die Verschiedenheit 
der Lautwerte als lautgesetzliche Entwicklung, die gleichfalls auf 
die sumerische Aussprache zurückgeht, z. B. il aus gil, gur, 
doch läßt sich diese Entwicklung innerhalb der zur Silbenschrei- 
bung gebräuchlichen Zeichen nicht immer mit Sicherheit nachweisen. 

Der Zeichenbestand ist im Lauf der Jahrtausende nicht unver- 
ändert geblieben, doch ist es immerhin erstaunlich, daß er nicht noch 
viel einschneidenderen Veränderungen unterworfen war. Zunächst ist 
eine Anzahl Zeichen mit ähnlich aussehenden, oder gleich, bezw. ähn- 
lich lautenden — manchmal aus noch unklaren Gründen — zusammen- 
gefallen. So sind in dem Zeichen Tu vier Zeichen, die im Sumerischen 
streng auseinander gehalten werden, verschiedene Bedeutungen und 
t verschiedene Aussprachen hatten, zusammengefallen. Ebenso ist es 
bei dem Zeichen Bar — Masch, Be, Ku, Lu, Su, Lil, Schid, Sar u. a., 
die mehr oder weniger ehedem auseinandergehaltene Zeichen, Begriffe 
und Aussprachen in sich vereinigen. Auch zahlreiche Varianten des- 
selben Zeichen, wie Gunierungen u.a. sind späterhin aufgegeben worden. 
Diese Erscheinung hat ihren Grund in der immer mehr zunehmenden 
Unkenntnis der zugrunde liegenden Bilder und ist unterstützt worden 
durch das Streben nach Vereinfachung des so überaus komplizierten 
Apparats. Von großem Einfluß war auch die Entwicklung, die dazu 
führte, die Schrift immer ausschließlicher zur Wiedergabe der Sprach- 
laute zu gebrauchen, und dadurch natürlich eine wachsende Willkür- 
lichkeit gegenüber den ursprünglichen Sinnwerten zur Folge hatte. 
Diese Entwicklung erhielt den kräftigsten Anstoß durch die semitische 
Einwanderung. War so auf der einen Seite eine Vereinfachung des 
Zeichenbestandes erfolgt, so drängte andererseits die Notwendigkeit, 
auch für den komplizierteren Lautbestand des semitischen Idioms Aus- 
drucksmöglichkeiten zu schaffen, zu einer Ergänzung der zur Silben- 
schreibung verwendeten Zeichen. Dem Sumerischen fehlten der Spiritus 
lenis und die emphatischen Laute th, q, ?. Im Auslaut behalf man 
sich durch Mitverwendung von z. B. ad, ak, as für ath, aq, ag. Für den 
Anlaut dagegen sind wenigstens teilweise neue Silbenzeichen eingeführt 


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14 


Einleitung. 


worden, so für thi, thu, qa, qi, qu, ?i, cu, für die Silben tha, ga dagegen 
hat man sich mit den Zeichen für da und za beholfen. Auch sonst hat 
der Bestand der Silbenzeichen im Lauf derJZeit Veränderungen erfahren. 
So hat sich erst allmählich die Unterscheidung von bi und pi, bu und 
pu durchgesetzt. Noch bei Hammurabi wird pi mit wenigen Ausnahmen 
durchgehend durch bi ausgedrückt. Das Zeichen pi hat in dieser Zeit 
vielmehr die Werte ma (wa) mi (wi), a und im Anlaut ja, ji, die hin- 
wiederum später ganz verschwinden und nur zum Teil gelegentlich 
archaisierend angewendet werden. Für pu wird bis in die späteste 
Zeit weitaus überwiegend bu gesetzt Es ist offenkundig, daß die 
speziellen Zeichen für pi und pu erst von den semitischen Einwanderern 
als Silbenzeichen eingeführt worden sind. Völlige Neuschöpfungen 
sind darunter aber nicht zu verstehen, es sind vielmehr vorhandene 
Ideogramme zum Ausdruck der Silbenwerte verwendet worden. Nur 
das Zeichen für den Spiritus lenis scheint neugeschaffen, bezw. aus 
dem Zeichen ach vereinfacht, das zu ihm sich verhält wie das Gunu- 
zeichen zum Grundzeichen. 

Da diese Neuerungen nur allmählich sich durchgesetzt haben 
können, und zudem nie systematisch ausgebaut worden sind, ist es 
leicht erklärlich, daß in der Schreibung von Konsonanten verschiedener 
Härtegrade zu allen Zeiten eine große Regellosigkeit geherrscht hat. 

Bei den außerordentlichen Schwierigkeiten, die die Viel- 
deutigkeit der babylonisch-assyrischen Keilschrift mit sich bringt, 
ist es nur natürlich, daß sehr bald schon gewisse Hilfsmittel, 
zur Erleichterung und Sicherstellung der Lesung Eingang fanden. 
Das sind die Determinative und die phonetischen Komplemente, 
beides lediglich Lesehülfen, die selbst unausgesprochen bleiben. 
Die Determinative zeigen an, welcher Begriffsgattung ein Wort 
angehört und werden meist vor, manchmal aber auch hinter das 
betr. Wort gesetzt. Durch voranstehende Determinative werden 
kenntlich gemacht Götternamen, männliche und weibliche Per- 
sonennamen, Namen von Ländern, Bergen, Städten, Flüssen, 
Geräte aus Holz, Bäume, Gefäße, Pflanzen etc., durch nach- 
stehende die Namen von Fischen und Vögeln. Die sogenannten 
phonetischen Komplemente finden sich bei vieldeutigen Ideo- 
grammen, um die Lesung sicherzustellen. So bedeutet Tuub daß 
erub, Tuba daß etarba, Udme daß ume, ichUdschi daß Scham- 
schi, Kur« daß schadu, Kurnd daß akschud zu lesen ist 

Die einzelnen Zeichen haben von den babylonischen Schrift- 
gelehrten Namen erhalten, die uns vornehmlich in dem Syllabar 
Sa (Delitzsch AL 4 S. 83 ff.) überliefert sind (vgl. die Zusammen- 
stellungen nach alphabetischer Reihenfolge und nach formalen 
Gesichtspunkten bei Briinnow, A classified list S. 562 ff.). Bis jetzt 


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§ 4. System und Entwicklung der babylon. Keilschrift. 15 

sind uns über 300 Zeichennamen bekannt geworden. Von diesen 
sind etwa 200 einfache Zeichennamen, die entsprechenden Zeichen 
gelten also als einfache, nicht als zusammengesetzte; die übrigen 
Zeichennamen sind zusammengesetzt, drücken also aus, daß die 
entsprechenden Zeichen als Komposita betrachtet werden. Diese 
Zeichen sind nun in der Tat meist Zeichengruppen, die aus 
mehreren, zwei, drei, vier, ja fünf einzelnen Zeichen bestehen ; zum 
Teil sind es solche, die auch als Silbenzeichen, zum Teil solche, 
die lediglich als Ideogramme in Gebrauch sind. Der Form nach 
sind die Namen der zusammengesetzten Zeichen Aussagesätze in 
sumerischer Sprache. In diesen Aussagesätzen spricht sich die 
Meinung des babylonischen Schriftgelehrten über die Entstehung 
der betreffenden Zeichen aus, indem er sie teils als Doppelsetzung 
eines Zeichens, als Gunierung(s. S. 1 8) eines einfachen Grundzeichens 
oder als Komposition aus mehreren verschiedenen Zeichen erklärt. 
Vielfach sind aber auch die Namen nach rein äußerlichen Mo- 
menten gewählt, die nichts mit der Entstehung des Zeichens zu 
tun haben. 

ln der Hauptsache lassen sich fünf Regeln festlegen, die bei 
der Bildung der Zeichennamen angewendet werden. 

1. Einfache Zeichen erhalten ihren Namen von ihrem Laut- 
wert, mehrdeutige Zeichen häufig von der sumerischen Aussprache 
desjenigen Sinnwertes, der ursprünglich mit dem Zeichen ver- 
knüpft war. Z. B. Al: all u, ChaLchallu, GaLgallu; das Zeichen 
Tar, Kud, Sil trägt den Namen silu, weil seine Grundbedeutung 
„Straße“ die sumerische Aussprache Sil hat 

2. Wenn ein Lautwert durch mehrere Zeichen repräsentiert 
wird, so fügte man einen zweiten Wert des betreffenden Zeichens 
zur Unterscheidung bei. So haben z. B. vier Zeichen den Laut- 
wert ara, unter diesen wird das Zeichen für aläku gehen, unter- 
schieden durch Beisetzung des weiteren Lautwertes gub (sumerisch = 
gehen) und führt den Namen ara.gub (d. h. ara, welches „gehen“ 
bedeutet). 

3. Der Name spielt auf die Gestalt des Zeichens an. Vgl. 
Brünnow, List, S. 572 II. 

4. Bei zusammengesetzten Zeichen deutet der Name auf die 
einzelnen Teile des Zeichens. Vgl. Brünnow, 1. c. V und VI. 

5. Die Gunuformen werden als Gunu einfacher Zeichen be- 
nannt: z. B. aragub-gunu, igi-gunu etc. 


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16 


Einleitung. 


2. Die Entstehung der Keilschrift. 

Einstimmigkeit herrscht darüber, daß wenigstens ein Teil der 
Keilschriftzeichen auf bildliche Darstellungen zurückgeht, ln 
engstem Zusammenhang damit steht die Frage nach der ursprüng- 
lichen Richtung der Zeichen, und auch hier kann ein stichhaltiger 
Grund nicht geltend gemacht werden gegen die Annahme, daß 
die sicher bestimmbaren Bilderzeichen ursprünglich entgegen der, 
später allgemein, bei der Benützung von Ton als Schreibmaterial 
von Anfang an herrschenden Übung vertikal gedacht waren. Ein 
großer Rest von Zeichen bleibt dadurch freilich noch völlig 
unaufgeklärt 

Die am unmittelbarsten ins Auge springenden Bilderzeichen sind 
auf der am Schlüsse beigegebenen Schrifttafel zusammengestellt. Man 
hat nun freilich, so namentlich Hommel, noch eine beträchtliche Zahl 
anderer Zeichen als Bilder zu erklären versucht; der Phantasie ist hier 
ein weiter Spielraum eröffnet. Aber auch für die größte Findigkeit 
bleibt noch ein überaus großer Rest, der jeder Erklärung spottet, 
irgend ein Minimum von Anschaulichkeit muß eben doch jedes Bild 
bewahrt haben, wenn es als solches glaubhaft sein soll. Heute noch 
muß daher für die als Bilder nicht zu erklärenden Zeichen eine anders- 
artige Erklärung wenigstens als möglich anerkannt werden. 

Die Schwierigkeiten werden sich mit dem uns vorliegenden 
Material überhaupt nicht lösen lassen. Die Distanz zwischen den 
ersten Schreibversuchen der vorhistorischen Zeit und den ältesten 
uns heute zugänglichen Inschriften ist eine viel zu große, die 
zurückgelegte Entwicklung eine viel zu intensive und mannigfache. 
Über die einzelnen Phasen dieser Entwicklung können wir ledig- 
lich Vermutungen aufstellen, die ich folgendermaßen formulieren 
möchte: 

1 . Die ältesten Schreibversuche stellen eine reine Bilderschrift 
dar, die, ohne Mittel, grammatische Verhältnisse auszudrücken, 
lediglich Begriffszeichen verwendete. 

2. Die Notwendigkeit, die grammatischen Verhältnisse er- 
kennen zu lassen und abstrakte Begriffe in größerem Umfange 
auszudrücken, hat eine Ergänzung des Zeichenmaterials gefordert, 
die in Ermangelung naheliegender Bilder zur Anwendung gewisser 
ad hoc erfundenen Strichzeichen führte 

3. Dieser Prozeß kann nicht anders denn als ein willkürlicher 
Akt eines Schrift-„Erfinders“ aufgefaßt werden, wenigstens in seinem 
Anfangsstadium. Die Ausgestaltung im einzelnen mag sich durch 
lange Generationen hindurch gezogen haben, ist aber in für uns 
vorhistorischer Zeit längst abgeschlossen gewesen. 


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§ 4. System und Entwicklung der babylon. Keilschrift. 17 

4. Wieviel aus dem uns bekannten ältesten Zeichenmaterial 
auf die „Urbilder“ der ersten Schreibversuche, oder auf die neu- 
geschaffenen Zeichen zurückgeht, kann jedenfalls mit unserem 
Material nicht entschieden werden. Bei der Untersuchung der 
anderen Zeichen wird man den Fingerzeichen der späteren baby- 
lonischen Gelehrten — trotz aller gebotener Skepsis — Vertrauen 
entgegenbringen dürfen. 

Absichtlich habe ich das Schreibmaterial bisher völlig außer 
Betracht gelassen, weil ihm ein Einfluß auf die Entwicklung der Schrift 
von der ausschließlichen Verwendung von Begriffszeichen zum Schrift- 
system nicht zuerkannt werden kann, außer höchstens in formaler Be- 
ziehung, und da erst bei der Entwicklung des fertigen Schriftsystems 
zur Technik der Keilschrift, also in einer der historischen Zeit verhält- 
nismäßig nahe liegenden Periode. Darüber vgl. unten Nr. 3. 

Die wichtigste Frage ist nun die nach den Hilfsmitteln, die 
zur Vervollkommnung der Ausdrucksfähigkeit der Schrift gedient 
haben mögen. Delitzsch hat sich bei seinen einschlägigen Unter- 
suchungen von den Meinungen der späteren Schriftgelehrten, wie 
sie in den Zeichennamen und in der Anordnung der Syllabare 
zum Ausdruck kommen, die Richtung weisen lassen. Ob wir 
auf diesem Wege wirklich dazu gelangen, Einblick zu gewinnen 
in den Prozeß der werdenden Schrift, muß trotz einzelner frap- 
pierender Fälle dahingestellt bleiben. Jedenfalls aber erfahren wir 
auf diesem Wege, wie sich die babylonischen Schriftgelehrten der 
historischen Zeit die Entstehung einer großen Anzahl von Zeichen 
gedacht haben, und ich kann nicht finden, daß das alles ohne 
Interesse wäre. Bei der Unsicherheit, die in der Erklärung noch 
herrscht, muß ich mir ein ausführliches Eingehen versagen und 
mich mit der Aufzählung einiger Beobachtungen begnügen, die 
in einigen Fällen sicher, in anderen wahrscheinlich das Richtige 
treffen; für Einzelheiten sei auf Delitzschs Untersuchungen verwiesen. 

Das beliebteste Mittel zum Ausdruck von Begriffen, die sich 
nicht unmittelbar durch ein konkretes Bild verdeutlichen lassen, 
ist ihre Auflösung in ihre Bestandteile. So wird Träne geschrieben 
mit den Zeichen für Wasser und Auge, Regen = Wasser -+- Himmel, 
Sohn = Kind -f- männlich, Tochter = Kind + weiblich. Diese 
Begriffe werden durch Aneinanderreihung der betreffenden Zeichen 
ausgedrückt, ohne daß es zur Bildung eines äußerlich einheitlichen 
Zeichens käme. In vielen Fällen ist es aber auf diese Weise zur 
Neubildung einheitlicher Zeichen gekommen, die im Verlaufe der 
Entwicklung oft kaum mehr ihre Entstehung erkennen lassen, 

Weber, Literatur. 2 


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18 


Einleitung. 


z. B. feindlich = Auge 4- böse, Hirte = Stab 4- tragen, Öl = 
Fett 4- Baum, Herrin = Weib 4- groß, König = groß 4- Mensch. 
Besonders beliebt war die Ineinanderschreibung von Zeichen zum 
Zwecke der Differenzierung; so schrieb man in das Zeichen für 
Mund die Zeichen für Speise, Wasser, Zunge ein, um die spe- 
ziellen Begriffe: essen, trinken, Sprache auszudrücken. 

Noch nicht völlig klar ist eine Gruppe von Zeichen, die die 
babylonischen Schriftgelehrten als gunu-Formen einfacher Zeichen 
erklären, Zeichen, die sich von gewissen anderen nur durch Zu- 
sätze, meist in drei oder vier wagerechten oder senkrechten Strichen 
bestehend, unterscheiden. Die dreizehn von den Babyloniern 
als gunu charakterisierten Zeichen, die sich, wie Delitzsch nach- 
weist, noch vermehren lassen, müssen nicht unbedingt als Poten- 
zierungen des im Grundzeichen ausgedrückten Begriffs aufgefaßt 
werden; meist decken sie sich vielmehr inhaltlich vollständig mit 
dem Grundzeichen, sie können wohl auch als vollständigere Aus- 
führung des entsprechenden Bildes angesehen werden. 

Noch weit problematischer ist, was Delitzsch als „Motive“ 
der Zeichenbildung glaubt auffassen zu können, d. h. Strichkom- 
positionen, die zur Differenzierung von Grundzeichen in einem 
bestimmten Sinne dienen. Aber auch hier muß zugegeben werden, 
daß es auffallend ist, wenn z. B. das Motiv der Vegetation in 
den Zeichen für Rohr, Garten, Anpflanzung, Wald sich gleicher- 
maßen findet wie in dem Zeichen für „zeugen“, bei dem wenigstens 
der hier in Betracht kommende Bestandteil sicher nicht auf eine 
bildliche Darstellung zurückgeführt werden kann. 

Für die Prinzipienfrage der Entstehung der Keilschrift ist ohne 
Belang die Frage nach der Entwicklung der Schrifttechnik, die 
Entwicklung im Gebrauch der gebogenen Linie, der geraden 
Linie und des Keils, die aufs innigste mit der Frage nach dem 
Schreibmaterial zusammenhängt. 

Es ist von vornherein klar, daß eine Bilderschrift in großem 
Umfange sich der gebogenen Linien bedient hat. Freilich sind 
uns aus jener Zeit der ersten Schreibversuche keinerlei inschrift- 
liche Zeugnisse überliefert. Die sog. „Hieroglyphentafel“ 1 aus 
Assurbanipals Bibliothek, in der man meist „die ältesten Bilder- 
formen der Keilschriftzeichen“ hat sehen wollen, lehrt uns im 
allerbesten Falle kennen, wie ein spätgeborener Schriftgelehrter 


1 Näheres siehe bei Delitzsch, Entstehung etc. S. 199 ff. 


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§ 4. System und Entwicklung der babylon. Keilschrift 19 

sich aus archaischen Zeichen etwaige Urformen herauskonstruiert 
hat Die Urbilder der bearbeiteten Zeichen waren dem Schreiber 
offenbar vollständig unbekannt, sonst wären seine Gebilde ihnen 
doch wenigstens einigermaßen ähnlich geworden. 

Viel wichtige? sind für die Erkenntnis des Verhältnisses der 
Schriftzeichen zu den möglicherweise zugrundeliegenden Bildern 
die sog. Monuments Blau und die Täfelchen von Djocha, mehrere 
Tafelfragmente, die unter allen Denkmälern, die wir kennen, tat- 
sächlich die ältesten Zeichenformen aufzuweisen scheinen und die 
krumme Linie noch ausgiebig verwenden. 

3. Das Material. 

Als Material 1 kann für die Zeit der Bilderzeichen unter 
Anwendung krummer Linien alles Mögliche in Betracht kommen, 
irgendetwas Sicheres läßt sich darüber nicht ausmachen. Dagegen 
muß in der Folgezeit die zur Aufgabe der krummen Linien führte, 
ein Material im Gebrauch gewesen sein, das die Anwendung 
krummer Linien erschwerte, also Holz oder Knochen, ln der 
Periode, in der diese Materialien vorherrschten, muß sich die aus- 
schließliche Anwendung gerader Linien vollständig und unausrott- 
bar eingebürgert haben; sie muß also bis in eine Zeit hinabreichen, 
in der die ursprünglichen Bilderzeichen schon mehr und mehr 
in Vergessenheit gerieten; diese Phase der Entwicklung fällt also 
wohl auch zusammen mit der Ausgestaltung des Schriftsystems, 
der Ergänzung des alten Bildermaterials durch ad hoc gewählte 
Strichzeichen. Dies ist die einzige plausible Erklärung für die 
Tatsache, daß in der dritten Periode, in der der weiche Ton, 
Stein und Metall als Schreibmaterial aufkamen, die eine Anwendung 
der krummen Linie wohl gestattet und damit die Andeutung 
erkennbarer Bilder wohl ermöglicht hätten, nie wieder auf die 
krumme Linie zurückgegriffen worden ist Erst in dieser Periode 
umfängt uns das Licht der Geschichte, stützen uns urkundliche 
Zeugnisse. Das herrschende Material ist von nun ab der weiche, 
ungebrannte Ton, und dieser hat die Schrifttechnik grundlegend 
beeinflußt durch die Ausprägung des charakteristischen Elementes 
des Keils, welcher nunmehr für die ganze Entwicklungszeit der 
Schrift ihr wesentliches Merkmal ist, der auch auf einem Material 
wie Stein oder Metall, bei dem er eigentlich widersinnig ist, stets 


1 Hierzu und zum Folgenden vgl. Peiser in MV AG, 1897, S. 23 ff. 

2 * 


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20 


Einleitung. 


angebracht wurde. Die Entwicklung, die die Schrift nunmehr 
genommen hat, ist eine rapid sich von dem Ursprung entfernende. 
Bei solennen Beurkundungen erhält sich zwar lange, bis auf 
Hammurabi, eine außerordentliche Sorgfalt und ein lapidarer Stil, 
der oft zu hoher technischer Vollendung gelangt Auch die Listen 
und Privaturkunden der Könige von Ur (ca. 2500), die uns in 
großen Mengen überliefert sind, zeigen immer einen strengen Stil, 
der den ornamentalen Grundzug der Schrift wahrt. Ganz anders 
nehmen sich die Kontrakte, Briefe der Hammurabiperiode (ca. 2200) 
aus. Hier ist eine dem flüchtigen Gebrauch sich anbequemende 
Kursive entwickelt worden, die nichts Ornamentales mehr an sich 
hat Hand in Hand damit geht eine gewisse Sorglosigkeit auf 
Kosten des überlieferten Zeichenbestandes. Einzelne Zeichen, die 
früher streng geschieden wurden, fallen zusammen, vgl. S. 13. 
Im großen und ganzen ist die babylonische Schrift dem in der 
Hammurabizeit ausgeprägten kursiven Typus für die ganze Folge- 
zeit treu geblieben, denn bei den „hieratischen“ Inschriften Nebukad- 
nezars II., der mit Vorliebe archaische Charaktere verwendete, 
handelt es sich lediglich um antiquarische Liebhaberei. 

Eine eigentümliche Entwicklung hat die Keilschrift in Assyrien 
genommen *. Wie die ersten Anfänge der politischen Geschichte 
Assyriens nach Mesopotamien weisen, so tauchen auch die ersten 
Spuren der Eigentümlichkeiten, die die assyrische Schrift von der 
babylonischen unterscheiden, dort auf. Die Korrespondenz des 
Mitannikönigs aus dem Archiv von Tel-Amama ist fast identisch 
mit der späteren, ausschließlich gebräuchlichen assyrischen Schreib- 
weise. In der ältesten Zeit, soweit das Material bis jetzt einen 
Überblick gestattet, jedenfalls aber zur Zeit Salmanassars I., Tukulti- 
ninibs 1. (ca. 1300) ist neben dieser assyrischen Schreibweise 
noch die altbabylonische im Gebrauch gewesen. Die stilistischen 
Verschiedenheiten der altassyrischen und der gleichzeitig in Baby- 
lonien gebräuchlichen Schrift schließen eine unmittelbare Ableitung 
der einen aus der andern vollständig aus. Für ihre Sonder- 
entwicklung muß daher eine Mittelstufe maßgebend gewesen sein, 
die an sich wieder eine bis zu einem gewissen Grad selbständige 
Entwicklung aus der altbabylonischen Schrift darstellt. Die Tat- 
sache, daß die Mitannikönige die „assyrische“ Schrift anwenden, 
läßt kaum einen Zweifel zu, daß diese Entwicklung sich im Kultur- 


1 Vgl. Winckler, Forschungen I S. 85 ff. 


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§ 5. Die Sprachen der Keilinschriften. 


21 


kreis des nördlichen Mesopotamien mit dem Mittelpunkt Haran, 
dem Reich der Kischschati, vollzogen hat, dessen innige Ver- 
knüpfung mit der assyrischen Geschichte zu allen Zeiten durch 
die Aufnahme des Titels „König der Kischschati“ in den offi- 
ziellen assyrischen Königstitel immer wieder geflissentlich betont 
worden ist Eigentümlich ist, daß die assyrische Schrift nie eine 
kursive Form entwickelt hat. Sie hat vielmehr stets einen archi- 
tektonischen Grundzug festgehalten, gleicherweise in solennen 
Königsmanifestationen wie in den flüchtigen Aufzeichnungen im 
brieflichen und geschäftlichen Verkehr. 

§ 5. Die Sprachen der Keilinschriften. 

1. Allgemeines. 

Wie auch sonst im alten Orient, so ist auch im Zweistrom- 
land zu unterscheiden zwischen Umgangssprache und Literatur- 
sprache. Da die erstere, auch in Privaturkunden, nur gelegentlich 
durchschimmert und zudem für die ältere Zeit — etwa von der 
Mitte des zweiten Jahrtausends an wird das Aramäische das immer 
weiter sich ausbreitende Verständigungsmittel der Bevölkerung — 
gar nicht bestimmt werden kann, können wir uns hier auf eine kurze 
Charakterisierung der Sprachen der Schriftdenkmäler beschränken. 

Als solche kommen vor allem in Betracht das Sumerische, 
Babylonische und Assyrische. Die übrigen in Keilschriften ver- 
tretenen Sprachen spielen in der Literaturgeschichte keine Rolle 
und können nur anhangsweise behandelt werden, 

Da sich schon in der ältesten Zeit die Schriftsprache nicht 
mit dem landesüblichen Idiom deckt, trägt sie schon in den 
ältesten Texten einen versteinerten, künstlich festgehaltenen Cha- 
rakter. Die ungeheure Spanne Zeit, die die ältesten von den 
jüngsten literarischen Erzeugnissen trennt — rund 3000 Jahre — 
hat die einzelnen Sprachen kaum merklich beeinflußt. Das ist 
nur verständlich, wenn man bedenkt, daß der offiziellen Sprache 
der Nimbus der Heiligkeit anhaftete, daß ausschließlich die Priester- 
kaste der Schrift kundig war, daß die konservierende Macht der 
priesterlichen Tradition auch der Fortpflanzung der Schriftsprache 
diente. Eine ähnliche Erscheinung bieten aus späterer Zeit das 
Hebräische und das Lateinische, die als Kultussprachen ja jetzt 
noch in Übung sind, wo kein Mensch sie mehr im täglichen 
Leben gebraucht; auch das Arabische des Koran wird, solange 
es Bekenner des Profeten gibt, die Literatursprache der arabisch 


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22 


Einleitung. 


sprechenden Völker immer in der Entwicklung hemmen, soweit 
auch der gesprochene Dialekt sich von ihr entfernen mag. 

2. Die sumerische Sprache. 

Literatur: Lehmann, Schamaschschumukin 1 S. 57 — 173(Assy- 
riol. Bibi. VIII, 1892). Weißbach, Dje Sumerische Frage, 1898. Fossey, 
Manuel d’Assyriologie I S. 269—381: Origine Sumerienne des Cunii- 
formes, 1904. Zur Einführung: Hommel, Sumerische Lesestücke, 1894. 

Die Babylonier selbst haben die nichtsemitische Sprache der 
alten Königsinschriften und der religösen Texte als li-scha-an 
schu-me-ri, sumerische Sprache, bezeichnet; in neuester Zeit ist ein 
zweisprachiger Text aus altbabylonischer Zeit aufgetaucht, der 
die semitische Version als „akkadisch“ bezeichnet. Durch diese 
inschriftlichen Zeugnisse ist das erlösende Wort in jahrzehnte- 
langem Streit gesprochen, man sollte meinen, auch für die, denen 
auch in wissenschaftlichen Fragen der sinnenfäilige Beweis allein 
zwingend scheint Auf die große Streitfrage, die Halevy aufge- 
worfen hat, die Frage nach der Existenz einer sumerischen Sprache 
überhaupt, brauche ich wohl nicht mehr einzugehen. Von In- 
teresse aber ist die Frage nach den innerhalb des Sumerischen 
vorliegenden Dialekten. Während man früher fast einstimmig 
die beiden Dialekte nach dem seit ca. 2500 bis in die späteste 
Zeit gebräuchlichen Königstitel: „König von Sumer und Akkad“ 
als sumerisch und akkadisch bezeichnete, wird nach dem eben 
erwähnten Täfelchen die Bezeichnung „akkadisch“ künftig aus- 
schließlich für das semitische Idiom Babyloniens gebraucht werden 
dürfen, während für die Unterscheidung der Dialekte innerhalb 
des Sumerischen ausschließlich die ihrem Sinn nach freilich noch 
nicht ganz durchsichtigen Termini eme-ku und eme-sal, oder aus 
lautgesetzlichen Erwägungen die Termini alt- und neusumerisch 
in Betracht kommen. 

Das Sumerische ist eine agglutinierende Sprache, d. h. sie 
bildet die grammatischen Verhältnisse nicht durch Modifikationen 
im Innern des Wortkörpers, durch Flexion, sondern ausschließlich 
durch Anfügung der bestimmenden Elemente an den völlig intakt 
bleibenden Stamm. Die wichtigsten syntaktischen Eigentümlich- 
keiten der sumerischen Sprache sind: Das Verbum steht am 
Schluß des Satzes, das Adjektiv vor dem Nomen, der Genitiv 
vor dem Substantiv, wo im Semitischen der status construdus steht, 
Postposition an Stelle der Präposition der die Beziehung andeu- 
tenden Elemente. In einzelnen Stücken ist freilich das Sumerische 


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§ 5. Die Sprachen der Keilinschriften. 


23 


schon in der ältesten Zeit sehr stark vom Semitischen beeinflußt 
worden. So hat sich nur in vereinzelten versteinerten Composita 
die alte Stellung des Adjektivs erhalten, während in der historischen 
Zeit bereits die semitische Stellung Regel wird; auch die Stellung 
des Genitivs gleicht sich bald und immer ausschließlicher der 
semitischen Übung an. Die Zersetzung der alten Sprache mit 
charakteristischen Elementen des semitischen Idioms ist ja ganz 
selbstverständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die Ver- 
mischung der sumerischen und semitischen Bevölkerungsteile einer 
für uns schon prähistorischen Zeit angehört, daß wohl kein 
einziger der überlieferten Texte von einem Verfasser herrührt, der 
noch Sumerer gewesen wäre, daß schon in der ältesten Zeit das 
Sumerische jedenfalls keine lebende Sprache mehr gewesen ist. 
Als besondere charakteristische Eigentümlichkeiten der sumerischen 
Sprache seien noch hervorgehoben: das Streben nach Vokal- 
harmonie und die außerordentliche Fülle der Lautübergänge \ bei 
den Vokalen der Übergang von u zu i, bei den Konsonanten 
beispielsweise die Übergänge bezw. Lautabwechslungen g zu m, 
n zu m, g zu d, d zu s, n zu 1, r zu 1, r zu d, n zu r, n zu d, 
s zu r, sch zu 1 und andere mehr. Diese lautlichen Übergänge 
finden sich zuweilen auch bereits in den Texten, die überwiegend 
in altsumerischer Sprache abgefaßt sind. Eine Zahl von Texten 
hebt sich aber augenfällig von den übrigen ab durch durchgehende 
Verwendung der jüngeren Wortformen 2 . Diese Texte bilden die 
Literatur des sog. neusumerischen Dialekts, den die babylonischen 
Grammatiker als eme-sal, d. i. Weibersprache (?) bezeichnen. 
Grundlegend für die Erkenntnis dieses Dialekts sind die aus 
Assurbanipals Bibliothek erhaltenen Listen, das dreisprachige 
Vokabular 5. R. 11 — 12, die dreisprachige Götterliste 2. R. 59 und 
auch das fünfspaltige Vokabular (Haupt, ASKT 1 85) 8 . Lange 
war die Frage strittig, ob die Dialekte in verschiedenen Gegenden 
gleichzeitig nebeneinander existiert haben; man glaubte zumeist 
auf Grund der mißverstandenen Zweiteilung Gesamtbabyloniens 
in Sumer und Akkad, sie als Dialekte Nord- und Südbabyloniens 
und dann richtiger Süd- und Nordbabyloniens auffassen zu müssen. 
Der Wahrheit näher kommt jedenfalls die Erkenntnis, daß es sich 
bei den dialektischen Verschiedenheiten um lautliche Entwicklungs- 

1 Vgl. die Zusammenstellung bei Hommel, Lesestücke S. 137 ff. 

2 Vor allem die sog. Bußpsalmen. 

3 Näheres siehe § 71. 


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24 


Einleitung. 


stufen handelt, die im ganzen sumerischen Sprachgebiet in gleicher 
Weise verbreitet waren. Dafür, daß es sich bei dem eme-sal- 
Dialekt um eine jüngere Erscheinung handelt, spricht auch der 
Inhalt der Texte. Aus inneren Gründen wird man die reiche 
Zauberformel- und Beschwörungsliteratur für älter ansehen müssen, 
als die Psalmen und Hymnen, die schon viel mehr als jene die 
Einflüsse des semitischen Geistes erkennen lassen, und gerade 
die letzteren sind es, die unverhältnismäßig mehr eme-sal-Formen 
aufweisen, ja teilweise vollständig im eme-sal-Dialekt abgefaßt sind. 

Auf die Frage nach den Verwandtschaftsverhältnissen des Sume- 
rischen einzugehen, muß ich mir versagen. So sehr ich persönlich ge- 
neigt bin, die sog. Turk-Hypothese Hommels 1 — die Verwandtschaft 
des Sumerischen mit dem Uralaltaischen — als wohlbegründet anzu- 
erkennen, muß ich doch Bedenken tragen, sie den Kreisen, an die sich 
dieses Buch vor allem wendet, als sichere Tatsache vorzutragen. Er- 
wähnt mag noch werden, daß Hommel auch einer lexikalischen Beein- 
flussung des Altägyptischen durch das Sumerische mit einleuchtenden 
Gründen das Wort redet. Solange unsere Kenntnis der sumerischen 
Sprache im einzelnen noch so unvollkommen ist, fehlt auch die erste 
Voraussetzung für die unwidersprechliche Entscheidung der Verwandt- 
schaftsfragen. Die Entscheidung dieser Fragen ist übrigens auch für 
die Religions- und Kulturgeschichte ungleich bedeutungsvoller als für 
die Literaturgeschichte. 

3. Die babylonische und assyrische Sprache. 

Literatur: Delitzsch, Assyrische Grammatik. Hommel, zu- 
letzt im Grundriß, S. 75 ff., woselbst auch die übrige einschlägige Lite- 
ratur nachgewiesen ist 

Die Stellung des Babylonischen und Assyrischen innerhalb 
der semitischen Sprachen ist lange Gegenstand wissenschaftlichen 
Streites gewesen. Hommels These, daß das Babylonische als 
ostsemitisch allen anderen semitischen Sprachen, die er als west- 
semitische zusammenfaßt, gegenüber eine besondere Stellung ein- 
nimmt, darf heute trotz gelegentlichen Widerspruchs als gesichert 
gelten. Die Gründe sind der Grammatik und dem Wortschatz 
entnommen und lassen sich durch die Vergleichung der Eigennamen- 
bildung und durch religionsgeschichtliche Erwägungen stützen. Hin- 
sichtlich der Unterschiede zwischen dem babylonischen und 
assyrischen Idiom der Denkmäler muß ich mich hier darauf be- 
schränken, zu konstatieren, daß sie vorhanden sind und analoge 
Erscheinungen aufweisen, wie etwa das Niederdeutsche zum 


* Vgl. jetzt dessen Grundriß S. 18 ff. 


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§ 6. Das Schriftwesen in Babylonien und Assyrien. 25 

Hochdeutschen. Leider verhüllt das der Sprache nicht entsprechende 
Schriftsystem die Mehrzahl ihrer lautlichen Besonderheiten. Auf- 
fallend ist für das Babylonische, namentlich der Hammurabizeit, 
das Überwiegen unkontrollierter Formen. Leider fehlt bis heute 
eine vergleichende Grammatik des Babylonischen und Assyrischen 
und wird auch bei der nivellierenden Wirkung des Schriftsystems 
auf absehbare Zeit kaum möglich sein. Dasselbe ist der Fall mit 
den in Assurnagrpals Inschriften und namentlich in der Briefliteratur 
häufig durchschimmernden vulgären Formen, die -bisher eine zu- 
sammenfassendephilologischeWürdigung noch nicht erfahren haben. 

§ 6. Das Schriftwesen in Babylonien und Assyrien. 

1. Die Schreiberzunft und die Terminologie. 

Die Schreibkunst (dupscharrutu) wurde ausschließlich von 
der Priesterschaft gepflegt. Der Tafelschreiber (dupscharru) wird 
lediglich nach seiner Schreibertätigkeit bezeichnet, ohne Rücksicht 
darauf, ob er der Verfasser oder der Kopist des Textes ist. 
Innerhalb der Schreiberzunft scheint eine gewisse Organisation 
bestanden zu haben. So ist der Titel rab dupschar (Oberschreiber) 
erhalten, einen noch höheren Rang nahm der dupschar scha mäti, 
wörtlich „der Schreiber des Landes“, ein. In dem amelu scha 
eli duppäni werden wir den Bibliothekvorsteher zu sehen haben. 

Einen interessanten Einblick in die Art und Weise, wie der 
junge dupscharru, der künftige Tafelschreiber, und, was damit viel- 
leicht sachlich gleichbedeutend ist, der angehende babylonische 
„Gelehrte“ in seinen schweren Beruf Schritt für Schritt eingeführt 
worden ist, gönnen uns die sehr zahlreich überlieferten Lehrbücher 
aus den Arbeitssälen babylonischer Elementar- und Hochschulen, 
von denen in § 7 1 ausführlicher die Rede sein wird. Von den 
primitivsten Schreibversuchen und -Aufgaben, wo die einzelnen 
Zeichenelemente, wie Keil, Winkelhaken in endloser Wiederholung 
geübt werden, an bis zu den Vokabularien und Synonymenlisten, 
Paradigmensammlungen u. a., die als Handbücher des sprachlichen 
Unterrichts ebenso zu gelten haben, wie die wohl den letzten 
Klassen vorbehaltenen Übersetzungsproben zusammenhängender 
Texte epischen, hymnologischen , dämonologischen oder sonst 
welchen Inhalts, können wir den jungen Babylonier und Assyrer 
auf seinem Weg ad Pamassum verfolgen, der sicher noch wesent- 
lich dornenvoller war, als der seines vielgeprüften modernen 
Leidensgenossen vom Gymnasium. 


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26 


Einleitung. 


Bei den Inschriften selbst werden verschiedene Arten 
unterschieden. Die gewöhnliche ist duppu, pl. duppäni, das ist 
die Tafel schlechthin. Narü hat allgemein die Steininschrift be- 
zeichnet Es spricht alles dafür, daß mit narü auch speziell eine 
Steintafel bezeichnet wurde, die in einem freigelassenen Raum 
oder in einem Behälter in die Grundmauer als Gründungsurkunde 
eingelassen zu werden pflegte. Die Gründungsurkunde, Prisma 
oder Zylinder, aus Ton wurde temennu genannt. Asumetu be- 
zeichnet eine Steintafel oder Stele in besonders kunstvoller Aus- 
führung, dupgallu eine Tafel von besonders großen Dimensionen, 
Ausdrücke wie li’u, dannltu werden synonym mit duppu ge- 
braucht, ihre spezielle Bedeutung ist, wenn sie eine solche hatten, 
noch unbekannt. Der Schreibstift wird als qän duppi bezeichnet. 

Eine große Rolle spielen im babylonisch-assyrischen Schrift- 
wesen Original und Kopie. Die allgemeine Bezeichnung eines 
Schriftstückes als eines „Exemplars“ ist gabru, nis-chu, das Original 
speziell wird als labiru bezeichnet, daraus werden Auszüge ($atu) 
gefertigt. Die Herstellung der Kopie wird vermerkt mit den 
Worten Kima labiri-schu schathir, „seinem Original gemäß abge- 
schrieben“. Die Kopien selbst wurden mit größter Sorgfalt her- 
gestellt; sehr oft wird hervorgehoben, daß die Abschrift kollationiert 
(barü) worden ist Wenn das Original an einer Stelle undeutlich 
ist, finden sich Vermerke, wie chi-bi, „verwischt“, „zerstört“, ul 
idi, „ich weiß nicht“ (oder = es ist unkenntlich?), einmal auch 
in der Form: duppi ul schalim ul alsisch, „die Tafel ist nicht 
gut erhalten, ich konnte es nicht lesen“. Von demselben Original 
wurden oft mehrere Kopien angefertigt. Gabru hat gelegentlich 
auch die Bedeutung „Duplikat“. 

2. Das Schreibmaterial und seine Formen. 

Die weitaus größte Zahl der babylonisch-assyrischen Inschriften 
ist auf Ton (thithu) geschrieben, und zwar von den allerältesten bis 
auf die jüngsten. Dieses Material hat ja auch die Schrifttechnik 
durch die Ausbildung des Keils aufs wesentlichste beeinflußt. 
Der Ton wird entweder an der Luft getrocknet, oder, was seine 
Haltbarkeit erhöht, gebrannt. Daneben war von Anfang an be- 
sonders bei feierlichen Manifestationen die Niederschrift auf Stein, 
besonders Marmor, Alabaster, Diorit üblich, namentlich liebte man 
es, Königsstatuen aus Marmor und Diorit, Alabasterplatten, die in 
die Wände der Tempel und Paläste eingelassen waren, mit feier- 



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§ 6. Das Schriftwesen in Babylonien und Assyrien. 27 

liehen Inschriften zu versehen. Gelegentlich sind, besonders auf 
Eroberungszügen, Inschriften in natürliche Felsen eingegraben worden 
(Inschriften Tiplatpilesers I. und einiger seiner Nachfolger in der 
Grotte des Sebneh-Su, Bavianinschriften Sinacheribs, Wadi Brissa- 
lnschriften Nebukadnezars, Behistuninschriften des Darius u. a.). 
Von Sargon II. sind uns Inschriften auf Tafeln aus Gold, Silber, 
Bronze und Antimon erhalten. Außerdem wissen wir, daß auch 
vergänglicheres Schreibmaterial, wie z. B. Zypressenholz verwendet 
worden ist, wie auch die Annahme, daß die Babylonier den 
Papyrus gekannt und zu schriftlichen Aufzeichnungen benutzt 
haben mögen, keineswegs von der Hand zu weisen ist, wenn 
uns auch keinerlei derartige Inschriften überliefert sind. 

Außerordentlich mannigfaltig sind die Formen der mit 
Inschriften versehenen Materialien. Von Statuen war schon die 
Rede; außer diesen wurden figürliche Darstellungen aller Art be- 
schrieben, so die großen Stierkolosse, die die Eingänge der Paläste 
schmückten (Sargon, Sinacherib), Reliefdarstellungen von den 
ältesten Zeiten an, Vasen aus Stein und Metall gleichfalls schon 
in sehr alter Zeit, Metallfiguren, Säulen, Grenzsteine. Besonders 
beliebt war die Phallusform, deren Verwendung religiös begründet 
war. (Auch der Codex Hammurabi ist auf einen Dioritblock 
in Phallusform geschrieben.) Neben den Steinplatten, die in 
Tempel- oder Palastmauern eingelassen wurden, dienten die Mauern 
selbst, Architekturteile, Türsteine, Fenstergesimse, auch Pflasterteile 
der Anbringung von Inschriften. 

Von unerschöpflicher Mannigfaltigkeit sind die Formen, die 
dem gebrannten oder luftgetrockneten Ton gegeben werden. Am 
häufigsten treten Tontafeln auf, die wieder nach Größe und Dicke 
außerordentlich große Verschiedenheit aufweisen. Die Tafeln der 
Bibliothek Assurbanipals differieren zwischen etwa 40 x 25 cm 
und 3 x 2 cm bei einer durchschnittlichen Dicke von 2 */ s cm. 
Häufig kommen vor: Tonprismen mit sechs, acht oder zehn Seiten, 
Prismoide, Zylinder, Kegel. 

Auch die Färbung des Tons ist sehr verschieden; neben tief- 
schwarzen Tafeln finden sich graue, braune, rote in allen Nüancen. 

3. Die Bibliothek Assurbanipals. 

Vgl. die Einleitung zu Bezold, Catalogue Bd. V; Bezold, Ninive 
und Babylon S. 62 ff. u. Zentralbl. f. Bibliothekswesen 1904, Juni. 

Fast alles, was wir an babylonischen Denkmälern, die unter 
den Begriff Literatur im engeren Sinne fallen, besitzen, entstammt 


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28 


Einleitung. 


der sog. Bibliothek Assurbanipals, eines der letzten assyrischen 
Herrscher (668—626), deren eine Hälfte 1849/50 von Layard im 
Palast Senacheribs, dem Südwestpalast, deren andere 1853 von 
Hormuzd Rassam im Nordpalast Assurbanipals zu Kujundschik, der 
Stätte des alten Ninive, aufgefunden wurden. 

Dem Inhalt nach umfaßt die Bibliothek vor allem die litera- 
rischen Stücke, die die Vergangenheit überliefert hat, wie Mythen 
und Epen, Hymnen, Psalmen, Beschwörungstexte, Ominasamm- 
lungen, rituelle Formulare. Daneben chronologische Listen, Briefe 
und Rapporte von Königen, Feldherren, Beamten, Privatleuten 
über kriegerische Ereignisse, Tributzahlungen, Ausführung von 
Bauten aller Art, Verwaltungsberichte der Gouverneure in den 
Provinzen u. a. In großer Fülle sind vertreten: astronomische 
Aufzeichnungen und Berechnungen, Tabellen von Maß- und Ge- 
wichtseinheiten, Hemerologien. Für unsere Kenntnis der Keil- 
schriftsprachen von größter Bedeutung sind die offenbar ursprüng- 
lich didaktischen Zwecken dienenden Listen von Keilschriftzeichen, 
Wortlisten nach Bedeutung und Aussprache, den sog. Syllabaren, 
Verzeichnisse der verschiedensten Begriffskategorien, wie Pflanzen, 
Tiere, Tempel, Götter etc., Compendien von Synonymen, gramma- 
tischen Schulbeispielen und anderes mehr. 

Die in der Bibliothek vereinigten Tafeln tragen sämtlich eine 
kürzere oder längere Signatur, in erster Linie den Eigentums- 
vermerk, gelegentlich auch Angaben über das Verhältnis der für 
die Bibliothek hergestellten Kopie zum Original, den Lagerort 
und die Beschaffenheit des Originals. Tafeln, die einem größeren 
Zusammenhang angehören, sind numeriert; nie fehlt der Folge- 
weiser, der die Anfangszeile der nächstfolgenden Tafel angibt. 
Wie es auch sonst bei der Setzung von Inschriften üblich war, 
so wird auch in den Schlußworten der Bibliothektafeln häufig 
die Schonung der Tafel den Nachgeborenen unter Segensver- 
heißungen empfohlen, vor ihrer Vernichtung unter Verwünschungen 
und Drohungen gewarnt 

So lautet z. B. das Schlußwort der zweiten Tafel der unter 
dem Namen Schurpu laufenden Serie von Beschwörungstexten 
(vgl. Zimmern, Beiträge S. 10 ff. in Assyriol. Bibi. XII): 

Beschwörung. — ‘"Bann jeder Art, der einen Menschen, ein 
Kind seines Gottes befällt, löst der Priester derGötter, Marduk • • l . 


1 • • 1 Folgeweiser, Anfangszeile der 3. Tafel. 


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§ 6. Das Schriftwesen in Babylonien und Assyrien. 29 
2. Tafel Schurpu. 

Palast Assurbanipals, des Königs der Welt, des Königs von Assyrien, 
der auf Assur und Belit vertraut, 

dem Nebo und Tasmitu 1 * ein weitreichendes Ohr schenkten, 

der ein helles Auge erhielt, 

die edle Tafelschreibkunst, 

wie sie unter den Königen, meinen Vorfahren, 

kein einziger erlernt hatte. 

Die Weisheit Nebos *, so viele ihrer gebildet, 

schrieb ich auf Tafeln, fügte zusammen, sichtete ich (?). 

Damit ich sie anschauen und lesen könne, 
legte ich sie in meinem Palaste nieder, [Assurs. 

ich, der Herrscher, der da kennt das Licht des Königs der Götter, 
Wer immer sie wegnimmt, oder seinen Namen neben meinen 

Namen schreibt, 

den mögen Assur und Belit in Zorn und Grimm 
stürzen, seinen Namen, seinen Samen von der Erde vertilgen! 
Viele Tafeln tragen nur den kurzen Eigentumsvermerk, den 
Archetypus des Exlibris: 

Besitzt?) Assurbanipals, des Königs der Welt, des Königs von 

Assyrien 3 . 

Für diese Bibliothek Assurbanipals hat es auch nicht an 
Originalkatalogen gefehlt 4 . So sind Kataloge zu Beschwörungs- 
formeln, zu Ominasammlungen, zu dem großen Astrologischen 
Werk und auch zu Epen, Fabeln etc. vorhanden ; Näheres s. § 7 1 ,VII. 

Die Quellen für die in Assurbanipals Bibliothek vereinigten 
Literaturschätze sind die an den alten Kultzentren aufbewahrten 
Originale oder Kopien; vornehmlich scheint das Mardukheiligtum 
in Babel von Assurbanipals Kopisten durchforscht worden zu 
sein. Bei anderen Texten sind Assur, Kutha als Aufbewahrungsort 
der Vorlage genannt, bei anderen Agade und Nippur. Gelegent- 
lich wird auch ein Privatmann als Besitzer der Vorlage genannt. 

§ 7. Die Wiederauffindung der Keilschriftdenkmäler 
und ihre Sammlung in modernen Museen. 

Literatur: Zur Geschichte der Ausgrabungen s. Hommel, Ge- 
schichte Bab. u. Assyr. S. 58 ff. Hilprecht, Explorations in Bible Lands 

1903, deutsche Ausgabe: Die Ausgrabungen in Assyrien und Babylonien 

1904. Zehnpfund, Die Wiederentdeckung Ninives (AO. V, 3). 


1 Nebos Gemahlin. 

3 Die Worte ti-qip sa-an-ta-ak-ki sind noch unerklärt, etwa „zur 
Stärkung der Menschheit“ (?). 

3 Diese Notiz wurde offenbar mit einem Stempel aufgedrückt. 

4 Vgl. die Zusammenstellung bei Bezold, Catalogue V S. 1997. 


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30 


Einleitung. 


Die wichtigsten Ruinenstätten, die bis heute mehr oder 
weniger gründlich ausgegraben worden sind, sind in Assyrien 
Ninive, wo Layard, O. Smith, Rassam mit größerer Unterbrechung 
von 1820 — 1881; Chorsabad, wo Botta und Place 1842 — 1845, 
1852; Nimrud-Kalach, wo Layard 1852 — 1854 gegraben haben. 
In jüngster Zeit ist die Stätte des alten Assur mit großem Erfolg 
von der Deutschen Orientgesellschaft in Angriff genommen worden, 
ln Babylonien sind Babel, Borsippa und Ur durch die Engländer 
Loftus, Taylor, Rawlinson 1849 — 1855 und die Franzosen Fresnel 
und Oppert 1851 — 1854 durchforscht worden. Telloh ist durch 
de Sarzec 1874 — 1890, Sippar durch Rassam 1881, Scheil 1895, 
Nippur seit 1888 von der amerikanischen Universität Philadelphia 
unter Peters, Haynes und vor allem Hilprecht erschlossen. Die 
Ruinen Babels, die vorher nur oberflächlich ausgebeutet worden 
waren, werden seit 1891 durch die Deutsche Orientgesellschaft 
planmäßig freigelegt Die französischen Ausgrabungen in Susa 
durch de Morgan und Scheil sind noch im Fortschreiten und 
bringen überraschende Funde auch babylonischer Herkunft, vgl. 
vor allem den berühmten Codex Hammurabi, zutage. 

Unter den Museen, die die wiedergewonnenen Denkmäler 
verwahren, überragt durch seine Reichhaltigkeit und Bedeutung 
alle anderen das Britische Museum in London. Sein wertvollster 
Schatz ist die Bibliothek Assurbanipals aus dem Hügel Kujundschik 
des alten Ninive; daneben aber besitzt es zahllose Denkmäler aller 
Art und jeden Alters aus den verschiedensten Hügeln, so nament- 
lich die wichtigsten assyrischen Königsinschriften aus Ninive 
und Assur. — Den Stolz der Sammlungen des Louvre in Paris 
bilden die altbabylonischen Denkmäler aus Telloh, die Funde in 
Chorsabad, dem Palast Sargons II., und Susa. Die Resultate der 
Ausgrabungen in Nippur sind zum großen Teil über den Ozean 
in das Museum von Philadelphia gewandert Durch den glück- 
lichen Fund der Tempelbibliothek, deren sämtliche Stücke min- 
destens aus dem dritten Jahrtausend stammen sollen, dürfte dieses 
Museum wie seither das Britische, zum Mekka für die Assyriologie 
werden, wenn es gelingt, die Schätze wohlbehalten unter Dach 
und Fach zu bringen. Dem Berliner Museum ist in den Aus- 
grabungen in Babel, Farah und vor allem Kal’at Scherkat-Assur 
eine ergiebige Quelle erschlossen worden. Das Museum in 
Konstantinopel, aus dem bisher leider nur allzu spärliche Kunde 
dringt, sammelt beständig wachsende Reichtümer aus den Abgaben, 


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§ 7. Die Wiederauffindung der Keiischriftdenkmäler. 31 

die die ausgrabenden Nationen, namentlich Amerika, von ihren 
Funden zu entrichten haben. Neben diesen Hauptzentren der 
Keilschriftdenkmäler bestehen eine ganze Reihe kleinerer öffentlicher 
und privater Sammlungen, so namentlich in Kairo, New-York, 
Rom, Florenz, Venedig, Marseille, Paris, Lissabon, Leipzig usw. 

Eine Hauptquelle der Ergänzung der Denkmälerbestände der 
Museen ist der gelegentliche Kauf von Händlern. Es ist unmög- 
lich, den Raubbau an den Ruinen durch die Eingeborenen völlig 
zu unterbinden, seitdem diese die Denkmäler wegen der Preise, 
die der Franke für sie bezahlt, als bequeme und reichliche Ein- 
nahmequelle schätzen gelernt haben. Durch den Zwischenhandel 
befinden sich ständig beträchtliche Mengen von beschriebenen 
Tafeln im Umlauf. Bei solchen Erwerbungen läßt sich freilich 
die so überaus wichtige Feststellung der Fundstätte nur dann 
mit Sicherheit vornehmen, wenn innere Gründe alle Zweifel 
ausschließen. 

Unausbleiblich war bei der wachsenden Nachfrage nach 
Keilschriftdenkmälern der Versuch, Fälschungen in den Handel 
zu bringen. Glücklicherweise stehen diesem Industriezweige unge- 
heure Schwierigkeiten in der Herstellung entgegen, so daß es fast aus- 
schließlich Siegelzylinder oder andere bildliche Darstellungen sind, 
die meist nur auf kurze Zeit den Kenner zu täuschen vermögen. 

Wenigstens einige der großen Denkmälersammlungen sind 
bemüht, ihre Schätze den Fachgenossen durch groß angelegte 
Publikationen zu erschließen. Vorbildlich geht auch hier wieder 
die Verwaltung des Britischen Museums voran, namentlich durch 
die Ausgabe eines Katalogs der berühmten Bibliothek Assur- 
banipals, der in fünf starken Bänden mit an 20000 Nummern 
durch Bezold hergestellt worden ist, sodann aber durch fortlaufende 
Textpublikationen, deren erste Reihe, „The cuneiform inscriptions 
of Western Asia“ in fünf Bänden die Grundlage geworden ist, 
auf der sich die Assyriologie aufgebaut hat. Eine neue Serie 
„Cuneiform texts from Babylonian Tablets“ ist bereits bis zur 
21. Lieferung von je 50 Tafeln gediehen und soll allmählich alle 
wichtigeren Inschriften des Museums der gelehrten Welt zugänglich 
machen. Das Museum zu Philadelphia gibt in „The Babylonian 
expedition of the University of Pennsylvania“, Serie A, ausge- 
zeichnete, nur leider sehr langsam fortschreitende Textpublikationen. 
Die Verwaltung der Berliner Museen und die Deutsche Orient- 
gesellschaft haben in den „Mitteilungen aus den vorderasiatischen 


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32 


Kap. 1 : Die poetische Literatur im allgemeinen. 


Sammlungen“ und in den „Wissenschaftlichen Veröffentlichungen 
der Deutschen Orientgesellschaft“ Publikationsorgane geschaffen. 
Die Sammlungen des Louvre werden zumeist durch Einzelpubli- 
kationen zugänglich gemacht, doch sind die Resultate der Aus- 
grabungen in Telloh zum großen Teil gesammelt in den „Dicou- 
vert es en Chaldee“, während die in Susa gefundenen Denkmäler in 
der Serie „Delegation en Perse, Memoires etc.“ fortlaufend mit nicht 
genug zu rühmender Schnelligkeit zugänglich gemacht werden. 

Bei dem fast beängstigenden Wachstum des Materials wäre 
einer planmäßig sich ausbauenden Wissenschaft freilich am meisten 
gedient durch Veröffentlichung von Repertorien oder Katalogen 
nach dem Muster des Bezoldschen über die Bibliothek Assur- 
banipals. Leider ist dieser Katalog bisher der einzige seiner 
Art geblieben. 


Kap. i: Die poetische Literatur im allgemeinen. 

§ 8. Einteilung und allgemeine Charakteristik. 

Von poetischen Erzeugnissen, die künstlerische Qualitäten 
besitzen oder wenigstens anstreben, kommen innerhalb der baby- 
lonischen Literatur epische und lyrische Stücke in Betracht. 

Nun hat wohl Zimmern 1 die Vermutung ausgesprochen, 
daß wir in dem Text K 3476 (CT XV, 44 u. 43) „den ersten 
urkundlichen Beweis“ haben, „daß auch bei den Babyloniern, 
wie vielfach anderwärts, so namentlich auch bei den Griechen, 
die alten Göttermythen im Kultus dramatisch aufgeführt worden 
sind. Anscheinend handelt es sich in Babylonien dabei nur 
um eine pantomimische Darstellung, ohne begleitende Rede der 
Darsteller. Doch wird ausdrücklich der , Sänger' erwähnt, der 
zwischen einzelnen Akten der Darstellung bestimmte Gesänge 
gesungen hat.“ Der in dem „Festspiel“ behandelte Text scheint 
eine — von der bekannten allerdings stark abweichende — Rezension 
des Weltschöpfungsmythus zu sein. Leider hat Zimmern die in 
Aussicht gestellte ausführliche Behandlung des schwierigen Textes 
noch zurückgehalten. Wenn er auch den Beweis erbringen sollte, 


1 Vgl. Mitteilungen der Vorderasiat. Gesellschaft, 1903, III S. 16. 
— A. Jeremias, Monoth. Strömungen S. 24. 


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§ 8. Einteilung und allgemeine Charakteristik. 33 

daß dramatische Vorführungen in Babylonien bei Gelegenheit der 
großen Feste üblich waren, so gibt er doch nicht den Text des 
Dramas selber, sondern ist höchstens als ein Regiebuch anzusehen, 
das Anweisung gibt zur kultischen Nachbildung einzelner aus 
dem Mythus bekannter Vorgänge. 

Man wird aber überhaupt zugeben müssen, daß mimische 
Darstellungen auch sonst im Kultus üblich waren. Namentlich 
das Zeremoniell der Beschwörungshandlung läßt sich kaum anders 
als durch verschiedene Personen durchgeführt denken; das so 
häufige Intermezzo des Zwiegesprächs zwischen Marduk und 
seinem Vater Ea legt das besonders nahe. Zu mimischer Dar- 
stellung war vielleicht auch das babylonische Seitenstück zum 
Buch Hiob, der Text „Ich will preisen den Herrn der Weisheit“ 
(vgl. § 39, 1) bestimmt Wenn es also an Ansätzen zur drama- 
tischen Dichtung auch in Babylonien nicht zu fehlen scheint, so 
ist doch die bisher erhaltene poetische Literatur, soweit sie in 
ihrer Anlage sicher erkennbar ist, auf Erzeugnisse des epischen 
und lyrischen Stils beschränkt. 

Das babylonische Epos bietet mythologische Stoffe in erzäh- 
lender Form: es füllt wie überall die Lücken der Überlieferung 
mit dem Vorstellungsapparat der Weltanschauung aus, es ver- 
knüpft die irdischen Erscheinungen im politischen und kulturellen 
Leben mit den letzten Ursprüngen alles Weltgeschehens, mit der 
Urgeschichte der Welt überhaupt, mit den allen Dingen einen 
Anfang setzenden göttlichen Wirkungen. Die Götter sind in dem 
Stufenbau ihrer Vorstellung von der Weltgeschichte nichts anderes 
als die Vorläufer der Menschheit in der Herrschaft über das All, 
gerade wie die Menschheit vor der Flut eine Zwischenstufe in dieser 
entwicklungsgeschichtlichen Reihe bildet und zur neuen Erde und 
den Menschen der neuen Zeit aus ihrem, dem Heroenzeitalter, her- 
überleitet. Danach gliedert sich der Überlieferungsstoff von selber 
in Götter- und Heroengeschichten, wobei das Gesetz vom ewigen 
Kreislauf alles Geschehens es mit sich bringt, daß auch in der 
neuen Zeit und auf der neuen Erde sich immer wieder dieselben 
Marksteine aufweisen lassen und zu immer neuer Übertragung 
der charakteristischen Motive aus den Zeitaltern der ersten Ur- 
sprünge führen. So kommt zu den Götter- und Heroengeschichten 
die Geschichtslegende, deren Tendenz es ist, geschichtliche 
Ereignisse dem großen Ganzen der Weltgeschichte einzugliedern 
ihren typischen Platz in ihrem Zusammenhang aufzuzeigen. 

Weber, Literatur. 3 


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34 


Kap. 1 : Die poetische Literatur im allgemeinen. 


Innerhalb der lyrischen Dichtung lassen sich vornehmlich 
Hymnen, Gebete, Psalmen und Beschwörungsformeln unter- 
scheiden, über deren literarischen Charakter man unten § 35 ver- 
gleiche. Die kulturgeschichtliche Bedeutung dieser Erzeugnisse 
liegt in ihrem praktisch-religiösen Charakter. Erschließt uns der 
Kreis der epischen Gestaltungen die babylonische Welten- und 
Götterlehre, so offenbart sich in ihnen das Verhältnis zwischen 
dem Menschen und den Göttern oder seinem Gott, erschließen 
sich die sittlichen Eigenschaften und Wirkungen der Götter und 
auch die sittlichen Voraussetzungen, die der Mensch seinerseits 
zu erfüllen hat, wenn er mit der Gottheit in dem wünschens- 
werten Zusammenhang bleiben will; sie zeigen die Möglichkeiten 
auf, wie beide sich entfremden, und geben die Mittel an die Hand, 
die gelösten Beziehungen wiederherzustellen. Sie sind die 
intimen Zeugnisse persönlicher Religiosität und finden oft einen 
überaus ergreifenden Ausdruck für alle Höhen und Tiefen der 
Empfindung, welche Gottesnähe und Gottesferne in gleicher Ein- 
dringlichkeit, aber mit künstlerisch so verschiedenartigen Mitteln 
in religiösen Naturen auslösen. 

Das individuelle Element ist auf Gebete, Hymnen und 
Psalmen beschränkt und findet sich in den Beschwörungsformeln 
nur insoweit, als sie Bestandteile dieser eben genannten Gattungen 
aufweisen. Es hat auch nie vermocht, die Religion wirklich tief- 
gehend zu beeinflussen. Das' hängt aufs innigste zusammen mit 
der in § 1 geschilderten absoluten Kontinuität alles babylonischen 
Wesens, vornehmlich aber aller Religionsübung, und so ist es 
leicht verständlich, daß auch die intimsten Zeugnisse individuellen 
Lebens in ihrer literarischen Überlieferung vollständig von allem 
Persönlichen losgelöst erscheinen, daß sie als ein unverlierbarer 
Bestandteil des kultischen Inventars durch die Jahrhunderte, ja 
Jahrtausende hindurch weitergegeben worden sind, ohne daß 
jemand von all den Tausenden, die sich an ihnen getröstet und 
erbaut, oder mit ihren Worten ihre Nöte und Sorgen vor die 
Gottheiten gebracht haben, von dem ersten Sänger und den Ver- 
hältnissen, die das Lied hatten entstehen lassen, Kunde bekam. 

Die Anonymität aller, auch der persönlichsten, literarischen 
Produktion liegt in dem starren Formalismus des Kultus begründet, 
dem sie diente. Sie erschwert die geschichtliche Betrachtungs- 
weise der Literatur so sehr, daß eigentlich nur eine lückenlose 
Traditionsreihe hinreichendes Material zu seiner geschichtlichen Wür- 


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§ 9. Die poetischen Formen. 


35 


digung bieten könnte. Dazu kommt als natürliche Folge eine 
unseren modernen Begriffen vollständig fremdartige Auffassung 
oder besser ein vollständiges Fehlen des literarischen Eigentums- 
rechtes. Ein einmal vorhandenes Literaturstück war vogelfrei 
und dem Belieben literarischer Eklektiker und Kompilatoren aus- 
geliefert So ist es nur natürlich, daß im Lauf der Zeit die 
Einheitlichkeit dichterischer Erzeugnisse immer seltener wird, daß 
Literaturstücke sich als aus den verschiedenartigsten Elementen 
zusammengeschweißt ausweisen, aus oft ganz auseinanderliegenden 
Teilen, die gleichzeitig außerdem noch eine Sonderexistenz führen. 

Leider fehlen uns heute in den allermeisten Fällen alle 
Mittel, diesen literarischen Prozeß in seinen einzelnen Phasen 
bloßzulegen. Bei manchen epischen Stücken, wie dem Welt- 
schöpfungsepos, dem Gilgameschepos, geben uns verschiedene 
Rezensionen aus verschiedenen Zeiten und Paralleltexte wohl hin 
und wieder Fingerzeige. Bei einzelnen lyrischen Stücken sind 
wir in der Lage, den Nachweis ihres kompilatorischen Charakters 
wenigstens annähernd zu liefern. Bei der größten Zahl der Texte 
aber fehlt für die Geschichte der Überlieferung jeder nähere 
Anhaltspunkt (vgl. auch noch § 1). 

§ 9. Die poetischen Formen. 

Literatur: Zimmern in ZA. VIII S. 121 ff., Beiträge S. 53, 
ZA.X S. 1 ff., XII S. 382 ff. bei Gunkel, Schöpfung u. Chaos S. 401 a. 1; 
Delitzsch, Weltschöpfungsepos S. 60 ff. 

Die metrische Form ist in den uns überlieferten Rezensionen 
poetischer Stücke nur selten im Original auch äußerlich einheit- 
lich und streng durchgeführt, und zwar sowohl hinsichtlich der 
Strophenbildung als auch hinsichtlich der Zahl der Hebungen. 
Ausnahmen bilden z. B. ein von Zimmern in ZA X S. 1 ff. mit- 
geteilter Text, der die größeren und kleineren Glieder konsequent 
durch Striche abteilt; ähnlich ist es bei einem von Scheil in ZA 
X 291 ff. publizierten Text. Meistens ist jede äußerliche An- 
deutung des Metrums zu vermissen. Regelmäßig aber werden 
die einzelnen Verszeilen getrennt geschrieben, häufig die Halb- 
verse durch Zwischenräume voneinander getrennt, keineswegs 
aber immer in konsequenter Durchführung. 

Die gebräuchlichste Form der babylonisch-assyrischen Poesie 
zeigt folgende Einheiten: 

Eine Strophe, bestehend aus zwei Versen, jeder Vers aus 
zwei Halbversen, jeder Halbvers aus zwei Hebungen. 

3* 


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36 Kap. 1: Die poetische Literatur im allgemeinen. 

Am strengsten ist die metrische Form durchgeführt in dem 
Epos Enuma elisch und hier wieder in dem Stück 82 — 9 — 18,3737 
der IV. Tafel, welche die Halbverse deutlich markiert Aus dieser 
Tafel hat Delitzsch fünf Gesetze abgeleitet, die mit verhältnismäßig 
seltenen Ausnahmen respektiert werden: 

1. Jede Zeile zerfällt in zwei Halbzeilen; 

2. Die zweiten Halbzeilen unterliegen einem strengeren rhyt- 
mischen Gesetz als die ersten; 

3. Die zweite Halbzeile hat nicht mehr als zwei Haupt- 
hebungen, bestehend aus zwei betonten, sei es langen oder ge- 
schlossenen Silben. Eine dieser Silben kann auch eine kurze, 
offene Silbe sein. Die Partikeln u, scha, ana, ina, dann 1, a-a, 
schut, la, lü zählen nicht mit, wohl aber ischtu. 

4. ln der ersten Hauptzeile können statt zwei auch drei 
Haupthebungen Vorkommen ; 

5. Die einzelnen Verse verbinden sich zu Strophen von je 
2 + 2 Versen, oder zu Halbstrophen von je 1 + 1 Versen. 

Damit sind aber lediglich allgemeine Gesichtspunkte für die am 
häufigsten auftretende metrische Form gewonnen. Zimmern kon- 
statiert z. B. in den Schurpu-Tafeln (Beiträge S. 53) Verse von 
2 + 2, von 2 + 3, von 3 + 2, von 2 + 2 + 2 Hebungen, die 
ohne Regelmäßigkeit miteinander abwechseln. 

Auch die Strophenbildung weist starke Differenzen auf. 
Während die aus zwei Versen bestehende Strophe (Parallelismus 
membrorum) überwiegt, kommen auch andere Strophenbildungen 
nicht selten vor. So läßt die berühmte Hymne an den Mondgott 
(4 R 2 9) deutlich achtzeilige Strophen erkennen (vgl. unten § 37). 
ln dem Istarpsalm (AO VII, 19) wechseln mit den überwiegenden 
vierzeiligen Strophen solche von zwei, drei, fünf und sechs 
Zeilen, wie auch in dem Bußpsalm 4 R. 10 (s. § 38) die vier- 
zeiligen Strophen vorherrschen. Vgl. auch § 35. 

Die Unregelmäßigkeiten in der Form der poetischen Stücke 
sind sicher zum großen Teil der Tätigkeit der Schreiber im Laufe 
der Jahrhunderte zur Last zu legen. So erklärt es sich, daß ein- 
zelne Stücke des Weltschöpfungsepos z. B., die offenbar zufällig 
noch auf eine metrisch korrekte Vorlage zurückgehen, die metrischen 
Glieder genau hervortreten lassen, während andere in dieser Hin- 
sicht sehr willkürlich sind. 

ln den lyrischen Stücken, den Hymnen und Gebeten, ist 
die Form viel konsequenter durchgeführt und auch durch äußer- 


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§ 9. Die poetischen Formen. 


37 


liehe Andeutungen häufiger und leichter erkennbar gemacht. Nicht 
nur, daß durchgehends jede Verszeile auch im Text auf eine 
Zeile geschrieben ist; ziemlich häufig werden auch die Halbzeilen 
durch Zwischenräume voneinander getrennt und die Anfänge 
der zweiten Vershälften genau untereinander gerückt, in einzelnen 
Fällen werden auch die Strophen als solche durch Striche abge- 
teilt Ganz vereinzelt — hier handelt es sich aber wohl um 
Schulbeispiele — werden auch die Halbverse durch durchlaufende 
Striche in ihre Bestandteile abgeteilt 

Einige Texte in Assurbanipals Bibliothek haben die allite- 
rierende Form, die jede Verszeile mit derselben Silbe beginnen 
läßt, andere die akrostichische, bei der die Anfangssilben zu- 
sammengelesen ein bestimmtes Wort ergeben. Ein besonders 
instruktives Beispiel ist K 8204 ^ wovon Bezold im Catalogue zwei 
Strophen mitgeteilt hat In diesem Text ist doppelte Alliteration und 
Akrostizismus vereinigt, so daß jede Strophe von je vier Zeilen 
mit derselben Silbe beginnt und schließt, und diese Silben zu- 
sammengelesen die Phrase uschaidudu maruschtu ergeben. Weitere 
Beispiele für Alliteration sind die Texte K 9290 -+- 9297, K 9852, 
von denen Bezold im Catalogue Proben mitgeteilt hat, ein weiterer 
akrostichisch-alliterierender Text, DT 83, ist von Pinches, Texts in 
the Bab. wedgewriting S. 1 5 f. mitgeteilt 

Die Wiederkehr der gleichen Endsilbe innerhalb der ganzen 
Strophen bei K 8204 glaubte Hommel in PSBA 1 896 S. 2 1 f. 
als Reim erklären zu sollen. Solange aber eine solche Er- 
scheinung nicht auch in nicht alliterierenden Texten belegbar ist, 
wird man hierin lediglich eine besondere Art der Alliteration 
erkennen dürfen. 

Bei einigen Texten läßt sich auch die Durchführung der 
dialogischen Form beobachten, wenigstens im Sinne der ab- 
wechselnden Reden, wenn sie auch in jedem Fall an ein gemein- 
sames drittes Subjekt gerichtet sind. Der Dialog findet sich 
namentlich in den Bußpsalmen und Beschwörungstexten, in 
denen der Büßer und der Priester abwechselnd zur Gottheit 
reden. Beispiele siehe bei Zimmern, AO VII, 3 S. 25 ff.; Weber, 
AO VII, 4 S. 33 f. 

Ein Dialog im engeren Sinn ist das häufig wiederkehrende 

1) Der Text ist bearbeitet von Strong, P. S. B. A., 1895, S. 139, 
der ganze Artikel, S. 131—151, ist der Alliteration in der bab. Poesie 
gewidmet. 


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38 Kap. 2: Die epischen Dichtungen im allgemeinen. 

Zwiegespräch zwischen Marduk und seinem Vater Ea zugunsten 
des kranken Menschen (vgl. §42) und K 1285 1 , ein Gespräch 
zwischen Assurbanipal, dem Gott Nebo und dem Priester. 

Mit der dialogischen Form sind wohl die ersten Ansätze der 
dramatischen Dichtung gegeben, doch läßt sich bis jetzt keine Spur 
ihrer weiteren Ausbildung nachweisen. Über den mutmaßlichen Begleit- 
text zu einer mimischen Vorführung (K 3476) und Verwandtes s. S. 32f. 


Kap. i\ Die epischen Dichtungen im allgemeinen. 

§ io. Die erhaltenen epischen Stöcke der babylonischen 
Literatur können nur einen Bruchteil des ehemals Vorhandenen 
ausmachen. Die Zufälligkeit einzelner Funde erweckt die Hoff- 
nung auf weitere Gaben, aber auch die anderen Literaturen, 
die offenkundig aus dem babylonischen Mythenschatze sich be- 
reichert haben, wie vor allem die hebräische und griechische, geben 
uns ein Recht zu vermuten, daß aus den Schutthügeln des Zwei- 
stromlandes die eine oder andere Legende in originaler oder 
verwandter Rezension irgendeinmal auftauchen werde. 

Den inschriftlichen Beweis dafür, daß auch außer den uns 
bekannt gewordenen noch zahlreiche erzählende Stücke vorhanden 
waren, liefern uns die „Kataloge“ über solche Texte, die aus 
Assurbanipals Bibliothek auf uns gekommen sind (vgl. § 71, VII). 
In K9717, Sm 669, Rm 616 z. B. sind uns Titel von Stücken 
offenbar epischen und mythologischen Charakters, aber auch von 
Tierfabeln erhalten, von denen einzelne wohlbekannt, andere uns 
noch völlig unbekannt sind, z. B. „Die Geschichte (?) • von 
Gilgamesch“, „Die Geschichte von Etana“, oder Fabeln, wie „Die 
Geschichte vom Fuchs“, „Die Geschichte vom Rind und vom 
Pferd“, oder Königslegenden wie „Sargon, der mächtige König“. 
Das sind lauter Titel von bereits bekannten Stücken. Andere 
sind z. B. „Der gewaltige Stier“, „Als der Euphrat sich hob“, 
„Adapa [kam?] nach [Nippur?] hinein“. „Als Marduk in Sumer 
und Akkad“ usw. usw. 

Namentlich Vorlagen oder Parallelen derbiblischen Erzählungen 
hat man von jeher aus naheliegenden Gründen unter den litera- 

1 Text: Craig, Rel. Texts 1, 5f.; Übers.: A. Jeremias bei Roscher 
Lexicon der Myth. III, 61 ff. * Geschrieben Ku-Kar. 


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§10. Entstehungszeit 


39 


rischen Stücken der Tontafelsammlungen vermutet, nachdem das 
Weltschöpfungsepos und besonders die Sintflutepisode außer der 
Gemeinsamkeit der zugrunde liegenden Vorstellungen auch ein 
offenkundiges literarisches Abhängigkeitsverhältnis außer Frage ge- 
stellt hatte Der Wunsch ist auch hier gelegentlich der Vater 
des Gedankens gewesen und die Entdeckerfreude hat vor der 
nachprüfenden Kritik nicht immer Stand gehalten. So hat sich 
die Annahme, daß in dem Text K 3657 1 die babylonische Vor- 
lage der biblischen Turmbauerzählung zu erkennen sei, als völlig 
unbegründet erwiesen; auch eine babylonische Parallele zur Ver- 
suchungsgeschichte des ersten Menschenpaares ist trotz gelegent- 
licher Behauptungen nicht nachzuweisen. Daß aber derartige 
Erzählungen einmal auch unter den babylonischen Denkmälern 
auftauchen, ist von vornherein als möglich zuzugeben. 

Die Hauptmasse der uns bis heute zugänglichen epischen 
Dichtungen entstammt der Bibliothek Assurbanipals, für die sie um 
die Mitte des siebenten Jahrhunderts gesammelt und abgeschrieben 
worden sind. Von vornherein war klar, daß sie viel älter sein 
müssen, und in der Tat mehren sich die inschriftlichen Nachweise 
für die Existenz der meisten epischen Texte im zweiten und 
dritten vorchristlichen Jahrtausend. 

Unter den in Tel-Amarna gefundenen Tafeln, also in einer 
Niederschrift aus dem fünfzehnten Jahrhundert, fanden sich die 
Bruchstücke von Nerigal und Erischkigal und die Hauptstücke 
des Adapamythus. Aus der Zeit der ersten babylonischen Dyna- 
stie, also in einer Niederschrift aus dem ausgehenden dritten 
Jahrtausend, sind uns Stücke aus dem Kreis des Atarchasismythus, 
des Gilgameschepos, der Sintflutgeschichte erhalten. Der mytho- 
logische Text von dem König von Kutha und der Etanamythus 
sind gleichfalls wenigstens teilweise in altbabylonischer Rezension 
auf uns gekommen, und für das große Epos Enuma elisch ergibt 
sich aus inneren Gründen die Notwendigkeit, anzunehmen, daß es 
die Gestalt, in der es der Bibliothek Assurbanipals einverleibt 
worden ist, in oder bald nach der Zeit Hammurabis erhalten hat. 

Es steht also fest, daß es zur Zeit der ersten Dynastie von 
Babylon, am Ausgang des dritten Jahrtausends, eine ausgebreitete 
epische Literatur in Babylonien gegeben hat. Leider aber ist es 
uns heute noch unmöglich, das Verhältnis der älteren Textgestalt 


* King, Seven Tablets II S. 73 f., I S. 219 f. 


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40 Kap. 3: Die babylonischen Schöpfungsmythen. 

zu der in Assurbanipals Bibliothek überlieferten zu überblicken. 
Von der letzteren kann mit Sicherheit behauptet werden, daß sie 
sich meist unmittelbar an babylonische Vorlagen angeschlossen hat. 
Inwieweit aber diese Vorlagen von den älteren Niederschriften 
abweichen, läßt sich im einzelnen nicht feststellen. Die starken 
Abweichungen des altbabylonischen Gilgameschfragments von der 
späteren Fassung (s. unten § 23) zeigen aber, daß der literarische 
Prozeß im Lauf der Zeit die Gestaltung doch wesentlich beein- 
flußt haben muß, wenn man nicht annehmen will, daß ver- 
schiedene Rezensionen nebeneinander hergelaufen sind. 


Kap. 3: Die babylonischen Schöpfungsmythen. 
§n. Allgemeines. 

Die Spekulation über die Uranfänge alles Seins liegt im 
Wesen der altorientalischen Denkweise begründet; sie kann an 
die Gegenwart nicht denken, ohne ihrer Beziehung zur Urzeit 
sich zu vergewissern. Der Glaube an die kosmische Präexistenz 
aller irdischen Erscheinungen ist die Grundlehre und Grundformel 
aller Philosophie, an diesem Gedanken entzündet sich die Fantasie 
zu dichterischem Gestalten, an der Hand dieser Formel findet 
die „Geschichts“-Betrachtung ohne jede Gefahr, in eine Sackgasse 
zu geraten, mit Sicherheit den Weg zu den letzten Gründen, die 
für das Verständnis der Gegenwart den Schlüssel geben und den 
Hoffnungen für die Zukunft die Richtung weisen. 

Was in den irdischen Erscheinungen zur Spekulation reizt, 
ist nicht das unmittelbar wahrnehmbare Tatsächliche, sondern die 
Ordnung, die ihm einen Sinn gibt, das Gesetz, das es beherrscht. 
Das Dichterwort von der „heiligen Ordnung“, der „segensreichen 
Himmelstochter“ gibt die Antwort auf die Frage nach dem ge- 
schichtlichen Recht unserer Gesellschaftsordnung ganz im Geist 
des orientalischen Altertums und wie wir, so haben auch die 
Alten mit dem Begriffe des Königstums von Gottes Gnaden, also 
durch Berufung auf göttliches Gesetz, die Wirksamkeit und Ver- 
bindlichkeit der irdischen Autorität motiviert und gerechtfertigt. 
Die irdische Gewalt ist nur ein Ausfluß der göttlichen Welt- 
regierung, der irdische König darum nur die Inkarnation des 
göttlichen Weltenherrn, oder er hat doch von ihm zum mindesten 


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§ 11. Allgemeines. 


41 


seine Berufung, ist sein Stellvertreter. Aufgabe der „Wissenschaft“, 
der priesterlichen Lehre ist es, den Zusammenhang der herrschenden 
Ordnung mit der göttlichen Weltregierung und dadurch ihre 
Legitimität zu erweisen. 

Was wir an alten Kosmogonien haben, spiegelt wohl in 
keinem einzigen Falle naive Vorstellungen völlig ungetrübt wieder, 
sie sind vielleicht ausnahmslos Tendenzprodukte, stehen im Dienst 
irgend einer Idee, sei sie nun politischer, ethischer oder „wissen- 
schaftlicher“ Natur. 

Das bedeutsamste Beispiel ist das Siebentafelepos Enuma 
elisch, das den Anspruch Babels auf die Weltherrschaft begründen 
soll ; das groteske Gegenbeispiel ist die Legende vom Zahnschmerz- 
wurm, in der ein Rezept gegen Zahnschmerz durch eine veritable 
Kosmogonie eingeleitet wird (vgl. § 17). Zwischen diesen 
Endpolen liegen zahlreiche andere Beispiele. Ein Fragment lehrt 
uns, daß das Epos Enuma elisch auch in einer assyrischen Rezen- 
sion zirkuliert hat, in der Assur als Weltbildner fungierte, also 
Assyriens Anspruch auf die Weltherrschaft autorisiert werden 
sollte (vgl. unten S. 50). Ein weiterer Text Scheint eine Familien- 
geschichte mit der Erschaffung des Alls in Verbindung zu bringen 
(vgl. § 15). Besonders einleuchtend ist, daß Tempeltraditionen bis 
zum Uranfang alles Seins zurückgeführt werden, so jedenfalls für 
den Tempel von Eridu (vgl. § 14). Auch der Tempelbau wurde 
urgeschichtlich motiviert (vgl. § 16). Wir wissen ja schon aus 
der hebräischen Legende, daß die „Erfindung“ von allerlei Kunst- 
fertigkeit und Handwerk auf bestimmte Gestalten der Urgeschichte 
zurückgeführt wurde. Die babylonisch-assyrische Lehre weiß von 
geradezu göttlichen Urhebern. Zur Erfindung der Schrift vgl. 
oben S. 8; wir kennen Götter des Ziegelbaus, der Zimmerleute, 
der Goldschmiedekunst, der Steinmetzkunst usw. usw. Denken 
wir weiter an die göttlichen Urheber der verschiedenartigen Natur- 
kräfte und Erscheinungen, auch von Gebrauchsgegenständen, und 
vergegenwärtigen wir uns, daß sogar für den Zahnschmerz die 
„Wissenschaft“ eine Urgeschichte zurecht gemacht hat, die mit der 
Aufzeigung seines Ursprungs auch eine Erklärung für sein Wesen 
findet, so werden wir uns dem Schluß nicht entziehen dürfen, 
daß für alle Dinge, die auf göttlichen Ursprung zurückgeführt 
worden sind, auch eine für den jeweiligen Ausgangspunkt zurecht- 
geschnittene „Geschichte“ im Umlauf gewesen sein — kann. 
Wie diese „Geschichte“ in ihren Grundzügen immer gestaltet ge- 


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42 


Kap. 3: Die babylonischen Schöpfungsmythen. 


wesen, dafür geben uns die oben angeführten Beispiele hinreichende 
Anhaltspunkte. 

Ein klassisches Beispiel ist die Geschichte vom Zahnschmerz, die 
wegen ihrer lückenlosen Erhaltung besonders instruktiv ist. Daß es 
sich da nicht um tiefgründige Weisheit handelt, die uns irgendwie 
von Wert ist, wenn wir den alten, naiven Vorstellungen der Baby- 
lonier nachgehen, liegt auf der Hand. Bei diesen Elaboraten handelt 
es sich doch wohl meist um Priesterwitz und Priesterfindigkeit, die 
willkürlich aus Überlieferungsstoffen sich zusammensucht, was 
gerade für den momentanen Zweck dienlich scheint. Vielleicht 
ist es doch nicht zu kühn, ähnlich auch andere „Weltschöpfungs- 
texte“ zu beurteilen, die uns in ganz fragmentarischem Zustand 
überkommen sind, von deren Pointe wir gar nichts wissen, nament- 
lich solche, die als Einleitung zu Beschwörungstexten gebraucht 
wurden. Als Materialsammlung für die Kenntnis kursierender 
Priestermeinungen sind sie in ihrem Werte gewiß nicht zu unter- 
schätzen, aber für eine Geschichte der Vorstellungen von der 
Entstehung aller Dinge sind sie nur mit allergrößter Vorsicht zu 
gebrauchen. Für eine solche hätten sie bedeutsamen Quellen- 
wert erst dann, wenn wir die Pointe der einzelnen Fassung kennen 
würden, wenn wir wüßten, welchem Tempel sie ihre Fixierung 
verdanken. 

Vorläufig muß uns als Kronzeuge für die babylonischen 
Vorstellungen von der Urzeit das Epos Enuma elisch -dienen. 
Wenn es auch eine tendenziöse „Geschichtsdarstellung“ bietet, so 
ist es doch durch sein Alter und durch seine Autorität (die 
Nachrichten der Klassiker scheinen hauptsächlich dieses Epos zur 
Grundlage zu haben) nicht nur an sich von höchster Bedeutung, 
sondern darf vielleicht auch als Archetypus oder wenigstens Quelle 
für anderen Tendenzen dienende Varianten angesehen werden. Es 
war doch jedenfalls ein Staatsdokument und hatte als solches 
verbindlichen Charakter, war ein Stück „Lehre“. Über das, was 
wir aus Enuma elisch lernen, hinaus werden wir erst dann zur ge- 
naueren Kenntnis von der Urzeit in der Vorstellung der Babylonier 
gelangen, wenn wir in ähnlichen Dokumenten aus älterer Zeit 
und aus den Kreisen anderer Tempelüberlieferungen Vergleichs- 
material gewinnen. Vornehmlich aus Nippur dürfen wir solches 
erwarten. 

ln dem babylonischen Weltschöpfungsepos sind verschieden- 
artige Stoffe zusammengearbeitet, die mythologisch wie literarisch zu- 


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§ 11. Allgemeines. 


43 


nächst gar nichts miteinander zu tun haben: die Theogonie, als die 
Rechtfertigung aller Ursprünge; der Kampf des Lichts mit den 
Mächten der Finsternis: eine Projektion des Jahresmythus auf das 
Weltenjahr; die Übertragung der Schicksalstafeln bezw. die Über- 
tragung der Weltherrschaft: der Mythus dynastischer Legitimitäts- 
ansprüche und erst zum Beschluß die Schöpfungsgeschichte der 
sichtbaren Welt. Diese mythischen Stoffe haben sicher alle auch ein 
literarisches Sonderdasein in irgendeiner Form geführt. Erhalten 
sind nur verschiedene Rezensionen des Jahresmythus, des Kampfes 
zwischen Licht und Finsternis in verschiedenen Variationen (Bel- 
Labbu, Legende vom Frühjahrsmond). Der Mythus von der 
Verleihung der Schicksalstafeln und damit der Weltherrschaft ist 
die Pointe der Legende von dem göttlichen Sturmvogel, die 
wiederum mit dem Motiv des Kampfes zwischen Licht und Fin- 
sternis innig verknüpft ist, wie es ganz natürlich erscheint, daß 
die Legende vom Kampf und Sieg des jungen Tages, der Früh- 
jahrssonne, der neuen Zeit, der neuen Aera einen natürlich ge- 
gebenen Hintergrund für die Legitimitätsurkunde einer Dynastie 
darstellt. 

Die griechische Überlieferung des Berosus scheidet die der 
Schöpfungsgeschichte im Epos Enuma elisch angegliederten mytho- 
logischen Stoffe vollständig aus. Sie weiß nichts von einer Theogonie, 
die Idee des Kampfes zwischen Marduk und Tihamat tritt voll- 
ständig zurück, der Übertragung der Schicksalstafeln und der 
Weltherrschaft wird mit keinem Worte gedacht, alles Interesse 
konzentriert sich auf die Schilderung des Chaos, seines Ver- 
hältnisses zum nachmaligen Himmel und Erde und die Schöpfung 
der sichtbaren Welt. Alles Kosmologische ist in dieser Version 
vollständig verwischt Damascius dagegen beschränkt sich auf eine 
Mitteilung des ersten Teiles des Epos, der Theogonie. Die Ab- 
hängigkeit des Damascius von Enuma elisch ist ohne weiteres 
klar. Die Darstellung des Berosus weist zwar keinen einzigen Zug 
auf, der nicht auch in Enuma elisch vorkäme, anderseits aber 
läßt sie gerade das Charakteristische dieser Legende, die kosmische 
Vorgeschichte der Schöpfung der sichtbaren Welt und ihre mytho- 
logische Motivierung, vollkommen aus dem Spiel. Es geht wohl 
nicht an, daraus zu schließen, daß Berosus oder gar erst Eusebius, 
dem wir die Kenntnis seines Werkes danken, eigenmächtig diese 
Umgestaltung der Vorlage vorgenommen habe. Näher liegt wohl, 
anzunehmen, daß neben Enuma elisch auch andere Versionen 


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44 Kap. 3: Die babylonischen Schöpfungsmythen. 

kursiert haben, die sich in der Weise, wie wir es bei Berosus 
sehen, auf die Fakta der Weltschöpfung beschränken unter Aus- 
merzung des auf Lokalinteressen des babylonischen Zentralheiligtums 
zurückgehenden mythologischen Beiwerks 1 * . Näheres s. § 13,1. 

$ 12 . Das Epos Enuma elisch. Die Schöpfungslegende von 
Babel. 

Der Text von Enuma elisch, wie er uns vorliegt, stammt zum 
größten Teil aus der Bibliothek Assurbanipals, für welche er in neu- 
assyrischer Schrift abgeschrieben wurde; drei Fragmente der 1., 3. und 
4. Tafel sind in neubabylonischer Rezension erhalten, decken sich aber, 
soweit eine Vergleichung möglich ist, bis auf geringfügige sprachliche 
Abweichungen vollständig mit dem entsprechenden neuassyrischen Text. 

Die erste Kunde von dem Originaltext danken wir George Smith, 
der am 2. November 1875 in der Society of biblical archaeology in 
London zum ersten Male ausführliche Mitteilungen über die von ihm 
entdeckten Fragmente von 5 Tafeln des Epos machte. Seither ist es 
gelungen, den Text wesentlich zu vervollständigen, bis L. King so glück- 
lich war, eine ganze Reihe wichtiger neuer Fragmente zu finden, von 
denen der Anfang der 6. Tafel, der die Erschaffung des Menschen 
schildert, besonders bedeutungsvoll ist. Bei der eminenten Wichtigkeit 
des Textes ist es selbstverständlich, daß er außerordentlich zahlreiche 
Bearbeitungen gefunden hat. Von neueren Arbeiten seien die von 
Delitzsch, Das babylonische Weltschöpfungsepos, 1896, Zimmern bei 
Gunkel, Schöpfung und Chaos, 1895, Jensen in KB VI, 1 hervorgehoben. 
Die ausführlichste Behandlung des Epos selbst wie aller Einleitungs- 
fragen gibt King in The Seven Tablets of Creation, 1902. Alle seither 
bekannten Fragmente sind zusammenhängend verarbeitet bei H.Winckler, 
Keilinschriftliches Textbuch zum Alten Testament, 2. Aufl.; Bezold, 
Schöpfungslegende (Kleine Texte f. theol. Vorlesungen, hrsg. v. Liez- 
mann, Nr. 7). Für die Berührungen des Epos mit dem biblischen 
Schöpfungsbericht siehe bes. Zimmern in KAT 3 , Jeremias, ATAO, und 
King, 1. c. 

Die Originaltexte sind in CT XIII in Autographie publiziert, die 
später gefundenen Stücke bei King, Seven Tablets II. 

Inhaltsangabe. 

Tafel I. Einst als droben der Himmel noch nicht benannt war, 
drunten die Erde mit Namen noch nicht geheißen, 

(als) Apsu und der mitwaltende Sohn und Erzeuger 


1 Es ist nicht einzusehen, warum z. B. Eusebius, dem daran liegt, 
die Ungereimtheit der babylonischen Mythe an dem Beispiel des Berosus 
darzutun, sich die erheiternden Umstände hätte entgehen lassen sollen, 

unter denen die Übertragung der Weltherrschaft an Marduk — der 

Höhepunkt und der eigentliche Kern und Stern des Epos Enuma elisch — 
sich vollzog. 


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§ 12. Das Epos Enuma elisch. 


45 


Mummu und Tihamat, die sie alle geboren hat 1 , 
ihre Wasser (noch) in eins zusammen mischten, 
die zwei Gipärubäume sich noch nicht vereinigt hatten, ein 
Rohrdickicht noch nicht sichtbar war*, 
als von den Göttern noch keiner entstanden war, 
ein Name nicht genannt, ein Oeschick nicht bestimmt war, 
da entstanden die Götter inmitten [des Himmels?], 

Lachmu und Lachamu traten ins Dasein 

In langen Zeiträumen wurden dann Anschar und Kischar, 
dann endlich Anu, Bel und Ea geschaffen 8 . Die alten Götter, 
vornehmlich Apsu und Tihamat, fühlen sich durch die von 
ihnen selbst ins Leben gerufenen neuen Götter beeinträchtigt, in 
der Herrschaft bedroht, und beschließen ihre Vernichtung. 

Apsu und sein Bote Mummu kommen zu Tihamat und be- 
raten wegen „der Götter ihrer Kinder“ und Apsu klagt: 

Bei Tage habe ich keine Ruhe, bei Nacht lege ich mich 

nicht nieder. 

Ich will sie vernichten, ihr Handeln zerstören. 

Wehklagen soll entstehen, aber wir werden dann Ruhe haben. 

Die Vernichtung der neuen Götter wird beschlossen, aber 
Ea, „der alles weiß“, erfährt von dem Komplott und macht, wie 
es scheint, Apsu und Mummu unschädlich. Tihamat, die übrig 
bleibt, schart andere, untergeordnete Götterwesen aus der älteren 
Generation um sich und entflammt sie zur Rache für die Ver- 
gewaltigung des Apsu und Mummu gegen die neuen Götter. 
Elf fabelhafte Wesen erstehen als Helfer der Tihamat, Riesen- 
schlangen, Drachen, Molche, wütende Schlangen, Lachamus, tolle 
Hunde, Skorpionmenschen, Fischmenschen, Widder 

Die schonungslose Waffen trugen, den Kampf nicht fürchteten, 
wuchtig im Ansturm (?), dem niemand widersteht. 

1 Also Apsu, Mummu und Tihamat bilden die erste Göttertrias. 
Apsu und Tihamat und beider Sohn Mummu mischen ihre Wasser in 
eins zusammen, der letztere (!) erzeugt dann mit seiner Mutter Tihamat 
die übrigen Götter. Die Übereinstimmung mit Damascius (s. § 13,2) 
ist vollkommen. Vgl. Winckler, F. III S. 303. 

* Der Sinn der Zeile ist dunkel. Hommel denkt an eine An- 
spielung auf die Paradiesesbäume. 

8 Mit der Trias Anu-Bel-Ea betreten wir sozusagen historischen 
Boden in der Mythologie; die 3 Paare Apsu-Tihamat mit ihrem Sohn 
Mummu, Lachmu-Lachamu , Anschar und Kischar vertreten eine „vor- 
geschichtliche“ Periode. Sie repräsentieren Wasser — Luft — und Erd- 
reich. Über ihre Entsprechung mit Ea-Anu-Bel (dem Weg der Sonnen- 
bahn) s. Winckler, 1. c. 


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46 Kap. 3: Die babylonischen Schöpfungsmythen. 

Unter den Göttern, die sich um sie scharen, erhöht sie Kingu 
zum Herrn und Befehlshaber: 

Ausgerufen habe ich dich, dich groß gemacht in der Schar 

der Götter, 

die Herrschaft über alle Götter in deine Hand gelegt. 

Nun sollst du der Größte sein, du mein einziger (?) Gatte! 
Preisen soll man deinen Namen über alle Anunnaki(?). 
Dann gab sie ihm die Schicksalstafeln und heftete sie an seine 
Brust mit den Worten: 

Du, dein Befehl nicht werde gewandelt, feststehe der Aus- 
spruch deines Mundes. 

Tafel 11. Wiederum ist es Ea, der von der neuen Wendung 
der Dinge und den Plänen im feindlichen Götterlager zuerst 
Kunde erhält; was er erfahren hat, stimmt ihn traurig und nieder- 
geschlagen. Er tritt hin vor seinen Vater Anschar und klagt 
vor ihm: 

Tihamat, unsere Mutter, sie ist uns feindlich, 
eine Zusammenrottung hat sie veranstaltet, wütet in ihrem 
Alle Götter scharen sich um sie, [Grimm. 

auch, die ihr geschaffen, treten an ihre Seite, 
sie haben sich zusammengetan, ziehen aus an Tiamats Seite. 

Sie toben, schmieden Pläne, ruhen nicht bei Tag und Nacht, 
rüsten sich zum Kampf, toben in Kampfeslust, 
rotten sich zusammen, rüsten zum Streit. 

Er erzählt auch von den 1 1 Helfern, den furchterregenden 
Fabeltieren, und von der Erhöhung Kingus. Anschar sendet nun 
zuerst Anu aus, daß er Tihamat besänftige; der aber muß un- 
verrichteter Dinge umkehren, er kann „ihre Gegenwart nicht 
ertragen“. Ebenso scheint es Ea ergangen zu sein. Nun erbietet 
sich Marduk, den Kampf aufzunehmen, aber er bedingt sich einen 
glänzenden Siegerpreis aus: 

„Herr der Götter, Schicksal 1 der großen Götter! 

Wenn wirklich ich ein Rächer euch sein soll, 

Tihamat bändigen, euch erretten, [Ordnung. 

dann tut euch zusammen, von neuem bestimmt die Welt- 
Wenn im Arschukinna ihr dann freudig zusammensitzet, 
dann will ich mit meinem Worte, wie (bisher) ihr, die 

Weltordnung bestimmen. 

Nicht werde geändert, was immer ich schaffe, 
nicht werde rückgängig, nicht hinfällig der Befehl meiner Lippe“. 

Tafel III. Nun entsendet Anschar den Götterboten Gaga 
zu Lachmu und Lachamu, um auch diese zu bestimmen, Marduk, 


1 d. i. Schicksalbestimmer. 


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§ 12. Das Epos Enuma elisch. 


47 


wenn er Tihamat besiege, als Herrn der Götter anzuerkennen; er 
soll den ganzen Hergang der Dinge erzählen, wie Tihamat sich 
erhoben, Bundesgenossen geworben und zum Kampf gegen die 
Götter sich gerüstet habe, wie Kingu von ihr zum Anführer und 
zum Obersten der Götter erhöht worden sei, wie Anu und Ea 
vergeblich wider sie ausgezogen seien und wie dann Marduk 
sich zum Kampf erboten und welchen Siegespreis er sich aus- 
bedungen habe. Der Götterbote Gaga kommt vor Lachmu und 
Lachamu, tief beugt er sich vor ihnen, küßt die Erde, ihren Fuß- 
schemel, und entledigt sich seines Auftrags. Als Lachmu und 
Lachamu seine Worte vernommen hatten, schrieen sie laut auf: 
„Wir verstehen nicht das Tun der Tihamat“! 

Sofort kommen sie mit Gaga zu Anschar und der große 
Himmelssaal füllt sich mit den großen Göttern, „die die Welt 
lenken“. Die küssen einer den andern und setzen sich nieder 
zum Mahle, essen Weizenbrot und mischen den Wein 1 . Aber 
der süße Trank umnebelt ihre Sinne, „sie wurden sehr betrunken“ 
und in diesem Zustande übertrugen sie einhellig Marduk, ihrem 
Helfer, die Weltleitong. 

Tafel IV wird eröffnet mit der Schilderung der Huldigung 
der Götter vor Marduk. Er wird in das fürstliche Gemach ge- 
leitet, vor seinen Vätern setzt er sich auf den Herrschersitz nieder. 
Er wird gepriesen als „der Geehrte unter den großen Göttern“, 
Erhöhen und Erniedrigen soll in seiner Hand, unabänderlich 
soll sein Ausspruch sein: 

Marduk, du, unser Rächer bist du, 
wir geben dir die Herrschaft über das ganze All. 

Nun fordern sie ihn auf, seine Macht zu beweisen durch ein 
Wunder, ein Kleid soll er mit dem Wort seines Mundes ver- 
nichten und wieder herbeischaffen: 

Er befahl mit seinem Munde, vernichtet war das Kleid, 
er befahl ihm wieder, das Kleid war geschaffen. 

Über diesen Beweis seiner Wunderkraft freuen sich die Götter, 
seine Eltern und jauchzen ihm zu: 

Marduk ist König! 

und sie gaben ihm die Abzeichen seiner Würde, das Zepter, 

1 ln dieser Stelle hat man eine Parallele zum Essen vom Baum 
der Erkenntnis in der Paradieserzählung der Bibel finden wollen — ein 
Beweis, mit welcher Naivität man früher die Keilinschriften für apolo- 
getische Zwecke ausgenützt hat. 


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48 Kap. 3: Die babylonischen Schöpfungsmythen. 

den Thron und das palu 1 , dazu die „unwiderstehliche Waffe“, 
welche die Feinde zerschmettert. 

Ausführlich wird nun beschrieben, wie Marduk sich zum 
Kampfe rüstet, wie er Bogen und Köcher, Lanze und Blitz und 
ein Netz an sich nimmt, mit dem er Tihamat einzuschließen ge- 
denkt, wie er sieben böse Winde schuf und sie als Bundes- 
genossen seinem Gefolge einreiht. Darauf nahm er „seine große 
Waffe“ abubu (die Licht- oder Sturmflut?), bestieg seinen Streitwagen 
mit dem Viergespann, nahm die Stachelpeitsche zur Hand und 
stürmt Tihamat entgegen, die ihn, von Kingu und ihren Anhängern 
umgeben, erwartet. Während die feindlichen Götter und selbst 
Kingu in heftige Unruhe geraten, bleibt Tihamat ruhig und reizt 
Marduk durch trotzige Rede. Der aber erhebt „seine große 
Waffe“, die Licht(?)-flut abubu, und läßt sie auf Tihamat los mit 
den Worten: 

Du hast dich groß gemacht, hoch dich erhoben, 

Es trieb dich dein Herz zu erregen den Kampf. 

Die Oötter, deine Helfer, sie trotzen ihren Eltern, 
ihre du, du befeindest ...... 

Kingu hast du erhöht zu deinem Gatten, 
hast ihn Entscheidung der Göttlichkeit. 

nach Schlimmem getrachtet. 

Gegen die Götter, meine Väter, deine Bosheit gerichtet. 

Wenn auch gerüstet dein Heer, deine Waffen gegürtet. 

Steh! ich und du, miteinander wollen wir kämpfen! 

Da das Tihamat hört, wird sie wie wahnsinnig, verliert den 
Verstand, laut schreit sie auf, ihre ganze Gestalt erzittert, sie 
„sagt eine Beschwörung“, „spricht ihre Formel“ und auch die 
Götter besprechen zur Schlacht (?) ihre Waffen. Nun treten 
Marduk und Tihamat zum Kampf an, Marduk umstrickt sie mit 
seinem Netz und läßt einen von den sieben Winden auf sie los, 
der ihr in den geöffneten Rachen fährt, während Marduk ihr die 
Lanze in den Leib stößt und sie so tötet. Nun wendet Marduk 
sich gegen die Götter, die ihr zur Seite gestanden hatten, und 
die elf Helfershelfer, die er samt und sonders in Ketten legt; 
auch Kingu bindet er, nimmt ihm die Schicksalstafeln, „die ihm 
nicht zukamen“, „siegelt sie mit dem Siegel und nimmt sie an 
die Brust“. Als nun Marduk so einen völligen Sieg errungen, 
„Anschars Übermacht“ kundgetan, den „Triumph Eas“ erreicht 


1 Gleichfalls ein Abzeichen der Königswürde. 


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§ 12. Das Epos Enuma elisch. 


49 


hatte, wendet er sich wieder zu Tihamat, tritt auf ihren Leib und 
spaltet ihn in zwei Teile: 

Die Hälfte von ihr stellte er auf, machte sie zum Dach 

dem Himmel, 

schob einen Riegel vor, stellte Wächter hin, 
ihre Wasser nicht heraus zu lassen, befahl er ihnen. 
Danach „maß er die Gestalt des Ozeans“ und „errichtete als 
einen Großbau nach seinem Muster Escharra“, „den Großbau 
Escharra, den er als Himmelswölbung erbaute“ 1 . „Die großen 
Götter Anu, Bel, Ea ließ er ihre Wohnstätten einnehmen“ 4 . 

Tafel V schildert zunächst die weitere Abgrenzung der 
„Wohnstätten der großen Götter“ Anu, Bel, Ea. Marduk fixiert 
ihre „Standörter“ und setzt als sinnlich wahrnehmbare Repräsen- 
tanten, als „ihr Ebenbild“ Sterne als Tierbilder ein. Damit schafft 
er die Grundlagen der Zeitrechnung, „macht kenntlich das Jahr“, 
„zwölf Monate in drei Sterngruppen (Einteilung in die Reiche 
des Anu, Bel, Ea) stellte er fest“, entsprechend (?) den Tagen des 
Jahres bestimmte er Abschnitte“, „er legte fest den Punkt des 
Nibiru, um kenntlich zu machen ihre Bahn (?)“, „damit keiner 
fehlgehe, keiner irre, setzte er den Standort des Bel und Ea (var. 
Anu!) zugleich mit ihm fest“. 

Er öffnete Tore an beiden Seiten, 
machte einen festen Verschluß zur Linken und zur Rechten, 
in seine Mitte setzte er den Höhepunkt (Zenith). 

Den Neumond ließ er aufleuchten, damit er die Nacht regiere, 
bestimmte ihn zum Nachtkörper, daß er die Tage kenntlich 

mache, 

monatlich, ohne Aufhören durch die Scheibe: 

„Am Beginn des Monats leuchte auf im Lande! 

„Strahle mit den Hörnern, sechs Tage kenntlich zu machen! 

„Am siebenten Tage hälfte sich deine Scheibe! 

„Am 14. Tage sollst du erreichen die Hälfte des monatlichen 

(Wachstums? Laufes?)! 

„Wenn Samas dich am Grunde des Himmels erreicht hat, 

„ sollst du hinter ihm leuchten! 

„(Am 21. Tage?] nähere dich der Bahn der Sonne! 

„|Am 28. Tage?) sollst du mit der Sonne Zusammentreffen, mit 

ihr gleichstehen (?). 


Der weitere Inhalt der Tafel ist fast völlig verloren gegangen 


1 D. i. der Himmelsdamm, die himmlische Veste, der „Tierkreis“, 
der der Schauplatz aller mythologischen, d. h. astralen Vorgänge ist 
* Sie sind die Regenten der drei „Reiche“ des Himmelsdammes. 

Weber, Literatur. 4 


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50 Kap. 3: Die babylonischen Schöpfungsmythen. 

und kann nur vermutungsweise aus einigen Fragmenten erschlossen 
werden. Vielleicht gehört hierher, jedenfalls aber erst nach der 
Einweisung der übrigen Planeten in ihre Bahn, das Fragment 
(K 3449a, s. Winckler, TB. 2 S. 123), das einen Preis der Götter 
über die von Marduk im Kampf gegen Tihamat gebrauchten 
Waffen, das Netz und den Bogen enthält, und die Versetzung des 
Bogens als „Bogenstern“ an den Himmel schildert. 

Wenigstens inhaltlich ist dann noch (mit Zimmern) hierher- 
zustellen das Fragment K 3445 + Rm 396 (CT XIII 24 f., vgl. 
Delitzsch, Das bab. Weltschöpfungsepos Nr. 20 S. 51, 87, 109), 
obwohl es in der überlieferten Form einer anderen (assyrischen!) 
Rezension anzugehören scheint, welche Assur an Marduks Statt 
in den Mittelpunkt stellt und als Schöpfergott feiert. 

Das Wichtigste, was aus diesem außerordentlich verstümmelten 
Fragment entnommen werden kann, ist ein unmißverständlicher 
Hinweis auf die Erschaffung der Erde: oberhalb des Ozeans wird 
die Wohnung [des Menschen errichtet] gegenüber von Escharra, 
dem kosmischen Festlande, „unten“ befestigt. Dort sollen Tempel 
und Städte errichtet werden. Im weiteren Verlauf dieses Frag- 
ments scheint auch davon die Rede zu sein, daß „auf der Erde 
(eli qaqqari), die der Schöpfer mit seiner Hand gebildet hat“, 
[die Vegatation geschaffen worden ist]. Doch läßt sich das alles 
nur mit größter Zurückhaltung vermuten. Es scheint sich über- 
dies dieser Text mit der Schöpfungslegende von Eridu (§ 14) 
eng zu berühren. 

Jedenfalls wird durch den Vergleich mit dem biblischen 
Bericht, dem Anfang der 7. Tafel und den Andeutungen bei 
Berosus nahegelegt, daß Tafel V auch die Erschaffung der Pflanzen 
erwähnt, vorläufig ist aber davon keine Spur zu finden. 

Die erhaltenen Reste der Schlußzeilen der Tafel enthalten 
ein Gespräch der Götter, dessen Inhalt sich nicht feststellen läßt, 
das aber wohl die bisherigen Schöpferleistungen Marduks würdigt 
und vielleicht dem Gedanken Ausdruck gibt, der noch bei Berosus 
durchschimmert, warum die fruchtbare Erde nicht von lebenden 
Wesen bevölkert sei, denen sie doch dienen solle. Auch die 
Bestimmung des Menschen zum Dienst der Götter (Tafel VI Z. 8) 
mag Gegenstand dieser Unterhaltung gewesen sein. 

Tafel VI. An dieses Gespräch knüpft die 6. Tafel un- 
mittelbar an: 

Als Marduk hörte die Rede der Götter, 


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§12. Das Epos Enuma elisch. 


51 


da nahm er sich in den Sinn, zu schaffen [Kunstreiches]. 
Er öffnete seinen Mund und sprach zu Ea, 
was er in seinem Inneren sann, teilte er [ihm] mit: 

Blut will ich sammeln, ein Stück Lehm will ich abkneipen (?)*. 

Will hinstellen den Menschen, der Mensch möge 

Will erschaffen den Menschen, daß er bewohne [die Erde?], 
auferlegt sei ihm der Dienst der Götter, diese seien [in 

ihren] Götterkammem. 

Von der ganzen übrigen Tafel sind nur einige spärliche 
Zeilenreste am Schlüsse erhalten, die aber hinreichen, die Situation 
erkennen zu lassen: die Götter sind wiederum in arschukkinaku, 
dem Schicksalsgemache, vereinigt und preisen Marduk hoch als 
ihren Rächer und den Schöpfer der Welt. 

Tafel VII ist die Schlußtafel des ganzen Epos, auf ihr ist 
der ebengenannte Lobpreis auf Marduk erhalten. Dieser Hymnus 
rekapituliert in Kürze alle Taten des Schöpfergottes und preist 
seine göttlichen Eigenschaften, nach welchen ihm 50 göttliche 
Namen beigelegt werden. Der Anfang lautet: 

Asaru, Schenker der Fruchtbarkeit, [der die Ackerfurche zieht,] 
der das Getreide und Pflanzen wachsen, der [das Grünj 

sprießen läßt, 

Asaru-alim, der im Rat gewichtig, [stark an Einsicht ist,] 

die Götter hören, fürchtend 

Asur-alim-nunna, der Beistand, das Licht [des Vaters, seines 

Erzeugers,] 

der vertritt die Sache Anus, Bels und [Eas.] 

Schon aus den Anfangszeilen geht hervor, daß vorher von der 
Erschaffung der Pflanzenwelt die Rede gewesen sein muß. 

Weiterhin heißt es, daß er „den gefangenen Göttern Rück- 
kehr (Befreiung) verschafft“ 2 , und dann, daß er „die Menschheit 
schuf“, er „der Barmherzige, der Leben zu geben vermag“: 

Bestehen sollen und nicht abgeschafft werden seine Gebote 
im Munde der Menschen, die seine Hände geschaffen. 
Weiterhin heißt es: 

Er bewältige Tihamat, bedränge, beenge ihr Leben, 
bis zur Zukunft der Menschen bis in späteste Tage. 

Es wird also der Kampf mit Tihamat als ein unaufhörlicher ge- 
dacht, der sich immer wiederholt 8 . 


1 Oder: Gebein will ich [bilden] (?), vgl. aber jetzt BE 13 987, 
Weißbach, Miscellen S. 32 Z. 26. 

* Bezieht sich auf die Befreiung des gefangenen Kingu und seiner 
Krieger? 

3 Eine Anspielung auf den ewigen Kampf gegen das Böse darf 

4* 


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52 Kap. 3: Die babylonischen Schöpfungsmythen. 

Der Schluß des Ganzen, soweit er erhalten, heißt dann: 

Die Namen, welche die igigi’ nannten, allesamt 
hörte Ea und sein Herz wurde heiter: 

„Er, dessen Namen seine Väter ruhmvoll gemacht, 

„wie der meine, Ea, sei sein Name. 

„Den Bereich meiner Befugnisse ganz soll er ihn verwalten, 
„alle meine Obliegenheiten er soll sie besorgen.“ 

Mit dem Namen „Fünfzig“ die großen Qötter 
nannten seine fünfzig Namen, machten hervorragend seinen 

Weg. 

Treu sollen sie bewahrt werden und der Erste soll sie über- 
liefern, 

der Weise und der Oelehrte sollen sie zusammen überdenken. 
Es soll (von ihnen) erzählen der Vater, sie seinen Sohn lehren, 
dem Hirten und dem Hüter öffne er die Ohren. 

Er freue sich über den Herrn der Götter, Marduk, 
sein Land soll gedeihen, ihm selbst soll es wohlgehen. 

Fest steht sein Wort, nicht gewandelt wird sein Befehl, 
das Wort seines Mundes ändert kein Gott. 

Wenn er zürnt, wendet er nicht wieder (versöhnt) seinen 

Nacken, 

wenn seine Wut ergrimmt ist, tritt kein anderer Gott ent- 
gegen; 

der hochherzige, weitumfassenden Sinnes, 

(aber) [wer] Frevel und Sünde (tut] ist vor ihm stinkend.“ 


Die wenigen Schlußzeilen sind verstümmelt. 

Das Epos Enuma elisch ist in der Rezension, die auf uns 
gekommen ist, nicht nur als ein Produkt der dichterischen 
Gestaltungskraft, sondern auch als politisches Dokument zu werten: 
es ist die Legitimationsurkunde für die Weltherrschaftsansprüche 
Babels und dürfte die uns erhaltene Fassung wohl bald nach der 
Begründung der politischen Vormachtstellung Babels in der alten 
Welt durch Hammurabi und seine Nachfolger, also um 2000 v. 
Chr. erhalten haben. Selbstverständlich konnte es sich dabei nicht 
um eine Neuschöpfung handeln, sondern nur um eine Sammlung 
des alten Überlieferungsstoffes unter dem Gesichtspunkt: Marduk, 
der Stadtgott von Babel, ist der Herr unter den Göttern, der 
Weltenschöpfer, der Bringer eines neuen Zeitalters. Das oben 
erwähnte Bruchstück der 5. Tafel aus spezifisch assyrischer Re- 


man hierin wohl nicht sehen, sondern vielmehr die Dekretierung der 
ewigen Dauer des kosmischen Verhältnisses der Gestirne zu der von 
ihnen auf ihrer Bahn immer wieder berührten Tihamat, dem Himmelsdach. 
1 d. i. die oberen Götter. 


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§ 13. Die Schöpfungsgeschichten des Berosus und Damascius. 53 

zension beweist, daß späterhin die assyrischen Ansprüche auf die 
Weltherrschaft ähnlich legitimiert wurden durch eine Schöpfungs- 
legende, in der Assur als Weltschöpfer und Bringer einer neuen 
Zeit auftritt. Das ist ganz im Sinne der alten Weltanschauung, 
die für die bestehende oder auch nur beanspruchte „Ordnung 41 
einer kosmologischen Autorisation nicht entraten kann. 

Nach seiner liturgischen Bedeutung ist das Epos Enuma 
elisch als Festgeschichte für das Mardukfest, das Neujahrsfest im 
Frühling, anzusehen. 

Erwähnt mag noch werden, daß die Gestalten und Episoden des 
Weltschöpfungsepos in der späteren babylonischen Astrologie eine be- 
deutsame Rolle spielen. Wie dem ganzen Epos astrale Vorstellungen 
zugrunde liegen, so hat die spätere „Wissenschaft“ die Ausdeutung und 
Lokalisierung im einzelnen vorgenommen, vgl. King, Sev. Tabl. 1 S. 208ff. 
Über die literarischen Nachwirkungen des Epos in der religiösen 
Literatur, speziell in dem Mardukhymnus K 3351 s. ebd. S. 204 ff. 

# 13. Die Schöpfungsgeschichten des Berosus und Da- 
mascius und ihr Verhältnis zu Enuma elisch. 

Der griechische Text in Eusebius, Chronic, über prior ed. Schoene 
S. 14—18. Text u. Übersetzung bei Zimmern, KAT 3 S. 488ff.; Winckler, 
KT 4 S. lOOff.; A. Jeremias, ATAO* 132 ff. Vgl. auch oben S. 43. 

1. Berosus. 

Nach Berosus hat es eine Zeit gegeben, „in welcher das All 
Finsternis und Wasser war 44 , und darin seien wunderbare Lebe- 
wesen von eigenartigen Gestalten entstanden: Menschen mit zwei 
oder vier Flügeln, zwei Gesichtern, mit einem Leib, aber zwei 
Köpfen, mit doppelten Schamteilen, männlichen und weiblichen, 
Menschen mit Ziegenbeinen und Ziegenhörnem, mit Pferdefüßen 
und viele andere wunderbar gestaltete Lebewesen. Über diese 
alle aber habe ein Weib mit Namen Omorka 1 geherrscht; chaldäisch 
0«p.Te, griechisch ftaXacraa. Als aber das All so bestellt war, 
da sei Bel darüber gekommen, habe das Weib mitten entzwei 
gespalten und aus der einen Hälfte von ihr die Erde, aus der 
andern den Himmel gemacht und die zu ihr gehörigen Tiere 
vernichtet. 

Die wichtigste Variante gegenüber Enuma elisch ist das Fehlen 
der Theogonie; die Götter werden als bereits vorhanden voraus- 
gesetzt, gerade wie in dem Schöpfungsbericht 82 — 5 — 22, 1048 


1 Wohl = Mutter der Tiefe, inhaltlich vielleicht entsprechend 
dem Beinamen um-muchu-bur im Epos. 


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54 Kap. 3: Die babylonischen Schöpfungsmythen. 

(§ 1 4). Es fehlt bei Berosus auch die Motivierung des Kampfes gegen 
Tihamat durch den Zwist unter den Oöttern. Zweifellos entsprechen 
aber die Fabeltiere der Omorka den elf Helfern der Tihamat im 
Epos, trotz ihrer größeren und unbestimmten Zahl. Während 
aber bei Berosus die Fabelwesen dauernd zum Reich der Omorka 
gehören und mit ihr überhaupt die erste Generation bilden, 
werden die elf Helfer von Tihamat ad hoc zum Kampf gegen 
die großen Götter erschaffen. Mit der Spaltung der Omorka, 
der Finsternis, und der beim Eindringen des Lichtes erfolgenden 
Vernichtung der Fabelwesen findet eine völlig abgeschlossene 
Ära der Urgeschichte ihr Ende, ein neues Weltzeitalter be- 
ginnt unter der Herrschaft Bels durch die Bildung von Himmel 
und Erde. — Diese Vorgänge sind im Epos zum mindesten 
nicht deutlich, jedenfalls treten sie nicht so plastisch heraus wie 
bei Berosus. Im Epos ist ja überhaupt von der zweiten Hälfte 
des Tihamatleibes gar keine Rede mehr, dort scheint über- 
haupt, wenigstens auf den Tafeln 1 — 5, alles auf die Erschaffung 
und Ausgestaltung der kosmischen Sphäre hinauszulaufen. 

„Als aber Bel das fruchtbare Land unbewohnt sah, habe er 
einem der Götter befohlen, ihm (nämlich Bel 1 ) den Kopf abzuschlagen, 
mit dem herabfließenden Blute die Erde zu vermischen und so 
Menschen und Tiere zu bilden, die imstande wären, die Luft zu 
ertragen. Es habe aber Bel auch die Gestirne, Sonne, Mond 
und die fünf Planeten vollendet“ .... Berosus überliefert auch 
die Variante: Bel „habe sich selbst den Kopf abgeschlagen und 
die anderen Götter hätten das herabfließende Blut mit der Erde 
vermischt und daraus die Menschen gebildet. Deshalb seien diese 
vernunftbegabt und hätten Teil an göttlichem Verstände“. 

Diese Nachrichten lassen es zweifelhaft erscheinen, ob sie 
unmittelbar auf die Rezension Enuma elisch zurückgehen; es liegen 
ja bei Berosus offenkundig schon zwei in wesentlichem diffe- 
rierende Vorlagen zutage. Die Berührungen, die in Einzelheiten 
vorhanden sind, beschränken sich auf Hauptmomente, die offenbar 
jede babylonische Tradition der Legende festgehalten hat; daneben 
fallen die Differenzen schwer ins Gewicht, zumal sie derart sind, 
daß Berosus sie kaum aus den Fingern gesogen haben kann. 
Besonders auffallend ist das, was bei Berosus fehlt. Freilich 


1 Ursprünglich war wohl gemeint, daß irgend einem andern Gott 
auf Befehl Bels das Haupt abgeschlagen werden sollte. 


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§ 13. Die Schöpfungsgeschichten des Berosus und Damascius. 55 

darf man nicht vergessen, daß unsere Überlieferung des Berosus 
mit größtem Mißtrauen beurteilt werden muß. Die Auswahl, die 
wir haben, ist von Eusebius getroffen in der Absicht, Berosus 
an besonders abenteuerlichen und unglaubhaften Stellen seiner 
Mitteilungen ad absurdum zu führen, ihn lächerlich zu machen. 
In dieser Absicht ist vielleicht auch das Mitgeteilte von Eusebius 
böswillig oder aus Unverstand entstellt wiedergegeben. Jedenfalls 
genügt das Vorhandene wohl nicht zur Entscheidung der Frage, ob 
die Nachrichten des Berosus unmittelbar auf die Rezension Enuma 
elisch oder auf eine andere Vorlage zurückgehen, so sehr auch 
vieles für die letztere Annahme spricht. Vgl. auch S. 43 f. u. A. 1. 

2. Damascius. 

Text: Damasius de primis principiis, ed. Kopp, Kap. 125. Text 
u. Übers, bei Zimmern, KAT 3 S. 490, Winckler, K.T.* S. 102. 

Die Babylonier übergingen den einen Ursprung des Alls 
mit Stillschweigen. Sie stellten vielmehr zwei (Prinzipien) auf, 
Taube und ’Arcaacov (Tihamat und Apsu), wobei Taube als Mann 
der ’Arraawv, diese als Göttermutter erscheint. Sie hatten einen 
einzigen Sohn erzeugt, Mwupt? (—Mummu), der, wie Damascius 
meint, die aus den zwei Prinzipien sich herleitende intelligible 
Welt ist. Aus denselben sei eine zweite Generation hervorge- 
gangen, Aaxtj und Aayo; (Lachmu und Lachamu), dann noch- 
mal eine dritte aus eben denselben, Kiaaapr) und ’Aaawpo? (Kischar 
und Anschar); von den letzteren seien folgende drei erzeugt 
worden: ’Avoj, ’IXAivos und ’Ao; (Anu, Enlil-Bel, Ea). Als Sohn 
des ’Ao? und der Aauxt) (Damkina) sei aber BrjXo; geboren worden, 
von dem sie sagten, daß er der Weltbildner sei. 

Die vollständige Übereinstimmung dieser Nachrichten mit 
den ersten Zeilen von Enuma elisch liegt klar zutage (vgl. oben 
S. 45 und A. 1). Die Erkundigungen des Damascius müssen, 
durch welche Vermittlung auch immer, im letzten Grund von 
diesem Epos inspiriert gewesen sein. Lediglich der Schlußsatz, 
daß Bel (=Marduk) Sohn des Ea und der Damkina gewesen, 
geht nicht auf eine bezügliche Angabe des Epos zurück, sondern 
ergänzt den Bericht über die Theogonie nach den allgemeinen 
babylonischen Anschauungen. 


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56 Kap. 3: Die babylonischen Schöpfungsmythen. 

# 14. Die sog. Schöpfungslegende von Eridu (?) J . 

Br. Mus. 82—5—22, 1048. Veröffentlicht: CT. XIII, pl. 35ff., 
übersetzt von Jensen KB VI, 1 S. 39 ff., Winckler, T.B.* S. 98ff.; Jeremias, 
ATAO a S. 129f.; King, Sev. Tabl. I, 130ff. Zu Inhalt und Analyse des 
Textes vgl. besonders Jeremias 1. c. u. Zimmern, KAT* S. 498. 

Der Text (aus neubabylonischer Zeit mit sumerischer, offen- 
bar sekundärer Übersetzung überliefert) bildet die Einleitung eines 
Beschwörungstextes und beginnt: 

1 Das heilige Haus, das Götterhaus, war an heiliger Stätte noch 

nicht gemacht, [schaffen, 

2 ein Rohr noch nicht hervorgesprossen, ein Baum nicht ge- 

3 Ziegelsteine nicht gelegt, ein Fundament nicht gebaut, 

4 ein Haus nicht gemacht, eine Stadt nicht gebaut, 

5 eine Ansiedelung nicht gemacht, (Menschen)gewimmel nicht 

6 Nippur nicht gemacht, Ekur nicht gebaut, [hineingesetzt, 

7 Erech nicht gemacht, Eanna nicht gebaut, 

8 der Apsu (Ozean) nicht gemacht, Eridu nicht gebaut, 

9 für das heilige Haus, das Götterhaus, die Stätte nicht gemacht, 

10 die Länder allesamt waren ein Chaos (tamtu), [war — 

11 zu der Zeit, da die Mitte des Chaos noch ein Wasserbecken 

12 damals ist Eridu gemacht, Esagila gebaut worden, 

13 Esagila, das mitten im Ozean Marduk* bewohnt, 

14 [Babel gemacht, Esagila vollendet worden, 1 * 3 ) 

15 die Götter, die Anunnaki, sind allesamt geschaffen worden, 

16 „die heilige Stadt“, eine „Wohnung, die ihrem Herzen wohl- 

tut“, nannten sie (sie) mit hehrem (Namen). 

17 Marduk fügte ein Rohrgeflecht angesichts des Wassers zu- 

sammen, [flechtes auf. 

18 Erde machte er, schüttete sie an der Seite des Rohrge- 

19 Um die Götter in einer „Wohnung des Wohlergehens des Herzens“ 

20 schuf er Menschen, [wohnen zu lassen, 

21 Aruru schuf mit ihm Menschensamen, 

22 Getier des Feldes, Lebewesen des Feldes schuf er, 

23 den Eufrat und Tigris schuf er und brachte sie an (ihren) Ort, 

24 ihren Namen benannte er gut. 

25 Gras(?), den Halm der Wiese, Rohr und Schlingpflanzen 

26 das Grün des Feldes machte er, [machte er, 

27 die Länder, die Wiesen und das Schilf. 

28 Die Wildkuh und ihr Junges, das Kalb, das Mutterschaf und ihr 

Junges, das Lamm der Hürde, 

1 Diese Bezeichnung gebrauche ich lediglich in Rücksicht auf das 
Herkommen. Vgl. das über die Verknüpfung gegenwärtiger Verhält- 
nisse und Institutionen mit der Urgeschichte oben S. 41 f. bemerkte. 

* Geschr. Lugal-Dul-Azag, hier Marduk von Eridu, der Gott des 
Beschwörungsrituals. 

3 Ursprünglich Glosse, durch welche die Rezension auf Babel und 
seinen Tempel Esagila überschrieben worden ist. 


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§ 14. Die sog. Schöpfungslegende von Eridu. 


57 


29 die Haine und die Wälder, 

30 Ziegenbock und Qazellen(?)bock . . . ten ihn (ihm). 

Marduk führt nun abermals „an der Grenze des Meeres“ eine 
Plattform auf, aus Rohrgeflecht und Erdmasse, macht [Rohr] und 

Holz legt Ziegelsteine hin, baut eine Ziegelform, macht Häuser, 

baut Städte, macht Städte, setzt Gewimmel hinein, macht Nippur, baut 

Ekur, macht Erech, baut Eana, [macht Eridu, baut Esagil) (der 

Rest fehlt). 

Das Verständnis des Textes bietet große Schwierigkeiten, die 
zum größten Teil dem recht unklaren Aufbau des Ganzen zur 
Last fallen. Innere Gründe legen es nahe, daß wir es bei dem 
Text keineswegs mit einem völlig ernst zu nehmenden Zeugnis 
der kosmogonischen Vorstellungen der alten Babylonier, sondern 
vielleicht eher mit dem Elaborat eines Priestereleven zu tun haben, 
der seiner Aufgabe, eine mythologische Einleitung zu einer „Be- 
schwörung von Eridu“ aus alten Überlieferungsstoffen und Vor- 
stellungen herzustellen, in formell nicht eben glänzender Weise 
gerecht geworden ist. Dafür spricht auch die höchst fragwürdige 
sumerische Version, die dem Text beigegeben ist. Die unge- 
schickte Einflechtung der „Glosse“ in Z. 14 läßt auch jedes Ver- 
ständnis für den größeren Zusammenhang des Textes vermissen. 
Die Übertragung mythischer Stoffe- auf andere Heiligtümer pflegt 
sonst wesentlich geschickter vorgenommen worden zu sein. 

Gleichwohl muß anerkannt werden, daß der Text eine un- 
schätzbare Quelle für die urgeschichtlichen Vorstellungen der 
Babylonier darstellt, wenn auch die Form, in der sie geboten 
werden, das Verständnis des Zusammenhangs ungemein erschwert. 
Der Text läßt sich vielleicht folgendermaßen analysieren: Z. 1 — 9 
schildern, was alles nicht da war, bevor die Welt ins Dasein 
trat, Z. 10 — 11 zeigen in positiver Form, wie das All damals 
beschaffen war, 12—18 schildern die Entstehung der kosmischen 
Orte, der drei Regionen der himmlischen Welt, der Reiche 
Eas (Eridu), Anus (Reich der Anunnaki, der Anu-Kinder Z. 15 — 16), 
Bels (das himmlische Erdreich Z. 17 — 18). Daß dieser von Jere- 
mias erschlossene Gedankengang vorliegt, wird durch die Auf- 
zählung der Heiligtümer der drei großen Götter in Z. 6 — 9 
außerordentlich wahrscheinlich, er ist aber freilich im Text so 
unklar wie nur möglich ausgedrückt. Noch größere Schwierig- 
keit macht das Folgende. An die Schöpfung des himmlischen 
Erdreiches schließt sich ein liebliches Idyll an, in dem Menschen, 
Tiere und Gräser sich ungestörten Friedens freuen. Danach ist dann 


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58 


Kap. 3: Die babylonischen Schöpfungsmythen. 


noch einmal die Rede vom Bau der Erde, auf der dann Städte und 
Menschengewimmel erstehen, die Erzählung kehrt zum Anfang 
zurück und berichtet, daß das, mit dessen Nichtexistenz in Z. 2 — 8 
das Chaos in negativer Form charakterisiert worden ist, nun in 
Erscheinung tritt. Jeremias hält die ganze Erzählung 19 — 30 für 
proleptisch und erst nach 31 ff. gehörig. Ich möchte dagegen 
diese Erzählung ruhig an ihrem Orte lassen und darin einen 
Niederschlag der babylonischen Vorstellungen vom Paradiese ver- 
muten, das auf der himmlischen Erde, dem Reich Bels, lokalisiert 
wird. Man wird dann freilich irgend eine Vermittlung zu der 
von 31 an erzählten Menschenerde erwarten, denn von da ab 
handelt es sich wohl sicher um irdische Verhältnisse. Doch 
dürfen wir das, wie so manche andere Unebenheit der Darstellung 
vielleicht dem Dilletantismus des Kompilators zurechnen. Eine 
ausführliche Behandlung des interessanten Textes ist hier nicht 
möglich und wird an anderer Stelle versucht werden. 

Die Pointe des Textes fehlt Es scheint sich um eine Stadt- 
geschichte zu handeln und zwar offenbar von Eridu. 

§ 15. DT. 41. Fragment aus Assurbanipals Bibliothek. 

Text: CT XIII pl. 34. Übersetzung: Jensen, KB VI, 1 S. 42f.; 
King, Sev. Tabl. 1, 122 ff. 

Der Zusammenhang, in den es gehört, ist unbekannt; es 
scheint den Anfang eines epischen (?) Textes zu bilden und führt 
in die Situation ein durch den Hinweis auf die vollendete 
Schöpfung: 

Nachdem die Götter, in ihrer Gesamtheit (die Welt) gemacht, 
den Himmel hergestellt, [die „Feste“] gefügt, 

Lebewesen geschaffen [gemacht usw. 

Vieh des Feldes, Getier des Feldes und Gewimmel der Stadt 

In Zeile 8 ist von der „Schar meiner Familie“ die Rede, 
Z. 9 von zwei kleinen Wesen, die Ea (Ninigiazag) erschaffen. 
Vielleicht ist das Fragment die Einleitung einer Familien- oder 
Dynastiengeschichte, die zwei kleinen Wesen sind vielleicht dann 
als die Ureltem der Familie zu betrachten. Zur Annahme, daß 
hier von der Erschaffung der ersten Menschen überhaupt die 
Rede wäre, fehlt jeder Anhaltspunkt. 

§ 16. „Als Anu den Himmel erschuf.“ 

Berlin 13987 Z. 24ff. (Text, Transkr., Übersetzung: Weißbach, 
Miscellen, Tafel 12, S. 32ff.), als Lektion in einem Text enthalten, 


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§ 16. Anu erschuf den Himmel. — § 17. Zahnschmerzwurmlegende. 59 

der rituelle Vorschriften für den Wiederaufbau von Tempeln ent- 
hält. Der Priester soll enuma Anu ibnu schäme, d. i. „Als Anu 
den Himmel schuf“ hersagen. Der leider sehr verstümmelte und 
nur zum kleinen Teil erhaltene Text lautet: 

Damals als Anu den Himmel erschaffen, 

Nu-dim-mud* den Ozean schuf, seine Wohnung, 
kniff Ea im Ozean Lehm ab, 
schuf den Gott des Ziegels zur Erneuerung . . . 
schuf Rohr und Wald (?) zur Herstellung des Baues . . . 
schuf den Gott der Zimmerleute, die Götter Nin-De 1 2 und A-Ra- 
Zu 2 zur Vollendung der Bauarbeit . . . 
schuf Gebirge und Meere für Wesen aller Art . . . 
schuf den Gott der Goldschmiede, den Gott der Schmiede, den 
Gott der Steinarbeiter, den Gott des Gebirges zur 
Anfertigung von . . . 
und ihre reiche Fülle zu Opfergaben . . . 
schuf Aschnan 3 * * , Lachar 8 , Siris*, Ningischzida 6 , Ninsar 8 , Aru[ru ? 7 

. . . um reichlich zu machen die Tempela]bgaben (?)... 
schuf die Neun (?) der Speise, die Neun (?) des Trankes 8 , die 

die Opfergaben halten, 

schuf Azag-Schud, den Oberpriester der großen Götter, zur Voll- 
ziehung der Gebote und Sa[tzungen?], 
schuf den König zur Ausstattung [der Heiligtümer der Götter?], 

schuf die Menschen zum Mach[en von 

Anu, Bel, Ea. 

Das weitere ist abgebrochen. Der Text zeigt, wie schließ- 
lich jede Erscheinung mit dem Uranfang verknüpft wird, und wie 
der Ausgangspunkt bestimmend wird für die Gestaltung der 
Zwischenglieder. Jeder Tempel, jedes Handwerk, jeder Mensch 
hat seine eigene Stufenreihe, die vom Anfang aller Dinge zu ihm 
herunter führt. 

§ 17. Die Legende vom Zahnschmerzwurm 9 . 

Text: CT XVII, pl. 50. Transkr. u. Übers.: Thompson, The De- 
vils II, 160 ff.; Meißner in MVAG 1904, 3, S. 42ff. 

„Nachdem Anu [den Himmel geschaffen], 
der Himmel die Erde geschaffen, 


1 Eine Erscheinungsform Eas. 

2 Bedeutung unsicher. 3 Getreidegottheiten. 

* Eine Weingottheit. 0 Diener des Feuergottes. 

8 Unbekannt. ’ Eine Schöpfergöttin. 

8 iiuUdun'“-*-»” miriti iiuUdun'»-» “ maschkiti, vgl. Cod. Ham. 3, 40. 

" Der Text ist laut Unterschrift abgeschrieben von Nabunadin- 

ibria nach einer alten Tafel im Besitz des Marduk-nadin-achi. 


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60 Kap. 3: Die babylonischen Schöpfungsmythen. 

die Erde die Flüsse geschaffen, 
die Flüsse die Gräben geschaffen, 
die Gräben den Schlamm geschaffen, 
der Schlamm den Wurm geschaffen, 
tritt der Wurm weinend vor Samas hin und vor Ea fließen seine 
Tränen: 

„Was wirst du mir geben als meine Speise? 

Was wirst du mir geben als meinen Wein? 

Mit dem angebotenen Saft der Dattelpalme und des Chaschchur- 
Baumes gibt sich der Wurm nicht zufrieden, er bittet vielmehr 
darum, im Gehege der Zähne und im Zahnfleisch Wohnung 
nehmen zu dürfen, damit er dort das Blut aussaugen und den 
Kiefer zerfressen könne. 

Die Antwort: 

Weil du das gesagt hast, o Wurm, 
soll Ea dich schlagen mit starker Hand! 
gehört jedenfalls ursprünglich nicht zur „Legende“, sondern bildet den 
Übergang zu der nunmehr folgenden Anweisung zur Beschwörung und 
Heilung des Zahnschmerzes. 

Die „Legende“ ist hier angegliedert, als Beispiel, wie die baby- 
lonische „Lehre“ in keinem Falle in Verlegenheit war, wenn es galt, 
den Dingen bis auf ihre letzten Gründe nachzuspüren, und wie dabei 
immer eine Genealogie sich ergibt, die bis zum Weltenschöpfer selber 
zurückreicht, vgl. oben S. 41 f. 

§ 18. Legenden über die Erschaffung von Sonne u. Mond. 

Text: 82-7—14, 4005 Obv. publ.; King, Sev. Tabl. II, XLIX. 
— Transkr. u. Übers, ib. I, 124 ff. 

Zwei kurze Texte, der erste sumerisch, der zweite semitisch 
abgefaßt, auf einer sog. Schülertafel erhalten. Neubabylonisch. 

1. Als die Götter Anu, Bel, Ea 

durch ihren beständigen Ratschluss und das erhabene Gebot 
das Aufleuchten des Mondgottes festsetzten, 
das Aufgehen des Mondes, die Erschaffung des Mondes, 
das Orakel des Himmels und der Erde festsetzten, 
bewirkte Anu das Aufleuchten des Mondes: 

Mitten am Himmel sichtbar trat er hervor. 

2. Als Anu, Bel, Ea, 

die großen Oötter, in ihrem beständigen Ratschluß 
die Umschrankung des Himmels und der Erde gemacht 
und den großen Göttern übergeben hatten, [würden: 

den Tag zu schaffen, den Mond zu erneuern, daß sie gesehen 
da erblickte die Menschheit den Sonnengott in dem Tor seines 

Aufgangs, [lassen, 

inmitten von Himmel und Erde hatten sie (ihn) richtig entstehen 


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§ 19. Die Legende vom Frühjahrsmond. 


61 


Kap. 4: Weitere Legenden aus dem Kreis des 
Schöpfungsmythus. 

$ 19 . Die Legende vom Frühjahrsmond. Mythologische 
Einleitung der 16. Tafel der Beschwörungsserie »Utukki 
limnuti« (die bösen Dämonen). 

Text: 4 R* 5; CT XVI pl. 19f. — Transkr. u. Obers.: Thompson, The 
Devils and evil spirits of Babylonia I, 88ff., Ubers.: Winckler, F. III 
S. 58 f., Himmels- und Weltenbild der Babylonier (AO. III 2 — 3) S. 59t 
Jeremias, ATAO* 102 f. Zum Inhalt s. Hommel, Aufss. Abhh. S. 267; 
Winckler, 11. cc.; Zimmern, KAT* S. 500. 

Daß die Einleitung dieser Tafel einem mythologischen Stück 
entnommen ist, geht aus Z. 54 ff. hervor. Der 1. Teil, Z. 1 — 51, 
unterscheidet sich an sich in nichts von anderen ähnlichen 
Schilderungen des Treibens der bösen Geister. Nach Z. 54 aber 
muß das vorhergehende als Inhalt einer Rede an Bel aufgefaßt 
werden; die Einleitung des ganzen Mythus, dem die Schilderung 
entnommen, ist von dem Kompilator der Beschwörungsformel 
als für seine Zwecke belanglos weggelassen worden. Diese Ein- 
leitung muß u. a. enthalten haben, daß ein Bote an Bel abge- 
schickt worden war, diesem Kunde von der Bedrängnis des 
Mondgottes durch die »bösen Sieben« zu bringen. Dieser Bote 
schildert das Treiben der Sieben wie folgt: 

Die Winterstürme, die bösen Götter sind sie. 

Die schonungslosen Schedu, auf dem Himmelsdamm erzeugt, 
Sie, die Erreger des Unheils sind sie, [sind sie. 

Die ihr schlimmes Haupt erheben, täglich auf Übles [sinnen,] die 

Schlinge zu werfen [trachten]. 

Unter diesen Sieben ist der erste der Südwind .... 

Der zweite ist ein Drache (uschum gallu) mit offenem Rachen . . ., 

dem niemand [widerstehen kann?], 
Der dritte ist ein grimmiger Panther, der die Tierjungen raubt (?), 
Der vierte ist eine schreckliche Schlange . . . [[gibt]; 

Der fünfte ist ein wütender Abbu, vor dem es keinen Rückhalt 
Der sechste ist ein hervorbrechender . . . , der gegen Gott und 
Der siebente ist ein schlimmer Sturmwind, der . . . [König . . . 
Sieben (an der Zahl) sind sie, die Boten Anus, ihres Königs. 
Traurigkeit bringen sie über alle Wohnstätten, 

Der Orkan, der am Himmel zornig einherstürmt, sind sie. 

Sie sind die Sturmwolke, die am hellen Tage den Himmel 
verdunkelt; in ihnen sendet Adad seine Wettergüsse; sie leuchten 
auf wie der Blitz am Himmelsgrund; am weiten Himmel, der 


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62 Kap. 4: Weitere Legenden zum Schöpfungsmythus. 

Wohnung des Königs Anu, stehen sie, alles bedrohend; niemand 
vermag ihnen stand zu halten. 

Als nun Bel diesen Bericht hörte, erwog er die Angelegen- 
heit bei sich und ging mit Ea zu Rate. Das Ergebnis der Be- 
ratung ist folgende Maßregel: Sin, Samas und Istar werden zur 
Verwaltung des Himmelsdammes eingesetzt, im Einverständnis 
mit Anu überträgt Bel die Herrschaft über den Himmel diesen 
drei Gottheiten, seinen Kindern. Tag und Nacht unaufhörlich 
ihren Standpunkt am Himmel einzunehmen, werden sie beauftragt 

Als nun die bösen Sieben auf dem Himmelsdamm einher- 
zogen, da bedrängten sie den »Leuchter« Sin, den Samas ge- 
wannen sie zum Bundesgenossen, während Istar beim König 
Anu eine herrliche Wohnung bezogen hatte und ihren Sinn 
darauf richtete, Himmelskönigin zu werden. 

Sin hält dem Andrängen der Sieben nicht stand, sein Licht 
wird verdunkelt, er sitzt nicht auf seinem Thron und auf der 
Erde liegt alles in Öde und Traurigkeit Die bösen Sieben 
herrschen frei und brausen im Sturm über das Land. 

Da bemerkt Bel die Verdunkelung des Mondgottes und 
eilends sendet er seinen Boten Nusku zu Ea im Ozean, ihm zu 
melden, daß sein Sohn Sin jammervoll verdunkelt sei. 

Wie Ea im Ozean diese Kunde vernimmt, bricht er in Weh- 
klagen aus, ruft seinen Sohn Marduk und spricht zu ihm: 

Z. 135 ff. Gehe, mein Sohn Marduk! 

Den Fürstensohn, den »Leuchter' Sin, der am Himmel elend 

verdunkelt ist, 

seine Verdunkelung am Himmel verwandle in Glanz. 

Diese Sieben: böse Götter, schonungslose Mordgesellen sind sie, 
diese Sieben: böse Götter, die wie die Sturmflut hereinbrechen 

und das Land heimsuchen, sind sie, 
die über das Land wie der Südwind hereinbrechen, sind sie. 
Vor den „Leuchter“ Sin haben sie sich zornig gelegt, 
den Helden Samas und Adad, den Tapferen, haben sie auf ihre 

Seite gezogen 
[der Rest abgebrochen.) 

Dieser Mythus ist durch die unmittelbare Anschaulichkeit 
seiner Darstellung ein ungemein instruktives Beispiel für die Er- 
kenntnis des astralen Hintergrundes aller Mythologie. Es ist der 
Mythus des Frühjahrsmondes. Die bösen Winterstürme sind die 
Plejaden, die Genossen Nergals, der Wintersonne. Noch Hesiod 
weiß, daß die 40 Tage der Unsichtbarkeit der Plejaden eine Zeit 
der Stürme sind. Der Unsichtbarkeit des Gestirns entspricht im 


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§ 20. Bel und der Labbu. 


63 


Mythus offenbar die Entfernung von dem Standort bezw. das 
Dahinjagen durch den weiten Himmelsraum. Um den Himmels- 
damm in Ordnung zu halten, werden die Hauptgestime, Sonne, 
Mond und Venusstem bestellt 1 . Die Sieben bedrängen den Mond, 
verdunkeln sein Licht. Die Wendung, daß sie die Sonne auf 
ihre Seite gebracht, beweist die Erkenntnis, daß der Mond sein 
Licht von der Sonne hat Zur Befreiung des bedrängten Mondes 
wird Marduk, der Gott der Frühjahrssonne berufen, die aus dem 
Himmelsozean, dem Bereich Eas hervortaucht. Der fehlende 
Schluß des Mythus berichtet natürlich von dem siegreichen Kampf 
Marduks gegen die winterlichen Mächte, dem dadurch ermög- 
lichten Sichtbarwerden der Neumondsichel. 

Das Ganze ist eine direkte Parallele zum Kampf gegen 
Tihamat, an deren Stelle hier die Winterstürme stehen, ein 
literarischer Beweis dafür, daß die Mythen der in ihren Phasen 
sich entsprechenden Hauptgestirne Sonne, Mond und Venusstem 
die Wirksamkeit derselben Kräfte wiederspiegeln müssen. Daß 
es sich um den Neumond im Frühjahr, zum Jahresanfang, handelt, 
geht aus dem Text deutlich hervor. Im Zusammenhang damit 
steht die Erwähnung der auf der Erde während der Unsichtbar- 
keit des Mondes herrschenden Öde und Trübsal, die auch im 
Tammuzmythus (Istars Höllenfahrt s. § 30) wiederkehrt 

Die literarische Abhängigkeit vom Epos Enuma elisch zeigt 
sich deutlich in der Form, in der die Aufforderung zum Kampf 
an Marduk ergeht. Man darf wohl vermuten, daß in der selb- 
ständigen Rezension des ganzen Mythus auch die Übertragung 
der Weltherrschaft als Siegespreis dem Marduk zugesichert wird. 

§ 20. Bel und der Labbu. 

Der Text, Rm 282, stammt aus der Bibliothek Assurbanipals und 
ist nur fragmentarisch erhalten, in der Mitte fehlen mehrere (50?) 
Zeilen vollständig. Übersetzungen: Zimmern bei Gunkel, Schöpfung 
S. 417ff.; Jensen, KB VI, 1 S. 45ff.; King, Sev. Tabl. I, llöff.; Hrozny 
in MVAG, 1903, 5 S. 109; Jeremias, ATAO ä S. 138f. Der Originaltext 
ist zuletzt veröffentlicht CT XIII, pl. 33f. Der Text ist im Original 
auch äußerlich rhytmisch abgeteilt, wenn auch unregelmäßig. 

Infolge der Verstümmelung der Zeilen läßt sich der Sinn 
namentlich des Eingangs nicht mit Sicherheit feststellen. Ich 
schließe mich hier in der Hauptsache an Hrozny an, dessen Er- 

1 Sie werden Regenten des Tierkreises, wie Anu, Bel, Ea in der 
älteren Periode. 


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64 Kap. 4: Weitere Legenden zum Schöpfungsmythus. 

gänzungen wohl wenigstens dem Sinne nach das Richtige treffen 
dürften. 

Inhaltsangabe. Allgemeines Wehklagen herrscht auf der 
Erde, die [offenbar durch ein wildes Fabelwesen, den Labbu, 
heimgesucht worden ist]. Jammernd fragen die Menschen nach 
der Herkunft des Ungetüms: 

„Wer hat den Drachen [geboren]? 

Hat denn das Meer 1 den Drachen [geboren]? 

Das Klagen der Menschen dringt zu den Ohren Bels und 
er beschließt, einen von den Himmlischen zu entsenden, der den 
Kampf mit dem Ungeheuer aufnehmen soll. Um die Götter mit 
dem Gegenstand des Kampfes und der Größe der Gefahr bekannt 
zu machen, zeichnet er das Bild des Drachen an den Himmel: 
50 Meilen ist seine Länge, 1 Meile seine [Breite?]. 

6 Ellen sein Rachen, 12 Ellen seine [....] 

12 Ellen der Umfang seiner 0[hrenj. 

Auf 60 Ellen hin [erreicht] er die Vögel. 

Im Wasser schleppt er 9 Ellen tief [seinen Bauch dahin?] 
er hebt hoch seinen Schwanz 

Die Götter erschrecken vor diesem Ungeheuer und flüchten 
sich zu Sin, dem Mondgott. Dieser verspricht dem, der es unter- 
nehmen wolle, den Drachen zu töten, und dadurch die Erde 
errette, die Königsherrschaft. Der Gott Tischpak (? Lesung un- 
sicher, Tischchu?) wird zum Kampfe ausersehen, weigert sich aber, 
das „Erzeugnis des Flusses“ anzugreifen. 

[Lücke.] 

Endlich wird [Tischpak?] 2 * * aufgefordert, den Kampf zu wagen: 
Laß Wolken hinabfahren (?), den Sturmwind [entfeßle,] 

Dein Lebenssiegel [halte] vor dich hin, 
fahre hinab und töte den Labbu. 

Und er fährt (?) auf der Wolke hinunter (?), vom Sturmwind ge- 
trieben, und tötet den Drachen, dessen Blut 3 Jahre, 3 Monate, 
1 Tag und [1 Nacht] 8 lang ununterbrochen dahinströmt. 

Die Deutung des Mythus ist wegen der Lückenhaftigkeit des 
Textes sehr erschwert. Ich muß mich hier darauf beschränken, 
das Sichere hervorzuheben. Es handelt sich um einen Kampf 
der Lichtgottheit gegen das die Erde bedrängende Ungeheuer 
Labbu, der Siegespreis ist die Königsherrschaft. Das regierende 

1 Tamtu-Tihamat. 

2 Nach Hrozny; nach andern Bel, vgl. aber King, Sev. Tabl. 

I, 120 a. 1. 

2 Oder: Tag und Nacht, vgl. aber King, Sev. Tabl. 1, 120 a 2. 


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§ 21. Der göttliche Sturmvogel Zu. 


65 


Gestirn ist der Mond, es ist also Nacht. Tischpak (ein Name 
Ninibs, einer Erscheinungsform des Sonnengottes) tritt nach Über- 
windung des Ungeheuers an seiner Stelle die Herrschaft an, was 
den Anbruch des jungen Tages andeutet. Die Deutung des Un- 
geheuers Labbu ist unsicher. Vielleicht ist er mit Hrozny als 
Personifikation des Nebels und sein von Bel an den Himmel 
gezeichnetes kosmisches Gegenbild als die Milchstraße aufzufassen. 

Die Verwandtschaft mit dem Tihamatkampf im Epos Enuma 
elisch ist offenkundig: wie dort ist die Königsherrschaft der Sieges- 
preis im Kampf des Lichtgestirns gegen die Personifikation der 
Macht der Finsternis, die Art der Aufforderung zum Kampf ist 
ganz ähnlich wie dort. Im Gegensatz zum Epos aber wird hier 
die Welt mit menschlichen Ansiedelungen als bestehend voraus- 
gesetzt. 

Vielleicht ist mit Hrozny im Labbu das Urbild des biblischen 
Leviathan zu erkennen. 

§ 21. Der göttliche Sturmvogel Zü. 

Text: CT XV, pl. 39ff. Transkr. u. Übers.: Jensen, KB VI, 1,46 ff. 
Zum Inhalt s. KAT 3 S. 499f. 

Vorläufig ist nur ein Stück mit Sicherheit diesem Mythus zuzu- 
schreiben. Ein anderes (K 4628, CT XV, 42), das man bisher als 
„Überlistung des Zü (?)“ überschrieben hat, und der nach dem Folge- 
weiser sich hieran unmittelbar anschließende Text K 5187 etc. (CT XV, 
pl. 43) gehören möglicherweise zum Mythenkreis der Etanalegende, 
s. § 22; über die Zugehörigkeit von K 4864 -f- 4869 (ib. pl. 42) fehlt 
jeder Anhaltspunkt. Daß K 3476 (ib. pl. 44) nicht hierher gehört, hat 
Zimmern erwiesen. Alle diese Texte stammen aus Assurbanipals 
Bibliothek. 

1. Der Raub der Schicksalstafeln. 

Inhaltsangabe. Die ganze erste Kolumne fehlt bis auf 
wenige Reste der ersten 20 Zeilen, über den Inhalt des Anfangs 
läßt sich nichts vermuten. 

Kolumne II. Bel ist der oberste der Götter. Zü erblickt ihn, 
wie er angetan ist mit den Zeichen seiner Herrschaftswürde, mit 
den göttlichen Schicksalstafeln. Da wird Zü von Gier nach der 
Herrschaft erfaßt: 

Ich will nehmen die Schicksalstafeln der Götter, ich, 
und die Befehle der Götter alle an mich reißen, 

will einen Thron aufrichten, über die Gebote herrschen, 
will regieren die Gesamtheit aller Igigi. 

Er lauert nun Bel am Eingang des Götterpalastes am frühen 
Morgen auf und wie Bel, nachdem er mit reinem Wasser sich ge- 

Weber, Literatur. 5 


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66 Kap. 4: Weitere Legenden zum Schöpfungsmythus. 

waschen, auf den Thron gestiegen ist, seine Krone aufgesetzt hat, 
da rafft Zü die Schicksalstafeln an sich und fliegt mit ihnen 
davon. So lange aber die Schicksalstafeln geraubt sind, ist alle 
Herrschertätigkeit der Himmlischen unterbunden. Anu sucht nun 
einen von den Göttern zu bewegen, den Kampf gegen Zü auf- 
zunehmen, ihn zu erschlagen, die Schicksalstafeln wieder zurück- 
zubringen. Dem, der das vollbringt, soll die Herrschaft über die 
Götter zufallen. Zuerst wird Adad aufgerufen: 

Du, Gewaltiger furchtbarer Adad! Nicht weiche dein Angriff! 

Erschlage Zü mit deiner Waffe! 

Dann soll groß sein dein Name in der Versammlung der 

großen Götter, [haben, 

unter den Qöttem, deinen Brüdern, sollst du keinen Rivalen 
Entstehen, erbaut sollen werden Götterkammem, 

in die vier Weltgegenden magst du deine Städte legen. 
Deine Städte sollen hineinkommen in Ekur, [Name!“ 

Mächtig sollst du sein unter den Göttern, gewaltig dein 
Aber Adad bittet, ihn mit dem heiklen Auftrag zu ver- 
schonen, denn: 

Wer ist wie Zü unter den Göttern, deinen Kindern? 
er fühlt sich der Aufgabe nicht gewachsen. 

Und wie Adad, so wollen auch Istar und Bara sich nicht 
auf den Kampf einlassen, und — der Text ist nach der Weigerung 
Bara’s abgebrochen — man kann vermuten, daß Mardukj, wie 
im Epos Enuma elisch, durch die Überwältigung des Zü sich die 
Herrschaft über die Götter erringt. Möglicherweise aber hat in 
einer ursprünglichen Form des Mythus schließlich Bel selber die 
Schicksalstafeln und mit ihnen die Herrschaft über die Götter 
und die ganze Welt wieder an sich gebracht. 

Diese Möglichkeit wird zur Gewißheit, wenn es sich heraus- 
stellt, daß ein zweites Stück (K 4628, vgl. S. 65), das vielleicht 
diesem Mythenkreise angehört, 

2. Die sog. Überlistung des Zü (?) 
tatsächlich mit dem ersten zusammenhängt, in dem vielleicht von 
der Wiedergewinnung der Schicksalstafeln die Rede ist Als 
handelnd tritt hier auf Lugalbanda, eine Erscheinungsform Bels, 
die speziell in den Götterkreis von Erech gehört 1 . Auch die 
Erwähnung des Berges Sabu, der ein Berg Bels ist, spricht dafür. 

1 Demnach ist wohl sicher, daß jedenfalls dieser Teil des Mythus 
seine vorliegende Fassung in Erech, dem Hauptsitz des Lugalbanda, 
erhalten hat, wie das Oilgameschepos. 


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§ 21. Der göttliche Sturmvogel Zu. 


67 


Lugalbanda zieht sich zurück in die Einsamkeit, auf den 
Berg Sabu. Niemand ist bei ihm, weder Vater noch Mutter, 
noch ein Freund. Da spricht er in seinem Herzen: 

Dem Vogel will ich antun was (ihm) zukommt! 

Dem Zu will ich antun, was (ihm) zukommt! 

Um das zu bewerkstelligen, will er das Weib und den Sohn des 
Zü zum Mahle laden, einen Mischkrug aus blankem Lasurstein, 
einen Waschkübel (?) aus Silber und Gold für sie bereit stellen. 
Die Worte: 

Im Rauschtrank steht das Frohlocken, 
im Rauschtrank sitzt das Jauchzen 
wollen wohl andeuten, daß er sie berauscht machen will und 
so von ihnen etwa zu erfahren hofft, wie er dem Zü selbst am 
besten beikommen kann, ihm die Schicksalstafeln zu entreißen. 

Aus den wenigen Zeilen, die noch erhalten, ist vorläufig 
der weitere Verlauf nicht zu ersehen, auch der sich anschließende 
Text K5187 etc. ist in seinem Zusammenhang mit dem vorher- 
gehenden noch völlig dunkel. 

Das erste Stück zeigt wiederum deutliche Anklänge an das 
Weltschöpfungsepos Enuma elisch, so vor allem in der Einladung 
an die Götter zum Kampf und der Weigerung einzelner Gott- 
heiten, in der Ausführlichkeit, mit der die Götter in wörtlichen 
Wiederholungen ihre Weigerung begründen. Die Pointe, daß die 
Königsherrschaft als Siegespreis versprochen wird, teilt dieses Epos 
mit den verwandten Epen Enuma elisch, Bel und Labbu und 
auch wohl mit der „Legende vom Frühjahrsmond“. Der Mythus 
von Zü weist namentlich in seinem zweiten Stück auch engere 
Berührungspunkte mit dem Etanamythus auf. 

Auch der Mythus von Zü ist als Darstellung des Kampfes 
zwischen Winter- und Frühjahrssonne, zwischen Tag und Nacht 
aufzufassen; das beweist der Inhalt des Mythus an sich und das 
wird auch erhärtet durch die Tatsache, daß Zü von den Baby- 
loniern im Sternbild des Pegasus lokalisiert wird, das vor dem 
des Stieres (Symbol Marduks!) steht, in welches die Sonne um 
2000 v. Chr. im Frühjahr eintrat. 

Wegen seiner Berührungen mit dem Zü-Mythus und weil 
auch in ihm, wenn auch in ganz eigenartiger Weise, die Idee der 
Königsherrschaft im Mittelpunkt steht, wie in den vorhergehenden 
Legenden, sei der Etanamythus hier angeschlossen. 


5 * 


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68 


Kap. 5: Der Etanamythus. 


Kap. 5: Der Etanamythus. 

Literatur. Die Texte, meist aus Assurbanipals Bibliothek stam- 
mend, sind publiziert in BA II, 439 ff. 503 ff.; III, 379 ff. Ein Fragment, 
das bereits aus der Hammurabizeit zu stammen scheint, ist von Scheit 
entdeckt und in Note LV im Recueil Bd. XXIII veröffentlicht worden. 
Zur Transkr. u. Übers, siehe außer den genannten Aufsätzen vor allem 
Jensen in KB VI, 1 S. 100 ff. u. S. 581 ff. Dort auch über die mutmaß- 
liche Reihenfolge der erhaltenen Fragmente. Möglicherweise gehören 
auch K 4628* u. K 5187 etc. (CT XV, pl. 42f., zweisprachig) zum Etana- 
mythus, doch ist der Zusammenhang dieser beiden Fragmente noch 
völlig unsicher. 

Zum Inhalt vgl. KAT * S. 563 ff. und Stucken, Astralmythen S. 1 ff. 
§ 22. Inhaltsangabe. Der mutmaßliche Anfang des Ge- 
dichtes führt in eine Zeit, wo noch kein König auf Erden war. 
Die großen Anunnaki und Igigi 

hatten keinen König über die Menschen der ruhigen Wohnsitze 

gesetzt. [sammengefügt. 

Damals war eine Königsbinde, eine Königskrone noch nicht zu- 
ein Zepter von Lasurstein war noch nicht . . . worden. 

Zepter, Königsbinde, Königskrone und Hirtenstab lagen noch 
vor Anu im Himmel. Da macht sich Istar auf, dem Lande einen 
König zu suchen... Hier bricht der Text ab. Jedenfalls stand in 
der Lücke, wie Istar bei ihrem Suchen nach einem Könige auf 
Etana stößt, dessen Weib der Geburt eines Kindleins entgegen- 
sieht; dieses Kindlein wird offenbar von den Göttern zum König 
bestimmt. Aber die Geburt scheint sich zu verzögern, Etana 
muß göttliche Hilfe suchen, das „Kraut des Gebärens“ sucht er 
zu gewinnen. Dazu soll ihm der Adler behilflich sein, der aber 
von der Schlange übel zugerichtet in einer Grube liegt. Die 
Geschichte des Zwistes zwischen Adler und Schlange wird* nun, 
bevor die Haupthandlung — Etana sucht das Wunderkraut — 
weitergeführt wird, ausführlich erzählt. Das Folgende bildet eine 
Episode im Mythus. 

Den Adler war ein Gelüste angekommen, der Nachtschlange 
die Jungen zu fressen: 

„Die Jungen der Nachtschlange will ich fressen, ich! Die Nacht- 
schlange [ist sorglos] in ihrem Herzen. 

Ich will hinaufsteigen, am Himmel sp[ähen], 

hinabfahren auf den Oipfel eines Baumes und die Frucht fressen!^ 

1 Bisher, wie auch oben (S. 65), als Stück des Zü-Mythus aufgefaßt. 


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§ 22. Inhaltsangabe. 


69 


Das Adlerjunge, das „sehr gescheite“ (Atarchasis) warnt den Vater: 

„Friß nicht, mein Vater! Soll das Netz des Samas dich fangen ? 

Soll das Jägergarn, der Bann des Samas über dich ergehen und 

[dich] fangen? 

Wer die Grenze des Samas überschreitet: Samas wird ihn böse i 

in die Hand . . .“. 

Der Adler hört aber nicht auf die Warnung und frißt die Jungen 
der Nachtschlange. 

Die Schlange klagt nun bei Samas: 

Meine Jungen waren zerstreut, [ich war] nicht [bei ihnen]; 

da fuhr er herab und fraß [meine Jungen]. 

Das Böse, das er mir antat, gib ihm zurück, Samas! 1 

Wer hat aus deinem Netz entkommen lassen den schlimmen Zu, 

der das [„böse Haupt] hochhält“? 

Samas rät ihr, „über den Berg“ zu ziehen. Dort soll sie in den 
Leib eines toten Wildochsen (remu) kriechen, dann würden allerlei 
Vögel vom Himmel auf das Aas herunterstoßen, unter ihnen 
auch der Adler, den soll sie dann packen, ihm die Schwingen 
zerzausen und ihn in eine Grube werfen, „daß er den Tod des 
Hungers und des Durstes sterbe“ 1 . Die Schlange folgt dem 
Rate des Samas und alles geschieht, wie es der Gott vorausgesagt. 
Interessant ist, daß wiederum das Adlerjunge, das „sehr gescheite“, 
den aasgierigen Vater warnt: 

„Fahr nicht hinab, mein Vater! Wenn nun eine Schlange im 

Innern des Wildochsen lauert?“ 

Der Vater Adler hört nicht auf die Warnung, geht in die Falle 
und wird von der Schlange jämmerlich zugerichtet. Flehentlich 
bittet er: 

„Erbarm dich mein! Dann will ich dir wie ein Bräutigam ein 

Brautgeschenk geben.“ 

Die Schlange aber läßt sich nicht erweichen, sie schlägt ihm die 
Flügel ab und zerrauft ihm das Gefieder, wirft ihn in die Grube, 

„daß er den Tod des Hungers und des Durstes stürbe“. 

Hier bricht der Text ab. 

Der Zusammenhang mit dem Folgenden ist noch völlig un- 
klar. Nun tritt auf einmal Etana auf und bittet Samas um das 
„Kraut des Gebarens“. Sein Weib hat wohl Not gehabt, die 
Frucht ihres Leibes abzustoßen — erwähnt ist davon nichts — ; 
jedenfalls braucht Etana das Wunderkraut. Er hält Samas vor, 
daß die Priester reichlich Opfer gebracht hätten und wendet sich 
nun direkt an ihn: 


1 Talion! 


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70 


Kap. 5: Der Etanamythus. 


„Gib her das Kraut des Gebarens, 
zeige mir das Kraut des Gebarens! 

Reiß heraus mein Erzeugnis und mache mir einen Namen (Sohn)!“ 
Samas weist ihn an, „über den Berg“ zu ziehen, gerade wie er 
vorher der Schlange dort die Erfüllung ihrer Bitte verheißen hat. 
Der Text bricht hier ab. Offenbar sagt ihm Samas, daß er sich 
an den auf dem Berge gefangenen Adler wenden solle, der ihm 
zur Erlangung des Wunderkrautes behülflich sein werde. Etana 
kommt zum Adler, richtet ihm die Botschaft des Samas aus und 
verlangt von ihm das Wunderkraut. 

Hier bricht der Text wiederum ab, ein Paralleltext erzählt, 
daß Etana im 9. Monat den wieder zu Kräften gekommenen 
Adler in seiner Grube aufgesucht hat. 

Im folgenden scheint Etana eine Vision zu erzählen, in der 
er den Himmel geschaut hat. Leider ist auch hier der Text nur 
lückenhaft überliefert. Vielleicht ist diese Vision verknüpft mit 
einer Offenbarung an Etana, daß das Wunderkraut sich im 
Himmel befinde und von dort geholt werden müsse, jedenfalls 
erwidert der Adler Etana, daß er bereit sei, ihn hinauf zum 
Himmel zu tragen. Etana klammert sich an den Adler Brust (P) 1 
an Brust und wird von ihm durch die Lüfte getragen. Dreimal, 
nach je einer Doppelstunde läßt der Adler Etana zur Erde her- 
niederschauen, die immer mehr ihren Blicken entschwindet, sodaß 
zuletzt das Meer wie eine Gartenrinne sich ausnimmt. Nach der 
dritten Doppelstunde kommen sie an den Himmel Anus und 
dringen ein durch das Tor Anus, Bels und Eas. 

Hier bricht der Text wiederum ab. 

Im Himmel Anus haben sie das Kraut des Gebarens nicht 
erhalten, sie müssen noch höher steigen, offenbar nochmals je 
drei Doppelstunden, um vor dem Thron der Istar, die ander- 
weitig als die „Mutter der Gebärenden“ bezeugt ist, ihre Bitte 
zu wiederholen. Wiederum läßt der Adler Etana nach je einer 
Doppelstunde zur Erde und zum Meer heruntersehen, das Meer 
erscheint ihm einmal wie ein Hof, dann wie ein Brotkorb. Die 
immer wachsende Entfernung nimmt aber Etana schließlich den 


1 Das erfordert — gegen Jensen — doch wohl der Kontext, und 
ganz abgesehen vom Text scheint mir die Schwierigkeit für Etana, in 
dieser Stellung auf die Erde herunterzusehen, geringer als die, sich rück- 
lings am Adler festzuhalten. Vgl. aber Jeremias ATAO 3 zu 5. Mos. 32, 11. 


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§ 22. Inhaltsangabe. 7] 

Mut und er will nicht höher hinauffahren. Mitsamt dem Adler 
stürzt er in die Tiefe. 

Der Schluß des Textes ist uns nicht erhalten. Erwähnt 
mag werden, daß wir im Gilgamesch-Epos Etana in der Unter- 
welt finden; vielleicht hat dort erst sein Sturz geendet Ob das 
Kind Etanas auch ohne das Kraut des Gebarens zur Welt ge- 
kommen ist, wissen wir nicht 

Der Mythus stellt als Ganzes genommen der Erklärung große 
Schwierigkeiten entgegen wegen der lückenhaften Erhaltung, die 
es erschwert, die Beziehungen der einzelnen Bestandteile zu 
einander zu erkennen. Deutlich heben sich drei Hauptteile von 
einander ab: die Legende von der Geburt des ersten Königs 
bildet das Grundthema des ganzen Mythus, die Erzählung vom 
Adler und der Schlange ist durchaus episodisch und erweist sich 
durch ihre in keinem Verhältnis zu ihrer Wichtigkeit für die 
Haupthandlung stehende Ausführlichkeit als Fremdkörper, der 
sicher auch außerhalb dieses Zusammenhangs im Umlauf gewesen 
ist. Desgleichen dürfte in der Himmelfahrt des Etana ein vor- 
handenes Schema benützt worden sein, da gerade die Idee der 
Himmelfahrt ohne jede Beziehung auf ihre spezielle Formulierung 
im Etanamythus in manchen anderen orientalischen und auch 
griechischen Mythen wiederkehrt. Auch das „Kraut des Gebärens“ 
ist ein mythologisches Motiv, dessen anderweitige Verbreitung 
es nahe legt, anzunehmen, daß es auch in Babylonien in anderem 
Zusammenhang vorgekommen sein mag. 

Zu dem im folgenden behandelten Gilgameschcpos führen vom 
Etanamythus her einige beachtenswerte Bindeglieder. Es ist auffallend, 
daß die bei Aelian, Anim. Hist XII, 21 überlieferte babylonische Gil- 
gamossage Elemente des babylonischen Gilgameschepos und des Etana- 
mythus zusammenwirft; dieselbe Beobachtung machen wir in der 
arabischen Sage und im Alexanderroman (Himmelfahrt Nimrods)'. 


Kap. 6: Das Gilgamesch'-Epos. 

Literatur: Text bei Haupt, Babyl. Nimrodepos; Nachträge in 
BA 1,49 ff. 97 ff.; Tafel 6 u. 11 auch 4 R' 1 * 41—42, 43-44. Übers.: A. 

1 Zur Literatur hierüber vgl. KAT 3 S. 565 f. 

* Die Lesung des früher Izdubar, Gischthubar, wohl auch Nimrod 

gelesenen Namens ist jetzt durch phonetische Schreibung gesichert; 
zur Bedeutung des Namens vgl. Jensen, KB VI, 1 S. 116. 


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72 


Kap. 6: Das Gilgamesch-Epos. 


Jeremias, Izdubar-Nimrod, und vor allem Jensen, KB VI, 1 S. 11 6 ff.; für 
die 11. Tafel: Zimmern bei Gunkel, Schöpfung und Chaos S. 423 ff.; 
Jeremias, ATAO S. 125ff.; Winckler, TB* S.84ff. 

Über den Inhalt s. Zimmern, KAT 3 S. 566ff.; Jeremias 1. c. Über 
den mutmaßlichen Sinn des Epos wie auch besonders über seine Ein- 
wirkung auf die Literatur anderer Völker verbreitet sich nach der vor- 
läufigen Anzeige P. Jensen: „Das Nationalepos der Babylonier und seine 
Absenker“. Über die Entstehung der überlieferten Form des Epos in 
sagen- und literargeschichtlicher Beziehung, vgl. Jastrow, Religion of 
Babyl., S. 467 ff. Uber die Beziehungen des Heros zu Arabien vgl. 
Hommel, Aufss. u. Abhh. S. 298 f. 

Fast das ganze bisher zugänglich gewordene Material entstammt 
der Bibliothek Assurbanipals. Ein verhältnismäßig kleines Stück einer 
stark abweichenden Rezension ist aus altbabylonischer Zeit erhalten 
(s. S. 88 ff.). Auffallend ist, daß bisher keine einzige Spur einer späteren 
Niederschrift aufgetaucht ist, auffallend namentlich in Rücksicht auf die 
außerordentliche Verbreitung der Stoffe dieses Epos im ganzen alten 
Orient und im Hinblick auf die zahlreichen späteren Duplikate anderer 
epischer und lyrischer Stücke der Sammlungen Assurbanipals. Gleich- 
wohl dürfte es sich hier lediglich um Zufall handeln. 

§ 23. Inhaltsangabe. 

Tafel I. Die Einleitung gibt einen kurzen Überblick über 
die Eigenschaften und Taten des Helden. Er wird eingeführt als 
der, der in alles Einsicht hatte, dem auch das Geheimnisvolle 
offenbar war, der aus der Zeit, die vor der großen Flut liegt, 
Kunde brachte und mühevolle Wanderungen in ferne Gegenden 
ausführte. Die Mauer von Erech hat er aufgerichtet und Eanna, 
den Tempel der Istar, in dieser Stadt erbaut. 

Lücke von etwa 35 Zeilen. 

In Erech hat Gilgamesch eine drückende Gewaltherrschaft 
aufgerichtet; um den Bau der Stadtmauer durchzuführen, zwingt 
er die ganze junge Mannschaft ohne Rücksicht auf ihre Familien- 
bande in seine Dienste Tag und Nacht wird gearbeitet, die 
Braut muß den Geliebten, der Vater den Sohn missen. Darüber 
erhebt sich großes Wehklagen, das bis zum Thron der Himm- 
lischen dringt Die Schöpfer- und Muttergöttin Aruru, die den 
Gilgamesch geschaffen, wird angefleht, ein Ebenbild des Tyrannen 
zu erschaffen, der mit ihm den Kampf aufnehmen und seine 
übermütige Gewalttätigkeit nach anderer Seite hin ablenken soll. 

Als Aruru dies hörte, schuf sie in ihrem Herzen ein Ebenbild 

des Anu. [Feld, 

Aruru wusch ihre Hände, Lehm kniff sie ab, warf ihn auf das 

. . . Eabani schuf sie, einen Gewaltigen, einen großen (?) Spröß- 

ling, eine Heerschar Ninibs. 


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§ 23. Inhaltsangabe: Tafel I. 


73 


Mit Haar bedeckt ist sein ganzer Leib, er ist . . . an Haupthaar 

wie ein Weib. 

Die seines Haupthaars reckt sich wie Weizen. 

[Nicht] kennt er Leute und Land. Bekleidet ist er mit Kleidern 

Mit den Gazellen zusammen frißt er Kraut. [wie Gir. 

Mit dem Vieh zusammen sättigt er sich an der Tränke. 

Mit dem Gewimmel des Wassers freut sich sein Herz. 

Das nächste Ziel ist nun die Vereinigung des Eabani und 
Gilgamesch. Eabani führt unter den Tieren des Feldes ein un- 
gebundenes Leben und kommt dabei in Konflikt mit einem Jäger, 
der sich von ihm in seiner Berufsübung gestört sieht. Der Jäger 
wendet sich um Rat an seinen Vater, wird von diesem an Gil- 
gamesch gewiesen und auf den Rat dieser beiden nimmt er ein 
Freudenmädchen mit sich, das durch ihre Verführungskünste den 
Eabani an sich ketten und zur Wanderung nach Erech bewegen 
soll, wo er mit ihr wohnen soll „in dem strahlenden Hause, der 
Wohnung Anus und Istars, wo Gilgamesch, vollkommen an 
Kraft, ist, der wie ein Wildstier über die Männer gewaltig ist“. 
Diese Szenen werden mit großer Ausführlichkeit geschildert. Be- 
weglich klagt der Jäger seinem Vater und dann mit den gleichen 
Worten Gilgamesch gegenüber über die Gewalttätigkeit des 
Eabani, der ihm den Zugang zur Tränke verwehrt, die Gruben 
verschüttet, die Netze entfernt, das Vieh verscheucht, den Ertrag 
des Feldes ihm vorenthält. Die buhlerischen Künste des Freuden- 
mädchens werden mit großer Derbheit erzählt. Eabani vergißt 
über dem Weibe alles, sechs Tage und sechs Nächte gibt er sich 
ihren Reizen hin. Die Folgen, die schon des Jägers Vater 
vorhergesehen : 

Wenn er sie sieht, wird er sich ihr nähern: 

Dann wird ihn sein Vieh nicht mehr kennen, das auf 

seinem Felde aufwuchs — 

treten alsbald ein: 

Nachdem er sich gesättigt an ihrer Fülle, 

wandte er sein Antlitz nach dem Felde seines Viehs. 

Als sie ihn, Eabani, sahen, jagten die Gazellen dahin, 
es wich das Vieh des Feldes von seinem Leibe. 

Da scheute (?) Eabani zurück, sein Körper war gebunden, 
seine Kniee standen still, da sein Vieh davonging. 

Traurig setzt er sich bei der Hure nieder und diese nutzt seine 
Stimmung, das Gefühl der Vereinsamung, um ihn ihrem Plane, 
ihn nach Erech zu führen, gefügig zu machen: 

„Schön bist du, Eabani, wie ein Gott bist du. 

Warum jagst du mit dem Gewimmel über das Feld hin? 


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74 


Kap. 6: Das Oilgamesch-Epos. 


Auf! Ich will dich führen nach Hürden-Erech hinein, 
zu dem strahlenden Hause, der Wohnung von Anu und Istar, 

wo Qilgamesch ist, vollkommen an Kraft, 
und wie ein Wildstier über die Männer gewaltig ist.“ 

Ihre Rede hat Erfolg: 

Da sie zu ihm spricht, gefällt ihre Rede, 

Einen, der sein Herz kennt, sucht er, einen Freund, 
und er bittet sie, ihn nach Erech zu führen. 

Obwohl Eabani durch die Sehnsucht, einen Freund zu ge- 
winnen, sich nach Erech treiben läßt, ist er sich doch bewußt, 
daß er in ihm einen Rivalen finden wird. Mitten in Erech will 
er es verkünden: 

Ich bin ein Mächtiger, 

wenn ich einziehe, werd’ ich die Schicksale wandeln. 

Der auf dem Felde geboren ward, mächtig ist seine Kraft 

Und die Hure muß ihn an des Gilgamesch Macht und Überkraft 
erinnern und ihn mahnen, seinen Zorn zu wandeln. 

In dem gleichen Widerstreit der Gefühle sieht Gilgamesch 
der Ankunft des „Freundes" entgegen. In zwei Traumbildern 
hat er ihn schon erschaut: 

Als da waren die Sterne des Himmels, 
wie eine Heerschaar Anus fiels auf meinen Rücken, 

Ich trug ihn, doch er ist mächtig über mich. 

Ich doch kann ich ihn nicht abschütteln. 

Das Land Erech steht gegen ihn. 

Seine Mutter Rimat-Belit „löst“ ihm den Traum, und er erwartet 
in Eabani den „Genossen, der den Freund rettet“. Der Schluß 
der Tafel I fehlt, die letzterhaltenen Worte „die beiden Brüder“ 
deuten hin auf den beginnenden Freundschaftsbund. 

Tafel II. Am Anfang fehlen ca. 50 Zeilen, darauf folgt 
ein Fragment, das die Klage des Gilgamesch über den Freund 
enthält, der „sich in Sehnsucht nach seinem Felde und seinen 
Tieren verzehrt und dahinsiecht“ (Jensen). Über das neue Leben, 
das den Waldmenschen Eabani iri Erech erwartet hat, gibt die 
Lockrede der Hure Auskunft, mit der sie ihn zum Mitgehen zu 
bewegen gesucht hatte. Festjubel bei Tag und bei Nacht, Dirnen, 
schön an Gestalt, mit Überkraft beladen und voll Jauchzens, sollten 
ihn fesseln. Aber Eabani sehnt sich nach der freien Wildnis 
seiner Felder, und so macht sich sein Kummer Luft gegen die 
Hure, die ihn betört hatte. Der Text ist hier sehr lückenhaft. 
Vielleicht wird sein Kummer auch noch motiviert durch die Er- 


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§ 23. Inhaltsangabe: Tafel II— IV. 


75 


zählung, daß Hirten zu Eabani kommen und ihm erzählen, wie 
seit seinem Fernsein die wilden Tiere unter ihren Herden wüten. 

Der Sonnengott jedoch führt dem Eabani im Traum die 
Vorzüge seiner jetzigen Lage zu Gemüte, erinnert ihn, daß er 
göttliche Speise, königlichen Trank genossen, festliche Gewandung 
getragen hat, daß er zur Seite des Gilgamesch, des Freundes und 
Bruders sitzen, daß die Könige des Erdbodens seine Füße küssen 
werden. „Da waren die , Bande' Eabanis gelöst und sein ergrimmtes 
Herz kam zur Ruhe“. [Der Zusammenhang des Folgenden ist 
nicht ganz klar. Von der Tafel sind weiterhin nur vereinzelte 
Bruchstücke erhalten, deren Zusammengehörigkeit überdies noch 
unsicher ist] Ein anderes Traumgesicht versetzt Eabani in großen 
Schrecken. Soweit sich vermuten läßt, zeigt ihm die Gottheit 
darin sein nahes Ende; er sieht sich in die Unterwelt versetzt, 
von der er seinem Freunde Gilgamesch ein anschauliches Bild 
entwirft, das in einzelnen Zügen genau mit der Schilderung in 
Istars Höllenfahrt übereinstimmt Das letzte der erhaltenen Frag- 
mente aus dieser Tafel bringt die Ankündigung des von Eabani 
gemeinsam mit Gilgamesch unternommenen Zuges zu Humbaba, 
dem Wächter des heiligen Zedernwaldes, der in den folgenden 
Tafeln eingehend beschrieben wird. 

Tafel III. Vor dem Zug zum Zedemwalde treten Gil- 
gamesch und Eabani vor Rimat-Beüt, die Mutter des Gilgamesch, 
die Magd der Nin-sun, die große Königin, die alles Wissens 
kundig ist, um ihre Fürbitte bei Samas für das Gelingen ihres 
Unternehmens zu erflehen. Ihre Bitte findet Erhörung, Rimat- 
Belit rüstet sich priesterlich, geht zu den Göttern, bringt ein 
Opfer dar und fleht zu dem Sonnengott, daß er ihren Sohn 
segne, der ferne Wege geht zu dem Ort des Humbaba, einem 
Kampf entgegenzieht, den er nicht kennt, Pfade reitet, die er 
nicht kennt, bis er Humbaba den Furchtbaren erschlage, alles 
Böse im Lande ausrotte. Vielleicht gehört (nach Jensen) hierher 
auch das Fragment (S. 151), in dem weitere Opfer und Gebete 
an Samas (?) gerichtet werden, unter Assistenz von Tempelfrauen, 
wobei auch Eabani redend auftritt 

Tafel IV ist gleichfalls nur ganz fragmentarisch erhalten, 
scheint zunächst von Vorbereitungen zur Reise zu berichten. Am 
Schluß der Tafel wird Humbaba, der von Bel als Wächter für 
die heilige Zeder eingesetzt ist, näher beschrieben. Die Wanderer 
scheinen mittlerweile in der Nähe des Zedemwaldes angelangt 


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76 


Kap. 6: Das Gilgamesch-Epos. 


zu sein, sie scheinen die grauenerregende Stimme des Wächters 
bereits vernommen zu haben, denn Eabani sagt zu Gilgamesch: 

Mein Freund, wir wollen nicht hinabgehen in den Wald! 

Schwach sind die Hände und gelähmt sind meine Arme. 
Gilgamescli aber ermuntert ihn und flößt ihm Mut ein, und so 
schreiten sie vorwärts und gelangen alsbald zum grünen Berge, 
vor dem sie in ehrfürchtiger Stille stehen bleiben. 

Tafel V. Die beiden Wanderer stehen vor dem Wald, 
staunend betrachten sie die Höhe der Zeder, den Zedernberg, 
den Wohnsitz der Götter, das Allerheiligste der Irnini: 

Vor diesem Berge erhebt die Zeder ihre üppige Fülle; 
ihr guter Schatten ist voll Jauchzen. 

Der nächste Zusammenhang ist durch Lücken in dem über- 
lieferten Text unklar. Der weitere Fortschritt der Handlung wird 
durch die Erzählung von drei Traumgesichten des Eabani auf- 
gehalten, die Gilgamesch als glückliche Vorbedeutung für die 
Besiegung des Humbaba auslegt Vom ersten Traum ist nichts 
erhalten. Im zweiten sieht Eabani sich mit dem Freunde auf 
dem „Horn“ eines Berges stehen, da fiel der Berg nieder. Von 
Gilgamesch wird der Berg auf Humbaba gedeutet: 

Mein Freund, der Berg, den du sahst, das ist Humbaba. 

Wir werden Humbaba packen, werden sein Haupt abschlagen 
und seinen Leichnam auf das Gefilde werfen. 

Das dritte Traumbild, das Eabani sah, ist folgendes: 

Es brüllte der Himmel, es toste der Erdboden, 
der Tag erstarrte, Finsternis kam heraus. 

Es blitzte ein Blitz auf, es ward Feuer entzündet, 

sättigten sich, es füllte sich der Tod. 

Da schwand die Helle, schwand das Feuer. 

Rauch, der niederfiel, wandelte sich in Asche. 

Von hier ab fehlt ein großes Stück, das die Schilderung des 
Kampfes enthalten haben muß. Die wenigen erhaltenen Schluß- 
worte lassen erkennen, daß der Kampf mit der Erschlagung des 
Humbaba geendet hat. 

Tafel VI. Gilgamesch hat den Humbaba erschlagen, reinigt 
die blutigen Waffen, schmückt sich mit strahlenden Gewändern, 
setzt sich die Königstiara auf das Haupt. Die Schönheit des 
Helden zieht die Augen der Göttin lstar auf sich und sie begehrt 
ihn zum Buhlen: 

Wohlan Gilgamesch! Mögest du mein Buhle sein! 

Ehe Frucht deines Leibes sollst du mir schenken! 

Du sei mein Mann, ich will dein Weib sein! [und Gold, 
Ich will dich bespannen lassen einen Wagen von Lasurstein 


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§ 23. Inhaltsangabe: Tafel V — VI. 


77 


dessen Räder von Gold, von Demant dessen „Hörner“, 
täglich sollst du einschirren mächtige Maultiere. 

In unser Haus tritt ein, in Wohlgeruch von Zedemholz. 
Wenn du eintrittst in unser Haus, 

sollen sie einen Thron aufrichten (?), deine Füße küssen, 
will ich unter dir sich beugen lassen Könige, Herren und 

Fürsten, 

sollen sie . . . von Berg und Land dir als Tribut bringen! 
Deine Rinder sollen . . ., deine Schafe Zwillinge werfen! 

sollen die Maultiere kommen! 

Dein Pferd am Wagen sei herrlich im Dahinjagen! 

Dein Maultier am Joch finde nicht seinesgleichen! 

Auf Gilgamesch machen diese lockenden Verheißungen nicht den 
geringsten Eindruck. Er mißtraut vor allem der Beständigkeit 
ihrer Zuneigung: 

Wer ist dein Buhle, den du beständig lieben wirst? 

Wer ist dein Hirtenknabe, der dir immerdar angenehm sein 

wird? 

Er weiß auch Beispiele anzuführen aus Istars Liebesieben, die 
ihn zur Zurückhaltung bestimmen: 

Hast du nicht Tammuz, dem Buhlen deiner Jugend, 

Jahr für Jahr Weinen bestimmt? 

Ais du den bunten Hirtenknaben(vogel) liebtest, 
schlugst du ihn und zerbrachst seinen Flügel ! 

Im Walde steht er und ruft: „Mein Flügel“. 

Und wie Tammuz und der Hirtenknabenvogel, so mußten alle, 
denen Istar einmal ihre Liebe geschenkt, erfahren, daß ihnen die 
Huld der Göttin zum Verderben geworden: der Löwe, das Pferd, 
der Hirte und Ischullanu, der Gärtner ihres Vaters. Auch Gil- 
gamesch versieht sich keines besseren Schicksals, wenn er dem 
Liebeswerben Gehör schenkt: 

Auch mich wirst du lieben und jenen gleich machen. 

Die Sprödigkeit des schönen Helden versetzt Istar in hellen Zorn, 
sie tritt vor ihren Vater Anu und ihre Mutter Antum, klagt wider 
Gilgamesch und fordert in heftigen Worten die Bestrafung des 
Frevlers, der sie mit Schmach überhäuft hat. Einen himmlischen 
Stier soll Anu erschaffen, daß er Gilgamesch zerreiße. Anu trägt 
Bedenken, der beleidigten Tochter den Willen zu tun, gibt aber 
dann doch nach. Die Erzählung von der Erschaffung des Stieres 
ist nicht erhalten, auch der Kampf der beiden Helden Eabani 
und Gilgamesch mit dem Stiere ist nur sehr lückenhaft über- 
liefert. Der Kampf ist furchtbar, das Schnauben des Stieres bringt 
den Kämpfenden Verderben, 200 Männer fallen allein dem zweiten 


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78 Kap. 6: Das Gilgamesch-Epos. 

Schnauben zum Opfer, aber endlich wird der Himmelsstier er- 
schlagen. 

Dieser Mißerfolg steigert Istars Zorn aufs höchste. Sie steigt 
auf die Zinne der Stadt Erech und schleudert von da ihren 
Fluch gegen Gilgamesch, der sie gekränkt und den Himmelsstier 
erschlagen hat Eabani vernimmt ihren Fluch und schleudert ihr 
den Phallus des Stieres ins Gesicht mit den Worten: 

Kriegte ich doch auch dich 
und täte dir wie ihm, 

würde ich seine Eingeweide an deine Seite hängen. 

Istar versammelt nun ihre Freudenmädchen und sie erheben zu- 
sammen ein gewaltiges Weinen über dem Phallus des Himmels- 
stieres. Gilgamesch aber ruft die Werkleute und läßt die Hörner 
des Stieres zu einem Weihgeschenk für seinen Gott Lugalbanda 
herrichten. 

Die beiden Helden waschen im Eufrat ihre Hände, ziehen 
in Erech ein, wo sich staunend die Männer um sie versammeln. 
Es erschallt das Triumphlied: 

Wer ist schön unter den Männern? 

Wer ist herrlich unter den Mannen? 

Gilgamesch ist schön unter den Männern. 

Gilgamesch ist herrlich unter den Mannen. 

Gilgamesch veranstaltet in seinem Palaste ein Freudenfest, und 
es legen sich schlafen die Männer, legen sich zur Ruhe im 
Schlafgemach der Nacht. Eabani aber hat von neuem Traum- 
gesichte, deren Erzählung uns aber leider nicht erhalten ist 

Tafel VII läßt sich aus den bis heute gefundenen Frag- 
menten auch nicht teilweise sicher hersteilen. Vielleicht war sie 
ausgefüllt mit der Erzählung von einem weiteren Zuge der beiden 
Freunde, den sie, um Zedemholz zu gewinnen, unternommen 
haben. Mit Sicherheit läßt sich dieser Tafel, und zwar dem 
Schluß nur das Stück zuweisen, das die Erkrankung Eabanis er- 
zählt, die vielleicht auf einen Unglücksfall beim Bau der Mauer 
von Erech, vielleicht aber auch auf den giftigen Hauch des 
Himmelsstieres zurückzuführen ist Jedenfalls klagt Eabani seinem 
Freunde Gilgamesch gegenüber bitterlich, daß er einem unrühm- 
lichen Tode auf dem Krankenbette entgegensiecht und nicht sterben 
darf wie einer, der inmitten des Kampfes erschlagen ward. 

Tafel VIII, ebenfalls nur lückenhaft erhalten, enthält u. a. 
eine ergreifende Totenklage des Gilgamesch über den Freund: 
„Eabani, mein Freund, mein jüngerer Bruder, Panther des Feldes, 


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§ 23. Inhaltsangabe: Tafel VII — IX. 


79 


der da jegliches • . .te, und wir bestiegen Berge, 
packten und erschlugen den Himmelsstier, 
schlugen Humbaba, der im Zedernwalde wohnte! 

Nun — was ist das für ein Schlaf, der dich gepackt hat? 

Du bist verstört (?) und hörst mich nicht!“ 

Eabani aber erhebt seine Augen nicht; da berührt Gilgamesch 
sein Herz, aber es schlägt nicht, und er verhüllt den toten 
Freund wie eine Braut. Eine Frage an Gilgamesch, warum er 
sich so in Kummer verzehre, daß sein Leib verfalle, preßt eine 
neue Klage über den von ihm genommenen Freund aus, die 
ausklingt in die Worte: 

Mein Freund, den ich liebte, ist wie Lehmerde geworden. 
Werde nicht auch ich, wie er, mich zur Ruhe legen und nicht 

aufstehen in aller Zukunft? 

Tafel IX. Neben dem Schmerz über den Tod des Freundes 
peinigt den Gilgamesch die Furcht vor einem ähnlichen Schicksal: 
Werde nicht auch ich sterben wie Eabani? 

Wehe ist eingezogen in meinem Herzen. 

Ich fürchte mich vor dem Tode und jage über das Feld hin. 
so klagt er und faßt den Entschluß, zu den Gebeinen seines 
längst entschlafenen Ahns Utnapischtim zu wandern. Den Ent- 
schluß führt er alsbald aus und gelangt zunächst in Berg- 
schluchten, wo Löwen hausen, die er mit Hilfe des Mondgottes 
und der Istar erlegt. Sein Weg führt ihn dann zum Berge 
Maschu. Mit diesem Berge scheint die Vorstellung vom Welt- 
berg, der den Himmelsdamm und die Unterwelt verbindet, ver- 
knüpft zu sein. Aber den Zugang zum Berge verwehren schrecken- 
erregende Gestalten: 

Skorpionmenschen bewachen sein Tor, 
deren Schrecklichkeit furchtbar, deren Anblicken Tod ist; 
ihr fürchterlicher Schreckensglanz wirft Berge hin; 
beim Aufgehen der Sonne und beim Untergehen der Sonne 

bewachen sie die Sonne. 

Gilgamesch erzittert bei ihrem Anblick. Der Skorpionmensch 
wird seiner gewahr und ruft seinem Weibchen zu: 

„Der da zu uns kommt, Fleisch der Oötter ist sein Leib“. 
Sein Weibchen antwortet ihm: 

„Zwei Drittel von ihm ist Oott und ein Drittel von ihm ist 

Mensch“. 

Von dem Skorpionmenschen nach seinem Begehr gefragt, erzählt 
Gilgamesch, daß er seinen Ahn Utnapischtim aufsuchen wolle, 
der zu den Göttern versammelt sei, „nach Tod und Leben“ 
wolle er ihn fragen. Der Skorpionmensch sucht ihn von seinem 


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80 


Kap. 6: Das Gilgamesch-Epos. 


Vorhaben abzubringen durch den Hinweis auf die Schwierig- 
keiten und Gefahren, die der Weg zu diesem Ziele berge, gibt 
ihm aber, da Gilgamesch fest bleibt, Anweisung, wie er den 
Schrecken des düsteren Gebirges Maschu begegnen solle. Gil- 
gamesch macht sich auf den Weg. Zehn Doppelstunden weit 
tastet er sich fort durch undurchdringliches Dunkel, das ihm 
weder vorwärts noch rückwärts zu schauen verstattet; nach der 
11. Doppelstundenstrecke fängt der Weg an sich zu lichten, nach 
der 12. entsteht Helligkeit und er gelangt zu einem wunderbaren 
Götterpark, in dem seltsame Bäume stehen, die edles Gestein an 
Stelle der Früchte tragen, „gut zum Anschauen“. Die Beschreibung 
des Parkes ist nur sehr lückenhaft erhalten, aus dem Zusammen- 
hänge scheint aber hervorzugehen, daß die Lage des Gartens un- 
mittelbar am Gestade des Meeres gedacht ist, aber wohl nicht 
des Mittelländischen Meeres, an der Phönizischen Küste (Jensen, 
Zimmern), sondern vielmehr im Süden oder Osten Arabiens 
(Hommel). Vgl. auch unten S. 90 und Anm. 2. 

Tafel X. Im Göttergarten sitzt „auf dem Throne des 
Meeres“ 1 die Göttin Siduri-Sabitu „mit einer Hülle verhüllt“. 
Sie sieht Gilgamesch auf sich zukommen, der hin und her lief, 

mit Häuten ist er bekleidet 

Fleisch der Oötter hat er an seinem Leibe; 

Weh ist in seinem Bauche, 

einem, der ferne Wege gewandert ist, gleicht sein Antlitz. 

Sie verriegelt ihre Tür, aber da Gilgamesch droht, gewaltsam 
bei ihr einzudringen, fragt sie ihn, warum sein Aussehen so ver- 
stört sei, warum er so über das Feld dahinjage. Gilgamesch 
erzählt ihr von dem Tode seines Freundes Eabani, des Genossen 
seiner Taten, dessen Schicksal schwer auf ihm liege; er fürchte, 
wie jener sterben zu müssen. Um dem zu entgehen, sei er in 
die Ferne gezogen, Utnapischtim, seinen Ahn, zu suchen. 
Dringend fordert er Auskunft über den Weg, auf dem er zu 
ihm gelangen könne: 

„Wenn es möglich ist, will ich über das Meer gehen. 

Wenn es nicht möglich ist, will ich (weiterhin) über das Feld 

dahinjagen!“ 

Darauf die Göttin: 

Nicht gab es, Gilgamesch, je eine Überfahrt, 
und keiner, der seit Alters anlangt, geht über das Meer. 

1 D. i. auf einem das Meer beherrschenden Berge; vgl. Hommel, 
Grundriss S. 179 Anm. 1. 


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§ 23. Inhaltsangabe: Tafel K. 


8t 


Über das Meer ist gegangen Samas der Gewaltige. 

Aber außer Samas, wer geht hinüber? 

Schwierig ist der Übergang, beschwerlich sein Weg, 
und tief sind die Wasser des Todes, die ihm vorgelagert 
Wo, Oilgamesch, wirst du über das Meer gehn? [sind. 

Wenn du zu den Wassern des Todes gelangst, was wirst 

du tun? 

Sie weist ihn nun an den Schiffer des Utnapischtim, Ur- 
Nimin: 

Wenn es möglich ist, dann geh’ mit ihm hinüber! 

Wenn es nicht möglich ist, weiche zurück! 

Gilgamesch findet Ur-Nimin, wird auch von diesem ausführ- 
lich nach dem Grund seines verstörten Aussehens und seines 
Umherstreifens gefragt und wiederholt ihm seine ausführliche 
Antwort und seine Bitte, ihm den Weg zu Utnapischtim zu 
zeigen. Ur-Nimin besteigt mit ihm ein Schiff und während die 
Überfahrt sonst anderthalb Monate dauert, erreichen sie schon 
am dritten Tage die „Wasser des Todes“. Die Vorkehrungen, die 
getroffen werden, um die „Wasser des Todes“ zu durchsegeln, 
sind nicht verständlich. Der Schiffer warnt Gilgamesch davor, 
die Wasser des Todes mit der Hand zu berühren, und 120 
Schiffsstangen von 60 Ellen Länge, die Gilgamesch vor der Ab- 
fahrt im Walde hatte fällen müssen, kommen zur Verwendung, 
ohne daß klar wäre, wozu sie dienen sollen. 

Utnapischtim sieht das Schiff aus der Feme herannahen und 
fragt sich verwundert nach dem ihm unbekannten Schiffsgenossen 
seines Schiffers, der menschliche und göttliche Merkmale an sich 
trägt und ihm selbst so völlig gleicht. Nachdem die beiden ge- 
landet sind, wiederholt sich das alte Spiel in der Frage nach dem 
Grunde des verstörten Aussehens des Gilgamesch und der Er- 
zählung von dem Tode des Eabani. Von dem weiteren Gespräch 
zwischen Gilgamesch und Utnapischtim fehlt ein beträchtliches 
Stück, erhalten ist nur am Schluß der Tafel das Stück einer 
Rede, die offenbar Utnapischtim in den Mund gelegt ist und 
eigenartige Reflexionen über die Jenseitsvorstellungen enthält: 
Bauen wir ein Haus für immerdar? Siegeln wir für immerdar? 

Teilen Brüder für immerdar? 

Geschieht Kinderzeugen auf Erden für immerdar? 

Führt der Fluß Hochwasser für immerdar? 

.... der Kuliluvogel den Kirippü(?)vogel, 
sieht sein Antlitz der Sonne Antlitz für immerdar? 

Herrscht nicht [der Tod (?)) von Anbeginn an? 

Weber, Literatur. 6 


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82 


Kap. 6: Das Oilgamesch-Epos. 


Der Neugeborene (?) und der Tote, wie sie einander , 

zeichnen sie nicht des Todes Bild? [begrüßt, 

Nachdem der Aufpasser 1 und der Zuriegler 1 [einen Toten] 
versammeln sich die Anunnaki, die großen Götter, 
bestimmt Mammetu, die das Schicksal bildet, mit ihnen die 
setzen Tod und Leben fest. [Geschicke, 

Des Todes Tage aber werden nicht kundgetan. 

Tafel XI. Gilgamesch fragt nun seinen Ahn Utnapischtim, 
„den Fernen“, wie er, der ihm so völlig gleiche, dazu gekommen 
sei, in die Versammlung der Götter einzutreten, und wie er das 
Leben gesucht habe. Darauf erzählt ihm Utnapischtim ausführ- 
lich seine Geschichte und zwar die Geschichte der großen Flut 
und seiner Entrückung zu den Göttern. Geheimnisvoll hebt 
er an: 

Ich will dir eröffnen, Gilgamesch, etwas Verborgenes, 
und ein Geheimnis der Götter will ich dir künden, 
und fährt fort: die Götter der Stadt Schurippak, am Eufrat und 
zwar nahe bei dessen Mündung ins Meer gelegen, beschließen 
eine große Flut, und zwar, wie aus dem Schluß der Erzählung 
zu entnehmen, als Strafgericht über die Sünden der Menschen. 
Ea verrät den Beschluß des Götterrates seinem Schützling Utna- 
pischtim und mahnt ihn, sein Haus einzureißen, ein Schiff nach 
angegebenen Maßen zu bauen, lebende Wesen aller Art in das 
Schiff zu verbringen und mit ihm auf den Ozean hinauszufahren. 
Utnapischtim erklärt sich bereit, das alles zu tun, weiß aber nicht, 
wie er den Bewohnern der Stadt gegenüber sein Tun rechtfer- 
tigen solle. Nach Eas Anweisung soll er ihnen sagen, Bel habe 
ihn verflucht und daher dürfe er nicht länger in Bels Bereich 
wohnen, sondern müsse hinausziehen auf den Ozean in Eas 
Reich. Ea aber werde Überfluß über sie ausschütten, be- 
fruchtenden Regen senden, die Jagdbeute an Vögeln und Fischen 
ihnen mehren, ihre Viehzucht und ihren Ackerbau segnen. Als- 
bald nimmt Utnapischtim den Bau der Arche in Angriff, dessen 
Einzelheiten in dem leider nur lückenhaft überlieferten Texte ge- 
nau beschrieben werden; „vor Sonnenaufgang“, wohl am 5. oder 
6. Tage war das Schiff fertig. 

Nun beginnt die Beladung des Schiffes; mit allem, was er 
hatte, füllte Utnapischtim das Schiff, mit all seinem Gold und 
Silber, seinem Viehbesitz, seiner männlichen und weiblichen Haus- 
genossenschaft Das von Samas für den Beginn der Flut fest- 

1 Zwei Wächter der Unterwelt. 


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§ 23. Inhaltsangabe: Tafel XI. 


83 


gesetzte Vorzeichen, eine bestimmte siderische Konstellation, er- 
scheint, Utnapischtim geht in das Schiff, verschließt das Tor und 
überträgt dem Steuermann Puzurbel die Leitung des Fahrzeuges. 

ln der Frühe des folgenden Tages bricht die Sintflut los: 
Da stieg herauf vom Fundament des Himmels schwarzes 
Adad donnerte darinnen, [Gewölk. 

Während der Nebo- und der Königsstem 1 voraufgingen, 
als Boten zogen über Berg und Tal. 

Da riß Nergal den Schiffspfahl heraus, 

Ninib stürmte dahin, (Adad) ließ den Wasserguß strömen, 
Die Anunnaki erhoben die Fackeln, 
erhellten das Land durch ihren Glanz. 

Adads Unwetter überzog den Himmel, 
alles was hell war, verwandelte er in Finsternis. 

Das Land wird überschwemmt, den ganzen Tag über wütet 
der Sturm, die Welt liegt in Dunkel, keiner sieht den andern, 
und auch für die Himmlischen sind die Menschen unsichtbar 
geworden. Da erfaßt selbst die Götter ein Grausen: 

Die Götter sind niedergeduckt wie Hunde, sie hocken da in 
Es schreit Istar wie eine Gebärende, [Erstarrung (?). 

es klagt die „Herrin der Götter“, die Schönstimmige: 

Der damalige Tag, wäre er doch ,,zu Lehmerde geworden“ 
da ich in der Götterversammlung Böses befahl! 

Daß ich in der Oötterversammlung Böses befahl, 

und zur Vernichtung meiner Menschen den Kampf befahl, 
Weh mir! (?) Sind geboren meine Menschen, 
daß sie wie Fischbrut das Meer erfüllen? 

Und mit Istar jammern alle Götter, niedergebeugt sitzen sie 
da und weinen. Sechs Tage und sechs Nächte dauert das Un- 
wetter, fegt der Orkan über das Land. Mit dem Anbruch des 
siebenten Tages endlich legt sich die Sturmflut und beruhigt sich 
das Meer. 

Utnapischtim schaut über das Wasser und sieht die Ver- 
wüstung, er kniet nieder und Tränen strömen über seine Wangen. 
Nach 12 Doppelstunden taucht eine Insel auf, das Schiff steuert 
auf den Berg Ni<;ir zu und sitzt bald auf seinem Gipfel fest. 
Sechs Tage lang liegt das Schiff auf dem Berge. Als der siebente 
Tag herankam, so erzählt Utnapischtim weiter, 

Da ließ ich eine Taube hinaus und ließ sie los, 
es flog die Taube hin und her, 

da aber kein Ruheplatz da war, kehrte sie wieder zurück. 


1 2 Sterne im Schützen. 


6 * 


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84 Kap. 6: Das Gilgamesch-Epos. 

Da ließ ich eine Schwalbe hinaus und ließ sie los, 
es flog die Schwalbe hin und her, 

da aber kein Ruheplatz da war, kehrte sie wieder zurück. 
Da ließ ich einen Raben hinaus und ließ ihn los, 
es flog der Rabe, sah das Abnehmen (?) des Wassers, 
fraß, watete (?), krächzte (?), kehrte aber nicht zurück. 

An dem Ausbleiben des Raben erkennt Utnapischtim , daß 
sich das Wasser gesetzt habe und der Boden trocken sei, er ver- 
läßt das Schiff und bringt feierliche Opfer dar, ein .Schafopfer 
und ein Weihrauchopfer. Das Opfer ist den Göttern überaus 
wohlgefällig: 

Die Oötter rochen den Duft, 

Die Götter rochen den guten Duft, 

Die Götter sammelten sich wie Fliegen um den Opferer. 

Und als Istar herankam zu den Göttern, da schwur sie bei 
ihrem Halsschmuck 1 * * * * * , daß sie diesen Tag nie vergessen werde. 
Nun erhebt sich im Rat der Götter ein grimmiger Streit wegen 
der Erregung der Sturmflut, die alles Leben auf der Erde ver- 
nichtet hat. Istar sagt, die anderen Götter sollen wohl der Opfer- 
spenden sich freuen, Bel aber, der Hauptschuldige, solle an ihnen 
keinen Teil haben. Besonders Ea ergeht sich in den heftigsten 
Vorwürfen gegen Bel: 

Du Weiser unter den Göttern, Gewaltiger! 

Wie unbesonnen warst du, eine Sintflut anzurichten 
Dem Sünder lege auf seine Sünde, 

Dem Frevler lege auf seinen Frevel! 


Statt daß du eine Sintflut anrichtetest, 
hätten Löwen sich erheben mögen, unter den Menschen 

aufzuräumen ! 

Statt daß du eine Sintflut anrichtetest, 

hätten Schakale sich erheben mögen, unter den Menschen 

aufzuräumen! 

Statt daß du eine Sintflut anrichtetest, 
hätte eine Hungersnot entstehen mögen, das Land aufzu- 

Statt daß du eine Sintflut anrichtetest, [reiben! 

hätte sich der Pestgott erheben mögen, die Menschen hin- 
zuschlachten! 8 


1 Die Vermutung Jensens, daß die Halskette Istars die Stelle des 

Regenbogens in der biblischen Erzählung Gen. 9, 12 ff. vertrete, erscheint 

mir, gegen Zimmern, sehr glücklich, in Rücksicht darauf, daß der Hals- 

schmuck, den sie emporhebt (!), gerade wie der Regenbogen als Zeuge 

des ewigen Gedenkens an diesen Tag angerufen wird. 

8 Vgl. zu diesen 4 Antithesen unten S. 96. 


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§ 23. Inhaltsangabe: Tafel XI. 


85 


Nunmehr versucht Ea, sich, freilich auf recht merkwürdige 
Art, zu rechtfertigen, weil er dem Utnapischtim den Plan der 
Götter verraten: 

Ich, nicht habe ich verraten ein Geheimnis der großen Götter, 
den überaus Klugen 1 habe ich ein Traumbild schauen lassen, 
und so vernahm er das Geheimnis der Götter. 
Darauf tritt Ea in das Schiff zu Utnapischtim hinein, ergreift ihn 
bei der Hand, führt ihn und sein Weib heraus, läßt beide nieder- 
knien, berührt sie, tritt zwischen sie und segnet sie: 

Vormals war Utnapischtim ein Mensch. 

Jetzt seien Utnapischtim und sein Weib gleich uns Göttern selbst; 
wohnen soll Utnapischtim in der Ferne, an der Mündung der 

Ströme! 

Nach dieser ausführlichen Erzählung seiner Schicksale wendet 
sich Utnapischtim wieder an Gilgamesch und beginnt seltsame 
Manipulationen, ihn das „Leben“ finden zu lassen, das er sucht. 
Zu allererst versenkt er ihn in einen tiefen Schlaf, der sechs 
Tage und sieben Nächte andauern soll. Das Weib des Utna- 
pischtim soll nun Brote hersteilen und zu Häupten Gilgameschs 
niederlegen. Sechs Brote verschiedener Herstellungsart werden ihm 
so untergelegt, offenbar täglich ein neues; bei der Berührung 
mit dem siebenten schreckt Gilgamesch auf und erwacht Utna- 
pischtim erzählt ihm, was während des Schlafes mit ihm vor- 
gefallen sei; die beabsichtigte Wirkung ist aber keineswegs ein- 
getreten, vielmehr jammert Gilgamesch: 

Was soll ich tun, Utnapischtim, wohin soll ich gehen, ? 

In meinem Schlafgemach sitzt der Tod. 

Nun befiehlt Utnapischtim seinem Schiffer Ur-Nimin, den Gil- 
gamesch zum Waschort zu führen, ihn „mit Wasser rein zu waschen 
wie Schnee“, die Felle, mit denen er bekleidet war, ins Meer zu 
werfen, ihn mit neuen Gewändern zu schmücken, die rein bleiben 
sollen, bis er wieder zu der Stadt gelange, von der er ausge- 
zogen. Die Reinigung wird vollzogen und Ur-Nimin und Gil- 
gamesch steigen in das Schiff, um die Rückfahrt anzutreten. Aber 
ihr Schiff kommt nicht von der Stelle, sondern treibt wieder zum 
Ufer zurück. Nun nennt ihm Utnapischtim ein Wunderkraut, 
das zunächst, wie es scheint, das Meer den Heimfahrenden 
gefügig machen, in der Hauptsache aber sich als Lebenskraut, 
betätigen und das mißglückte Experiment mit den sieben Broten, 
ergänzen soll. Das Kraut wächst tief unten auf dem Meeres- 

1 Atrachasis. 


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86 Kap. 6: Das Gilgamesch-Epos. 

grund; um dahin zu gelangen, bindet Gilgamesch schwere Steine 
an seine Füße, die ihn hinunterziehen, wo er wirklich das Kraut 
findet, dessen Dom ihm — einer Vorhersage des Utnapischtim 
gemäß — die Hand durchbohrt. Ur-Nimin gegenüber preist 
nun Gilgamesch das Kraut als ein Kraut der Zeugungskraft (?), 
durch das der Mensch seine Vollkraft erlangt; sein Name ist 
„Obschon ein Greis, wird der Mensch wieder jung“ (schibu 
iqgachir amelu), er will es nach Erech bringen, davon essen, um 
die Jugendkraft wieder zu erlangen. 

Die Fahrt geht nun ungehindert vonstatten; immer nach 
20 Meilen Wegs „ließen sie (den Toten) einen Speiserest übrig“, 
immer nach 30 Meilen „machten sie eine (Toten)klage“. Als sie 
wieder einmal an Land gingen, wusch sich Gilgamesch in einer 
Quellgrube; da züngelte eine Schlange herbei, die der Duft des 
Krautes angelockt hatte, und nahm das Kraut weg. Darüber 
erhebt er ein großes Wehklagen, und da sie ohne das Kraut 
über das Meer nicht fahren können, so setzen sie ihren Weg zu 
Lande fort, auch hier nach je 20 und 30 Meilen Wegs das 
Opfer darbringend und die Klage erhebend, bis sie in Erech ein- 
treffen. Der Schluß der Tafel enthält eine nicht hinreichend 
deutliche Anrede an Ur-Nimin, die sich auf die Mauer von Erech 
bezieht und vielleicht auf eine künftige Zerstörung dieser Stadt 
anspielt 

Tafel XII. Der erste Teil der Tafel ist bisher als Toten- 
klage Gilgameschs über seinen Freund Eabani aufgefaßt worden, 
ist aber vielleicht mit Jensen einem Priester (?) in den Mund zu 
legen, den Gilgamesch gefragt hatte, wie er mit dem abgeschie- 
denen Geist Eabanis in Verbindung treten könne. Demnach 
wurde Gilgamesch gewarnt und zur Vorsicht angehalten, „weil er 
im Begriff steht, als Lebender einen Ort aufzusuchen, der auch 
den Totengeistern zugänglich ist, vielleicht das Totenreich selbst“. 

Gilgamesch! 

Wenn du zu 

Zum Heiligtum 

[ziehe dir kein] neues Kleid an, 

als ob du ein (gewöhnlicher) Bürgersmann wärest und das 

Haus 

Salbe dich nicht mit gutem Öl der Schale; 

sonst werden sie sich zu seinem Duft zu dir scharen. 

Den Bogen stelle nicht auf die Erde, 
sonst werden die vom Bogen Getroffenen dich umringen. 


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§ 23. Inhaltsangabe: Tafel XII. 


87 


Den Herrscherstab erheb nicht in deiner Hand, 
sonst werden die Abgeschiedenen vor dir erzittern. 

Schuhe schuhe nicht an deine Füße; 

mache kein Geräusch zur Erde (d. i. tritt leise auf!)! 

Dein Weib, das du liebtest, küsse nicht! 

Dein Weib, das du haßtest, schlage nicht! 

Dein Kind, das du liebtest, küsse nicht! 

Dein Kind, das du haßtest, schlage nicht! 

Sonst wird dich das Jammern der Erde packen. 

Die großen Lücken im folgenden Text erschweren das Ver- 
ständnis des Zusammenhanges wesentlich. Wie es scheint, hat 
bei der Entscheidung darüber, ob die Freunde sich Wiedersehen 
sollen, die Mutter des Ninazu, des heilkundigen Gemahles der 
Erischkigal, der Königin der Unterwelt, eine bedeutsame Stimme. 
Auf sie wird Gilgamesch am Schlüsse der Warnung von dem 
Priester (?) hingewiesen, von ihr ist auch die Rede in dem Zu- 
sammenhang: „ daß Eabani aus der Erde emporsteige“. 

Auch Ninsun, die Gönnerin des Gilgamesch, erhebt ihre Für- 
sprache, sie betont, daß ihn „die Erde gepackt“ habe, nicht Namtaru 
(der Bote der Unterwelt), nicht ein Unglück, nicht der „Kauerer“ 
Nergals; auch sei er nicht in der Schlacht der Männer gefallen: 
„die Erde hat ihn gepackt“. Durch diesen Hinweis auf die — 
freilich unklare — Art seines Todes soll wohl die Möglichkeit 
und Zulässigkeit der Wiedererweckung Eabanis erwiesen werden. 
Aber so schnell kommt Gilgamesch nicht zum Ziel. Er wendet 
sich an Bel und trägt ihm sein Anliegen vor, erhält aber keine Ant- 
wort; er geht zu Sin, auch dieser „antwortete keine Worte“. 
Endlich Ea, der ja auch schon dem Utnapischtim gegenüber sich 
in Gegensatz zum Rat der Götter gestellt hatte, erhört ihn und 
befiehlt Nergal: 

Gewaltiger Held Nergal! Höre sein 

Öffne alsbald das Loch der Erde und 

der Utukku Eabanis steige aus der Erde empor und 

sage seinem Bruder das „Gesetz der Erde“! 

Nergal gehorcht und läßt den Utukku (d. i. „Geist“) Eabanis 
„wie einen Wind aus der Erde herausfahren“. 

Die Freunde sind nun vereinigt, und alsbald begehrt 
Gilgamesch „das Gesetz der Erde“ von Eabani zu erfahren. 
Was Eabani zu erzählen hat, ist wenig tröstlich; Gilgamesch 
soll sich vorher hinsetzen und weinen. Leider ist gerade jetzt 
wieder der Text sehr lückenhaft. Aus der von Eabani gegebenen 
Beschreibung des Totenreiches ist vorläufig nicht viel mehr zu 


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88 


Kap. 6: Das Qilgamesch-Epos. 


entnehmen, als daß dort alles „voll von Erdstaub“ sei. Der er- 
haltene Schluß des Gespräches und zugleich des ganzen Epos 
enthält eine Wechselrede zwischen den beiden Freunden, in der 
Gilgamesch offenbar wiederholt, was ihm Eabani vorher erzählt 
hat, und sich die Richtigkeit seiner Anschauung im einzelnen 
von Eabani bestätigen läßt: 

Wer den Tod durch Eisen starb — das sahst du? ja ich sah es! — 
im Schlafgemach ruht er, 
trinkt reines Wasser. 

Wer in der Schlacht erschlagen ward — das sahst du? ja ich 
dessen Vater und Mutter erheben sein Haupt [sah es! — 
und sein Weib auf 

Wessen Leichnam auf das Feld geworfen ward 

— das sahst du? ja ich sah es! — 

dessen Totengeist hat in der Erde nicht Ruhe. 

Wessen Totengeist keinen hat, der für ihn sorgt, 

— das sahst du? ja ich sah es! — 

Überbleibsel im Topfe, Reste von Speisen, 

was auf die Straße geworfen, muß er essen. 


Ein altbabylonisches Fragment zum Gilgamesch-Epos. 

Von größter Wichtigkeit ist das von Meißner erworbene 
und in MV AG 1902 Nr. 1 veröffentlichte Bruchstück einer Tafel 
aus der Hammurabizeit, welches gegenüber der in Assurbanipals 
Bibliothek überlieferten Redaktion eine stark abweichende Version 
darstellt. 

Die erste Kolumne enthält ein Gespräch zwischen Gilgamesch 
und Samas: 

Gilgamesch, was rennst du herum? 

Das Leben, das du suchst, wirst du doch nicht finden. 
Gilgamesch erwidert dem „kriegerischen Samas“: 

Seitdem ich in die Wüste hinausgezogen (?) bin, um umherzu- 
schweifen, 

sind inmitten der Erde die Sterne wenig (?) geworden, 

und ich schlief alle Jahre. 

Meine Augen wollen die Sonne schauen und ich will mich mit 

Helligkeit sättigen. 

Fern bleibe die Finsternis, damit genügende Helle sei. 

Der des Todes Gestorbene möge schauen den Glanz der Sonne. 

Diese Episode fehlt in der Rezension Assurbanipals vollständig, 
sie dürfte aber mit Sicherheit der IX. Tafel zuzuweisen sein 
und eine Episode aus der Wanderung durch die Finsternis des 
Gebirges Mäschu darstellen. Anstatt der Skorpionmenschen, die 


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§ 23. Ein altbabylonisches Fragment zum Oilgamesch-Epos. 89 

beim Aufgang und Untergang die Sonne bewachen, tritt hier 
der Sonnengott selber auf. Über die wie es scheint bedeutenden 
sachlichen mythologischen Differenzen dieses Stückes gegenüber 
der Version aus Assurbanipals Bibliothek möchte ich bei dem 
Mangel eines größeren Zusammenhanges eine Vermutung nicht 
aussprechen. 

Klarer ist die Beziehung zum Ganzen in den sich un- 
mittelbar aneinander anschließenden Kolumnen 2 und 3. Dies 
Stück gehört der 10. Tafel der neueren Fassung an und ent- 
hält eine Szene aus dem Zwiegespräch des Gilgamesch mit der 
Sibylle, das aber vollständig abweicht von dem in dem großen 
Epos. 

Zunächst klagt Gilgamesch über den Verlust des Freundes, 
der hier nicht An-En-Ki-Kak (— Eabani), sondern An-En-Ki-Chi 
heisst, das vielleicht Ea-täbu zu lesen ist: 

Ea-täbu (?), den ich gar sehr liebe, 
der mit mir hat alle Fährnisse überwunden, 
ist dahin gegangen zum Schicksal der Menschen. 

Tag und Nacht weinte ich über ihn 
und übergab ihn nicht zur Beerdigung. 

Da sah es ein Gott und erwiderte mir auf mein Schreien. 
Sieben Tage und sieben Nächte 
fiel er wie ein Wurm auf sein Antlitz 1 . 

Seit seinem Tode fand ich nicht mehr Gesundheit. 

Ich eilte umher wie ein ... . mitten in der Wüste. 
Nunmehr, Sabitu, sehe ich dein Antlitz. 

Den Tod, den ich fürchte, will ich nicht sehen. 

Darauf antwortet ihm die Sibylle: 

Das Leben, das du suchst, wirst du nicht schauen. 

Als die Götter die Menschen schufen, 
haben sie den Menschen den Tod auferlegt, 
das Leben aber in ihren Händen behalten. 

Anstatt verstört in die Irre zu streifen, solle er vielmehr sein 
Leben genießen: 

Du, Gilgamesch, fülle deinen Bauch, 

Tag und Nacht freue du dich! 

Täglich feiere ein Freudenfest, 

Tag und Nacht spring und hüpfe! 

Deine Kleider seien sauber, 

dein Kopf sei rein, mit Wasser sei gewaschen! 

Schau auf den Kleinen, der dich an der Hand hält, 
dein Weib freue sich in deiner Umarmung! 

Der erhaltene Anfang der 4. Kolumne entspricht in der 

1 Im großen Epos währt Eabanis Krankheit 12 Tage. 


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90 


Kap. 6: Das Gilgamesch-Epos. 


Fassung der Bibi. Assurb. dem Zwiegespräch zwischen Gilgamesch 
und Ur-Nimin (hier Sur-sunabu 1 genannt), dem Schiffer Utna- 
pischtims: 

Sursunabu spricht zu ihm, zu Gilgamesch: 

Welches ist dein Name, sag es mir an! 

Ich bin Sursunabu, des U-ta-na-isch(?)tim (?), „des Femen“ 

Gilgamesch antwortete ihm, dem Sursunabu: {(Mann). 

Gilgamesch ist mein Name. Ich bin es, 
der gekommen ist vom palast (?), 

der gegenüber (?) dem Gebirge liegt, 
eine (weit)entfemte Strecke gen Aufgang (?) der Sonne. 

Nunmehr, Sursunabu, sehe ich dein Antlitz. 

Zeige ihn mir, den U-ta-na-isch(?)-tim(?), den „Fernen“. 

Est ist zweiffellos, daß die Gestalt des Gilgamesch-Epos, 
wie sie durch Assurbanipals Abschreiber überliefert worden ist, 
das Produkt einer langen literargeschichtlichen Entwicklung dar- 
stellt. Der jüngsten Periode dieser Entwicklung gehört jeden- 
falls der ganze äußere Rahmen an, der dem Ganzen durch Ein- 
teilung in 12 Gesänge, die inhaltlich auf die Tierkreisbilder an- 
spielen, die Idee des Jahresumlaufes der Sonne mit ihren 12 
Stationen in den Tierkreisbildern zugrunde legt. Die Unvoll- 
ständigkeit der einzelnen Tafeln macht es unmöglich, ihre Be- 
ziehungen zu entsprechenden Tierkreisbildern jedesmal nachzu- 
weisen. Doch ist diese Beziehung ohne weiteres klar bei der 
2.Tafel: Freundschaft zwischen Gilgamesch und Eabani = Zwillinge, 
bei der 10. und 11. Tafel: Schiffer des Utnapischtim, Sintflut — 
Wassermann und Fische. Die Beziehungen der 6. Tafel, in deren 
Mittelpunkt die Werbung der Istar steht, zum Tierkreisbild der 
Jungfrau, der 9. Tafel (Skorpionmenschen) zu dem des Skorpions 
lassen sich aber nicht ohne weiteres festlegen, wenigstens nicht 
bei der gewöhnlichen Aufeinanderfolge der Tierkreisbilder. Viel- 
leicht darf man in der 1. Tafel den Eabani, dessen Mondcharakter 
zweifellos ist, als den Repräsentanten des Tierkreisbildes des 
Stieres, des Symbols des Mondgottes, annehmen. 2 

1 nach Hommei = Priester (sur, var. für ur) des Ea (sunabu 
= 40 Ea), vgl. Grundriss, S. 370 Anni. 1. 

2 Eingehende Untersuchungen über den astralen Hintergrund des 
Epos sind in dem obengenannten Werke Jensens zu erwarten. Vor- 
läufig vergleiche hiezu vor allem die Ausführungen Zimmerns in KAT * 
S, 566 ff., bes. 580ff. Dort auch über die Beziehungen des biblischen 
Nimrod zu Gilgamesch und die natürlichsekundären Anspielungen auf 
historische Ereignisse (Elamiterkriege u. a.). 


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§ 23: Der mythologische Hintergrund. 91 

Dieser Rahmen wird durchbrochen von dem jedenfalls ur- 
sprünglichen Grundgedanken des Gedichtes, dem Dioskuren- 
mythus, in dem Eabani und Gilgamesch als Mond und Sonne 
die Hauptrolle spielen, denen als die Schwester der Dioskuren 
Istar, der Venusstern, zur Seite tritt. Die Schicksale von Gilga- 
mesch und Eabani, in der Form des Dioskurenmythus erzählt, 
bilden jedenfalls den Grundstock des ganzen Epos, an den sich 
im Laufe einer langen Entwicklung, die nicht nur durch historisch 
bedingte, sondern sicher auch durch lokale Zwischenstufen hin- 
durchgegangen ist, verschiedene andere mythologische Elemente 
angegliedert haben, die zum Teil auch den Gang der Haupthand- 
lung wesentlich beeinflußt haben mögen. Als Fremdkörper erweist 
sich ohne weiteres die ausführliche Fluterzählung im 11. Gesang. 
Die Ausscheidung anderer sekundärer Bestandteile begegnet 
namentlich wegen der Lückenhaftigkeit des Textes, die die Be- 
ziehungen der einzelnen Teile zueinander oft genug im Dunkeln 
läßt, großen Schwierigkeiten und soll hier angesichts der Be- 
grenzung unserer Aufgabe gar nicht versucht werden. Ein un- 
vergleichliches Hilfsmittel für diese literar- und mythengeschicht- 
liche Frage würde die ältere Rezension des Epos an die Hand 
geben, wenn sie vollständiger erhalten wäre. 

In Kürze müssen wenigstens andeutungsweise die Fäden 
aufgezeigt werden, die das Gilgamesch-Epos mit der Mythologie 
und Legende anderer Literaturen verknüpfen, während für den 
Nachweis im einzelnen auf Jensens in Aussicht gestellte Unter- 
suchungen verwiesen werden muß. 

Vor allem das Dioskurenmotiv an sich, das das ganze Epos 
beherrscht — Gilgamesch und Eabani, die großen Zwillinge Sonne 
und Mond und ihre Schwester, der Venusstem — beherrscht die 
Mythologie aller Völker, was zunächst auch ohne jede litera- 
rische Beeinflussung durch das Gilgamesch-Epos verständlich ist. 
Anders steht es aber, wo das Dioskurenmotiv in einer Form auf- 
tritt, wie in den biblischen Vätergeschichten eines Abraham und Lot, 
Isaak und Ismael, Jakob und Esau, Simeon und Levi, Joseph und 
Benjamin, Moses und Aaron, denen auch die Ergänzung in einer 
Istargestalt nicht fehlt (Sarah, Rebekka, Rahel, Dina, Miriam, 
Zipporah), in einer Form, die auch sehr wesentliche spezielle 
Züge des Gilgamesch-Epos aufweist, wie namentlich den mytho- 
logischen Charakter der einzelnen Personen und den legenda- 
rischen Rahmen einer mit Abenteuern verknüpften Wanderung. 


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92 


Kap. 6: Das Öilgamesch-Epos. 


Hier kann nur eine Erklärung ausreichen, die eine ausgebildete 
Legende als gemeinsame Quelle aller dieser Erzählungen an- 
nimmt, wobei freilich die näheren Umstände dafür sprechen, daß 
auch das Gilgamesch-Epos im Abhängigkeitsverhältnis zu eben 
dieser Legende steht. Die wichtigsten Elemente dieser Dioskuren- 
legende des Gilgamesch-Epos kehren wieder in den Erzählungen 
der Richterzeit (Josua-Kaleb, Simson = Gilgamesch) und der 
ersten Königszeit (Saul und Samuel, David und Jonathan), in der 
spät-jüdischen Romanliteratur (Ester und Judith). Nicht anders ist 
es z. B. auch in der griechischen Heroenlegende. Um nur die 
allerfrappantesten Beispiele anzuführen: die Irrfahrten des Odys- 
seus, die Abenteuer und Wanderungen des Herakles und in der 
späteren Legende der Alexanderzug liefern zahlreiche Vergleichs- 
punkte. Mit diesen Andeutungen muß ich mich hier begnügen. 

Die Hauptfrage ist nun, ob es möglich ist, die erhaltene 
literarische Form des Gilgamesch-Epos unmittelbar als die Quelle 
aller dieser analogen mythologischen Bildungen anzunehmen (so 
Jensen). Diese Annahme begegnet den schwersten historischen 
Bedenken, deren Klarlegung hier zu weit führen würde. Man 
wird vielmehr anzunehmen haben, daß es sich hier um mytho- 
logische Grundvorstellungen handelt, die ganz unabhängig von 
der doch immerhin zufälligen literarischen Ausprägung im Gil- 
gamesch-Epos in Babylonien entstanden und dort auch zur 
Legende sich ausgebildet haben, von dort aber jedenfalls vor der 
Redaktion der uns erhaltenen Gilgamesch-Erzählung zu den ver- 
schiedenen Völkern gewandert sind, bei denen sie unter ver- 
schiedenartigen Verhältnissen eine eigenartige Ausgestaltung er- 
fahren, die freilich in jedem Fall die Hauptzüge der Ursage 
bewahrt hat. 

Von Gilgamesch handeln noch folgende weitere Texte, ohne jedoch 
in irgendwelchem literarischen Zusammenhang mit dem Epos zu stehen: 

1) Das vielfach mit dem Epos verknüpfte Fragment K 3200 
(KB VI, 1 S. 272ff.) von der Belagerung Erechs, vgl. unten §. 53. 

2) Beschwörungshymnus an Gilgamesch (Sm 1371 -f- 1877 = KB 
VI, 1 S. 266 ff.). 

3) Ein Hymnus auf Gilgamesch oder Gilgamesch und Istar (Rm 
908 = KB VI, 1 S. 268 f .), nur ganz fragmentarisch erhalten. 

4) Eine sumerische Inschrift des An-A-an (= llu-ma, identisch 
mit dem Begründer der 2. Dynastie von Babel, llu-ma-ilu?): 

An-A-an, der Älteste des Volks von Erech, der Sohn des 
Bel-schemia, der die Stadtmauer von Erech, ein altes Werk 
des Gilgamesch, „an ihren Ort zurückgebracht hat“. 


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§ 24. Die Fluterzählung im Gilgamesch-Epos. — § 25. DT. 42. 93 


5) Ein merkwürdiges, leider nur ungenügend ediertes oder 
schlecht erhaltenes Fragment 82 — 7 — 14, 509 (vgl. ZA VI S. 369), in 
dem es heißt: 

Utnapischtim, der König, der Vorgänger des Gottes Dagan. 

6) Weitere kleine Fragmente siehe KB VI, 1 S. 270f. 


Kap. 7: Sintfluterzählungen und Verwandtes. 

Literatur: Im allgemeinen vgl. Usener, Sintflutmythen; Böklen, 
Die Sintflutsage, ARW. VI; Zimmern in KAT 3 S. 543 ff.; Jeremias, 
ATAO S. 124 ff. Über das Verhältnis des biblischen Berichts zur baby- 
lonischen Überlieferung s. vor allem Zimmern und Jeremias a. a. O. 
Hier wie bei Usener sind auch Fluterzählungen anderer Völker mit- 
geteilt. 

$ 24. Die Fluterzählung im Gilgamesch-Epos. 

Der Inhalt der babylonischen Flutsage, wie sie im 11. Gesang 
des Gilgamesch-Epos überliefert ist, ist oben S. 82 ff. ausführlich 
erzählt. Es ist auch schon darauf hingewiesen worden, daß es 
zweifellos erscheint, daß diese Flutsage nicht ursprünglich in den 
Kreis der Gilgameschsage gehört, sondern wohl im Interesse der 
Beziehung des ganzen Epos zu den zwölf Tierkreisbildem ein- 
gefügt worden ist. 

Über das Alter dieses Flutberichts, der wie das ganze Gil- 
gamesch-Epos in einer für Assurbanipals Bibliothek hergestellten 
Abschrift auf uns gekommen i , läßt sich nichts ausmachen. Doch 
scheint es zweifellos, daß er schon in altbabylonischer Zeit 
existiert hat, was sowohl die Analogie anderer Mythen, als vor- 
nehmlich eine unter dem Namen „Ea und Atrachasis“ bekannte, 
aus der Hammurabizeit stammende Version des gleichen Stoffes 
beweist (s. § 26). 

ff 25 . DT. 42 . Bruchstück eines abweichenden babylonischen 
Flutberichtes. 

Text: Delitzsch, AL ;i S. 101, 4. R’, add. pl. 9; Haupt, Nimrod 
S. 131. Transkr. u. Übers.: Jensen, KB VI, 1 S. 254 ff.; Winckler, TB 2 
S 94f. Zur Übers, vgl. Jeremias, ATAO S. 130, zum Inhalt: Zimmern, 
KAT 3 S. 551. — Fragment aus Assurbanipals Bibi. 17 Zeilen. 

Das erhaltene Fragment gibt einen kleinen Teil des Gespräches 
zwischen Ea und dem Sintflutheros, der hier aber nicht Utna- 
pischtim, sondern stets Atrachasis, d. i. „der Erzgescheite“ heißt. 
Es setzt ein mit der Aufforderung Eas an Atrachasis, auf ein 
gegebenes Zeichen hin in das Schiff zu steigen, Getreide, Ffab 


1 Er wurde 1872 gefunden. 


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94 Kap. 7: Sintfluterzählungen und Verwandtes. 

und Out, seine ganze Familie, die Handwerker und die „Tiere 
des Feldes, soviel ihrer Grünes fressen“, mit hinein zu nehmen. 
Atrachasis bittet, da er niemals ein Schiff gebaut habe, wolle Ea 
ihm einen Abriß eines solchen auf die Erde zeichnen, dann wolle 
er danach das befohlene Schiff bauen. 

Dieses vorliegende Fragment gehört zweifellos einer Version an, 
die außerhalb des Zusammenhangs mit dem Gilgamesch-Epos selb- 
ständig existiert hat. Das beweist neben dem anderen Namendes Helden 
auch der Umstand, daß von ihm in der dritten Person erzählt wird. 
Auch inhaltlich bestehen trotz reger Berührung in den Hauptzügen 
starke Differenzen. Die Aufforderung Eas ist hier wesentlich verkürzt, 
wogegen in der ausführlichen Erzählung nichts von der Bitte des Helden 
um ein Modell zum Schiffsbau gestanden hat. 

§ 26. Ea und Atarchasis. 

Text: (K 3399 -f 3934) veröffentlicht CT XIII, pl. 49. Aus Assur- 
banipals Bibliothek, sehr lückenhaft erhaltene Reste von vier Kolumnen, 
über deren Befund s. Jensen, KB VI, 1 S. 274 ff. Transkr. u. Übers.: 
Zimmern, ZA XIV S. 277 ff.; Jensen, a. a. O. Zum Inhalt vgl. Zimmern 
in KAT» S. 552 ff.; Jeremias, ATAO S. 139 f. 

Der Text beginnt mit der Schilderung einer schweren Un- 
glückszeit, die über das Land hereingebrochen ist und schon 
sechs Jahre lang angedauert hat. Der Himmel gab keinen Regen, 
die Felder weigerten ihre Frucht, und selbst das Kind im Mutter- 
leib konnte nicht geboren werden. Jahr um Jahr war die Not 
gestiegen, so daß man sogar die eigenen Kinder „zum Mahle 
hinlegte“. 

In der nun folgenden Lücke steht wohl, daß es der Fürsprache 
des Atarchasis bei Ea gelang, das von Bel verhängte Unglück abzu- 
wenden, daß aber die Sünden der Menschen aufs neue den Zorn Bels, 
des Vaters der Götter, erregten. 

Es wiederholen sich die gleichen Plagen und wiederum tritt 
Atarchasis vor Ea, für die Menschheit zu bitten. Diesmal ohne 
Erfolg. Es wird eine Götterversammlung einberufen, in der Bel, 
betrübt über das „Geschrei“ der Menschen, verkündet, daß er 
eine Fieberseuche unter den Menschen entstehen lassen wolle: 
Oleich soll verstummen machen (?) ihr Geschrei eine Seuche, 
wie ein Südwind wehe sie gegen sie, 

Krankheit, Sumpffieber, Schüttelfieber, Unglück! 

Alsbald tritt die Seuche auf und wieder kommt Atarchasis vor 
Ea, klagt über die neue Bedrängnis der Menschen und bittet um 
Errettung der Menschen, die die strafenden Götter ja doch selbst 
erschaffen hätten. 


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§ 26. Ea und Atarchasis. — § 27. Das „Fragment Schell“. 95 

Der im folgenden lückenhafte Text scheint zu besagen, daß Ea 
Anweisungen gegeben, durch Opfer die zürnenden Götter zu besänftigen. 
Aber offenbar haben die Menschen die Götter aufs neue durch ihre 
Sünden in Zorn versetzt, denn 

aufs neue sind die Götter versammelt, wieder klagt Bel: 

Die Sünden (?) haben nicht abgenommen, größer als vordem 

sind sie geworden. 

Ob ihres Geschreis bin ich betrübt. 

Wiederum werden dieselben Nöte, die schon am Anfang die 
Menschen bedrückt haben, über sie verhängt: Mißwachs und 
Teuerung, Unfruchtbarkeit auch des Mutterschoßes. Das alles 
trifft ein, genau in derselben Weise wie vorher. 

Nun folgt wieder eine große Lücke, über deren Inhalt sich kaum 
etwas vermuten läßt. Vielleicht aber war hier davon die Rede, daß 
auf abermalige Fürsprache des Atarchasis nunmehr eine Zeit der 
Fruchtbarkeit in der Natur und unter den Menschen anbricht. Wahr- 
scheinlicher ist mir aber, daß es infolge des letzten Strafgerichts (oder 
durch eine sich daran anschließende Flut?) zu einer völligen Vernich- 
tung des Menschengeschlechtes gekommen ist, daß aber die Götter 
doch Reue empfinden und beschließen, die Erde wiederum zu bevölkern 
durch ein neu zu erschaffendes Menschengeschlecht 

Da, wo der Text wieder einsetzt, tritt die Göttermutter Mami 
auf, die nach der Rezitation einer Beschwörungsformel sich an- 
schickt, Menschen zu bilden. Vierzehn Stücke Lehm kneift sie ab, 
sieben legt sie zur Rechten, sieben zur Linken, und aus diesen 
Lehmstücken bildet sie sieben Männlein und sieben Weiblein. 

Aus dem Schluß des erhaltenen Textes geht hervor, daß er in 
dieser Rezension als Einleitung einer Beschwörungsformel für schwangere 
Frauen gedacht war. — Zum Inhalt vgl. S. 96. 

§ 27. Das „Fragment Scheil“. 

In enger Berührung mit dem eben besprochenen Texte steht 
das „Fragment Scheil“, aus altbabylonischer Zeit und vermutlich 
aus Sippar stammend. 

Text: Rec. de Trav. XX S. 55 ff. Transkr. u. Ubers.: ib.; Jensen 
KB VI, 1 S. 288 ff. Zum Inhalt s. Zimmern, ZA XIV S. 277 ff., KAT 
S. 552. 

Der Text ist außerordentlich lückenhaft, läßt sich aber aus 
dem vorhergehenden teilweise ergänzen. Hier wie im vorher- 
gehenden spricht Ea mit Atarchasis, und es scheint, daß ähn- 
liche (?) Plagen die Menschheit bedrücken. Deutlich ist aber 
hier von einer bevorstehenden Flut (abübu) die Rede, wenn auch 


96 Kap. 7: Sintfluterzählungen und Verwandtes. 

die Lückenhaftigkeit des Textes alle einzelnen Ereignisse dabei 
völlig dunkel läßt. 

Der unleugbare Zusammenhang dieses Textes mit dem vorher 
besprochenen läßt erkennen, daß in den babylonischen Vor- 
stellungen von dem Untergang einer Urmenschheit zwei Traditions- 
reihen nebeneinander herlaufen, die wohl auch gelegentlich zu- 
sammengetroffen sind, nämlich einmal die Zurückführung des 
Untergangs der ersten Menschheit auf eine allgemeine Flut und 
sodann die Motivierung desselben Ereignisses durch eine Reihe 
von verderblichen Plagen. Sicherlich handelt es sich dabei um 
ursprünglich verschiedene Sagenstoffe. So weiß sicher die Flut- 
geschichte des Gilgamesch-Epos und wahrscheinlich auch der 
Text DT 42 nichts von den über die Menschheit verhängten 
Plagen, während in dem Mythus von Ea und Atarchasis aus- 
schließlich die Plagen zum Untergang der Menschheit geführt zu 
haben scheinen, ln dem Scheilschen Fragment scheinen dagegen 
die Plagen und die Flut zusammenzuwirken, die ersten Menschen 
vom Erdboden auszutilgen. 

Die Sonderexistenz der Sintfluterzählung als Motivierung des 
Untergangs der ersten Menschheit beweisen außer den babylo- 
nischen Rezensionen z. B. die biblische, syrische, indische und 
griechische Flutsage. Daß auch der dem Mythus „Ea und Atar- 
chasis“ zugrunde liegende Gedanke als ein selbständiges Element 
der mythologischen Vorstellung im ganzen alten Orient in Um- 
lauf war, beweist für Babylonien die Anspielung im Gilgamesch- 
Epos am Schluß der Fluterzählung (Tafel XI, vgl. S. 84), wo Ea 
Bel geradezu vorwirft, er hätte auch andere Mittel an wenden 
können, die Menschheit auszutilgen, nämlich Löwen, Schakale 
Hungersnot, Pest. Zweifellos geht auch die Episode in Gen. 7 ff. 
— die sogen, ägyptischen Plagen — und das Strafgericht in 
Ezechiel 14, 12 — 20, bes. 21 (!) (Hungersnot, wilde Tiere, Schwert, 
Pest), aus dem nur wenige Fromme unversehrt hervorgehen, im 
letzten Grund auf dieselbe babylonische Vorstellung zurück. 
Beachtenswert ist der Wechsel zwischen 10 und 4 Plagen: 10 
sind es in Ägypten, 4 bei Gilgamesch, 1. c., bei Ezechiel und — 
worauf mich Hommel aufmerksam macht — wohl auch bei 
den Masai in Afrika. 


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§ 28. Die Flutgeschichte nach Berosus. 


97 


§ 28. Die Flutgeschichte nach Berosus 1 . 

Texte bei Eusebius, ed. Schöne I S. 19—24 nach Alexander Poly- 
histor; ib. S. 31 f. nach Abydenus; mit Übers.: Winckler, TB* S. 92ff. 
Übersetzt von Zimmern, KAT 3 S. 543. 

Kronos erscheint dem Xisuthros, dem letzten der Urkönige, 
im Traum und offenbart ihm, daß am 15. des Monats Daisios 
die Menschen durch eine Flut zugrunde gehen würden; er solle 
alle Schriften nach Sippar bringen und dort vergraben. Für sich 
solle er ein Fahrzeug bauen, mit all seinen Angehörigen hinein- 
gehen, Speise und allerlei Tiere mit hineinnehmen. Auf die 
Frage, wohin denn die Fahrt gehe, wird ihm die Antwort: „Zu 
den Göttern, um für die Menschheit Gutes zu erflehen“. Die 
Überschwemmung tritt ein, und als die Wasser anfangen wieder 
zu sinken, habe Xisuthros „einige seiner Vögel losgelassen. Diese 
hätten aber keine Nahrung und keinen Ort zum Sitzen gefunden 
und seien wieder in das Schiff zurückgekommen. Darauf habe 
er sie nach einigen Tagen wieder hinausgelassen, und diese seien 
ins Schiff zurückgekommen mit lehmbeschmutzten Füßen. Zum 
drittenmal losgelassen, seien sie aber nicht wieder in das Schiff 
zurückgekommen“. Da nun Xisuthros bemerkt, daß das Schiff 
auf einem Berge aufgelaufen sei, sei er mit Weib, Tochter und 
Steuermann herausgegangen, habe den Göttern geopfert, und sie 
alle drei seien entrückt worden. Die Zurückgebliebenen hätten 
sie dann gesucht, aber nur mehr eine Stimme vernommen, die 
ihnen zurief, sie sollten gottesfürchtig sein, denn er, Xisuthros, 
sei wegen seiner Gottesfurcht zu den Göttern entrückt worden usw. 

Xisuthros ist natürlich identisch mit Chasis-atra, der Um- 
kehrung des Namens Atrachasis. Auch sonst sind die Überein- 
stimmungen mit dem babylonischen Flutbericht offenkundig. 
Möglicherweise liegt eine spezielle Rezension (von Sippar?) zu- 
grunde, in der Bel die Rolle spielt, die sonst dem Ea zukommt, 
wenn man der Wahl des Gottes Kronos, die aber auch erst einer 
späteren Überarbeitung zugeschrieben werden kann, besondere 
Bedeutung zumißt. 

§ 29. Der mythologische Charakter der Flutsage. 

Zur Literatur vgl. Jeremias, ATAO S. 124 ff. 

1 Ein weiterer durch babylonische Vorlagen beeinflußter Flut- 
bericht liegt vor in Orac. Sib. 1, 125 ff., vgl. dazu und besonders zu 
seinem Verhältnis zum Babylonischen: Geffcken in Nachrichten d. Gött. 
Ges. d. Wiss., 1900, S. 88 ff.; Bousset, ZntW, 1902, S. 31. 

Weber, Literatur. 7 


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98 Kap. 7: Sintfluterzählungen und Verwandtes. 

Es gibt wohl kaum einen Mythus, der mannigfachere Er- 
klärungsversuche erfahren hat, als der Sintflutmythus. Sicher 
scheint das Ineinandergreifen von Erinnerungen an ein einmaliges 
oder häufiger eingetretenes Naturereignis und von mythologischen 
Vorstellungen. Die Möglichkeit, in den Flutsagen einen histo- 
rischen Kern anzuerkennen, ist für ihre Beurteilung völlig belang- 
los. Die historische Erinnerung kann nicht weiter reichen als 
bis zu der Angabe, daß eine Springflut einmal eine große Ver- 
wüstung angerichtet hat; was über diese Angabe hinausgeht, ist 
auf jeden Fall ausschließlich mythologisch zu beurteilen. 

Mythologisch ist vor allem schon die ungeheure, alle Lebe- 
wesen vernichtende Wirkung der Flut zu würdigen. Die Flut 
bildet den gewaltsamen Abschluß eines Äon, eines Zeitalters der 
Vergangenheit, wie elementare Ereignisse für die Zukunft als 
abschließende Katastrophen unseres gegenwärtigen Zeitalters vor- 
gesehen sind. Und wenn tatsächlich die verheerende Wirkung 
der Wasserfluten den historischen — allerdings unmöglich greif- 
baren — Hintergrund der Flutsagen bildet, so ist sie vom Mythus 
zur Datierung des Ereignisses verwendet worden. Für die baby- 
lonische Lehre war es nicht schwer, die Zeit festzustellen, in der 
die ganze Erde in das Wasserreich versunken war. Nach ihren 
Zyklen ergab sich diese Zeit als die Periode, in der das 
Frühlingsäquinoktium in der Wasserregion des Tierkreises stand. 
Der Sintflutheros des babylonischen Berichts, Utnapischtim, ist 
Chasisatra, der wiederum dem Demiurgen Adapa bezw. dem 
Marduk entspricht, der der Gott der Frühjahrssonne ist: er 
durchschifft in der Arche die Wasserregion, um dann nach der 
Landung die Herrschaft über die neue Erde anzutreten. 

Neben diesen Grundzügen des Mythus treten eine ganze 
Reihe wichtiger Details entgegen. In Einzelzügen schließt sich 
die Schilderung eng an die bei Sturmfluten im Zweistromland 
beobachteten Vorgänge an, so, daß in unseren Tagen ein Natur- 
forscher (Sueß) der babylonischen Darstellung das Zeugnis vor- 
züglicher Sachkenntnis zusprechen konnte. 

Außerordentlich nahe liegt die Deutung der Arche auf den 
Mond, der den Himmelsozean durchsegelt und namentlich im 
ersten Viertel ein genaues Abbild eines Kahnes ist Dazu stimmt 
auch die Chronologie der Fahrt. Daneben geht aber die Auf- 
fassung der Fahrt als des Sonnenlaufes in der Überlieferung un- 
beeinträchtigt nebenher und ist jedenfalls die ursprüngliche, 


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§ 29. Der mythologische Charakter der Flutsage. 99 

während die Züge der Mondlegende vielleicht erst mit der Arche 
Eingang in den Mythus gefunden haben. Solches Ineinander- 
greifen mythologischer Vorstellungen hat durchaus nichts Ver- 
wunderlich«, sondern beruht auf der Anschauung, daß die 
großen Gestirne alle dieselbe Bahn durchlaufen, dieselben side- 
rischen Erscheinungen haben. 

Wichtig ist auch noch die Rolle, die die Flutsage in der 
Literatur und in der Historiographie bei den Babyloniern und 
Assyrern spielt. Der Ausdruck „wie eine Sintflut“ ist eine stehende 
Figur in der Rhetorik geworden, namentlich wenn die Wirkung 
der Zerstörung einer Stadt oder eines Landes recht eindringlich 
geschildert werden soll. 

Für die Geschichtsbetrachtung bildet die Flut einen wichtigen 
Abschnitt insofern, als sie zwischen Königen vor und nach der 
Flut unterscheidet 


Kap. 8: Unterweltmythen. 

§ 30. Die Höllenfahrt der Istar. 

Text: 4 R 2 31 u. additions; CT XV pl. 45 — 48. Aus Assurbani- 
pals Bibliothek. Transkr. u. Ubers.: A. Jeremias, Bab.-Assyr. Vorstel- 
lungen vom Leben nach dem Tode (1S87), bei Roscher, III S. 258 ff.; 
Jensen, KB VI, 1 S. 80 ff. Zum Inhalt vgl. Zimmern, KAT a S. 561 ff.; 
Jeremias, AO. 1,3 passim. 

Inhaltsangabe. Istar, des Mondgottes Tochter, richtet ihren 
Sinn auf die Unterwelt, das „Land ohne Rückkehr“, das „Haus 
der Finsternis“, das „Haus, dessen Betreter nicht wieder heraus- 
kommt“, „dessen Betreter das Licht entbehren muß“, „wo Erd- 
staub ihre Nahrung, Lehm ihre Speise, wo das Licht sie nicht 
schauen, in Finsternis wohnen, wo sie bekleidet sind wie Vögel 
mit Flügelgewand, wo auf Tür und Riegel Erdstaub lagert“. 
Am Tor des „Landes ohne Rückkehr“ angelangt, fordert Istar 
gebieterisch Einlaß: 

„Pförtner, he! öffne dein Tor! 

Öffne dein Tor, damit ich hineinkomme! 

Wenn du dein Tor nicht öffnest, so daß ich nicht hineinkomme, 
zerschmeiß’ ich die Tür, zerbrech’ ich den Riegel, 
zerschmeiß’ ich die Schwelle und reisse auf die Türen, 
bringe die Toten herauf, daß sie essen und leben, 
zahlreicher als die Lebenden sollen die Toten sein.“ 

7* 


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100 


Kap. 8: Unterweltmythen. 


Der Pförtner eilt, um Erischkigal, der Herrin der Unterwelt, das 
Verlangen Istars zu melden. Diese erschrickt heftig über die 
Botschaft, allerhand Ahnungen steigen in ihr auf und erpressen 
ihr laute Klagerufe, aber sie befiehlt dem Wächter, Istar einzu- 
lassen und sie „nach den alten Gesetzen“ zu behandeln. Der 
Wächter kehrt zurück, öffnet das Tor: 

„Tritt ein, meine Herrin! Kutha jauchze dir zu! 

Der Palast des „Landes ohne Rückkehr“ freue sich vor dir!“ 
Nun führt er sie durch die sieben Tore, bei jedem Tore ihr ein 
Schmuckstück abnehmend, die große Tiara, die Ohrgehänge, die 
Halsketten, die Brustschilder, den Hüftengürtel, die Spangen an 
Händen und Füßen, und endlich das Schamtuch von ihrem 
Leibe. Vor jedem Tor fragt Istar: 

„Warum, Pförtner, nähmest du fort die große Tiara meines 

Hauptes?“ 

usw., worauf ihr immer nur die eine Antwort wird: 

„Tritt ein, meine Herrin, denn also lauten der Erischkigal 

Befehle!“ 

Endlich gelangt Istar, völlig entblößt, in den inneren Raum 
der Unterwelt Wie Erischkigal und Istar einander ansichtig 
werden, stürzen sie wütend aufeinander los; Erischkigal ruft 
ihren Diener Namtaru, heißt ihn Istar einsperren und sechzig 
Krankheiten auf sie loslassen, mit Krankheit der Augen, der 
Hüften, der Füße, des Herzens, des Kopfes, des ganzen Leibes 
wird sie geschlagen. 

Während nun Istar in der Unterwelt gebunden liegt, erstirbt 
auf der Erde alle Zeugungskraft: der Stier bespringt nicht mehr 
die Kuh, der Esel legt sich nicht mehr auf die Eselin, der Mann 
sucht das Mädchen nicht mehr heim. 

Aber Samas, der Sonnengott, erbarmt sich der gebundenen 
Kreatur, tritt weinend hin vor seinen Vater Sin und vor Ea, 
und schildert ihnen die Folgen, die Istars Verschwinden in der 
Unterwelt für die Kreatur gehabt hat: 

„Istar ist zur Erde hinuntergestiegen, nicht wieder herauf- 
gekommen. 

Seitdem Istar zu dem Lande ohne Rückkehr hinuntergestiegen, 

bespringt der Stier nicht mehr die Kuh, 

legt sich der Esel nicht mehr auf die Eselin, 

legt sich auf das Mädchen auf der Straße nicht mehr der Mann, 

es schläft der Mann auf seinem Lager, 

es schläft das Mädchen in ihrer “ 

Ea bildet A^uschunamir, ein fabelhaftes Wesen, und entsendet es 


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§ 30. Die Höllenfahrt der Istar. 


101 


an Erischkigal, um diese zur Freilassung der Istar bewegen zu 
lassen. Als Erischkigal Eas Begehren vernimmt, gerät sie wohl 
zuerst in Raserei, sie , .schlug ihre Lende, biß ihren Finger“ und 
überschüttet ihn mit Verwünschungen, aber alsbald gibt sie 
Namtaru, ihrem Boten, den Auftrag, Istar mit dem Wasser des 
Lebens zu besprengen und mit fortzuführen. Durch die sieben 
Tore wird sie zurückgeleitet, bei jedem Tor erhält sie das ihr 
vorher abgenommene Schmuckstück zurück. 

Der Schluß der Legende ist in seinem Zusammenhang noch 
unverstanden. Man hat in ihm gewöhnlich eine Klage auf 
Tanimuz, den Gott der Frühlingsvegetation, der alljährlich in die 
Unterwelt sinken muß, gesehen. Nach Jensen wäre in diesem 
Schluß aber vielmehr „von einem fröhlichen Flötenspiel des- 
selben die Rede, in das auch die Klagemänner und Klageweiber 
einstimmen, denen sonst die Tammuzklage zukommt“ (Zimmern, 
KAT 8 S. 397 f.). Die Schlußzeilen lauten in der Übersetzung 
Zimmerns: 

Wann Tammuz auf der Flöte von Lasurstein (fröhlich) spielt, 
sollen sie auf dem .... Instrument von Porphyr (?) ' mit 
ihm (fröhlich) spielen, 

sollen mit ihm (fröhlich) spielen Klagemänner und Klagefrauen, 
auf daß die Toten aufsteigen und Weihrauch riechen. 


Die sich zunächst aufdrängende Deutung des Mythus ist die 
Auffassung als Naturmythus, insofern durch das zeitweilige Ver- 
schwinden der Istar als der Vegetationsgöttin die Unterbrechung 
der Fruchtbarkeit auf der ganzen Erde „erklärt“ wird. Der 
eigentliche Sinn liegt aber tiefer, auch Istars Höllenfahrt ist ein 
Gestimmythus wie jeder andere. Istar wird sowohl mit dem 
Planeten Venus als auch mit dem Siriusstem verknüpft, und man 
hat versucht, nach diesen beiden siderischen Beziehungen den 
Mythus auszudeuten. Beide Versuche vermögen nicht völlig zu 
befriedigen; dazu kommt, daß die Eigenschaft der Istar als Vege- 
tationsgöttin in der babylonischen Mythologie kaum eine Rolle 
spielt und wohl durchaus sekundär ist Die richtige Auffassung 
wird durch die Schlußzeilen nahegelegt, wenn sie wirklich mit 
Jensen die Verherrlichung des Tammuz zum Gegenstand haben. 
Tammuz ist in der babylonischen Religion der eigentliche Re- 
präsentant der Frühlingsvegetation , siderisch der Frühjahrssonne, 


1 bez. auf dem Ring (? Char) von sämtu-Stein. 


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102 


Kap. 8: Unterweltmythen. 


der im Hochsommer stirbt und zur Unterwelt hinabfährt, mit 
dessen Sterben auch alle Vegetation auf der Erde aufhört 1 . Er 
ist es also, der nach der ganzen babylonischen Lehre im Mittel- 
punkt des Mythus stehen sollte. Die Höllenfahrt des Tammuz 
ist also wohl ursprünglich der Hintergrund des Mythus und die 
Höllenfahrt der Istar lediglich zu dessen Befreiung in Szene ge- 
setzt. Diesen Sachverhalt deutet offenbar der im jetzigen Zu- 
sammenhang sonst ganz unverständliche Tammuzhymnus am 
Schluß des Mythus an. ln der vorliegenden Gestalt freilich ist 
die Rolle des Tammuz vollständig auf seine Geliebte Istar über- 
tragen, wohl ebenso wie die Eigenschaft als Gottheit der Vege- 
tation im Zusammenhang der Lehre. Es werden übrigens auch 
andere Götter, die als Vegetationsgötter erscheinen, zeitweilig in 
die Unterwelt versetzt, ihnen also die Rolle des Tammuz zuer- 
teilt, wie Enmeschara und Ningischzidda. 

Von Parallelerzählungen sei vor allem die von Orpheus und 
Eurydice genannt 

ln die Unterwelt führt auch der Mythus von 

31. Nergal und Erischkigal. 

Der Text ist in Fragmenten erhalten, welche unter den zu Tel 
el-Amama gefundenen Tontafeln sich befanden; er stammt also in der 
vorliegenden Rezension frühestens aus dem 15. vorchr. Jahrhundert. 
Text bei Bezold-Budge, Teil el-Amama PI. 17; Bezold in Oriental 
Diplomacy nr. 82; Winckler-Abel, Tontafelfund von El-Amama S. 164f.; 
besonders Knudtzon, BA IV S. 130 ff. Transkr. u. Ubers.: Jensen, KB 
VI, 1 S. 74 ff. Zum Inhalt vgl. Jeremias bei Roscher III, 263f.; Zimmern, 
KAT 8 S. 583 f. 

Inhaltsangabe. Stück 1. Die Götter sind eben dabei, 
ein Gastmahl anzurichten; alle sind sie versammelt, nur Erisch- 
kigal, die Herrin der Unterwelt, fehlt, sie kann ihren Posten nicht 
verlassen. Um aber auch ihr Anteil an dem Festgelage zu 
bieten, entsenden die Götter einen Boten an sie, der sie auf- 
fordert, ihren Anteil holen zu lassen. Erischkigal schickt ihren 
Boten Namtaru und dieser kommt alsbald vor die schmausenden 
Götter — es folgt nun eine große Lücke im Text, doch ist über 
den Zusammenhang kein Zweifel — ; einer unter den Göttern, 
Nergal, hat es unterlassen, den eintretenden Boten der Erischkigal 
durch Erheben von seinem Sitze zu begrüßen. Tief gekränkt 

* Vgl. die „Tammuzklage“ in den Tammuzhymnen 4. R 27 Nr. 1, 
30 Nr. 2 und Reisner Nr. 37. 


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§ 31. Nergal und Erischkigal. 


103 


über diese Mißachtung beklagt sich Namtaru bei seiner Herrin. 
Diese empfindet die Mißachtung ihres Abgesandten wie eine 
Kränkung ihrer persönlichen Ehre, sie sendet Namtaru wieder 
zurück zu den Himmlischen mit dem Auftrag: 

„Den Gott, der vor meinem Boten nicht aufstand, 
bringe ihn zu mir, daß ich ihn töte!“ 

Namtaru geht und redet mit den Himmlischen. Diese, die Böses 
gegen ihn im Schilde führen, fordern ihn auf, sich seinen Mann 
zu suchen und ihn seiner Herrin vorzuführen. — Der Text ist 
hier wieder lückenhaft; wie es scheint, findet Namtaru den Übel- 
täter nicht, jedenfalls muß er ohne ihn zurückkehren. Aber es 
scheint, daß die Götter es für wünschenswert halten, Erischkigal 
nicht zu sehr zu reizen, und daß sie Nergal veranlaßt haben, 
sich selber der Erzürnten zu stellen. Jedenfalls aber sind unter- 
dessen Monate vergangen. Zu seinem Schutze geben sie ihm 
vierzehn 1 Dämonen mit auf den Weg. 

Nergal kommt zum Tore der Unterwelt und fordert Einlaß. 
Der Wächter geht zu Namtaru und bittet ihn, den Einlaßbegehrenden 
anzusehen, ob man ihn einlassen könne. Namtaru erkennt in 
ihm sofort den Gott, der seinerzeit nicht vor ihm aufgestanden 
war und macht Erischkigal Meldung. Diese befiehlt, Nergal ein- 
zulassen, damit sie ihn töte. Mit heuchlerischen Worten lädt 
Namtaru ein: „Tritt ein, mein Herr, in das Haus deiner Schwester!“... 
„Dein Herz freue sich!“ — Der Text zeigt hier wieder eine Lücke. 
— Nergal stellt nun in den vierzehn Toren der Unterwelt seine 
vierzehn Helfer auf, überwältigt mit ihrer Hilfe zunächst Namtaru, 
dringt dann in das Innerste des Hauses der Erischkigal ein, zieht 
sie an den Haaren vom Thron hernieder, um ihr das Haupt ab- 
zuschlagen. Sie aber fleht um Erbarmen: 

„Erschlag mich nicht, mein Bruder! Ich will dir ein Wort sagen!“ 
Nergal läßt sie los und „weinend und heulend“ sagt sie zu ihm: 
„Du sollst mein Gatte sein, ich will dein Weib sein. 

Ich will dich ergreifen lassen die Königsherrschaft auf der 

weiten Erde. 

ich will die Tafel der Weisheit in deine Hand legen. 

Du sollst der Herr, ich will die Herrin sein.“ 

Nergal leuchtet das ein, er ergreift sie, küßt sie, wischt ihr die 
Tränen ab und verspricht ihr, alles zu erfüllen, was sie seit den 


1 Entsprechend der Zahl der Tore der Unterwelt. Auch die dem 
Gott Nergal heilige Zahl ist 14. 


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104 


Kap. 3: Die übrigen Mythen. 


vergangenen Monaten von ihm gewünscht hat. Leider ist der 
Schluß des Textes wieder abgebrochen. 

Nergal ist Sonnengott, seine Höllenfahrt ist wie die des 
Tammuz, des Gilgamesch etc. die Versinnbildlichung des Sterbens 
der Sommersonne. Zu besonders drastischem Ausdruck kommt 
dieser Gedanke in der gewaltsamen Eheschließung zwischen 
Nergal und der Erischkigal, der Unterweltsgöttin. Eine wenn 
auch in vielem wesentlich verschiedenartige Ausprägung hat der 
Mythus erfahren in der Figur der griechischen Unterweltsgöttin 
Persephone. — Nergal ist aber auch Gott der Unterwelt Eine 
weitere Parallele ist gegeben durch die griechische Erzählung 
von der gewaltsamen Eheschließung der beiden Unterweltsgott- 
heiten. Daß auch der griechischen Überlieferung der babylonische 
Ursprung des Mythus noch klar ist, beweist die Zusammenstellung 
der Namen Koupr,, nepao<povir], Epeay'yaX. 


Kap. 9: Die übrigen Mythen. 

§ 32. Der Ira-Mythus. 

Die frühere Lesung Dibarra für den Namen des Helden ist jetzt 
wohl allgemein aufgegeben und dafür die Lesung Ira oder Ura (vgl. die 
phonet eme-sal — Schreibung e-ri) angenommen. Die erhaltenen Text- 
fragmente stammen aus Assurbanipals Bibliothek und sind veröffentlicht 
vonHarper in BA II, 477 ff. und 515ff., und von King, ZA XI S. 54 ff. 
Dort auch Übersetzungen. Solche findet sich außerdem bei Jensen, 
KB VI, 1 S. 57 ff. Zum Inhalt siehe besonders Zimmern in KAT * 
S. 389 ff; Jeremias, Babylonisches im N.T. S. 97 ff. 

Inhaltsangabe. Der Anfang des Textes fehlt 

Stück I. Anu übergibt „Ira, dem Gewaltigen unter den 
Göttern“, sieben böse Dämonen, die ihn unterstützen sollen, wenn 
ihn sein Herz antreibt, über die Menschen ein Sterben zu ver- 
hängen, die Tiere des Feldes zu schlagen. 

Der Zusammenhang mit dem folgenden ist unklar. 

Stück II. Im folgenden scheint ein Zwiegespräch zwischen 
Ira und Ischum, der wie jener eine verheerende Seuche ist, vor- 
zuliegen. Ischum hält Ira vor, was er schon Verderbliches ausge- 
richtet, wie er die „Kinder Babylons“ wie Vögel mit dem Netz über- 
wältigt habe, wie er die Stadt verlassen habe und mit dem Aus- 
sehen eines Löwen (?) hineinging in den Palast des „Statthalters, 


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§ 32. Der Ira-Mythus. 


105 


des Vergelters Babylons“. Den habe er aufgestachelt, mit seinem 
Heere in Babylon einzubrechen: 

„In jener Stadt, in die ich dich schicke, dich, du Mensch, 
sollst du keinen Krieger fürchten, sollst vor keinem Menschen 

Angst haben! 

Klein und Oroß töte zumal! 

Auch den Säugling nicht, den ganz kleinen, keinen laß übrig! 
Den aufgehäuften Besitz Babylons sollst du erbeuten!“ 
Und die „Krieger des Schutzes, des Vorrechts Anus und Dagans“ 
hätten auf sein Geheiß Ströme von Blut über den Platz der Stadt 
sich ergießen lassen. Marduk sei darüber in Zorn geraten und 
einen unlösbaren Fluch habe er auf ihn gelegt Darauf habe er 
„die Stadt der Vorzeit des Herrn der Länder“ „ohne Samas“ 
zerstört. Über Erech, den Wohnsitz der Götter Anu und Istar, 
die „Stadt der Dirnen, Freudenmädchen und Huren“, habe er 
einen Tyrannen als Statthalter 1 eingesetzt, der die Einwohner drang- 
salierte und ihre Satzungen mißachtete. Darüber sei Istar in Zorn 
geraten, habe „den Feind in Bewegung gesetzt“, der es „weg- 
raffte wie Korn vor dem Wasser“, und dem Feind, den sie in 
Bewegung gesetzt, sei Istar nicht willens, Einhalt zu gebieten. 

Ira seinerseits erinnert Ischum daran, daß er Durilu ver- 
wüstet, die Menschen drin „wie Rohre“ geknickt habe; Ischum 
rechtfertigt sich, das sei ein „Gericht der Gerechtigkeit“ gewesen, 
von dem ihn auch der Umstand, daß Durilu seine Stadt ist, 
nicht habe abhalten dürfen. 

Es fehlen etwa 15 Zeilen. 

Ira entwirft weitere Schilderungen von den Strafgerichten, 
die er ausführen will, und Ischum bleibt in seiner Antwort hinter 
ihm nicht zurück und versteigt sich sogar so weit, zu prahlen, 
daß er die Tempel zerbrechen und den König der Götter selber 
(nicht schonen?) wolle. Wie das Ira hörte, waren ihm die Worte, 
die Ischum zu ihm sprach, „angenehm wie Öl“ und er rief aus 
(Z. 9 ff): 

„Das Meerland soll das Meerland, Mesopotamien Mesopotamien 

Assyrien Assyrien, 

den Elamiter der Elamite, 
den Kassiten der Kassite, 
den Sutäer der Sutäer, 
den Qutäer der Qutäer, 
den Lulubäer der Lulubäer, 


1 vgl. die Einleitung des Oilgameschepos oben S. 72. 


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106 


Kap. 9: Die übrigen Mythen. 


ein Land das andere, ein Haus das andere, ein Mensch den 

anderen, [totschlagen, 

ein Bruder den anderen nicht verschonen, sondern sollen einander 
Aber danach soll der Akkader 1 aufkommen und 
soll sie alle niederstrecken und sie insgesamt niederwerfen!“ 
Nun wendet sich Ischum auf Befehl Iras (?) gegen den Berg 
Sar-Sar (? geschr. Chi-Chi), während die sieben Helfer Iras hinter 
ihm her ziehen, und verwüstet den Berg und seine Vegetation. 

Eine große (?) Lücke. 

Stück 111. Der Sinn des Folgenden ist vielleicht, daß lra 
sein Herz beruhigt und seinem Wüten Einhalt gebietet Aber es 
scheint, daß die Länder sich nicht lange der Ruhe erfreuen durften. 
Er sendet Ischum aus, den Großen von Akkad und seine Nach- 
kommen zu schlagen, seine Städte zu verwüsten und seine Beute 
nach Schuanna (Babel) zu bringen; dadurch soll er die Götter 
des Landes (Akkad? Babel?), die erzürnt waren, versöhnen, und 
dann werde eine Zeit des Siegens kommen. — „Zahllose Jahre“ 
währt die „Fruchtbarkeit des großen Herrn“, das erregt aber wie 
es scheint schon wieder Iras Zorn, so daß er wieder daran denkt, 
die Länder heimzusuchen. Aber Ischum, sein Berater, beruhigt 
ihn und (besänftigt) seinen Grimm, und obendrein zeigt ihm, 
wie es scheint, der göttliche Schreiber des Marduk im Traum- 
gesicht der Nacht eine Schicksalsbestimmung (?). Der Zusammen- 
hang ist hier noch ganz dunkel. Jedenfalls verkündet lra in der 
nun folgenden Rede, die zugleich das ganze Gedicht abschließt, 
Gnade dem, der „jenen Gesang“ (eine Beschwörungsformel?) 
anwendet. Die Schlußrede lautet: 

„Wer jenen Gesang fürchtet, in dessen Tempel möge sich 

Überfluß häufen, 

Wer ihn aber fortschafft, soll keinen Weihrauch riechen! 
Wer .... meinen Namen groß macht, soll die Welträume 

beherrschen, 

wer von dem Schrecken meiner Gewaltigkeit redet, soll 

keinen Rivalen haben! 

Ein Sänger, der ihn laut singt, soll nicht im Strafgericht sterben, 
und demKönige unddem Großen soll seine Rede angenehm sein ! 
Ein Tafelschreiber, der ihn erlernt, wird dem Feinde ent- 
rinnen, wird in . . . geehrt sein, 
Und im Tempel des Volkes, wo man beständig meinen Namen 
werde ich sein Ohr öffnen. [nennt, 

Im Hause, wo selbige Tafel hingelegt ist, möge lra ergrimmen, 
mögen die Sieben niedermetzeln.“ 

1 D. i. der Babylonier. 


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§ 32. Der Ira-Mythus. 


107 


Der leitende Gedanke dieses Mythus ist bei der lückenhaften 
Überlieferung noch nicht mit aller wünschenswerten Sicherheit 
zu erkennen. Doch scheint es sich bei ihm um die Schilderung 
von über die Menschheit verhängten Schrecken und Plagen, spe- 
ziell Seuchen und allerlei Krankheiten zu handeln, um eine Zeit 
der Drangsal, wie sie im Orient mit den Vorstellungen von Urzeit 
und Endzeit eng verknüpft ist Nach der einen Seite erweist 
sich der Zusammenhang mit den entsprechenden Teilen des 
Atarchasismythus und seiner Parallelen, nach der andern Seite ist 
die Beziehung auf die dem schließlichen Weltuntergang voran- 
gehenden Ereignisse, die in der Apokalypsenliteratur eine so große 
Rolle spielen, deutlich erkennbar. Man darf wohl sogar an- 
nehmen, daß in der S. 1 06 oben zitierten Stelle in dem „Akkader“, 
der alle Feinde niederwerfen wird, das Prototyp des Erlöserkönigs 
zu erkennen ist, der ebenfalls dem Streit der Völker ein Ende macht 
und auf den Trümmern aller sein Reich aufrichtet 1 ). Die in der 
angeführten Stelle gegebene Schilderung dieser Drangsalszeit hat 
auch sonst in der babylonischen Literatur eine Rolle gespielt 
So heißt es in dem fragmentarischen Text K 4541 (CT XIII, 49): 

„Unter der Herrschaft eines Fürsten, der der Gebote der Oötter 
spottet, wird Kampf und Schlacht nicht aufhören, der Bruder wird den 
Bruder auffressen, die Leute werden ihre Kinder verkaufen, die Länder 
werden allesamt in Verwirrung geraten, der Mann wird die Frau, die 
Frau den Mann verlassen, die Mutter wird vor der Tochter das Tor 
verriegeln.“ 

In K 8708, einer Legende von dem König Dungi von Ur, 
heißt es: 

„Der Bruder wird den Bruder [fressen], der Sohn den Vater 

wie ..... die Mutter der Tochter ..... die Braut “ 

Eine große Rolle spielen solche Drangsalszeiten auch in der 
Omenliteratur. So sind gewisse Konstellationen Vorboten einer 
Zeit, in der „das Helle trüb, das Reine schmutzig wird, die Regen- 
güsse und Überschwemmungen aufhören, die Länder in Ver- 
wirrung geraten“ (KAT S S. 393). Besonders häufig auch findet 
sich in diesem Zusammenhang die Voraussage, daß die Leute 
ihre Kinder für Geld verkaufen werden. Auch in einer Bei- 
hymne (VATh 246, Reisner, Hymnen S. 131) findet sich eine 


1 Beachte auch, daß Ira bei seiner Mission von den sieben Dä- 
monen begleitet ist, die den sieben Plejaden entsprechen und in der 
Apokalypse im Zusammenhang mit dem Messias in den verschiedensten 
Formen wiederkehren; vgl. dazu Jeremias, BNT S. 24 ff. 


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108 


Kap. 9: Die übrigen Mythen. 


Schilderung dieser Drangsalszeit, hier in Zusammenhang mit der 
Verdunkelung von Sonne und Mond: 

Das Mutterschaf verstößt sein Lamm, die Ziege ihr Zicklein. 
Wie lange noch soll in deiner treuen Stadt die Mutter ihren 
Sohn verstoßen [das Weib] ihren Gatten verstoßen? 

Angesichts dieser Belege für die Verbreitung der fast formel- 
haft gewordenen Vorstellungen von einer in der Urzeit schon 
gewesenen oder für die Endzeit zu erwartenden Drangsal darf 
man wohl von einem Versuch absehen, die örtlichen Anspielungen 
des Iramythus mit mutmaßlichen geschichtlichen Ereignissen in 
Zusammenhang zu bringen, wenn es auch nicht unwahrschein- 
lich ist, daß die Redaktion der vorliegenden Gestalt des Mythus 
einzelne Züge von historischen Begebenheiten hergenommen hat. 

Der astrale Hintergrund der Vorstellungen von einer Zeit 
des Fluches, der Verwirrung und der Auflösung aller Ordnung, 
der Segenszeiten folgen, ist wohl auch hier in dem Gestirnlauf 
zu suchen, der den Wechsel der Jahreszeiten bedingt, Zeiten des 
Lebens und des Todes, des Segens und des Fluchs aufeinander 
folgen läßt. Der Jahresmythus ist auf das Weltenjahr übertragen. 
Für das Verständnis des Mythus als Astralmythus ist auch wichtig, 
daß Ira in Begleitung der sieben Dämonen erscheint, dem Sieben- 
gestirn der Plejaden, deren 40 tägige Wirksamkeit mit dem Ver- 
schwinden der Lichtgottheiten, also mit der „bösen Zeit“ zu- 
sammenfällt. 

§ 33. Der Mythus von Adapa. 

Die Hauptfragmente des Textes stammen aus dem Fund von Tel 
el-Amarna, drei Fragmente sind nachträglich aus den Schätzen der Biblio- 
thek Assurbanipals mit Sicherheit als zum Adapamythus gehörig erkannt 
worden. Zimmern vermutet, daß der nach ihm vielleicht die Geburts- 
geschichte Adapas enthaltende Text Rm 982 -)- 80 — 7 — 18, 178 (CT XIII 
pl. 31) hierher gehört. Bei der überaus fragmentarischen Gestalt des 
Textes ist eine Entscheidung unmöglich. Neuere Übersetzungen: 
Scheil, Recueil XX S. 4 ff. (dort auch die Originaltexte); Zimmern bei 
Gunkel, Schöpfung S. 420 ff.; Jensen, KB VI, 1 S. 92 ff. Zum Inhalt vgl. 
noch Zimmern im Archiv f. Religionsw. II, 165 ff., KAT 8 S. 520 ff.; 
Jeremias bei Roscher III, 2357, ATAOS. 72 f. Hommel, Altor. Denkm.* 
S. 28 u. 56. 

Inhaltsangabe. Adapa, der Allweise, der Kluge, der sehr 
Gescheite (atrahasis) waltet am Heiligtume Eas in Eridu, für dessen 
Bedarf an Brot, Wasser und Fischen er zu sorgen hat. Über 
seine Person erfahren wir vor allem, daß ihm zwar “Weisheit“, 
nicht aber ewiges Leben verliehen worden war. Einstmals fuhr 


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§ 33. Der Mythus von Adapa. 


109 


er auf das Meer hinaus, da stürmte der Südwind einher und 
brachte sein Schiff zum Kentern und Adapa sinkt ins Meer hinab, 
ins „Haus der Fische“. Um sich dafür zu rächen, zerbricht er 
dem Südwind die Flügel und „sieben Tage lang wehte der Süd- 
wind nicht mehr zum Lande hin“. Der Himmelsgott Anu wundert 
sich darüber, daß der Südwind nicht mehr weht, hört von seinem 
Boten Ilabrat von dem Sachverhalt und zitiert Adapa vor seinen 
Thron. Ea gibt nun seinem Sohn Anweisung, er solle in Trauer- 
kleidung erscheinen, dadurch würde er das Mitleid der Götter 
Tammuz und Gischzida, die am Tore Anus stehen, erregen. Diese 
würden ihn fragen: 

Mann! 

„Für wen siehst du so aus? Adapa! Für wen 
bist du mit einem Trauertuche bekleidet? 

Dann solle er antworten: 

„Weil aus unserem Lande zwei Götter verschwunden sind, be- 
finde ich mich so.“ 

Sie würden fragen: 

„Wer sind die zwei Götter, die aus dem Lande verschwunden 
sind ?“ 

Dann solle er antworten: 

„Tammuz und Gischzida.“ 

Dann würden die beiden für ihn bei Anu sprechen. Aber 
er solle sich gleichwohl vorsehen; denn wenn er zu Anu komme, 
werde man ihm „Brot des Todes“ anbieten, das solle er nicht 
essen; man werde ihm „Wasser des Todes“ anbieten, er solle es 
zurückweisen; man werde ihm ein Gewand reichen, das solle er 
anziehen; man würde ihm Öl geben, damit solle er sich salben. 
Genau solle er sich an diese Anweisungen halten. 

Der Bote Anus kommt und alles tritt ein, wie Ea es voraus- 
gesagt; schon tönt ihm aus Anus Munde entgegen: „Kein Erbarmen!“ 
aber Tammuz und Gischzida treten als Fürsprecher für Adapa auf 
und es gelingt ihnen, Anus Herz zu rühren. Dieser befindet 
sich in einem merkwürdigen Zwiespalt, er zürnt, daß „Ea 'einer 
unreinen Menschheit' des Himmels und der Erde Inneres offen- 
bart, sie ansehnlich gemacht, ihr einen Namen gemacht hat“, 
und daß dieser Mensch sich überdies an dem Südwind vergriffen 
hat; aber durch die Fürsprache der beiden Götter besänftigt, be- 
schließt er dem Sohne Eas nicht nur zu verzeihen, sondern ihm 
auch das eine noch zu schenken, was ihm noch fehlt: ewiges 
Leben. Er läßt Adapa „Brot des Lebens“ bringen, der aber, ein- 


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110 


Kap. 9: Die übrigen Mythen. 


gedenk der Warnung Eas, weist es zurück, da er es für „Brot 
des Todes“ halten muß; Anu läßt „Wasser des Lebens“ bringen, 
auch dieses weist Adapa zurück. Das Gewand aber, das ihm 
gebracht wird, zieht er an und mit dem dargebotenen Öle salbt 
er sich. Verwundert fragt ihn Anu: 

„Wohlan, Adapa! Warum hast du nicht gegessen, nicht getrunken, 
so daß du nun auch nicht (ewiges) Leben haben wirst?“ 
Adapa erwidert: 

Ea, mein Herr, befahl: „Iß nicht, trink nicht!“ 

Da läßt ihn Anu „zu seiner Erde“ zurückbringen. 

Der Schluß des Mythus ist leider nur lückenhaft erhalten. 
Der mutmaßliche Inhalt ist der, daß Adapa, dem durch so 
merkwürdige Verkettung der Umstände ohne seine Schuld die 
Unsterblichkeit versagt geblieben ist, durch die Übertragung der 
Herrschaft über die Menschheit der Erde entschädigt worden ist. 

Leider sind uns auch von diesem Mythus nur Bruchstücke 
erhalten, die den Zusammenhang des Ganzen nicht deutlich genug 
erkennen lassen. Das Erlebnis mit dem Südwind wirkt episoden- 
haft, scheint aber doch organisch zum Adapamythus zu gehören. 
Die Pointe des Ganzen ist zweifellos die beabsichtigte Verleihung 
des ewigen Lebens an Adapa. Aus dem Gilgameschepos erfahren 
wir, daß Gilgamesch, um das Kraut des Lebens zu erlangen, auf 
den Grund des Meeres untertauchen muß, wo er es findet Diese 
Vorstellung scheint auch hier durchzuschimmern, wo Adapa, 
nachdem der Südwind sein Schiff zum Sinken gebracht, ins 
Meer, in das Haus der Fische hinabsinkt. Daß Adapa dem Süd- 
wind, dem Sturmvogel Zu, die Flügel zerbricht, erinnert an die 
Szene des Etanamythus, wo die Schlange dasselbe an dem Adler 
tut — interessant ist, daß es sich hier um das „Kraut des Ge- 
bärens“ (!) handelt, die Schlangengottheit wird im Babylonischen 
gelegentlich als ,,Herr(in) des Lebens“ bezeichnet, die Schlange 
raubt dem Gilgamesch das auf dem Meeresgrund gefundene 
Lebenskraut, der Anblick der ehernen Schlange Num. 21,9 erhält 
am Leben — und scheint gleichfalls darauf hinzudeuten, daß in 
dieser Episode eine andere Version des Mythus von der Er- 
langung des ewigen Lebens durchschimmert. Jedenfalls wird sie 
benutzt zur Motivierung des weiteren Verlaufes der Erzählung, 
die in der Bestimmung des Adapa zum ewigen Leben gipfelt 
Diese Pointe der Erzählung erinnert an die Paradieserzählung, 
Gen 2 — 3. Hier wie dort wird die Erlangung des ewigen Lebens 


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§ 34. Ninibmythen. 


111 


an den Genuß der Lebensspeise gebunden, hier wie dort herrscht 
Unklarheit über den wahren Charakter der gebotenen Speise. 
Auch der von der Schlange im Paradies gekennzeichnete Neid 
der Götter hat im Adapamythus seine Parallele in der staunenden 
und unnötigen Frage Anus, des Himmelsgottes: „Warum hat Ea 
.einer unreinen Menschheit* des Himmels und der Erde Inneres 
geoffenbart?“ 

Die Oleichung Adapa = Adam, die postuliert und vielfach ange- 
nommen worden ist, ist insofern sie sich auf die Ähnlichkeit der Na- 
mensformen gründet, hinfällig. Adapa(d) (A-da-pad ; pad = tamü) ent- 
spricht vielmehr nach Hommel dem zweiten (!) der biblischen Urväter, 
Seth, dem Xoyoc. Dagegen ist es zweifellos, daß Adapa dem zweiten (!) 
Könige der berosischen Liste der Urkönige, Alaparos (lies Adaparos), 
entspricht. Andererseits ist es Tatsache, daß sachliche Gründe ein 
Recht geben, Adapa und Adam mit einander zu kombinieren. Adapa 
gilt der babylonischen Mythologie, wie der biblischen Adam, als Ur- 
mensch, als Menschentypus, der auch in der Folge neue Weltenären ein- 
leitet, gerade wie der Messias der jüdischen Hoffnung als neuer, künf- 
tiger, letzter Adam erscheint. Der assyrische König Senacherib z. B., 
der sich als Bringer einer neuen Zeit ansieht, nennt sich Adapa. 

8 34. Ninibmythen. 

Literatur: Hrozny, Sumerisch-babylonische Mythen von dem Gotte 
Ninrag 1 , MVAG, 1905, 5; Jastrow, Die Religion Babyloniens und 
Assyriens I, 451 ff. Die Nachweise der Textpublikationen siehe bei 
Hrozny, wo noch nachzutragen ist, daß nach Meißner, in MVAG, 1904, 
Nr. 3 S. 57 K 133, nach Angabe eines bei den deutschen Ausgrabungen 
gefundenen neubab. Duplikats als 1. Tafel der Serie Lugale usw. er- 
wiesen ist. Sämtliche Texte sind zweisprachig erhalten. 

Hrozny hat den Nachweis geliefert, daß eine Anzahl zum Teil 
längst bekannter Ninibtexte, die man bisher als Hymnen betrachtet hat, 
Teile zweier umfangreicher Gedichte epischen Charakters sind. Es ist 
ihm gelungen, zu zwei Serien größere Stücke nachzuweisen, deren 
Lückenhaftigkeit freilich so groß ist, daß man über ihren Inhalt nur 
ganz allgemeine Angaben machen, nicht aber den Fortschritt der Er- 
zählung im einzelnen nachweisen kann. Übrigens unterscheiden sich 
diese Stücke wesentlich von den anderen bisher bekannten babylonischen 
Epen durch das Überwiegen der hymnologischen Teile, die auch die 
dialogischen Partien aufs stärkste beeinflussen und ihnen einen dem 
Epos sonst fremdartigen pathetischen Charakter verleihen. Darin liegt 
auch die Ursache für die bisherige Verkennung ihres literarischen 
Charakters. Vielleicht stellt es sich, wenn erst einmal die großen 
Lücken durch neu auftauchende Texte einigermaßen geschlossen sind, 


1 Diese von Hrozny vorgeschlagene Lesung entbehrt der Be- 
gründung. 


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112 


Kap. 3: Die übrigen Mythen. 


heraus, daß wir es hier nicht mit Epen im eigentlichen Sinn, sondern 
mit Festspieldichtungen zu tun haben. 

1 . Die erste Serie trägt nach den Anfangsworten den Namen 
„Wie Anu bist du gebildet“, sie besteht, wie es scheint, aus vier 
Tafeln, von denen beträchtliche Stücke erhalten sind. Die erste 
Tafel beginnt mit einem Hymnus an Ninib, der Schluß läßt 
lediglich erkennen, daß hier von Ninib in der dritten Person ge- 
sprochen wird. Auch die zweite Tafel bewegt sich durchaus 
in den pathetischen Wendungen der Hymnenliteratur. Die Be- 
ziehung der ersten Zeilen zur Handlung ist nicht klar, dann 
heißt es: 

Der Herr, wie eine Sturmflut stürmt er herbei, 

Ninib, der die Mauer im Feindesland zerstört, wie eine 

Sturmflut stürmt er herbei. 

Wie ein Sturm donnert er (?) am Fundament des Himmels. 

Sein Lauf ist auf Bels Befehl gen Ekur gerichtet, 

Der Held der Götter, zertretend das Land, 

nach Nippur hin, unnahbar in der Feme. 

Da tritt ihm Nuzku in Ekur entgegen, begrüßt ihn mit dem 
überschwenglichen Preis seines furchtbaren Glanzes: Sein Glanz 
bedecke das „Haus Bels“ wie ein Kleid; bei seinem Dahinschreiten 
erbeben Himmel und Erde; wenn er seinen Arm erhebe, bedecke 
Schatten das ganze Land. Doch solle er seinen Vater Bel nicht 
erschrecken, die Annunaki im Göttersale Arschukkinakku nicht 
erzittern machen usw. 

ln der dritten (?) Tafel tritt Ninib selber redend auf, er 
rühmt sich seiner unvergleichlichen Macht und preist, indem er 
sie einzeln aufzählt, die Unüberwindlichkeit seiner Waffen. 

Auch die vierte (?) Tafel enthält zuerst eine längere Rede 
Ninibs, eine Selbstverherrlichung von hohem Schwung der Ge- 
danken. Zum Schlüsse wendet er sich an Nippur, seine geliebte 
Stadt, in der er (König sein möchte?) Auf diese (?)*) Rede des 
Ninib antwortet Ninkamunna, die „Herrin des großen Dammes“, 
mit folgendem „Gebet“: 

Herr, in deiner Stadt, die du lieb hast, möge dein Herz sich 

beruhigen. 

Herr, Ninib, in deiner Stadt, die du lieb hast, möge dein Herz 

sich beruhigen! 

ln dem Tempel von Nippur, deiner Stadt, die du lieb hast, möge 

dein Herz sich beruhigen! 


1 Hier setzt ein neues Fragment ein. 


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§ 34. Ninibmythen. 


113 


Wenn du in Eschumedu, dem Sitz deiner Herzensfreude, froh- 
lockend einziehst, 

Sage deiner Gemahlin, der Magd Nin-Nippur, 
was in deinem Herzen ist, sage ihr, was in deinem Gemüte ist, 
das freundliche Wort des Königs verkündige ihr für ferne Zeiten! 
Ninkamunna erreicht durch eine eigenartige Besprengungszere- 
monie die Besänftigung Ninibs. Der sieht seine Gemahlin, die 
Magd Nin-Nippur, treulich an, sagt ihr, was er im Herzen und 
im Gemüte hat und kündet ihr das freundliche Wort des Königs 
für ferne Zeiten. 

Den Schluß bildet ein kurzer Hymnus, der wohl als Schluß- 
chor gedacht ist. 

Der „Mythus“, wenn man ihn wirklich so bezeichnen darf, 
ist als Verherrlichung des Sonnengottes Ninib, der seinen Sieges- 
lauf am Himmel vollendet, aufzufassen: „sein Lauf ist auf Bels 
Befehl gen Ekur gerichtet“, er durchläuft den ganzen Himmels- 
damm. ln Ekur, auf seiner Bahn, tritt ihm Nusku entgegen, der 
hier als Neumondsichel aufzufassen ist (der Mond steht mit der 
Sonne in Konjunktion). Das irdische Widerspiel dieses kos- 
mischen Vorgangs ist in die alte Beistadt Nippur, deren Tempel 
Ekur ist, verlegt Die am Schluß angedeutete Vereinigung Ninibs 
mit seiner Gemahlin läßt, ebenso wie die Erwähnung der Götter- 
versammlung nach alten Analogien schon aus Gudeas Zeit, ver- 
muten, daß das ganze Gedicht als Festspiel für das Neujahrsfest 
im Tempel zu Nippur bestimmt war. 

2. Die zweite Serie, nach den Tafelunterschriften „der König, 
als sein Glanz herrlich...“ genannt, bestand ursprünglich aus 
, mindestens dreizehn Tafeln, von denen nur verhältnismäßig wenig, 
nämlich Teile der 1., 11., 12. und von drei anderen, noch nicht 
näher bestimmbaren Tafeln erhalten ist 

Die erste Tafel beginnt wiederum mit einem Hymnus an 
Ninib, der die Furchtbarkeit seines göttlichen Glanzes, seiner 
kriegerischen Macht preist Direkte Anspielungen auf die Waffen, 
auf die Liebe Ninibs zu seiner Stadt erweisen den engen inneren 
Zusammenhang dieser Serie mit der früheren. 

Die 11. und 12. Tafel sind vollständig ausgefüllt durch 
„Schicksalsbestimmungen“ für einzelne Gesteinarten: den Dolorit, 
den Elu-, Alallu-, Bergstein, den Alabaster etc. So lautet z. B. 
die Schicksalsbestimmung für den Bergstein: 

Der Herr tritt hin zum Bergstein, 

Ninib, Bels Sohn, bestimmt sein Schicksal: 

Weber, Literatur. 8 


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114 


Kap. 10: Hymnen, Gebete und Psalmen. 


„Erhabener Held, dessen Augenlichterheben seitwärts gerichtet ist, 
Bergstein, der du in Feindesland furchtbares Getöse angerichtet. 

Der du gleich dem Getöse einer furchtbaren Schlacht 

schriest. 

Den siegreich meine Hand nicht gegriffen hat, 
den ich zu den Bösen nicht geworfen habe, 
zu den Füßen deines Volkes werde nicht hingeschüttet! 

Das Gebot des Samas sei dein Gebot! 

Wie ein Richter leite die Länder! 

Der Weise und der, der alles kennt, 
gleich Gold mögen sie dich schätzen. 

Ein Stück einer weiteren Tafel (K 2683) enthält wiederum 
einen Hymnus an Ninib. Der Folgeweiser lautet: 

Der Held ließ den [. . . . Stein], um ihn zu zerschmettern, aus 

seiner Hand herunterfallen (?). 

Von einer anderen Tafel sind nur wenige Zeilenreste erhalten, 
in denen gleichfalls die Steine eine Rolle spielen. Eine letzte 
Tafel, die nach Analogie des vorhergehenden Mythus wohl den 
Schluß der Serie überhaupt bildet, enthält Wechselreden zwischen 
Ninib und einem weiblichen Wesen (?) oder aber wiederum mit 
Steinarten; vielleicht deuten die Schlußzeilen die Vereinigung 
Ninibs mit seiner Gemahlin (?) Nagarschaga an. 

Bei der Lückenhaftigkeit dieser Serie ist ein Versuch, Sinn 
und Inhalt des Mythus zu ergründen, aussichtslos. 


Kap. io: Hymnen, Gebete und Psalmen. 

Literatur: Die wichtigsten Sammlungen von einschlägigen Origi- 
naltexten sind 4 R 2 , namentlich auf den ersten 30 Tafeln; Haupt, 
Akkadische und Sumerische Keilschrifttexte; Craig, Assyr. and Baby- 
lonian Religious Texts; Reisner, Sumerisch-babylonische Hymnen; 
King, Babyl. Magic and Sorcery (enthält die in der Serie „Hander- 
hebung“ gesammelten Gebete an verschiedene Götter), CT XV, pl. 1—30. 
Macraillan, Some Cuneiform Texts etc. (BA V, 531 ff.) — Von Bearbei- 
tungen seien hier genannt vor allem Jastrow, Religion Babyloniens 
und Assyriens, Bd. I, S. 392 — 552 (Gebete und Hymnen), Bd. 11, S. 1 ff. 
(Bußpsalmen), wo fast alle hierher gehörenden Texte eingehend be- 
handelt und zum Teil übersetzt sind; Dienemann, Sumerisch-baby- 
lonische Hymnen (Reisner Nr. 41, 47, IV); Brünnow, „Hymns in 
Paragraphs“, ZA IV, 1 ff. 255 ff., V, 55 ff., eine nach ähnlichen Gesichts- 
punkten wie die „Handerhebungsgebete“ angelegte Sammlung. Bearbei- 
tungen, die alle oder die Mehrzahl der an eine Gottheit gerichteten 
Lieder zusammenstellen, gibt es leider bisher nur folgende: Hehn, 
Hymnen und Gebete an Marduk (BA V,3); Böllenrücher, Gebete 


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§ 35. Allgemeines. 


115 


und Hymnen an Nergal; Gray, C. D., The Samas religious texts, 
Chicago 1901 (hier nur K 3182 bearbeitet, die andern in Autographie). 
Für die Nachweise der übrigen verstreuten Textpublikationen und 
Bearbeitungen muß auf Jastrow, Religion, die entsprechenden Mono- 
graphien von A. Jeremias bei Roscher, Lexikon der Mythologie, 
und den Index zu Bezoids Catalogue (Bd. V) verwiesen werden. In 
jüngster Zeit hat Zimmern in AO VII, 3: „Babylonische Hymnen und 
Gebete“ eine Anzahl der interessantesten Texte dieser Art in meister- 
hafter Übersetzung geboten. Die Arbeiten von Jastrow und Zimmern 
wollen zur Ergänzung der im folgenden gegebenen Textproben heran- 
gezogen werden. 

§ 35. Allgemeines. 

Die lyrischen Stücke der Keilschrift-Literatur tragen durch- 
weg religiösen Charakter. Weltliche Lieder, Volkslieder allge- 
meinen Inhalts, Trinklieder, Liebeslieder, wie sie z. B. in der 
ägyptischen Literatur Vorkommen, sind uns bis jetzt in keinem 
einzigen Exemplar zugänglich geworden. Daß übrigens auch 
die Babylonier geliebt und getrunken und dazu gesungen haben, wh 
alle Menschen, ist selbstverständlich; es ist uns zu allem Überfluß 
auch noch durch bildliche Darstellung bezeugt (vgl. das bekannte 
Idyll, das Assurbanipal und seine Gemahlin beim Trinkgelage in 
weinumrankter Laube darstellt). Tatsache ist aber, daß die Er- 
zeugnisse der leichtgeschürzten Muse bis heute unter den Schätzen 
der uns zugänglichen Keilschriftliteratur noch nicht vertreten sind. 

Wir haben es darum auch hier nur mit der erhabenen Gattung 
der lyrischen Poesie zu tun, welche auf einen religiösen Grund- 
ton gestimmt ist. Hier lassen sich wenigstens in der Hauptsache 
drei Arten unterscheiden: Gebete, Hymnen und Psalmen; Gebete, 
die die Hilfe der Gottheit für den Sänger erflehen, Hymnen zum 
Preis der Gottheit, Psalmen, d. h. Stimmungsbilder, in denen der 
Sänger seine leibliche und geistige Not zum Ausdruck bringt, 
der Gottheit vorträgt Diese drei Literaturgattungen lassen sich 
wohl theoretisch auseinanderhalten, eine reinliche Scheidung läßt 
sich aber nach diesen Gruppen in der lyrischen Poesie der Keil- 
schriftdenkmäler nicht durchführen, sie gehen mehr oder weniger 
alle ineinander über. Hymnen dienen zur Einleitung von Gebeten, 
die Psalmen klingen in Anrufung an die Gottheit aus, die den 
Sänger aus seiner Not herausführen soll, und die Gebete tragen, 
soweit sie in poetischer Form gehalten sind, oft den Charakter 
der Litanei und berühren sich aufs engste mit den unten Kap. 1 1 
zu besprechenden Beschwörungstexten, Zauber- und Ritualformeln. 

8 * 


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116 Kap. 10: Hymnen, Gebete und Psalmen. 

Mit diesen sind sie übrigens auch in vielen Fällen zu literarischen 
Einheiten verschmolzen worden. 

Das wesentliche Unterscheidungsmerkmal bietet in jedem 
Falle der höhere Schwung der Gedanken, die reichere Form, das 
unvergleichlich erhabenere Niveau der religiösen Vorstellung. 

Dadurch gewinnen die poetischen Gebete, Hymnen und 
Psalmen einen von der Masse des babylonischen Schrifttums sich 
deutlich abhebenden, individuellen Charakter. Freilich kommen 
wir auch hier in keinem Falle zu einer Möglichkeit, durch das 
Kunstwerk auch den Künstler kennen zu lernen. Auch die 
zartesten Äußerungen persönlichen Erlebnisses bleiben für uns 
anonym, ausschließlich literarische Denkmäler, denen der wich- 
tigste Kommentar fehlt, die Kenntnis der persönlichen Verhält- 
nisse ihres Urhebers. Das ist auch der Fall bei den Stücken, die 
mit einem historischen Namen verknüpft auf uns gekommen sind. 
Für diese Texte liegt eine zeitgeschichtliche Würdigung besonders 
nahe, da die historischen Grundlagen mit aller wünschenswerten 
Sicherheit gegeben sind, ln vielen, ja den meisten Fällen ist 
aber auch aus ihnen ein sicheres historisches Material für die 
Literaturgeschichte nicht zu gewinnen. Denn auch die hier 
verwerteten Gebete und Hymnen sind so unpersönlich und tragen 
die Merkmale überlieferter, starrer Formen so unverkennbar an 
sich, daß das Besondere meist lediglich auf die politische Situa- 
tion zurückzuführen ist, aus der die Inschrift selbst als Ganzes 
erwachsen ist. Sie sind den Vorbildern in Bibliotheken und 
Archiven entnommen. Zusammenstellungen und Formelbücher, 
wie sie die mittelalterlichen Kanzleien für alle Teile der Ur- 
kunden besaßen, waren ja wohl auch an den Zentralstellen 
der offiziellen Historiographie vorhanden. Im großen und ganzen 
werden ja wohl bei der Abfassung der Königsinschriften die be- 
sonderen Neigungen und Wünsche des königlichen Auftraggebers 
Berücksichtigung gefunden haben, aber irgendwelche literarische 
Qualitäten werden kaum jemals auf diese zurückzuführen sein. 

So wenig wir von der Person des Verfassers wissen, so 
unsicher ist die Frage nach der Zeit der Abfassung, wie vor 
allem darnach, ob die Hymnen, Gebete und Psalmen ursprüng- 
lich sumerisch oder semitisch abgefaßt sind. Die Tatsache, daß 
diese Texte großenteils zweisprachig, d. h. sumerisch mit semi- 
tischer Übersetzung inter lineas überliefert sind, ist für diese 
Fragen an sich belanglos, denn wir haben Texte genug, in denen 


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§ 35. Allgemeines. 


117 


die sumerische Fassung mit Sicherheit als sekundär nachgewiesen 
werden kann. Die Redaktion in sumerischer Sprache spricht 
lediglich dafür, daß die Texte als der heiligen Literatur angehörig 
galten, daß sie dadurch ein ehrwürdiges Alter äußerlich zur Schau 
tragen sollten, daß sie bei gottesdienstlichen Funktionen rezitiert 
wurden. 

Wichtiger sind innere Gründe für die Beurteilung der mut- 
maßlichen Entstehungszeit: einmal direkte oder indirekte Anspie- 
lungen, welche eine zeitgeschichtliche Deutung nahelegen, und 
sodann die zutage tretende religiöse und künstlerische Reife und 
Abgeklärtheit. Aber auch diese Kriterien führen zu keinem auch 
nur einigermaßen sicheren Ergebnis. Die direkte Verknüpfung 
mit Königsinschriften beweist, wie wir sahen, gar nichts für die 
Entstehungszeit Auch daraus lassen sich keinerlei Schlüsse ziehen, 
daß einige Texte im Gegensatz zu andern ausschließlich oder im 
besonderen assyrischen Verhältnissen Rechnung tragen, an assy- 
rische Götter sich richten; wir wissen, daß in vielen Fällen baby- 
lonische Hymnen einfach durch Vertauschung von Göttemamen 
zu assyrischen umgestempelt worden sind. Und wenn ein Hym- 
nus an Marduk in einen Segenswunsch für den assyrischen König 
Assurbanipal ausklingt (4 R a , 18 Nr. 2), so beweist das nur, daß 
der assyrische Kopist ein babylonisches Original, das wir zu allem 
Überfluß auch besitzen, für seinen Herrn zurechtgemacht hat 
Anspielungen auf Ereignisse der Zeitgeschichte fehlen in Hymnen 
fast vollständig, wenigstens solche, die auch nur einigermaßen klar 
erkennbar wären. Die Exegeten des hebräischen Psalmbuches 
würden zwar mit Leichtigkeit auch in babylonischen Liedern un- 
trügliche Fingerzeige für die Datierung finden, aber es ist doch 
wohl zu hoffen, daß der Erklärung der babylonischen Hymnen- 
literatur die Entwicklung der Psalmenexegese in einem oder dem 
andern Stück zugute kommen wird, daß sie nicht durch alle die 
dunkeln Schluchten und Seiten- und Abwege wird hindurch 
müssen, die jene geführt worden ist Stellen wie in dem schönen 
Gebet an Marduk (4 R*. 40): 

Deiner Stadt Babylon gewähre Gnade, 

Auf Esagila, deinen Tempel, richte dein Antlitz, 

Den Söhnen Babels, deinem ganzen Volke, bringe Hilfe! 

würden kaum der chronologischen Festlegung entgehen, wenn 
sie mutatis mutandis in einem „Psalm Davids“ stünden. Wir 
wissen nun aber zufällig, daß das Gebet aus einem Ritual stammt, 


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118 


Kap. 10: Hymnen, Gebete und Psalmen. 


das in der ersten Nachtwache am ersten Tag des Monats Nisan 
rezitiert werden sollte, also ein kultisches Inventarstück war. 
Dabei bleibt der besonnenen Forschung ja immer noch die Mög- 
lichkeit offen, für die Geburtsstunde des Gebets nach einem Datum 
in der Geschichte dreier Jahrtausende sich umzusehen. 

Ähnlich aussichtslos sind die Versuche, die religiösen und 
künstlerischen Qualitäten für die Chronologie einzelner Hymnen usw. 
auszubeuten. Hier stehen wir fast noch ratloser da. Mit den 
natürlichen Entwicklungsreihen, die die’Religionsphilosophie kon- 
struiert hat, läßt sich den Erzeugnissen der Keilschriftliteratur 
überhaupt nicht beikommen. Die „Entwicklung" des religiösen 
Bewußtseins ist in einer für uns vorhistorischen Zeit bereits zum 
Abschluß gekommen, es gibt keine „Begriffe“, die in historischer 
Zeit einen neuen Inhalt bekommen hätten. Die Entwicklung be- 
schränkt sich höchstens auf rein formale Dinge: Übertragungen 
und Umsetzungen von einzelnen Gestalten des Systems, Über- 
tragungen von einzelnen Attributen auf diese oder jene Gottheit 
im Gefolge von politischen Umwälzungen. Diese drücken sich 
natürlich auch in der religiösen Literatur aus, aber ein Anhalts- 
punkt für die Entstehungszeit des literarischen Zeugnisses ist damit 
nicht gegeben. Wie die Herrscher sich durch Annahme der 
alten Titel und Bräuche in eroberten Ländern als rechtmäßige 
Herren legitimierten, so wurden auch dem Gott, der einen neuen 
Wirkungskreis antrat, die legitimen Urkunden seines Amtsvor- 
gängers auf den Leib geschrieben, ob sie ihm passen wollten 
oder nicht Das eine läßt sich ja wohl aus allgemein vernünftigen 
Erwägungen feststellen, daß die Hymnenliteratur ein reiferes und 
höher zu wertendes Erzeugnisistals die Literatur der Beschwörungs- 
formeln und Zaubertexte. Aber das schon möchte ich nicht mit 
Bestimmtheit aussprechen, daß diese notwendig älter sein müßten 
als jene. Nicht nur, daß sie in der ganzen historischen Zeit 
im gottesdienstlichen Gebrauch nebeneinander herlaufen, daß 
Hymnen und Gebete in sehr vielen Fällen integrierende Bestand- 
teile von Beschwörungstexten sind, auch viele Beschwörungstexte 
zeigen die gleichen literarischen Vorzüge, die wir an den Ge- 
beten, Hymnen und Psalmen hervorheben. 

Wir müssen uns wohl vorläufig damit begnügen, anzuer- 
kennen, daß es heute unmöglich ist, über die Entstehungszeit der 
Hauptmasse der uns bekannten religiösen Texte, der Gebete, 
Hymnen und Psalmen Näheres auszumachen. Wir müssen die 


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§ 35. Allgemeines. 


119 


Möglichkeit offen lassen, daß sie zum Teil in vorhistorische Zeit 
zurückreichen, Erzeugnisse der sumerischen Periode sind. Wir 
haben aber auch keinen Grund, daran zu zweifeln, daß zu allen 
Zeiten neue Hymnen etc. entstanden sein können, daß unter den 
Priestern, die die alten Gesänge überliefert, auch manch einer die 
Kinder seiner eigenen Muse den Sammlungen einverleibt hat, denen 
dann wohl auch die sumerische Gewandung ein altehrwürdiges 
Aussehen verliehen haben mag. Sichere Unterscheidungsmerkmale 
für solche Spätlinge gibt es nicht. 

Die verhältnismäßig wenigen Beispiele von selbständigen 
Gebeten und Hymnen, die in der ganzen Komposition sich als 
Gelegenheitsgedichte, verfaßt im Auftrag eines genannten Königs 
erweisen, sind Ausnahmen, die nur für die Regel zeugen; sie 
arbeiten mit dem ganzen, feststehenden Apparat von Wendungen 
und Gedanken, die auch die anonymen Stücke beherrschen (vgl. 
z.B. S. 126). 

Der Zweck, dem die Gebete, Hymnen und Psalmen dienen, 
ist ein rein liturgischer, gottesdienstlicher; sie sind Bestandteile 
des Rituals; in häufigen Fällen werden Hymnen und Gebete aus- 
drücklich als vorgeschriebene Begleitworte bei Opferdarbringungen 
gekennzeichnet. Das ist natürlich nicht notwendig in jedem Falle 
der ursprüngliche. Viele sind gewiß ebenso wie die hebräischen 
Psalmen ursprünglich spontane Ausflüsse persönlicher Stimmungen. 
Von den meisten Stücken ist uns ein Zusammenhang mit einem 
Ritual wenigstens nicht überliefert, wenn er auch bei ihnen durch- 
aus wahrscheinlich ist ln engstem Zusammenhang stehen Hym- 
nen und Gebete oft mit den Beschwörungsformeln, so daß die 
Frage entsteht, ob sie ursprünglich mit ihnen als ein Ganzes 
zusammengehören oder erst sekundär mit ihnen verknüpft worden 
sind. Beides ist wohl der Fall gewesen, ohne daß es möglich 
wäre, den Sachverhalt in jedem einzelnen Falle klarzustellen. 
Man wird aber nicht fehlgehen, wenn man den reineren, mehr 
individuelle Züge aufweisenden Stücken eine selbständige, ursprüng- 
lich vom Beschwörungsformular unabhängige Entstehung zuschreibt 
Einzelne Hymnen erweisen sich ihrem Inhalt nach deutlich als 
Festhymnen, dazu bestimmt, bei Götterfesten , vornehmlich dem Neu- 
jahrsfest, vorgetragen zu werden (vgl. Zimmern, AO VII 3, S. 9ff). 

Die Form dieser Literaturstücke ist die bereits oben § 9 
kurz skizzierte, die auch die epischen Erzeugnisse beherrscht, 
freilich hier wie dort keineswegs immer streng durchgeführt, und 


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120 Kap. 10: Hymnen, Gebete und Psalmen. 

nur verhältnismäßig selten schon durch die Anordnung der Zeichen 
im Original angedeutet. Speziell der lyrischen Poesie eigen ist 
die Einteilung größerer Texte in Perioden und Strophen von 
verschiedenem Umfang, während sich die epische Dichtung in 
dieser Hinsicht naturgemäß mit dem Parallelismus membrorum 
begnügt. 

Die Überlieferung der lyrischen Stücke der Keilschrift- 
literatur ist zum überwiegenden Teile ebenso wie bei den meisten 
Epen und überhaupt der Hauptmasse der „literarischen“ Erzeug- 
nisse der Sammeltätigkeit der Bibliothekare des Königs Assurbanipal 
zu danken, die alte Literaturstücke aus verschiedenen Bibliotheken 
und Archiven kopiert haben. In jüngster Zeit aber mehren sich die 
Niederschriften aus viel älterer und jüngerer Zeit in unseren Museen. 
So sind jetzt eine Reihe von Hymnen bekannt geworden, die in 
der uns erhaltenen Form etwa aus der Zeit der Könige von 
Nisin (ca. 2400) und der Hammurabizeit (ca. 2200) stammen 
dürften, und anderseits haben wir eine große Zahl von lyrischen 
Stücken, namentlich Bußpsalmen, deren Abschrift aus dem 2. Jahr- 
hundert v. Chr. stammt. Es ist überaus interessant, daß wir ge- 
legentlich denselben Hymnus in nicht weniger als drei Abschriften 
kennen lernen, die aus dem 3. Jahrtausend, aus Assurbanipals 
Bibliothek und aus der Arsacidenzeit stammen, also eine mehr 
als 2000jährige Überlieferungsgeschichte aufweisen, und es ist 
der stärkste Beweis für das oben über die Unmöglichkeit einer 
chronologischen Bestimmung dieser Literaturstücke Bemerkte, daß 
die betreffenden Texte diesen ungeheuren Zeitraum hindurch 
fast völlig unverändert geblieben sind. 

Die überwiegende Zahl der lyrischen Stücke sind als Lite- 
raturdenkmäler überliefert, d. h. als selbständige Texte, außerhalb 
eines fremdartigen Zusammenhangs. In vielen Fällen sind solche 
Stücke, die aus irgendeinem Grunde als gleichartig gegolten haben, 
in größerem Verbände, in „Serien“ auf uns gekommen. Die 
Zusammenstellung solcher Serien dürfte wohl schon auf die Be- 
dürfnisse des praktischen Gebrauchs bei den einzelnen Tempeln, 
deren liturgischen Bedürfnissen sie dienten, zurückgehen, mög- 
licherweise haben aber auch die Abschreiber für die Bibliotheken 
gleichartige Stücke in einen größeren Zusammenhang gebracht. 
Jedenfalls sind bei der Zusammenstellung solcher Serien verschie- 
denartige Rücksichten von Einfluß gewesen, da wir Fälle haben, 
wo dieselben Texte in verschiedenen Serien, die vielleicht bei 


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§ 35. Allgemeines. 


121 


verschiedenen Tempeln zusammengestellt wurden, erscheinen. 
Das ist wiederum ein Beleg für die oben erwähnte Tatsache, daß 
der alte Orient nichts von einer Achtung vor dem Urheberrecht 
in literarischen Dingen weiß, daß ein einmal vorhandenes Lite- 
raturstück vogelfrei war und jedem, namentlich politischen oder 
religiösen, Zweck dienstbar gemacht werden konnte. Das drückt 
sich auch darin aus, daß einzelne Hymnen u. dergl. beliebig dem 
Beschwörungsformular eingegliedert, daß sie gelegentlich, (vgl. oben 
die Ninibmythen) in epische Dichtungen verwoben wurden und 
sogar hin und wieder in profanen Texten wie Königsinschriften 
Verwendung fanden. Besondere bei einigen babylonischen Königen 
war es beliebt, oft recht umfangreiche Gebete den offiziellen 
Inschriften einzufügen, die sicherlich nicht ad hoc abgefaßt, 
sondern dem vorhandenen Literaturechatz entnommen und dem 
besonderen Zweck angepaßt worden sind. 

Die Sprache der lyrischen Stücke der babylonischen Lite- 
ratur ist entweder die sumerische oder die semitische, in außer- 
ordentlich zahlreichen Fällen aber sind dieselben Texte in beiden 
Sprachen überliefert, und zwar so, daß wenigstens der Anschein 
erweckt werden soll, daß das Sumerische das Original, das Se- 
mitische die Übersetzung sei. Inwieweit das der Wahrheit ent- 
spricht, läßt sich kaum in irgendeinem Falle mit Sicherheit aus- 
machen, denn auch in den Fällen, wo die sumerische Rezension 
offenkundig als Rückübersetzung aus dem Semitischen zu be- 
trachten ist, ist immer die Möglichkeit offen, daß in einem andern 
Tempelarchiv das „Original“ noch vorhanden war. 

Das Sumerisch dieser Texte ist in vielen Fällen direkt als 
„Neusumerisch“ anzusprechen — so namentlich in den Buß- 
psalmen; in anderen Fällen steht es auf einer Zwischenstufe 
zwischen dem „Alt“- und „Neu“-Sumerischen, wieder in anderen 
Fällen bleibt es mangels sicherer Kennzeichen zweifelhaft, ob sie 
so oder so gelesen werden müssen. Daraus, daß der „jüngere 
Dialekt“ in diesen Dichtungen überwiegt, lassen sich bei der 
Unmöglichkeit einer chronologischen Verwertung der Dialektfrage 
natürlich keinerlei Schlüsse auf das Alter der Texte ziehen. 

Was die Diktion der lyrischen Stücke anlangt, so zeigen 
auch schon die wenigen unten mitgeteilten Proben einen oft sehr 
bemerkenswerten Schwung der Gedanken, Kühnheit und An- 
schaulichkeit der Bilder und eine unverhältnismäßig große Fülle 
von Ausdrucksmöglichkeiten für allgemeine Vorstellungen und 


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122 Kap. 10: Hymnen, Gebete und Psalmen. 

individuelle Empfindungen. Man muß aber dennoch zugeben, 
daß die Zahl der durch diese Vorzüge wirklich hervorstechenden 
Texte eine verhältnismäßig recht kleine ist, die freilich durch neue 
Funde täglich in überraschender Weise vermehrt werden kann. 
Unter den bis heute zugänglichen Texten überwiegen aber sehr 
bedeutend die Durchschnittsleistungen, die einen „typisch-kon- 
ventionellen Charakter tragen und wenig individuelle Züge auf- 
weisen“. Aber allein die Existenz z. B. des Psalms eines 
„leidenden Gerechten“ (vgl. unten § 39, 1) genügt, die Behauptung 
zu rechtfertigen, daß auch die lyrische Poesie der Babylonier des 
höchsten dichterischen Schwunges fähig gewesen ist 

ln der Hauptsache ist der typische Gebrauch der Bilder 
und Redewendungen naturgemäß eng an den Gegenstand des 
Gedichtes gebunden. Bei den Hymnen sind es die Eigenschaften 
des zu verherrlichenden Gottes, bei den Psalmen und Gebeten 
ist es die Grundstimmung, die im allgemeinen gleichartige Aus- 
drucksformen innerhalb der speziellen Dichtungsart wiederkehren 
läßt, die, manchmal direkt formelhaft geworden, wörtlich sich 
immer und immer wiederholen. Einen integrierenden Bestandteil 
vieler Hymnen und Beschwörungstexte bildet eine am Abschluß 
des Ganzen stehende Litanei, die einförmig eine große Zahl von 
Göttern in formelhaften Wendungen anredet. 

Im folgenden wird eine äußerliche Scheidung vollzogen zwischen 
Hymnen, Gebeten und Psalmen und besonders die Beschwörungsfor- 
meln werden in einem eigenen, dem folgenden, Kapitel behandelt. Die 
Scheidung dient lediglich praktischen Zwecken und entspricht nur dem 
Grundgedanken nach dem Befund der Texte. Von den unter den Be- 
schwörungsformeln behandelten Stücken gehören zahlreiche Teile zu 
den Gebeten und Hymnen; in der Überlieferung aber, die sie im Zu- 
sammenhang mit Beschwörungsformeln erscheinen läßt, liegt für uns 
die formale Begründung, sie in erster Linie als Bestandteile dieser 
Literaturgattung zu würdigen. 

§ 36. Hymnen. 

Unter Hymnen meinen wir hier im engeren Sinne Preis- 
lieder zu Ehren der Gottheit, die ihre Macht und Herrlichkeit 
rühmen, ihre besondere Betätigungsweise besingen, unter völliger 
Außerachtlassung der Bedürfnisse und Nöte des Menschen. Solche 
Hymnen treten verhältnismäßig selten in dieser speziellen Form 
auf, sehr häufig dienen sie als Einleitung zu Gebeten, noch 
häufiger sind sie mit Beschwörungsformeln verknüpft 


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§ 36. Hymnen. 


123 


Ein solcher Hymnus ist zur Einleitung der großen Annalen- 
inschrift des assyrischen Königs Assumasirpal (885 — 860) um- 
gestaltet worden. Er wendet sich an Ninib, den gewaltigen 
Schlachtengott, und lautet: 

An Ninib, den Starken, Übermächtigen , Erhabenen, den Führer 
unter den Göttern, den Heldenhaften, Gewaltigen, Untadeligen, dessen 
Ansturm in der Schlacht unwiderstehlich, den „Thronfolgersohn“, der 
zermalmt den Widerstand, den Erstgeborenen des Nudimmud, den Helden 
der Igigi, den Mächtigen, den Fürsten unter den Göttern, den Sproß 
Ekurs, der da hält das Verschlußband von Himmel und Erde, der öffnet 
die Tiefe, der niederstampft die weite Erde, an den Gott, ohne den die 
Entscheidungen über Himmel und Erde nicht getroffen werden, den 
Vernichter, den Machtvollen, dessen Ausspruch nie hinfällig wird, den 
Fürsten der vier Weltgegenden, der austeilt Szepter und Entscheidung 
über die Gesamtheit aller Städte, den grimmigen Herrscher, dessen 
Worte unabänderlich sind, den Kraftvollen, Großen, den Ratgeber unter 
den Göttern, den hohen Utgallu, den Herrn der Herren, der die Enden 
Himmels und der Erde in seiner Hand hält, den König der Schlacht, 
den Hohen, der des Widerstands Herr wird, den Siegreichen, den Un- 
tadeligen, den Herrn der Tiefe und der Meere, den Furchtbaren, dessen 
Ansturm schonungslos ist, eine Sturmflut, die das Feindesland über- 
wältigt, der bezwingt den Bösen, den mächtigen Gott, dessen Rat nicht 
zunichte wird, das Licht Himmels und der Erde, das hineinleuchtet 
in die Tiefe des Ozeans, der verachtet die Schlimmen, unterwirft die 
Widerwilligen, überwältigt die Feinde, dessen Namen in der Versamm- 
lung der Götter keiner zunichte machen kann, der Leben spendet, 

den gott, zu dem zu beten erfolgreich ist, der da wohnt in Kalchu, 

anden großenHerrn, meinenHerm [wende ich mich), ich, Assumasirpal ...‘ 

Diese Apostrophe — ein vollständiges Repertorium der 
Epitheta omantia Ninibs — ist offenbar aus einem speziellen, oder 
einem Kreis von Ninibhymnen für den speziellen Zweck der Einleitung 
der feierlichen Königsannalen umgearbeitet worden, wohl ledig- 
lich durch die Umsetzung der direkten Anrede der hymnologischen 
Vorlage in die Form der Aussage. 

Der reinste Typus einer Götterhymne ist die große Samas- 
hymne K 3182 *. Sie besteht aus vier Kolumnen von zusammen 
ca. 420 Zeilen und ist nur semitisch erhalten. Leider fehlen 
aber noch sehr große Stücke namentlich der 1., 2. und 4. Ko- 


1 Budge-King, The Annals of the Kings of Assyria I, 254 ff., 
KB I, 50 ff. 

8 ZA IV, 7—35, zuletzt in vollständigerer Gestalt bei C. D. Gray, 
„The Samas Religious Texts“, S. 9—23, pl. 1 — 2, vgl. auch Jastrow, 
Religion, I, S. 432 ff. 


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124 Kap. 10: Hymnen, Gebete und Psalmen. 

lumne. Die bisher bekannt gewordenen Bruchstücke verteilen 
sich auf drei Exemplare, die sämtlich der Bibliothek Assurbani- 
pals entstammen. Charakteristisch für den Text ist die Abteilung 
der Parallelglieder durch Querstriche. Im folgenden soll versucht 
werden, den Gedankengang der ganzen Hymne zu skizzieren 
unter wörtlicher Mitteilung einiger gut erhaltener Stücke. 

Kolumne I. Die ersten 18 Zeilen sind meist nur etwa zur 
Hälfte erhalten. 

ln einem zweimal nacheinander wiederkehrenden Doppel- 
zeiler werden die beiden Hauptwirkungen der Sonne kurz be- 


zeichnet: 

Der du erglänzen machst des Himmels, 

Der du vernichtest [das Böse ? ] oben und unten. 


Es folgt der Lobpreis der aufstrahlenden Sonne, der sich 
alle Türen und Herzen im Himmel und auf Erden weit öffnen. 
Wo immer sie erscheint, verbreitet sie leuchtenden Glanz, vor 
dem die Finsternis nicht bestehen kann: 

Die gewaltigen Berge sind schwanger von deinem Glanz, 
dein Leuchten erfüllt, überwältigt die Länder. 

Du reichst bis an die Berggipfel, überschaust die Erde, 
über die Enden (?) der Erde mitten am Himmel schwebst du. 
Die Menschen auf der Erde, sie alle überwachst du, 
was Ea, der König, der Fürst, erschaffen, alles überwachst du. 
Was Leben hat, weidest du allzumal. 

Du fürwahr hütest, was oben und unten. 

Du schreitest vorwärts auf der Bahn des Himmels, 
um zu erleuchten (?) die Erde, kommst du Tag für Tag. 
Das Gewässer (?), das Meer, die Berge, die Erde, den Himmel 

um sie zu (?) , kommst du Tag für Tag. 

Das was unten ist, das Reich (?) Eas (?), Azaggids, der Anunnaki 1 

überwachst du. 

Das was oben ist, ihre Wohnungen insgesamt, hältst du 

in Ordnung. 

Hirte des, das unten, Hüter des, das oben ist! 

Der in Ordnung hält das Licht des Alls, oSamas, bist du! 
Du überschreitest das Meer, das weite, ausgedehnte, 
von dem die Igigi 2 nicht wissen, was in ihm ist 
[Samas!] Dein Schimmer dringt in die Meerestiefen, 
das Gewimmel des Meeres erschaut dein Licht. 

[Samas!] wie ein bist du gebunden, wie ein Regen- 
sturm 

deinen Schutz überwältigend die Länder. 


1 d. h. das Reich der Unterwelt. 
* Die himmlischen Götter. 


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§ 36. Hymnen. 


125 


Samas ist der größte unter den Göttern, seinen Aufgang 
begrüßen sie alle, vor ihm ist nichts verborgen, was in allen 
Ländern, in jeder Sprache beschlossen wird. Er ist dabei, wenn 
der Wahrsagepriester die Orakel befragt, nach dem Sinn der 
Träume fragt, Opferzurüstungen bestellt; vor ihm müssen sich 
beugen Gute und Böse. 

Kolumne 11 — III. Samas ist der Richter, der den Bösen straft, 
den Guten in all seinem Streben fördert: dem Wanderer, dessen 
Weg beschwerlich, gibt er Ausdauer, dem Seefahrer, der die 
Fluten fürchtet, festet er den Mut und gibt ihm Gelingen. Diese 
und ähnliche Gedanken werden in dem sehr lückenhaften Text 
weiter ausgesponnen. Wer aber Unrecht tut, dessen Vorhaben 
wird zuschanden werden. Bei Gericht werden weder sein Vater 
noch seine Brüder es wagen, für ihn einzutreten, in einer ehernen 
Falle verfängt er sich, ohne daß er es weiß. Der bestechliche 
Richter verfällt in Strafe, der unbestechliche Richter aber, der 
sich der Unterdrückten annimmt, ist wohlgefällig vor Samas, er 
wird langes Leben haben. Dreimal wird eine Reihe von Beispielen 
und Gegenbeispielen guter und verwerflicher Handlungsweise ab- 
geschlossen durch den Refrain, daß der Gute wohlgefällig sein 
wird vor Samas und langes Leben haben wird. Immer handelt 
es sich dabei um Gerechtigkeit und Lauterkeit im Verkehr mit 
den Nebenmenschen. 

Aber ein offenes Ohr hat Samas für jeden, der in der Not 
zu ihm schreit: 

Du erhörst, o Samas, Flehen, Gebet und Anrufung, 

den, der sich demütigt, beugt und sich zu Boden 

wirft. 

seines Mundes schreit der Elende zu dir, 

der Schwächliche, Kraftlose, der Dürftige, Niedergetretene 

in einem Klagelied, einem einem beten sie 

zu dir. 

Alle bedürfen Samas’ Hilfe: der Hirte, der Reisende, der 
Kaufmann, der Jäger u. a.; alle wenden sich an ihn, um sich des 
Gedeihens ihres Vorhabens zu versichern. Samas läßt sie auch 
nicht umsonst zu ihm beten und nimmt ihre Dankopfer freund- 
lich an, und so ist seine Verehrung unter den Menschen fest 
begründet. 


1 Wörtlich: Demütigung, Beugung etc. 


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126 


Kap. 10: Hymnen, Gebete und Psalmen. 


Die letzte Kolumne kehrt wieder zurück zur Schilderung 
der natürlichen Wirkungen der Sonne, zu dem Preis ihres 
strahlenden Glanzes, der den ganzen Weltenraum durchleuchtet, 
die Finsternis vertreibt, die Ordnung von Tag und Nacht und 
die Jahreszeiten in ewigem Kreislauf bestimmt Leider ist gerade 
der Schluß wieder sehr schlecht erhalten. 

Eine spezielle Form der Flymnendichtung liegt vor in einigen 
Dankliedern, von denen eines vielleicht aus der Zeit des ersten 
Nebukadnezar von Babel (ca. 1 1 00) stammt und den Lobpreis 
\ an Marduk (?) enthält, der den Babyloniern den Sieg über die 
Elamiten verliehen hat Der nur sehr fragmentarisch erhaltene 
Text 1 lautet (nach Zimmern): 

[Ich will verherrlichen] seine Gottheit verkünden seine Macht, 
[will preisen) seine [Kraft], seiner Stärke huldigen: 
[Marduks], des Barmherzigen, dessen Zuwendung nahe; 

[der ] sein Ohr neigte, Gnade erzeigte, 

dessen Herz [sich beruhigte], der Erbarmen faßte; 

[der annahm] mein Flehen, seinen Nacken zuwandte, 

[dessen Gemüt] sich besänftigte, der Zuneigung faßte. 

[Der Ela]mit, der nicht fürchtete seine große Gottheit 
[wider] seine erhabene Gottheit Vermessenheit redete — 
[es ging aus] deine Waffe gegen den frechen Elamiten. 

[Du warfst nieder] seine Truppen, zerbrachst seine Heeres- 
macht 

usw. usw. Der Rest, ganz fragmentarisch, malt die Mitwirkung des 
Gottes bei der Niederwerfung des Feindes näher aus. 

§ 37. Gebete. 

Die überwiegende Mehrzahl der lyrischen Stücke sind Gebete. 
— Inhaltlich gehören hierher auch die aus formalen Gründen 
im Zusammenhang mit Ritualvorschriften und Beschwörungstexten 
überlieferten Götteranrufungen. Zu den Gebeten werden hier 
auch die zahlreichen Texte gerechnet, die in der Hauptsache 
hymnologischen Charakter haben und nur zum Schluß in ein 
kurzes Gebet, von oft nur wenigen Zeilen ausklingen. In diesem 
Abschnitt soll auch der zahlreichen, in historischen Inschriften 
namentlich babylonischer Könige verstreuten Gebete gedacht 
werden, die zwar nicht immer in gebundene Rede gefaßt sind, 


1 DT 71, Winckler, F I, S. 540 ff.; Hehn, Mardukhymnen Nr. 4, 
in BA V, 326 ff.; Zimmern, AO VII, 3, S. 7. — Ein ähnlicher Text ist 
4 R- 20 Nr. 1 (Winckler 1. c. S. 538 ff.; Hehn S. 339 ff.). 


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§ 37. Oebete. 


127 


aber durch stilistische Vorzüge ein Anrecht haben, den poetischen 
Erzeugnissen beigezählt zu werden. 

1. Oebete in historischen Inschriften 1 finden sich 
schon in der ältesten Zeit bei Gudea, dann aber, wenn man von 
den häufig wiederkehrenden frommen Wünschen zum Beschluß 
der Inschriften absieht, erst wieder in der neubabylonischen 
Periode, wo sie namentlich unter Nebukadnezar II. und Nabonid 
überaus häufig sind, und in der persischen und griechischen 
Zeit Verhältnismäßig selten begegnen Gebete in den offiziellen 
Inschriften assyrischer Könige, so bei Sargon, häufig aber bei dem 
literaturfreundlichen Assurbanipal, dem auch zahlreiche ältere 
Gebete, die für seine Bibliothek gesammelt worden waren, in 
den Mund gelegt sind. 

Ein Gebet aus der Zylinderinschrift A des Gudea, Patesi 
von Sirgulla (ca. 2800), an Ningirsu (= Ninib) gerichtet, lautet 
(nach Thureau-Dangin) 2 : 

„Krieger! Wilder Drache (?) der du keinen Rivalen hast! 
Ningirsu! Der du in der Tiefe hausest (?) 

Der du in Nippur ein Fürst bist! 

Krieger! Welche Befehle soll ich treulich ausführen? 

Ningirsu, deinen Tempel will ich dir bauen, 
deine Beschlüsse will ich erfüllen. 

Deine Schwester, die Tochter in Eridu gezeugt, 

Die das Ziemliche rät, die Königin, die Wahrsagerin der Götter, 
Meine Göttin Ninä, die Schwester von Sirara-surit-ta, 

Möge den Fuß setzen (in ihre Barke)!“ 

Häufig kehren kurze Gebete bei Gudea wieder von der 
Art wie: 

O Herrin, die das Schicksal Himmels und der Erde bestimmt, 
o Nintu, Mutter der Götter, schenke Gudea, der den Tempel 
erbaut hat, langes Leben!* 

Wegen seiner Schönheit sei hier auch ein Segenswunsch 4 
des der Kassitendynastie angehörigen babylonischen Königs Agum- 
kakrime (ca. 1600) erwähnt, obwohl er wegen der indirekten 
Rede nicht eigentlich als „Gebet“ bezeichnet werden kann: 


1 Vgl. hierzu die erschöpfenden Zusammenstellungen und Text- 
proben bei Jastrow, Religion, I S. 393 ff. 

* Kol. II, 10 — 18. Thureau Dangin, Les inscriptions de Sumer et 
d’Akkad (1905) 136 f. 

8 Gudea. Statue A, Kol. I, 1. 

* V. Rawl., 33, Kol. VII, 34ff. (in Abschrift aus Assurbanipals 
Bibliothek überliefert; vgl. auch KB III, S. 134ff.; Jastrow, I 399). 


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128 Kap. 10: Hymnen, Oebete und Psalmen. 

Anu und Antum mögen im Himmel ihn segnen. 

Bel und Belit mögen in Ekur ihm ein Lebensschicksal bestimmen! 

Ea und Damkina, die im großen Ozean wohnen, mögen ihm ein 

Leben langer Tage geben! 

Belit, die Herrin der großen Länder, möge .... völlig machen! 

Sin, die Leuchte des Himmels, möge ihm königlichen Samen für 

lange Tage geben! 

Der Held Samas, der Held Himmels und der Erde, möge das 
Fundament seines Königsthrones für lange Tage festlegen; 

Ea, der Herr der Wassertiefe, möge seine Weisheit völlig machen ! 

Marduk, der seine Regierung liebt, der Herr der Wassertiefe, 
möge seinen Überfluß völlig machen! 

Ein schönes Gebet 1 haben wir von Nabopolassar, dem ersten 
König des neubabylonischen Reiches (625 — 605), das dem Um- 
bau des Tempelturms Etemenanki von Esagila in Babylon seinen 
Ursprung verdankt: 

Marduk, mein Herr, blicke gnädig auf meine frommen Werke! 
Nach deinem erhabenen, unabänderlichen Befehl möge das 
Werk, das Erzeugnis meiner Hände, ewig bestehen ! Wie der 
Bau von Etemenanki festen Bestand hat, so festige das Fun- 
dament meines Thrones auf lange Tage! O Etemenanki, 
segne den König, der dich erneuert hat; wenn sich Marduk 
im Festjubel in deiner Mitte niederläßt, so verkünde Gnade, 
o Haus, vor Marduk, meinem Herrn! 

Zum Beschluß dieses Abschnittes sei noch ein kurzes Gebet 
Assurbanipals 2 mitgeteilt, das Marduks Segen erbitten soll zu 
seiner Reise nach dem unter seinem Großvater Senacherib zer- 
störten Babylon, mit dessen Wiederaufbau er beschäftigt war: 

Gedenke Babylons, das du im Zom deines Herzens vernichtet 
hast! Auf Esagil, dein Königshaus, richte dein Haupt, wende 
dein Antlitz! Siehe auf deine Stadt, die du verlassen hattest, 
um an einem Ort, der für dich nicht passend war, Wohnung 
zu nehmen! Gib du, Herr der Götter, Marduk Befehl zur 
Fahrt nach Babylon! Auf deinen erhabenen Befehl, der un- 
abänderlich ist, geschehe der Einzug in Esagila. 

2. Aus der großen Masse der anderen Gebete können nur 
einige Proben mitgeteilt werden, während für weitere Beispiele 
auf Zimmern und Jastrow verwiesen werden muß. Besonders 
sei noch hervorgehoben, daß eine große Zahl gerade der schönsten 
Gebete in der Serie „Handerhebungsgebete“ (s. § 40) zu 
kultischem Gebrauch vereinigt worden sind. 


1 Hilprecht, OBJ, 1,33, Kol. III, 38 ff., vgl. Jastrow 1, 400. 

* Lehmann, Samassumukin, Tafel XXXVII, Kol. II, 29 — 33; ib. 
II. Teil, S. 26f., vgl. Jastrow I, 419. 


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§ 37. Gebete. 


129 


Unter den Gebeten, denen eine große hymnologische Ein- 
leitung vorangeht, und die man, wenn nicht einige Zeilen eine 
direkte Bitte enthielten, unbedenklich den eigentlichen Hymnen 
zuweisen würde, ist das bekannteste das Gebet an den Mondgott 
von Ur, das wegen seiner henotheistischen Grundstimmung und 
der Schönheit der Sprache berechtigte Beachtung von jeher ge- 
funden hat Es ist auch seines Aufbaues wegen interessant. 
Nicht nur, daß es wenigstens im großen und ganzen eine regel- 
mäßige metrische Abteilung besitzt, daß der Parallelismus mem- 
brorum streng durchgeführt ist, es zeigt auch einen kunstvollen 
Strophenbau. Auf eine Eingangszeile folgen 6 Perioden oder 
Strophen von je 8 Verszeilen, die 2. und 5. dieser Oktaven sind 
alliterierend. Die letzte Oktave enthält eine Litanei. Der Ein- 
leitungszeile entspricht eine gleichfalls außerhalb des strophischen 
Zusammenhangs stehende Schlußzeile Daß in dem überlieferten 
Text diese ursprüngliche Ordnung einmal durchbrochen scheint 
durch eine fehlende Zeile in der 5. Oktave, ist wohl auf Rech- 
nung des Abschreibers zu setzen. Beachte im besonderen auch 
den Chiasmus in dem letzten Verspaar der 5. Oktave. Der Text 
stammt aus Assurbanipals Bibliothek und ist zweisprachig (das 
Sumerische in Eme-sal) überliefert 1 . Der Text lautet (im Anschluß 
an Zimmems Übersetzung)*: 

Herr, Herrscher unter den Qöttern, der im Himmel und auf 

Erden allein erhaben ist! 


Vater, Nannar 3 , Herr, Anschar 4 , Herrscher unter den Göttern, 
Vater, Nannar, Herr, großer Anu 4 , Herrscher unter den 

Göttern, 

Vater, Nannar, Sin, Herrscher unter den Göttern, 

Vater, Nannar, Herr von Ur 5 , Herrscher unter den Göttern, 
Vater, Nannar, Herr von Gischschirgal “, Herrscher unter den 

Göttern, 

Vater, Nannar, Herr der Tiara 7 , glänzender, Herrscher unter 

den Göttern, 


1 4 R 8 9. 

8 AO VI 1 , 3 , S. 1 1 , vgl. KAT 3 , S. 608 f. und, besonders zur Strophen- 
einteilung, Hommel, Gestimdienst der alten Araber, S. 23ff. 

3 = Leuchter. 

4 Anschar und Anu sind die beiden großen Himmelsgötter, mit 
denen Sin hier identifiziert wird. 

5 Hauptkultort Sins in Südbabylonien. 

5 Sintempel in Ur. 

eig. Kopfbinde; gemeint ist die volle Mondscheibe. 

Weber, Literatur. 9 


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130 Kap. 10: Hymnen, Gebete und Psalmen. 

Vater, Nannar, an Königsherrschaft gar vollkommen, Herrscher 

unter den Göttern, 

Vater, Nannar, der im Gewand der Hoheit einherschreitet, 

Herrscher unter den Göttern! 


Jugendkräftiger Stier mit starken Hömem, untadeligen Oliedmaßen, 
lasurfarbenem Bart, voller Üppigkeit und Fülle; 

Frucht, die von selbst erzeugt wird, von hohem Wuchs, herr- 
lich anzuschauen, an deren Fülle man nicht 
(genug) sich sättigt. 

Mutterleib, der alles gebiert, der bei den Lebewesen einen 

strahlenden Wohnsitz aufschlägt, 

Vater, Barmherziger, Gnädiger, der das Leben des ganzen 

Landes in seiner Hand hält 

O Herr, deine Oottheit ist wie der ferne Himmel, wie das 

weite Meer voller Ehrfurcht; 

Der erschaffen das Land, gegründet die Tempel, sie mit 

Namen benannt hat, 

Vater, Erzeuger der Götter und Menschen, der sie ihre Wohn- 
sitze aufschlagen ließ, Opfer einsetzte; 

Der zum Königtum beruft, das Zepter verleiht, das Schick- 
sal auf ferne Tage hinaus bestimmt. 


Gewaltiger Anführer, dessen weites Herz kein Gott durchschaut, 

Hurtiger, dessen Beine nicht ermatten, der da bahnt den Weg 

der Götter, seiner Brüder. 

Der vom Grund des Himmels bis zur Höhe des Himmels strahlend 
dahinwandelt, der da öffnet das Tor des Himmels, 
Licht schafft allen Menschen. 

Vater, der alles erzeugt, der die Lebewesen ansieht, 

der auf bedacht ist 

Herr, der die Entscheidung für Himmel und Erde fällt, dessen 

Befehl niemand [ändert]; 

der da hält Feuer und Wasser, der da leitet die Lebewesen, 

welcher Gott käme dir gleich? 

Im Himmel, wer ist erhaben? Du allein bist erhaben! 

Auf Erden, wer ist erhaben? Du allein bist erhaben! 


Du 1 * , wenn dein Wort im Himmel erschallt, so werfen die 

Igigi* sich auf ihr Antlitz nieder. 
Du, wenn dein Wort auf Erden erschallt, so küssen die 

Anunnaki 3 den Boden. 


1 Wörtlich: was dich betrifft. 

* Die Gesamtheit der dreihundert himmlischen Götter. 

* Die Gesamtheit der sechshundert Götter der unteren Regionen, 
des Wassers, der Erde und Unterwelt 


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§ 37. Gebete. 


131 


Du, wenn dein Wort droben wie der Sturmwind einherfährt, 
so läßt es gedeihen Speise und Trank, 
Du, wenn dein Wort auf Erden sich niederläßt, so entsteht 

das Grüne, 

Du, dein Wort macht Stall und Hürde fett, breitet aus die 

Lebewesen ; 

Du, dein Wort läßt Wahrheit und Recht entstehen, so daß 

die Menschen das Rechte reden. 
Du, dein Wort ist (wie) der ferne Himmel, die verborgene Unter- 
welt, die niemand durchschaut. 
* Du, dein Wort, wer verstünde es, wer käme ihm gleich? 


O Herr, im Himmel an Herrschaft, auf Erden an Herrlichkeit, 
unter den Göttern, deinen Brüdern, hast du 
keinen Rivalen. 

König der Könige, erhabener, gegen dessen Befehl niemand 
ankommt, dem an Göttlichkeit kein Gott 
gleicht, 

Wo dein gnädig Auge [hinblickt, .... da wird das Gebet 1 ] 

erhört, 

Wo du deinen Arm gnädig [ausstreckst, da ergreift er den 

Gefallenen 1 .] 

Herr führst du im Himmel und 

auf Erden hinaus. 


Deinen Tempel blicke gnädig an, deine [Stadt] blicke gnädig an! 
Ur blicke gnädig an, Gischschirgal blicke gnädig an! 


Deine geliebte Gemahlin, die gnadenreiche, „o Herr, beruhige 

dich!“ möge sie zu dir sagen! 

Der Held, [der Sonnengott, ] „o Herr beruhige 


dich!“ möge er zu dir sagen! 

Die Igigi, [ „o Herr beruhige dich!“ mögen sie zu 

dir sagen!] 

Die Anunnaki, [ „o Herr beruhige dich!“ mögen 

sie zu dir sagen!] 


4 Zeilen abgebrochen (einige weitere Götteranrufungen). 


Die Götter Himmels [und der Erde], „Herr beruhige dich!“ 

mögen sie zu dir sagen. 

Wegen seiner urgeschichtlichen und mythologischen Vor- 
stellung interessant ist der Hymnus an den „Strom, der 
alles erschaffen hat“. 


1 Ergänzungen unsicher. 

9* 


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132 Kap. 10: Hymnen, Gebete und Psalmen. 

Texte: S. 1704 Rev., 82—9^18, 5311 Obv., beide veröff. King, 
Sev. Tabl., S. 201 u. 200; Transkr. u. Üb. ib. S. 128f. ln beiden Fällen dient 
der Text als Einleitung verschiedener Beschwörungen. 

O Strom, der du alles erschaffen hast, 

Als dich gegraben hatten die großen Oötter, 
an deine Ufer setzten sie Gnade, 

in dir hat Ea, der König der Wassertiefe, seinen Wohnsitz 

aufgeschlagen. 

Eine Flut ohne gleichen schenkten sie dir! 

Feuer und Zorn, Glanz und Schreck 
haben Ea und Marduk dir verliehen. 

Der das Recht der Menschheit spricht, bist du. 

Mächtiger Strom! Erhabener Strom! Gerechter Strom! 

(Es folgen Beschwörungsformeln.) 

Zu den schönsten Erzeugnissen der ganzen babylonischen 
Literatur gehört folgendes Gebet an Marduk, das aus der Serie 
der „Handerhebungsgebete“ stammt und neben inneren Vorzügen 
auch eine besonders sorgfältig durchgeführte metrische Struktur 
aufweist. Der Text 1 — nur semitisch erhalten — lautet in 
Zimmems Übersetzung 2 : 

Gewaltiger, Herrlicher, Herrscher von Eridu: 

Hehrer, Erhabener Erstgeborener Nudimmuds! 

Marduk, Weiser (?), der Egurra jauchzen macht! 

Herr von Esagil, Helfer Babels; 

Der Ezida liebt, Leben unversehrt erhält; 

Fürst von Emachtila, der Gesundheit gedeihen läßt! 

Schirm des Landes, der da hegt die zahlreichen Menschen; 
Beherrscher aller Heiligtümer; 

Dein Name ist überall im Munde der Menschen glückbringend! 
Marduk, großer Herr, auf dein erhabenes Gebot 

möge ich gesund und heil sein und so deine Gottheit 

verehren; 

wie ich es wünsche, möge ich es erlangen! 

Lege Wahrheit in meinen Mund; 
laß gute Oedanken in meinem Herzen sein! 

Trabant und Leibwächter mögen Gutes künden! 

Mein Gott möge an meine Rechte treten; 
meine Göttin möge an meine Linke treten; 
ein Gott, der mich bewahrt, möge mir zur Seite stehen! 
Gewähre doch Anrufen, Anhören und Erhören; 

das Wort, womit ich anrufe, werde, sowie ich anrufe, erhört! 
Marduk, großer Herr, schenke mir Leben; 


» 4 R* 21 (Nr. 1 [CJ Kol. III); (Hehn, Nr. 13). 
4 AO VII 3, S. 15 f. 


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§ 38. Psalmen, Klagelieder, Bußpsalmen. 


133 


Leben meiner Seele befiehl! 

vor dir fröhlich zu wandeln, daran möge ich mich sättigen! 

Bel freue sich deiner, Ea jauchze dir zu; 

Die Götter des Alls mögen dir huldigen, • 

Die großen Götter mögen dein Herz erfreuen! 

$ 38. Psalmen, Klagelieder, Bußpsalmen. 

Hier sollen diejenigen Texte zu kurzer Besprechung kommen, 
deren charakteristisches Merkmal in der Meditation des mit der 
Gottheit Redenden über seinen persönlichen Zustand liegt. Dieses 
Moment fehlt den oben besprochenen Hymnen und Gebeten 
vollständig und drückt den Texten, die es aufweisen, einen ganz 
eigenartigen Stempel auf. Streng genommen handelt es sich auch 
hier oft um „Gebete“, insofern als der Mensch die Gottheit, der 
er sein Leid klagt, oft auch um Hilfe anruft; auch hymnologische 
Partien sind mit diesen Gedichten gelegentlich verflochten, doch 
sind diese Teile der Dichtungen nicht das Wesentliche, Charakte- 
ristische. Dazu kommt, daß sie ganz im Gegensatz zu den 
sonstigen Hymnen und Gebeten oft überhaupt nicht an einen 
bestimmten Gott gerichtet sind, oft beliebig diesem oder jenem 
Gott gegenüber — einmal heißt es ausdrücklich „Klagelied für 
jeglichen Gott“ — gebraucht werden konnten. Speziell die 
Klagelieder und sogen. Bußpsalmen, die oft geradezu Bußgebete 
sind, heben sich auch schon äußerlich durch eigenartige Wen- 
dungen, die nur ihnen eigentümlich sind, von allen anderen 
Gebeten ab, und besonders fällt für die Sonderbehandlung dieser 
Stücke ins Gewicht, daß sie auch den Babyloniern als besondere 
Literaturgattung gegolten haben, für die eigene technische Be- 
zeichnungen geprägt waren. 

1. „Literarische Psalmen“ 

sind bisher in nur geringer Zahl bekannt geworden. Wir haben 
ein Recht, aus der Reihe der Klagelieder und Bußpsalmen 
„Literarische Psalmen“ auszuscheiden, in Rücksicht auf den Um- 
stand, daß diese letzteren keinerlei Beziehung zum praktischen 
Kultus verraten, während die ersteren durch innere und äußere 
Anzeichen ihren engen Zusammenhang mit dem gottesdienstlichen 
Gebrauch oder wenigstens mit der in diesem zum Ausdruck kommen- 
den religiösen Anschauung bekunden. Wir haben es hier viel- 
mehr offenbar mit rein literarisch zu wertenden Erzeugnissen 
zu tun, und zwar mit solchen, die nicht nur ursprünglich, sondern, 


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134 Kap. 10: Hymnen, Gebete und Psalmen. 

wie es scheint, für alle Zeiten als rein literarische Denkmäler 
betrachtet und überliefert und nie in den gottesdienstlichen Zu* 
sammenhang eingefügt worden sind. 

Das eigenartigste und schönste dieser Lieder ist der unter 
der Bezeichnung Lied eines „leidenden Gerechten“, und zwar 
eines Königs, bekannte Text K 2518 usw. 1 (vgl. K 3291, das 
einen Kommentar dazu darstellt). Dieser Text steht wegen der 
Schönheit seiner Sprache, der Tiefe seiner Gedanken, des sitt- 
lichen Ernstes, der ihn beherrscht, der Fülle der Ausdrucksmög- 
lichkeiten für die düstere Grundstimmung des Ganzen, und nicht 
zum mindesten wegen der Reife religiöser Anschauung nament- 
lich der ergreifenden Schlußworte, die, wie man meist annahm, 
die sichere Hoffnung einer Erlösung aussprechen, in hohem An- 
sehen, seitdem Zimmern ihn unserem Verständnis erschlossen hat. 

Wir kennen ihn der Hauptsache nach aus einer für Assurbanipals 
Bibliothek gefertigten Abschrift; der obengenannte Kommentar dazu 
stammt aus derselben Quelle, was an sich schon beweist, daß der Text 
selbst viel älter sein muß, wenn man das im Hinblick auf die künst- 
lerische und sittlich-religiöse Reife anzweifeln wollte. Ein weiterer Be- 
weis für das wesentlich höhere Alter ist, daß ein bedeutend älteres 
Duplikat des Textes sich auch in der babylonischen Stadt Sippar ge- 
fur.den hat. 

Der Text ist als 2. Tafel einer Serie bezeichnet und esistmitjastrow 
anzunehmen, daß diese Serie nicht etwa eine Reihe verschiedener 
aus irgend einem Grund zusammengestellter Texte enthalten hat, son- 
dern einen einheitlichen großen Text. Der Kommentar gibt uns die 
Möglichkeit an die Hand, wenigstens Teile der 1. und 3., vielleicht auch 
einer 4. Tafel wiederherzustellen. Größte Beachtung verdient auch 
Jastrows Vermutung, daß 4 R® 22 Nr. 2 einen Teil der 3. Tafel bildet, 
freilich aus einer ganz anderen Rezension — das Fragment ist zwei- 
sprachig überliefert. Bestätigt sich diese Vermutung, dann haben wir 
es in dem Texte nicht nur mit einem lyrischen Erguß, sondern mit einer 
Komposition größeren Stils, mit einer Art lehrhaftem Volksbuch zu 
tun, das, zunächst rein äußerlich angesehen, die Leiden und die schließ- 
liche Erlösung eines sagenhaften Königs Tabi-utul-Bel (vgl. Hommel, 
Grundriß S.351) zum Gegenstand hat und in der Form der Darstellung die 
direkte Rede des Helden mit dem Referat des Erzählers abwechseln läßt. 

Der ganze Text trug nach Ausweis der Unterschrift der 
2. Tafel den Titel: „Ich will preisen den Herrn der Weisheit“, 


1 Text in4R s 60* (Kommentar 5 R 47) ; zur Ergänzung dient neben 
dem Kommentar das Duplikat aus Sippar, Scheil, Fouilles ä Sippar 
S. 150. Zur Übersetzung der 2.Tafel: Zimmern, KAT* S. 385 ff.; AO VII, 3 
S. 28ff. Delitzsch, Babel und Bibel 111, 54. Vgl. auch besonders die 
Behandlung des ganzen Textes von Jastrow, Religion II, 120ff. 


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§ 38. Psalmen, Klagelieder, Bußpsalmen. 135 

welche Worte wohl auch zugleich die Anfangszeile des Ganzen 
bildeten. Von der 1. Tafel sind durch den Kommentar nur 
wenige Zeilen am Schluß erhalten, in denen bereits der König 
sich in herzbeweglicher Klage ergeht. Das Zwischenglied zwischen 
dem Preislied des Eingangs und dieser Klage fehlt bis jetzt voll- 
ständig. Da die ganze Komposition von der Anschauung be- 
herrscht ist, daß auch das Leiden des Gerechten zur Verherrlichung 
der Gottheit an ihm ausschlagen muß, so wäre eine für diesen 
Eingang vorauszusetzende theoretische Begründung dieser An- 
schauung von größtem religionsgeschichtlichem Interesse. 

Die 2. Tafel ist fast vollständig erhalten und führt die Er- 
zählung der Leidensgeschichte des Königs fort, hebt hervor, wie 
er sich strebend bemüht, wie er sich im Dienst der Götter ver- 
zehrt habe, ohne vor seinem Gott Gnade zu finden. Der Text 
der Tafel lautet 1 : 

Ich gelangte zu (langem) Leben, über das (Lebens)ziel ging 

es hinaus. 

Wo ich mich auch hinwende, da steht es schlimm, ja schlimm; 
meine Drangsal nimmt überhand, mein Wohlergehen erblicke 

ich nicht. 

Rief ich zu meinem Gott, so gewährte er mir nicht sein Antlitz, 
5 flehte ich zu meiner Göttin, so erhob sich ihr Haupt nicht 

Der Wahrsager deutete nicht durch Wahrsagung die Zukunft, 
durch eine Spende stellte der Seher mein Recht nicht her. 

Ging ich den Orakelbefrager an, so ließ er mich nichts ver- 
nehmen, 

der Zauberer löste nicht durch ein Zaubermittel meinen Bann. 

10 Was für verkehrte Dinge in der Welt! 


Blickte ich hinter mich, so verfolgte mich Mühsal. 

Als ob ich eine Spende meinem Gott nicht dargebracht hätte, 

oder bei der Mahlzeit meine Göttin nicht angerufen worden 

wäre, 

mein Antlitz nicht niedergeschlagen, mein Fußfall nicht 

sichtbar gewesen wäre; 

15 (wie einer) in dessen Munde stockten Gebet und Flehen; 

(bei dem) der Gottestag aufhörte, der Festtag ausfiel; 
der nachlässig war, auf (ihren) Ausspruch (?) nicht achtete; 

(Gottes) Furcht und Verehrung seine Leute nicht lehrte; 
der seinen Gott nicht rief, von dessen Speise er aß, 

20 seine Göttin verließ, ein Schriftstück (?) ihr nicht brachte; 
der den, der geehrt war, seinen Herrn, vergaß, 


1 Nach Zimmern AO VII. 


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136 Kap. 10: Hymnen, Oebete und Psalmen. 

den Namen seines mächtigen Gottes geringschätzig aus- 
sprach — so erschien ich. 


Ich selbst aber dachte nur an Gebet und Flehen, 

Gebet war meine Regel, Opfer meine Ordnung, 

25 Der Tag der Gottesverehrung war meine Herzenslust, 

der Tag der Nachfolge der Göttin war (mir) Gewinn und 

Reichtum ; 

Dem König (Bel?) zu huldigen, das war meine Freude, 
auch ihm zu spielen, das war mir genehm. 

Ich lehrte mein Land auf den Namen Qottes zu achten, 

30 den Namen der Göttin zu ehren, unterwies ich meine Leute. 

Die Verehrung des Königs machte ich riesen(?)gleich, 
auch in der Ehrfurcht vor dem Palaste unterwies ich das Volk. 

Wüßte ich doch, daß vor Gott solches wohlgefällig ist! 

Was aber einem selbst gut erscheint, das ist bei Gott schlecht, 
35 und was in sich verächtlich ist, das ist bei Gott gut. 

Wer verstünde den Rat der Götter im Himmel, 
den Plan Gottes, voll von Dunkelheit (?), wer ergründete ihn! 

Wie verstünden den Weg eines Gottes die blöden Menschen ! 


Der am Abend noch lebte, war am Morgen tot, 

40 plötzlich ward er betrübt, eilends ward er zerschlagen; 

im Augenblick singt und spielt er noch, 
im Nu heult er wie ein Klagemann. 

Tag und 'Nacht ändert sich ihr 1 Sinn. 

Hungern sie, so gleichen sie einer Leiche, 

45 sind sie satt, so wollen sie ihrem Gotte gleichkommen. 

Geht’s ihnen gut, so reden sie vom Aufsteigen zum Himmel, 
sind sie im Kummer, so sprechen sie vom Hinabfahren zur 

Hölle. 

(Fehlt ein gröseres Stück*) 

Zum Gefängnis ist mir das Haus geworden. 

In die Fessel meines Fleisches sind meine Arme gelegt, 

In meine eigenen Bande sind meine Füße geworfen. 

(fehlt eine Zeile.) 

Mit einer Peitsche hat er mich geschlagen, voll von 

20 mit seinem Stabe hat er mich durchbohrt, der Stich war 

gewaltig. 

Den ganzen Tag verfolgt der Verfolger mich, 
inmitten der Nacht läßt er nicht mich aufatmen einen Augen- 
blick. 


1 Der Menschen. 

* Schilderung des Leidenszustandes des Redenden, eingeleitet durch 
die Worte: „Ein böser Totengeist ist aus seinem Loche hervorge- 
kommen“. 


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§ 38. Psalmen, Klagelieder, Bußpsalmen. 137 

Durch Zerreißen (?) sind gesprengt meine Gelenke, 

meine Gliedmaßen sind aufgelöst, sind 

15 In meinem Kote wälzte (?) ich mich wie ein Stier, 
war begossen wie ein Schaf mit meinem Unrat. 

Meine Fiebererscheinungen sind dem Zauberer unklar ge- 
blieben (?); 

auch hat meine Vorzeichen der Wahrsager dunkel gelassen. 

Nicht hat der Beschwörer meinen Krankheitszustand gut be- 
handelt; 

10 auch gab einen Endpunkt für mein Siechtum der Wahr- 
sager nicht an. 

Nicht half mir mein Gott, faßte mich nicht bei der Hand, 
nicht erbarmte sich meiner eine Göttin, ging mir nicht zur 

Seite. 


Geöffnet war (schon) der Sarg, man machte sich an meine 

Beisetzung (?); 

bevor ich noch tot war, war die Wehklage um mich vollführt. 
5 Mein ganzes Land rief: „Wie ist er übel zugerichtet!“ 

Da solches mein Feind hörte, erglänzte sein Angesicht, 
meiner Feindin (?) verkündete man es, ihr (?) Sinn war 

heiter. 


Ich weiß (aber) eine Zeit für meine ganze Familie, 
da inmitten von Schutzgeistern ihre Göttlichkeit geehrt sein 

wird *. 

Die 3. Tafel scheint nach der erhaltenen ersten Zeile die 
Klage des Königs zunächst weiter zu führen: 

Schwer lastet seine 5 Hand, nicht vermag ich sie zu tragen. 
Ist, wie ich glaube, die von Jastrow vorgeschlagene Einfügung 
des Fragmentes 4 R 1 2 22 Nr. 2 in der 3. Tafel berechtigt, so ist 
anzunehmen, daß ein Priester (?) nun seinerseits, teilweise die 
„Königsklage“ rekapitulierend (vgl. oben Z. 15 — 10), das Leiden 
des Königs schildert: 


1 Die Übersetzung der beiden letzten Zeilen ist unsicher. Viel- 
leicht ist an Stelle dieses tröstlichen Ausblickes in die glücklichere 
Zukunft ein Ausdruck der Verzweiflung zu lesen ; das würde den Über- 
gang zur folgenden Tafel erleichtern, dann würden die beiden letzten 
Zeilen einen Wunsch nach dem Ende des Leidens, vielleicht auch 
nach dem Tode ausdrücken. Jastrow übersetzt: 

Wüßte ich schon den Tag, da mein Leid ein Ende nehme, 
da inmmitten der Schutzgeister ich als ihre Gottheit geehrt werde. 
Auf jeden Fall liegt in der letzten Zeile eine Anspielung auf die Ver- 
gottung des Königs bezw. seiner Familie. 

* Des heimsuchenden Gottes. 


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138 


Kap. 10: Hymnen, Gebete und Psalmen. 


Marduk hat es ihm angetan. 

Des Tags Leid, des Nachts Unruhe, 
sogar im Traum befällt ihn Schrecken 

Der Wahrsager durch Wahrsagen nicht leitet er ihn, 
der Befrager bei der Libation nichts eröffnet er ihm. 

Zu seinem Leid kommt er in der Fessel nicht zur Ruhe. 

Der Beschwörer durch seine Beschwörung schafft ihm keine 

Linderung. 

Wie ein Rind wälzt er sich in seinem Kot (?), 

Wie ein Schaf ist er begossen mit seinem Unrat. 

Alsbald aber wendet sich das Leid des Königs. Aus den durch 
den Kommentar erhaltenen Zeilen der 3. (und 4.?) Tafel geht her- 
vor, daß das Ganze, wie es mit einem Preislied begonnen hat, 
auch mit Lobgesang endet: Ein helfender Gott ließ die Sünden 
des königlichen Dulders „vom Wind davon tragen“, und damit 
weicht auch alle Krankheit aus seinem Leibe, das Gehör wird 
ihm wieder geschenkt, die Brust, die „wie eine Flöte pfiff“, ge- 
heilt, Speise und Trank kann er wieder zu sich nehmen, seine 
ganze Leibesgestalt erscheint verjüngt, „an dem göttlichen Strom, 
wo das Gericht der Menschen gehalten wird“, ward ihm das 
„Sklavenmal abgewischt, die Sklavenkette abgenommen und in 
den Rachen des Löwen“, der ihn verschlingen wollte, „hat Mar- 
duk Gebiß gelegt“. 

Der Text fordert eine Vergleichung mit dem Buch Hiob 
geradezu heraus. Das Rätsel des Leidens eines Frommen findet 
auch hier keine andere Lösung als die der schlechthinnigen Unter- 
ordnung des Menschen unter den Willen der Götter. In beiden 
Stücken hat der Anschauungskreis des tragischen Grundthemas 
eine ganz eigenartige Sprache ausgelöst, deren künstlerische Mittel 
allen, auch den intimsten Seelenregungen des Dichters vollkommenen 
Ausdruck ermöglichen und auch den Leser alle Stimmungen des 
Dulders, die dumpfe Verzweiflung, die stille Ergebung in das 
Unabänderliche, die belebende Hoffnung wie endlich den Jubel 
des Erlösten als seine eigene Erfahrung durchleben läßt 

ln verschiedener Beziehung wäre es von größtem Interesse, 
wenn eine vollständige Rezension des ganzen Gedichtes uns auch 
einmal endgültige Klarheit über seine literarische Form bringen, 
wenn es sich bestätigen würde, daß das Thema vom „leidenden 
Gerechten“ auch in Babylonien zu einem Volksbuch moralischer 
Tendenz verarbeitet worden ist, wie es ja auch beim Buch Hiob 
der Fall ist. Diese literarische Form wäre dann wohl ebenso 


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§ 38: Psalmen, Klagelieder, Bußpsalmen. 


139 


wie beim Buch Hiob eine sekundäre und es bliebe dabei die 
Wahrscheinlichkeit groß, daß der Grundstock des Ganzen, der 
Herzenserguß des leidenden Königs, ursprünglich eine literarisch 
durchaus selbständige Existenz geführt hat. 

Möglicherweise ist die ganze Komposition auch gelegentlich 
zu dramatischer Vorführung gekommen, ähnlich wie die mimischen 
Darstellungen mythologischer Stücke im Rahmen des Festrituals. 
Doch läßt sich darüber noch nichts Sicheres ausmachen (vgl. 
oben S. 32 f.). 

2. Klagelieder und Bußpsalmen. 

Literatur: Im allgemeinen: H. Zimmern, Babylonische Bußpsal- 
men, Leipzig 1885 (= Assyriologische Bibliothek Bd. VI). Derselbe in 
KAT* S. 609 — 612. Bahr, Die babylonischen Bußpsalmen, Jastrow, 
Religion II, S. 1 ff. und Zimmern, AO VII, 3 S. 17 ff. geben zahlreiche 
Obersetzungsproben; besonders das Verhältnis zu den biblischen Psalmen 
wird erörtert von Caspari, Die Religion in den assyrisch-babylonischen 
Bußpsalmen 1903; Hehn, Sünde und Erlösung 1903; Köberle, Sünde 
und Onade etc. S. 12 ff.; A. Jeremias, Monotheistische Strömungen. 

Die Klagelieder und Bußpsalmen heben sich durch ihre 
eigenartige Struktur, ihre Sprache und ihren Inhalt deutlich von 
den anderen Erzeugnissen der babylonischen Literatur ab. Dazu 
kommt, daß schon die Babylonier sie durch spezielle technische 
Bezeichnungen von den übrigen Hymnen und Gebeten unter- 
scheiden. Die wichtigsten dieser Bezeichnungen sind Er-Schem- 
ma = schigü chalchallati == „Flötenklagen“ und Er-Scha-Ku-Mal 
= schigü, taqribtu = „Klagelied zur Herzensberuhigung“. Mit 
der ersteren Gattung scheinen einige andere Spezies eng verwandt 
zu sein (vgl. Jastrow, S. 6, Anm. 2). Zur ersteren und den mit 
ihr verwandten Gattungen (behandelt von Jastrow, II, 1 — 65) ge- 
hören die in altbabylonischen — rein sumerischen — Nieder- 
schriften erhaltenen Texte CT XV, 10 — 23 und die überwiegende 
Mehrzahl der von Reisner, Babylonische Hymnen etc. nach Ab- 
schriften aus der griechischen Zeit publizierten Texte. Die Mehr- 
zahl der Texte der zweiten Gattung ist von Zimmern, Babylo- 
lonische Bußpsalmen, veröffentlicht und von Jastrow, Rel. II, S. 65ff. 
behandelt. 

Die äußere Klassifikation ist nur der Ausdruck bedeutsamer 
inhaltlicher Differenzen. Man kann in Kürze sagen, daß die der 
Er-Schem-ma- u. dergl. -Klasse angehörenden Texte Klagelieder 
allgemeineren Inhalts sind, während die anderen ein durchaus 
individuelles Gepräge tragen. Damit geht Hand in Hand, daß 


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140 Kap. 10: Hymnen, Gebete und Psalmen. 

die ersteren ganz unvergleichlich mehr schablonenhaft und kon- 
ventionell gehalten sind, während die letzteren sich zur höchsten 
Höhe sittlichen Ernstes, religiöser Reife, poetischer Ausdrucks- 
formen erheben, deren die babylonische Literatur überhaupt jemals 
fähig gewesen ist 

ln den Er-scha-Ku-mal -Texten kommen persönliche Nöte, 
das Schuldbewußtsein des Individuums, das lähmende Gefühl der 
Gottverlassenheit zu ergreifendem Ausdruck. In den anderen 
sind unglückliche Ereignisse, die das ganze Land oder ganze 
Städte betroffen haben, Kriegsnöte, widrige Naturereignisse u. ä. 
der Gegenstand der Klage. Tritt in den ersteren der Betende 
meist in ein intimes Zwiegespräch mit seinem Gott, mit dem 
er sich innig verbunden weiß, oder von dem er sich schmerz- 
voll verlassen fühlt, so treten in den anderen ganze Legionen 
von Gottheiten auf den Plan, und nicht nur zahllose Götter, 
auch alle ihre Städte und Tempel werden beschworen, das Ge- 
schrei des Landes, das Seufzen der Kreatur zu hören und Abhilfe 
zu schaffen. Die Struktur dieser Klagelieder ist gleichwohl der Haupt- 
sache nach in beiden Fällen die gleiche. Hier wie dort eröffnet 
eine hymnologische Einleitung das Ganze, folgt die Schilderung 
des Elends, die Bitte um Abhilfe. Auch die für diese ganze 
Klasse von Texten charakteristischen Formeln, wie „wie lange 
noch“, „das Herz möge sich beruhigen“, „verkünde Versöhnung“ 
u. a. kehren in allen Texten gleichmäßig wieder. Und doch 
unterscheiden sie sich gerade in der Art und Weise, wie diese 
allgemeinen Elemente des Klageliedtypus hier und dort zur Ver- 
wendung kommen, so stark, daß kaum einmal, auch nicht in den 
vielen Fällen, wo die Unterschriften keinen Anhaltspunkt geben, 
ein Zweifel bestehen kann, welcher Gattung ein Lied zugeschrieben 
werden muß. ln den Er-Schem-ma-Liedern sind die hymno- 
Iogischen Einleitungen ebenso wie die direkten Gebetsanrufungen 
meist zu langatmigen Litaneien ausgeartet, die für die Religions- 
geschichte wohl wertvolle Fundgruben sind, die ästhetische Wir- 
kung des Liedes aber schwer beeinträchtigen. 

Der am tiefsten begründete Unterschied zwischen beiden 
Gattungen von Klageliedern liegt in der Veranlassung, die den 
Bittenden treibt, bei der Gottheit Hilfe zu suchen. Sind es dort 
äußere Nöte, die die Gesamtheit betrafen, und im großen und 
ganzen dem einzelnen nur in ihrer materiellen Wirkung empfind- 
lich wurden, so waren es hier persönliche Angelegenheiten, die der 


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§ 38. Psalmen, Klagelieder, Bußpsalmen. 141 

Betende mit seinem Gott abzumachen hatte. Auch wenn es 
nicht gerade das Bewußtsein der Sünde an sich war, wenn es 
sich auch hier wohl zumeist um körperliche, materiell spürbare 
Nöte gehandelt hat, so kommt doch in diesen Liedern zu er- 
greifendem Ausdruck, daß der Beter den letzten Grund seines 
Zustandes nicht außerhalb, sondern in sich selbst, in seinem Ver- 
schulden sucht, das den Zorn der Götter auf ihn gerichtet hat. 
Man darf sich freilich über die diesem Schuldgefühl zugrunde 
liegenden sittlichen Anschauungen keine ausschließlich von den 
uns in Fleisch und Blut übergegangenen Forderungen abgeleitete 
Vorstellungen machen. Die Verschuldung war sicherlich in vielen 
Fällen entweder grob-sittlicher oder noch häufiger kultischer Art 
— die geringste Abweichung von den peniblen Vorschriften des 
Rituals genügte ja, den Zorn der Götter heraufzubeschwören. 
Aber darauf kommt es hier gar nicht an. Welchen letzten Grund 
das Schuldbewußtsein auch immer gehabt haben mag, es kommt 
in einer Form zum Ausdruck, die reiner, rührender, ergreifender 
und wirkungsvoller auch die denkbar entwickeltsten sittlichen 
Vorstellungen nicht hervorbringen könnten. 

Es ist nun eine fast wehmütig stimmende Beobachtung, daß 
auch so erhebende Zeugnisse einer tiefen sittlichen Empfindung 
gelegentlich eng verknüpft sind mit dem einfältigsten Hokuspokus 
des Beschwörungsformelkrams, wenn beispielsweise das schöne 
Gebet an Istar (Zimmern, AO Vll 3, S. 19 ff.), das im Zusammen- 
hang der Serie der „Handerhebungsgebete“ überliefert ist, am 
Schlüsse durch rituelle Anweisungen verunziert wird, wie die, 
daß man gewisse Formeln dreimal hersagen und dabei ja das 
Antlitz nicht rückwärts kehren soll. Die starre Form der kultischen 
Übung hat auch die Verfeinerung des sittlich-religiösen Empfindens, 
das reifende künstlerische Gefühl nicht zu sprengen vermocht. 

Dieses eine Beispiel — es ließe sich leicht verdutzendfachen — 
predigt eindringlich, daß auch im alten Babylonien Religion und 
Religiosität zwei wesentlich verschiedene Dinge sind, die nicht 
mit einander verwechselt, ja nicht einmal mit einander verglichen 
werden dürfen. Es ist eine vollständige Verkennung und Ver- 
drehung des wahren Sachverhaltes, wenn man die Vorstellungen 
von der babylonischen Religion einseitig auf Grund der — im 
Verhältnis zu den andersgearteten Zeugnissen spärlichen — Proben 
individueller religiöser Herzensergüsse beurteilt oder darstellt 
Man darf diese Zeugnisse vielleicht überhaupt weniger als Proben 


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142 Kap. 10: Hymnen, Oebete und Psalmen. 

einer religiösen, denn als Proben einer allgemein menschlichen, 
künstlerischen, dichterischen Begabung ansehen und werten. 

In bezug auf die Form der Überlieferung sei noch er- 
wähnt, daß die Mehrzahl der Klagelieder zweisprachig, viele aber 
auch nur sumerisch oder nur semitisch erhalten sind. Für die 
mutmaßliche Entstehungszeit geben uns die altbabylonischen 
Rezensionen einen vorläufig festen Punkt, die letzten Jahrhunderte 
des 3. vorchristlichen Jahrtausends, an die Hand. Namentlich 
die Klagelieder allgemeinen Inhalts reizen durch ihre Anspielungen 
zu genaueren Fixierungsversuchen; doch ist der Spielraum meist 
zu weit, als daß sichere Resultate zu erhoffen wären. 

Hervorzuheben ist noch, daß gerade in den Klageliedern 
die Form der Wechselrede — Priester und Büßer — beliebt 
ist (Beispiele bei Zimmern, AO VII, 3, S. 25 ff.). Die Texte dieser 
Art bilden die Brücke zu den Beschwörungstexten, denen sie 
auch innerlich nahe stehen, aus denen sich große Partien heraus- 
greifen ließen, die durch geringe redaktionelle Änderungen zu 
Bußpsalmen — die sie vielleicht in manchen Fällen ursprünglich 
waren — umgestaltet werden könnten, wie umgekehrt auch die 
Mehrzahl der außerhalb dieses Zusammenhangs überlieferten Texte 
unmittelbar in den Zusammenhang des Beschwörungsrituals hinein- 
gedacht werden kann. Vgl. das oben über das Ineinandergreifen 
der literarischen Gattungen Bemerkte. 

Indem für weitere Textproben auf die meisterhaften Über- 
setzungen Zimmerns (1. c. S. 17 ff.) und die erschöpfenden Mit- 
teilungen bei Jastrow, Religion II, 1 ff., verwiesen wird, begnüge 
ich mich hier mit der Wiedergabe zweier Beispiele, die den 
Charakter der beiden Hauptgattungen des babylonischen Klage- 
liedes veranschaulichen sollen. 

1. Das instruktivste Beispiel für den Typus der Er-schem- 
ma-Lieder ist der große Text Reisner 1 (S. 130 ff.) 1 . Er ist er- 
halten in einer Abschrift aus griechischer Zeit und zweisprachig 
abgefaßt. Er zerfällt in drei Hauptteile. Dem ersten Hauptteil 
gehen zwei Verszeilen vorauf: 

Die Hürde Bels klagt bitterlich, 

Die Hürde, die Hürde Bels bitterlich — 
die, wie so vielfach in den lyrischen Dichtungen der Babylonier, 
als Introduktion den Hauptinhalt des ganzen Stückes skizzieren 

1 Bearbeitet von Messerschmidt, Dissertation; jastrow, Religion II, 
13ff. und z. T. von Zimmern, AO VII, S. 31. 


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§ 38. Psalmen, Klagelieder, Bußpsalmen. 


143 


und charakterisieren. Das Ganze ist ja ein Klagelied, das eine 
schwere Bedrängnis der Beistadt Nippur zum Inhalt hat Der 
ganze erste Hauptteil ist sodann eine Apostrophe an Bel, dessen 
Macht über alles von ihm, dem Schöpfergott, Erschaffene ge- 
priesen, auf den aber auch der Notstand im Lande zurückgeführt 
wird. Der zweite Hauptteil enthält die eigentliche Klage, die in 
Zimmems Übersetzung folgendermaßen lautet: 

O Herr des Landes, Bel, unerschütterlicher, wie lange will sich 

dein Herz nicht beruhigen? 

Vater Bel, deine Augen, die da blicken, wie lange wollen 

sie sich nicht beruhigen? 

Der du dein Haupt mit einem Tuch verhüllst, wie lange 1 ? 

Der du deinen Nacken in deinen Schoß legst*, wie lange? 

Der du dein Herz wie eine Tonne zudeckst, wie lange? 

Gewaltiger, der du deine Finger in die Ohren steckst, wie 

lange? 

O Vater Bel! Sie* sind überwältigt, sind vernichtet. 

O Herr des Landes! Das Mutterschaf stößt ihr Lamm von 

sich, die Ziege ihr Zicklein. 

Wie lange noch wird in deiner treuen Stadt die Mutter, die 
es geboren, ihr Kind von sich stoßen? 

Das Weib des Helden die junge Tochter, ihr Kind, von 

sich stoßen? 

[Die Gattin] ihren Gatten von sich stoßen? 

[O Vater Bel!] Himmel und Erde sind niedergeworfen, Licht 

ist nicht vorhanden. 

O Herr des Landes! Die Sonne geht über dem Lande glän- 
zend nicht auf. 

[O Vater] Bel! Der Mond geht über dem Lande leuchtend 

nicht auf. 

Sonne und Mond gehen über dem Lande glänzend nicht auf. 

O Vater Bel! Da du nach innen riefst, die Leute innen 

tötetest du; 

O Herr des Landes! Da du nach außen riefst, die Leute 

außen tötetest du: 

da du in die Täler riefst, mit Blut wurden sie angefüllt; 

in das Innere des Landes riefst, zu Trümmerhügeln machtest 

du es. 

Den letzten Teil bildet eine lange Litanei, in der Götter 
und Kultusstädte: Nippur, Sippar, Babylon, Borsippa samt ihren 


1 Erg.: will sich dein Herz nicht beruhigen? 

* So wörtlich. Der Sinn ist, wie in der vorangehenden Zeile, daß 
Bel sein gnädiges Auge der Stadt nicht zuwendet. 

* D. i. die Leute von Nippur. 


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144 


Kap. 10: Hymnen, Oebete und Psalmen. 


Tempeln angerufen werden, „durch ihre Fürbitte das erzürnte 
Herz Bels zu besänftigen“. Sie wird eingeleitet durch die Zeilen: 

Herr, Bel, Himmel und Erde mögen dir Ruhe verschaffen! 

Krieger, Marduk, Himmel und Erde mögen dir Ruhe verschaffen! 

Herr des Landes, dein beschwertes Herz beruhige sich! 

Um dein Herz zu beruhigen, mögen die Anunnaki betend vor 

dich hintreten, 

Mögen die Anunnaki, das Erzeugnis Anus, betend vor dich hin- 
treten, 

Mögen die Anunnaki, das Erzeugnis der Antum, betend- vor dich 

hintreten. 

Vater Bel, deine Gemahlin Ninlil möge das Gebet dir ver- 
künden. 

Vierunddreißig weitere Götter werden angerufen, „das Gebet zu 
verkünden“. Zum Beschluß werden die oben genannten Städte 
und ihre Tempel, die Bel als ihren Herrn und Hirten verehren, 
mit denselben Worten um ihre Fürbitte angegangen. Die 
Schlußzeile: 

Der mit Klage Beladene kann die Klage nicht zurückhalten. — 
entspricht in ihrer Stellung zur ganzen Komposition den ein- 
leitenden Zeilen. Vgl. die Einleitungs- und Schlußzeilen in dem 
Mondhymnus 4 R 9 (oben S. 129 ff.). 

Die Litanei bildet einen mehr oder weniger großen Bestand- 
teil fast aller Klagelieder. Ihre Bedeutung liegt auf der religions- 
geschichtlichen Seite. Ihre Gleichförmigkeit ist für die ästhetische 
Wirkung dieser Lieder von großem Nachteil. 

2. Als Probe eines „persönlichen“ Klageliedes sei das schöne 
Lied 4 R 10 mitgeteilt 1 . Auch dieser Text, der sich in seiner 
sittlichen und religiösen Reife von den meisten ähnlichen Erzeug- 
nissen der babylonischen Literatur unterscheidet, kann sich von 
der den Klage- und Büßliedern eigentümlichen Form der Litanei 
nicht völlig freimachen. Die Zahl der Gottheiten ist allerdings 
beschränkt, es ist in ihm nur von Gott und Göttin, vom be- 
kannten und unbekannten Gott oder Göttin die Rede. Dieses 
Absehen von der Nennung einer bestimmten Gottheit kann, äußer- 
lich angesehen, auch darin seinen Grund haben, daß das Lied, 
wie es sonst häufig zu beobachten ist, für jeden Gott beliebig 
verwendbar sein sollte. Daß das Lied im kultischen Gebrauch 


1 Übersetzt von Zimmern, KAT*, 611 f.; AO VII, 3, S. 22 ff., vgl. 
auch Jeremias, Monotheistische Strömungen ; Jastrow, Religion 11, lOOff. 


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§ 38. Psalmen, Klagelieder, Bußpsalmen. 


145 


so verstanden und so verwertet worden ist, beweist die Unter- 
schrift „Klagelied für jedweden Oott“. Doch beweist das nichts 
für die Vorstellung und Meinung des Dichters. Es läßt der 
ganze Anschauungskreis, der das Lied beherrscht, vielmehr die 
Möglichkeit als die näherliegende erscheinen, daß hier eine Ahnung 
von der ideellen Konzentration der göttlichen Macht zu einer 
solchen Formulierung des Gottesbegriffes geführt hat 
Das Lied lautet in Zimmems Übersetzung: 

Daß doch das Toben im Herzen des Herrn zur Ruhe komme! 

Der Oott, den ich nicht kenne, zur Ruhe komme; 

die Göttin, die ich nicht kenne, zur Ruhe komme! 

Der Oott, den ich kenne, nicht kenne, zur Ruhe komme; 

5 die Göttin, die ich kenne, nicht kenne, zur Ruhe komme! 

Daß doch das Herz meines Qottes zur Ruhe komme; 
das Herz meiner Oöttin zur Ruhe komme! 

Mein Oott und meine Oöttin [zur Ruhe] komme! 

Der Oott, der auf [mich zürnte, zur Ruhe] komme; 

10 die Oöttin, [die auf mich zürnte, zur Ruhe komme!] 

Die Sünde, [die ich getan], kenne [ich nicht;] 
den Frevel, [den ich getan], kenne [ich nicht]. 

Einen guten Namen [möge mein Oott nen]nen; 
einen guten Namen [möge meine Oöttin nen]nen! 

15 Einen guten Namen [möge der Oott, den ich kenne, nicht 

kenne, ausspre]chen ; 

einen guten Namen [möge die Oöttin, die ich kenne, nicht 

kenne, aussprejchen ! 

Reine Speise [habe] ich [nicht] gegessen ; 

klares (?) Wasser [habe] ich [nicht] getrunken. 

Vom Oreuel meines Oottes habe ich ohne zu [wissen] ge- 
gessen ; 

20 auf Unflätiges für meine Oöttin bin ich ohne zu wissen 

getreten. 

O Herr, meiner Sünden sind viel, groß sind meine Vergehen. 
Mein Gott, meiner Sünden sind viel, groß sind meine Ver- 
gehen; 

meine Oöttin, meiner Sünden sind viel, groß sind meine 

Vergehen. 

Oott, den ich kenne, nicht kenne, meiner Sünden sind viel, 

groß sind meine Vergehen; 

25 Göttin, die ich kenne, nicht kenne, meiner Sünden sind viel, 

groß sind meine Vergehen. 

Die Sünde, die ich getan, kenne ich nicht; 

das Vergehen, das ich begangen, kenne ich nicht. 

Den Oreuel, den ich gegessen, kenne ich nicht; 
das Unflätige, auf das ich getreten, kenne ich nicht. 

Weber, Literatur, 10 


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146 Kap. 10: Hymnen, Oebete und Psalmen. 

30 Der Herr hat im Zorn seines Herzens mich böse angeblickt. 
Der Oott hat im Grimm seines Herzens mich feindlich ge- 
troffen: 

die Göttin hat auf mich gezürnt, einem Kranken mich gleich 

gemacht. 

Der Gott, den ich kenne, nicht kenne, hat mich bedrängt; 
die Oöttin, die ich kenne, nicht kenne, hat mir Schmerz 

angetan. 

35 Suchte ich nach Hilfe, so faßte mich niemand bei der Hand; 
weinte ich, so kam man nicht an meine Seite. 

Stoße ich Schreie aus, so hört niemand auf mich; 

ich bin voll Schmerz, überwältigt, kann nicht aufblicken. 

Zu meinem barmherzigen Gott wende ich mich, flehe ich laut ; 
40 die Füße meiner Göttin küsse ich, rühre sie an. 

Zu dem Gott, den ich kenne, nicht kenne, [flehe ich] laut; 

zu der Göttin, die ich kenne, nicht kenne, [flehe ich laut]. 
O Herr, blifcke auf mich, nimm an mein Flehen; (?)] 
o Göttin, bli[cke auf mich, nimm an mein Flehen! (?)] 

45 Oott, den ich kenne, [nicht kenne, blicke auf mich, nimm an 

mein Flehen; (?)] 

Göttin, die ich kenne, [nicht kenne, blicke auf mich, nimm 

an mein Flehen! (?)] 

Wie lange, mein Gott, [soll dein Nacken abgewendet sein; (?)] 
wie lange, meine Göttin, [soll dein Nacken abgewendet sein ?] 
Wie lange, Gott, den ich kenne, nicht kennne, [soll dein] Zorn 

[nicht aufhören?] 

50 wie lange, Göttin, die ich kenne, nicht kenne, soll dein feind- 
liches Herz n[icht] zur Ruhe kommen? 
Die Menschen, da taub, verstehen nichts. 

Die Menschen, soviele ihrer leben, was verständen sie? 

Ob sie schlecht, ob sie gut handeln: nichts verstehn sie. 

O Herr, deinen Knecht stürze nicht; 

55 in Wasser des Schlammes geworfen, fasse ihn bei der Hand ! 
Die Sünde, die ich begangen, wandle in Gutes; 
das Vergehen, das ich verübt, führe der Wind fort; 
meine vielen Schlechtigkeiten zieh (mir) aus wie ein Kleid! 
Mein Gott, sind meiner Sünden (auch) sieben mal sieben, so 

löse meine Sünden! 

60 meine Göttin, sind meiner Sünden auch sieben mal sieben, 

so löse meine Sünden! 

Gott, den ich kenne, nicht kenne, sind meiner Sünden (auch) sieben 
mal sieben, so löse meine Sünden; 
Göttin, die ich kenne, nicht kenne, sind meiner Sünden (auch) 
sieben mal sieben, so löse meine Sünden! 
Löse meine Sünden, so will ich dir huldigen! 

Dein Herz, wie das Herz der Mutter, die mich geboren, komme 

zur Ruhe; 


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Kap. 11: Beschwörungstexte: § 39. Allgemeines. 


147 


65 wie die Mutter, die mich geboren, der Vater, der mich gezeugt, 

komme es zur Ruhe! 


Kap. n: Beschwörungstexte. 

§ 39. Allgemeines. 

Literatur: In vielem auch heute noch nicht veraltet ist Lenormant, 
Die Magie der Chaldäer, 1879. Besonders siehe die Einleitungen zu 
Tallquist, Die assyrische Beschwörungsserie Maqlü; Zimmern, Beiträge 
zur Kenntnis der babylonischen Religion; Thompson, The Devils and 
evil spirits 1 u. II; Fossey, La magie assyrienne; sodann Zimmern, 
KAT* S. 458 ff. 604 ff.; Jastrow, Religion I, S. 273 ff.; O. Weber, Dämonen- 
beschwörung bei den Babyloniern und Assyrem (AO VII, 4). 

Während im vorigen Kapitel diejenigen Texte zur Erörterung 
standen, die im letzten Grund überwiegend Äußerungen der 
individuellen Frömmigkeit waren, handelt es sich in den folgenden 
Kapiteln um die Erzeugnisse des offiziellen kultischen Bedürf- 
nisses, um die klassischen Ausdrucksformen der anerkannten Staats- 
religion. Diese wird durchaus beherrscht von Beschwörung und 
Wahrsagung und ist — in modernem Sinn gesprochen — auf- 
gebaut auf einen Aberglauben von kaum zu überbietender Naivität. 
Daß es sich hier wirklich um wesentliche Elemente der offiziellen 
Staatsreligion handelt und nicht etwa um Ausgeburten der be- 
schränkten, auf Irrwege geleiteten Vorstellungen ungebildeter Massen, 
was man vielleicht im Blick auf die im vorigen Kapitel behandelten 
religiösenTexteanzunehmen geneigt ist, das beweist derUmstand, daß 
die offiziellen Inschriften der Könige voll sind von Anspielungen 
auf Wahrsagerei und Beschwörungskünste; das beweist die große 
Menge von Korrespondenzen, in denen Könige und höchste 
Kronbeamte und Feldherren sich über die Resultate der von den 
öffentlich beamteten Astronomen und Astrologen, Wahrsagern 
und Zeichendeutem angestellten Befragungen unterrichten lassen, 
um ihre wichtigsten Unternehmungen nach ihnen einzurichten, 
das beweist schon äußerlich die ungeheure Menge der hier ein- 
schlägigen Literatur, die Assurbanipal für seine Bibliothek hat 
abschreiben lassen. 

Die Zaubertexte wenden sich alle gegen die unheimlichen 
Mächte, die die Menschheit quälen und verfolgen, gegen die 
Dämonen und bösen Geister, jene Verderben bringenden Zwischen- 
glieder zwischen der göttlichen Macht und der menschlichen 
Schwachheit, die wohl alles Unglück verschulden, wenn sie, ohne 

10 * 


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148 


Kap. 11: Beschwörungstexte. 


Widerstand zu finden, sich austoben dürfen, deren Macht aber 
doch ihre Grenzen hat und gebrochen werden kann durch die 
priesterliche Beschwörung, durch wunderkräftige Worte und 
Zeremonien. 

Die Gestalten dieser Geisterwelt sind so mannigfach als das 
Übel, das den Menschen plagt und peinigt, ja jedes Übel ist die 
Wirkung irgend einer speziellen dämonischen Macht: Kopfkrank- 
heit, Fieber, Pest und Wahnsinn, die Schrecken der Nacht und 
die Gefahren des Tages — es gibt kein Übel, das den Menschen 
überfällt, das nicht von irgend einem Dämon ausginge. 

Die wichtigsten Verkörperungen dieser unheimlichen Mächte 
sind folgende: Der Utukku, ein Totengeist; er lauert in der Wüste 
im Hinterhalt, oder wohnt im Gebirge, in Seen, auf Gottesäckern. 
Eng mit ihm verwandt ist der Ekimmu, die abgeschiedene 
Seele, die aus irgendeinem Grund keine Ruhe findet und rastlos 
und ruhelos über die Erde wandert. Er wendet sich vor allem 
gegen die, mit denen er auf Erden irgendwelche Gemeinschaft 
gehabt und die teil haben an der Schuld, die ihm den Zugang 
zu dem Ort der Toten verwehrt Der Alü schweift umher in 
Ruinen und verlassenen Wohnstätten, liegt im Hinterhalt, bereit, 
sich auf jeden zu stürzen. Des Nachts schleicht er sich ein in 
die Kammern, raubt den Müden den Schlaf. Sein Antlitz ist 
furchtbar anzusehen, ohne Mund, Lippen, Ohren. Er ist erzeugt 
von der Dämonin Lilit und einem Menschen, sein Aussehen halb 
menschlich, halb teuflisch. Ihm gleicht der Gallü, der gleich 
den vorhergehenden in Stiergestalt erscheint, geschlechtslos ist, wie 
der Alü des Nachts durch die Straßen schlendert, alles unsicher 
machend. Lilu, Lilit und Ardat Lili sind — so wie übrigens 
auch alle bisher genannten — spezielle Sturmdämonen. Daneben 
kommen vor Rabisu, der „Kauerer“, der stiergestaltige Schedu 
(auch Sturmdämon?), der weibliche Fieberdämon Labartu, der 
namentlich den kleinen Kindern gefährlich wird, die männlichen 
Fieberdämonen Labasu und Achchazu. Ein Dämon, der immer 
in den Aufzählungen wiederkehrt, wird schlechthin als ilu limnu, 
„böser Gott“, bezeichnet und ist offenbar der Widerpart des per- 
sönlichen Schutzgottes. Namtaru ist der Bote der Unterwelts- 
göttin und wird speziell mit der Pest in Verbindung gebracht, 
Aschakku ist das zehrende Fieber, Dimetum der böse Fluch. 
Namentlich in den Ritualtafeln und Omina tritt der Sadiru, der 
„Bedränger“, des Sünders, der redü, der „Verfolger“, der scharabdü. 


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§ 39. Allgemeines. 149 

der „Verleumder“ hervor. Wie der „böse Gott“ als Gegenstück 
zum „Schutzgott“ erscheint, so ist ein böser Dämon mukil resch 
limuttim, „der (des Menschen) Haupt in böser Weise hält“, der 
Widerpart eines guten Geistes mukil resch damiktim, „der (des 
Menschen) Haupt in guter Weise hält“. (Auch der böse Dämon 
Schedu hat in dem gnädigen und bewahrenden Schedu sein 
Gegenstück.) Eine besondere Rolle spielt die Hexe (kaschschaptu 
und viele synonyme Ausdrücke), die als Spuckgeist der Nacht 
allerlei Zauber, Krankheit, böse Träume usw. anrichtet Außer 
diesen gab es noch eine große Zahl anderer Dämonen, vgl. z. B. 
die Aufzählung bei Zimmern, Ritualtafeln Nr. 45, Z. 1 — 12 
(S. 152f.) und die 14 in der Begleitung Nergals erscheinenden 
(meist Fieber-) Dämonen in dem Mythus von Nergal und Erisch- 
kigal, KB VI, 1, S. 77 und 79, vgl. oben S. 103 u. A. 1. 

In diesem Gewirr von Kräften und Namen haben die baby- 
lonischen Priester offenbar selber nicht Ordnung zu halten ver- 
mocht. Sie lassen, was schon aus den oben beigefügten kurzen 
Erklärungen hervorgeht, die Wirkungskreise der einzelnen 
Dämonen sich nicht streng voneinander absondern, sondern 
recht häufig ineinander übergreifen. So kommt auch wohl der 
eine als Repräsentant der ganzen Dämonenwelt vor, so nament- 
lich der Utukku, dessen Name ganz allgemein für Dämon ge- 
braucht wurde. Der tiefere Grund für dieses Obergreifen der 
einzelnen Dämonen nach dem Wirkungskreis anderer, wie es in 
den Beschwörungen hervortritt, liegt wohl in der Verlegenheit, 
in der sich der Beschwörungspriester oft gegenüber der wahren 
Natur des zu beschwörenden Übels befand. Diese führte dazu, 
die Anrufungen auf alle möglichen Dämonen auszudehnen, in 
der Hoffnung, dann doch sicher auch den eigentlich schuldigen 
nicht zu übersehen. 

Eine hervorragende Rolle spielen in den Beschwörungstexten 
die sog. „Sieben“, die als Zusammenfassung aller irgendwie wirk- 
samen dämonischen Mächte erscheinen und infolgedessen auch 
alle Wirkungen der verschiedenen speziellen Kräfte auszuüben 
vermögen, ln der Mythologie erscheinen diese „Sieben“ als Ver- 
körperungen der Stürme, die dem Frühlingsäquinoktium voran- 
gehen; ihre Wirkung fällt zeitlich zusammen minder Unsichtbar- 
keit der Plejaden (vgl. oben S. 61) und sie sind wohl auch in 
dem Siebengestirn, das den Gott Nergal repräsentiert, wiederzu- 


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150 


Kap. 11: Beschwörungstexte. 


erkennen. Unwillkürlich denkt man bei ihnen auch an die 
„sieben Geister“ Luc. 11. 26. 

Über die Gestaltungen der Dämonen in der bildenden Kunst 
vgl. jastrow, Rel. II, S. 281 f. 

Die Maßregeln, die zum Schutze der bösen Geister ergriffen 
worden sind, und die in den Zaubertexten eingehend beschrieben 
werden, sind in der Hauptsache folgende: 

Um jeder Möglichkeit einer Wirkung der bösen Geister 
schon von vornherein zu begegnen, bediente man sich gewisser 
Vorbeugungsmittel, und zwar wurden an den Türen der Häuser 
mit Vorliebe verschiedene wunderwirkende Pflanzen oder Tafeln 
mit kurzen Beschwörungsformeln oder auch kleine Bilder von 
schützenden Gottheiten angebracht 1 , oder namentlich Amulette 
mit schützenden Aufschriften am Leibe getragen (darüber vgl. 
unten S. 1 66). War aber das Unglück geschehen und der Mensch 
irgend einem bösen Dämon in die Falle gegangen, so daß er 
die Wirkung an seinem Leibe spürte, so mußte der Beschwörungs- 
priester (aschipu), der allein im Besitz kräftiger Mittel und dem 
Dämon gewachsen war, um seine Mitwirkung angegangen werden. 
Die erste Rolle bei dem Beschwörungsritual spielt das gesprochene 
oder vielmehr nach ausdrücklicher Vorschrift „geflüsterte“ Wort, 
die Beschwörungsformel, deren es ungezählte gegeben haben 
muß, für jeden besonderen Fall. Die äußeren Mittel, die die 
Wirkung der geflüsterten Formel zu unterstützen berufen waren, 
waren je nach der Art des Leidens bezw. des dahinter stecken- 
den Dämons sehr mannigfaltig. Am häufigsten tritt der Gebrauch 
„reinen Wassers“ auf, mit dem der Besessene besprengt wurde, 
vielleicht, um seine Reinigung anzudeuten, sicher aber auch, 
um die Gegenwart Eas, des stärksten und in besonderem Maße 
berufenen Schützers der leidenden Menschheit (vgl. das so häufig 
wiederkehrende Zwiegespräch zwischen Marduk und Ea, S. 161 f., 
das übrigens auch schon in den wenigen aus altbabylonischer 
Zeit stammenden Beschwörungstexten (CT IV, 8] vorkommt), 
dessen Rolle in der ganzen babylonischen Mythologie die des 
wohlwollenden Freundes der Bedrängten auch unter den Göttern 


1 Vgl. die Sitte mancher Gegenden, die Buchstaben C. M. B. 
(Caspar, Melchior, Balthasar) an die Türen zu schreiben. Die Juden 
hängen noch heutzutage Pflanzenbüschel (Aloe etc.) und gewisse Thora- 
verse in Kapseln verschlossen (mezüzöth) an den Türen auf. 


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§ 39. Allgemeines. 


151 


ist, anzudeuten. Ein außerordentlich beliebtes Mittel war die Ver- 
brennungszeremonie, nach der auch zwei große Serien von 
Beschwörungstexten ihren Namen erhalten haben (Maqlu und 
Schurpu). Die Zeremonie bestand darin, daß unter Begleitung 
von Beschwörungsformeln und unter Ausstoßung von Verwün- 
schungen Bilder der Dämonen (namentlich der „Hexe“) verbrannt 
wurden. Zugrunde liegt die Idee, daß an dem Dämon, dessen 
man nicht habhaft werden kann, das rechtskräftige Urteil in effigie 
vollstreckt wird. 

Außerdem war es üblich, eine Schnur zu knoten und den 
Knoten zu lösen, oder Zweige der Dattelpalme über den Kranken 
zu halten, auch der Speichel diente als „Heilmittel“ (Utukku III, 
Z. 110; vgl. Ev. Joh. 9, 6). Die Vernichtung des Dämons wurde 
auch gerne durch Abschälen einer Zwiebel, Verbrennung einer 
Dattel, einer Palmenrispe, eines Schaffelles, von Wolle, Pflanzen- 
samen u. a. angedeutet usw. usw. 

Keineswegs gleichgültig war die Zeit, zu der die Beschwö- 
rung vorgenommen wurde; besonders bevorzugt ist die Zeit der 
Morgendämmerung, die 3. Nachtwache, aber auch Abend und 
Mitternacht sind ausdrücklich vorgeschriebene Beschwörungs- 
zeiten. 

Indem für weitere Einzelheiten auf die eingangs erwähnte 
Literatur und die im folgenden gegebenen Textproben verwiesen 
wird, sei noch in Kürze das mutmaßliche Alter und die Über- 
lieferungsform der Beschwörungstexte besprochen. Es wurde schon 
hervorgehoben, daß die Texte dieser Art den verhältnismäßig 
größten Teil der Bibliothek Assurbanipals bilden, also in Abschriften 
aus der Mitte des 7. Jahrhunderts auf uns gekommen sind. Damit 
ist für ihr Alter so wenig gewonnen wie mit der gleichen Tat- 
sache bei den epischen und lyrischen Stücken. Glücklicherweise 
haben wir aber auch hier in einigen Texten, die aus der Hammu- 
rabizeit stammen (CT IV, 3. 4. 8), den unanfechtbaren Beweis für 
die an sich selbstverständliche Tatsache, daß die Beschwörungs- 
texte außerordentlich alt sein müssen. Im einzelnen bleiben 
natürlich auch hier viele Möglichkeiten offen. Sicherlich ist das 
Beschwörungsmaterial zu verschiedenen Zeiten ergänzt und 
erweitert worden, je nach den Bedürfnissen des praktischen 
Gebrauchs. Anhaltspunkte, jüngere von älteren Bestandteilen zu 
scheiden, fehlen vollständig. Solche liegen auch nicht vor in 
der Sprache dieser Texte, die zumeist zweisprachig überliefert 


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152 


Kap. 11: Beschwörungstexte. 


sind. Hervorgehoben muß aber werden, daß das Sumerische in 
ihnen nicht das des Emesal-Dialektes ist, in dem die Mehrzahl 
der Bußpsalmen und ähnliche Stücke abgefaßt sind. Während 
die überwiegende Mehrzahl der Beschwörungstexte zweisprachig 
ist, gibt es doch ganze Serien, wie die sogen. Maqlu-Serie und 
die Labartu-Texte, die durchaus semitisch abgefaßt sind; unter den 
Schurpu-Tafeln dagegen sind einzelne ganz semitisch, andere rein 
sumerisch, wieder andere zweisprachig überliefert. Diese Diffe- 
renzen dürften wohl lediglich auf Zufälligkeiten und die Launen 
des Schatzgräberglückes zurückzuführen sein und durch neue 
Funde wesentlich verschoben werden. Aus allgemeinen Erwä- 
gungen wird anzunehmen sein, daß die ganze Beschwörungslite- 
ratur im letzten Grund eher ein Erzeugnis des sumerischen, als 
des semitischen Geistes ist, wie ja überhaupt die Grundelemente 
der offiziellen Staatsreligion als Erbstück der vorsemitischen Ver- 
gangenheit des Zweistromlandes anzusehen sind und den Semiten 
ursprünglich fremdartig waren. Doch ist unumwunden zuzugeben, 
daß derartige Erörterungen heute und so lange lediglich theore- 
tischen Wert oder Unwert haben, als die Durcharbeitung des 
gesamten religionsgeschichtlichen Materials sich im wesentlichen 
auf die philologischen Vorarbeiten beschränkt, beschränken muß. 

Auch in den Beschwörungstexten finden sich zahlreiche 
metrische Stücke. Man hat geglaubt, darin einen Beweis für 
original-semitische Abfassung dieser Texte sehen zu müssen, und 
weiterhin daraus den Schluß gezogen, daß die beigegebenen 
sumerischen Rezensionen Rückübersetzungen aus dem Semitischen 
seien. Diese Schlußfolgerungen sind keineswegs notwendig und 
beweisen jedenfalls im allgemeinen nichts für die Frage, ob 
die sumerische oder die semitische Rezension die originale ist, 
wenn auch zugegeben werden muß, daß bei Beschwörungstexten 
wie bei Hymnen und Gebeten die sumerische Zeile manchmal 
offenkundig sekundär ist. Bei diesen Fragen sind immer die 
Zufälligkeiten der Überlieferung im Auge zu behalten und vor 
allem die Tatsache, daß wir die meisten Texte ja nicht in der 
Gestalt kennen, in der sie als Gebrauchsexemplare den kultischen 
Bedürfnissen dienten. Die „Ausgaben“, die wir besitzen, sind 
wohl nie Gebrauchsexemplare eines Tempels gewesen, sondern 
als Literaturstücke für die königliche Bibliothek hergestellt worden. 
Entschieden können diese Fragen erst dann werden, wenn wir 
die tatsächlichen, in praktischem Gebrauch gewesenen Tempel- 


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§ 40. Die Handerhebungsgebete. 


153 


agenden besitzen; bis dahin sprechen allgemeine Erwägungen 
dafür, daß die Orginalsprache der Beschwörungsformeln in der 
Hauptsache die sumerische, in einzelnen Fällen aber wohl auch 
die babylonisch-semitische gewesen ist. 

Metrische Stücke finden sich vornehmlich in der fast durch- 
aus semitisch überlieferten Maqlu-Serie und in den Labartu-Texten, 
gelegentlich auch in den Schurputafeln. Das hier gebräuchliche 
Metrum ist das auch sonst übliche der meist hemistichischen Zeilen, 
die oft zu Perioden oder Strophen von verschiedenem Umfang 
vereinigt sind. Die Zahl der Hebungen ist aber keineswegs ein- 
heitlich. Es wechseln Verse mit vier, fünf und sechs Hebungen 
in den Formen 2 + 2, 2 +- 3, 3 +- 2, 3 +- 3, 2 +- 2 +- 2. 

§ 40. Die Handerhebungsgebete. 

Text mit Transkr. u. Übers, bei King, Babylonian magic and sor- 
cery, 1896. Dazu noch das besonders schöne Gebet an Istar: King, 
Sev. Tablets II, 75 ff. I, 222ff., übersetzt auch von Zimmern, AO VII, 3 
S. 19 ff., Delitzsch, Babel und Bibel III, 65 ff. 

Unter den Sammlungen der Bibliothek Assurbanipals befindet 
sich eine große Zahl von Texten, die durch eine gemeinsame 
Signatur 

„Gebet. Handerhebung zu dem Gott “ 

schon äußerlich als zu einer einheitlichen Gruppe gehörig sich 
erweisen. Sie bilden, ähnlich wie die Labartu-Texte keine Serie 
numerierter Tafeln; ihre Zusammengehörigkeit ist aber außer 
durch die zitierte Stichzeile durch charakteristische Formeln, 
durch Schrift und Anordnung des Textes gesichert. Daß sie 
ursprünglich auch in einer bestimmten Reihenfolge gruppiert 
waren, geht aus den Stichzeilen hervor, die, wie bei den Serien- 
texten, den Anfang der nächsten Tafel angeben. Möglicherweise 
liegen in den Katalogen K 2832 +- K 6680 und 4 R 53 III, 44 — IV, 28 
Verzeichnisse von Handerhebungsgebeten vor, da einige Stichzeilen 
zu solchen stimmen. Da aber andere differieren und wiederum 
einige Stichzeilen von den Anfangszeilen der entsprechenden Texte 
abweichen, muß angenommen werden, daß auch hier verschiedene 
„Ausgaben“ Vorgelegen haben, die bei den Abschriften für Assur- 
banipals Bibliothek untereinandergebracht worden sind. Einzelne 
besonders beliebte Gebete und Beschwörungsformeln tauchen 
innerhalb der babylonischen Literatur in verschiedener Gestalt 
auf, für den jeweiligen Zweck neu redigiert (vgl. King, 1. c., S. XX). 


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154 


Kap. 1 1 : Beschwörungstexte. 


Einige dieser Texte gehören Serien an, so King Nr. 1 der 
Serie Bit rim-ki; King Nr. 48 bildet den 8. Teil von Bit-Salami, 
King Nr. 30 die 134. Tafel einer Serie, deren Name leider ab- 
gebrochen ist 1 . 

Die Texte sind durchweg semitisch überliefert. 

Das Metrum ist in einigen Fällen auch durch die Grup- 
pierung der Zeichen im Original ausgedrückt, was aber nicht 
streng durchgeführt ist, so ist K 155 (King Nr. 1) wohl genau 
abgeteilt, nicht aber die Duplikate dieses Textes. Wie auch sonst 
in der Mehrzahl ähnlicher Texte, ist bei den Handerhebungs- 
gebeten das in der Regel vierteilige Metrum keineswegs streng 
durchgeführt. 

Die Handerhebungsgebete zeigen ein festes Schema. Sie 
bestehen l.aus einer Einleitung: Name und Preis der angerufenen 
Gottheit; 2. Klage und Bitte des Betenden; 3. Schluß-Doxologie. 
Daran schließt sich die Signaturzeile, der oft noch kürzere oder 
längere rituelle Anweisungen folgen. Von bestimmten Formeln, 
die in den meisten Texten wiederkehren, ist hervorzuheben die 
Einführung des Betenden, die meist erfolgt durch die Worte: 
Ich, N. N., Sohn des N. N., dein Knecht. 

Häufig wird die Veranlassung zur Klage in Zusammenhang ge- 
bracht mit einer Mondfinsternis: 

In dem Ungemach einer Mondfinsternis, die in dem und dem 
Monat, an dem und dem Tage eingetreten, in dem Ungemach 
der (bösen) Mächte und schlimmen, unheilvollen Vorzeichen, 
die in meinem Palaste und in meinem Lande sind .... 
Diese Bestandteile sind wohl charakteristisch für die Sammlung 
dieser Gattung von Texten. Sie erweisen sich aber als fremd- 
artige Bestandteile innerhalb der Gebete selbst, die sicherlich, 
wenigstens teilweise, ohne sie, selbständig existiert haben. Es ist 
hier, wie auch sonst innerhalb der babylonischen Literatur, der 
Fall zu beobachten, daß vorhandene alte Texte irgendeinem be- 
sonderen Zwecke angepaßt worden sind. Zweifellos sind 
gelegentlich auch Gebete speziell für den vorliegenden Zweck 
gedichtet worden, wenn wir es auch im einzelnen nicht mehr 
nachweisen können. Wenn z. B. Gebete mit den Namen be- 
stimmter Persönlichkeiten verknüpft werden, so beweist das für 

1 Diese Serie braucht nicht lauter Handerhebungsgebete enthalten 
zu haben. Für die Aufnahme dieses Textes in die Serie können auch 
andere Gesichtspunkte maßgebend gewesen sein. 


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§ 40. Die Handerhebungsgebete. 


155 


ihre Entstehung gar nichts. So ist K. 223, ein Gebet Assur- 
banipals an Ninib, ein Auszug aus dem größeren Gebet King 
Nr. 2, das den Namen des Königs nicht enthält. Dies ist ein 
praktisches Beispiel 1 für die Benutzung der Gebete. Aus der 
ganzen Sammlung konnte sich jeder das seinen persönlichen Ver- 
hältnissen am meisten entsprechende auswählen, seinen Namen 
einsetzen und es vom Priester zur Abhilfe seiner Not rezitieren 
lassen. 

Die Handerhebungsgebete sind an die verschiedensten Gott- 
heiten gerichtet Auf einigen Tafeln sind Gebete an verschiedene 
Götter vereinigt, was lediglich auf die Überlieferung und die 
Anordnung der priesterlichen „Herausgeber“ dieser Gebetssamm- 
lungen zurückgeht. Die Differenzen in den Zusammenstellungen 
auf den Duplikaten lassen auf verschiedene vorliegende Samm- 
lungen, Editionen, schließen. Die Mehrzahl der erhaltenen Gebete 
sind an Marduk gerichtet (10), an Istar und Sin wenden sich 
7 bezw. 6, andere an Samas, Nebo, Taschmetu, Adad, Nergal, 
Ba-u, Damkina u. a., einzelne sind auch an göttliche Sterne wie 
Sibziana, Kaksidi u. a. gerichtet Es liegt nahe, anzunehmen, daß 
die Möglichkeit bestand, daß jeder Bedrängte sich an seinen 
speziellen Schutzgott wenden konnte, und daß die Tempelarchive 
für alle eintretenden Bedürfnisse entsprechende Gebete enthielten. 

Die Gebete selbst unterscheiden sich, abgesehen von den 
besprochenen besonderen Zutaten, nicht von den andern Gebeten 
der religiösen Literatur, über die man § 37 vergleiche. Das oben 
S. 132 f. mitgeteilte Gebet stammt aus dieser Serie. Weitere Bei- 
spiele siehe bei Zimmern, AO VII, 3, und Jastrow, Rel. I, S. 440. 
445. 446. 448 und öfter. 

Auch äußerlich von den Gebeten getrennt sind die rituellen 
Anweisungen, die vielen von den Handerhebungsgebeten ange- 
fügt und durch die Worte: Kikittü-schu, d. i. „sein Ritual“ ein- 
geleitet sind. Diese Vorschriften über Ausführung spezieller Zere- 
monien und Beobachtungen differieren sehr stark nach Inhalt 
und Umfang. Sie beschränken sich oft auf kurze Andeutungen, 
geben aber auch gelegentlich genau ausgeführte Einzelvorschriften. 
Auch hier kehren die üblichen Requisiten des Beschwörungs- 
rituals wieder: reines Wasser, Öl, Räucherwerk, geknotete Schnur, 


1 Ganz ähnlich liegt der Fall bei der Mardukhymne 4 R 18 Nr. 2 
und BE 13420 (Weißbach, Miscellen Nr. 13). 


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Kap. 11: Beschwörungstexte. 


Libationen von Wasser, Honig, Dickmilch, Opfergaben wie Datteln, 
Knoblauch, Kräuter, Gold etc. Einzelne Gebete sind des Nachts, 
an besonderen Tagen, bei bestimmten Mondphasen, Windrichtungen 
etc vorzunehmen. 

§ 41. Die Beschwörungsserie „Maqlü“. 

Laut Unterschrift des Duplikats 82 — 5 — 22, 588 auch nach 
den Anfangsworten (wie Enuma elisch) Serie „Alsikunuschi ilani 
muschiti“, d. h. „Ich rufe zu euch, ihr Götter der Nacht“, genannt, 
berührt sich inhaltlich vielfach mit der Serie „Schurpu“; wie diese 
hat sie von der symbolischen Handlung des Verbrennens, die 
eine wichtige Rolle in ihr spielt, ihren gewöhnlichen Namen. 

Literatur: Gesamtausgabe mit Einleitung, Transkr., Übers., Kom- 
mentar u. Originaltexten: Tailquist, Die assyrische Beschwörungsserie 
Maqlü, Leipzig 1895. Nachträge von Weißbach in BA IV, 155ff.; vgl. 
auch Jastrow, Religion I, S. 302 ff. 

Die Serie besteht aus 8 Tafeln, von denen die erste ca. 150, alle 
übrigen ca. 200 Zeilen hatten. Die 1. Tafel ist fast vollständig erhalten, 
auch von der umfangreichsten, über 220 Zeilen enthaltenden 2. Tafel 
fehlt nur wenig, von der 3. — 5. Tafel fehlen je etwa 40—50 Zeilen, noch 
mehr von der 6., von der 7. ca. 40 Zeilen, während von der 8. Tafel 
kaum die Hälfte erhalten ist Im ganzen also fehlen von den ursprüng- 
lich ca. 1500 Zeilen der Serie etwa 300. Doch besteht auch hier die 
Hoffnung, daß es, wie bei der Serie „Schurpu“, gelingt, im Laufe der Zeit 
noch weitere Bruchstücke aus Assurbanipals Bibliothek und anderen 
Sammlungen als zur Serie gehörig zu erweisen. 

Der bisher zusammengestellte Text entstammt zum größten 
Teil der Bibliothek Assurbanipals, für welche er, wie aus text- 
kritischen Erwägungen wahrscheinlich 1 , von babylonischen Tempel- 
exemplaren abgeschrieben worden ist Ein Fragment aber entstammt 
laut Unterschrift babylonischem Privatbesitz und unterscheidet 
sich von allen anderen wesentlich auch dadurch, daß es nicht 
den Seriennamen „Maqlü“, sondern die Anfangszeile der ganzen 
Serie als Etikette führt. Hier liegt also mit Sicherheit eine be- 
sondere Redaktion vor. Aber auch unter den Fragmenten aus 
Assurbanipals Bibliothek lassen sich aus formalen Gründen 
wenigstens drei, vielleicht auch vier verschiedene Redaktionen 
nachweisen. Man kann aus diesen Tatsachen wohl mit Recht 
auf die Beliebtheit der Maqlu-Serie schließen. 

Die uns erhaltenen Redaktionen der Serie sind durchaus 


1 Vgl. Tailquist, S. 12 A. 2. 


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§ 41. Die Beschwörungsserie „Maqlü“. 157 

einsprachig gehalten und sogar zum allergrößten Teil rein 
phonetisch geschrieben. Das schließt natürlich nicht aus, daß 
auch eine zweisprachige Überlieferung vorhanden war und daß 
sie überhaupt ursprünglich auf sumerische Originale zurückgeht, 
wie ja auch der Inhalt mit seinem Zauber- und Hexenspuck ihre 
sumerische Herkunft deutlich erkennen läßt. Andererseits aber 
ist nicht zu verkennen, daß die Maqlu-Serie gegenüber anderen 
Beschwörungstexten, namentlich den Utukki, Aschakki usw., einen 
ungleich sympathischeren Eindruck erweckt durch das Überwiegen 
der Form des direkten Gebetes, das oft eine bemerkenswerte 
Höhe der religiösen Vorstellung bekundet. Wenn man sich 
außerdem gegenwärtig hält, daß in diesen Gebeten vielfach die 
Terminologie des Rechtslebens angewendet wird, indem der 
Feuergott zum Richter aufgerufen wird, dem Hexengesindel den 
Prozeß zu machen, so wird man genötigt sein, die Entstehung 
der Serie Maqlu in eine Zeit zu versetzen, in der die Formel- 
sprache des Rechtslebens nicht nur fertig ausgebildet, sondern 
auch weiten Kreisen geläufig oder wenigstens verständlich war. 

Die Serie enthält eine Sammlung von mindestens achtzig 
einzelnen Beschwörungsformeln mancherlei Art. Von anderen 
ähnlichen Sammlungen unterscheidet sie sich durch die Objekte, 
wie auch durch die gegen sie angerufenen Gottheiten. Die zu Be- 
schwörenden sind die Zauberer oder Hexenmeister und Zauberinnen 
oder Hexen (kaschschapu , kaschschaptu und synonyme Aus- 
drücke). Sie gelten als die Spuckgeister der Nacht, Erreger von 
Krankheiten, Unfällen, bösen Träumen, Verleumdungen, überhaupt 
als Urheber aller gemütlichen Beunruhigung, es wird aber auch 
gelegentlich jegliches Ungemach auf sie zurückgeführt: 

Das Leid, die Angst, die Zerschneidung und Zerknirschung des 

Herzens, 

Den Schreck, die Drangsal, die Not 
bringen sie über den Menschen (V, 7 5 f .). 

III, 105 ff. ruft der Priester im Namen des Heilung Suchenden 
der Hexe zu: 

O du, die du mich behext hast, 

O du, die du mich umgebracht, 

Ö du, die du mich bezaubert, 

O du, die du mich zu Boden geworfen, 

O du, die du mich gefangen genommen, 

O du, die du mich niedergedrückt, 

O du, die du mich zugrunde gerichtet, 


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158 


Kap. 11: Beschwörungstexte. 


O du, die du mich gebannt, 

O du, die du mich gebunden, 

O du, die du mich ermüdet hast, 

Du hast mir entfremdet meinen Gott und meine Göttin, 

Du hast mir entfremdet Vater (?), Mutter (?), Bruder, Schwester, 

Freund, Genossen, Dienerschaft 
Eine bewegliche Klage enthält die Einleitung der ganzen 
Serie: 

Ich rufe zu euch, Götter der Nacht, 
mit euch rufe ich zu der Nacht, der verhüllten Braut, 
ich rufe des Abends, um Mitternacht, des Morgens. 

Weil die Zauberin mich bezaubert hat, 
die Hexe mich gebannt hat, 
schreien mein Gott und meine Göttin über mir. 

An meiner Krankheit (?) leide ich, ich, 
aufrecht stehe ich, nicht lege ich mich nieder Tag und Nacht. 

Mit haben sie meinen Mund angefüllt, 

mit upuntu-Kraut haben sie meinen Mund zugestopft. 

Mein Trinkwasser haben sie wenig gemacht; 

mein Spiel ist Wehklage, meine Freude ist Trauer. 

Tretet auf, ihr großen Götter, höret meine Klage! 

Schaffet mir Recht, nehmt Kenntnis von meinem Wandel! 
Ich habe angefertigt ein Bild meines Zauberers und meiner 

Zauberin, 

meines Hexenmeisters und meiner Hexe. 

Ich habe mich vor euch niedergelegt und bringe meine Klage vor, 
weil sie Böses getan, auf Unziemliches bedacht war, 
soll sie (die Hexe) sterben, ich aber möge am Leben bleiben ! 
Ihr Zauber, ihre Hexerei, ihr Spuck möge gelöst werden! 
(Es folgt die Bitte, daß der Bedrängte mit Hilfe von allerlei Kräutern 
vom Banne gelöst und gereinigt werde.) 

Unter den im Eingang angerufenen „Göttern der Nacht“ sind 
die Lichtgötter gemeint, deren Bestimmung es ist, gegen die 
Finsternis samt allem Gesindel, das unter ihrem Schutz sein Un- 
wesen treibt, anzukämpfen. So ist es in den weiteren Beschwö- 
rungen vor allem der Feuergott, Gibil, selbst, der gegen die 
Zauberer und Hexen angerufen wird, aber auch Nusku und 
Samas. Zur Unterstützung der Beschwörung wird Marduk, der 
„Großmagier der Götter“, angerufen. 

Die Formel, unter der Gibil zitiert wird, ist dieselbe, mit 
der im Rechtsleben die Entscheidung des Richters angerufen wird : 
Zu dir (Gibil) rufe ich, wie zu Samas, dem Richter; 
schaffe mir Recht, laß Entscheidung ergehen. 

Die Strafe, die den Zauberer und die Hexe trifft, ist die Ver- 
brennung in effigie, die gleichzeitig der symbolische Ausdruck 


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§ 42. Die Beschwörungstafeln „Schurpu“. 15Q 

ist für die Befreiung des Geplagten von dem auf ihm lasten- 
den Bann. 

Die zweite Tafel gibt nach jeder Beschwörung rituelle Vor- 
schriften, zunächst über die Rezitation der Formel. Sie soll im 
Flüsterton geschehen, dann aber soll ein Bild der Hexe oder des 
Zauberers bereit gehalten werden, und zwar werden 10 Arten 
solcher Bilder nach den Herstellungsstoffen unterschieden: Wachs, 
„Bronze der Erde des Flußgottes“, gewöhnliche Bronze, Honig, 
Ton, Erdpech, Sesammehl, „Erdpech, das mit Gips übergossen 
ist“, „Ton, der mit Wachs übergossen ist“, Binu- und Zedemholz. 
Jede Beschwörungszeremonie endet dann mit der Verbrennung 
der Unholde in effigie, eine dabei gesprochene Formel ist uns 
am Schlüsse der 1. Tafel erhalten: 

Ich (der Priester) erhebe die Fackel, ihre Bilder verbrenne ich, 
die Bilder des Utukku, Schedu, Rabifu, Ekimmu, 

Labartu, Labasu, Achchazu, 

des Lilu, der Lilitu, der Ardat Lili 

und alles Übels, das die Menschheit erfaßt. 

Erbebet, schmelzet, schwindet hin! 

Euer Rauch steige empor zum Himmel, 

Eure verdunkle (?) die Sonne, 

Es hemme eure der Sohn Eas 1 , der Großmagier. 

§ 42. Die Beschwörungstafeln „Schurpu“. 

Die Serie bestand aus ursprünglich 9 (? vgl. die Unterschrift der 
9.Tafel) Tafeln. Sie enthält eineSammlung von Beschwörungen, denen eine 
symbolische kultische Handlung, die mit Verbrennen (Schurpu) endigt, 
gemeinsam ist. Inhaltlich sind sie recht verschiedener Natur. Meist 
handelt es sich um einen Kranken oder Betrübten, dessen Leiden be- 
schworen werden sollen. Auch spielt die mutmaßliche Vorgeschichte 
seiner Bedrängnis eine große Rolle. Die Möglichkeiten, die als Ursache 
erwogen werden, gönnen uns gleichzeitig einen tiefen Einblick in die 
sittlichen Vorstellungen der Babylonier. 

Über die gerade in der Schurpu-Serie häufig zur Anwendung kom- 
mende metrische Form s. oben S. 152 f. 

Tafel II mit 191, III mit 165, IV mit 87 und VIII mit 73 Zeilen 
sind durchaus semitisch, von Tafel V/VI sind Z. 1—59, 144 — 172 zwei- 
sprachig, 60 — 143, 173—199 semitisch abgefaßt. Eine Überlieferung 
läßt mit Z. 60 eine neue, die sechste, Tafel beginnen. Tafel VII mit 
96 Zeilen ist ganz zweisprachig, Tafel IX mit 119 Zeilen ist ganz 
sumerisch abgefaßt bzw. überliefert. 

Die ganze Serie entstammt aus der Bibliothek Assurbanipals und 
ist fast vollständig wieder hergestellt. Der Text ist in Autographie mit- 


1 D. i. Marduk. 


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160 


Kap. 11: Beschwörungstexte. 


geteilt von H. Zimmern, Beiträge zur Kenntnis der babylonischen 
Religion, Tafel I— XIX und Nachträge, Tafel LXXII-LXX1X. Transkr. 
u. Ubers, ebenda S. 1—51: vgl. auch Jastrow, Rel. 1 S. 321 ff. 

Inhaltsübersicht: Tafel I scheint bisher noch völlig 
unbekannt, wenn nicht die Fragmente K 2096 und Rm 542 
(Zimmern pl. LXXII) hierher gehören. 

Tafel II. Die Einleitung Z. 1 — 4 gibt kurz an, für welche 
Fälle die Beschwörung anzuwenden ist 

Z. 5 — 82 enthält eine endlose Reihe von Fragen nach der 
Ursache des zu beschwörenden Leidens: 

Hat er seinen Gott beleidigt seine Göttin beleidigt? 

Hat er Vater und Sohn entzweit Sohn und Vater entzweit? 

Hat er einen Gefangenen nicht frei gelassen, einen Gebundenen 

nicht gelöst? 

Ist’s etwa eine Sünde wider einen Gott, ein Vergehen wider 

eine Göttin? 

Hat er Vater und Mutter verachtet, die ältere Schwester be- 
leidigt? 

Hat er seines Nächsten Haus betreten, seines Nächsten Weib 

sich genaht 

seines Nächsten Blut vergossen, seines Nächsten Kleid ge- 
raubt? 

War er mit dem Munde aufrichtig, im Herzen falsch? 

Mit dem Munde voller Ja, im Herzen voller Nein? 

Z. 85 — 104 besagt; wodurch er auch immer gebannt ist 
er soll gelöst werden. [Aber er muß sein Gewissen erforschen, 
um dem Grund seines Leidens auf die Spur zu kommen.] 

Z. 105 — 129 zählt die Gelegenheiten auf, wo der Kranke 
nach den Gründen des Leidens „forscht“ ; überall und immer tut 
er es, ob er zu Hause oder draußen, bei der Arbeit oder Ruhe ist 

Z. 130 — 191 werden in Form einer Litanei die verschie- 
densten Götter, Tempgl und Tempelstädte angerufen, den Bann 
zu lösen: 

Bel löse, der König, Schöpfer des Alls; 

Belit löse, die Königin von E-Ki-ur (ein Tempel); 

E-Ki-ur löse, das Heiligtum der Frau; 

u. s. w. 

Tafel III enthält auf 165 fast völlig erhaltenen Zeilen ledig- 
lich eine Unmasse von Beispielen dafür, daß Marduk, der Priester 
unter den Göttern, „Bann jeder Art, der einen Menschen, ein 
Kind seines Gottes, befällt“, löst 

z. B. Bann durch Vater und Mutter, der jemanden befällt, löst er, 

Bann durch Großvater, Bann durch Großmutter löst er, 


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§ 42, Die Beschwörungstafeln „Schurpu“. 161 

Bann durch Bruder und Schwester löst er. 

u. s. w. 

Tafel IV. Z. 1 — 34 enthält eine Litanei auf die Macht 
Marduks: 

Den Kranken zu heilen vermagst du, 

den Lahmen aufzurichten vermagst du, 

dem Schwachen aufzuhelfen vermagst du, 

u. s. w. 

Z. 35 — 67: Anrufung der Götter zur Lösung des Bannes: 
Der Kranke werde gesund, der Lahme gehe, 
der Oebundene sei frei, der Gefangene los, 
der Eingekerkerte erblicke das Sonnenlicht! 

Wessen Gott und Göttin jemand zürnen, heutigen Tages seien 

sie ihm wieder gnädig! 

Das verschlossene Herz seines Gottes und seiner Göttin stehe 

dem N. N. wieder offen! 

Sein Vergehen werde verziehen, heutigen Tages mögen sie 

ihn lösen, befreien! 

Z. 68 — 87 enthalten eine Beschwörung ähnlichen Inhalts in 
anderer Form: 

Es trete auf Anu und Antum, die Krankheit zu bezwingen, 
es trete auf Bel, der Herr von Nippur, durch sein unverbrüch- 
liches Wort verkünde er ihm Heil, 
es trete auf Ea, der Herr der Menschheit, dessen Hand die 

Menschen geschaffen, 

es trete auf Sin, der Herr des Monats, breche seine Bande! 
es trete auf Samas, der Herr des Gerichts, tilge die Schuld, 
u. s. w. 

Tafel V und VI enthalten eine besonders schöne und an- 
schauliche Schilderung von dem Zustand des Kranken: 

Beschwörung: Ein böser Fluch hat wie ein Dämon einen 

Menschen befallen, 

Jammer, Schmerz hat ihn befallen, 

unseliger Jammer hat ihn befallen, 

ein böser Fluch, Bann, Seuche! 

Jenen Menschen schlachtete der böse Fluch wie ein Lamm dahin, 
sein Gott wich von seinem Leibe, 
seine fürsorgende Göttin stellte sich abseits, 
Schmerzensjammer bedeckte ihn wie ein Kleid und über- 
wältigte ihn. 

Nun, Z. 16 — 39, folgt wie so oft in Beschwörungstexten 
Marduks Fürsprache für den Unglücklichen bei Ea: 

Da erblickte ihn Marduk, 

zu seinem Vater Ea trat er ins Haus und sprach: 

„Mein Vater! Ein böser Fluch hat wie ein Dämon einen 

Menschen befallen. 

Weber, Literatur. li 


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162 


Kap. 1 1 : Beschwörungstexte. 


Nicht weiß ich, was jener Mensch begangen und wodurch 

er genesen wird.“ 

Ea antwortete seinem Sohn Marduk: 

„Mein Sohn, was wüßtest du nicht, was könnte ich dir noch 

weiter sagen? 

Was ich weiß, das weißt auch du. 

Oeh aber hin, mein Sohn Marduk,! 

Zum heiligen Hause der Besprengung bring’ ihn, 
seinen Bann breche, seinen Bann löse!“ 

Darauf, Z. 40 — 59, der Priester: 

Das quälende Übel seines Leibes, 
ob ein Fluch seines Vaters, 

ob ein Fluch seiner Mutter, 

ob ein Fluch seines älteren Bruders, 

ob ein Fluch der „Mörderin“ 1 , die den Menschen unbekannt, 

der Bann werde durch die Beschwörung Eas 

wie eine Zwiebel abgeschält, 

wie eine Dattel abgeschnitten, 

wie eine Palmenrispe aufgebrochen! 

Bann! beim Himmel sei beschworen, bei der Erde sei be- 
schworen! 

Z. 60 — 143. Nun folgen, offenbar als Begleittexte zu der 
gleichzeitig zu vollziehenden symbolischen Verbrennungshandlung 
einzelne Beschwörungen: wie die Zwiebel, die Dattel, die Palmen- 
rispe ins Feuer geworfen und von der Flamme zerstört wird, so 
soll die Krankheit ihre Kraft verlieren und weichen. Ebenso 
werden im gleichen Text Schaffell, Ziegenfell, Wolle, Samen 
symbolisch verbrannt Der zitierte Text, der mutatis mutandis in 
jedem Falle gleich lautet, heißt für die Zwiebel (Zimmern S. 29): 
Beschwörung. Wie diese Zwiebel abgeschält und ins Feuer 

geworfen wird, 

die lodernde Flamme sie verzehrt, 

wie sie in ein Beet nicht mehr gepflanzt, 

mit Furchen und Gräbchen nicht mehr umzogen wird, 

im Boden nicht mehr Wurzel schlägt 

ihre Röhre nicht mehr wächst, das Sonnenlicht nicht mehr er- 
blickt 

wie sie auf den Tisch eines Gottes oder Königs nicht mehr 

kommt, 

so werde der Fluch, der Bann, die Pein (?), die Qual (?), 
die Krankheit der Schmerz, die Sünde, die Missetat der Frevel, 

das Vergehen, 

die Krankheit, die in meinem Leibe, meinem Fleische, meinen 
* Gliedern sitzt, 


1 Weiblicher Pestdämon. 


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§ 42. Die Beschwörungstafeln „Schurpu“. 


163 


wie diese Zwiebel abgeschält! 

Heutigen Tages verzehre sie die lodernde Flamme! 

Der Bann weiche, ich aber möge Licht schauen! 

Eine weitere Beschwörung, Z. 143 — 170, erzählt, daß der Be- 
schwörer zu den Tempelfrauen geht, die eine Doppelschnur aus 
schwarzer und weißer Wolle spinnen, „die den Bann entzwei 
reißt“. Des Kranken Kopf, Füße und Hände werden gebunden, 
Marduk zerreißt die Schnur, die dann als Symbol des Bannes in 
die Steppe, an einen un(?)reinen Ort (Tabu) verbracht wird. 

Nunmehr folgt die Beschreibung der Schurpuhandlung: 

Z. 173—186. 

Beschwörung. Ich, der Oberpriester, zünde das Feuer an, 
zünde das Kohlenbecken an, werfe die Lösung hinein, 
der heilige Priester Eas, der Bote Marduks bin ich. 

Das Kohlenbecken, das ich angezündet, lösche ich aus, 

das Feuer, das ich angefacht, dämpfe ich. 

den Weizen (?), den ich drauf geschüttet, ersticke ich. 

Wie ich das Kohlenbecken, das ich angezündet, auslösche, 

das Feuer, das ich angefacht, dämpfe, 

den Weizen, den ich drauf geschüttet, ersticke, 

so möge Siris, die Gott und Menschen befreit, 

den Knoten, den er geschürzt, lösen! 

Das verschlossene Herz seines Gottes und seiner Göttin stehe 

dem N. N. wieder offen, 

sein Vergehen werde verziehen, heutigen Tages 
mögen sie ihn retten, ihn lösen! 

Eine weitere Beschwörung, Z. 187 — 199, gibt dem Wunsche 
Ausdruck, es mögen ruhen der Feuergott, die Berge und Flüsse, 
Tigris und Eufrat, das Meer, die Straße, die heilkräftige Pflanze, 
das Herz der Götter, und beschließt die ganze Tafel mit folgen- 
den an den Feuergott gerichteten Worten: 

Weil du ein Richter durch dein Licht 

und ein Rächer durch dein Schwert, 

so schaffe mir Recht, fälle mir den Spruch! 

Tafel VII beginnt ähnlich wie die vorige mit einer aus- 
führlichen Schilderung des Krankheitszustandes, ebenso wie dort 
spielt sich auch hier die Szene zwischen dem Fürsprecher Marduk 
und seinem Vater Ea ab. Zum Schluß werden die Götter ange- 
rufen, den Bann zu lösen. 

Von Tafel VIII fehlen am Anfang etwa 30 Zeilen. Wo 
der Text einsetzt, werden eine Unzahl Götter angerufen, den 
Bann zu lösen. Sogar die Zeiteinheiten Tag, Monat, Jahr und die 
kalendarisch oder kultisch bedeutsamen Tage, wie der 7., 15., 19., 

11 * 


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164 Kap. 11: Beschwörungstexte. 

20., 25., 30. werden angerufen, „von Schuld, Bann, Sünde, Misse- 
tat, Fluch, Leiden, Schmerz, von Zauber, Spuck, Hexerei, schlimmen 
Treibereien der Menschen“ zu „lösen, zu retten und zu befreien“ 
(Z. 1—30). 

Z. 31 — 60 werden verschiedene Arten des zu lösenden 
Bannes einzeln aufgeführt. Z. 66 — 70 werden die verschiedenen 
Wasser aufgeführt, durch die der mit dem Bann Behaftete ge- 
reinigt werden soll: durch das Wasser des Tigris und Eufrat, 
des Meeres der großen Tiamaf, die Wasser von Silber, Gold, 
Kupfer, Zinn, Magnesit und allerlei Edelgestein, Baum und Kraut. 
Die Tafel schließt mit den Worten (Z. 71 — 73): 

Auf Befehl des Priesters und Weisen unter den Göttern, Marduks, 

des Herrn des Lebens, 

werde wie das unreine Wasser von deinem Leibe und deinen 

Händen 

ausgeschüttet und von der Erde aufgenommen die Schale (?) mit 

deiner Schuld, deinem Bann! 

Tafel IX enthält 13 einzelne Beschwörungen, bei denen die 
ersten sieben unter symbolischer Anwendung verschiedener Pflanzen 
wie auch der Begießung der „Krone des Baumes“, des Kopfes, 
erstrebt wird, daß der „Mund des Menschen rein, lauter“ werde, 
die „böse Zunge zur Seite weiche“. Die 8. und 9. Beschwörung 
sind allgemeineren Inhalts; die 10. — 13. haben wieder zum Ziel, 
daß „die böse Zunge zur Seite weiche“. 

§ 43. Die Labartutexte. 

Texte: 4 R 4 56(1), 58 (11), 55 Nr. 1 (III); einige Duplikate: 4 R a 
add. pl. 10 ff.; ZA 16, S. 196 — 200. — Die gesamten Texte sind bear- 
beitet von Myhrman, ZA 16, S. 141 ff.; vgl. auch Jastrow, Rel. I, S. 333ff 
Im ganzen sind über 400 Verse erhalten, die mit wenigen Ausnahmen, 
semitisch geschrieben sind. Die Texte stammen sämtlich aus Assur- 
banipals Bibliothek. 

Die Texte sind nicht in der sonst üblichen Weise in dem Zu- 
sammenhang einer Serie mit numerierten Tafeln überliefert, sondern in 

3 „Teilen“ nach Ausweis der Unterschrift von 4 R s 58, welche Tafel 
als „2. Teil von Labartu“ bezeichnet ist Über die Anordnung von 

4 R 4 56 und 55 Nr. 1 als 1. u. 3. Tafel s. Myhrman Lc. S. 142 f. 

Ähnlich wie die Serie Maqlu in der letzten Tafel, so enthält die 
Sammlung der Labartutexte im 1. Teil einen Kanon der aufgenommenen 
Beschwörungen, in dem die Stichzeilen zusammengestellt sind, und der 
uns als Richtschnur für die Wiederherstellung dient. Aber auch 
hier zeigt es sich, daß schon die Schreiber Assurbanipals mehrere „Aus. 
gaben“ vor sich hatten, die sie nicht auseinanderhielten. So liegt z. B. 


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§ 43. Die Labartutexte. 165 

in Bezug auf die 4. und 5. Beschwörung in I und II eine Umstellung 
gegenüber III vor. 

Im ganzen lassen sich in den Texten 13 verschiedene Be- 
schwörungsformeln unterscheiden, die sämtlich zur Austreibung 
der Krankheitsdämonin anzuwenden waren. Neben diesen "eigent- 
lichen Beschwörungen gehen — immer als solche (kikittü) aus- 
drücklich eingeführt — Ritualvorschriften her, in denen die sym- 
bolischen Handlungen beschrieben werden, von denen die Rezi- 
tation der Beschwörungsformeln begleitet sein soll. 

Der Inhalt der Beschwörungsformeln ist in seiner Besonder- 
heit bestimmt durch die speziellen Eigenschaften der Labartu- 
dämonin. Über ihren Namen s. Myhrman 1. c., S. 145f. Wesent- 
liche Eigenschaften teilt sie mit anderen Dämonen, sie ist gött- 
lichen Geschlechts (Tochter Anus), gilt als Ausländerin (Elamiterin, 
Sutäerin), wohnt in Berggegenden und im Schilfdickicht, ist 
schrecklich von Aussehen, wohin sie kommt, verbreitet sie Schrecken 
und Verwüstung. Besonders gefährlich ist sie aber — das scheint 
auch in ihrem sumerischen Namen Rab-Kan-Me ausgedrückt — 
für kleine Kinder und ihre Mütter: 

Sie kehrt um das Innere der Gebärenden, 
reißt heraus das Kind aus der Schwangeren. 

Daher tritt auch hier Aruru, die Muttergöttin, die Schöpferin 
und Beschützerin der kleinen Kinder, auf, klagt vor Anu, dem 
Vater der Labartu, über das Treiben der Dämonin: 

Warum soll [sterben] was wir erschaffen, 
und was wir ins Dasein riefen, [das Schicksal?] fortnehmen? 
Die Mittel, die nach den Ritualvorschriften zur wirksamen 
Bekämpfung der Labartu angewendet werden, gleichen den auch 
sonst üblichen; an Bildern der Dämonin wird das Urteil voll- 
streckt, es soll, nachdem es 3 Tage zu Häupten des Kranken 
gestanden, zerschlagen und in einem Mauerwinkel begraben 
werden. Ein andermal soll ein junges Schwein geschlachtet und 
sein Herz der Dämonin in den Mund gelegt werden. Das kranke 
Kind soll mit einer seltsam gemischten Salbe eingerieben werden. 
Eine besondere Rolle spielen Amulette aller Art, die zum be- 
ständigen Schutz gegen die Labartu zu tragen sind. 

Als Beispiel einer Ritualvorschrift sei 4 R 2 56, 23 — 27 b 
nach Myhrman mitgeteilt: 

Ritual dafür: Den Bau sollst du reinigen, Lehm aus dem Bau 
nehmen, ein Bild der Labartu machen, zu Häupten des Kranken sie 
setzen. Ein Feuerbecken sollst du mit Flammen füllen, ein Schwert 


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166 


Kap. 1 1 : Beschwörungsiexte. 


hineinstecken, drei Tage zu Häupten des Kranken es stellen. Am dritten 
Tage, wenn der Tag sich neigt, sollst du sie (die Labartu) hinausbringen, 
mit dem Schwert sie zerschlagen, im Winkel der Mauer sie begraben. 
Mit Mehlwasser sollst du sie umgeben, hinter dich sollst du nicht blicken. 

Die Anwendung von Amuletten wird in der folgenden kurzen 
Anweisung (4 R a 56, 10 a) befohlen: 

Ritual dafür: Auf einen Siegelstein sollst du (die Beschwörung) 
schreiben, an den Hals des Kindes (ihn) legen. 

Diese Anweisung bezieht sich auf die unmittelbar voraufgehende 
Beschwörung, welche lediglich aus den Anfangszeilen von 7 Beschwörungs- 
formeln besteht 

§ 44. Die Serie Utukki limnuti = Die bösen Dämonen. 

Gesamtausgabe aller bisher identifizierten Fragmente in CT XVI. 
mit Nachträgen in CT XVII, pl. 46—49; bearbeitet mit Einleitung, 
Transkr. u. Übers, von Thompson, The devils and evil spirits of Baby- 
lonia, Vol. I. (Luzac’s Semitic Text and Translation Series Vol. XIV.); 
vgl. auch Jastrow, Religion S. 351 ff. 

Die Serie umfaßte ursprünglich mehr als 16 Tafeln von oft sehr 
beträchtlichem Umfang. Erhalten sind bedeutende Stücke der 3. (ca. 300), 
4. (ca. 220), 5. (ca. 350) und 16. Tafel (ca. 360 Zeilen), von der 10. und 
15. Tafel sind nur wenige Reste erhalten, dagegen sind von Tafeln, 
deren Stellung in der Serie noch nicht bestimmt werden kann, große 
(so von Tablet „A“ ca. 100, von Tablet „B“ ca. 100, von Tablet „C‘, 
ca. 230 Zeilen), von 6 weiteren Tafeln, D — J, kleinere Bruchstücke er- 
halten. Nach Ausweis der Unterschrift der 8. Tafel der Serie „Ti’u“ wurde 
diese auch als 24.Tafel der Serie Utukki limnüti gezählt; vgl. unten S. 170. 
Es gab also verschiedene solche Seriensammlungen. Die bezügliche 
Tafel wurde i. J. 183 v. Chr. kopiert. 

Die überwiegende Mehrzahl dieser Fragmente entstammt der 
Bibliothek Assurbanipals. Das Bruchstück der 15. Tafel war laut Unter- 
schrift für einen babylonischen Privatmann kopiert; von der 4. Tafel 
wissen wir aus einem Fragment, daß sie von einem babylonischen 
Original abgeschrieben ist; da außerdem die ganze 4. Tafel in neu- 
babylonischer Schrift erhalten ist (die Unterschrift ist abgebrochen), 
dürfen wir wohl annehmen, daß die ganze Sammlung auf eine Vorlage 
im Marduktempel in Babel zurückgeht. 

Die Texte dieser Serie sind durchaus zweisprachig, in dem sume- 
rischen Original mit babylonischer Interlinearübersetzung, überliefert. 

Die Beschwörungen der Utukku-Serie richten sich vornehm- 
lich gegen folgende Dämonen, die in stereotyper Folge immer 
wiederkehren: den bösen Utukku, Alu, Ekimmu, Gallü, Ilu, Rabiqu. 
Bei vollständigeren Aufzählungen schließen sich an Labartu, La- 
basu, Achchazu, Lilü, Lilitu, Ardat lili. Einige Beschwörungen 
richten sich gegen die „Sieben“. Bei der Zusammenstellung der 
vielen in dieser wie in anderen Serien vereinigten Formeln läßt 


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§ 44. Die Serie Utukki limnüti. 


167 


sich kaum ein streng durchgeführtes System nachweisen. Wir wissen 
ja auch gar nicht, ob die Zusammenstellung der Serien schon bei den 
Tempeln zu praktischem Gebrauch oder erst von den bibliotheka- 
rischen Sammlern betätigt worden ist Die Verschiedenheiten, die 
gerade bei der Utukku-Serie in der Überlieferung hervortreten, lassen 
eher darauf schließen, daß die Anordnung eine zufällige ge- 
wesen ist 

lm folgenden sollen einige Proben den Charakter der Be- 
schwörungsformeln erläutern. 

1. Zuerst folgt die Schilderung des unheilvollen Treibens 
der Dämonen (Tafel III, 23 ff.): 

Sie, die bösen Rabi?u sind sie! 

Aus dem Haus der Unterwelt sind sie hervorgekommen, 

Bels, des Herrn der Länder, Boten sind sie! 

Der böse Utukku, der in der Wüste den Lebenden schlägt, 
der böse Alu, der wie mit einem Gewand (den Menschen) bedeckt, 
der böse Ekimmu, der böse Gallü, die den Leib in Banden 

schlagen, 

Labartu, Labasu, die den Leib krank machen, 

Lilü, der in der Wüste sich umhertreibt, 
an den Wanderer sich heranmacht, 
böses Fieber (aschakku) 1 in seinem Leib verursacht, 
bösen Bann in seinem Leib sein läßt, 
böse Krankheit (? umunnü) 1 in seinem Leib verursacht, 
böse Pest (namtaru) 1 in seinem Leibe sein läßt, 
böses Gift in seinem Leib verursacht, 
u. s. w. 

Auf offener Straße haben sie diesen Menschen angefallen! 

Nun führt sich der Beschwörungspriester selbst ein: 

Ich, der Diener Eas bin ich! 

Ich, der Diener Damkinas bin ich! 

Ich, der Bote Marduks bin ich! 

Um dem Kranken mit seinem Speichel (?) zum Leben zu helfen, 
hat Ea, der große Herr, mich gesandt. 

Seine reine Beschwörungsformel hat er zu der meinigen gemacht. 
Seine reine Stimme (?)* hat er zu der meinigen gemacht 
Seinen reinen Speichel hat er zu dem meinigen gemacht, 
sein reines Gebet hat er zu dem meinigen gemacht. 

Wenn auch, was in dem Leib des Kranken ist®, seine Glieder 

vernichten kann, 

sollen doch durch Eas Zauberwort 


1 Dämonennamen. 

4 Wörtlich: Mund. 

3 Nämlich die Krankheitsdämonen. 


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1 68 Kap. 1 1 : Beschwörungstexte. 

Diese bösen (Mächte) vertrieben werden! 

Den Tamariskenzweig, die erhabene Waffe Anus, halte ich in 

der Hand. 

Die folgenden Worte werden dem Kranken in den Mund 
gelegt: 

Der Gott Schit, der Priester von Kullab 1 * * , der Schutzherr von 
Kullab, möge mir zum Leben und Heil hinter mich treten, 
ein gnädiger Schedu mir zur Rechten treten, 
ein gnädiger Lamassu mir zur Linken treten, 

Nin-Anna, die erhabene Schreiberin der Unterwelt, 
eine reine Beschwörung vor mir aussprechen! 

Bei Ningirsu, dem Herrn der Waffe, sei beschworen! 

Der böse Utukku, der böse Alu, der böse Ekimmu, 
der böse Gallü, der böse Gott, der böse Rabi^u, 
sie sind böse! 

An meinen Leib sollen sie nicht tierankommen, 
vor mir sollen sie nichts Böses verüben, 
hinter mir sollen sie nicht nachfolgen, 
in mein Haus sollen sie nicht eintreten, 
in meine Umzäunung sollen sie nicht einbrechen, 
in meine Wohnung sollen sie nicht hereinkommen! 

Beim Himmel sei beschworen, bei der Erde sei beschworen! 

Eine Beschwörungsformel, die an die „Sieben“ gerichtet ist, 
lautet 4 : 

Verderbliche Stürme, böse Winde sind sie. 

Stürme des Unheils, die dem „bösen Wind“ (imchullu) gehorchen, 

sind sie. 

Stürme des Unheils, die dem „bösen Wind“ vorangehen, sind sie. 
Untadelige Kinder, untadelige Söhne sind sie. 

Boten des Namtaru sind sie. 

Thronträger der Ninkigal sind sie. 

Die Sturmflut, die im Land umherbraust, sind sie. 

Sieben Götter des weiten Himmels, 
sieben Götter der weiten Erde, 
sieben plündernde Götter, 
sieben Götter, sieben sind sie’, 
sieben böse Götter, 
sieben böse Labartu, 

sieben Labasu 4 , böse Bedränger sind sie! 


1 D. i. Nergal. 

* Tafel V Col. 111, 65 ff.; vgl. besonders auch Tablet K (§ 45 Nr. 6) 
und oben § 19. 

s So nach dem sumerischen Text Die semitische Rezension 
lautet: sieben Götter des Alls. 

4 So nach einer Var. Der Haupttext hat offenbar fehlerhaft, la- 
bar-tum. 


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§ 45. Sonstige Beschwörungstexte. 


169 


Im Himmel sieben, auf der Erde sieben! 

Böser Utukku, böser Alü, böser Ekimmu, böser Gallü, böser 

Gott, böser Rabi;u ! 

Beim Himmel sei beschworen, bei der Erde sei beschworen! 

bei Bel, dem Herrn der Länder, sei beschworen! 

bei Belit, der Herrin der Länder, sei beschworen! 

bei Ninib, dem Sohn von Escharra, sei beschworen! 

bei Istar, der Herrin der Länder, die die Nacht erleuchtet, sei 

beschworen ! 

Bis du gewichen bist, bis du davongegangen bist 
von dem Leib des Mannes, des Sohnes seines Gottes, 
sollst du Speise nicht essen, Wasser nicht trinken! 

Es ist vielleicht nicht zufällig, daß die Schilderung der Sieben 
auf zwei Gruppen von je sieben Zeilen verteilt ist. In welchem 
Verhältnis die „Sieben“ in dieser Beschwörung zu den sechs ge- 
nannten Dämonen stehen, ist nicht klar. 

§ 45. Sonstige Beschwörungstexte. 

1. Die Serie „Aschakki marsüti“=Fieberkrankheiten (?). 

Text: CT XVII pl. 1 — 3. Transkr. u. Übers, von Thompson, The 
devils etc. II, S. 1 — 43, vgl. auch Jastrow, Religion I, S. 348 ff. 

Ursprünglich mindestens 12 Tafeln; erhalten sind von der 3. ca. 
40, von der 11. ca. 100, von der 12. ca. 65 Zeilen, von Tafel 1 und 9 
nur Teile der Unterschrift, von zwei weiteren Tafeln L u. M, die noch 
nicht eingereiht werden können, nur wenige Zeilen. Tablet „N“ gehört 
wenigstens dem Namen nach nicht zu dieser Ausgabe der Aschakku- 
Texte, berührt sich aber inhaltlich aufs engste mit ihnen; vgl. unter Nr. 7. 

Eine Sammlung von Beschwörungsformeln gegen den Dämon 
der auszehrenden Krankheit, der den Menschen wie ein Sturm anfällt, 
der namentlich die Gelenke angreift und den ganzen Organismus 
schwächt. Interessant ist die Anweisung zum Entsühnungsprozeß, 
die Ea in einem der auch hier häufig vorkommenden Zwiege- 
spräche mit Marduk am Schluß der 1 1 . Tafel erteilt, wegen der 
darin zum Ausdruck kommenden Idee des stellvertretenden Opfers. 
Ein weißes „Lamm des Tammüz“ sollst du nehmen, 
in die Nähe des Kranken laß es sich legen, 
sein Herz reiß heraus, 
auf die Hand jenes Menschen lege es 
und sage dann die Beschwörung von Eridu her. 

Das Lamm, dem du das Herz herausgerissen hast. 


Ein Räucherbecken und eine Fackel bringe herbei®, 


1 Der Sinn dieser Zeile ist unklar, es handelt sich um „Bestreichung“ 
des Kranken. 2 Vgl. S- 175 Anm. 1. 


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170 


Kap. 1 1 : Beschwörungstexte. 


Auf die Straße gieße es aus (?). 

Umschließe diesen Mann mit einem Gehege (?) 
und sprich die Beschwörung von Eridu: 

Bei den großen Göttern sei beschworen, 
u. s. w. 

Bei diesem Ritual vertritt das Lamm die Stelle des Kranken. An 
dem Herzen des Lammes wird der Prozeß vollzogen, der dem 
Kranken Genesung bringen soll. Vgl. hierzu die aus Tablet „N“ 
(Nr. 7) mitgeteilten Stellen. 

2. Die Serie „Ti’u“ = Kopfkrankheit. 

Text: CT XVII, pl. 12 — 24. Transkr. u. Übers, von Thompson, 
The devils etc II, S. 44 ff., vgl. auch Jastrow, Religion I, S. 340 ff. 

Ursprünglich 11 Tafeln, wie aus der Unterschrift der 11. Tafel 
hervorgeht Erhalten sind von der 3. ca. 60, von der 6. ca. 20, von der 8. 
ca. 100 Zeilen ; die 9. ist mit 240 Zeilen fast vollständig, von 2 weiteren 
bis jetzt noch nicht einzureihenden Tafeln O und P sind 14 bezw. 87 
Zeilen erhalten. 

Das eine Exemplar der 3. Tafel wurde laut Unterschrift am 17. Elul 
des 10. Jahres des Alexander kopiert, Tafel 6 und 9 stammen aus Assur- 
banipals Bibliothek. Die 8. Tafel wird nach dem mit dem Anfang der 
9. Tafel übereinstimmenden Folgeweiser als 24. Tafel der Serie „Utukki 
limnüti“ (vgl. S. 166) und als „unvollständig“ bezeichnet. Die Abschrift 
wurde im 129. Jahre (d. i. der Seleucidenära, also 183 v. Chr.) angefertigt 

Interessant ist, daß gerade zu dem Kreis dieser Serie, von 
der einzelne Teile in Abschriften aus allerjüngster Zeit überliefert 
sind, z. T. auch die wenigen Beschwörungstexte gehören, die wir 
in Niederschriften aus altbabylonischer Zeit besitzen, nämlich 
CT IV, 8. 

Die Texte dieser Serie sind auch besonders wichtig für die 
Kenntnis der babylonischen Medizin. 

3. Die Serie „Alam-nig-sag-il-la im-ma-ge“ = „Bild 
seiner Körperform in Ton“. 

Text: CT XVII, pl. 29—30. 

Transkr. u. Übers, von Thompson, The devils etc. II, S. 98 ff. 

Die ursprüngliche Zahl der Tafeln ist unbekannt Erhalten sind eine 
Tafel „R“, wie es scheint, bis auf die Unterschrift vollständig mit 
44 Zeilen, und Anfang und Schluß einer Tafel „S“ mit 17 bezw. 18 Zeilen, 
die mit dem Anfang der Tafel R fast ganz identisch ist. Beide Tafeln 
stammen aus Assurbanipals Bibliothek. 

Der eigenartige Name dieser speziell der Beschwörung des 
Namtaru, des Pestdämons, gewidmeten Serie rührt daher, daß sie 
als Begleittext zu symbolischen Handlungen mit der Tonfigur des 
Kranken bestimmt war. In Tafel „R“ kommt das bekannte 


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§ 45. Sonstige Beschwörungstexte. 


171 


Zwiegespräch, allerdings nur in den Anfangsworten, vor. Es 
werden dann Ea noch folgende Worte an seinen Sohn Marduk 
in den Mund gelegt: 

Geh, mein Sohn (Marduk), 

kneif ab ein Stück Ton in der Tiefe, 

das Bild seiner Körpergestalt forme daraus 

und lege es auf die Beine des kranken Mannes des Nachts. 

In der Morgendämmerung „bestreiche“ 1 seinen Körper, 

sprich aus die Beschwörung von Eridu, 

wende sein Antlitz gen Sonnenuntergang, 

damit der Namtar, der ihn bedrängt, von dannen weiche. 

In Tafel „S“ soll das vorgeschriebene Tonbild von schwarzer 
Farbe sein. 

4. Die Serie „Alam-nig-sag-ll-la ku-sche-kan“ = „Bild 
seiner Körperform in Teig". 

Text: CT Xyil, 31—32, 4 R ä 16 Nr. 2. 

Transkr. u. Übers, von Thompson, The devils etc. II, S. 104 ff. 

Erhalten ist lediglich eine Tafel „T“, wie es scheint, bis auf gering- 
fügige Lücken vollständig, sie stammt aus Assurbanipals Bibliothek. Ein 
Text (Tablet „W“) ganz ähnlichen Inhalts ist sehr verstümmelt 

Der Sachverhalt ist ganz ähnlich wie in Nr. 3, die von Ea 
an seinen Sohn Marduk gerichtete Anweisung zur Lösung des 
Bannes aber wesentlich ausführlicher als dort 

5. Die Serie „Luch-ka“. 

Text: CT XVII, pl. 40. 41. 38—39. 

Transkr. u. Ubers, von Thompson, The devils etc. II, S. 136 ff. 

Erhalten sind die Schlußzeilen der 7. und etwa 100 Zeilen der 
8. Tafel, sämtlich aus Assurbanipals Bibliothek stammend. Bedeutung 
des Seriennamens ist unsicher (= Reinigung des Mundes?). 

Dieser Text ist von besonderer Bedeutung als ein besonders 
deutlicher Beleg dafür, daß auch den Babyloniern der Begriff des 
Tabu nicht fremd war. ln der Einleitung zu dieser Beschwö- 
rung werden die Möglichkeiten aufgezählt, die die Unreinheit 
eines maschmaschu-Priester hervorgerufen haben können: 

Ist er bei seinem Gehen auf der Straße, 

bei seinem Gehen auf der Straße, 

bei seinem Herkommen über einen Platz, 

bei seinem Gehen auf einer Straße, einem Pfad 

in ein ausgeschüttetes Trankopfer getreten, 

hat er seinen Fuß in unreines (?) Wasser gesetzt? 


1 Kuppir, ein technischer Ausdruckdes Sühnerituals, vgl.hebr.Kipper; 
vgl. Herrmann, Idee der Sühne im A.T. Untersuchung über Gebrauch 
und Bedeutung des Wortes Kipper, Leipzig 1905. 


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172 


Kap. 11: Beschwörungstexte. 


Oder hat er sein Auge geworfen auf „Wasser ungewaschener 

Hände“ (?)? 

Oder hat er ein Weib, dessen Hände nicht rein (? damqu) waren, 

an sich herankommen lassen? 

Oder hat er auf eine Magd, deren Hände nicht gewaschen waren, 

sein Auge geworfen? 

Oder hat seine Hand ein bezaubertes Weib berührt? 

Oder hat er jemand, dessen Hand nicht rein (? damqu), an sich 

herankommen lassen? 

Oder hat er auf einen, dessen Hand nicht gewaschen, sein 

Auge geworfen? 

Oder hat seine Hand einen berührt, dessen Leib nicht rein (?) 1 

war? 

Marduk tritt hin vor seinen Vater Ea und trägt ihm alle diese 
Möglichkeiten vor und fragt ihn, was er tun solle. Ea antwortet, 
wie in allen diesen Episoden, er wisse auch nicht mehr als Mar- 
duk, gibt ihm aber dann Anweisung zur Lösung des Bannes mit 
Wasser aus der „Mündung der beiden Ströme“, allerlei Pflanzen, 
Steinen u. s. w. 

Außer diesen Sammlungen von Beschwörungsformeln haben 
sicher noch manche andere existiert Schon unter den publi- 
zierten Texten ähnlichen Inhalts befinden sich zahlreiche, die einer 
bestimmten Serie noch nicht zugewiesen werden können. Der 
wichtigste ist 

6. Tablet „K“. 

Text: CT XVI, pl. 42—49, unvollständig 4 R« 15, 15*. 

Transkr. u. Übers, von Thompson, The devils etc. I, S. 184 ff. ; 
vgl. auch Jastrow, Religion I, 363 ff. 

Am Anfang fehlen ca. 25 Zeilen, doch dürfte der Text sonst ver- 
hältnismäßig vollständig erhalten sein (über 300 Zeilen). Die Mehr- 
zahl der erhaltenen Fragmente stammt aus Assurbanipals Bibliothek, 
das Hauptexemplar ist neubabylonisch geschrieben. 

Die hier vereinigten Beschwörungen berühren sich eng mit 
denen der 1 6. Tafel der Utukku-Serie (s. § 44) und richten sich 
wie jene vornehmlich gegen die „Sieben“. Von besonderem 
Interesse sind in beiden Texten die Spuren des Mythus vom 
Kampf der „Sieben“ gegen die Himmelsgötter und in Tablet „K“ 
die Beschwörungsformel vom Kiskanü-Baum, in der manche noch 
heute — meines Erachtens mit Unrecht — enge Beziehungen 
zur biblischen Paradiesesgeschichte erkennen wollen. 


1 ischaru, eigentlich „richtig“ in rituellem Sinn. 


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§ 45. Sonstige Beschwörungstexte. 


173 


Der Eingang bis Z. 71 schildert ähnlich wie in Utukki 
Tafel XVI das Treiben der „Sieben“. 

Darnach werden zwei Personen im Zwiegespräch miteinander 
eingeführt, nämlich der Feuergott Gibil und sein geliebter Freund, 
d. i. wohl der Gott Nin-Ka-Si 1 . Der Freund richtet an den 
Feuergott die Frage: 

O Feuergott, diese Sieben, wo sind sie geboren, wo sind sie 

herangewachsen ? — 

und nachdem er ausführlich das Treiben der Sieben geschildert, 
die niemand kenne im Himmel und auf Erden, bittet er den 
Feuergott, bei Marduk sich Rat zu holen. Gibil geht zu Marduk 
und dieser trägt die ganze Sache seinem Vater Ea vor: 

O mein Vater, der Feuergott ist angelangt am Sonnenaufgang und 
ist eingetreten in seine Geheimnisse. 
Eile, die Wege dieser Sieben in Erfahrung zu bringen, ihre Orte 

zu ergründen 1 

Darauf antwortet Ea, der „weise Sohn Eridus“: 

Mein Sohn, diese Sieben wohnen in der Erde, 
diese Sieben kommen aus der Erde hervor, 
diese Sieben sind in der Erde geboren, 
diese Sieben sind in der Erde herangewachsen, 
um die Ufer des Ozeans zu betreten, sind sie herangekommen. 
Darnach geht Ea sofort über zu den Ratschlägen wegen der Heilung 
des von den Sieben bedrängten Kranken, unter denen neben dem 
Tamariskenzweig vor allem die Rezitation der „Beschwörung von 
Eridu“ hervorzuheben ist 

Diese Beschwörung 2 beginnt mit der genauen Schilderung 
eines Kisehkanü-Baumes oder -Strauches 8 , der in Eridu an der 
„Mündung der Ströme“ wächst. 

Der überaus schwierige Text, bei dem im einzelnen noch 
vieles unklar bleibt, kann etwa folgendermaßen übersetzt werden : 
ln Eridu wächst der dunkle Kischkanü, an einem reinen Ort ist 

er entsprossen. 

Seine Erscheinungsform ist glänzender Lasurstein, der hinunter 

zum Ozean reicht 1 (?). 

Eas Wandel ist in Eridu, voll von Überfluß. 


1 Vgl. 4 R 2 14, Nr. 2. Rev. Z. 20. 

2 CT XVI, pl. 46, Z. 183 ff. (Thompson I, S. 200 ff). 

5 Vgl. Thompson, I, Einleitung S. LI 1 1 ff. 

1 Die gewöhnliche Übersetzung dieser Zeile „Sein Aussehen ist 
glänzend wie Uknü-Stein; er überschattet den Ozean“ ist lediglich ge- 
raten. 


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174 


Kap. 11: Beschwörungstexte. 


Seine Wohnung ist der Ort der Unterwelt 

Seine Wohnstätte ist das Lager der Göttin Our (= Ba-u). 

In das Innere des reinen Hauses, dessen Schatten sich ausbreitet 
wie ein Wald, darf niemand eintreten. 

Darinnen (wohnen) Samas und Tammuz. 

Zwischen der Mündung der beiden Ströme 

haben Ka-Che-Gal und Igi-Du-Oal, [die göttlichen Cheruben (?)] * 

von Eridu diesen KischkanQ 1 und über dem 

Menschen haben sie die Beschwörung des apsü gesprochen. 
Auf das Haupt des „Wanderers“ haben sie (ihn) gelegt. 

Einen Versuch zur Deutung des Ganzen wie einzelner 
Stellen halte ich für aussichtslos, so lange die sprachliche Er- 
klärung noch nicht abgeschlossen ist. Doch sei an die Edel- 
steinbäume im Göttergarten des Gilgameschepos (vgl. S. 80) 
erinnert. 

Die Schilderung des Kischkanübaumes hat dazu geführt, in 
ihm ein Seitenstück zu dem Baume der Erkenntnis oder des 
Lebens im Paradies zu finden. Wenn es auch wahrscheinlich ist, 
daß ähnliche mythologische Vorstellungen hier und dort zugrunde 
liegen, so läßt sich doch dieser Text in seiner vorliegenden Ge- 
stalt mit der biblischen Paradieserzählung nicht in Zusammenhang 
bringen. 

Die Schilderung der „Sieben“ und der darauffolgenden dialogi- 
schen Szenen erinnern unmittelbar an den § 1 9 oben besprochenen 
mythologischen Text Auch hier ist der Mythus nicht zu Ende 
erzählt, sondern etwas unvermutet abgebrochen. 

Das Vorkommen solcher dialogischer Stücke in Beschwörungs- 
texten deutet vielleicht darauf hin, daß die geschilderten Szenen 
als Bestandteil des Beschwörungsrituals zu mimischer Aufführung 
gekommen sind. Näheres darüber s. S. 32 f. 

7. Tablet „N“. 

Text: CT XVII, pl. 4—8, 37. Transkr. u. Ubers, von Thompson, The 
devils etc II, S. 13 ff. 

Erhalten sind Reste von 6 Kolumnen mit zusammen etwa 140 Zeilen, 
zweisprachig, aus Assurbanipals Bibliothek. 

Inhaltlich berührt sich dieser Text am engsten mit der Serie 
Aschakki manjüti, vgl. oben S. 169f. 

Vor allem interessieren hier die Anweisungen zur Verwen- 
dung von Tieren als „Tauschobjekte“ oder „Ersatz“ (nigsagilü, 

1 Vgl. 2 R 56, 61 — 62 (Hommel). 

* isch-bu-schu, vgl. Jensen KB VI. 1, S. 383, 509. 


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§ 45. Sonstige Beschwörungstexte. 


175 


püchu) für den Kranken bei der Entsühnungshandlung. So 
heißt es ganz ähnlich wie in der aus „Achakki marquti“ mitge- 
teilten Stelle (vgl. S. 129f.): 

Kol. II, 44 Nimm ein Ferkel 

An den Kopf des Kranken [bringe (?) es] 

Sein Herz nimm heraus 

Auf das Herz des Kranken [lege es?] 

Mit seinem Blute [besprenge] die Seiten des Lagers, 
das Ferkel zerschneide nach seinen Gliedmaßen, 
und breite sie aus auf dem Kranken! 

Diesen Menschen wasche mit klarem Wasser des Ozeans, 
und reinige ihn! 

Sodann bringe an ihn heran Räucherfass und Fackel*, 
zweimal sieben „Aschenbrote“ * 
lege gegen das „verschlossene Tor“! 

Die nun folgenden Zeilen lassen keinen Zweifel über den 
Sinn der Verwendung des Tieres. Der Text fährt fort: 

Das Ferkel gib als Ersatz für ihn, 

das Fleisch anstatt seines Fleisches, 

das Blut anstatt seines Blutes 

gib hin, und (die Götter) mögen es annehmen ! 

Das Herz, das du ihm aufs Herz gelegt hast, 

als sein Herz gib es hin, und (die Götter) mögen es annehmen. 

Der Schluß dieser Beschwörung lautet (Kol. III, S. 26 f.) : 
Der böse Utukku, der böse Alü mögen zur Seite weichen! 

Ein gnädiger Utukku, ein gnädiger Schedu mögen herzutreten j 

In der nächstfolgenden Beschwörnng auf dieser Tafel 3 wird 
ein Lamm bei der Entsühnungshandlung verwendet. Hier wer- 
den dem Priester folgende an den abkallu gerichteten Worte in 
den Mund gelegt: 

Das Lamm, den Ersatz für den Menschen, gibt er 4 für sein Leben, 
den Kopf des Lammes gibt er für den Kopf des Menschen, 
den Nacken des Lammes gibt er für den Nacken des Menschen, 
die Brust des Lammes gibt er für die Brust des Menschen. 

Für die religionsgeschichtliche Bedeutung dieser Stellen vgl. 
Zimmern, KAT 3 597, O. Weber, Dämonenbeschwörung (AO 
VII, 4) S. 28 f. 


* Das Inventar für das Rauchopfer, vgl. Zimmern, Beiträge S. 94. 

* Akal tumri, d. s. Brote in Asche gebacken, vgl. Thompson, The 
devils II, 18. 

3 CT XVII, 6 ergänzt durch ib. pl. 37, vgl. Zimmern KAT* 596; 
Keilinschr. u. Bibel 26 ff. 

4 D. i. der Kranke. 


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176 Kap. 12: Orakelanfragen und Orakelaussprüche. 

Für eine Reihe anderer Beschwörungstexte, Beschwörung 
des schlimmen Auges, des Bannes, des bösen Utukku etc. etc 
siehe CT XVII, pl. 33. 34 — 36. 37. 40. 41 und die Transkr. u. 
Übers, bei Thompson, The devils etc. II. 

Beschwörungstexte, die bis jetzt einer Serie noch nicht eingegliedert 
werden können, sind auch sonst noch in den Bänden 2, 4 und 5 des 
Londoner Inschriftenwerkes, sowie bei Haupt ASKT passim veröffent- 
licht und zum größten Teil von Fossey, Magie assyrienne, und von 
Jastrow, Religion I, S. 365 ff., übersetzt. Besondere Hervorhebung ver- 
dient unter diesen vor allem der große Text ASKT Nr. 11 (=■ 2 R 
17—18), der eingehend von Jastrow, 1. c. S. 365 ff. behandelt ist Er 
enthält 29 Beschwörungen mit zusammen ca. 300 Zeilen. Ergiebig ist 
er vor allem für die Kenntnis der babylonischen Medizin durch die 
große Zahl der namhaft gemachten Krankheiten und für die Religions- 
geschichte durch die Erwähnung der Hierodulen, der gottgeweihten 
Frauen, und ihrer Beziehung zur Dämonenwelt wie zu den profanen 
Menschen. 


Kap. 12: Orakelanfragen und Orakelaussprüche. 

§ 46. Allgemeines. 

Im Folgenden werden eine Reihe von Textgruppen zusammen- 
gestellt, die das Orakelwesen der Babylonier und Assyrer be- 
leuchten, und zwar Texte, die in ihrer Überlieferung eine festge- 
fügte Form aufweisen und spezifische Merkmale besonderer 
literarischer Gattungen an sich tragen. Es sind dies die „An- 
fragen an den Sonnengott“ (§ 47), die Ikribu-Texte (§ 48) und 
die Orakelsammlungen (§ 49). 

Der Unterschied zwischen der Orakel befragung bezw. -Er- 
teilung und der Erkundung bezw. Offenbarung des göttlichen 
Willens durch die Vorzeichen, mit anderen W orten zwischen Wort- 
und Zeichenorakel, ist sicher auch in der babylonisch-assyrischen 
Religion vorhanden, aber er läßt sich in den Texten nicht mit 
genügender Schärfe in jedem Falle festlegen. Es mußte über- 
haupt jedes Zeichenorakel durch den deutenden Spruch des 
Priesters zu einem Wortorakel werden. Einen prinzipiellen 
Unterschied zwischen beiden könnte man nur dann nachweisen, 
wenn mit Sicherheit auszumachen wäre, daß Orakel ohne die 
Zuhilfenahme sinnenfälliger Medien unmittelbar durch die „In- 
spiration“ des Orakelpriesters gegeben worden sind — und das 


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§ 47. Anfragen an den Sonnengott 


177 


ist bis heute nicht möglich, wenn auch bei den in § 48 be- 
sprochenen Aussprüchen sehr wahrscheinlich. 

Die „Anfragen an den Sonnengott“ und die Sammlungen 
von Orakelaussprüchen gehören durch ihre historische Bestimmt- 
heit zusammen ; sie stammen beide aus den Tagen Assarhaddons 
und Assurbanipals. Die lkribu-Texte sind wegen ihrer engen sach- 
lichen Verwandtschaft den „Anfragen“ hier eingegliedert worden. 

Wenn wir derartige Sammlungen nur aus der Zeit der ge- 
nannten beiden Assyrerkönige haben, so beweist das natürlich 
nichts gegen die Möglichkeit, daß derartige Sammlungen auch 
schon früher angelegt worden sind. Wir wissen ja, daß die 
Orakelbefragung zu allen Zeiten in den mannigfachsten Formen 
in Babylonien und Assyrien üblich war. Über die in Königs- 
inschriften eingestreuten Anspielungen und gelegentlich wörtliche 
Mitteilung von Orakeln vgl. Jastrow Religion II, S. 142ff. 

§ 47. Anfragen an den Sonnengott. 

Die Texte sind autographiert und bearbeitet von J. A. Knudtzon, 
Assyrische Gebete an den Sonnengott, Leipzig 1893, Bd. I (Texte), 
Bd. II (Einleitung, Umschrift und Erklärung, Verzeichnisse). 

Aus der Zeit der assyrischen Könige Assarhaddon (680 — 668) 
und Assurbanipal (668 — 626) stammen eine große Zahl Texte, 
die unter ganz stereotypen Wendungen und nach einem einheit- 
lichen Kompositionsschema Befragungen des Sonnengottes ent- 
halten. Bisher sind Bruchstücke von 166 solchen Texten gesammelt, 
darunter befinden sich 1 54 in einem Zustand, der die annähernd 
vollständige Wiederherstellung des Textes ermöglicht 

Inhaltlich bieten diese Texte wertvolle Aufschlüsse für die 
Geschichte Assyriens und Babyloniens in der angegebenen Periode. 
Die Anfragen beziehen sich ausnahmslos auf politische Verhält- 
nisse, und zwar dienen sie teils staatlichen, teils dynastischen 
Interessen. 

Formell sind sie durchaus gleichartig aufgebaut. Mit 
unwesentlichen Abweichungen kehren fünf Abschnitte mit zum 
Teil stereotypen, ganz formelhaften Wendungen immer wieder. 
So wird jeder Text eingeleitet durch ein kurzes Eingangsgebet: 

O Sonnengott, großer Herr! Um was ich 1 dich frage, beantworte 

mir in verläßlicher Zusage! 

1 Der Fragende ist der „Wahrsager“ (bärfi). 

Weber, Literatur. 12 


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178 Kap. 12: Orakelanfragen und Orakelaussprüche. 

Der zweite Abschnitt gibt Aufschluß über die Veranlassung 
zur Befragung, formuliert die einzelnen Fragen und zwar 
meist in der indirekten Form des Prekativs. Häufig wird auch 
der Termin für die Beobachtungen des Wahrsagers genau um- 
schrieben. 

Der dritte Abschnitt enthält eine Reihe (meist sieben) stereo- 
typer Gebete, die stets durch ezib, dem fast immer scha folgt, 
eingeleitet sind. Bemerkenswert ist auch, daß mit zwei Aus- 
nahmen, in denen zwei ezib-Sätze in einer Zeile vereinigt sind, 
die Formel ezib scha immer am Anfang der Zeile steht, dieser 
Abschnitt also auch äußerlich die Form der Litanei hat Der 
Inhalt dieser ezib-Zeilen ist die Bitte, der Gott möchte dieses 
oder jenes, was er mit Recht an dem Bittenden oder an dem 
Opfer aussetzen könnte, „beiseite lassen“, d. h. nicht in Betracht 
ziehen, sich dadurch in seinem Wohlwollen nicht beeinflussen 
lassen, vgl. S. 181 Anm. 1. 

Der vierte Abschnitt bringt eine Wiederholung der Frage- 
stellung, aus der wiederum die Veranlassung zur Orakel- 
befragung überhaupt deutlich wird. Im Unterschied zum zweiten 
Abschnitt ist hier die Fassung meist kürzer, die Form der Frage 
eine andere (sie wird eingeleitet durch ki-i bezw. kima; das 
Verbum steht im modus relativus). 

Der fünfte Abschnitt enthält fast immer ein Schlußgebet, 
meist in unmittelbarem Anschluß an den vierten Abschnitt, ge- 
legentlich aber auch erst nach Angabe einiger Omina. 

Bei manchen Texten schließen sich auch noch an das 
Schlußgebet Omina an. 

K 4668 (Knudtzon Nr. 1) lautet (die einzelnen Abschnitte 
werden durch Ziffern am Rande angedeutet): 

1) Obv. O Samas, großer Herr! Um was ich dich frage, beantworte 

mir in verläßlicher Zusage! 

1 a) Von dem heutigen Tage an, dem dritten des laufenden Monats 
Jjjar bis zum elften Tage des Monats Ab dieses Jahres, 
auf diese hundert Tage und hundert Nächte erstreckt sich die 
für die Handlungen 1 des Wahrsagers festgesetzte Zeit, ln 
dieser festgesetzten Zeit 

2) werden * Kastariti samt seinen Kriegern, werden die Krieger der 

Oimirräer, 

werden die Krieger der Meder, werden die Krieger der Mannäer, 

1 D. i. Beobachtungen. 

* Die Frage immer durch lü ausgedrückt. 


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§ 47. Anfragen an den Sonnengott 


179 


die Feinde (überhaupt), so viele ihrer sind, 
werden sie Erfolg haben bei ihren Plänen? Werden sie durch 
Sturm (?), werden sie durch Gewaltanwendung, 
werden sie durch Veranstaltung von Krieg, Kampf und Schlacht, 
werden sie durch Brechwerkzeuge (?), werden sie durch Minen- 
legen (?) mittels Brechwerkzeugen (?) und Äxten (?), 
werden sie durch Mauerbrecher (?), werden sie durch schupe, 
werden sie durch eine Hungersnot, 
werden sie durch Anrufen der Namen des Qottes und der Göttin,, 
werden sie durch freundliche Rede und freundliches Entgegen- 
kommen, 

werden sie durch irgend welche Kunstgriffe, so viele ihrer zur 
Einnahme einer Stadt dienlich sind, 

Kischassu einnehmen, in dieser Stadt Kischassu einziehen, 

ihre Hand diese Stadt Kischassu erobern, 

sie in ihre Hände fallen? Deine große Oottheit weiß es. 

Ehe Einnahme dieser Stadt Kischassa durch die Heere von Fein- 
den, so viele ihrer sind, 

von dem heutigen Tage an bis zu dem Tag der Festsetzung 
meines Termins, ist sie im Befehle, im Munde deiner großen 
Gottheit, 

o Samas, großer Herr, befohlen, festgesetzt? Wird man es sehen? 

wird man es hören? 

3) Laß, was na[ch meiner festgesetzten Zeit 1 (kommen mag)]! 

Laß, daß ihr Herz gegen (?) ihn planen und .... mag! 
Laß, daß sie ein Gemetzel anrichten, Plünderung ihres Feldes 

vollführen 1 

Rev. Laß, was das Entscheidungsopfer (?) an dem heutigen Tage an- 
langt, ob er gut oder böse sei, ein stürmischer Tag, an dem 
Regen fällt. 

Laß, daß etwas Unreines am Ort der Beobachtung Unreinigkeit 
herbeigeführt (?), verunreinigt haben mag! 

Laß, daß das Lamm deiner Oottheit, welches zum Zweck des 
Beobachtens beobachtet wird, mangelhaft und fehlerhaft sein 
mag ! 

Laß, daß der, der die Vorderseite des Lammes berührt hat, seine 
Opferkleider als arschati angezogen hat, irgend etwas Unreines 
gegessen, getrunken, sich eingerieben, das „kun“ der Hand 
gebeugt (?), gedrängt (?), unterdrückt haben mag! 

Laß, daß im Munde des Wahrsagers*, deines Knechtes, das 

Wort sich übereilt haben mag ! 

4) Werden s . . . . (?) 4 werden ....(?) 4 Ich frage dich, Samas, 

großer Herr, 

von dem heutigen Tage, dem dritten Tage dieses Monats Jjjar, 
bis zum elften Tage des Monats Abu dieses Jahres: 


1 Der Beobachtung. * mär ame,u bäri. 

3 Eingeleitet durch Ki-i. 4 Bedeutung unklar. 

12 * 


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180 Kap. 12: Orakelanfragen und Orakelaussprüche. 

Rev. werden 1 Kaschtariti samt seinen Kriegern, werden die Krieger der 
Qimirräer, werden die Krieger der Mannäer, 
werden die Krieger der Meder, werden Feinde, so viele ihrer 

sind, 

Diese Stadt Kischassu einnehmen, in diese Stadt Kischassu ein- 
ziehen, 

ihre Hand diese Stadt Kischassu erobern, sie in ihre Hand 

fallen? 

5) (folgen Omina.) 

6) Inmitten dieses Lammes erhebe dich und treue Onade, voll- 

kommene Gestaltungen, 

Orakel, vollkommene Gnadenerweisungen des Befehles, des Mun- 
des deiner großen Oottheit, 

schaffe, daß ich sehe! 

Vor deine große Gottheit, o Samas, großer Herr, möge es 
kommen, mit einem Orakel möge es antworten! 

7) (folgen Omina.) 

Neben diesen Anfragen an Samas gibt es nach Zimmern, 
Beiträge S. 190 Anm. a zahlreiche Texte, welche in ähnlicherWeise 
Anfragen (tamitu) an Samas und Adad enthalten, z. B. die 
bei Craig, Rel. Texts I S. 4, 60 ff., 81 f. veröffentlichten Texte 
K 2370, K 2519 und K 2608 etc. (Vgl. Zimmern, Beiträge, S. 88 
Anm. 6.) Die von Craig im Jahre 1896 in Aussicht gestellte 
Gesamtausgabe dieser von Zimmern so genannten tamitu-Texte ist 
noch nicht erschienen. Dagegen wird von Zimmern 1. c. veröffent- 
licht eine Reihe von gleichartigen Texten, die auch mit den oben 
besprochenen „Anfragen an den Sonnengott“ enge Berührungs- 
punkte haben, das sind: 

§ 48. Die sog. „Ikribu-Texte“. 

Texte, Transkr. u. Übers, bei Zimmern, Beiträge Nr. 75 — 101. 

Die sog. Ikribu-Texte sind Gebete (ikribu) an „Samas, den Herrn 
des Gerichts, und Adad, den Herrn der Wahrsagung“, deren Rezi- 
tation von bestimmten, für jedes einzelne Gebet besonders vor- 
geschriebenen Ritualien begleitet ist, oder genauer, die als Begleit- 
texte der einzelnen Akte des Rituals für den Wahrsager (barü) 
bezeichnet sind. 

Sie zeigen wie die eben besprochenen „Anfragen an den 
Sonnengott“ einen stereotypen Aufbau, dessen Hauptteile 
folgende sind: Anrufung der beiden Götter Samas und Adad, 
Aufzählung der Opfergaben, Einladung der genannten und 

* Eingeleitet durch lu-u. 


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§ 48. Die sog. „Ikribu-Texte“. 


181 


oft auch noch zahlreicher anderer Götter zur Entgegennahme der 
Opfer. Den Schluß bildet die fast durchweg im Wortlaut wieder- 
kehrende Bitte: 

In meinem Flehen, in meinem Händeerheben, in allem, was ich 
tue, der Anfrage (tamitu), die ich weihe, sei Richtigkeit! 1 

Durch einen Strich abgetrennt folgt die Angabe, bei welchem 
Akt des Rituals das Gebet zu rezitieren ist. 

So lautet der Text bei Zimmern, Nr. 75, Z. 56 — 62: 

Samas, Herr des Gerichts! Adad, Herr der Wahrsagung! Ich 
räuchere euch reines Zedemholz, Haufen von Holzschnitzel (?), 
guten Wohlgeruch (?), Haufen (?) von Zedemholz, das die 
großen Götter lieben. Den Umriß (Bild) eurer großen Qott- 
heit beräuchere ich. Sättigt euch am Zedem(duft) ! Der 
Zedem(duft) möge einladen die großen Götter, daß sie Recht 
sprechen! Lasset euch nieder und sprechet Recht! Samas 
und Adad, tretet herzul In meinem Flehen, meinem Hände- 
erheben, in allem, was ich tue, der Anfrage, die ich weihe, 
sei Richtigkeit! 

Gebet beim Zedemholz zerschneiden (?) und auf das Räucher- 
becken erstmals“ schütten. 

Die Sammlung der Gebete ist, wie bei den Anfragen an den 
Sonnengott (§ 47), gelegentlich durch Omina und reine Ritual- 
vorschriften unterbrochen. 

§ 49. Orakel an Assarhaddon und Assurbanipal. 

Strong, On some oracles to Esarhaddon and Ashurbanipal, 
BA II, 627 ff.; Teloni, Leteratura § 50; Jastrow, Religion II, 
158 ff., ib. S. 158 Anm. 2 weitere Literaturangaben. 

Während es sich in den eben besprochenen Texten (§ 47 f.) 
um Orakelbefragungen gehandelt hat, sind nun noch einige 
Sammlungen von Orakelaussprüchen kurz zu besprechen. Bei 
der Bedeutung, die das Orakelwesen namentlich in allen öffentlichen 
Angelegenheiten beanspruchte, ist es nur natürlich, daß die von 
der Gottheit gegebenen Orakel auch gesammelt und dem Archiv 

1 Diese Bitte entspricht den Ezib-Gebeten der Anfragen an den 
Sonnengott, die zum Zweck haben, die „Richtigkeit“, d. h. die absolute 
Fehlerlosigkeit der rituellen Vorkehrungen, die eine unerläßliche Voraus- 
setzung des Erfolgs der Anfrage ist, dadurch sicher zu stellen, daß die 
Gottheit selbst gebeten wird, etwaige Mängel entweder zu beseitigen 
oder wenigstens nicht in Betracht zu ziehen. 

* Andere Gebete beziehen sich auf ein' zweites und drittes 
„Schütten“ auf das Räucherbecken. 


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182 Kap. 12: Orakelanfragen und Orakelaussprüche. 

einverleibt worden sind. Die Sammlungen, die wir bis jetzt 
haben, stammen alle aus Assurbanipals Bibliothek und sind, so- 
weit Sicheres auszumachen ist, auch erst in der Zeit Assarhaddons 
und Assurbanipals entstanden, auf deren kriegerische Unter- 
nehmungen sie sich beziehen. Über Orakel in älteren Texten 
vgl. unten S. 189f. 

Wie für andere Funktionen des Kultus scheint auch für das 
Orakelwesen eine besondere Priesterklasse zuständig gewesen zu 
sein, die der Zaqiqu-Priester, doch erfolgte die Verkündigung der 
Orakelsprüche, wie es scheint, zumeist durch den Mund von 
Priesterinnen. So werden in der Sammlung von 4 R 8 61 von 
acht Orakeln sechs durch weibliche und nur zwei durch männ- 
liche Priester verkündet. 

Die beliebteste Orakelstätte zur Zeit der Sargoniden scheint 
Arbela, das Heiligtum der Istar, gewesen zu sein. Doch lassen 
auch andere Stätten 1 sich nachweisen, und andere Gottheiten* 
werden gleichfalls um Orakelaussprüche angegangen, doch über- 
wiegen die Orakel der Istar von Arbela weitaus. 

Die in diesen Sammlungen vereinigten Orakelsprüche be- 
ziehen sich auf Ereignisse in der hohen Politik, kriegerische 
Unternehmungen vor allem, aber auch auf die Zustände des 
königlichen Hauses. Sie sind häufig ganz speziell, manchmal 
sehr allgemein gehalten, ln der literarischen Form läßt sich ein 
festes Schema nicht erkennen. Während manchmal wenigstens 
die uns überlieferte Form unmittelbar in medias res führt, wer- 
den einzelne Sprüche eingeleitet durch Worte, wie: 

Ich (bin) Istar von Arbela. An Assarhaddon, den König von 

Assyrien. 

Gelegentlich wird zur Einführung von Orakelsprüchen die- 
selbe Form gewählt, die bei Briefen des Königs üblich ist 
(vgl. § 66): 

Willensmeinung der Istar von Arbela an Assarhaddon, den König 

von Assyrien. 

Die bisher erhaltenen Sammlungen sind: K 4310 (4 R 61): 
acht Orakel an Assarhaddon, vgl. Jastrow, Rel. II, 158ff; K 2401 
(BA II, 637 ff., 627 ff.) enthält, soweit erhalten, vier Orakel: der 
Urheber des ersten ist unbekannt (Assur oder Beltis?), das zweite 
stammt von Assur, das dritte und vierte von Istar von Arbela, alle 

1 Z. B. Darachuja 4 R 61, II, 14. 

» Bel, Assur, Nebo (4 R 61), Beltis BA II, 633. 


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§ 49. Orakel an Assarhaddon und Assurbanipal. 183 

sind an Assarhaddon gerichtet; K 883 (BA II, 633 ff.) von Beltis 
an Assurbanipal. Sm 1036, Orakel von verschiedenen Göttern 
(einige Zeilen bei Bezold, Catal. s. Nr.); K 2647, sehr fragmen- 
tarisch, bei Winckler, Sammlung von Keilschrifttexlen II, 64. 

Als Beispiel sei ein an Assarhaddon gerichtetes Orakel 1 
mitgeteilt, das mit allgemein gehaltenen Versprechungen den 
König ermutigen soll: 

Fürchte dich nicht, Assarhaddon! Ich, Bel, rede mit dir. Die 
„Balken“ deines Herzens festige ich (?), wie deine Mutter, 
die dir das Leben gegeben hat Die 60 großen Qötter sind 

mit mir, und werden dein Leben (?) bewahren. 

Sin ist zu deiner Rechten, Samas zu deiner Linken, die 60 
großen Götter stehen dir zur Seite. Auf ihrem Posten 1 stehen 
sie festgefügt. — Auf Menschen vertraue nicht! Richte deine 
Augen auf mich! Schaue mich an! 

Ein kurzes Beispiel eines speziellen Orakels lautet:* 

Ich bin Istar von Arbela. Deine Feinde, die Ukkäer, gebe ich 
(in deine Hand). 


Kap. 13: Ritualtexte. 

Texte, Transkr. u. Übers, bei Zimmern, Beiträge, S. 94 ff. Vgl. auch 
die Einleitung S. 81 ff., auf die sich die folgenden Ausführungen stützen. 
Zur Ergänzung der allgemeinen Ausführungen, wie namentlich der 
Textproben vgl. O. Weber, Dämonenbeschwörung (AO VII, 4). 

§ 50 . Unter den Schätzen der Bibliothek Assurbanipals 
befinden sich auch zahlreiche Texte, die man als Reglements für 
bestimmte Priesterklassen bezeichnen kann, da sie genaue An- 
weisungen über die Vornahme kultischer Handlungen enthalten. 

Diese Texte gehören zwar nicht zur schönen Literatur, sind 
aber für das Verständnis der babylonischen Religion und damit für 
einen großen Teil der im engeren Sinn literarischen Texte, 
der Hymnen, Gebete, Beschwörungen, Zaubertexte von aller- 
größter Bedeutung. Sie sind ein unvergleichliches Hilfsmittel für 
die Erkenntnis der babylonischen Magie und damit eines der 
wichtigsten Zeugnisse des babylonischen Geisteslebens. 

Die von Zimmern publizierten Texte lassen sich in drei 
Kategorien scheiden: in Ritualvorschriften für den bärü-Priester, 

1 4 R 61, II, 16ff. * Vgl. Brünnow, List, Nr. 941. 

* 4 R 61, I, 19 ff. 


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184 


Kap. 13: Ritualtexte. 


den Wahrsager, für den äschipu-Priester, den Exorzisten, und für 
den zammaru-Priester, den „Sänger“. 

Die Institution der „Wahrsager“ als einer offiziellen Priester- 
klasse mit festgelegten Obliegenheiten läßt sich aus den histo- 
rischen Inschriften bis ins dritte Jahrtausend zurückverfolgen. 
Unter Hammurabi (ca. 2200) wird ihrer als einer Berufsklasse 
gedacht, und in der Folgezeit haben wir mancherlei ausdrück- 
liche Zeugnisse dafür, daß die Tätigkeit der Wahrsager vor wich- 
tigen Ereignissen zur Erkundung des etwaigen Erfolges in An- 
spruch genommen worden ist, vgl. unten S. 189f.. Die „Wahr- 
sagung“ erfolgte zumeist auf Grund der Eingeweideschau, 
spezieller der Leberschau, aber auch Becher- und Schalenweis- 
sagung (Hydromantie, Kylikomantie, Lekanomantie), bei der „Öl 
in einen mit Wasser gefüllten Becher oder auch umgekehrt 
Wasser auf öl geschüttet und aus dem Verhalten der Ölmasse 
geweissagt wurde“, war Sache des bärü-Priesters. Ob auch die 
Deutung der sog. zufälligen Omina (vgl. § 51, S. 191 f.) ihm zu- 
kam, oder ob hierfür besondere Priesterklassen, die dann wohl 
der Klasse der bärü-Priester als untergeordnete Spezialgruppen 
eingegliedert waren, zuständig gewesen sind, ist noch nicht völlig 
klar. Dagegen gehörten die „Anfragen“ an Samas und Adad 
(vgl. §§ 47 und 48) zu seiner Aufgabe. Die „Ritualtexte“ berück- 
sichtigen, wie es scheint, die Tätigkeit des bärü-Priesters nur in- 
soweit, als sie auf technisch vorbereitete Orakel gerichtet ist. 

Seine Aufgabe war es auch, auf Grund seiner Beobachtungen 
die Entscheidung zu treffen, ob die in Frage stehende Handlung 
vorgenommen oder unterlassen werden sollte. Zur feierlichen 
Verkündigung dieser Entscheidung nahm er auf dem Richterstuhle 
Platz. Die von dem bärü verkündigte Entscheidung ist natürlich 
die von der Gottheit auf die Anfrage hin erteilte Antwort, die 
in Gestalt von Vorzeichen gegeben war (tertu). Die Götter, an 
die der bärü-Priester sich wendet, sind Samas und Adad, die 
„Herren des Orakels, der Entscheidung“, vor allem aber Samas. 
Daneben spielt der Götterkreis des Sonnenheiligtumes Sippar, die 
Gemahlin des Samas, Ai, sein Bote Bunene, seine Kinder Kittu 
(Recht) und Mescharu (Gerechtigkeit), eine, wenn auch unter- 
geordnete, Rolle. 

Die Ausübung des bärü-Priestertums war mit gewissen 
Privilegien verknüpft, aber auch an gewisse Voraussetzungen ge- 
bunden, denen der Kandidat genügen mußte. Wir sind darüber 


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§ 50. Ritual für den Wahrsager. 


185 


genauer unterrichtet durch einen interessanten Text 1 , in dem die 
babylonische Überlieferung die Entstehung des Wahrsagepriester- 
tums auf Enmeduranki, einen der zehn Urkönige, zurückführt: 

Enmeduranki, der [König von Sippar], ist der Liebling des 
Anu, Bel [und Ea). Samas und Adad haben ihn in ihre Gemein- 
schaft berufen und ihn gelehrt, „Öl auf Wasser zu beschauen“, 
das Geheimnis Anus, Bels und Eas, die Tafel der Götter, die 
takaltu* des Mysteriums von Himmel und Erde, den Zedernstab 
ihm in die Hand gegeben. All das hat Enmeduranki seinem 
Sohne überliefert. Von diesem hat sich die Kenntnis weiter ver- 
erbt: 

Der Weise, der „Wissende“, der das Mysterium der großen 
Götter bewahrt, läßt seinen Sohn, den er liebt, auf die Tafel 
und den Tafelstift vor Samas und Adad 8 schwören und läßt 
ihn lernen „Wann der Wahrsager“ 4 . Der Ölkundige *, aus ur- 
altem Oeschlechte, ein Sproß des Enmeduranki, des Königs von 
Sippar, der die heilige makaltu hinstelit, den Zedemstab er- 
hebt Samas, ein Geschöpf der Nincharsag, aus priester- 

lichem Oeschlecht, von reiner Abstammung, auch er selbst 
an Wuchs und Körpermaßen vollkommen, darf vor Samas 
und Adad , der Stätte des Wahrsagens und des Orakels, sich 
nahen. Ein Wahrsagersohn aber von nicht reiner Ab- 
stammung, oder der an Wuchs und Körpermaßen nicht voll- 
kommen ist, der starr (staar-?)äugig ist, zerbrochene Zähne, 
einen verstümmelten Finger hat, der hodenkrank ist, an Haut- 
krankheiten leidet, nicht (ist einem solchen gestattet) das Be- 
obachten der Satzungen des Samas und Adad, nicht das Heran- 
nahen zum Orakel des Wahrsagedienstes, einen geheimnisvollen 
Ausspruch eröffnen sie einem solchen nicht, den Zedemstab, 
den Liebling der großen Götter, [geben sie nicht] in die Hand 
eines solchen. 

Der Schluß dieses Textes ist von besonderem Interesse, weil er 
— ähnlich wie Zimmern, Ritualtexte Nr. 27 — die einzelnen im Ritual 
zur Verwendung kommenden Geräte in Beziehung zu bestimmten Gott- 
heiten setzt. Vgl. dazu Weber, Dämonenbeschwörung S. 19f. 

Der äschipu-Priester ist „der Beschwörungs- und Sühne- 
priester, der, im Dienste Eas stehend, durch das Mittel der Be- 


1 K 2486 und K 4364 *= Zimmern, Ritualtafeln Nr. 24; vgl. zur 
Übers. Zimmern in KAT* S. 533 f. 

4 Vgl. über die Insignien des Wahrsagepriestertums Zimmern, Bei- 
träge S. 89, KAT 8 , S. 533 Anm. 5 und Jensen, KB VI, 1 S. 572. 

8 Die Hauptgötter der Orakelbefragung; vgl. oben S. 184. 

4 Anfangsworte des Rituals für den Wahrsager. 

8 D. i. der der Becherwahrsagung Kundige; vgl. S. 184, 193. 


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186 


Kap. 13: Ritualtexte. 


schwörung Krankheiten zu heilen, Sünden zu sühnen, vom Banne 
zu lösen, böse Dämonen zu vertreiben, die zürnende Gottheit 
gnädig zu stimmen berufen ist“. Die ganze Masse der Beschwö- 
rungstexte im eigentlichen Sinne, wie sie im 11. Kapitel be- 
sprochen sind, wie auch die zum Zwecke der Beschwörung verwen- 
deten Hymnen und Gebete gehören zum Repertoir dieser Priester- 
klasse. Dem äschipu-Priester liegt aber nicht nur die Rezitation 
der Formeln ob, sondern auch die Vornahme der sie begleiten- 
den Zeremonien symbolischen Charakters. Die von Zimmern 
1. c. Nr. 26 — 59 publizierten Texte enthalten Vorschriften über 
den Vollzug dieser Handlungen. 

Die wichtigsten der dem äschipu-Priester obliegenden Kultus- 
handlungen, die alle mit der Opferhandlung vorbereitend oder 
ergänzend in mehr oder weniger engem Zusammenhang stehen, 
sind folgende; 

Die Takpirtu, die Entsühnung, wörtlich Wegwischung, offen- 
bar eine symbolische Handlung, die die Lösung des mit dem 
Banne Behafteten andeuten soll. Wie diese Handlung unmittel- 
bar an die technische Bezeichnung des Sühnens im Alten Testa- 
ment erinnert, so auch die im babylonischen Beschwörungsritual 
übliche Verwendung des Blutes der Opfertiere zur Bestreichung 
von Pfosten und Schwellen des Tores. Ferner kommt dem 
äschipu-Priester zu die Waschung des Kranken mit Wasser, die 
mannigfachen Manipulationen am Bild des Kranken wie des 
Dämons, besonders aber die Verbrennungszeremonie; dann die 
Herstellung und Weihung der Götterbilder u. a. m. 

Für die Art der Rezitation der Beschwörungsformeln ist 
es von Wichtigkeit, daß ausdrücklich vorgeschrieben war, dass 
sie im Flüstertöne, und zwar meist in die Ohren des Opfertieres 
gesprochen werden sollen. Das Opfertier gilt auch wie im Alten 
Testament als der Stellvertreter des mit dem Banne Behafteten. 
Weiter mag erwähnt werden die Wichtigkeit der Zahl 7 im Be- 
schwörungsritual : 7 Altäre, 7 Räucherbecken sollen aufgestellt, 
7 Lammopfer geopfert werden, die Bilder des zu beschwörenden 
Dämonen sollen 7 Ellen weit von der Opferzurüstung aufgestellt 
werden. Ein andermal werden drei Altäre errichtet, drei Lamm- 
opfer dargebracht. Die Anfertigung eines oder auch mehrerer 
Bilder des zu beschwörenden Dämonen aus Ton spielt bei den 
Beschwörungen jeder Art eine wesentliche Rolle. An dem Bilde, 


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§ 50. Ritual für den Exorzisten. 187 

in effigie, werden alle Handlungen vollzogen, die dem Dämon 
zugedacht sind. 

Zu der Handlung selbst gehört ein komplizierter Apparat, 
dessen Hauptbestandteile Opfertisch, Räucherbecken und Wasch- 
becken bilden. An Opfern werden beigebracht Brote, bei denen die 
Zwölfzahl eine besondere Rolle spielt, Sesamwein, ein besonderer 
Rauschtrank, Honig, Butter, Milch, öl, Datteln, Salz usw. Für 
das Rauchopfer waren besonders gerne verwendet die wohlriechen- 
den Hölzer der Zypresse und der Zeder, aber auch verschiedene 
Mehlarten ; zum blutigen Opfer dienten in der Regel Schafe, von 
deren Fleisch bestimmte Stücke für die Gottheit bestimmt waren. 

Über die besonderen Funktionen des zammaru-Priesters 
läßt sich aus den bisher publizierten Texten mit Sicherheit nur das 
eine entnehmen, daß es ihm — bei welchen Gelegenheiten, ist noch 
unbekannt — oblag, hymnologische Texte zu singen, wie es 
Sache des äschipu-Priesters war, die Beschwörungsformeln im 
Flüstertöne vorzutragen. 

Zur Ergänzung dieser lediglich andeutenden Ausführungen ver- 
weise ich vor allem auf meine Skizze über die Dämonenbeschwönmg 
(AO VH, 4) und auf das über die einzelnen Serien von | Beschwörungs- 
und ähnlichen Texten Angeführte (s. Kap. 11) und gebe im folgenden als 
Probe der literarischen Oattung der Ritualtexte aus dem Ritual für den 
äschipu-Priester nur den kurzen Text Zimmern, Nr. 49 Z. 4 — 12 : 

In der Frühe sollst du vor Ea, Samas, Marduk 7 Altäre auf- 
stellen, 7 Räucherbecken mit Zypressenholz hinsetzen, 7 Lamm- 
opfer opfern, Fleisch von der rechten Seite, .... fleisch, 
.... fleisch 1 darbringen, Sesamwein spenden, diese Bilder 
7 Ellen von der Vorderseite der Opferzurüstung abstehen 
lassen, sie hinsetzen, mit linnenen Tüchern sie umhüllen, den 
Mann und das Weib* ihnen zur Seite setzen, ihren Strick* 

von einander Totenspenden ihnen spenden, vor 

die Opferzurüstung treten und also sprechen: . . . (folgt eine 
Beschwörungsformel). 

Ein ungemein kompliziertes Ritual zur Entsühnung des 
Königs (Zimmern, Nr. 26) ist von mir AO VII, 4 S. 17 ff. ein- 
gehend beschrieben. 

1 Bezieht sich auf bestimmte Fleischstücke, die den Göttern reser- 
viert waren. 

* D. h. Bilder von ihnen, vgl. hierüber wie über den ganzen Text 
Weber, Dämonenbeschwörung S. 23 f. 

* Wohl die die Kleider der Dämonenbilder zusammenhaltende 
Schnur. 


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188 


Kap. 14: Ominatexte. 


Bemerkt mag noch werden, daß die zur Anwendung vorgeschrie- 
benen kürzeren oder längeren Beschwörungsformeln nicht immer in 
extenso mitgeteilt, daß vielmehr häufig lediglich die Anfangszeilen 
der zur Rezitation empfohlenen Formeln bekannt gegeben werden. 

In diesem Zusammenhänge muß auch auf die den Labartu- 
texten, den Handerhebungsgebeten, den Ikribu- und anderen Texten 
beigegebenen rituellen Vorschriften hingewiesen werden, die ledig- 
lich durch ihre literarische Überlieferungsform sich von den hier 
besprochenen unterscheiden. Auch sie enthalten Anweisungen in 
direkter Anrede an den äschipu-Priester. Während aber unsere 
Texte in der Hauptsache als Katechismus für die einzelnen 
Priesterklassen zusammengetragen sind, also ihre Sammlung viel- 
leicht als Übungsmaterial für die Priesterschulen gedacht war, 
bilden jene als sekundärer Bestandteil eine Ergänzung der Samm- 
lungen von Beschwörungstexten. 


Kap. 14: Ominatexte. 

Literatur: Im allgemeinen vgl. Lenormant, Magie, S. 430 ff., wo 
die Erörterung biblischer und klassischer Parallelen noch heute sehr 
lesenswert ist; Bezold, Catalogue V, S. XXII ff., und Index s. vv. Forcasts 
und Omina ; Ders., Ninive und Babylon S. 78ff. Diese Zusammen- 
stellungen sind im folgenden vielfach benutzt. Teloni, Leteratura assira, 
gibt S. 194ff. einige Textproben. Die wichtigsten Textpublikationen 
sind Boissier, Documents assyriens relativs aux presages, drei Teile 
1894 ff., CT XX, wo die Serien Enuma Oir (pl. 1—30), Enuma Gar. Tab. 
(pl. 31 — 38), Enuma Mul-ta-bil-tum (pl. 39 — 50) publiziert sind. 111 R. 
58—65 (u. a. die Fragmente der Sargonsammlung (pl. 60—62), Mond- 
vorzeichen (pl. 64), Mißgeburten (pl. 65). III R 52 Nr. 3 ist ein Katalog 
oder Inhaltsverzeichnis eines Werkes von 25 Tafeln über tellurische 
und siderische Erscheinungen und ihre Bedeutung veröffentlicht, vgl. 
Lenormant, Magie S. 439 ff. — Vereinzelte Texte sind noch zu finden 
bei Lenormant, Choix de textes; Craig, Astrological-Astronomical Texts 
(Assyriol. Bibliothek XVI) ; auszugsweise in Bezolds Catalogue und ge- 
legentlich in Zeitschriften. Hierher gehören inhaltlich auch die astro- 
logischen Rapporte aus Assurbanipals Bibliothek, die von Thompson, 
Luzac’s Semitic Text and translation series VI und VII veröffentlicht und 
bearbeitet sind. Omina finden sich auch im Zusammenhang mit den 
Anfragen, Ritualtexten, den Handerhebungsgebeten, der Labartuserie (s. o.). 
Von Bearbeitungen können außer den natürlich vielfach veralteten Über- 
setzungen bei Lenormant, Magie, nur folgende genannt werden: Virol- 
leaud, Vorzeichen aus Sonnenfinsternissen, aus Verdunkelungen der 
Sonne (durch Wolken) in ZA 16, 201 ff.; Hunger, Becherwahrsagung bei 


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§ 51. Allgemeines. 


189 


den Babyloniern; Virolleaud, L’astrologie chaldenne, Paris 1903 ff.; 
Boissier, Choix de textes relatifs ä la Divination Assyro-Babylonienne, 
Genf 1905. 

§ Si. Unter „Omina“ hat man sich gewöhnt, alle Texte zu be- 
greifen, die die Beobachtung und Deutung der von den Göttern 
als Kundgeber ihres Willens den Menschen gesandten Zeichen 
zum Gegenstand haben, welcher Art diese Zeichen auch sein 
mögen. Trotz ihrer Unzulänglichkeit soll diese Bezeichnung auch 
hier beibehalten werden. Die hier einschlägige Literatur bildet 
vielleicht die umfangreichste Gruppe unter den in Keilschrift über- 
lieferten Texten. Schon das weist deutlich hin auf die ungeheure 
Bedeutung, die die Wahrsagekunst und Zeichendeutung in 
Babylonien und Assyrien gehabt haben. Noch mehr aber erhellt 
diese aus der inhaltlichen Mannigfaltigkeit der erhaltenen Texte, 
die beweist, daß es kaum irgend eine sinnenfällige Erscheinung 
in der Natur gegeben hat, die dem frommen Sinn der Alten 
nicht als Interpret des göttlichen Willens gegolten hätte, daß es 
kaum ein Ereignis in ihrem Leben gegeben hat, das nicht unter 
der unmittelbaren Einwirkung der übernatürlichen Mächte stehend 
geglaubt worden wäre. Und zwar handelt es sich hier keines- 
wegs, ebensowenig wie bei den oben besprochenen Beschwö- 
rungs- und Zaubertexten, um ein naives Volksempfinden, das 
den Bevorzugten, geistig und materiell höher Stehenden fremd 
gewesen wäre. Die Wahrsagerei und Zeichendeutung ist viel- 
mehr eine offizielle, staatlich ausgeübte Kunst, ein wesentlicher 
Bestandteil der offiziellen Religionsübung, von der die Könige 
und die hochgestellten Staatsmänner und Feldherrn ebenso Ge- 
brauch machten, wenn es sich um große Staatsaktionen und 
politische Ereignisse handelte, wie der Mann aus dem Volke in 
seinen persönlichen, kleinen und kleinlichsten Anliegen. 

So wird schon in Inschriften ältester Zeit ausdrücklich be- 
tont, daß diese und jene Fürsten den offiziell bestellten Wahr- 
sagepriester, barü, bei mehr oder weniger wichtigen Anlässen 
befragten. Von dem alten Sargon (ca. 2800) haben wir eine 
Reihe solcher Vorzeichen, die im Zusammenhang mit seinen 
Unternehmungen stehen, verzeichnet Ausdrücklich wird 
unter Hammurabi die Existenz einer Zunft von Wahrsagern 
bezeugt; einer seiner Nachfolger, Ammizaduga, befiehlt die Be- 
fragung des Wahrsagers. Der alte König von Kutha vergewissert 
sich, ehe er zum Krieg auszieht, durch die Eingeweideschau an 


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190 


Kap. 14: Ominatexte. 


zweimal sieben Schafböckchen über die Zustimmung der Götter 
zu seinem beabsichtigten Feldzug. Der Kassitenkönig Agum- 
Kakrime (ca. 1 500) befragt den Sonnengott mittelst eines Lammes, 
ehe er die Götterbilder Marduks und der Sarpanit aus Chani 
heimholen läßt Ein unter dem Namen Kultustafel von Sippar 
bekannter Text Nabubaliddins von Babylonien (ca. 880 — 850) 
handelt von der Bestellung eines Wahrsagepriesters und der Aus- 
stattung desselben mit den Privilegien, die mit diesen Stellen 
schon unter früheren Königen verbunden waren. Aus Assur- 
na$irpals (884 — 860) Kriegsberichten geht hervor, daß auch die 
feindlichen Aramäerstämme solche Wahrsagepriester hatten, ja 
daß sie bei ihnen „vor dem Heere“ einherzogen. Sennacherib 
(705 — 681) sucht von dem Wahrsager die Todesursache seines 
Vaters Sargon zu erfahren. Die gleichfalls von dem bärü vor- 
genommenen Befragungen der Götter Samas und Adad unter 
Assarhaddon und Assurbanipal sind oben § 47 ff. besprochen. 
Diese Zeugnisse sind nur vereinzelt; ihre Überlieferung ist ja 
immer an Zufälligkeiten gebunden. Jeder neu auftauchende Text 
kann neue gleichartige Zeugnisse bringen. Die außerordentliche 
Zähigkeit, mit der sich der Gebrauch der Wahrsagerkünste fast 
3000 Jahre erhalten hat, ist an sich Beweis genug dafür, daß 
ein bärü schlechthin zum eisernen Bestand der Religionsübung in 
all diesen Zeiten gehört hat. 

Überaus mannigfaltig sind die Mittel zur Erkundung des 
göttlichen Willens gewesen und nicht weniger die Gelegen- 
heiten, auf die man die gewonnenen Aufschlüsse angewendet hat 
Dabei sind nun mehrere besondere Fälle zu unterscheiden. Ein- 
mal zufällige natürliche Ereignisse, die als eine spontane, nicht 
eigens durch den Wahrsagepriester herausgeforderte Kundgebung 
der Gottheit aufgefaßt wurden, dann aber die Fälle, in denen der 
Priester der Gottheit Gelegenheit gab, sich direkt über eine an 
sie gestellte Frage auszusprechen. Des weiteren kann man unter- 
scheiden Vorzeichen, die ohne astrologische Beziehung erfolgten 
und verständlich waren, und solche, die an irgendwelche astro- 
logische Erscheinungen gebunden waren oder wenigstens durch 
sie einen besonderen Charakter erhielten, mit anderen Worten, 
tellurische und himmlische Vorzeichen oder eine Kombination 
von beiden. Als „zufällige“ Omina oder Vorzeichen haben alle 
himmlischen zu gelten, da sie ohne Zutun des Menschen auf- 
treten, desgleichen die Mehrzahl der tellurischen. Zu den vom 


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§ 51. Zufällige Omina. 


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Wahrsager vorbereiteten Vorzeichen, deren Übung bei den Baby- 
loniern bisher festgestellt werden konnte, gehören vor allem die 
Eingeweideschau und die Becherweissagung. 

Um zuerst die , .zufälligen“ tellurischen Omina, über deren 
Bedeutung die Babylonier und Assyrer feste Lehren entwickelt 
hatten, zu erörtern, folgen wir am besten den instruktiven Zu- 
sammenstellungen Bezolds in seinem „Catalogue“ der Bibliothek 
Assurbanipals, in der die einschlägigen Texte überliefert worden 
sind. Danach waren es hauptsächlich folgende Objekte, an die 
sich die Beobachtung und Deutekunst des Wahrsagepriesters hielt: 
Begegnungen mit Tieren, wie Pferden, Eseln, Löwen, Füchsen, 
Ochsen, Hunden, Hyänen, Kälbern, Schafen, Schweinen usw. und 
deren Bewegungen und auffallende Handlungen, ihre Farbe, ihr 
Brüllen, Wiehern usw., vor allem aber auch unnatürliche Be- 
gattung, namentlich von Schafen und Hunden oder Schweinen, 
von Füchsen und Hunden, von Ochsen und Pferden u. a. Des- 
gleichen veranlaßten zu Deutungen die Bewegungen der Vögel, 
wie namentlich des Adlers, der Eule und der Schwalbe, sodann 
der Schnecken, Skorpione, Motten, Heuschrecken, Fische, Schlangen. 
Die Richtung des Flugs, der Bau der Nester namentlich bei den 
Schwalben, der Stich von Insekten und vieles andere war von 
Bedeutung. Eine besondere Rolle spielen auch die merkwürdigen 
Geburten, namentlich Mißgeburten bei Menschen und Tieren, 
über die eine eigene Tafelserie von mindestens 15 Tafeln existierte, 
die alle erdenklichen Fälle berücksichtigte Es ist kaum denkbar, 
daß auch nur die Mehrzahl der hier verzeichneten Fälle an tat- 
sächliche Vorkommnisse anknüpfte; sie würden jedenfalls genügen, 
ein Panoptikum in unerhörter Reichhaltigkeit zu füllen. So hat 
immer eine spezielle Bedeutung „die Gestalt, die Farbe und das 
Verhalten der Augen, der Ohren, der Nase, des Haares und der 
Zunge eines Neugeborenen, die Ähnlichkeit seines Gesichtsaus- 
drucks mit dem irgend eines Tieres, eines Ochsen, Kalbes oder 
Vogels, oder seiner Lippen mit denen einer Gazelle oder eines 
Schweines, das Fehlen der Nase oder die Kahlköpfigkeit seiner 
rechten Schädelhälfte, desgleichen, wenn das Kind mit Hörnern 
geboren ward ähnlich denen einer jungen Gazelle oder eines 
Kälbchens, oder wenn es mißgestaltete Füße auf die Welt brachte. 
Besondere Beobachtungsreihen galten dabei der Geburt von 
Zwillingen“. Ähnliche Fälle waren bei Tiergeburten in großer 
Mannigfaltigkeit vorgesehen. — Eine Serie von wenigstens 106 


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192 


Kap. 14: Ominatexte. 


Tafeln (enüma alu ina meli ischakan) beschäftigt sich mit der 
Lage, dem Zustand, den zufälligen Vorkommnissen in „Städten 
oder deren Straßen, auf Feldern, Ländereien, an Sumpfniede- 
rungen, von Flüssen oder Kanälen“. Eine Serie von wenigstens 
19 Tafeln verzeichnet alle möglichen Erscheinungen an einem 
Kranken (siehe darüber Bezold, Ninive und Babylon S. 80 f.). 
Zahlreiche einzelne Texte knüpfen Folgerungen an den Zustand 
von Mund, Nase, Lippe, Augen, Haaren, Füßen, Händen, Herz, 
Blut etc. eines Kranken. Besonders sorgfältig wurden Träume 
beobachtet Aus besonderen Ereignissen im Leben des Königs, 
vornehmer Beamter oder Privatleute wurden allgemeine Ereig- 
nisse geschlossen; auch der Schatten eines Menschen, die Er- 
scheinungen am Herdfeuer, die Bewegungen des Korns galten 
als bedeutungsvoll. 

Während die bisher geschilderten Vorzeichen durchaus ohne 
Zutun des Menschen sich ereigneten und als spontane Bekun- 
dungen des göttlichen Willens zu gelten hatten, sind andererseits 
auch in Babylonien und Assyrien ähnlich wie späterhin in 
Griechenland und Rom bestimmte Zweige einer künstlichen Mantik 
gepflegt worden, bei denen der Priester durch gewisse Manipu- 
lationen seinerseits die Gottheit zur Offenbarung ihres Willens 
veranlaßte. Das sind vor allem die Opferschau und die Becher- 
weissagung. Es hat aber auch die dpmjpopavrefa, die Beobach- 
tung der flackernden (Opfer)flamme, ähnlich wie bei den Griechen, 
so auch bei den Babyloniern einen speziellen Zweig der künst- 
lichen Mantik gebildet (vgl. Boissier, Choix S. 1 69 ff. und be- 
sonders K 10 423). 

ln kaum übersehbarer Fülle sind namentlich Texte über die 
Opferschau überliefert, und zwar zumeist in oft sehr umfang- 
reichen Serien, die nach den einzelnen Stücken und Eingeweide- 
teilen des Opfertieres zusammengesetzt sind (vgl. Bezold Cata- 
logue V, S. 20 11 ff.). Leider ist es noch nicht gelungen, die 
einzelnen Objekte der Beobachtung alle genau zu bestimmen. 

Die größte Rolle scheint bei der Opferschau die Gestalt der 
Leber (Char = kabattu) gespielt zu haben. Das ist aus biblischen 
(Ez. 21, 26) und griechischen (Diodor Sic. II. 29) Schrift- 
stellern wohl bekannt und wird erhärtet durch die große Zahl 
der erhaltenen Omina, die auf die Leber sich beziehen, und be- 
sonders veranschaulicht durch zwei merkwürdige Tontafeln, die 
die Form einer Schafsleber haben und in zahlreiche (ca. 50) meist 


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§ 51. Technische Omina. 


193 


quadratische Felder abgeteilt sind x , in welche die einzelnen Omina 
eingeschrieben sind. Die Serie*, in der alle erreichbaren Fälle 
von ominologischem Interesse für den Leberschauer gebucht 
waren, trug nach den Anfangsworten der ersten Tafel den Namen 
„Wenn die Leber aus einem Schafbock hervorleuchtet“ und be- 
stand aus 14 Tafeln, deren Anfangsworte und Zeilenzahl uns aus 
einem assyrischen Katalog 3 bekannt sind. Identifiziert sind seit- 
her Fragmente der Tafeln 1 — 2, 8 — 11, 13, veröffentlicht ledig- 
lich der Anfang der neunten Tafel*. Leider sind auf dem 
Katalog die Zeilenzahlen der Tafeln 1 — 5 abgebrochen; die 
Summe der Zeilen der übrigen acht Tafeln beträgt 899. Man 
darf also vielleicht den Umfang der ganzen Serie auf etwa 1400 
Zeilen berechnen. Bedenkt man, daß in den Omentexten fast 
immer jede Zeile ein vollständiges Omen enthält, so gewinnt 
man eine Vorstellung von der Spitzfindigkeit und kasuistischen 
Routine des babylonischen Wahrsagepriestertums. Ähnlich liegt 
natürlich der Fall bei den sich mit anderen Teilen des Opfer- 
tierkörpers befassenden Serien. 

Genau unterrichtet sind wir auch über die Becherweis- 
sagung bei den Babyloniern, und zwar ist es besonders interessant, 
daß die einschlägigen Texte aus altbabylonischer Zeit, der der 
Hammurabidynastie (ca. 2200), stammen. Es sind zwei große 
Tafeln mit 72 und 67 einzelnen, durch Querstriche abgeteilten 
Omina 8 . Dieselben waren analog den großen Ominaserien in Assur- 
banipals Bibliothek wohl als Handbücher der Becherwahrsagung ab- 
gefaßt und „bestimmt zum Nachschlagen betreffs der Deutung oder 
einfacher zur Fortpflanzung und Erhaltung der Lehre, eventuell 
zum Studium seitens der betreffenden Priesterscholaren“ (Hunger). 
Das Verfahren bei der Becherwahrsagung war kurz folgendes: 
Ein Becher, bzw. eine Schale, wurde mit Wasser (mit heiligem 


1 Abbildungen dieser Tafeln in CT VI und bei Boissier, Note sur 
un monument Babylonien se reportant ä l’extispidne. 

' Vgl. dazu Bezold bei Blecher, De extispido (Religg. Versuche 
und Vorarbeiten, herausgegeben von Dieterich und Wünsch II, 4). 

* Obv. von K 1352 (CT XX, 1). 

4 Lenormant, Choix Nr. 91 ; Z 1—19 des Obv. in Transkr. u. Ubers, 
bei Boissier, Choix, S. 130f. 

5 Veröffentlicht CT III, 2 — 4; V, 4—7, bearbeitet von Hunger, 
Becherwahrsagung bei den Babyloniern (Leipziger Semitistische 
Studien I, 1). 

Weber, Literatur. 13 


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Kap. 14: Ominatexte. 


Euphratwasser?) angefüllt und darauf Öl gegossen; aus den Be- 
wegungen des Öls wird das Omen abgelesen. Im ganzen waren 
in diesen beiden Texten also nicht weniger als 139 Fälle vorge- 
sehen. 


Von außerordentlicher Mannigfaltigkeit sind weiterhin die 
Omina, die an himmlische Erscheinungen angeknüpft worden sind, 
und die Menge der überlieferten Texte ist sehr groß. Leider macht 
sich gerade hier in besonderem Maße der Mangel zuverlässiger 
Bearbeitungen geltend, der in den enormen Schwierigkeiten der 
Texte seinen tieferen Grund hat. Da es sich bei dieser Dar- 
stellung nur darum handeln kann, den Ertrag der gelehrten Arbeit 
weiteren Kreisen zu vermitteln, muß sie sich auf die Hervorhebung 
der wichtigsten und nächstliegenden Momente beschränken. 

Die Omenliteratur, die sich auf die Vorgänge am gestirnten 
Himmel bezieht, ist der klassische Zeuge eines der wesentlichsten 
und charakteristischesten Zweige der „chaldäischen“ Wissenschaft, 
der Astrologie Die Astrologie hat ja von altersher als die 
chaldäische Wissenschaft schlechthin gegolten; sie war der höchste 
Ruhm Babyloniens und sein größter Spott. Sie meint der zweite 
Jesaias, wenn er Babel, der „Tochter der Chaldäer“, zuruft: 
„Deine Weisheit und deine Erkenntnis, die hat dich verleitet, so 
daß du in deinem Herzen dachtest: Ich bin’s, und niemand 
sonst!“ und: “„So mögen diese hintreten und dich erretten, die 
des Himmels kundig sind, die nach den Sternen schauen, die 
alle Neumonde Kunde geben von dem, was dich betreffen wird“ 
(Jes. 46, 10. 13). Die Tradition von der astrologischen Kunst 
der Babylonier ist nie verloren gegangen und war so weit ver- 
breitet, daß die Ausdrücke Chaldäer und Magier als gleichbedeutend 
gebraucht wurden. 

Es kann hier nicht ausgeführt werden, wie weit die Baby- 
lonier in die Geheimnisse der Astronomie eingedrungen sind, 
die ja doch die wissenschaftliche Voraussetzung aller Astrologie 
ist (vgl. hierüber § 72, 3). Hier handelt es sich um die speziell 
astrologischen Texte, um die Verknüpfung siderischer Erscheinungen 
mit irdischen Ereignissen. Die zu diesem Behufe angestellten 
Beobachtungen betrafen vor allem den Mond in allen seinen 
Phasen, die Sonne in ihrem Auf- und Untergang, die Stellungen 
des Mondes zur Sonne und im Zusammenhang damit überaus 
häufig die Verfinsterungen dieser Hauptgestime , aber auch 


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§ 51. Siderische Omina. 


195 


die Bewegungen und Konstellationen der Planeten und einer 
Unmasse anderer Sterne und Stemgruppen. Eine große Rolle 
spielt bei den Beobachtungen der Gestirne ihre Stellung zu den 
drei großen Abschnitten des Himmelsdammes, den Bahnen des 
Anu, Bel und Ea, die ja äuch in der Mythologie so häufig den 
Untergrund der einzelnen Legenden bildet. Solche astrologische 
Vorhersagungen gehen sicher bis in die allerältesten Zeiten der 
babylonischen Geschichte zurück. So wird dem alten Sargon 
von Agade (ca. 2800) die Sammlung eines großen astrologischen 
Werkes „Wenn der Stern Bel“ zugeschrieben, das mindestens 
66 Tafeln umfaßt hat und zum Teil in Abschriften aus Assurbani- 
pals Bibliothek auf uns gekommen ist. Auf die Sonnen- und 
Mondfinsternisse nehmen auch die oben S. 153ff. besprochenen 
„Handerhebungsgebete“ stetig Rücksicht Sie spielen auch sonst 
in babylonischen Texten eine besondere Rolle. Speziell mit den 
siderischen Erscheinungen des Mondes und ihrer Bedeutung für 
die Menschen beschäftigt sich eine Serie „Wenn der Mond bei 
seinem Erscheinen“. Welche Rolle diese astrologischen Beobach- 
tungen z. B. in der hohen Politik gespielt haben, geht hervor 
aus den zahlreichen astrologischen Rapporten, die die Bibliothek 
Assurbanipals überliefert hat Sie wurden erstattet von fest 
angestellten königlichen Beamten, die an verschiedenen, weit 
von einander entlegenen Plätzen des Reiches, so in Assur, 
Erech, Dilbat, Kutha, Nippur, Borsippa — man beachte, daß 
das lauter uralte Kultusstätten sind — stationiert waren und die 
Aufgabe hatten, den König über alle irgendwie merkwürdigen 
siderischen, aber auch „tellurischen“ Erscheinungen und ihre Be- 
deutung durch Eilboten zu unterrichten. 

Neben den rein tellurischen oder rein siderischen Vorzeichen 
kommen auch Kombinationen von beiden vor in der Art, daß 
tellurische Erscheinungen durch gleichzeitige siderische Besonder- 
heiten in ihrer Eigenschaft als Vorzeichen verstärkt werden. Das 
können sowohl „zufällige“ Omina oder aber auch technische sein, 
insofern als die Beobachtungen namentlich an den Eingeweiden 
der Opfertiere, auch hier wieder speziell der Leber, mit astro- 
logischen Berechnungen in Zusammenhang gebracht werden. Als 
solche komplizierte Omina sind wohl die zahlreichen Texte auf- 
zufassen, die von geometrischen Figuren begleitet sind. Es ge- 
hört hierher wohl auch die schon oben angeführte Gepflogenheit, die 
Tierleber in quadratische Felder (= astrologische Örter) einzuteilen. 

13* 


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Kap. 14: Ominatexte. 


So mannigfach die Beobachtungsobjekte waren, die Schlüsse, 
die aus den merkwürdigen Erscheinungen gezogen wurden, waren 
es nicht minder. Im Vordergründe stehen die hochpolitischen 
Ereignisse, Feldzüge, Verträge, Grundsteinlegung und Einweihung 
von Tempeln und Palästen, Feier des Neujahrsfestes, Götter- 
prozessionen, alles, was mit der Person des Königs und dem Hofe 
zusammenhängt — hier sind namentlich Hofjagden hervorzu- 
heben — und anderes mehr. Sonst ist es das körperliche und 
materielle Wohl, Glück oder Unglück der Menschen, für das 
aus den Vorzeichen weitgehende Schlüsse gezogen wurden. In 
vielen Fällen entschied das Vorzeichen, ob der Tag oder die 
Stunde, die für irgend etwas in Aussicht genommen war, „glück- 
lich“ oder „unglücklich“ ist, d. h. ob die Götter ihre Zustimmung 
geben oder verweigern. Daß der Verlauf einer Krankheit be- 
sonders häufig der Grund zur Inanspruchnahme einer Befragung 
war, ist bei der astrologischen Grundlage der medizinischen 
Wissenschaft im babylonischen Altertum nicht zu verwundern. 


In diesem Abschnitt beschäftigen uns die babylonischen 
Zusammenstellungen, die die Vorzeichen schildern und gleich 
ihre Deutung anfügen. Die Texte dieser Art haben offenbar als 
Repertorien der Zeichendeutekunst dem praktischen Gebrauch 
gedient zur Auskunftserteilung über alle irgendwie auffallenden 
Ereignisse, hinter denen die Bekundung einer göttlichen Willens- 
meinung vermutet werden konnte. Einige kurze Beispiele 1 
sollen zeigen, wie diese Texte gebaut sind, und mit welcher 
Spitzfindigkeit die Deutekunst des babylonischen Priesters allen 
nur möglichen und unmöglichen Eventualitäten beizukommen 
wußte, aber auch welch ungereimtes Zeug dabei oft herauskam, 
wenigstens für unsere Vorstellung. Es ist aber für den Kenner 
orientalischer Denk- und Ausdrucksweise ohne weiteres klar, daß 
diese Ungereimtheiten irgend einen Sinn haben müssen. Den 
Schlüssel wird auch hier das mythologische „System“ zu liefern 
haben ; die Erklärung wird in dem kosmologischen Anschauungs- 
kreis zu finden sein. Daß mit erhöhter Spitzfindigkeit im Laufe 
der Zeit auch willkürliche „Analogiebildungen“ vorkamen, beweist 
nichts gegen das Prinzip. 

* Die zunächst folgenden Beispiele sind aus Boissier, Choix de 
Textes entnommen. 


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§ 5t. Textproben. 


197 


Textproben: 

Wenn eine Schlange einem Menschen auf die Schultern fällt, so 
bekommt er Not zu tragen und muß sterben. — Wenn eine 
Schlange einem Menschen auf den Schoß fällt, so müssen 
seine Kinder sterben 1 (K 2128 etc. 18 f. Boissier, 1. c. S. 2). 
Wenn ein katarru * im Haus eines Menschen an der nörd- 
lichen Wand sich befindet, so wird der Hausherr sterben und 
das Haus zusammenfallen — ist es an der östlichen, wird die 
Hausfrau, an der westlichen, wird der Sohn sterben und das 
Haus zusammenfallen (K 7749, 2 ff. Boissier, I. c. S. 3). 
Wenn ein Hund vor jemand sich hinstellt, wird ein Hindernis 
ihm entgegentreten. — Wenn ein Hund vor jemand ausreißt, 
wird die betreffende Stadt zerfallen. — Wenn ein Hund bei 
jemand stehen bleibt, so ist der Schutz seines Gottes bei 
ihm. — Wenn ein Hund sich auf jemandes Bett legt, wird 
sein Gott gegen ihn erzürnt usw. 

Wenn ein weißer Hund jemand anpißt, so trifft ihn Not. 
Tut es ein schwarzer, so wird der Mensch krank; ein roter, 
so wird er Freude erleben; pißt der Hund auf das Bett, so 

wird der Mensch schwer krank; auf den Stuhl, so ?; 

auf den Tisch, so verliert der Mensch das Wohlwollen seines 
Gottes (K 217 etc., 3—6, 10—15; Boissier, I. c. S. 31 f.). 

Der „Katechismus der Becherwahrsagung“ sieht für die ein- 
zelnen Erscheinungen sehr oft verschiedene Deutungen vor, meist 
sowohl für den Kranken als für kriegerische Unternehmungen, 
z. B. ®: 

Wenn das Öl zwei Blasen wirft und (diese) gleich groß sind, 
für den Kranken: er wird gesund; für den Feldzug des Heeres: 
es kehrt beutelos zurück (A 41). — Wenn (der Rand des 
Öles) nach dem bärü-Priester zu erglänzt, die Stellung der 
Unterwelt; der Kranke stirbt; das Heer auf dem Feldzug er- 
reicht den „Anfang seines Feldes“ 1 (B 18). — Wenn (er) nach 
rechts hin entzwei geht, wird der Kranke gesund, das Heer 
auf dem Feldzug erreicht den „Anfang seines Feldes“ nicht 
(B 20). 

Aber auch für andere Verhältnisse werden Folgerungen ge- 
zogen : 

Wenn (das Öl) nach links abzieht, geht der Groll des Herzens 
des (Schutz-) Gottes weg; alles, was du ausgeliehen, kommt 
zu dir zurück (B 26). 


1 Beachte die Zusammenhänge : Schulter : tragen, Schoß (Zeugungs- 
ort) : Kinder. _ * Ein noch nicht bestimmtes Tier. 

a Die Beispiele in der Übersetzung Hungers. 

1 Der Sinn dieser Phrase ist noch unklar; dem Zusammenhang 
nach muß eine Bedeutung wie „den Tod finden" vermutet werden. 
Vgl. Hunger, S. 37 ff. 


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Kap. 15: Historische Inschriften. 


In vielen Fällen werden siderische Konstellationen und Er- 
scheinungen mit dem Verhalten des Öles in Zusammenhang ge- 
bracht : 

Wenn aus der Masse eine erischtu herauskommt und sichtbar 
bleibt: die Stellung der Qula, und wenn sie entzwei geht: die 
Stellung der t^irtu (B 59). 

Gemeint ist dabei offenbar, daß dieses Verhalten des Öls 
dasselbe Vorzeichen darstelle, wie die betreffende Stellung der 
genannten Gestirne. 


Kap. 15: Historische Inschriften. 

Literatur: Alle altbabylonischen Inschriften bis auf Hammurabi 
sind von Thureau-Dangin in „Les inscriptions de Sumer et d’Akkad“ 
(1905) in Transkr. und Übers, mitgeteilt. Eine deutsche Bearbeitung 
derselben Texte durch dens. wird in Kürze als erster Band derVorder- 
asiatischen Bibliothek (Leipzig, Hinrichs) erscheinen, ln beiden Publi- 
kationen ist auch die Literatur im einzelnen nachgewiesen. Für alle 
bis zum Jahre 1900 bekannt gewordenen Texte kann auch auf 
H. Rad au ’s „Early Babylonian History“ verwiesen werden. Ein großer 
Teil der wichtigeren Texte ist von Jensen in KB 111, 1 (1892) be- 
arbeitet. 

Von Textpublikationen sind für diese Zeit die wichtigsten: de 
Sarzec, Dücouvertes en Chaldee; Hilprecht, Old Babylonian Inscrip- 
tions chiefly from Nippur I, 1, 2; Price, The Oreat Cylinder Inscrip- 
tions (A und B) of Oudea (AB XV); CT XXI. Die Veröffent- 
lichungen von Heuzey und Thureau-Dangin in Revue d’Assyrio- 
logie, Recueil de Travaux passim; Scheil, Delegation en Perse, 
Memoires II. IV. VI. 

Für die Hammurabizeit ist King, The letters and inscriptions of 
Hammurabi, 3 Bde., und KB III, 1 S. 106 ff. (Jensen) zu vergleichen. 
Die Inschriften der folgenden babylonischen Dynastien sind KB III, 1, 
134ff. behandelt, wo alle nötigen Literaturnachweise gegeben sind. 

Die neubabylonischen Texte werden von Stefan Langdon in einem 
Corpus gesammelt (Leroux, Paris), die wichtigsten sind KB III, 2 be- 
arbeitet. 

Die assyrischen Königsinschriften werden, soweit sie sich im 
Britischen Museum befinden, in dem groß angelegten Werk „The An- 
nals of the Kings of Assyria“, herausgegeben von Budge und King, 
in Text, Transkr. und Übersetzung gesammelt; die wichtigsten sind in 
KB I u. II bearbeitet. Von Einzelausgaben sind zu nennen Lotz, Tiglat- 
pileser I., Rost, die Keilschrifttexte Tiglat-Pilesers III, Winckler, die 
Keilschrifttexte Sargons; Meissner und Rost, die Bauinschriften San- 
heribs; Dieselben, die Bauinschriften Assarhaddons; Smith, S. A., die 
Keilschrifttexte Assurbanipals. 


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§ 52. Vorbemerkungen. 


199 


Eine Sammlung aller babylonischen und assyrischen Königsurkun- 
den ist in dem Unternehmen „Vorderasiatische Bibliothek“ geplant, das 
berufen ist, namentlich die vielfach veralteten Ausgaben von KB zu er- 
setzen und wesentlich zu ergänzen. 

§ 52. Vorbemerkungen. 

Innerhalb der historischen Inschriften der Babylonier und 
Assyrer nehmen die offiziellen Königsinschriften den breitesten 
Raum ein. Aber mit ihrer Darstellung ist die im Zweistromland 
geübte Geschichtsschreibung keineswegs erschöpfend charakteri- 
siert Sie bilden die lange Kette zeitgenössischer Aufzeichnungen 
der wichtigsten Herrschertaten, für uns eine Geschichtsquelle aller- 
ersten Ranges, wie sie kein Kulturvolk des Altertums aufzuweisen 
hat Ihnen zur Seite treten aber auch einfe ganze Reihe von lite- 
rarischen Dokumenten, die zum Teil ausgesprochenen historio- 
graphischen Charakter tragen, zum Teil durch ihre Bedeutung als 
offizielle Staatsurkunden geschichtliche Dokumente von großer 
Wichtigkeit sind. Für den Historiker wird dieses Material nach 
allen Seiten hin noch ergänzt vor allem durch die außerordent- 
lich umfangreiche Briefliteratur, die, zumeist aus der Königlichen 
Kanzlei stammend, voller Anspielungen auf Vorgänge der äußeren 
und inneren Politik ist. Solche Anspielungen finden sich ja in 
der ganzen Literatur des Zweistromlandes. In dieser Darstellung 
hat aber weniger das politisch-historische als das literargeschicht- 
liche Interesse die Gruppierung des Stoffes zu bestimmen. Und 
so müssen in diesem Kapitel alle Denkmäler ausgeschlossen 
bleiben, die ihrem Hauptinhalt und ihrer literarischen Form nach 
anderen Gruppen zuzuweisen sind. 

Die babylonisch-assyrische Geschichtsschreibung durchläuft 
die ganze Reihe der wichtigsten Entwicklungsstadien der Historio- 
graphie. Sie hat Geschichtslegenden geschaffen, in Form von 
Annalen und anderen offiziellen Darstellungen, wie Kriegsge- 
schichten, Prunkinschriften und dergl., die wichtigen Ereignisse 
des staatlichen Lebens nach innen und außen überliefert; sie hat 
sogar zusammenfassende Geschichtswerke aus den Urkunden der 
Vergangenheit kompiliert, freilich nur in der trockensten Form 
der Tatsachenregistrierung, die ohne Rücksicht auf innere Zu- 
sammenhänge, ohne das Wesentliche gegenüber dem Gleichgültigen 
hervorzuheben, Zahl an Zahl, Kriegszug an Kriegszug, Herrscher 
an Herrscher reiht. Eine zusammenfassende Darstellung der ge- 
schichtlichen Vergangenheit nach pragmatischen Gesichtspunkten 


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200 


Kap. 15: Historische Inschriften. 


ist bis heute aus den Trümmerhügeln noch nicht zu Tage ge- 
fördert worden. 

Ob eine solche überhaupt vorhanden war, etwa nach Art 
der alttestamentlichen Volksgeschichten Israels, wissen wir nicht 
Das Material, die einzelnen Blätter für eine solche Darstellung 
hat es gegeben, und wir sind wohl imstande, Blatt an Blatt zu 
fügen und ein zwar lückenhaftes, aber in seiner Anlage und in 
seinen Grundzügen klar erkennbares Bild zu geben von der Vor- 
stellung, die sich die babylonische Historiographie von der 
Volksgeschichte gemacht hat. Der babylonische Priester Berosus 
(ca. 300 v. Chr.) hat uns überdies wichtige Bruchstücke einer 
solchen Darstellung auf Grund keilschriftlicher Quellen überliefert 
Daß die babylonische Geschichtsbetrachtung durchaus beherrscht 
war von einer pragmatischen Idee, zeigt sich auf Schritt und 
Tritt in den einzelnen Urkunden. Es wäre gar keine Veran- 
lassung, sich darüber zu wundern, wenn eines Tages ein baby- 
lonisches Geschichtswerk auftauchte, das vom Anfang der Welt 
bis auf die Zeit des Redaktors herunter eine lückenlose Darstellung 
der „geschichtlichen“ Ereignisse gibt — etwa ein Archetypus von 
Berosus’ babylonischer Geschichte. 

Die babylonische Geschichtsschreibung hatte in ihrer Welt- 
anschauung den nie versagenden Schlüssel für das Verständnis 
geschichtlicher Notwendigkeiten, das Schema zur Ergänzung der 
Lücken in der Überlieferung, die Motive zur pragmatischen Be- 
gründung und Verdeutlichung zeitgeschichtlicher Ereignisse — ihre 
instruktivste Parallele ist die biblische Historiographie, mit der 
sie die auffallendsten Berührungspunkte in der gesamten Anlage 
wie in den Einzelheiten der Überlieferungsform aufweist. 

Das erste Kapitel dieser „Geschichte“ ist die babylonische 
Schöpfungsgeschichte. Sie ist oben unter den epischen Dich- 
tungen § 12 behandelt Mit den zehn Urkönigen betreten wir 
bereits den Boden der historischen Legende insofern, als mit ihnen 
ein chronologisches Schema für die Geschichte der Urmenschheit 
vor der Flut gegeben ist Das» nächste Kapitel bildet die Flutge- 
schichte, die am Schlüsse in der Neuordnung der Welt, der Be- 
gründung bezw. Neugründung der Städte gipfelt Die geschicht- 
liche Legende bleibt das Mittel, die Wirksamkeit der Weltordnung 
an einzelnen Herrschertypen, vornehmlich den Dynastiengründem, 
nachzuweisen bis in die letzten Jahrhunderte der babylonisch- 
assyrischen Geschichte. Sie umrankt die offiziellen Königs- 


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§ 53. Historische Legenden. 


201 


inschriften von der ältesten bis in die jüngste Zeit, wo die be- 
wußte Anwendung des legendarischen Motivs auf gut bekannte 
historische Persönlichkeiten besonders deutlich ist 

§ 53. Historische Legenden. 

Die babylonischen zehn Urkönige 1 — den biblischen zehn 
Urvätern entsprechend — sind uns im ganzen nur aus Berosus 
bekannt Von den einzelnen Gliedern dieser Kette haben wir 
aber auch legendarische Stoffe innerhalb der babylonischen Lite- 
ratur, so von dem zweiten, Adapa, den nach ihm benannten 
Mythus (vgl. § 33); von dem siebenten, Evedoranchos = En- 
meduranki (vgl. sofort) und von dem achten, Amempsinos (vgl. 
sofort), besitzen wir Legenden, und der neunte, Otiartes, ist der 
Vater Ubar-Tutu des Sintflutheros Atrachasis, der zehnte und 
letzte, Xisuthros, dieser selbst (Chasisatra = Atrachasis). 

Auf Enmeduranki, der als König von Sippar, der Stadt, 
in der nach Berosus vor der Flut alle Schriften vergraben 
worden waren, gilt, wird in einem babylonischen Text die 
Kunst der Wahrsagung zurückgeführt. Der Text ist beson- 
ders wichtig für die Kenntnis der zur Bekleidung des priester- 
lichen Amtes vorausgesetzten persönlichen Eigenschaften. Vgl. 
den Text oben S. 185. 

Wie die Entstehung des Wahrsagepriestertums, so ist die 
Offenbarung alles sonstigen menschlichen Wissens in der baby- 
lonischen Legende mit den Urkönigen in Beziehung gebracht, 
so mit Daonos, Ammenon (d. i. ummänu = Werkmeister), 
Amempsinos (d. i. Amelsin), aber nur von dem letzteren berichtet 
bislang auch ein, leider noch unveröffentlichter, babylonischer 
Text (K 8080 vgl. KAT 3 S. 537). 

Auf derartige Dokumente scheint sich auch Assurbanipal zu 
beziehen, wenn er sagt*, daß er „Steine aus der Zeit vor der 
Sintflut“ gelesen habe. Es ist nur zu hoffen, daß auch uns bald 
noch mehr von dieser Lektüre zugänglich werde. 

Den Übergang zu den Legenden von Königen aus der Zeit 
nach der Flut bildet das früher fälschlich mit dem Namen 
„Kuthäische Schöpfungslegende“ bezeichnete Stück 


1 Vgl. Zimmern in KAT’ S. 530ff. 

* Lehmann, Samassumukin, Tafel XXXV, Z. 18. 


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202 


Kap. 15: Historische Inschriften. 

1. Der König von Kutha. 

Texte : 1) K 5418a, K 5640, aus Assurbanipals Bibliothek, CT XIII, 
S. 39 — 41. 2) Aus altbabylonischer Zeit stammt ein von Scheii (Recueil 
de Travaux XX) veröffentlichter Text, der sich eng mit den vorge- 
nannten berührt. — Bearbeitungen: Zimmern, ZA XII (1897), S. 377ff.; 
Jensen KB VI, 1, S. 291 ff., 558. 3) Von Jensen ist auch das von Haupt 
zweifelnd zum Oilgameschepos gestellte Fragment K 8582 herangezogen, 
ob mit Recht, muß bei seiner Lückenhaftigkeit unentschieden bleiben. 
(Text: Haupt, Nimr. S. 78, vgl. Jensen KB VI, 1, S. 300 f.). 

Inhaltsangabe. 1. Stück. Ein König der Vorzeit wird von 
einem fremden Volk angegriffen, das, von sieben Brüdern, lauter 
Königen, geführt, aus misehgestaltigen, von den Göttern ge- 
schaffenen Wesen besteht: 

I, 6* Ein Volk, das trübes Wasser trinkt, reines Wasser nicht trinkt, 
dessen Einsicht verkehrt, jenes Volk hat überwältigt, gefangen, 

gemordet*. 

Auf einem Denkstein war nichts (darüber) geschrieben, nichts 
hinterlassen*. Drum ließ ich . . . .* nicht 
ins Land (?) hinausziehen, ich bekämpfte es nicht. 

Krieger mit Leibern von Aasvögeln, Menschen mit Rabenge- 
sichtem, 

es hatten sie geschaffen die großen Götter, 
in der Erde hatten die Götter geschaffen seine (des Volkes) Wohn- 
stätte, 

hatte Tihamat sie gesäugt, 

die Herrin der Götter, ihre Mutter, sie schön gebildet. 

Im Berge drin wurden sie groß, wurden sie mannbar, bekamen 

sie Gestalt. 

Sieben Könige, Brüder, herrlich an Schönheit, 

360000 (Krieger) an Zahl waren ihre Heere. 

Anubanini war ihr Vater, der König, ihre Mutter die Königin 

Melili. 

Der älteste Bruder, der vor ihnen herzog, Memangab (?) war 

sein Name. 

Es folgen einzeln die sechs anderen königlichen Brüder, 
jeder mit Namen benannt, die jedoch leider alle verstümmelt und 
unverständlich sind. 


1 Die Anfangszeilen scheinen eine Anrufung des Sonnengottes zu 
enthalten. 

* So nach Zimmern; Jensen: das seinen Weisen, seinen Hirten — 
jenes Volk — bewältigt, erwischt, erschlagen hatte. 

* D. h. keine Überlieferung gab von ihnen Kunde. 

* Wörtlich „Leib und Front“ = meine eigene Person? Im zweiten 
Stück steht dafür: „meinen Leib und mein (Heer)volk“. 


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§ 53. Historische Legenden. 


203 


Kol. II — UI. Der Held unseres Epos berief nun seine 
Auguren und befragte bei reichlicher Opferspende die großen 
Götter, die ihn ermutigen, den Kampf zu wagen. Drei Jahre 
hindurch sendet er seine Heere gegen das wunderliche Volk 
aus, zuerst 120000, dann 90000, dann 60700 Soldaten, aber 
kein einziger von ihnen allen kam lebend zurück. 

Da war der Held voll Verzweiflung und rief klagend aus: 

Fürwahr! Wehe mir! 

Was habe ich zu beherrschen übrig gelassen? 

Ich bin ein König, der sein Land nicht unversehrt erhält, 
ein Hirte, der sein Volk nicht unversehrt erhält 

Nun beschließt er, in eigener Person (?) hinauszuziehen, und 
einen furchtbaren Fluch schleudert er gegen das feindliche Volk. 
Alle Schrecken und Plagen wünscht er ihm an, und „eine Sturm- 
flut soll über sie kommen, gewaltiger als die Sturmflut der Vor- 
zeit“. Wieder befragt er, jetzt am Anfang des vierten Jahres, 
unter reichlichen Opfergaben die Götter (der Text wörtlich wie 
beim ersten Opfer). Leider ist dann der Text ganz verstümmelt; 
wir können nur vermuten, daß es dem König unter dem Bei- 
stand der Götter gelungen ist, die Feinde zu überwältigen. 

Kol. IV. Den herrlichen Sieg hat der König in einer In- 
schrift zum Gedächtnis für jeden König, der zur Herrschaft be- 
rufen wird, aufschreiben lassen, und an die künftigen Herrscher 
wendet er sich in eindringlichen Worten : 

IV, 6 Du, o König, Statthalter, Fürst oder wen sonst 
ein Oott beruft, daß er die Herrschaft führe, 

Ich habe dir eine Tafel angefertigt, einen Denkstein dir ge- 
schrieben, 

in Kutha im Tempel Schitlam, 
im Heiligtum Nergals für dich hinterlegt. 

Siehe diesen Denkstein an, 
höre auf dieses Denkmals Wort, 

so brauchst du nicht zu verzweifeln, nicht zu verzagen, 
dich nicht zu fürchten, nicht zu zittern. 

Fest sei der Boden unter dir, 
deinem Weibe wohne auch ferner bei. 

Befestige deine Stadtmauern, 

fülle deine Gräben mit Wasser, 

bringe in deine Truhen dein Korn, dein Geld, 

Dein Hab und Gut, 

Deine Waffen, Deine Geräte etc. etc. 

2. Stück. Das Stück beginnt da, wo der König sich anschickt, 
seine Soldaten gegen das feindliche Volk auszusenden. Er 


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204 


Kap. 15: Historische Inschriften. 


schickt zuerst [180000], dann 120000 und zuletzt 60000, zu- 
sammen 360000 Krieger aus, von denen kein einziger zurück- 
kehrt. Darüber ist er betrübt und klagt (fast t wörtlich wie im 
ersten Stück): 

Ich, Oimil(?)-ili 1 , was hab ich über meine Regierung gebracht! 
Ich bin ein König, der sein Land nicht unversehrt erhält, 
und ein Hirte, der seine Leute nicht unversehrt erhält. 

Was wird mir meine Regierung noch bringen? 

Nun beschließt er selbst (? vgl. oben zu I, 9 S. 202 Anm. 4) 
auszuziehen und „zu vernichten das Akkadische Gefilde hat er 
den mächtigen Feind in Bewegung gesetzt“. Der weitere Text 
ist abgebrochen. 

3. Stück. Die Zusammengehörigkeit mit dieser Legende 
vorausgesetzt, fügt sich das Fragment wohl da ein, wo die 
Truppen des Königs in den Kampf ausziehen und von dem feind- 
lichen Heere vernichtet werden. Zwölf Krieger entfliehen, werden 
vom König verfolgt und ergriffen. Alles Weitere ist abgebrochen. 
Die Erwähnung der zwölf entflohenen Krieger nötigt zu der An- 
nahme, daß hier zum mindesten eine selbständige Rezension der 
Legende von dem kuthäischen Könige vorliegt 

Bei der Lückenhaftigkeit des Textes verzichte ich auf nähere 
Ausdeutung des Ganzen. Nur einige Bemerkungen seien ge- 
stattet. Daß es sich hier um mythologische Einkleidung handelt, 
ist ohne weiteres klar. Das beweist schon die Schilderung der 
Feinde, die Zahlen der Feinde und der Krieger des Königs, 
die sieben (!) Brüder (!), die an der Spitze stehen. Das Motiv 
des Kampfes zwischen Marduk und Tihamat, Frühjahrssonne und 
Wintersonne hat auch in diesem Text die Darstellung beeinflußt 
Die wiederholten mißglückten Versuche, des Feindes Herr zu 
werden, der endliche Auszug des Königs selbst ruft unwillkürlich 
die Szenen, die im Weltschöpfungsepos dem Kampfe vorangehen, 
in die Erinnerung. Interessanter aber ist der schließliche Erfolg 
der Bezwingung der Feinde durch den König: Friede und Be- 


1 Name des Königs? Zur Lesung (geschr. Schu-ili) vgl. Ranke, Pers. 
Names 84. Vielleicht aber appellativisch zu fassen und qät ili zu lesen. 
Damit würde sich der König als (strafende) Hand Oottes (Nergals?) 
bezeichnen, als Gottesgeißel für sein eigenes Land. Durch „Hand 
Gottes“, speziell Nergals wird eine fieberartige Seuche bezeichnet. Vgl. 
Jensen KB VI, 1, 557, und vor allem Zimmern, Ritualtafeln Nr. 45 Z. 5 
(S. 152) und Anm. 2. 


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§ 53. Historische Legenden. 


205 


ruhigung für die Menschen. Hier sind Einwirkungen der Messias- 
idee nicht zu verkennen. 

So offenkundig der mythologische Charakter der Darstellung 
gerade in diesem Text ist, so sicher ist es, daß er ein histo- 
risches Ereignis widerspiegelt: die Bedrängung eines babylo- 
nischen Stadtkönigtums durch barbarische Feinde, zeitweiliges 
Unterliegen, aber endlicher vollkommener Sieg. Vielleicht dürfen 
wir mit Hommel 1 den von Scheil ijn Recueil de Travaux XIV. 
S. 100 ff. veröffentlichten Text, nach welchem ein König Anu- 
banini von Lulubi (einem Bergland nordöstlich von Babylonien) 
seine Statue mit Inschrift im Gebirge Batir aufstellen läßt, hier 
heranziehen. Aus paläographischen Gründen gehört dieser Text 
in die Zeit des alten Sargon von Agade, also in den Anfang des 
dritten vorchristlichen Jahrtausends. 

2. „Die Belagerung von Erech“. 

Der Text, K 3200, aus Assurbanipals Bibliothek stammend, ist 
meist zur ersten Tafel des Gilgameschepos gestellt worden, da man 
glaubte, dort Anspielungen auf eine Belagerung Erechs entdecken zu 
können. Der Text ist publiziert bei Haupt, Nimrodepos S. 51, über- 
setzt von Jensen, KB VI, 1, S. 273. 

Inhaltsangabe. Eine dreijährige Belagerung liegt schwer 
auf Erech und unterbindet alles Leben. Der Hirte kümmert sich 
nicht um sein Vieh, der Schiffer versenkt sein Schiff, selbst in 
der Tierwelt sind alle natürlichen Beziehungen aufgehoben. 

Z. 9 Wie das Vieh brüllt das Volk, 

wie Tauben wimmern die Mädchen. 

Die Götter von Erech 

verwandeln sich in Fliegen, summen auf den Plätzen. 

Die Schutzgötter von Erech 
verwandeln sich in Mäuse .... 

Eine Beratung der Götter, vornehmlich Bels und der Istar, 
befaßt sich mit dem Schicksal der bedrängten Stadt Der weitere 
Text ist abgebrochen. 

Auch in dieser Legende wird man einen historischen Kern 
anerkennen dürfen, wenn auch vorläufig keine Möglichkeit be- 
steht, das im Mittelpunkt der Legende stehende Ereignis chrono- 
logisch zu bestimmen. 


1 P. S. B. A. XXI (1899) S. 115-117. 


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206 


Kap. 15: Historische Inschriften. 


Vielleicht liegt dasselbe Ereignis auch dem leider nur 
unvollständig erhaltenen Klagelied 4 R a 19 Nr. 3 1 zu Grunde, 
in welchem offenbar der König selbst die Göttin Istar anfleht, 
der durch einen feindlichen Überfall geschaffenen Notlage in der 
Stadt Erech ein Ende zu machen. 

3. Die Geburtslegende Sargons. 

Texte: CT XIII, 42—43.; bearbeitet: KB III, 1 S. lOOff. Zur 
Übersetzung und zum Inhalt vgl. Jeremias, ATAO S. 255 ff. 

Von den Legenden historischer Könige ist sie am bekanntesten. 
Die Bibliothek Assurbanipals hat sie in mehreren Exemplaren er- 
halten. Für ihre Wertschätzung als Literaturstück spricht ihre 
Verwendung zu Unterrichtszwecken in neubabylonischer Zeit 
(Br. M. 47 449). 

Der Text lautet: 

Sargon, der mächtige König von Agade, bin ich. Meine Mutter 
war eine „Gottgeweihte“*, mein Vater ist aus niedrigem Ge- 
schlecht*, der Bruder meines Vaters wohnte im Gebirge. 
Meine Stadt ist Azupiranu, das am Ufer des Euphrat gelegen 
ist. Es empfing mich meine Mutter als eine „Gottgeweihte“, 
im Verborgenen gebar sie mich. Sie legte mich in einen 
Kasten von Schilfrohr, verschloß mit Erdpech meine Tür, legte 
mich in den Fluß, so daß er mich nicht bedeckte 4 . Der Fluß 
trug mich hinab zu Akki, dem „Wasserausgießer“ 5 . Akki, der 
„Wasserausgießer“, zog mich auf als seinen Sohn. Akki, der 
„Wasserausgießer“, machte mich zu [seinem Gärtner]. Wäh- 
rend meiner Tätigkeit als Gärtner gewann Istar mich lieb .... 
und vier Jahre übte ich die Herrschaft aus Jahre be- 

herrschte ich die „Schwarzköpfigen“ * und regierte über sie. 

Es folgt eine sehr lückenhafte Schilderung von kriegerischen 
und anderen Unternehmungen. 

Diese Legende ist die typische Form der Geburtslegende 
des Herrschers, der eine neue Zeit heraufführt, eine Dynastie er- 
öffnet. Die Geburtsgeschichte Mosis ist das bekannteste Beispiel, 
das fast alle Motive der Legende aufweist. Speziell die Aus- 


1 Übersetzt von Zimmern, Bußpsalmen Nr. 5; Jastrow, Religion II, 
108ff-, vgl. auch Hommel, Grundriß S. 361. 

* Also eine jungfräuliche Mutter? ’ Wörtlich: „unbekannt“. 

4 Wörtlich: „nicht über mir war“; das Kästchen konnte nicht unter- 
sinken. 

* Gewöhnlich der technische Ausdruck für den, der eine Libation 

darbringt; auch der Name Akki bedeutet: „ich habe (Wasser) ausge- 
gossen“. • D. i. die Menschheit. 


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§ 53. Historische Legenden. 207 

Setzung in einem Kästchen, das in einen Fluß oder an einen ein- 
samen Ort verbracht wird, kehrt wieder in der Geburtslegende 
des Osiris in Ägypten, in der bei Aelian, Hist Anim. XII, 21, er- 
zählten Geburt des Gilgamos, in der Geburtsgeschichte des Bacchus 
bei Pausanias III, 24, des Perseus bei Apollod. 2, 4, 1 usw. 
Eine etwas abweichende Form der Kindesaussetzung kennen die 
Legenden von Cyrus (Herodot I, 1 13), von Semiramis (Diodor 2, 9), 
von Achämenes (Aelian, 1. c.), von Romulus und Remus (Liv. 1, 4) 
u. a. Vergl. zu den verschiedenen Versionen der Legende Jeremias 
ATAO S. 256 ff. 

Es ist kein Grund anzunehmen, daß die neubabylonische 
Rezension der Geburtslegende Sargons nicht auf gleichzeitige 
Urkunden dieses Königs selbst zurückgehen könne. Die Original- 
inschriften eines Gudea z. B. sind voll von „unglaublichen“ Ge- 
schichten, d. h. sie verwenden eine durchaus legendarische Ein- 
kleidung. Speziell aus altbabylonischer Zeit hat uns Assurbani- 
pals Bibliothek noch eine ganze Reihe Legenden in Abschriften 
erhalten, so von des alten Sargon Sohn Naramsin (CT XIII, 
pl. 44), Dungi von Ur (ib. pl. 45), Libit-Istar von Isln (ib.). Da- 
hin gehören auch die Texte altbabylonischer Könige (ib. pl. 49 
und 50, vgl. KAT 8 S. 392 f.), in denen Zeiten der politischen 
Bedrängnis Veranlassung geben zu düsteren Vorahnungen einer 
Zeit der Drangsal, die mit denselben Farben geschildert wird, 
die die epische Dichtung für die Schilderung des allgemeinen 
Unglücks für die Menschheit in der Endzeit verwendet (vgl. oben 
S. 107 f.). 

Während in allen diesen Texten das legendarische Element 
schlechthin überwiegt und das im Hintergrund stehende geschicht- 
liche Ereignis fast ganz verflüchtigt ist, zeigen andererseits auch 
die nach unserem Urteil „historischen“ Inschriften bis in die 
späteste Zeit gelegentlich eine bewußte Verwertung der von der 
Astrallehre dargebotenen mythologischen Motive. Namentlich 
ist es die Lehre von dem Kreislauf aller Erscheinungen 
nach dem Muster des immer sich erneuernden Weltenzyklus, 
die auch in solchen Texten ihre Spuren zurückgelassen hat 
Die orientalische Geschichtsauffassung zeigt das Streben, beim 
Beginn neuer Epochen den vollendeten Ablauf eines Welten- 
zyklus nachzuweisen. So läßt der neubabylonische König Nabu- 
naid durch seine Astronomen berechnen, daß gerade 3200 Jahre 


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208 


Kap. 15: Historische Inschriften. 


vor ihm Naram-sin, der Sohn Sargons von Agade, regiert habe K 
Der assyrische Sargon behauptet, daß 350 Könige vor ihm regiert 
hätten, d. h. daß ein Weltmondjahr vor ihm seinen Abschluß 
gefunden 2 . Eine andere Ausdrucksform für denselben Gedanken ist 
es, wenn Senacherib sich als „Adapa“, als den neuen Adam einer 
neuen Zeit bezeichnet, oder wenn, wie Berosus berichtet, Nabo- 
nassar von Babylonien alle Urkunden seiner Vorfahren zer- 
brechen ließ. Nimmt man dazu die häufigen Fälle, in denen die 
Könige ihre göttliche Geburt hervorheben — zahlreiche altbaby- 
lonische Könige, wie z. B. auch Hammurabi, bezeichnen sich 
direkt als Götter — , so bedarf es keiner weiteren Ausführung, 
um die Behauptung zu stützen, daß die „historischen“ Inschriften 
auch solcher Herrscher, deren Geschichtlichkeit über jeden Zweifel 
erhaben ist, gelegentlich voll legendarischen Beiwerks sind. Das ist 
eine Konsequenz der altorientalischen Weltanschauung, der Lehre 
und beeinträchtigt die Glaubwürdigkeit der sonstigen historischen 
Nachrichten derselben Inschriften so wenig, wie der Beisatz „von 
Gottes Gnaden“ die einer Kaiserurkunde alter oder neuer Zeit. 


Endlich muß noch einiger Texte 8 kurz gedacht werden, in 
denen wir Bruchstücke von Heldenliedern zu besitzen scheinen. 
Sie unterscheiden sich von den bisher besprochenen Geschichts- 
legenden in mythologischem Gewände vor allem dadurch, daß 
in ihnen das mythologische Element vollständig zurücktritt, wenn 
es nicht überhaupt fehlt Die erhaltenen Texte lassen darauf 
schließen, daß wir es hier mit einer poetischen Verherrlichung 
der Heldenkämpfe einer noch offenkundig als historisch gewerteten 
Vergangenheit zu tun haben. Zweifellos bilden die Befreiungs- 
kämpfe gegen Elam, die der endgültigen Einigung und Festigung 
des babylonischen Reiches durch Hammurabi mehr oder weniger 
unmittelbar voraufgingen, den geschichtlichen Hintergrund dieser 
Lieder. 


1 Vgl. Winckler, Ex Oriente lux II, 2, 46. 

* Vgl. hierüber und über verwandte.Beispiele Winckler, I. c. S. 43f. 

* Texte, Transkr. u. Ubers.: Pinches, Journal of the Transactions 
of the Victoria Institute, vol. 29 S. 43—90. Teilweise übersetzt und 
ausführlich behandelt von Hommel, Altisraelitische Überlieferung 
S. 180ff. — Die Texte sind in einer Niederschrift aus der Achämeniden- 
zeit erhalten und gehören der Sammlung Spartoli des Britischen 
Museums an. 


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§ 53. Die historischen Inschriften der babylonischen Könige. 209 

Muß es schon wegen ihrer einzigartigen Stellung in der 
babylonischen Literatur bedauert werden, daß sie so unvollständig 
auf uns gekommen sind, so noch mehr wegen der Wichtigkeit 
ihrer sachlichen Angaben für die Profangeschichte, wegen der 
in ihnen die Hauptrolle spielenden Persönlichkeiten. Es sind 
dies Rim-aku von Larsa, En-nun-dagal-Ia = Hammurabi von 
Babylonien, Kudur-ku-mal von Elam und Tu-ud-chul-a. Von 
diesen darf man zuversichtlich Rim-aku von Larsa mit Ariokh von 
Ellasar, Hammurabi mit Amraphel identifizieren. Fraglich aber 
bleibt, ob Kudur-ku-mal (Lesung unsicher) mit Kedorlaormer und 
Tudchul (Lesung unsicher) mit Ticfal zusammenbringen darf. 
Aber auch wenn alle diese Namen wirklich in der angegebenen 
Weise interpretiert werden dürfen, so ist damit für die Beur- 
teilung der biblischen Erzählung Gen. 14 nicht mehr, aber auch, 
was gern unterschätzt wird, nicht weniger gewonnen als der 
Nachweis, daß einige der dort vorkommenden Namen keilinschrift- 
lich bezeugt sind. Die Situation, die Gen. 14 einerseits und die 
babylonischen Heldenlieder andererseits voraussetzen, ist eine 
durchaus verschiedenartige. 

§ 54- Die historischen Inschriften der babylonischen 
Könige. 

I. Geschichtlicher Überblick. 

Die babylonischen Königsinschriften umspannen einen Zeit- 
raum von wenigstens 2800 Jahren. Die Geschichte Babyloniens 
beginnt nach dem heutigen Stand unserer Kenntnis mit dem 
Ausgang des vierten vorchristlichen Jahrtausends in gleichzeitigen 
Urkunden sich Denkmäler zu setzen. Das ist die Zeit der Einzel- 
staaten mit alten, geheiligten Kultuszentren, an denen das geistige 
Erbe der vorsemitischen Bewohner des Landes aller Entwicklung 
und allen Umwälzungen trotzende Pflege- und Überlieferungs- 
stätten gefunden hat. Das Land selbst ist von Semiten überflutet 

Das kulturelle Übergewicht haben die Südstaaten mit den 
uralten Kultstätten des Ea in Eridu, des Mondgottes in Ur, des 
Himmelsgottes in Erech, des Sonnengottes in Larsa, des Bel in 
Nippur; die politische Vormacht besitzt Lagasch-Sirgulla, die 
Stadt der Ba-u und darnach Girsu (Telloh), die Stadt des Nin- 
girsu-Ninib, deren Inschriften, wie es scheint, zum Teil die 
allerältesten der bisher bekannt gewordenen sind. In Südbabylonien 
herrscht die sumerische Sprache lange Zeit als ausschließliche Schrift- 

Weber , Literatur. 14 


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210 


Kap. 15: Historische Inschriften. 


spräche. Im Nordreich, dessen politische Organisation sicher gleich- 
falls bis etwa zum Jahr 3000 reicht, hat sich das semitische Element 
viel unabhängiger, ja offenbar im Gegensatz zu der Übung in Süd- 
babylonien, seine Selbständigkeit gewahrt. Die ältesten nordbaby- 
lonischen Inschriften eines Sargon und Naramsin von Agade sind 
in semitischem Babylonisch abgefaßt, und nur gelegentlich zeigen 
nordbabylonische Herrscher eine Anerkennung der unverjährbaren 
Rechte der älteren Kultur durch Anwendung der sumerischen 
Sprache in ihren Inschriften. 

Die wichtigsten unter den ältesten durch eigene Herrscher- 
inschriften bezeugten politischen Organisationen, die in Babylonien 
zum Teil neben-, zum Teil nacheinander, zeitweilig auch in Ab- 
hängigkeit voneinander bestanden haben, sind in Südbabylonien 
das alte Reich von Lagasch, das Königtum von Kisch, von Ma-er, 
von Uruk, in Mittelbabylonien das Patesitum von Nippur, in Nord- 
babylonien das Reich des Sargon von Agade, der wahrscheinlich 
Babel gegründet und — offenbar allerdings nur für kurze Zeit — 
zum Mittelpunkt eines ungeheuren, die Grenzen des späteren 
assyrischen Weltreiches überschreitenden Herrschergebietes ge- 
macht hat, und seiner Nachfolger. Alle diese Organisationen 
bestanden in der ersten Hälfte des dritten Jahrtausends. Von 
etwa 2600—2400 blüht das Reich der „Könige von Ur“ in Süd- 
babylonien, zeitweise im Besitz auch Nordbabyloniens. Aus dieser 
Zeit besitzen wir eine außerordentliche Fülle von Denkmälern. 
An die Stelle dieser „Dynastie“ trat auf etwa hundert Jahre die der 
Könige von Isin, an deren Stelle wieder für gleichfalls hundert Jahre die 
von Larsa. Schon die beiden letztgenannten sind nicht mehr im 
Besitz des ganzen Umfangs des babylonischen Reiches gewesen. 
Die Überflutung des Zweistromlandes durch einen neuen Strom 
semitischer Eindringlinge hat schon zur Zeit der letzten Könige 
von Ur, vom Norden her kommend, den Besitzstand der Dynastie 
beeinträchtigt und um 2400 in Babylonien eine neue Zentral- 
gewalt geschaffen, die bald immer weitere Kreise ihrem Macht- 
bereich angegliedert hat, so daß die Könige von Isin und Larsa 
mehr und mehr zurückgedrängt und wohl allmählich in direkte 
Abhängigkeit geraten sind. Hammurabi, der sechste König dieser 
neuen babylonischen Dynastie, die das Erbe des alten Sargon an 
sich gerissen, hat diese Entwicklung zum Abschluß gebracht, 
Süd- und Nordbabylonien geeinigt und ein einheitliches Reich 
mit Babel als Mittelpunkt wiederum aufgerichtet. Über diese Zeit 


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§ 54. Die historischen Inschriften der babylonischen Könige. 211 

(2400 — 2100) sind wir durch überaus zahlreiche öffentliche und 
private Urkunden vorzüglich unterrichtet. Während bisher wegen 
des Überwiegens des südbabylonischen Elements die sumerische 
Sprache bei der Abfassung der Denkmäler unverhältnismäßig be- 
vorzugt worden war, tritt nun die semitisch-babylonische Sprache 
in den Vordergrund und wird bald fast ausschließlich bei der 
Abfassung namentlich öffentlicher Dokumente benützt. 

Der Dynastie Hammurabis folgt eine offenbar aus dem Süden 
des Reiches stammende Reihe von elf Königen, von denen wir 
fast gar keine eigenen Inschriften haben, deren Namen aber 
verraten, daß sich hier eine Reaktion des zurückgedrängten süd- 
babylonischen, der sumerischen Überlieferung treu gebliebenen 
Elements Geltung verschafft hat. Von ca. 1700 an steht Baby- 
lonien etwa 500 Jahre lang unter der Herrschaft einer auslän- 
dischen, der sog. Kassiten-Dynastie, die aber nicht vermocht hat, 
den Charakter der babylonischen Kultur irgendwie tiefergehend zu 
beeinflussen. Sie bedient sich nur in einigen Fällen der sume- 
rischen, sonst aber ausschließlich der semitischen Sprache bei 
der Setzung ihrer Inschriften, und die gegen das Ende hin mehr 
und mehr semitisches Gepräge zeigenden Namen ihrer Herrscher 
zeigen, daß die Eindringlinge im Laufe der Zeit vom Lande auf- 
gesogen worden sind. Diese Periode der babylonischen Ge- 
schichte ist literargeschichtlich von besonderem Interesse, da in 
sie die Zeit der sog. Tel-el-Amarna-Korrespondenz fällt (vgl. § 69). 
Politisch hat diese Periode den Niedergang des babylonischen 
Reiches besiegelt. Das Reich Hammurabis, das den Kassiten zur 
Beute gefallen war, hatte sich unter der Herrschaft der fremd- 
ländischen Könige wohl zeitweise wieder weiter reichenden Ein- 
fluß gesichert, ist aber bald durch das aufstrebende Assyrien und 
dessen fast tausend Jahre lang stets sprungbereiten Rivalen Elam 
zu völliger Ohnmacht herabgedrückt worden. Von da an hat 
es trotz gelegentlicher Erfolge, z. B. unter Nebukadnezar I., keine 
zielbewußte Expansivpolitik mehr treiben können. Es ist respektiert 
worden und der Form nach als „Weltreich“ erhalten geblieben; 
denn es war ein unabänderliches Gesetz der geschichtlichen Ent- 
wicklung, daß das Königtum der Welt nur aus den Händen Mar- 
duks von Babel empfangen werden konnte. Und um des Gottes 
willen ist Land und Organisation von allen einsichtigen Herrschern 
Assyriens geschont worden auch dann, wenn sie die Macht be- 
saßen, eine neue Ordnung einzuführen. Der einzige König, der 

14* 


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212 


Kap. 15: Historische Inschriften. 


es gewagt hat, diese Überlieferung zu vergewaltigen, Senacherib, 
der Assur an Marduks Stelle setzen wollte und deswegen Babel 
dem Erdboden gleichgemacht hat, ist seines Erfolges nicht froh 
geworden, und noch ehe er die Augen geschlossen, ist der 
Wiederaufbau der Stadt, die Wiederherstellung der alten Ord- 
nung ins Werk gesetzt worden. Ja, kaum hundert Jahre später, 
als das assyrische Reich in Trümmer gegangen war, hat Babel 
noch einmal eine Wiederheraufführung der glänzendsten Zeiten 
seiner Geschichte gesehen; es ist wieder in Wirklichkeit die 
Hauptstadt Vorderasiens geworden. Der kräftigste Herrscher 
dieses neubabylonischen Reiches, dessen durch Nabopolassar be- 
gründete Dynastie chaldäischen Ursprungs war, ist Nebukadnezar II. 
(605 — 562). Seine Kriegszüge haben ihn siegreich durch ganz Syrien 
und nach Ägypten geführt. Lange aber hat die neue Herrlichkeit 
nicht gedauert Nabonaid hat 539 sein Reich an den Perser Cyrus 
abtreten müssen ; um 480 ist unter Xerxes Babylon abermals und 
diesmal dauernd zerstört und der Schwerpunkt des Reichs nach 
Susa verlegt worden. Der Versuch Alexanders, Babylon wieder 
in seine Rechte einzusetzen, in ihm sich einen Mittelpunkt für 
sein Weltreich, eine Legitimation seiner Weltherrschaftsansprüche 
zu schaffen, ist wegen seines vorzeitigen Todes nicht zur Aus- 
führung gekommen. 

Die Erneuerung der politischen Weltmachtstellung Baby- 
loniens gab auch der Entfaltung aller Künste des Friedens den 
stärksten Impuls. Der Reichtum, der nach den siegreichen Kriegs- 
zügen ins Land strömte, bot den Königen eine kaum auszu- 
schöpfende Hilfsquelle dar zur Bestreitung prunkvoller Palast- 
und Tempelbauten, zur Anlage von Feststraßen und -Toren, vor 
allem aber zur Herstellung gewaltiger Befestigungswerke. Nebu- 
kadnezar hat Babel zu einer vollständig neuen Stadt gemacht; 
aber auch sonst an alten Kultusstätten haben er und seine Nach- 
folger die Tempel der Götter erneuert und vermehrt. Während 
die Urkunden dieser Zeit von Krieg und Kriegsgeschrei fast voll- 
ständig schweigen, überbieten sie sich in eingehendster Schilde- 
rung der königlichen Bautätigkeit Auch Handel und Wandel 
nahmen einen gewaltigen Aufschwung, der sich in einer kaum 
übersehbaren Fülle von gerichtlichen und geschäftlichen Urkunden, 
Verträgen, Lieferungslisten, Quittungen usw. kundgibt Auch litera- 
rische Bestrebungen kamen zur Geltung. Nach dem Muster des 
assyrischen Literaturfreundes Assurbanipal sind auch im neubaby- 


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§ 54. Die historischen Inschriften der babylonischen Könige. 213 

Ionischen Reiche Denkmäler der Vergangenheit namentlich reli- 
giöser Natur immer wieder abgeschrieben worden, Private und 
Könige scheinen größere oder kleinere Bibliotheken angelegt zu 
haben. Eine ziemlich umfangreiche Sammlung von Abschriften 
uralter Texte, zum größten Teil Psalmen, ist uns aus griechischer 
Zeit überliefert. 

Ein besonders hervortretender Zug dieser Periode ist die 
antiquarische Liebhaberei, die sich erschöpft im Aufspüren alter 
Dokumente, die eine eigene Mode in der Schrift geschaffen hat 
in engster Anlehnung an alte Vorbilder. Namentlich die Hammu- 
rabizeit ist deutlich erkennbar das „goldene Zeitalter“ für diese 
Renaissanceperiode des Babyloniertums. 

2. Der literarische Charakter der babylonischen 
Königsinschriften. 

a) Altbabylonische Inschriften bis auf Hammurabi. 

Die überwiegende Mehrzahl der ältesten babylonischen 
Herrscherinschriften sind Weihinschriften, und unter diesen über- 
treffen die, welche Tempelbauten zu Ehren der Gottheit zum 
Gegenstand haben, alle anderen bedeutend. Politische Unter- 
nehmungen werden meist überhaupt nicht, wenn aber, dann fast 
immer im Zusammenhang mit Weihungen an die Gottheit er- 
wähnt, und man gewinnt den Eindruck, daß der Zweck ihrer 
Schilderung viel weniger die Verherrlichung des Königs als der 
Preis der Gottheit ist, der sie zur Ehre gerechnet werden. Die 
politischen Umwälzungen, die in der ältesten Zeit bis auf Ham- 
murabi vor sich gegangen sind, lassen sich meist nur aus dem 
Wechsel der Titulaturen der einzelnen Könige erkennen, in denen 
die Einflußsphäre,des betreffenden Herrschers offiziell umschrieben 
wird. 

Die Mehrzahl der ältesten Texte enthält nicht viel mehr als 
Namen, Genealogie und Titel der Könige, Bezeichnung der Weih- 
gegenstände und der Gottheit, für die sie bestimmt sind, der 
Tempel, die zu Ehren der Gottheit erbaut oder erneuert worden 
sind ; einigemale ist von Kanalbauten die Rede. Kleinere Weih- 
gegenstände werden meist nicht genannt, wenn nicht die In- 
schrift selbst an ihnen angebracht ist, wie bei der berühmten 
silbernen Vase 1 des Entemena und den Statuen des Gudea. 

1 Vgl. die Abbildung Decouvertes S. 43 und Delitzsch, Babel und 
Bibel III S. 4. Zum Text vgl. Thureau-Dangin, VAB I, S. 34 h. 


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214 


Kap. 15: Historische Inschriften. 


Die Weihinschrift auf der Vase lautet: 

An Ningirsu, den Helden Bels. Entemena, Patesi von La- 
gasch, den Nina erwählt hat, der Großpatesi des Ningirsu, 
der Sohn des Enannatum, des Patesi von Lagasch hat dem 
König, der ihn liebt, dem Ningirsu, diese Vase von glänzen- 
dem Silber, wie es Ningirsu befohlen hat, anfertigen lassen: 
Für die Erhaltung seines Lebens hat er sie dem Ningirsu im 
Tempel Eninnü dargebracht. Damals war Dudu Priester des 
Ningirsu. 

Als Beispiel einer reinen Bauinschrift sei erwähnt ein Text 
des Ur-nina, des ältesten bekannten Herrschers von Lagasch 
Ur-nina, König von Lagasch, Sohn des Gunidu, Sohns des Gursar- 
Den Tempel des Ningursu hat er gebaut, den Tempel der 
Nina hat er gebaut, den Tempel der Gatumdug hat er ge- 
baut, das Hochzeitshaus hat er gebaut, den Tempel derNin- 
mar ki hat er gebaut, aus allerlei Holzarten vom Gebirge Mä- 
al (?) hat er das Ib-gal (in Eanna) gebaut, das Ki-nir hat er 
gebaut, das E-pa hat er gebaut. 

Politische Ereignisse spielen eine große Rolle nur in wenigen 
ausführlichen Inschriften der alten Herrscher, des Eannatum, des 
Urhebers der berühmten Geierstele®, des Entemena von Lagasch 
und des Lugalzaggisi von Erech. Sonst werden sie nur in 
allgemeinen Wendungen gelegentlich erwähnt, so von einem Un- 
bekannten und von Lugalkigubnidudu, Königen „des Landes“ 
(VAB I, 153, 157) und von Uru-mu-usch von Kisch (ib. 163). 

ln der Geierstele heißt es z. B. : 

Eannatum bin ich, die Geisel des Sonnengottes, der König von 
Glanz umstrahlt. Den Leuten von Gisch-uch habe ich Eide 
geschworen und Verträge mit ihnen abgeschlossen. Die 
Leute von Gisch-uch haben dem Eannatum Eide geschworen, 
beim Namen des Sonnengottes haben sie geschworen. 

Es folgt die Erwähnung eines Kanalbaues zum Schutz seines 
Landes, dann neue Vertragsschlüsse mit den Leuten von Gisch-uch 
unter feierlichen Opferzeremonien. 

In einer anderen Inschrift® desselben Herrschers heißt es: 
An Ningirsu Eannatum, Patesi von Lagasch, der Berufene Bels, 
dem Macht verliehen war von Ningirsu, der Erwählte der 
Nina, den mit der Milch des Lebens genährt hat Nincharsag, 
den mit gutem Namen genannt Inanna, dem Verstand verliehen 
Ea, der Geliebte der Göttin Dumu-zi-abzu, derAbarakku des 
Pasag, der geliebte Freund des Lugalerim, der Sohn des 


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1 Thureau-Dangin, VAB I, S. 6f. 1. 

4 Radau, S. 75 ff. Thureau-Dangin, 1. c. S. 10 ff. 
* Radau, S. 83ff. Thureau-Dangin, 1. c. S. 20ff. 


§54. Die historisdien Inschriften der babylonischen Könige. 215 

Akurgal, der Patesi von Lagasch. Für Ningirsu hat er Oirsu 
erneuert, die Mauer von Uruazagga gebaut; für Nina hat er 
Nina erbaut. Eannatum unterwarf .... Elam, das staunen- 
erregende Gebirge, er häufte auf (Leichenhügel) usw. Es 
folgen die Kriegstaten, alle unter dem Zeichen seines Gottes 
Ningirsu vollbracht. 

Zum Schluß wird erwähnt die Anlage eines Bassins für Ningirsu 
und der Bau des Tempels Tirasch. 

Die Schlußworte lauten: 

Er (Eannatum) ist der Sohn des Akurgal, des Patesi von Lagasch, 
sein Vorfahre ist Urnina, Patesi von Lagasch. 

Weitaus die meisten und umfangreichsten Herrscherinschriften 
aus der Zeit vor Hammurabi sind von Gudea, Patesi von 
Lagasch (ca. 2600 v. Chr.) erhalten, ln ihnen prägt sich auch äußer- 
lich eine unverhältnismäßig hohe Blüte alles kulturellen Lebens aus. 
Diese Zeit hat die schönsten Kunstdenkmale geschaffen, deren 
Vollkommenheit nie wieder in Babylonien erreicht worden ist. 
Zu seinen prunkvollen Bauten hat dieser Herrscher das Material 
bis aus Phönizien und Arabien bezogen. Auf die friedlichen 
Züge und Seefahrten, die zu diesem Zwecke von ihm unter- 
nommen worden sind, beziehen sich alle positiven, historisch 
interessanten Angaben seiner zahlreichen Inschriften. Von kriege- 
rischen Unternehmungen ist in ihnen mit einer einzigen Ausnahme 
(Statue B VI, 64 — 69, Eroberung von Anschan in Nordelam) 
nirgends die Rede. 

Die eigenartigsten Inschriften dieses Herrschers sind die 
zwei großen, ca. 800 bzw. 500 Zeilen enthaltenden Ton- 
zylinderinschriften, die, seit 1877 bekannt und im Louvre zu 
Paris aufgestellt, erst in allerjüngster Zeit durch den Scharfsinn 
Thureau-Dangins verständlich geworden sind 1 . 

Sie erzählen beide die Baugeschichte des Ningirsutempels 
Eninnu in Girsu. Einen breiten Raum nehmen dabei die Er- 
zählungen von Traumgesichten ein, in denen Gudea alle Einzel- 
heiten des Baues, sein Grundriß, seine Maße, das Material usw. 
genau vorgeschrieben werden. Jedem neuen Traumgesicht folgt 
ein Gebet an Ningirsu, Gatumdug oder Nina um Auslegung des 
Traumes, die auch in lang ausgesponnener direkter Rede von der 
Gottheit gewährt wird. 


1 Vgl. Thureau-Dangin, VAB I, 88 ff. 


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216 


Kap. 15: Historische Inschriften. 


Die beiden Zylinderinschriften verdienen in verschiedener 
Beziehung eine ausführlichere Behandlung auch an dieser Stelle 1 . 

1. Zylinder A. 

Der Anfang enthält nach der Zeitbestimmung: 

Zur Zeit, wo im Himmel und auf Erden die Geschicke bestimmt 
wurden, wurden Lagasch’ große Bestimmungen zum Himmel 
erhoben 

deren Einkleidung die im Epos wie auch in babylonischen 
Königsinschriften bis in späte Zeit beliebte Formel aufweist, 
eine Art „Prolog im Himmel“: Bel und Ningirsu kommen in 
kurzer Zwiesprache zu dem Entschluß, daß der künftige Tempel, 
Eninnü (= Haus der Zahl 50, die sowohl Bel als Ningirsu- 
Ninib repräsentiert), bzw. seine „Bestimmungen“ angesehen sein 
sollen im Himmel und auf Erden. 

Gudea, der Patesi von Lagasch, erhält von Ningirsu den 
Befehl, den Tempel zu bauen. Ein Traumgesicht aber treibt ihn 
um, da er seine Lösung nicht nennt. Zuerst tritt er vor Ningirsu 
(vgl. oben S. 127), dann vor Gatumdug und bittet, daß sie Nina 
geneigt machen möchten, ihm den Traum zu deuten. Durch 
das Wohlwollen dieser Götter ermutigt, wallfahrtet er zur Göttin 
Nina und trägt ihr seinen Traum vor (4, 14 — 5, 11): 

„Im Traume hat ein Mann, dessen Wuchs erreichte den Himmel, 
dessen Wuchs erreichte die Erde, welcher nach der Tiara 
seines Hauptes ein Gott war, an dessen Seite der göttliche 
Vogel Im-gig war, zu dessen Füßen ein Sturm war, zu dessen 
Rechten und Linken ein Löwe gelagert war, mir befohlen, 
sein Haus zu bauen: ich habe ihn nicht erkannt. Die Sonne 
erhob sich von der Erde. Ein Weib — wer war sie nicht (?), 

wer war sie? — , sie hielt in der Hand einen reinen 

Schreibgriffel, sie trug die Tafel des guten Gestirns des 
Himmels, sie hielt Rat mit sich selbst. Ein zweiter Mann 
wie ein Krieger, . . . . : er hielt in der Hand eine Tafel aus 
Blaustein, er entwarf den Umriß eines Tempels. Vor mir 
war das reine Tragpolster gelegt, die reine (Ziegel-) Form 
war (darauf) gestellt; der Backstein des Schicksals war in der 

Form. Das heilige . . . ., welches vor mir gelegt, 

Ein Esel war gelagert (?) auf der Erde zur Rechten meines 
Königs.“ 

Alsbald deutet Nina den Traum (5,12 — 7,8): Der erste 
Mann sei Ningirsu, die Sonne: Ningischzida, das junge Weib: 

1 Die folgenden Ausführungen fußen auf der von Thureau-Dangin, 
VAB I S. 88 ff. gegebenen Transkription und Übersetzung. 


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§54. Die historischen Inschriften der babylonischen Könige. 217 

Nisaba, die ihm „den reinen Stern der Erbauung des Tempels“ 
ankündige. Der zweite Mann sei Nin-dub: von ihm stamme der 
Entwurf des Tempels; durch Tragpolster, Form und Backstein 
werde „der heilige Backstein des Eninnü“ angedeutet. Der Esel 
endlich sei Gudea selber : wie jener zur Rechten des Königs, so 
werde er sich im Eninnü auf die Erde legen (?). An die Deutung 
des Traumes knüpft Nina Anweisungen allgemeiner Art für den 
Bau selbst und Verheißung des Segens von Seiten Ningirsus. 

Wörtlich befolgt Gudea die gegebenen Weisungen. Die 
Formel, mit der stets in diesen Inschriften die Wirkung der 
göttlichen Befehle auf Gudea angedeutet wird, lautet: 

Der rechtmäßige Hirte Oudea war voller Weisheit und trug sich 
mit Größe : Den Worten, die ihm Nina gesagt, neigte er das 
Haupt. 

Im Verlauf der Vorbereitungen hat Gudea bald wieder Ver- 
anlassung, Ningirsu um Weisung durch ein Vorzeichen zu bitten 
(8,15 — 9,4). Wieder wird ihm die Antwort im Traumgesicht 
(9,5 — 12,11). Ningirsu verheißt ihm ein Vorzeichen „durch den 
reinen Stern des Himmels“ und schildert in glänzenden Worten 
die Pracht des erstehenden Tempels, bezeichnet seine einzelnen 
Teile und ihre Bestimmungen und knüpft daran Verheißungen 
für das ganze Land: 

Wenn die Grundlagen meines Tempels gelegt werden, dann soll 
der Überfluß kommen. Die großen Felder sollen dir hervor- 
bringen (Frucht), (die Wasser der) Gräben und Kanäle sollen 
steigen. Aus Bodenspalten, aus denen das Wasser nicht mehr 
quoll, soll Wasser quellen. In Sumer soll das Öl im Über- 
fluß ausgegossen werden, die Wolle im Überfluß abgewogen 
werden usw. 

Zum Schluß gibt er ihm das „Zeichen“ an : 

An diesem Tage wird deine Hand getroffen werden von einer 
Flamme: (Das ist; mein Zeichen; mögest du es erkennen! 

Die Vorbereitungen zum Bau des Heiligtums lösen in Gudea 
einen mächtigen religiösen Eifer aus, der seine Wirkung auch in 
der ganzen Stadt äußert. Eine Art heiliger Gottesfriede liegt 
über dem ganzen Gemeinwesen (12, 12 — 14, 6): Er entsühnte 
seine Stadt wie einen Menschen und war ihr im Herzen zugetan 
wie ein Kind seiner Mutter; er beseitigte die Rechtsstreite: 

Die Mutter sprach nicht mehr (Böses) zu ihrem Kinde; dem 
Kinde, das der Mutter davon lief, sagte seine Mutter kein 
(Schelt)wort. Den Diener, der etwas begangen hatte (?), 


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218 


Kap. 15: Historische Inschriften. 


schlug sein Herr nicht ins Gesicht. Die Magd, die eine Übel- 
tat begangen hatte, schlug ihre Herrin nicht ins Gesicht 1 , 
Vor den Patesi, den Erbauer von Eninnfi, Gudea, brachte 
niemand einen Rechtsstreit. 

Tag und Nacht wurden Gebete veranstaltet, und „freudig 
handelte der rechtmäßige Hirte Gudea“. Nunmehr folgen 
eine Anzahl von Stiftungen (14,7 — 27), Beschaffung des Bau- 
materials von Elam, Susa, Magan, Meluchcha (Arabien) und aus 
anderen fernen Gegenden (14, 28 — 16, 24), Anweisung von 
Unterkunftsgelegenheiten für die Handwerksleute (16, 25 — 30). 
Ein weiterer Abschnitt (17,7 — 18,4) schildert von neuem das 
Verhalten Gudeas in dieser heiligen Vorbereitungszeit. Darnach 
wird die Form des Backsteins (18, 5 — 29), dann der Backstein 
selbst (19, 1 — 19) für den Bau unter feierlichen Opfern geweiht 
und der Grundriß des Tempels festgestellt (19, 20 — 21). 

Gudea geht vollständig auf in dem gewaltigen Werk, das 
er zur Ehre seines Gottes unternommen hat (19, 22 — 28): 

Wie ein junger Mann, der neu ein Haus erbaut, ließ er vor sich 
kein Vergnügen hereinkommen. 

Wie eine Kuh, die ihre Augen hinwendet zu ihrem Kalbe, rich- 
tete er (alle seine) Liebe (?) auf den Tempel. 

Wie ein Mann, der wenig Speise in den Mund tut, wurde er 
nicht müde einherzugehen. 

Wiederum wird Gudeas Verhalten in dieser Zeit ähnlich 
wie schon oben zweimal geschildert (20, 1 — 14) und dann die 
Mitwirkung der Götter beim Tempelbau kurz umschrieben (20, 
15—20): 

Des Tempels Grundlage stellte fest (?) Ea; Nina, das Kind von 
Eridu, richtete ihre Sorge auf die Orakel (des Tempels). Die 
Mutter von Lagasch, die reine Gatumdug, fertigte seine Back- 
steine früh und abends; Ba-u, die Königin, die vornehmste 
Tochter Anus, besprengte ihn mit duftendem Zedemöl. 

Einsetzung der Priesterschaft (20, 21 — 22), Aufstellung der 
Anunnaki (20, 23). Darnach folgt die feierliche Grundsteinlegung. 
Sieben Segnungen werden dabei in kurzen Sprüchen dem Tempel 
gewidmet 8 (20, 24 — 21, 12). Dann werden die einzelnen Archi- 
tekturteile namhaft gemacht und ihre Wirkung auf den Beschauer 
gekennzeichnet (21,1 3 — 23, 7). Dann gelangen sechs s Stelen, 

1 Beachte den Parallelismus der Glieder. 

3 Ganz ähnlich den beim Hammerschlag heute noch üblichen 
Wünschen für den Bau. 

3 Vgl. aber 29,1, wo von sieben Stelen die Rede ist. 


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§ 54. Die historischen Inschriften der babylonischen Könige. 219 

deren jede einen besonderen Namen trägt, zur Aufstellung 
(23, 8 — 24, 7). Nach einer allgemein gehaltenen poetischen Ver- 
herrlichung des Tempelbaues (24, 8 — 25, 21) werden die Stand- 
örter von allerhand Emblemen und die mythologischen Be- 
ziehungen einzelner Architekturteile aufgezeigt (25, 24 — 27, 5). 

Wiederum folgt eine poetische Schilderung des Tempels als 
Ganzes und seiner einzelnen Teile (27, 6 — 28, 2), die Bestimmung 
der einzelnen Räumlichkeiten im Tempel wird festgesetzt (28, 3 
— 29, 12). Den Schluß bildet nach einer neuerlichen Verherr- 
lichung des Tempels ein kurzes Schlußgebet (29,13 — 30,16): 

Gleich dem Ekur, dem Tempel Bels 1 , wenn die Feste darin statt 
finden (?), bekleidete des Tempels Glanz das Land. Ehrfurcht 
vor ihm empfand die Welt; des Eninnü Glanz bedeckte die 
Länder wie ein Mantel. Der Tempel des Königs ist mit 
Pracht erbaut ; Ningischzida hat erbaut seinen Unterbau, 
Gudea, Patesi von Lagasch, hat befestigt sein Fundament. 
Den Tempel, der wie der Sonnengott strahlt im Land, der 
wie ein Freudenfeuer alle Dinge erleuchtet, der wie ein 
schöner Berg mit Fülle bedeckt ist, der dasteht zur Bewunde- 
rung: diesen Tempel, Eninnü, der an seinem Platz wieder- 
hergestellt ist, o Ningirsu, verherrliche ihn ; den Tempel 
Ningirsus verherrliche während seines Baues! 

2. Zylinder B. 

Hier mag eine kurze Inhaltsangabe genügen. Der Tempel 
wird hier als vollendet vorausgesetzt. 

Z. 1, 1 — 11: Preis des Tempels; 1, 12 — 19: Ergänzung 
seiner Ausstattung, 1,20 — 2,6: Gebet Gudeas an die Anunnaki- 
tstatuen) im Tempel, 2, 6 — 3, 1 : Gebet an Ningirsu, Gelöbnis, die 
Göttin Ba-u im Tempel einzuführen. 3,2 — 6,8: Die Zeit des 
Einzugs naht, Vorbereitungen im Tempel, Gottesfriede im Lande, 
Einzug des Ningirsu und der Ba-u, Opferfeier. 6, 9 — 12, 25 
Aufstellung von zahlreichen Götterbildern im Tempel unter aus- 
führlicher Motivierung für jeden einzelnen Fall. Ein ganzer 
Hofstaat 2 findet sich zusammen. 1 2, 26 — 1 3, 1 0 : Die Götter segnen 
den Bau und sind ihm gewogen. 13,13 — 16,4: Gudea bringt 
Geschenke zum Tempel und ergänzt seine Ausstattung. 16, 5 
— 17, 11: Schilderung des Tempels und seiner Teile. 17, 12 — 16: 


1 ln Nippur. 

1 Vgl. den Hofstaat Marduks, dazu Zimmern in ZDMO 53, 1 18 f . 


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220 


Kap. 15: Historische Inschriften. 


Preis Gudeas als des Erbauers des Tempels. 17, 17 — 18, 16 
Einzug im Tempel, Gottesfriede im Lande während sieben Tagen: 

Während sieben Tagen war gleich die Magd ihrer Herrin; der 
Sklave und der Herr gingen einander zur Seite. In seiner 
Stadt lagen der Mächtige und der Niedrige einander zur 
Seite. Auf der bösen Zunge wurden die (schlechten) Worte 
geändert (in gute); alles Üble vom Tempel beseitigte er. Auf 
die Gesetze Ninas und Ningirsus richtete er sein Augen- 
merk (?). Der Waise [tat der Reiche] kein [Unrecht], der 
W[itwe tat] der Mä[chtige kein Unrecht]. Im Haus, wo kein 
[männliches] Kind [war], [brachte] die T[ochter Fett] vom 
Hammel [zum Brennen] usw. 

Der von nun an ziemlich lückenhafte Text gedenkt zunächst 
einer von Gudea veranstalteten Opferfeier (18, 17 — 20, 14). 
Darnach wird den Backsteinen „das Geschick bestimmt“ (20, 15 
— 21, 19), und es folgen zahlreiche Verheißungen für den Tempel, 
das ganze Land und für Gudea (21, 20 — 24, 8). Den Schluß 
bildet wiederum ein Gebet um Bewahrung des Tempels (24,9 — 17). 

Am bekanntesten sind seit langem die sog. Statueninschriften 
des Gudea, auf Dioritblöcke eingemeißelt, die den Herrscher 
stehend oder sitzend, immer in betender Stellung darstellen 1 . 
Nicht weniger als 1 1 Exemplare sind bisher aufgefunden worden. 
Von allen außer der Statue ,J“ fehlen jedoch die Köpfe. Doch 
sind einige andere Köpfe wieder aufgefunden worden, zu denen 
aber der zugehörige Torso noch nicht gefunden ist. Auch 
alle diese Inschriften sind ausschließlich Weihinschriften 9 . 

Die Inschrift der Statue H 3 , die Weihung der Statue an 
Ba-u erzählend, lautet: 

An Ba-u, die gnadenreiche Frau, die Tochter Anus, die Herrin 
von Uruazagga, die Herrin des Überflusses, die Tochter des 
strahlenden Himmels, Gudea, der Patesi von Lagasch. Als er 
Sil-Sir-Sir, ihren geliebten Tempel, die Zierde von Uruazagga, 
baute, hat er aus dem Gebirge von Magan 4 Diorit herbei- 
geschafft; zu dieser Statue hat er ihn gemeißelt. „Die Herrin, 
das geliebte Kind des strahlenden Himmels, die Mutter Ba-u, 
aus dem Tempel Sil-Sir-Sir heraus hat sie Leben geschenkt 


1 Vgl. Abbildungen bei Delitzsch, Babel-Bibel III, S. 6. 

1 KB III, 1, 26 ff.; Radau, Early Bab. History, S. 1 87 ff. ; Thureau- 
Dangin, VAB I, S. 66 ff.: hier genaue Literaturnachweise. 

3 Radau, 1. c. S. 209. Thureau-Dangin, VAB I, 84 ff. 

4 D. i. Ostarabien. 


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§ 54. Die historischen Inschriften der babylonischen Könige. 221 

dem Gudea“ 1 nannte er ihren Namen. In den Tempel von 
Uruazagga brachte er sie. 

Alle bisher erörterten Inschriften sind in sumerischer Sprache 
abgefaßt. Von semitisch abgefaßten Königsinschriften sind aus 
der Zeit vor der Hammurabi-Dynastie bisher nur wenige bekannt 
geworden, so vor allem die Urkunden der beiden ältesten nord- 
babylonischen Herrscher, Sargon von Agade und seines Sohnes 
Naramsin. Eine kurze Probe 2 mag diese ältesten semitischen 
Texte charakterisieren: 

An Bel, seinen großen Herrn, Scharganischarali 3 , der mächtige, 
der König von Agade, der Erbauer von Ekur, dem Tempel 
Bels in Nippur. Wer immer diese Inschrift zerstört, dem 
mögen Bel, Samas und Istar das Fundament seines (Hauses) 
stürzen und seinen Samen mögen sie austilgen. 

b) Die babylonischen Königsinschriften seit Hammurabi. 

Hammurabi hat „die Übermacht Marduks errungen“; er hat 
Süd- und Nordbabylonien dauernd politisch geeint, dem Reich 
in Babel für alle Zeiten den Mittelpunkt gegeben, durch sein 
Gesetzbuch die Rechtsordnung festgelegt, ein mustergültiges Ver- 
waltungssystem im ganzen Land zur Geltung gebracht, durch 
den Bau von Kanälen die Fruchtbarkeit an allen Orten gefördert, 
den Wohlstand gemehrt und so die materiellen Vorbedingungen 
geschaffen, daß in Babel alle kulturellen Errungenschaften der 
Vergangenheit wie in einem Punkte sich zusammenschlossen. 
Babel war von da an für alle Zeiten der altorientalischen Ge- 
schichte der Mittelpunkt der Welt, tonangebend in allen Fragen 
des politischen, kulturellen und religiösen Lebens. Auch als es 
die politische Vormachtstellung faktisch eingebüßt hatte, hat es 
doch seinen Ansprüchen stets Achtung zu erzwingen gewußt 
Die Priesterschaft Marduks hat ihrem Gott die ihm von Hammu- 
rabi errungene Übermacht nie entreißen lassen. 

Der literarische Charakter der Inschriften Hammurabis und 
seiner Nachfolger ist im wesentlichen derselbe wie der der In- 
schriften der älteren Könige. Sie verraten eine ausgesprochen reli- 
giöse Grundstimmung, auch wenn sie nicht direkt als Weihinschriften 
sich geben. Die Werke des Friedens überwiegen in ihnen sowohl 

1 Dieser Satz ist der Name der Statue; die meisten anderen 
Statuen Gudeas haben ähnliche Namen. 

* Radau, 1. c. S. 167. Thureau-Dangin, VAB I, S. 163, e. 

* Der volle Name des Königs Sargon. 


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222 


Kap. 15: Historische Inschriften. 


wie in jenen, obgleich kriegerische Unternehmungen die späteren 
Könige wenigstens ebensosehr beschäftigten wie die Fürsten der Vor- 
zeit. Ihrer wird nur beiläufig Erwähnung getan; die Detailschilde- 
rungen von Feldzügen, Schlachten und Belagerungen, die den assy- 
rischen Königsinschriften ihr eigenartiges Gepräge geben, fehlen 
vollständig. Die babylonischen Königsinschriften tragen vielmehr 
einen durchaus epischen Charakter. Das tritt auch äußerlich hervor, 
indem nach der Aufzählung der Titel und nach dem Preis der 
Taten und Tugenden des Herrschers entsprechend dem National- 
epos Babylons, dem Weltschöpfungsepos, die Berichte über die 
kriegerischen Unternehmungen, die Bauten, die kultischen Ver- 
anstaltungen usw. gerne, bei manchen Königen regelmäßig, durch 
die Worte „als Marduk . “ oder ähnlich eingeleitet werden. 

Von der langen Reihe der babylonischen Könige seit der 
Hammurabi-Dynastie bis zur spätesten Zeit sind verhältnismäßig 
nur sehr wenige durch eigene größere offizielle Urkunden ver- 
treten ; von den unmittelbaren Nachfolgern Hammurabis nur 
Samsuiluna (KB III, 1, 131 ff.), von den elf Herrschern der sog. 
zweiten Dynastie gar keiner, von der Kassiten-Dynastie Agum- 
kakrime und die Könige der Tel-el-Amarnazeit; aus der nun fol- 
genden Dynastie von Pasche (ca. 1000) nur Nebukadnezar I. (KB 
III, 1, 165 ff.). Von späteren Königen hat sich erst wieder von 
Merodachbaladan II. (721 — 710) eine größere Inschrift erhalten. 
Zahlreicher werden die historischen Königsinschriften erst von 
Samassumukin (668 — 648) an, dessen Regierung die neube- 
gründete Selbständigkeit und das Wiederaufblühen der alten 
Macht und Herrlichkeit Babels einleitet Eine außerordentliche 
Anzahl von Urkunden zum Teil größten Umfangs ist von Nebu- 
kadnezar II., dem kräftigsten König des neubabylonischen Reiches, 
überliefert; auch Nabonaid, der letzte Babylonier-König aus semi- 
tischem Blut hat eine große Zahl von Inschriften hinterlassen. 
Beide huldigen in Schrift und Ausdrucksform ihrer Urkunden 
archaistischen Neigungen. Von den persischen und griechischen 
Erben des babylonischen Reiches seien die Tonzylinderinschriften 
des Cyrus (538 — 529) und des Antiochus Soter (280 — 260) er- 
wähnt, die den Stil der eingeborenen babylonischen Herrscher 
treulich festhalten. 

Als Beispiele babylonischer Inschriften mögen eine von 
Hammurabi und ein Auszug aus einer Inschrift Nabonaids dienen. 


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§ 54. Die historischen Inschriften der babylonischen Könige. 223 

1. Die sog. Louvre-Inschrift I lautet 1 : 

Hammurabi, der mächtige König, der König von Babel, ein König, 
der die vier Weltgegenden hörig gemacht, der die Übermacht 
Marduks errungen, der Hirte, der seinem Herzen wohltut, 
bin ich. Als Anu nnd Bel mir das Land Sumer und Akkad 
zum Beherrschen übergaben und ihre Zügel in meine Hand 
legten, da grub ich den Hammurabi-Kanal usw. ... Im Land 
Sumer und Akkad sammelte ich die zersprengte Bevölkerung, 
Speise und Trank verschaffte ich ihnen, mit Überfluß und 
Fülle „weidete“ ich sie, in geruhiger Wohnung ließ ich sie 
wohnen. Dann erbaute ich, Hammurabi, der mächtige König, 
der Liebling der Götter in der wuchtigen Kraft, die Marduk 
verliehen hat, eine hochragende Burg aus großen Erdmassen, 
so daß ihre beiden Spitzen wie Berge in die Höhe ragten, am 
Kopfende des Hammurabi-Kanals zum Segen für die Mensch- 
heit. Diese Burg benannte ich „Sinmuballit, mein Vater, 
mein Erzeuger“, (und so) ließ ich das Gedächtnis des Sinmu- 
ballit, des Vaters, meines Erzeugers, in den (vier) Weltteilen 
wohnen. 

2. Zylinderinschrift Nabonaid’s 8 : 

Nabunaid, der König von Babel, der ausgestattet hat Esagil 
und Ezida, der erhabene Fürst, dem am Herzen liegen die 
Heiligtümer der großen Götter .... es folgen neun ausführ- 
liche Epitheta in maiorem gloriam regis .... Der Sohn des 
Nabubalatsuiqbi, des weisen Fürsten, bin ich. Als Marduk, 
der große Herr, mir die Herrschaft über sein Land anver- 
traut, die Ausstattung der Städte, die Fmeuerung der Heilig- 
tümer in meine Hand gelegt hatte, ließ ich nicht ab von den 
Ausstattungen von Esagil und Ezida usw. Es folgen die 
Schilderungen der Bautätigkeit. Beim Wiederaufbau des 
Samastempels in Sippur entdeckt er den Grundstein Naram- 
sins von Agade. Um die Tempel des Samas und Adad, „der 
Herren der Wahrsagekunst“, würdig auszustatten, holt er die 
Vorschriften dieser Götter durch Befragung der Wahrsage 
priester ein; wörtliche Auszüge und Omentexte werden ein- 
geflochten. Den Beschluß des Textes bildet ein Gebet an 
Samas um langes Leben, reichliche Nachkommenschaft, und 
er verspricht, „die Fülle der vier Weltgegenden, den Überfluß 
des Meeres, den Reichtum der Berge und Länder alljährlich 
in Esagil, dem Tempel Himmels und der Erde, darzubringen 
und schließt mit den Worten: „Ich bin der König, der Aus- 
statter und Erneuerer der Heiligtümer der großen Götter für 
ewige Zeit“. 


* Vgl. KB III, 1 S. 122 ff. 

* V R 63, vgl. KB 111,2 S. 112ff. 


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224 Kap. 15: Historische Inschriften. 

§ 55. Die historischen Inschriften der assyrischen Könige. 

1. Geschichtlicher Überblick. 

Die Stadt Assur wird zum erstenmal in der Einleitung zum 
Kodex Hammurabi erwähnt. Hammurabi hat der offenbar zer- 
stört gewesenen Stadt ihren Schutzgott und damit ihr Stadtrecht 
wiedergegeben, also die Oberhoheit über die Stadt ausgeübt. 
Erst im siebzehnten Jahrhundert nennen sich die Herrscher von 
Assur, anstatt wie bis dahin „Patesi“, Könige von Assyrien. Erst 
um diese Zeit scheint sich infolge der Schwächung Babyloniens 
durch die kassitische Invasion und des Aufkommens der Mitanni 
in Mesopotamien die Selbständigkeit Assurs und die allmähliche 
Erweiterung seines Herrschaftsbesitzes durchgesetzt zu haben. 
Aber noch in der Tel-el-Amarnazeit ist Ninive, die nachmalige 
Hauptstadt, im Besitz der Mitannifürsten. Über die älteste 
Periode der assyrischen Geschichte versprechen die jüngsten Aus- 
grabungen der Deutschen Orientgesellschaft wichtige und zahl- 
reiche gleichzeitige Urkunden. Bis jetzt ist die Zahl der be- 
kannten Herrscherinschriften aus der ältesten Zeit nur sehr gering. 
Die ersten umfangreichen Urkunden stammen aus der Zeit Adad- 
niraris I. und Salmanassars I. (ca. 1300). Mit diesen Königen 
beginnt aber auch erst die Zeit der assyrischen Eroberungen in 
größerem Stil. Kämpfe haben auch die Vorgänger reichlich zu 
bestehen gehabt. Der Gegensatz zu Babel drängt schon seit 
etwa 1 500 v. Chr. zu immer wiederkehrenden kriegerischen Aus- 
einandersetzungen, desgleichen die Unsicherheit der Grenz- 
bestimmung zwischen beiden Reichen zu häufigen Vertragsab- 
schlüssen. Die ersten Kriegszüge wenden sich gegen die Mitanni- 
völker in Mesopotamien bis weithin im Antitaurus, gegen die 
an den Grenzen streifenden Nomadenhorden und gegen Baby- 
lonien. Adad-nirari I. hat die Mitanni endgiitig niedergeworfen und 
damit ganz Mesopotamien zu seinem Reiche geschlagen. Sal- 
manassar I. ist gegen die Nomadenhorden erfolgreich gewesen 
und hat Syrien bis nach Karkemisch hin erobert; er hat auch 
zum ersten Male die Nairiländer im nordöstlichsten Kleinasien bis 
zum Wan- und Urmiasee bekriegt Feldzüge nach Syrien, Klein- 
asien, die Nairiländer, die Osttigrisländer, gegen die Nomaden- 
horden an den Westgrenzen des Reiches, vor allem aber gegen 
Babylonien und zuletzt gegen Elam bilden das immer wieder- 
kehrende Thema fast aller assyrischen Königsinschriften bis in 


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§ 55. Die historischen Inschriften der assyrischen Könige. 225 

die letzten Zeiten des Reiches. Die Höhepunkte der assyrischen 
Geschichte, die größte Ausdehnung des Reiches werden unter 
Tiglatpileser I. (ca. 1100), Assurnagirpal und Salmanassar 11. 
(885 — 825), Adad-nirari III. (812 — 783), dann nach einer langen 
Periode politischen Niedergangs unter Tiglatpileser III. (745 — 
728) und vor allem unter Sargon (722 — 705) erreicht. Bei Sar- 
gons Tod steht Assyrien auf dem Gipfel seiner Macht und ge- 
bietet unwidersprochen vom Mittelmeer bis zum Osttigrisgebiet, 
von den arabischen Steppenländem bis zum Taurus, vor allem 
aber ist Babylonien in unbestrittenem Besitz des Assyrerkönigs. 
Von da ab ist die politische Machtstellung unaufhaltsam zurück- 
gegangen. Senacherib, der Mann der großen Entwürfe und der 
unzureichenden Mittel, hat der Zersetzung der assyrischen 
Macht gründlicher vorgearbeitet, als es die mächtigsten Feinde 
vermocht hätten, er, der davon geträumt hatte, das Zentrum 
der Welt von Babel nach seiner Stadt Ninive zu verlegen. Im 
Mittelpunkt seiner Regierung steht die Niederbrennung der alten 
Mardukstadt. Sie sollte ihm die Bahn frei machen für die Durch- 
führung seiner neuen Weltordnung, ist ihm aber zum Verhängnis 
geworden. Seine Nachfolger haben Babel wieder aufgebaut und 
seine historischen Rechte anerkannt Wohl haben noch Senache- 
ribs Nachfolger Assarhaddon und Assurbanipal große Erfolge 
errungen, namentlich gegen Ägypten und Arabien, während der 
Norden und Kleinasien von ihnen den eindringenden Indoger- 
manen überlassen werden mußte. Aber auch ihre Erfolge hatten 
keinen Bestand. Ägypten z. B. war kaum sieben Jahre, und nicht 
einmal während dieser Zeit dauernd, unter assyrischer Oberherr- 
schaft. Assurbanipal ist es wohl auch gelungen, Elam zu ver- 
nichten, aber das assyrische Reich war innerlich so morsch geworden, 
daß es kaum 20 Jahre nach Assurbanipals Tod den Medern an- 
heimfiel und damit endgültig aufhörte, eine selbständige Rolle zu 
spielen. Das Land fällt Babylonien anheim, das noch einmal für 
kurze Zeit die „Weltherrschaft“, die Oberhoheit über den ganzen 
vorderen Orient, erlangt. 

Das Jahrhundert des Verfalls der politischen Macht Assyriens 
war aber gleichzeitig eine Zeit außerordentlicher Belebung aller 
literarischen Bestrebungen. Zwar ist in dieser Zeit nichts Neues 
geschaffen worden ; das Streben war ausschließlich auf die Samm- 
lung des Überlieferten gerichtet, und wenn auch dieses eminent 
literarische Zeitalter seine Wirkung auf die zeitgenössische Schrift- 
Weber, Litermtur. 15 


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226 


Kap. 15: Historische Inschriften. 


Stellerei ausgeübt hat, so wurde doch nur eine Wiederbelebung 
alter, und nicht assyrischer, sondern babylonischer Vorbilder er- 
reicht. Die innige politische Verbindung mit Babylonien führte 
auch zu einer geistigen Annäherung der so grundverschiedenen 
Völkerindividualitäten. Aber zu neuen selbständigen Schöpfungen, 
ja auch nur dazu, den künstlerischen Erzeugnissen der Vergangen- 
heit in der Reproduktion den eigenen Charakter aufzuprägen, ist 
es nie gekommen. Die Beschäftigung mit ihnen ist stets nur 
eine antiquarisch-philologische geblieben. Wie die politische 
Energie, so hat auch die geistige Volkskraft kläglich versagt. 

2. Der literarische Charakter der assyrischen 
Königsinschriften. 

Die grundverschiedenen Anlagen der beiden Völker, der 
Babylonier und Assyrer, kommen auch in den offiziellen Königs- 
inschriften zu deutlichem Ausdruck. Babylonien, der Kulturstaat, 
der seine wichtigsten Aufgaben in der Pflege der Werke des 
Friedens sieht, hat auch ein Interesse daran, der Nachwelt nicht 
ein anders geartetes Bild seiner öffentlichen Betätigung zu ver- 
mitteln. In seinen Inschriften wird der Feldzüge, die zur Siche- 
rung der Grenzen und Wahrung der Ordnung geführt werden 
mußten, nur gelegentlich und als vollendeter Tatsachen gedacht 
Eine Schilderung ihres Verlaufs im einzelnen, die den König als 
Kriegshelden in grelle Beleuchtung zu setzen sucht, widerspricht 
vollständig der Auffassung des königlichen Berufes und der Vor- 
stellung, in der er in der Nachwelt fortleben möchte. Es werden 
geradezu absichtlich die Ausdrücke vermieden, die irrige Vor- 
stellungen über die Motive erwecken könnten, von denen der 
König wünscht daß sie die Mitwelt und vor allem die Nachwelt 
seinen Kriegstaten unterlegt Der König hat „Ordnung“ zu 
schaffen und aufrecht zu erhalten, die versprengten Völker zu 
sammeln unter seinem Hirtenstab, wie der Hirt die Herde. 

Ganz anders in Assyrien. Dies ist stets ein ausgesprochener 
Militärstaat gewesen. Das Königsideal war das eines ruhmvollen 
Kriegshelden und eines alle Vorstellungen und alles Dagewesene 
übertrumpfenden Bauherrn. Die Geschichte Assyriens ist wirk- 
lich mit Blut geschrieben, und der Zweck der unaufhörlichen 
Kriegszüge wird nicht durch die Betonung eines versöhnenden 
Endzieles beschönigt, sondern tritt un verhüllt zutage: Eroberungs- 
sucht, Beutegier, Rachsucht, Herrschereitelkeit, die überall nach dem 


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§ 55. Die historischen Inschriften der assyrischen Könige. 227 

Ruhm geizt, alle Vorfahren durch kühne Taten, gefährliche Unter- 
nehmungen in Sqhatten zu stellen. Die assyrischen Königs- 
inschriften erschöpfen sich demgemäß in bis ins einzelnste 
gehenden Schilderungen von kriegerischen Heldentaten des Königs 
und seiner unüberwindlichen Truppen. Daß der Stoff zu solchen 
Schilderungen nie versagte, dafür sorgten die heterogenen Ele- 
mente, die zu dem nur lose zusammenhaltenden Riesenkörper 
nicht nach dem Gesetz politischer Notwendigkeit und Zweck- 
mäßigkeit, sondern nach Eingebungen der Herrscherlaunen zu- 
sammengeschweißt und nicht planmäßig, nicht durch babylonische 
Verwaltungskunst dem Organismus des Reiches eingegliedert 
waren. Nur wenige Jahre sind es, in denen die Denkmäler nicht 
von irgend einem Kriegszug zu berichten wüßten. Und die 
Könige begnügen sich nicht damit, die Taten einmal aufzu- 
zeichnen. Jede Gelegenheit wird benützt, alle Feldzüge vom 
ersten Jahre an immer wieder aufs neue zu erzählen. Wo die 
Berichterstattung über große Bauwerke der eigentliche Zweck der 
Abfassung der Urkunde ist, bei Gründungszylindern u. a., auch 
da nehmen die ausführlichen Schilderungen der vorhergegangenen 
Kriegszüge den breitesten Raum ein. 

Alle offizielle Geschichtsschreibung der Assyrer gipfelt in dem 
überschwenglichen Lob des Königs und hat zum einzigen Zweck, 
dieses der Nachwelt zu überliefern. Zwar wird der Hilfe der 
Gottheit in allen Dingen gebührend gedacht, aber man gewinnt 
doch den starken Eindruck, daß das dem Historiographen sach- 
lich sehr nebensächlich, daß das einfach stilistisches Beiwerk 
ist Das Lob und das Verdienst des Königs bleibt völlig unan- 
getastet. Es ist klar, daß unter diesen Verhältnissen die Glaub- 
würdigkeit der Königsinschriften stark beargwöhnt werden muß. 
ln keiner assyrischen Königsinschrift wird ein Mißerfolg mit 
klaren Worten zugegeben; wir haben vielmehr Fälle, in denen 
eine offenkundige Niederlage von dem gefälligen Historiographen 
zu einem glänzenden Sieg umgestempelt worden ist In den 
meisten Fällen ist es aber üblich, Unternehmungen, deren der 
König sich zu rühmen wenig oder keine Veranlassung hatte, 
einfach mit Stillschweigen zu übergehen. Man darf aber auch 
da, wo der Erfolg des Königs Fahnen treu geblieben war, in 
vielen Fällen reichliche Abstriche von den begeisterten Schlacht- 
berichten nicht unterlassen, auch nicht vergessen, diesem und jenem 

15 * 


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228 


Kap. 15: Historische Inschriften. 


unvermittelten Übergang, einem plötzlichen Abbrechen, wo der Leser 
noch allerlei zu vernehmen hofft, kritisch näher zu treten. Die 
Königsinschriften zeichnen das Bild des Herrschers nach dem 
Ideal, das ihm selbst oder den auch in Assyrien sich manchmal könig- 
licher als der König gebärdenden Historiographen vorschwebte. 

In der Hauptsache zeigen die assyrischen Königsinschriften 
vom Anfang des Reichs bis auf die Sargonidenzeit herab ein fast 
völlig gleichartiges Gepräge ; es fehlt ihnen jede persönliche Note. 
Sie arbeiten mit einem überlieferten Apparat, fügen die Ereignisse 
dem von der Überlieferung vorgeschriebenen Rahmen der Intro- 
ductio und Conclusio ein, verwenden mit tötlicher Gleichförmig- 
keit durch die Jahrhunderte hindurch dieselben Formeln, dieselben 
Redensarten, dieselben Bilder und Vergleiche. 

Die Greueltaten, mit denen ein Assurna^irpal seinen Namen 
geschändet, macht Senacherib getreulich nach; ob er es in Wirk- 
lichkeit getan hat, oder ob sie der Historiograph nach bewährtem 
Muster ihm einfach auf den Leib geschrieben, wer kann es be- 
weisen? Man hat oft den Eindruck, daß man nur Namen aus- 
zuwechseln brauchte, um z. B. aus einer Inschrift Senacheribs eine 
solche des ersten Tiglatpileser oder irgend eines anderen Königs 
zu machen. Besonders die Einleitungs- und Schlußformeln zeigen 
die Geschlossenheit der literarischen Überlieferung innerhalb der 
mit ihrer Pflege betrauten Zünfte. Daß auch im Text der Kriegs- 
berichte dieselbe Einförmigkeit herrscht, ist begünstigt durch die 
sich durch die Jahrhunderte hindurch gleich bleibenden Kriegs- 
schauplätze. 

Erst in der Sargonidenzeit beginnen die Königsinschriften 
einen mehr und mehr individuellen Charakter zu erhalten. Hierin 
äußert sich die beispiellose Entwicklung der literarischen Be- 
strebungen, und es ist nur eine Folge dieser Entwicklung, wenn 
in den Inschriften Assurban ipals, des großen Literaturfreundes, die 
literarischen Neigungen am meisten ihre Wirkung zeigen. Schon 
in Senacheribs Inschriften begegnen wir gelegentlich Schilde- 
rungen, die aus dem Rahmen der überlieferten Annalensprache 
heraustreten und durch ihre Anschaulichkeit auffallen, so vor 
allem die Darstellung der Schlacht bei Chalule und des See- 
untemehmens gegen Nagitu. 

Die Inschriften Assurbanipals halten wohl auch an der An- 
lage der Kriegsgeschichten, die die Ereignisse nach einzelnen Feld- 
zügen geordnet fortlaufend erzählen, fest; aber dieses starre Schema 


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§ 55 . Die historischen Inschriften der assyrischen Könige. 229 

wird von Assurbanipals Historiographen viel freier gehandhabt, und 
der ganze Wort- und Bilderschatz zeigt ein viel weniger gleich- 
förmiges und eintöniges Gepräge als in den Inschriften seiner 
Vorfahren. Er liebt es auch, nach babylonischem Beispiel 
Traumgesichte in die Darstellung zu verweben, Zitate einzu- 
flechten zur Belebung der Schilderung, einmal sogar ausführlich 
von seinen Gebeten zu Istar und ihren Antworten zu erzählen, 
alles in direkter Rede einführend — das älteste Beispiel dieser 
Art gibt schon Gudea in seinen Zylinderinschriften. Besonders 
anschauliche Schilderungen, die persönliche Anteilnahme verraten, 
enthalten die Berichte über die Feldzüge gegen seinen abgefallenen 
Bruder Samassumukin. 

Während in Babylonien ein eigener Stil für die offiziellen 
Königsinschriften nicht ausgebildet worden ist, sind in Assyrien 
schon sehr frühzeitig feste Normen dafür geschaffen worden. 
Man kann unter den Inschriften, in denen der assyrische König 
seine Taten aufzeichnen ließ, drei Arten unterscheiden : die An- 
nalen, die in chronologischer Reihenfolge nach den Regierungs- 
jahren des Königs berichten, die „Kriegsgeschichten“, die nach 
Feldzügen angeordnet sind und oft eine strenge Einhaltung der 
Reihenfolge vermissen lassen, und die „Prunkinschriften“, bei denen 
der historische Gesichtspunkt Nebensache ist und die Wirkung 
in maiorem gloriam regis auch die Anordnung des Stoffes — 
gewöhnlich ist es die geographische — beeinflußt. Sind für den 
den Historiker die Annalen die wertvollsten, so sind für die 
Literaturgeschichte die Prunkinschriften die interessantesten, weil 
sie am meisten mit rethorischen Effekten arbeiten. 

Beispiele der Annaleninschrift bieten Assurna$irpal, Salma- 
nassar II., Tiglatpileser III., Sargon; „Kriegsgeschichten“ haben 
wir von Tukulti-Ninib I., Samsi-adad IV., Senacherib, Assurbanipal ; 
Prunkinschriften von Adadnirari II., Tiglatpileser III., Sargon, Assar- 
haddon. 

Bauberichte sind nur in der ältesten assyrischen Zeit aus- 
schließliches Thema einer Königsinschrift, und dann sind sie zu- 
gleich Weihinschriften, die in ihrer Ausführung aufs engste sich an 
babylonische Vorbilder anschließen. Schon eine der ältesten bisher 
bekannten größeren Inschriften, dieTukultininibs I., schickt dem Bau- 
bericht einen ausführlichen Katalog aller Kriegstaten des Königs 
voraus. Charakteristisch ist für alle assyrischen Inschriften, die 


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230 


Kap. 15: Historische Inschriften. 


Bauberichte enthalten, — es sind dies in den meisten Fällen die 
Gründungszylinder, die zur Einmauerung in dem betreffenden Bau- 
werk bestimmt sind — , daß sie zuerst die vollständige Kriegs- 
geschichte bis zum Tage der Grundsteinlegung oder Einweihung 
des Bauwerks enthalten. 

Das Schema der assyrischen Königsinschriften kennt drei 
Hauptteile : 

1) Das Lob des Königs, dem aber vielfach ein Lob der 
Gottheit vorangeht; es ist gehalten in Form von anein- 
andergefügten Titeln, die sich häufig zu Aussagesätzen 
erweitern, und faßt oft in allgemeinen Ausdrücken den 
Hauptinhalt der königlichen Taten kurz zusammen, ln 
der Regel enthält der erste Teil auch die Genealogie des 
Königs. 

2) Erzählung der Ereignisse, Kriegszüge, Bauten. 

3) Die Schlußformel, die immer die Verwünschung für je- 
den, der sich an dem Denkmal vergreift, oft auch Segens- 
sprüche für den, der es respektiert, enthält Häufig findet 
sich am Ende auch eine genaue Datierung. 

Von Textproben mögen einige kurze Auszüge genügen. 

Die Einleitung der Zylinderinschrift Tiglatpilesers I. (ca. 1100) 
lautet im Auszug 1 : 

Anfang. Assur, der große Herr, der recht leitet die Oesamtheit 
der Götter, der Zepter und Krone verleiht, das Königtum 
festsetzt-, Bel, der König aller Anunnaki, der Vater der Götter, 
der Herr der Länder; Sin, der weise, der Herr der Mond- 
scheibe, erhaben in (seinem) Glanz; Samas, der Richter 
Himmels und der Erden, der zunichte macht das Planen der 
Feinde, der zerbricht die Bösen. ... Ihr großen Götter, 
Herrscher Himmels und der Erde, deren Ansturm Kampf und 
Vernichtung bedeutet, die groß gemacht haben das Königtum 
Tiglatpilesers, des geliebten Fürsten, nach dem Euer Herz 
verlangt, des erhabenen Hirten, den Euer gnädiges Herz er- 
wählt hat, den ihr gekrönt habt mit erhabener Krone, in das 
Königtum des Landes Bels machtvoll eingesetzt habt, . . . . 
Tiglatpileser, der mächtige König, der König der Welt, ohne 
gleichen, der König der vier Weltgegenden, der König aller 
Fürsten, der Herr aller Herren, der Hirte, der König der 

Könige, der erhabene Priester der erobert hat ferne 

Gegenden und ausgebreitet hat die Grenzen (seines Reiches) 

1 Budge-King, Annals, I, 27 ff. 


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§ 55. Die historischen Inschriften der assyrischen Könige. 23 1 

nach oben und unten .... Assur und die großen Götter, 
die mein Königtum groß gemacht haben, die mir Stärke und 
Macht zu eigen gegeben und mir befohlen haben, die Grenzen 
ihres Gebietes 1 * * zu erweitern, haben mir ihre mächtigen Waffen, 
die „Flut der Schlacht“*, in meine Hand gegeben. Länder, 
Berge, Städte samt den Fürsten, die Assur feindselig waren, 
habe ich erobert, ihre Gebiete unterworfen. Mit 60 Königen 
kämpfte ich .... und gewann den Sieg über sie in der 
Schlacht. In Kampf und Schlacht habe ich niemand gefunden, 
der mir gleich wäre. Zu Assyrien fügte ich neues Land, zu 
seinen Einwohnern (neue) Einwohner hinzu. Das Gebiet 
meines Landes erweiterte ich, alle ihre Länder eroberte ich. 
(Darauf folgt die Schilderung des ersten Feldzuges.) 

Die anschaulichste Schilderung einer Schlacht ist der Be- 
richt Senacheribs von der Schlacht bei Chalule 8 gegen die große 
Koalition der Babylonier, Elamiter und vieler anderer Völker- 
schaften. Sie sei hier mitgeteilt einmal wegen ihrer literarischen 
Vorzüge, und dann als Beispiel für die Zuverlässigkeit dieser 
Nachrichten. Wir haben nämlich zufällig einen Bericht von der 
babylonischen Seite, der nüchtern die Niederlage der Assyrer 
konstatiert Über den Sachverhalt vgl. Weber, Sanherib (AO VII, 3) 
S. 20: 

Ich aber flehte Assur, Sin, Samas, Bel, Nebo, Nergal, Istar von 
Ninive, Istar von Arbela, die Oötter, meine Helfer, um die 
Besiegung des mächtigen Feindes an, und eilends erhörten 
sie meine Gebete, kamen mir zu Hilfe. Wie ein Löwe er- 
grimmte ich und zog an meinen Panzer, mit dem Helm, dem 
Zeichen des Kampfes, bedeckte ich mein Haupt den mächtigen 
Schlachtenwagen, der zermalmt den Widersacher, bestieg ich 
im Grimm meines Herzens eiligst; den gewaltigen Bogen, 
den Assur mir verliehen hatte , nahm ich zur Hand ; den 
Wurfspeer, den Lebensvemichter, ergriff meine Hand gegen 
die Gesamtheit der feindlichen, aufrührerischen Truppen. 
Dumpf, wie der Sturmwind, schrie ich, wie Ramman brüllte 
ich. Auf Befehl Assurs, des großen Herrschers, meines Herrn, 
bin ich von der Seite und von vorn wie der Anprall des 
wütenden Südsturms auf den Feind losgebrochen. Mit der 
Waffe Assurs, meines Herrn, und mit dem Anprall meiner 
furchtbaren Schlacht hemmte ich ihren Vormarsch, ihre Um- 
zingelung bewerkstelligte ich, mit Pfeil und Wurfspieß 

die feindlichen Heere, alle ihre Leichname durchbohrte ich 
wie Den Chumbanundascha, den Heerführer des 


1 Das Gebiet des Gottes ist zugleich das des Königs und umgekehrt. 

* Sonst als Waffe Ninibs bekannt (abübu). 

• Taylorprisma, V, 50 ff. (Delitzsch, Assyr. Lesest. 4 S. 65 ff.). 


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232 


Kap. 15: Historische Inschriften. 


Königs von Elam, einen einsichtigen Mann, der seine Truppen 
befehligte, seinen starken Beistand, wie auch seine Macht- 
haber, die einen goldenen Gürteldolch tragen und deren 
Hände mit Ringen aus rotem Oold geschmückt sind : wie fette 
Stiere, denen Fußfesseln angelegt sind, so erschlug ich sie 
mit dem Beil und vernichtete sie, ihre Hälse durchschnitt ich 
wie beim Wild, ihr kostbares Leben schnitt ich ab gleich 

einem Faden, und ihre Eingeweide 

ließ ich auf die weite Erde fließen. Die feurigen Rosse, das 
Gespann meines Wagens , versanken in ihrem dicken Blut 
wie in einem Strom; meinem Streitwagen, der niederstampft 
Böse und Gute, klebte Blut und Kot an den Rädern. Die 
Leichname ihrer Helden, wie grünes Kraut bedeckten sie das 
Feld, männliche Schamteile hatte ich abgeschnitten und ihre 
Zeugungskraft vernichtete ich wie Körner von Sivangurken. 
Ihre Hände schnitt ich ab, Ringe aus Gold und glänzendem 
Silber, die an ihren Händen waren, nahm ich zu mir, mit 
scharfen Schwertern zerschnitt ich ihre Leibriemen, die Gürtel- 
dolche aus Gold und Silber nahm ich aus ihnen heraus. Seine 
übrigen Feldherrn, samt Nabuschumischkun, dem Sohn des 
Merodachbaladan, die den Kampf mit mir fürchteten, duckten 
sich, ich ergriff sie lebendig mitten im Kampf mit eigener 
Hand. Die Streitwagen samt ihren Rossen, deren Lenker im 
Oetümmel der gewaltigen Schlacht getötet waren, sodaß sie 
allein umhertrieben, da und dorthin fuhren, brachte ich zu- 
sammen, auf zwei Doppelstunden weithin befahl ich ihre (der 
Feinde) Tötung. Ihn selbst, den Ummanmenanu, den König 
von Elam samt dem König von Babel, den Fürsten des Lan- 
des Kaldu, die sich auf seine Seite gestellt hatten : das Ent- 
setzen vor meiner Schlacht hatte ihren Leib wie einen Stier (?) 
niedergeworfen. Ihre Zelte ließen sie im Stich, und um ihr 
Leben zu retten, zerstampften sie ihre Soldaten massenhaft, sie 
stürzten davon, wie einer verfolgten jungen Taube zerriß ihnen 
der Mut, mit ihrem Urin besudelten sie sich, in ihre Wagen 
ließen sie ihren Kot. Um sie zu verfolgen, sandte ich ihnen 
meine Wagen und Pferde nach, ihre Flüchtlinge, die zur 
Rettung ihres Lebens davon geeilt waren, wo immer sie er- 
griffen wurden, ließ ich mit der Waffe erschlagen. 

Das Beispiel der Conclusio sei den Annalen Assurbanipals 
entnommen : 

Für künftige Zeiten. Wen unter den Königen, meinen Nach- 
folgern, Assur und Istar zur Herrschaft über das Land und 
die Bewohner berufen werden, der möge, wenn dieses Haus 
alt wird und in Verfall gerät, das, was an ihm zerfallen ist, 
erneuern, meine Inschrift, die Schriftzüge meines Vaters, meines 
Großvaters, der Dynastie 1 möge er betrachten, sie mit Salbe 

1 Wörtlich: „des dauernden Samens des Königtums“. 


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§ 55. Die historiographischen Texte. 


233 


bestreichen 1 , Opfer darbringen, neben die Inschrift seinen 
eigenen Namenszug setzen* und die großen Götter, soviele 
ihrer auf der Inschrift verzeichnet sind, mögen ihm, wie (sie 
es) mir (getan haben), Macht und Stärke verleihen! Wer 
aber die Schriftzüge von meinem, meines Vaters, meines 
Großvaters Namen vernichten wird, den mögen Assur usw. 
durch ein Gericht mit der Nennung meines Namens richten. 
Am 15. Jjjar des Eponymats des N. N., Statthalters von 
Akkad. 


Neben diesen Kompositionen großen Stils gibt es eine große 
Zahl kleiner Dokumente, die in der Hauptsache nur die Titel des 
Königs und allgemein gehaltene zusammenfassende Formeln über 
seine Tätigkeit enthalten. Meistens sind es Bauinschriften, die 
hierher gehören; die kürzesten sind lediglich als Eigentumsver- 
merke zu betrachten, die sich auf den verschiedensten Gegen- 
ständen finden. Hierher gehören auch die Beischriften zu Bild- 
werken, wie die Jagdinschriften Assurbanipals, die die Jagdszenen 
an den Wändenseiner Palasträume erläutern, und Weihinschriften. 
Besonders häufig sind aus allen Perioden der babylonisch-assy- 
rischen Geschichte gestempelte Backsteine überliefert, die meist 
eine Inschrift etwa folgender Art enthalten: 

Palast Assuraafirpals, des Königs der Welt, des Königs von 
Assyrien, Sohnes des Tukultininib, des Königs von Assyrien. 

Die namentlich bei den Assyrem weit verbreitete Sucht, 
überall das Andenken des Königs zu verewigen, hat dazu ge- 
führt, daß auf Fußbodenplatten, Türsteinen, auf den Körpern und 
Stützwänden der Löwen- und Stierkolosse, die die Eingänge des 
Palastes als Symbole des Schutzgottes zu schirmen hatten, in 
Fensterstöcken, kurz an jedem nur denkbaren Orte kürzere oder 
längere Inschriften angebracht wurden. 

§ 56. Die historiographischen Texte. 

Wie in den Königsinschriften, so sind die Babylonier und die 
Assyrer auch in den zusammenfassenden historiographischen Ver- 
suchen getrennte Wege gegangen. Verschieden war schon die 
rechnerische Grundlage der Chronologie. Die Babylonier zählten 
nach Königsjahren, die Assyrer nach Eponymenjahren. Der wich- 
tigste Unterschied ist der , daß die Babylonier chronikartige 

1 Damit sie deutlich hervortreten. 

’ Das ganze ist eine Huldigung an die Totengeister, die in den 
geschriebenen „Namen“ verkörpert sind. 


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234 


Kap. 15: Historische Inschriften. 


Zusammenstellungen kannten, die Assyrer aber, soviel man bis 
jetzt sagen kann, nicht, denn der Ansatz, der in dem Text 
II R 69 (s. unten) nach dieser Richtung gemacht ist, fällt in eine 
Zeit, in der babylonische Vorbilder namentlich die literarische 
Produktion stark beeinflußten, in die Sargonidenzeit. 

Man kann drei Gattungen historiographischer Texte unter- 
scheiden: 1) Chroniken', 2) reine Listen von Königen bzw. 
Eponymen, 3) Jahreslisten. Unter diesen sind lediglich die Chro- 
niken als schriftstellerische Erzeugnisse literarisch zu werten. Sie 
geben einen Extrakt aus der politischen Geschichte Vorderasiens, 
soweit sie Babylonien berührt und selbstverständlich von babylo- 
nischem Standpunkt aus. Sie zeichnen sich aus durch ungemein 
sorgfältige Datierung, nach Königsjahren, bei wichtigen Ereig- 
nissen sogar nach Monatstagen. So verzeichnen sie das genaue 
Datum der Regierungsantritte der babylonischen, assyrischen und, 
soweit sie in Betracht kommen, auch der elamitischen Herrscher, 
ebenso den Tag und die Art ihres Todes. Wie in den Königs- 
listen wird die Summe der Regierungsjahre der Könige genau 
mitgeteilt. 

Als Geschichtsquellen erscheinen auf den ersten Blick am 
vertrauenswürdigsten die Herrscherlisten. Aber hier zeigen sich 
unter den einzelnen Exemplaren oft sehr weitgehende Differenzen 
im einzelnen wie in der Zahl der Regierungsjahre. Selbst die 
Eponymennamenlisten weisen Differenzen unter einander auf. Die 
Differenzen lassen sich in vielen Fällen schlechterdings nicht aus- 
gleichen und es bleibt nur die Erklärung möglich, daß einzelne 
Exemplare nichts weniger als offizielle Dokumente waren, son- 
dern wohl; wie so viele andere Literaturstücke, als private Auf- 
zeichnungen, vielleicht aus Schulen hervorgegangen, anzusehen 
sind. Über Einzelheiten ist bei den Texten selbst die Rede. 

I. Die babylonischen Chroniken. 

1. Die sog. synchronistische Geschichte. 

Text: Winckler, UAOG, S. 148 ff. ; Bearb. KB I, S. 194ff.; bis 
Kol. III, 21 bei Budge-King, Annals I, in den Noten der Indroduktion 
S. XXII ff. (mit Transkr., Übers, im Text). Ergänzungen zu Kol. I und 
II: King, Studies I, S. lOOff. 

Der nur lückenhaft erhaltene Text von vier Kolumnen be- 
handelt — durch Teilstriche nach Regierungen abgetrennt — 
unter gelegentlicher Erwähnung der wichtigen Kriegsereignisse 


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§ 56. Die historiographischen Texte. 235 

die Friedensschlüsse und Verträge, die zwischen Babylonien 
und Assyrien namentlich in Rücksicht auf die Regulierung der 
Grenzen seit Karaindas von Babylonien und Assur-rim-nischeschu 
von Assyrien (ca. 1500) bis auf Marduk-balathsu-iqbi von Baby- 
lonien und Adadnirari III. von Assyrien (812) festgesetzt worden 
sind. Das Dokument ist keine Chronik im gewöhnlichen Sinn, 
sondern ein diplomatisches Aktenstück, das bei Gelegenheit des 
letztgenannten Vertragsschlusses (812) abgefaßt worden ist, um 
die historischen Grundlagen für die Verhandlungen zu bieten. 
In Rücksicht auf ihren Inhalt ist sie hier eingereiht worden. Sie 
ist eine der wichtigsten Quellenschriften für die in Betracht 
kommenden Jahrhunderte. Die erhaltenen Fragmente sind Ab- 
schriften aus Assurbanipals Bibliothek. 

2. Babylonische Chronik A (bzw. S.) 

Text: Zuerst veröffentlicht von O. Smith, TSBA III, 361 ff., neu 
herausgegeben von Winckler, UAOO, S. 153. Bearb. KB II, S. 272ff.; 
dort s. weitere Literatur. 

Ursprünglich wohl aus sechs Kolumnen bestehend, deren erste und 
zweite die mythischen Dynastien vor und nach der Flut enthalten haben 
müssen; Kol. III muß bis auf die Hammurabizeit geführt haben. Diese 
drei Kolumnen fehlen bis jetzt vollständig. Von Kol. IV sind nur einige 
Namen aus der Hammurabidynastie erhalten; von Kol. V sind 14 Zeilen 
erhalten, die die Dynastien des Meerlandes, von Bazi und den Ela- 
mitern behandeln, entsprechend der Kol. 111 der Liste A. Von der 
Kol. VI ist nichts erhalten, sie scheint zum Teil unbeschrieben gewesen 
zu sein. 

Die Angaben beschränken sich auf Namen und Genealogie, 
Regierungsjahre, Art des Todes, Begräbnisstätte des Königs. Am 
Schluß jeder Dynastie folgt zwischen Abteilungsstrichen die Datie- 
rung der Zahlen der Könige und der Regierungsjahre. Der 
äußere Befund der Fragmente spricht für ihre Zugehörigkeit zur 
Bibliothek Assurbanipals. Die Regierungszahlen differieren im 
einzelnen von denen der Liste A, stimmen aber inbezug auf die 
Gesamtsumme überein (vgl. Winckler, 1. c. S. 14). 

3. Die babylonische Chronik P. 

Text: Pinches, JRAS 1894, S. 811—815; Winckler, F. I. 297 ff.; 
für Kol. IV, 1—13 vgl. King, Studies I, S. 96ff. Zur Übers, vgl. Pinches, 
1. c. S. 816ff. Der sehr lückenhaft erhaltene Text stammt aus neubaby- 
lonischer Zeit 

Sie führt von Karaindasch (hier Karachardasch genannt) II. 
(ca. 1400) bis auf Adadschumiddin bzw. Tukultininib I. (ca. 1250). 


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236 


Kap. 15: Historische Inschriften. 


4. Die babylonische Chronik B. 

Text: ZA II, 148ff.; Abel-Winckier, Keilschrifttexte, 47f. Bearb. 
KB II, 274 ff.; Winclder TB* 59ff. Fast vollständig erhalten in einer 
Abschrift aus dem 22. Jahr des Darius. 

Diese ausführlichste unter allen erhaltenen babylonischen 
Chroniken reicht von Nabonassar bis zum Antrittsjahr Samams- 
sumukins (747 — 668). Sie scheint nur den ersten Teil einer 
weiterreichenden Chronik zu bilden. Den Anfang mit Nabo- 
nassar hat sie mit dem Ptolemäischen Kanon (s. S. 237) gemein- 
sam. Von Berosus hören wir, daß Nabonassar die Urkunden 
seiner Vorfahren habe zerstören lassen ; dem darin zum Ausdruck 
kommenden Gedanken an den Beginn einer neuen Zeitrechnung 
und der damit Hand in Hand gehenden Durchführung einer 
Kalenderreform folgen auch die beiden chronologischen Werke. 
Der Beginn dieser neuen Ära fußt auf der Rechnung nach Prä- 
zessionszeitaltern und zieht aus dem Eintritt der Frühlings-Tag- 
undnachtgleiche in das Sternbild des Widders die praktischen 
Folgerungen für den Kalender (vgl. KAT 3 S. 333). 

5. Die Nabonaid-Cyrus-Chronik. 

Text: Winckler, UAOG 154f.; BA II nach S. 248. Bearb. KB II 
128ff., verbessert BA II, 214ff. Der nur sehr lückenhaft erhaltene Text 
stammt von Rassams Ausgrabungen in Babylonien. 

Sie führt vom Anfangsjahr des Nabonaid (556) bis zur Er- 
oberung Babels durch Cyrus (539). 

Als Beispiel der Geschichtsschreibung, wie sie in den baby- 
lonischen Chroniken niedergelegt ist, sei der Anfang der Chronik 
B mitgeteilt: 

[Im dritten Jahre Nabonassars], Königs von Babylonien, bestieg 
Tiglatpileser in Assyrien den Thron. Im selben Jahre zog 
er nach Akkad und plünderte die Städte Rapiqu und Cham- 
ranu. Auch die Götter von Schapazza führte er weg (?). 
(Während der Regierung Nabonassars trennte sich Borsippa 
von Babylon. Die Schlacht, die Nabonassar bei (gegen) 
Borsippa lieferte, steht nicht verzeichnet.) Im fünften Jahre 
Nabonassars bestieg Ummanigasch in Elam den Thron. Im 
14. Jahre wurde Nabonassar krank und starb in seinem 
Palaste. 14 Jahre lang übte Nabonassar in Babylon die Herr- 
schaft aus. Nadinu, sein Sohn, bestieg in Babylon den Thron. 

Dieses kurze Stück ist auch sachlich von größtem Interesse: das 
Unternehmen gegen Borsippa ist auf der Vorlage der Abschrift nicht 
verzeichnet, wird aber von dem geschichtskundigen späteren Abschreiber 


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§ 56. Die historiographischen Texte. 


237 


wenigstens angedeutet. Auf einem erhaltenen Duplikat fehlen die ein- 
geklammerten Sätze denn auch vollständig. Der Grund für dieses 
Manöver liegt natürlich in dem für den babylonischen König unrühm- 
lichen Verlauf des Unternehmens. 

II. Die chronologischen Listen der Babylonier. 

1. In griechischer Überlieferung 
sind vorhanden: a) die Reihen des Berosus, der die Urzeit vor 
der Flut mit 432000, die Sagenzeit nach der Flut mit 34080, die his- 
torische Zeit, die mit der vorhergehenden einen Zyklus von 36000 
lahren bildet, mit 1 920 Jahren berechnet. Als Endpunkt ist vielleicht 
der Beginn Seleucidenära, 312, anzusetzen. Für alles Nähere sei auf 
Rost, MVAG 1 897, 2 verwiesen. Inwieweit diese Berechnungen auf 
fertig vorliegenden babylonischen Zusammenstellungen fußen, ist 
nicht auszumachen. — b) Der Ptolemäische Kanon (mitge- 
teilt zuletzt bei Winckler, KT 2 S. 72) beginnt, wie die babylo- 
nische Chronik, mit Nabonassar und reicht bis zu Darius III., 
also von 747 — 331. Daß er auf babylonische Vorbilder unmittel- 
bar zurückgeht, beweist die staatsrechtliche Haltung, die er in 
strengster babylonischer Observanz festhält. So ist in ihm die 
Zeit, in der Senacherib, der bestgehaßte Feind der babylonischen 
Traditionen, über Babylonien selber die Herrschaft ausübte, als 
„königslose“ bezeichnet. Diejenigen assyrischen Herrscher, die 
die Herrschaft in Babylonien zwar selber, aber durch Respektie- 
rung der Tradition „rite“ ausübten, werden mit ihren spezifisch 
babylonischen Herrschemamen aufgeführt. 

2. In keilschriftlicher Überlieferung 
sind vorhanden: a) die babylonische Königsliste B (Text: 
Winckler, UAOG, 145; Rost, MVAG 1897, 2, Tafel I; Bearb. KB II 
288 ff., Winckler TB 2 S. 69) enthält die Namen und die Zahlen 
der Regierungsjahre der babylonischen Könige der ersten und 
zweiten Dynastie. — b) Die babylonische Königsliste A 
(Text: Winckler und Rost, 11. cc. S. 146 ff. bzw. Tafel II; Bearb. 
KB II 286f., KT 2 S. 7 0 f.). Von der ersten babylonischen Dynastie 
ist nur die Summierung erhalten. Die Liste führt in vier 
Kolumnen bis auf Kandalanu = Assurbanipal, doch fehlen etwa 
14 Zeilen; sie ist nach Dynastien eingeteilt Am Schluß jeder 
Dynastie werden die Zahlen der Könige und ihrer Regierungs- 
jahre addiert. Der staatsrechtliche Standpunkt ist der babylo- 
nische, aber keineswegs strengster Observanz, wie im Ptolemäi- 


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238 


Kap. 15: Historische Inschriften. 


sehen Kanon ; so wird Senacherib für die Jahre, in denen er selbst 
über Babel regiert, verzeichnet, auffallenderweise auch für die 
Zeit von 689 an, in der Babel wüste lag, also nach orienta- 
lischer Anschauung einen König gar nicht haben konnte. Dieser 
Umstand macht es wahrscheinlich, daß die Liste kein offizielles 
Dokument war, sondern als Schülertext zu betrachten ist 

3. Die babylonischen Jahreslisten. 

Wir besitzen bis jetzt zwei Listen aus altbabylonischer Zeit, 
in denen jedes Regierungsjahr jedes Königs gesondert aufgeführt 
und durch ein „Datum“, ein Ereignis aus der inneren oder 
äußeren Politik oder aus der Baugeschichte des betreffenden 
Jahres charakterisiert wird. Solche kurze Daten haben auch zur 
Datierung zahlreicher Privaturkunden, Quittungen etc. von der 
ältesten Zeit an gedient und sind bis jetzt namentlich für die 
Zeit der Dynastie der Könige von Ur und die Hammurabizeit 
in großer Zahl belegt 1 . Der Charakter dieser Datierungen, wie 
der Beischriften der Datenlisten ist erst in jüngster Zeit durch die 
Auffindung der Tafeln erschlossen worden, aus denen hervor- 
geht, daß das zur Datierung in den Privaturkunden benützte Er- 
eignis offiziell von einer Zentralstelle aus festgesetzt und in offi- 
zieller Formulierung an die Geschäftsstellen in den Provinzen 
weitergegeben worden ist, und zwar sowohl in sumerischer als 
in „akkadischer“, babylonischer Sprache, in kürzerer und längerer 
Fassung®. Die sog. „Datenlisten“ oder Jahreslisten bieten also 
eine Zusammenstellung der offiziellen Jahresdatierungen für rein 
geschäftliche oder auch archivalische Zwecke. 

a) Die Jahresliste A. 

Text: CT VI, 9— 10, ergänzt durch ein Bruchstück aus Konstanti- 
nopel und behandelt von Lindl BA IV, 339 ff., neu herausgegeben mit 
Verbesserungen von King: Letters etc. of Hammurabi II, 2 1 7 ff . ; III, 
21 2 ff.). 


1 Eine Zusammenstellung aller Daten bis auf die Hammurabizeit 
gibt Thureau-Dangin in VAB I, 224 ff. 

* VATh 1200 (Messerschmidt, OLZ 1905 Nr. 7 Sp. 268 ff.) ist das 
ausführlichste Exemplar, das neben der längeren auch eine kürzere 
Formulierung, letztere nur in sumerischer Sprache, gibt; VATh 670 
(aus Sippar, Peiser, 1. c. Nr. 1 Sp. 1 ff.) ; eine Tafel aus dem Libanon (!), 
besprehen Porter in Palestine Explor. Fund 1900, April, S. 123 und 
Peiser, OLZ 1905 Nr. 1 Sp. 3f. 


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§ 56. Die historiographischen Texte. 


239 


Laut Unterschrift zusammengestellt im ersten Jahr des Ammi- 
zadugga, behandelt 183 Jahre, ziemlich lückenhaft erhalten. Er- 
gänzungen nach den Datierungen der Privaturkunden und nach 
der Liste B. 

b) Die Jahresliste B. 

Text u. Bearb.: King, I. c. II, 228—234; III, 212ff. 

Umfaßt die Regierungszeit von Hammurabi bis zum elften 
Jahr des Ammizadugga, unter dem sie wohl zusammengestellt ist, 
im ganzen also 153 bzw. 156 Jahre. Stark verstümmelt Am 
Schluß stellt sie die Summe der Regierungsjahre der behandelten 
Könige zusammen. 

Die Zahlen der Regierungsjahre der einzelnen Könige diffe- 
rieren in beiden Datenlisten stark von denen der Königslisten. 
So geben sie Hammurabi 43 Jahre statt 55, Samsuiluna 38 statt 
45, Ammiditana 37 statt 25, Ammizadugga 10 statt 22. Über 
ihr Verhältnis zu den assyrischen Eponymenlisten mit Beischriften 
vgl. S. 240. 

III. Die chronologischen Listen der Assyrer, 

Die assyrische Chronologie rechnet nach Eponymenjahren 1 
anstatt der Königsjahre in Babylonien. Erst unter den Sargoniden 
tritt wie in anderen Gebieten der Einfluß babylonischer Übung 
auch in der Chronologie zutage ; die hier vereinzelt auf 
tauchende Datierungsweise nach Königsjahren hat aber die Epo- 
nymenrechnung nicht zu verdrängen vermocht. Das Eponymat 
lag der Reihe nach in den Händen der vornehmsten Beamten. 
Bemerkenswert ist, daß der jeweilige König stets in seinem ersten 
vollen Regierungsjahre 2 das Eponymat selber führt ln den Epo- 
nymenverzeichnissen findet sich vor jedem Herrschereponymat 
ein Abteilungsstrich. Auch hier übrigens weisen die verschie- 
denen vorhandenen Exemplare Varianten auf, die wohl verschie- 
denen staatsrechtlichen Auffassungen Rechnung tragen. 

Es sind zweierlei Arten von Eponymenlisten erhalten: 1) solche, 
die nur den Eponymennamen und 2) solche, die Beischriften mit 
Anspielungen auf politische Ereignisse enthalten. 

* Über Wesen und Ursprung des Eponymats vgl. Brockelmann, 
ZA 16, 389 ff. 

1 Die Zeit vom faktischen bis zum rite sich vollziehenden Regie- 
rungsantritt wird als resch scharrüti nicht mitgezählt 


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240 


Kap. 15: Historische Inschriften. 


1. Die reinen Eponymenkanone. 

Texte: 2 R 68. 69; III R 1; auch Delitzsch AL* 87— 91. Bearb. 
von Schräder, KAT« S. 470ff., KB I, 204ff. ; Winckler, KT 4 73ff.; vgl. 
auch Bezold, Lit. S. 9 ff.; Schräder, Keilinschr. u. Geschichtsf. S. 299; 
E. Meyer, Geschichte I § 127. 

Es sind erhalten Fragmente von vier Exemplaren, beginnend 
mit dem Jahre 91 1 (abgebrochen bis 893) und bis 666, ursprüng- 
lich aber noch einige Jahre weiter, reichend. Über die inhalt- 
lichen Differenzen vgl. die Zusammenstellung der vier Rezensionen 
bei Schräder, KAT 2 1. c. 

2. Die Eponymenlisten mit Beischriften. 

Text: Delitzsch, AL*, 92 ff.; Bearb. KB 1, 208 ff.; Winckler KT* S. 75 ff. 

Das Hauptexemplar (II R 52) gibt in drei Kolumnen den 
Namen des Eponymen, seinen Amtstitel, das politische Ereignis 
und führt vom Jahre 817 — 723. Ein anderes in vier Kolumnen, 
von denen die erste die Worte „im Eponymat“, die zweite bis 
vierte die Angaben der drei Kolumnen des ersten Exemplars 
enthalten, reicht von 860 — 824 und ist lückenhaft erhalten. 
Von einem dritten Exemplar besitzen wir noch Zeilenreste für 
die Jahre 720 bis 715. 

Ein viertes Exemplar (II R 69) für die Jahre 708 — 704 
(Sargonidenzeit !) nähert sich dem Charakter der babylonischen 
Chronik, indem es wie diese ausführlichere geschichtliche Notizen 
enthält, auch nicht, wie die anderen Listen, für jedes Eponymen- 
jahr nur eine Zeile verwendet 

Da die assyrischen Geschäftsurkunden nicht wie die baby- 
lonischen der älteren Zeit nach Ereignissen, sondern lediglich 
nach den Eponymenjahren datiert sind, scheinen die assyrischen 
Jahreslisten mit Beischriften auch nicht wie die babylonischen zu 
praktischen Zwecken, der Orientierung im Geschäftsleben, ange- 
fertigt zu sein, sondern ausschließlich als chronologische Listen 
der offiziellen assyrischen Geschichtswissenschaft gedient zu haben. 
Dazu stimmt auch, daß die beigeschriebenen Ereignisse stets hoch- 
politischer Natur sind. Fast durchgehend handelt es sich um die 
Feldzüge des Königs oder um seine Thronbesteigung, das „Er- 
greifen der Hände des Bel“, um seine Anwesenheit im Lande, 
Aufstände, schwere Seuchen und dergl. 

Daß die erhaltenen Eponymenlisten nur bis zum Ausgang 
des 10. Jahrhunderts zurückreichen, ist natürlich reiner Zufall. 


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§ 57. Politische Dokumente. 


241 


Das Institut des Eponymats setzen auch schon die Kappado- 
kischen Kontrakte voraus, die nach Eponymen datiert sind und 
sicher ins zweite vorchristliche Jahrtausend gehören. Die älteste 
Datierung nach einem Eponymus ist bis jetzt die der großen 
Inschrift Adadniräris I. (ca. 1325). 


Kap. 16: Urkunden der Staatsverwaltung. 

Vorbemerkung: In diesem Kapitel sollen einige Texte be- 
sprochen werden, die ihrem literarischen Charakter nach weder zu 
den „historischen“, noch zu den juristischen Texten gehören und 
inhaltlich von beiden etwas an sich haben: 1) politische Doku- 
mente wie Staatsverträge, Proklamationen des Königs, Denk- 
schriften staatsrechtlicher Natur, Urkunden über geleisteten Treu- 
eid; 2) Freibriefe und die formell eng mit ihnen verwandten 
Belehnungsurkunden und endlich 3) die sog. Zensuslisten, die 
einen Einblick in die Technik der Staatsverwaltung vom Stand- 
punkt der Steuerpolitik und des militärischen Aushebungsgeschäftes 
aus gewähren. 

§ 57. Politische Dokumente. 

1. Staatsverträge. 

Vgl. Peiser in MVAO 1898 Nr. 6 (Studien zur orientalischen Alter- 
tumskunde II). 

Die sog. „Synchronistische Geschichte“ (vgl. oben S. 234) 
ist in der Hauptsache eine Zusammenstellung aus Urkunden über 
die zwischen Babylonien und Assyrien abgeschlossenen Staats- 
verträge betreffend Regulierung der Grenzen. Sie reicht von 
etwa 1500—812. 

In dieser Zusammenstellung geschieht eines Vertrages nicht 
Erwähnung, der etwa 820 zwischen Samsi-Adad von Assyrien 
und Marduk-nadinschum von Babylonien abgeschlossen worden 
ist. Er ist in Abschrift aus Assurbanipals Bibliothek erhalten 
(Rm 2 427, Peiser, 1. c. S. 14 ff.). Der Text ist leider so ver- 
stümmelt, daß ihm nicht viel mehr zu entnehmen ist, als daß der 
Assyrer in ihm sich zu Konzessionen an Babylonien verstehen muß. 

Ein anderer Vertrag, der zwischen Assumirari von Assyrien 
und Mati’ilu, dem Fürsten von Bit-Agusi, der ein „Königreich 
Arpad“ in Nordsyrien aufgerichtet hatte, etwa 745 abgeschlossen 

Weber, Literatur 15 


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242 Kap. 16: Urkunden der Staatsverwaltung. 

worden ist, ist verhältnismäßig besser erhalten und namentlich 
interessant durch die in ihm beschriebenen, bei der Vertrags- 
Schließung beobachteten Zeremonien (Peiser, I. c. S. 2 ff., vgl. 
KAT 8 S. 49). 

Der Anfang, der offenbar eine Umschreibung der dem 
Mati’ilu auferlegten Verpflichtungen enthielt, ist abgebrochen. 
Wo der Text einsetzt, folgen allgemein gehaltene Verwünschungen 
für den Fall, daß Mati’ilu den Vertrag nicht hält, dann, durch 
einen Strich vom vorhergehenden geschieden die Beschreibung 
einer interessanten Zeremonie, die die Handlung des Vertrags- 
schlusses eingeleitet zu haben scheint. Ein Bock, nicht zum 
Opfer und auch nicht wegen Krankheit zum Schlachten bestimmt, 
sondern „damit die Eidschwüre für Assurnirari, den König von 
Assyrien, Mati’ilu mache, ist er heraufgebracht“: 

Wenn Mati’ilu wider die Eidschwüre sündigt: 

gleichwie dieser Bock von seiner Herde heraufgebracht ist, 

so daß er zu seiner Herde nicht zurückkehrt, sich nicht mehr an 

die Spitze seiner Herde setzt, 

so soll dann Mati’ilu samt seinen Söhnen, seinen Töchtern, 
den Leuten seines Landes von seinem Lande heraufgebracht 

werden, 

zu seinem Lande nicht zurückkehren, an die Spitze seines Landes 

sich nicht stellen. 

Dieser Kopf ist nicht der Kopf des Bockes, 
der Kopf des Mati’ilu ist es, der Kopf seiner Söhne, 
seiner Großen, der Leute seines Landes ist es. 

Wenn Mati’ilu wider diese Eidschwüre [sich vergeht], 
gleichwie der Kopf dieses Bockes abgeschlagen wird, 

so wird der Kopf des Mati’ilu abgeschlagen. 

Dieselbe Zeremonie wie mit dem Kopf wird mit dem Phallus 
des Bockes vorgenommen. Nach einer großen Lücke im Text 
heißt es, daß Mati’ilu nur mehr auf Befehl Assumiraris Krieg 
führen soll, nie mehr nach eigenem Gutdünken. Wenn er es 
doch tut, sollen ihn alle möglichen Strafen treffen. Den Schluß 
bilden eine Reihe von Verwünschungen, stets eingeleitet durch 
die Worte: „Wenn M. wider diese Eidschwüre für A., d. K. v. A., 
sündigt“. Endlich wird eine große Zahl von Göttern zu Zeugen 
des Vertrags angerufen. 

Einen anderen, zwischen Assarhaddon und Ba’al von Tyrus 
ca. 673 abgeschlossenen Vertrag s. bei Winckler, F. II, 10 ff.; 
(vgl. Peiser, 1. c. S. 12f.). 


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§ 57. Politische Dokumente. 


243 


Interessante Dokumente sind erhalten über die Leistung des 
Treueides vor Assurbanipal. In dem einen (Peiser, 1. c. S. 16 ff.) 
schwören Untertanen des Königs, „weder auf die Lockungen des 
Samassumukin, noch solche eines anderen Landes zu hören und 
Assurbanipal als König von Assyrien anzuerkennen und keinen 
anderen Herrn sich zu suchen“. Der Text stammt also aus der 
Zeit der Empörung Samassumukins (ca. 648). 

2. Andere Texte politischen Inhalts. 

Hier mag auch ein interessanter Text (K 8669, Peiser, 1. c. 
S. 23 ff. Vgl. die Verbesserungen Zimmerns in ZDMG 53, S. 118 
Anm. 1) Platz finden, bei dem es sich im letzten Grunde viel- 
leicht auch um eine ähnliche Staatsaktion — der Anlaß ist aus 
dem Erhaltenen nicht zu erkennen — handelt. Er schildert aus- 
führlich ein solennes Mahl, wie es wohl zur würdigen Feier wich- 
tiger Staats- oder Hofereignisse veranstaltet zu werden pflegte. 
Leider ist der Text nur unvollständig erhalten; er würde uns 
sonst ein sehr genaues Bild höfischen Zeremoniells enthüllen. 
Wie es scheint, betritt der König als erster den Festsaal und läßt 
sich allein an der Tafel nieder. Dann treten die Großen des 
Hofstaates herein, Meldungen zu erstatten. Ein Höfling sorgt 
für die Regulierung der Temperatur im Saal, legt nach, wenn 
das Feuer klein ist, und dämpft es, „wenn das Feuer im Ofen 
stark ist“. Der Beschließer des Weißzeugvorrates nimmt die 
schmutzigen Tafeltücher in Empfang, gibt reine an ihrer Stelle, 
das Wasser zum Handwaschen wird gebracht Das Festmahl nimmt 
seinen Lauf unter allerhand, wegen der Lückenhaftigkeit des Textes 
leider nicht verständlichen Zeremonien. Zum Schluß ruft der 
„Oberbäcker“ das Ende des Mahles aus. Der Königssohn verläßt 
den Saal, die Großen stellen sich paarweise auf. Die Schüsseln 
der Prinzen, der Großen und zuletzt des Königs werden abge- 
tragen Der Schluß des Textes ist leider abgebrochen. 

Ein Dokument von größter politischer Bedeutung ist die von 
Assurbanipal für seinen Bruder Samassumukin ausgefertigte In- 
stallationsurkunde als König von Babylonien (III R 16 Nr. 5; 
KB II 258 ff.). 

Nach ausführlicher Introductio (laus regis) fährt der Text fort: 
Damit der Starke dem Schwachen nicht schade, bestellte ich 
Samassumukin, meinen Zwillingsbruder, zur Königsherrschaft 
über Babylonien. 

16 * 


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244 


Kap. 16: Urkunden der Staatsverwaltung. 


Der Rest der Inschrift schildert die Bautätigkeit des Königs 
an den Tempeln Ezida und Esagila in Borsippa und Babylonien. 

In einer weiteren Bauurkunde (Mauer und Tempel in Ar- 
bela K 891, KB II 260 ff.) erzählt derselbe König, daß er, das 
Gebot seines Vaters befolgend, seinen Zwillingsbruder Samassutn- 
ukin mit der Königsherrschaft über Babylonien belehnt, seinen 
jüngeren Bruder zur „Großbruderschaft vor dem Gott [. . . .]“, 
seinen jüngsten Bruder zur „Großbruderschaft vor Sin von 
Harran“ berufen habe. 

Ein interessantes politisches Aktenstück ist die Denkschrift, 
die aus Anlaß eines schweren Landfriedensbruches von Babyloniern 
an die beiden Könige Assurbanipal und Assarhaddon gerichtet 
ist (668, K 233, Winckler, KT II, 10, vgl. F. I, 469 ff. und Peiser, 
1. c. S. 40 ff., wo noch andere auf denselben Fall bezügliche 
Dokumente behandelt werden). Das interessanteste an dem 
Text ist die Berufung auf die Verfassungsurkunde, die die 
Rechte der Stadt Babel garantierte. Sie wird mit Namen ge- 
nannt „Burtasch-ischtin-bit-Babilu“, wie auch sonst Staatsdokumente 
wie z. B. schon in der ältesten Zeit die Staatsinschriften Gudeas, 
spezielle Namen erhielten \ Aus der in der Denkschrift ange- 
zogenen Verfassungsurkunde ist folgender Passus mitgeteilt: 

„Die Götter haben umfassenden Verstand und umfassenden Sinn 
euch gegeben; für alle Länder ist Babylon das „Land der 
Länder“*. Zwanzig (Leuten), die hineinkommen*, deren 
Rechtssicherheit ist garantiert Ein Hund, der hinein- 

läuft, darf nicht getötet werden.“ 

Die Wiederherstellung der Privilegien der Stadt Assur durch 
Sargon beurkundet nach einer historischen Einleitung der Text 
K 1349 (Winckler, KT II, 1 ; F. 1, 491 ff.). K 4447 (Winckler, 
KT II, 17) enthält eine Proklamation Assurbanipals an die Baby- 
lonier beim Antritt seiner Regierung, K 84 (Harper 301, 4 R 2 
45, 1) eine Proklamation an die Babylonier gegen den Anschluß 
an die Umtriebe Samassumukins (vgl. oben S. 243); die beiden 
letzteren Texte sind in Briefform gehalten. 

Mit diesen Mitteilungen und Andeutungen über diese Art 
von Dokumenten des politischen Lebens muß ich mich hier be- 

1 Vgl. z. B. aus neuerer Zeit die „Habeascorpusakte“. 

J D. i. der Verkehrsmittel- und Durchgangspunkt. 

* Gleichzeitiges Eindringen größerer Gruppen in den Stadtfrieden 
galt als Einfall. 


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§ 58. „Grenzsteine“: Freibriefe, Belehnungsurkunden. 245 

gnügen. Sie reichen auch aus, darzutun, daß es nicht nur Kriegs- 
berichte und Annalen sind, die als „historisch“ interessante Ur- 
kunden eine Beschäftigung mit ihnen lohnen. Ihr Inhalt verrät 
sich freilich äußerlich in keiner Weise; ihre oft sehr fragmen- 
tarische Erhaltung steht zudem der Erkenntnis ihrer Wichtigkeit 
im Wege. Und so werden sicher noch manche andere Doku- 
mente von höchstem politischen Interesse des Entdeckers harren, 
die jetzt als texts „relating to public affairs“ oder unter irgend 
einem anderen Pseudonym figurieren. 

Dasselbe Los hätten sicherlich auch die im folgenden zu 
besprechenden sog. „Grenzsteine“ erfahren, die sich inhaltlich eng 
mit den Privilegienbriefen etc. berühren, wenn sie nicht schon 
durch ihr Äußeres, den bildlichen Schmuck, von Anfang an die 
Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätten. 

§ 58. „Grenzsteine“: Freibriefe, Belehnungsurkunden. 

Die Beschreibung der bildlichen Darstellungen aller Grenzsteine, 
die bis 1901 bekannt waren, gibt ausführlich mit steter Bezugnahme 
auf die in den Texten genannten Götter, Hommel, Aufsätze und Abhh., 
S. 236ff., 434 ff. Dort auch einige Abbildungen; solche auch bei Jere- 
mias, ATAO 9 Abb. 2 — 5. Die Texte sind zum großen Teil von Peiser, 
KB III, bearbeitet. Vgl. noch Belser, BA II, UOff. mit autographierten 
Texten, desgl. Meißner, ib. S. 565 ff. (assyrische Freibriefe, vgl. KB IV, 
S. 142ff.). Nähere Literaturangaben bei Hommel, 1. c. Die neuesten 
Grenzsteine sind veröffentlicht von Pater Scheil, Mem. VI (Textes Elam. 
sem. III), S. 31 ff., die dazu gehörigen Bilder von de Morgan, Mem. VII, 
S. 137 ff. Über die bildlichen Darstellungen vgl. auch Frank und Zimmern, 
Bilder und Symbole bab.-assyr. Götter (Leipziger Sem. Studien II, 2). 

Die Inschriften derGrenzsteine(Kudurru)nehmen literargeschicht- 
lich eine Stellung zwischen historischen und juristischen Texten ein. 
Ihre Zweckbestimmung ist streng genommen eine rein juristische, 
die Sicherstellung des Eigentums; ihre Formulierung aber be- 
dient sich in ausgedehntem Maße des bei den feierlichen Königs- 
inschriften üblichen Apparats. Namentlich die Einleitungen der 
babylonischen Grenzsteine sind mit ihren Angaben über poli- 
tische Ereignisse historische Quellen von größter Wichtigkeit, 
und auch die ausführlichen Verwünschungen am Schlüsse sind 
in dieser Ausdehnung nur noch in den offiziellen Königs- 
inschriften gebräuchlich. 

Unter den Grenzsteinen kann man unterscheiden zwischen 
Freibriefen, die Städten und ganzen Bezirken, Tempeln wie auch 
einzelnen Besitzungen gewisse Privilegien zusprechen, und Be- 


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246 


Kap. 16: Urkunden der Staatsverwaltung. 


urkundungen der Eigentumsanerkennung für bestimmte Personen, 
meist den Abschluß langjähriger Prozesse darstellend. 

In der äußeren Form zeigen die babylonischen und die 
assyrischen Denkmäler dieser Gattung auffallende Unterschiede. 
Nur bei den babylonischen kann man eigentlich von „Grenz- 
steinen“ sprechen — wenn nicht die Fassungen, die von den 
assyrischen auf uns gekommen sind, lediglich Konzepte oder 
Kopien sind, die im königlichen Archiv zurückbehalten worden 
sind, während die Ausfertigungen selbst ebenso wie die baby- 
lonischen gestaltet waren, was immerhin wahrscheinlich ist 

Jedenfalls sind die babylonischen Kudurru-lnschriften durch- 
aus auf Stein eingemeißelt, haben oft Phallusform und sind mit 
bildlichen Darstellungen geschmückt. Ihre Bestimmung war, 
wenigstens der Absicht nach, als Markungssteine auf dem Grund- 
stück eingelassen zu werden; in der Regel aber werden sie 
— oder vielleicht Duplikate in kleinerem Maßstabe? — im 
Hause des Besitzers aufbewahrt worden sein. Die bildlichen 
Darstellungen enthalten zweifellos in der Hauptsache die Embleme 
des Tierkreises in überaus zahlreichen Varianten ; kaum zwei 
Grenzsteine tragen vollständig gleiche Darstellungen. Eine Über- 
einstimmung dieser Göttersymbole, als welche die Tierkreiszeichen 
aufzufassen sind, mit den im Texte (in den Verwünschungen am 
Schluß) aufgeführten Göttern ist, wie es scheint, lediglich auf dem 
Kudurru des Nazimaruttasch (vgl. Zimmern bei Frank, I. c.) vorhan- 
den. Bei allen anderen Texten, auch da, wo bei der Aufzählung der 
Götter ausdrücklich auf die bildlichen Darstellungen angespielt wird, 
läßt sich eine Übereinstimmung nicht feststellen. Die Zahl der im 
Text aufgeführten Götter ist sehr verschieden ; manchmal sind es 
zwölf, manchmal läßt sich die Zwölfzahl durch Zusammenfassung 
mehrerer Götternamen herstellen, manchmal sind es sicher mehr, 
manchmal weniger. Die bisher bekannten assyrischen Urkunden 
haben keine bildlichen Darstellungen — nur das königliche Siegel 
nach der Überschrift — und sind alle aus Ton. Doch ist es, wie 
gesagt, wahrscheinlich, daß wir nicht die Originalausfertigungen, 
sondern nur Konzepte zu solchen haben und jene äußerlich den 
babylonischen entsprechen. 

Die Verschiedenheit zwischen den babylonischen und den 
assyrischen Urkunden besteht aber auch in dem Inhalt. Die 
babylonischen Urkunden geben mit großer Ausführlichkeit die 
Vorgeschichte des Falles, die Gründe der Immunität, der Kon- 


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§ 58. „Grenzsteine“. — § 59. Zensuslisten. 247 

zessionierung; sie lieben ausführliche Einleitungen mit historischen 
Notizen in maiorem gloriam regis auszuschmücken; sie geben 
aufs genaueste die Grenzen des Grundstücks an. ln den assy- 
rischen wird die Einleitung auf die Anführung der Titel und 
einige allgemeine Epitheta beschränkt. Die Gründe für die Ver- 
leihung der Immunität werden nur in ganz allgemeinen Aus- 
drücken, Grenzbestimmungen für die Grundstücke überhaupt 
nicht gegeben. Die große Zahl der aus verschiedenen Zeiten 
(seit dem Ausgang der Kassiten-Dynastie bis in die neubabylo- 
nische Zeit) stammenden babylonischen Urkunden läßt erkennen, 
daß sie für jeden Fall besonders ausgearbeitet wurden. Das in- 
time Eingehen auf die speziellen Verhältnisse, das hier die Regel 
war, brachte das mit sich. In Assyrien scheinen sicherlich für 
bestimmte Zeiten feste Formulare bestanden zu haben, die ledig- 
lich durch Einsetzung der betreffenden Namen dem jeweiligen 
Fall angepaßt zu werden brauchten. Da wir aus assyrischer Zeit 
nur vier Urkunden dieser Art haben, ist Sicheres darüber nicht 
auszumachen. Die älteste, von Adadnirari III. (812 — 783) stam- 
mende, ist zudem nur zum kleinsten Teil erhalten, läßt aber doch 
ähnliche Anordnung erkennen; die drei übrigen stammen alle 
von Assurbanipal und sind bis auf die Namen völlig gleich 
lautend. Die Anordnung bei den assyrischen Urkunden ist 
folgende: 1) Name, Titel des Königs, seines Vaters und Groß- 
vaters (auf drei Zeilen); 2) Siegel; 3) Text: a) ausführliche Titu 
latur des Königs, b) Einführung der Person des zu Belehnenden, 
c) Motivierung der Belehnung, d) Belehnung und Immunitäts- 
erklärung, e) Schutz der Totenruhe des Belehnten, f) Schutz der 
Belehnungsurkunde, g) Datierung. 

Die in den babylonischen Grenzsteinurkunden außerordent- 
lich ausführlichen Verwünschungen am Schlüsse geben diesen 
Denkmälern den Charakter von Talismanen für den in ihnen be- 
schriebenen Besitz. Die assyrischen Urkunden beschränken sich 
darauf, dem „späteren Fürsten“, der die Tafel nicht vertilgen 
wird, Erhörung seiner Gebete durch die Götter in Aussicht zu 
stellen. 

§ 59. Zensuslisten von Harran. 

Text und Bearbeitung bei Johns, An Assyrian Doomsday Book 
or Liber Censualis (Assyriol. Bibi. XVII). Die Texte stammen aus dem 
Archiv zu Ninive. 


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248 Kap. 17: Rechts- und Verwaltungsurkunden. 

Sie enthalten Listen über die Einwohnerschaft nach Haus- 
genossenschaften in Rücksicht auf Steuer- und Aushebungszwecke. 
Die Reihenfolge der Einträge ist: Pater familias — auch Frauen 
werden bei Todesfall des Mannes als Haushaltungsvorstände ge- 
nannt — Name seines Vaters, sein Beruf, seine Frau, oder wenn 
diese nicht mehr lebt, die Person, die den Haushalt führt; die 
Söhne, wenn sie erwachsen sind, ihr Beruf, wenn sie verheiratet 
sind, ihr Familienstand; Besitztum an Wald, Bäumen, bei Wein- 
bergen die Zahl der Stauden, Zahl der Häuser, die zum Hof 
gehören, sonstiger Landbesitz, Vermerk über die Eigentumsverhält- 
nisse des Gutes; Name des Gutes und des zuständigen Verwal- 
tungsbezirkes. Frauen werden nie mit Namen genannt, nur ge- 
zählt Nach jeder engeren Familie steht die Summierung. Völlig 
unklar sind noch die häufig nach dem Namen der Söhne stehen- 
den Beisätze Scha, Za, Ud, Ga, die irgendwelche für den 
Zensus wichtige Eigenschaften andeuten müssen. Der Haus- 
haltungsvorstand hat einen derartigen Beisatz nie. Zum Teil 
haben diese Beischriften Zahlwerte, beziehen sich also vielleicht 
auf Dienstjahre im Heer oder ähnliches. 

So lautet der Text Johns 1. c. S. 29 A: 

Arnabä, Sohn des Si’ ‘-nadin-aplu, Gärtner. Seine Mutter. Summe: 
2. — Pappü, Gärtner; Sagibu, sein Sohn, Za; Kuzabadi, sein 
Sohn, Scha, 2 Weiber, Summe: 5*. — 10000 Belit-Bäume, 
2 Häuser, 10 ChomerFeld: ihr Eigentum. Das Ganze: Hanä 
bei Sarugi. 

Am Schluß der Listen folgten die Totalsummen. 


Kap. 17: Rechts- und Verwaltungsurkunden. 

§ 60. Allgemeines. 

Mit den Urkunden des Rechtslebens gewinnen wir Zutritt 
zu dem geheimnisvollen Getriebe im Innern des Staatsorgan is- 

1 Die in Mesopotamien gebräuchliche Form des Gottesnamens 
Sin (Mondgott). 

2 Summe der Familienmitglieder des Pappü, der offenbar ein selb- 
ständiger Sohn des Arnabä, aber in der Hofmark verblieben ist Zweifel- 
haft bleibt, wem die Weiber zugehören, ob es Gattinnen oder Sklavinnen 
sind. Für den Zensus kommt es nur auf die Feststellung an, wieviele 
weibliche Wesen im Haushalt vorhanden sind. 


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§ 60. Allgemeines. 


249 


mus, wo das Volk in Handel und Wandel im kleinen den 
Kampf ums Dasein führt und in erfolgreichem Mühen um die 
Lebensbedingungen des Individuums dem Staate die materiellen 
Grundlagen schafft, die es ihm ermöglichen, seine Stellung in 
der Welt zu behaupten und immer von neuem sich zu erkämpfen. 
Babylonien ist allezeit ein Feudalstaat gewesen und geblieben. 
Die königliche Gewalt hat alle Äußerungen des Volkslebens in 
Beziehung zu sich zu setzen und zu erhalten verstanden. Als 
Hammurabi endgültig mit der Kleinstaaterei aufgeräumt und ein 
einheitliches Reich geschaffen hatte, ließ er alsbald eine ausge- 
bildete Rechtsordnung, die für das ganze Reich gleiche Verbind- 
lichkeit hatte, festlegen. Die Wirksamkeit dieses Reichsgesetz- 
buches war nur dann gesichert, wenn ihr eine bis ins einzelnste 
geregelte Behördenorganisation über das ganze Land hin Geltung 
verschaffen konnte. Der Rechtsgrundsatz, daß ein geschlossener 
Vertrag nur dann Gültigkeit hatte, wenn er schriftlich fixiert war, 
hat für uns die Möglichkeit geschaffen, die praktische Übung 
der Rechtsanschauung in zahllosen gleichzeitigen Urkunden von 
der ältesten bis in die späteste Zeit der babylonisch-assyrischen 
Geschichte zu verfolgen. 

So sind unsere Quellen für die Kenntnis des Rechtslebens 
einmal die Gesetze selbst und dann die Beurkundungen der im 
praktischen Verkehr angefallenen Rechtsgeschäfte. 

Das Gesetzbuch Hammurabis ist uns im Original erhalten. Wie 
lange es in seiner Totalität oder wenigstens dem Grundstock nach un- 
verändert und nur ergänzt durch dem Wechsel der Rechtsanschauung 
und neu auftauchenden Bedürfnissen Rechnung tragende Nachträge 
in Wirkung gewesen ist, wissen wir nicht Doch ist es bei dem 
intensiven Betrieb des gewerblichen und kaufmännischen Lebens in 
Babylonien ganz selbstverständlich, daß auch die Gesetzgebung 
im Fluß erhalten worden ist. Eine weitere Modifikation ist aber 
erst aus einer etwa 1400 Jahre nach Hammurabi liegenden Zeit 
bekannt (vgl. S. 256). Es scheint dies tatsächlich ein neues Ge- 
setzbuch zu sein, da es trotz sachlicher Übereinstimmungen dem 
Kodex Hammurabi gegenüber eine, wie es scheint, selbständige 
Anordnung befolgt. Leider ist viel zu wenig von diesem Gesetz 
erhalten, um sein Verhältnis zum K. H. 1 festzustellen. Der letztere 
hat sicher bis in spätere Zeit zum mindesten in literarischem An- 

1 Dadurch wird im folgenden der Kodex Hammurabi bezeichnet. 


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250 


Kap. 17: Rechts- und Verwaltungsurkunden. 


sehen gestanden. Das beweisen die Abschriften, die aus Assur- 
banipals Bibliothek und aus neubabylonischer Zeit erhalten sind. 
Diese Abschriften (vgl. S. 256) gehen nicht unmittelbar auf die 
Originalschrift zurück, sondern haben eine Ausgabe in mehreren 
Tontafeln zur Vorlage. Es ist selbstverständlich, daß von An- 
fang an neben der Originalschrift, die ja ein für allemal im 
Sonnentempel zu Sippar nach dem Wunsche des Gesetzgebers 
aufgestellt bleiben sollte, Ausgaben auf Tontafeln im Lande, an 
den Gerichtssitzen, verbreitet waren. Da die Abschriften aber 
keineswegs so sklavisch den Wortlaut der Stele wiedergeben, wie 
es sonst bei derartigen Kopien zu literarischen Zwecken der Fall 
zu sein pflegte, so ist es nicht ausgeschlossen, daß die Vorlagen 
schon Abweichungen von der Originalschrift enthalten haben. 
Diese Abweichungen sind aber auch wiederum nicht derart, daß 
es notwendig wäre, bei den Vorlagen eine formale oder gar 
materielle Weiterbildung des Gesetzestextes anzunehmen. 

Neben den Gesetzestexten sind die Kontrakte die Haupt- 
quellen für die Kenntnis des geltenden Rechts und besonders 
wertvoll durch die sorgfältige Datierung, die über ihre Entstehungs- 
zeit genau unterrichtet 

Im Anschluß an diese Urkunden sind die Verwaltungsakten der 
Tempel — ähnliche, aber bis jetzt nicht sehr zahlreiche gibt es auch 
von den königlichen Vermögensverwaltungen — behandelt, deren 
Angaben das aus den Kontrakten zu gewinnende Bild des wirt- 
schaftlichen Lebens aufs glücklichste ergänzen. Zahlreiche Kon- 
trakte gehören überdies direkt dem Verwaltungsarchiv des Tempels 
an, sind in seiner Geschäftspraxis mit seinen Grundholden oder 
auch mit Privaten erwachsen. Ähnlich verhält es sich mit den 
Archiven der Privatbanken, von denen eines, das der Firma 
Muraschü-Söhne in Nippur, zum Teil erhalten ist. 

I. Gesetzessammlungen. 

§ 6i. Die sogenannten „sumerischen Familiengesetze“. 

Text: 2 R 10; V. R. 24. 25; Delitzsch, AL* S. 115. Transkr. u. 
Übers, zuletzt Winckler, Die Gesetze Hammurabis S. 84 ff., und im ein- 
zelnen richtiger Müller, Gesetze Hammurabis, S. 270ff. 

Die Gesetze sind uns erhalten als ein Teil der siebenten 
Tafel der Serie ana ittischu, also als Übungsmaterial zur Erlernung 
der sumerischen Sprache für die babylonischen und assyrischen 
Priesterschulen bestimmt. Daß sie zweisprachig erhalten sind 


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§ 61. Die „suni. Familiengesetze“. — § 62. Der Kod. Hammurabi. 251 

ist zunächst kein Beweis für ihr besonders hohes Alter, denn es 
läßt sich nicht feststellen, ob die sumerische oder semitische 
Version das Original vorstellt. Da aber sicher anzunehmen ist 
daß vor Hammurabi Gesetze in sumerischer Sprache aufgezeichnet 
worden sind, und zudem innere Gründe (vgl. § 5 !) dafür 
sprechen, so wird man annehmen dürfen, daß die Gesetze aus 
der Zeit vor Hammurabi stammen. 

Ihren Namen tragen sie von ihrem Inhalt. Von den sieben 
Paragraphen behandeln sechs die Verhältnisse der Eltern zu ihren 
Adoptivkindern, der Eheleute untereinander, in § 7 ist die Verant- 
wortlichkeit des Mieters für einen gemieteten Sklaven festgelegt. 

Das Adoptivkind, das das Verhältnis zum Vater lösen will, 
wird zum Sklaven gemacht und verkauft ; wenn es sich von der 
Mutter lossagt, wird es zwar nicht Sklave, aber es wird ihm 
das Stirnhaar geschnitten ; es wird zur öffentlichen Schande in 
der Stadt herumgeführt und verliert das Hausrecht. Der Vater 
bzw. die Mutter, die ihren Sohn verstoßen, müssen „Haus und 
Hof“ bzw. „Haus und Hausgerät“ verlassen. Die Ehefrau, die 
ihren Mann verläßt, wird in den Fluß geworfen; den Ehemann 
trifft für das analoge Verhalten seiner Frau gegenüber lediglich 
eine geringfügige Geldbuße. 

Das „Archaistische zeigt sich (nach Kohler-Peiser) teils in der 
größeren Härte, teils darin, daß durchaus noch nicht so viel unter- 
schieden wird wie bei Hammurabi und die feinen Züge in der 
Rechtsbehandlung noch nicht hervortreten“ Vgl. die §§ Ham- 
murabi 168—169, 190 — 192; 127—143. 

§ 62 . Der Kodex Hammurabi. 

Literatur: Text in der Editio princeps, Delegation en Perse, 
Memoires, Tome IV, Textes Eiamites-Semitiques, II. Serie, parV. Scheil, 
1902; R. F. Harper, The code of Hammurabi, 1904. Transkr. u. Übers.: 
H. Winckler, Die Gesetze Hammurabis in Umschrift und Übersetzung. 
1904, Für die rechtliche Bedeutung und Erklärung des Gesetzes ist 
vor allem zu vergleichen die Ausgabe von J. Köhler und F. E. Peiser, 
Hammurabis Gesetz Bd. 1: Übersetzung, juristische Wiedergabe, Er- 
läuterung. 1904. D. H. Müller, Die Gesetze Hammurabis und ihr 
Verhältnis zur mosaischen Gesetzgebung, sowie zu den zwölf Tafeln, 
bemüht sich namentlich um die Analyse des Gesetzbuches. Die ver- 
suchten Vergleichungen sind vielfachen Widersprüchen begegnet. Die 
Beziehungen zwischen Kodex Hammurabi und Thora Israels unter- 
suchen außer ihm Johannes J ere mias, Moses und Hammurabi, 2. Aufl; 
1903; Oettli, Das Gesetz Hammurabis und die Thora Israels; 


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252 Kap. 17: Rechts- und Verwaltungsurkunden. 

Grimme, Das Gesetz Hammurabis und Moses. Die am bequemsten 
zugängliche Übersetzung hat H. Winckler in AO IV, 4 (Preis 60 Pf.) 
gegeben. Auf die überaus zahlreiche Literatur in Zeitschriften und 
Broschüren, die bald nach dem Bekanntwerden des Gesetzes den 
Büchermarkt überschwemmt hat, kann hier nicht eingegangen werden. 

Die Inschrift ist auf einem Dioritblock in Phallusform eingegraben, 
dessen Höhe 2,25 m, dessen Umfang oben 1,65 m, unten 1,90 m mißt. 
Der Block enthält oben eine Darstellung in den Maßen: 0,65 : 0,60 m, die 
Hammurabi in betender Stellung von dem sitzenden Sonnengott die 
Gesetze empfangend zeigt. Es ist aber auch möglich, daß der Sonnen- 
gott Hammurabi selbst ist, der sich in der Inschrift direkt als „Sonnen- 
gott von Babel“ bezeichnet. Der vor ihm Stehende ist dann als Be- 
amter anzusehen. Von dem Kodex waren mehrere Exemplare, wohl 
in den wichtigsten Städten vorhanden. Nach Susa allein sind zwei 
verschleppt worden. Das Hauptexemplar war nach einer Angabe im 
Text zur Aufstellung im Sonnentempel zu Sippar bestimmt gewesen. 
Die Schriftreihen laufen von oben nach unten wie bei den Statuen von 
Telloh. Die Zeichen haben also die ursprüngliche aufrechte Stellung. 

Hammurabis Gesetzeskodex ist in drei Stücken im Dezember 
1901 und im Januar 1902 bei den französischen Ausgrabungen in 
Susa gefunden worden. Dorthin war er, wie soviele babylo- 
nische Denkmäler, wohl um 1100 v. Chr. verschleppt worden. 
Schon vor seiner Wiederauffindung wußte man, daß Babylonien 
auch in alter Zeit ein Rechtsstaat von bemerkenswerter Durch- 
bildung und Organisation gewesen ist. Gleichwohl hat die Auf- 
findung dieser Kodifikation eines bürgerlichen Rechts in größtem 
Stil das Staunen der gebildeten Welt hervorgerufen wie kein an- 
derer Fund der an Sensationen so reichen Ausgrabungen, und 
mit Recht, denn durch den Kodex Hammurabi haben alle Einzel- 
züge, die bis dahin aus dem babylonischen Rechtsleben bekannt 
geworden waren, erst den historischen Hintergrund erhalten: erst 
durch ihn war es möglich, das System der babylonischen Rechts- 
anschauung zu erkennen und namentlich die vergleichende 
Rechtsgeschichte hat in ihm ein Orientierungsmittel ohnegleichen 
gewonnen. 

Von größter Bedeutung ist aber auch die Aufklärung, die 
der K. H. für die politische Geschichte Altbabyloniens gewährt 
hat Auch hier haben zahlreiche vereinzelte Nachrichten und 
Dokumente denjenigen, die mit der Beurteilung orientalischer 
Denkmäler auch Kenntnis orientalischen Wesens verbanden, in 
allgemeinen Zügen ein richtiges Bild vermittelt. An Stelle der 
Konstruktion setzt nun der K. H. ein abgeschlossenes authen- 
tisches Bild des wahren Sachverhalts. Die Einleitung des Gesetzes 


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§ 62. Der Kodex Haminurabi. 


253 


bietet eine Fülle von Einzelangaben von höchster Wichtigkeit; von 
weiter tragender Bedeutung ist aber die Tatsache, daß der Baby- 
Ionierkönig, von dem man wußte, daß er die getrennten und 
sich befehdenden Organisationen im Süden und Norden Baby- 
loniens dauernd geeinigt hat, dem neugeschaffenen Reich, das er 
mit einem Netz von trefflich funktionierenden Verwaltungsbezirken 
überspannt hat, auch ein einheitliches bürgerliches Gesetzbuch 
als stärkstes Bindeglied verliehen hat. 

Das Gesetz Hammurabis ist selbstverständlich keine Neu- 
schöpfung in dem Sinn, als ob Satz für Satz erst von Hammu- 
rabi und seinen Ratgebern erdacht worden wäre; es ist zweifellos 
eine systematisierende Zusammenfassung und Ergänzung der damals 
schon durch ihr Alter ehrwürdigen Volksgesetze. Eine Probe aus 
diesen Volksgesetzen haben wir in den oben besprochenen sume- 
rischen Familiengesetzen. Ihr Verhältnis zum Hammurabigesetz ist 
charakteristisch für die reformatorische Tätigkeit Hammurabis auf 
gesetzgeberischem Gebiet in der Richtung auf eine Milderung der 
Strafbestimmungen, auf eine Erweiterung des Rechtsschutzes für 
die Schwächeren; in technischer Hinsicht zeigt der K. H. eine 
viel kompliziertere Differenzierung der Fälle. Was aber den K. H. 
über alle früheren und späteren Rechtsbücher des Orients und 
teilweise auch des Abendlandes emporhebt, ist die Loslösung des 
Gesetzes von der theokratischen Grundlage, die Ausscheidung aller 
religiösen und moralisierenden Momente, die Entwicklung der 
Rechtssatzungen aus den Lebensbedingungen des Individuums 
und des Volksganzen. 

Das Gesetz Hammurabis bricht endgültig mit der rechtlichen 
Gewalt des Familien- und Stammesverbandes ; es proklamiert auch 
für das Rechtsleben die ausschließliche Zuständigkeit der könig- 
lichen Gewalt; an die Stelle der Blutrache ist der Strafvollzug 
durch das allgemeine königliche Gericht getreten. Materiell steht 
freilich das Strafrecht noch im Banne der alten Vergeltungslehre. 
Das weit über die Grenzen des Stammvolkes hinausgewachsene 
Reich mußte notwendigerweise auch den rechtlichen Unterschied 
zwischen Volksgenossen und Fremdling beseitigen. In dem Reich 
Hammurabis gab es keine nationalen Privilegien vordem Richterstuhl. 
Am interessantesten ist die Ausbildung des Familienrechts durch 
Hammurabi, das durchaus semitischen Typus aufweisL Die Über- 
legenheit des Mannes ist in weitestgehendem Maße festgestellt. Die 
Frau wird erkauft, kann jederzeit, allerdings unter gewissen, der Frivo- 


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254 


Kap. 17: Rechts- und Verwaltungsurkunden. 


litat unbequemen Rechtsverbindlichkeiten für den Mann, verstoßen 
werden. Doch genießt auch die Frau den Schutz des Rechts: 
bei ehelichen Versäumnissen auf seiten des Mannes kann die Frau 
wieder in den Verband ihrer Familie zurücktreten. Die mono- 
gamische ist die regelmäßige Form der Ehe, die natürlich die 
Beiwohnung der Sklavin in keiner Weise ausschließt Wie in 
allen orientalischen Rechtssatzungen, so ist auch im K. H. das 
Recht der adoptierten Kinder aufs eingehendste geregelt Die 
vom Standpunkt der Rechtsgeschichte aus bemerkenswerteste Aus- 
bildung hat das Vermögensrecht bei Hammurabi erfahren. Für 
alles Nähere sei auf die glänzende „Darstellung des Hammurabi- 
rechts“ bei Köhler und Peiser S. 106 ff. verwiesen. 


Der Inhalt des Gesetzes ist in der Hauptsache folgender: 

Die ausführliche Einleitung berichtet über die göttliche 
Sendung des Gesetzgebers: 

Nachdem Marduk die Weltherrschaft angetreten, haben die 
Götter den Hammurabi berufen, „daß er das Recht im Lande 
zur Geltung bringe. Schlechte und Böse vernichte, damit der 
Starke dem Schwachen nicht schade“ Dann folgen in endloser 
Reihe Hammurabis Ruhmestaten, seine Kämpfe, seine Bauten, 
seine organisatorischen Maßnahmen. 

Das nun folgende Gesetzbuch enthält etwa 280 Paragraphen. 
Nach § 65 fehlen etwa 35 Paragraphen, die von dem Elamiter- 
könig, der sie als Beute gewonnen, weggekratzt worden waren, 
um Platz für seine Siegesinschrift zu schaffen. Die Lücken können 
aber zum Teil durch Bruchstücke aus Assurbanipals Bibliothek 
ausgefüilt werden. 

Das Gesetzbuch ist nach Köhler in folgende Hauptteile ge- 
gliedert: 1) Prozeßrecht § 1 — 5; 2) Schutz des Eigentums 
§ 6 — 25; 3) Amtslehen und Amtspflicht § 26 — 41; 4) Feldbau 
und Viehzucht § 42 bis ca. 88; 5) Handel und Schuldwesen 
§ 100 — 126; 6) Ehe, Recht der Frau, Recht des ehelichen und 
unehelichen Kindes § 127 — 177; 7) Tempelfrauen und Neben- 
frauen § 178 — 184; 8) Annahme an Kindesstatt § 185 — 193; 
9) Strafrecht § 194—233; 10) Schiffahrt § 234—240; 11) Miet- 
und Dienstverhältnisse § 241 — 277 ; 12) Knechtschaft § 278 — 282. 

Den Beschluß bildet ein langer Epilog, in dem Hammurabi 
zunächst wiederholt ausführt, wie er für sein Land allzeit besorgt 
ist, daß Recht und Gerechtigkeit in ihm wohne. Er wendet sich 


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§ 62. Der Kodex Hammurabi. 255 

dann an das Volk, daß sich aus seinem Gesetz Recht schaffe, 
wer immer sich unterdrückt fühle. Die Könige, die nach ihm 
im Lande herrschen, sollen an diesem Gesetz nicht rütteln, son- 
dern von ihm sich führen und leiten lassen, daß sie wie er gut 
regieren, in Gerechtigkeit richten und Entscheidungen abgeben, 
Schlechte und Böse ausrotten, die Wohlfahrt ihrer Untertanen 
fördern. Wer darnach handelt, den soll Samas segnen. Wer 
aber dem zuwider handelt und das Gesetz austilgt, den sollen, 
ob er ein König, ein Herr, ein Statthalter oder sonst jemand sei, 
die gräßlichsten Flüche treffen; alle Götter sollen Zusammen- 
wirken, ihn zu verderben. 


Formell ist das Gesetzbuch im allgemeinen „klar gegliedert, 
wenn auch nicht nach den Grundsätzen des wissenschaftlichen 
Systems, wohl aber nach den Bedürfnissen des Mannes aus dem 
Volke, der sich aus dem Gesetz belehren will V‘ „Der Kodex ist 
kein System der Rechtsverhältnisse, sondern vorwiegend der 
Lebensverhältnisse, ein wirtschaftliches System, welches unter den 
Gesichtspunkten der Hemmung und Förderung die großen Er- 
scheinungen des Lebens behandelt. Demgemäß sind die zivil- 
und strafrechtlichen Sätze nicht scharf geschieden; an einigen 
bedeutenden Stellen, wie im Depositenrecht, greifen sie ineinander 

Die Formulierung der einzelnen Bestimmungen ist durch- 
sichtig. Die Rechtsentscheidung wird an einen durch „wenn“ ein- 
geleiteten „Fall“ geknüpft, z. B.: 

§ 141. Wenn die Ehefrau eines Mannes, die im Hause des 
Mannes wohnt, ihren Sinn darauf richtet, sich umherzutreiben 
und ihr Haus vergeudet, ihren Ehemann vernachlässigt: wenn 
ihr Ehemann ihre Entlassung ausspricht, so kann er sie ihres 
Weges entlassen; als Entlassungsgabe soll ihr nichts gegeben 
werden. Wenn ihr Ehemann ihre Entlassung nicht ausspricht, 
so darf er ein anderes Weib nehmen, und es soll jene als 
Magd im Hause ihres Gatten sein. 

§ 142. Wenn ein Weib mit ihrem Gatten streitet und spricht: 
„Du sollst mich nicht berühren“, so sollen ihre Beweise für 
ihre Benachteiligung geprüft werden : wenn sie recht hat, ein 
Fehler (auf ihrer Seite) nicht besteht, anderseits aber ihr 
Gatte sich herumtreibt, sie sehr vernachlässigt, dann hat dieses 
Weib keine Schuld. Sie soll ihre Mitgift nehmen und in das 
Haus ihres Vaters gehen. 

1 Kohler-Peiser, S. 138. 

* J. Jeremias, Moses u. Hammurabi* S. 6. 


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256 


Kap. 17: Rechts- und Verwaltungsurkunden. 


§ 63. Bruchstücke von Gesetzestafeln. 

1. Von späteren Abschriften des Hammurabigesetzes sind 
einige Fragmente in Assurbanipals Bibliothek erhalten und jetzt 
zum Teil im Berliner, zum Teil im Britischen Museum verwahrt (ver- 
öffentlicht von Meißner in BA III, 493 ff., CT XIII, pl. 46/47). Sie 
ergänzen wenigstens teilweise die Lücke, die im Kodex nach § 65 
klafft. Sie weisen, soweit sie mit dem Kodex parallel laufen, im 
einzelnen Abweichungen auf, die sicher schon die Vorlage ent- 
hielt. Wie es scheint, sind sie im Zusammenhang einer Serie 
„Dinäni (= Bild?) Hammurabi“ überliefert Eine der Berliner 
Tafeln hat jedoch mitten im Text den Vermerk „Tafel 7 (des 
Werkes) „Als der hohe Gott“, der genau den Eingangsworten 
des K. H. entspricht. Beide Seriennamen sind offenbar lediglich 
redaktionelle Varianten der Bezeichnung desselben Archetypus, 
des K. H. Vgl. Winckler, Gesetze Hammurabis, XUIff., 73 f. 

2. Das Bruchstück einer Sammlung von Gesetzesbestim- 
mungen aus späterer babylonischer Zeit 1 , Br. Mus. 82 — 7 — 14, 988. 

.Text bei Pinches, PSBA VIII, 273; Peiser, Sitzgsber. Bert Akad. 
1889, S. 823. Transkr. u. Übers., Winckler, Gesetze Hammurabis S. 86ff., 
vgl. ib. pl. XXI f. 

Die ersten beiden der sechs Kolumnen dieser Tafel sind 
nur fragmentarisch erhalten. Sie behandeln in noch unklarem 
Zusammenhang das Eigentumsrecht an Grundstücken und Sklaven. 
Kol. 3 — 5 behandeln das Eherecht; von der sechsten Kolumne 
sind nur einige Zeichen der Tafel Unterschrift erhalten. Es bleibt 
ungewiß, ob es sich hier um Kodifikation eines geltenden Rechts 
handelt, oder ob die Tafel ein zu Lehr- oder praktischen Zwecken 
gefertigter Auszug ist 

II. Sonstige Texte privatrechtlichen Inhalts. 

Textausgaben: CT II, IV, VI, VIII, wo zusammen über 300 
altbabylonische, aus Sippar stammende Tafeln publiziert sind. Straß- 
maier, Verhandlungen des Berliner (V.) Orientalistenkongresses, Sem. 
Section S. 315 ff. publiziert 109 altbabylonische Tafeln aus Tel-Sifr. 
Meissner, Beiträge zum altbabylonischen Privatrecht (AB XI) 111 Tafeln, 
Friedrich, BA V, 4, 413ff., Altbabylonische Urkunden aus Sippar, 
70 Tafeln. Aus der Kassitenzeit: Peiser, Urkunden aus der dritten 
babylonischen Dynastie, ca. 50 Tafeln, und Clay, The Bab. Exped. of 
the Univ. of Pennsylvania vol. XIV und XV ca. 380 Tafeln. Johns, 
Assyrian Deeds and Documents, veröffentlicht 1 141 Tafeln aus dem Archiv 

1 (Nabü]-kin(?)-ap!i? ca. 970; vgl. Winckler, I. c. 


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§ 64. Sonstige Texte privatrechtlichen Inhalts. 257 

zu Ninive. Strassmaier, Bab. Texte, gibt über 3000 Texte aus der 
Zeit von Nabunaid (555) bis Darius (485). Hilprecht und Clay, The 
Bab. Exped. of the Univ. of Pennsylvania, vol. IX und X enthält Ur- 
kunden aus dem Oeschäftsarchiv des Hauses Muraschü- Söhne in 
Nippur aus persischer Zeit. 

Bearbeitungen: Meißner, Friedrich, Peiser, Clay, Johns, Hil- 
precht-Clay 11. cc. Peiser, KB IV gibt eine große Auswahl aus Texten 
von der ältesten Zeit (ca. 2400) bis herab zur Arsacidenzeit. Neben diesen 
Standwerken sind zu nennen Demuth, Ziemer, Kotalla, je 50 
Rechts- und Verwaltungsurkunden aus der Zeit des Cyrus, Kambyses, 
Artaxerxes I. in BA III, 393-444, 445-492, IV, 551—74. — Desgl. 
aus der Zeit von Nebukadnezar bis Darius, soweit sie auf die Stellung 
der Frau Bezug haben: Marx in BA IV, 1 — 77. — Peiser, Keil- 
inschriftliche Aktenstücke (1889); Ders., Babylonische Verträge des Ber- 
liner Museums (1890); Kohler-Peiser, Aus dem babylonischen Rechts- 
leben I — IV; Daiches, Altbabylonische Rechtsurkunden aus der Zeit 
der Hammurabidynastie (1903). 

Als Ergänzung der im folgenden zu gebenden Textproben wolle 
man die reichhaltige, systematisch geordnete Beispielsammlung von 
Meißner, Skizzen aus dem altbabylonischen Recht, AO VII, 1, heranziehen. 

$ 64 . Die privatrechtlichen Urkunden, die aus mehr als 2000 
Jahren in ungeheurer Menge auf uns gekommen sind, bieten ein 
für die Kultur- und Rechtsgeschichte kaum zu erschöpfendes 
Anschauungsmaterial. Kaum eine Sphäre des Rechtslebens, des 
Handels- und Verkehrswesens bleibt in ihnen unberührt Die 
festen Normen des babylonischen Rechtslebens setzten schon für 
die altbabylonische Zeit die schriftliche Abfassung aller Vertrags- 
schlüsse als Regel fest, und das ist bis in die späteste Zeit so 
geblieben. Eine Ausnahme scheinen nur die Verkaufsabschlüsse 
über bewegliche Sachen gebildet zu haben, wenigstens sind nur 
wenige solche Verträge erhalten. Dagegen war es beim Verkauf 
von Sklaven — auch diese gelten als bewegliche Sache — offen- 
bar die Regel, stets einen schriftlichen Vertrag aufzusetzen. 
Weitaus überwiegend sind die Verträge über den Verkauf von 
Häusern und Grundstücken. Neben Verkaufsurkunden treten 
solche über alle anderen Rechtsgeschäfte, wie Tausch, Miete — 
von Immobilien, Mobilien (z. B. Wagen) und von Sklaven — 
Darlehen, Depositum, Schenkung, Haftung, Verpfändung, Afterver- 
pfändung in großer Zahl auf. Wie dem Familienrecht schon in 
den „sumerischen Familiengesetzen“ und im Kodex Hammurabis 
eine besondere Fürsorge gewidmet ist, so hat es auch im prak- 
tischen Rechtsleben besonders oft Veranlassung zu Vertrags- 
schlüssen und zu richterlichen Entscheidungen gegeben. Heirats- 

Weber, Literatur. 17 


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258 Kap. 17: Rechts- und Verwaltungsurkunden. 

vertrage, Auseinandersetzungen mit entlassenen Weibern, ihren 
Kindern, den Kindern der Kebse, Adoptionsurkunden sind sehr 
zahlreich, Erbschaftsurkunden aber bis jetzt sehr selten. 

Es ist hier nicht der Ort, auch nur annähernd die Mannig- 
faltigkeit der in den Urkunden zutage tretenden Rechtshändel 
zu skizzieren. Es sei hierfür namentlich auf die leicht zugäng- 
lichen, auch weiteren Kreisen entgegenkommenden Darstellungen 
von Meißner, AO VII. 1 und Kohler-Peiser, „Aus dem babylo- 
nischen Rechtsleben“, verwiesen. 

Was die Form der Rechtsurkunden anlangt, so ist zu be- 
merken: In der Regel beginnt die Urkunde mit der Darstellung 
des Vertragsinhaltes oder der Rechtsentscheidung; darnach wer- 
den die Zeugen aufgeführt 

Namentlich in altbabylonischer Zeit „mußten die Kontra- 
henten bei jeder wichtigen Verhandlung bei dem Namen des 
Hauptgottes der Stadt, des Hauptgottes der Kapitale, zuweilen 
bei dem Namen der Heimatstadt, immer aber beim regierenden 
Könige schwören, daß sie mit dem Inhalt der Urkunde einver- 
standen seien“ (AO VII, 1, S. 5). 

Den Abschluß der Urkunde bildete jedesmal das genaue 
Datum der Ausfertigung in altbabylonischen Texten nach dem 
offiziell ausgegebenen Jahresdatum (vgl. S. 238), in neubabylo- 
nischen nach Königsjahren, in assyrischen nach den Eponymen- 
jahren und nur gegen Ende des Reichs in babylonischer Weise. 
Üblich war es auch, daß die Zeugen ihr Siegel oder wenigstens 
ihre Nägelmarke zur Beurkundung beidrückten. 

Textproben: 

1. Prozeßurkunde aus altbabylonischer Zeit 1 : 

Wegen 1 Sklavin Atkalschi, die Aiatia ihrer Tochter Chulaltu 
hinterlassen hatte (unter der Bedingung, daß) Chulaltu ihre 
Mutter Aiatia unterhalten solle, hat Sin-nagir, der (frühere) 
Ehemann der Aiatia, der sich vor 20 Jahren in der Stadt 
Buzu (?) von Aiatia getrennt hatte unter dem schriftlichen 
(Versprechen), nicht gegen irgend etwas, was der Aiatia (ge- 
hört), prozessieren zu wollen, nun, nachdem Aiatia das Zeit- 
liche gesegnet hat’, doch gegen Chulaltu wegen der Atkalschi 
einen Prozeß angestrengt. Ischar(?)-Ii, der Präsident von 
Sippar und der Gerichtshof von Sippar hat ihnen die Ent- 
scheidung verkündet und ihm (dem Kläger) Unrecht gegeben. 

1 CT VI, 47b; Transkr. u. Obers.: MV AG 1005, 4 S. 42f.; vgl. 
auch AO VII, 1 S. 10. 

* Wörtlich: Zu ihrem Oeschick gekommen ist. 


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§ 64. Sonstige Texte privatrechtlichen Inhalts. 259 

Der wird keinen Widerspruch erheben, noch werden sie pro- 
zessieren. Bei Samas, Marduk und Hammurabi (haben sie 
geschworen). Gericht des Ischar(?)-Ii (es folgen die Namen 
von 4 Zeugen und das Datum). 

2. Adoptionsurkunde aus der Kassitenzeit 1 : 

Die Ina-Uruk-rischat, Tochter des hatte keine Tochter, 

und daher adoptierte sie die Ethirtu, Tochter des Ninib- 
muschallim; 7 Goldsekel gab sie (für sie). Sei es, daß sie 
sie einem Manne geben will, sei es, daß sie sie zur Hiero- 
dulenschaft bestimmt, (jedenfalls) darf sie sie nicht zu ihrer 
Magd machen. Macht sie sie zu ihrer Magd, so darf sie 
(Ethirtu) in ihr Vaterhaus fortgehen. Solange Ina-Uruk-rischat 
lebt, soll Ethirtu ihr Ehrfurcht erweisen. Stirbt Ina-Uruk- 
rischat, dann soll Ethirtu ihr 2 Wasser spenden. Sagt Ina- 
Uruk-rischat: „(Du bist) nicht meine Tochter“, so geht sie 
des Geldes, das sie besitzt, verlustig (?). Sagt Ethirtu: „Du 
bist) nicht ineine Mutter“, so wird sie zur Magd gemacht. 
Man soll nicht wieder prozessieren. Bei Bel, Ninib, Nuzku 

und dem König Ktirigalzu schwuren sie gemeinsam. Vor 

(es folgen die Namen von 5 Zeugen). 5. Schabath (?). 
21. Jahr des Kurigalzu, Königs der Welt. 

3) Zinsquittung aus Senacheribs Zeit (KB IV, 121): 

4 Minen Gold, Zinssumme des Samas-Malik, welche zu erhalten 
ist von Sailu, hat Sailu dem Samas-Malik vollständig gegeben. 
Deckungsquittung (?) von einander (haben sie). Einer wird 
wider den andern nicht klagen. 7. Sivan, Eponymat des 
Mannu-ki-Adad. Vor (es folgen die Namen von 3 Zeugen). 

4) Besitzübertragungsurkunde an eine Frau unter Vorbehalt 
der Nutznießung (Zeit Nebukadnezars II. von Babylonien) nach 
Marx, BA IV, 17: 

Silim-lstar, Tochter des Kurigalzu, Sohns des Schamaschinu, hat 
im Wohlgefallen ihres Herzens ihre Habe in Stadt und Feld, 
soviel es ist, gesiegelt und ihrer Tochter Gulaqäischat über- 
tragen (außer den 5 Minen Silber, 2 Sklaven und dem Haus- 
gerät, die sie mit ihrer Tochter Gulaqäischat dem Beluschal- 
lim, Sohn des Zerea, Sohns des Nabäa, zur Mitgift gegeben 
hatte). Solange Silim-lstar lebt, wird sie den Unterhalt von 
ihrem Vermögen genießen, aber Silim-lstar hat kein Besitz- 
recht und wird es keinem andern übertragen; alles, was sie 
in Stadt und Feld gesiegelt und an Gulaqäischat gegeben hat, 
davon wird Gulaqäischat außer ihrem Manne Beluschallim 
keinem andern geben. Wenn Silim-lstar das Zeitliche segnet, 


> Clay, Bab. Exped. XIV, 40; bearb. von Ungnad, OLZ, 1906, 
Nr. 10, Sp. 533ff., darnach obige Übers. 

2 D. h. ihrer abgeschiedenen Seele, ihrem Ekimmu, damit dieser 
Ruhe im Grabe habe; vgl. oben S. 148. 

17* 


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260 Kap. 17: Rechts- und Verwaltungsurkunden. 

gehört ihr Vermögen der Gulaqäischat Wer diese Abmach- 
ung ändern wird, dessen Verderben mögen Marduk und Zar- 
panit aussprechen. (Zeugen, Datierung.) 

§ 65. Urkunden der Tempel Verwaltung. 

Texte: Aus der Zeit der Könige von Ur (ca. 2600 — 2400): CT I. 
III. V. VII. X passim ; Reisner, Tempellisten aus Telloh ; Thureau- 
Dangin, Recueil de Tablettes Chaldeennes, Radau, Early Bab. History, 
Appendix S. 321 ff. Aus der Hammurabizeit: in CT II. IV. VI. VIII 
vereinzelt; Friedrich, BA V, 4 (aus Sippar). Revue d’Assyriologie 
passim. Aus der Kassitenzeit: Clay, Bab. Exp. XIV u. XV passim. 
Aus neubabylonischer und persischer Zeit: Strassmaier, Babylo- 
nische Texte. 

Bearbeitungen: Radau, I. c.; Thureau-Dangin, Revue 
d’Assyriologie, passim; Friedrich, Clay II. cc.; Demuth, BA III, 
393 ff.; Ziemer, ib. S. 445 ff. Vgl. auch die Einleitung zu P. Engelb. 
Huber, Personennamen in den Keilschrifturkunden aus der Zeit der 
Könige von Ur und Nisin. (Assyr. Bibi. XXI.) 

Man hat sich den wirtschaftlichen Betrieb der großen Tempel- 
verwaltung in Babylonien und Assyrien ganz ähnlich dem großer 
Klöster in der Feudalzeit zu denken. Die Tempel sind Groß- 
grundbesitzer, lassen von Hörigen ihre Felder bebauen, ihre 
Herden versehen und sammeln aus den Abgaben ihrer Grund- 
holden und den Erträgnissen des unmittelbar verwalteten Besitzes 
große Reichtümer; sie scheinen auch gewisse Privilegien zur 
Auflage direkter und indirekter Steuern gehabt zu haben. Sie 
besaßen Häuser, die sie vermieteten. Ihre wirtschaftliche Be- 
tätigung hat sie zu den kapitalistischen Zentren des ganzen Lan- 
des gemacht Die Verwaltungsakten der Tempel lassen sich am 
besten vergleichen mit den wirtschaftlichen Bestandteilen der alten 
Klosterarchive, den Geschäftsurkunden, Güterbeschrieben, Sal- 
büchem, Zinsregistern, Bestandregistem usw. 

Die Zahl dieser Tempelurkunden ist ganz außerordentlich 
groß. Die Mehrzahl der Urkunden stammt aus der Zeit der 
Könige von Ur ; aus der Hammurabizeit sind wenige, zahlreiche 
aber wieder aus der neubabylonischen Periode erhalten. Während 
die sumerischen Texte der Könige von Ur alle aus Telloh 
stammen, gehören die babylonischen von Hammurabi bis auf 
Kambyses zumeist dem Archiv des Sonnentempels in Sippar an; 
in jüngster Zeit sind aus der Kassitenzeit zahlreiche Urkunden 
des Tempelarchives zu Nippur veröffentlicht worden. 

Was den Inhalt anlangt, so handelt es sich hier in erster 
Linie um Buchungen von Tempeleinnahmen und -Ausgaben. 


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§ 65. Urkunden der Tempelverwaltung. 


261 


Unter den Einnahmen sind vor allem die Erzeugnisse der Land- 
wirtschaft, die Zehnten der Feld- und Gartenfrüchte, der Viehher- 
den und ihrer Erzeugnisse wie Wolle und Tierhäute. Unter den 
Ausgaben figurieren vor allem die Gehaltsauszahlungen in Geld 
oder in Naturalien; daneben kommen natürlich auch freiwillige 
Leistungen und Zuwendungen aller Art dem Tempel zugute. 
Arbeitsleistungen gegenüber dem Tempel scheinen überhaupt 
nicht honoriert worden zu sein. Eine Urkunde (Kambyses 
Nr. 415) wenigstens berichtet, daß ein Schreiner, der drei alte 
Maße und 1 5 alte Schemel auszubessern hatte, einen Schemel und 
außerdem noch Holz zu einer Türe dem Tempel geschenkt hat. 
Unter den Urkunden aus der Zeit der Könige von Ur sind die 
Aufzeichnungen über den Stand der Viehherden besonders zahl- 
reich. 

Die Urkunden gönnen uns einen tiefen Einblick in die 
Realien des Wirtschaftslebens, in die täglichen Lebensbedürfnisse 
des platten Landes, zeigen, was der Boden an Erträgnissen liefert, 
was das Gewerbe an Gebrauchsgegenständen hervorbringt. Da- 
durch sind diese an sich so trockenen Listen eine kaum zu er- 
schöpfende Fundgrube für die Kultur- und Wirtschaftsgeschichte 
des Altertums, gerade wie es die Klosterliteralien für die jüngere 
Vergangenheit sind. Durch die große Zahl der vorkommenden 
Personennamen, der Lieferanten, Beamten, Bestandleute usw. sind 
sie ebenso wie die Kontrakte auch eine ergiebige Quelle für die 
Personennamenforschung. 

Die Urkunden geben meist zuerst die Aufzählung der Gegen- 
stände in wiederholten Summierungen nach besonderen Gesichts- 
punkten, zum Schluß das Datum in der jeweils üblichen Form. 
Bemerkenswert ist, daß auch die Urkunden der Zeit der Könige 
von Ur ebenso wie die der Hammurabizeit nach Ereignissen der 
Königsjahre datiert sind. 

1) Verzeichnis von Pelzvorräten aus der Zeit Bur-sins von 
Ur (Radau, I. c. S. 395): 

2 Pelze für ein Gewand erster (wörtlich „königlicher“) Qualität 
für 30 Mana, 7 Pelze für ein Gewand zweiter Qualität für 
30 Mana, 11 Pelze für ein Gewand dritter Qualität für 1 Talent, 
32 Pelze für ein Gewand vierter Qualität für 1 Talent, 1 Pelz 
von gewöhnlicher Wolle für 1 Talent, 1 Pelz von gewöhn- 
licher Wolle, schwarz, für 1 Talent Summa 54 Pelze. Am 
zweiten Tag. In Borsippa. Jahr, da Bur-Sin Urbillum zer- 
störte. 


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262 Kap. 17: Rechts- und Verwaltungsurkunden. 

2) Herdenbestand des Hirten in Guabba (Radau S. 357) 
aus demselben Jahre: 

169 Mutterschafe, 181 geschlechtsreife Schafe, 43 weibliche, 60 
männliche Lämmer, 2 entwöhnte Zicklein waren vorhanden. 
10 Mutterschafe, 8 geschlechtsreife Schafe, 1 Lamm hat 
Ab, der Oberaufseher, 2 männliche Lämmer hat Ur-Oula, 
der Oberaufseher, weggenommen 1 . 73 Mutterschafe, 11 ge- 
schlechtsreife Schafe, 3 Lämmer sind geraubt (?) worden. 
Summe: 455 vorhanden, 21 weggenommen, 87 geraubt (?). 

Ein Verzeichnis eingelieferter Opfergaben aus der Zeit des 
Cyrus (BA 111, 434 f.): 

Mastschafe, welche die Hirten des Nabuzerulan, Sohnes des 
Zerutu, an den Sonnentempel eingeliefert haben. 15. Schalt- 
Elul des zweiten Jahres des Cyrus, Königs von Babel, Königs 
der Länder. 

19, 14, 25, 9, 9, 5 Mutterschafe (bei jedem Posten der Name der 
Spender), in Summa 81 Schafe wurden zum Opfer dem Na- 
bunasir, Sohn des Mardukmukallim, übergeben. 

2 Lämmchen hat Nabuzerukin, Sohn des Zerutu, gegeben; die 
Lämmchen verbleiben im Stall bei Zerutu. 

Eine Aufzeichnung über Gehalts- und Lohnauszahlungen 
an Tempelbeamte und Tempeldiener aus der Zeit des Kambyses 
(BA III, 485): 

67 geeichte Maß makkasu, . . . . asne, den Rest des Gehalts 
für den Monat Ab haben Takisch-Gula und die Tempeldiener 
erhalten. 

60 geeichte Maß als Gehalt für den Elul sind Takisch-Gula und 
den Tempeldienem gegeben worden. 

Die früheren sind getilgt. 

(P. S.) 1 Maß ist als Lohn des Gula-Tempels dem Ache-iddin- 
Marduk gegeben worden. 

Aus den neubabylonischen Urkunden hat Zehnpfund BA I, 
492 ff. „Weberrechnungen“ zusammengestellt, genauer Notizen 
des Vorratshausverwalters über die Ausfolgung von Wolle und 
Stoffen zur Herstellung von Gewändern, jedenfalls zum kultischen 
Bedarf oder auch für die Angestellten, und andererseits Belege 
über abgelieferte fertige Waren. Dort findet sich auch eine kurze 
Übersicht über andere Texte verwandten Inhalts. 


1 Zu Opferzwecken? 


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Kap. 18: Briefe. § 66. Allgemeines. 


263 


Kap. 18: Briefe. 

Textausgaben: Für die Hammurabizeit: King, LW., The Letters 
and Inscriptions of Hammurabi. Für die Tel-el-Amamazeit: Berliner 
und Cairener Texte: Abel-Winckler, Mitteilungen aus den oriental. 
Sammlungen der kg!. Museen zu Berlin 1 — 3 (1889—1890). Londoner 
Texte: Bezold, The Teil el-Amarna Tablets in the Br. M. (1892) (mit 
Photographien). Oxforder Texte: Sayce bei Fl. Petrie„Tell el Amama“ 
(1894), pl. XXXI— XXXIII (vgl. S. 34—37). 

Die Haupttextpublikation für die neuassyrische Zeit ist Harper, 
R. F., Assyrian and Babylonian Letters, 8 Bde. Einzelne Briefe dieser 
Zeit: Smith, S. A., Assyrian Letters und Keilschrifttexte Assurbani- 
pals II, III; Winckler, Sammlung von Keilschrifttexten II. Die astro- 
nomischen Berichterstattungen (zumeist ebenso wie die Harperbriefe 
aus dem Archiv der Sargoniden zu Ninive stammend) hat Thompson 
in Luzacs Semitic Text and Translation series VI veröffentlicht. 

Während der Drucklegung dieses Buches sind 245 neubabylonische 
Briefe des Brit. Museums aus der Zeit von ca. 600 — 450, wie es scheint 
meist aus Sippar stammend, veröffentlicht worden (CT XXII). 

Bearbeitungen: Für die Hammurabizeit: Meissner, BA II, 

557—564; King, l.c.; Nagel-Delitzsch, Briefe an Sinidinam, BA IV, 
434—483—500, Montgomery, Mary W., Briefe aus der Zeit des 
babylonischen Königs Hammurabi, Berl. Diss. 1901. 

Bearbeitung der gesamten Amarna-Texfe von Winckler, in KB V. 
Verbesserungen auf Grund neuer Kollationen in BA IV, 101 — 154, 
279 — 337, 410 — 417 von Knudtzon, von dem auch eine vollständige 
Neubearbeitung (VAB Band II und III) in Aussicht steht. Zur Ge- 
schichte derTA-Zeit vgl. KAT 5 S. 192 ff.; zur allgemeinen Orientierung 
über die Texte und ihren Inhalt Niebuhr in AO 1,2. 

Aus der neuassyrischen Zeit: Delitzsch in BA 1, 185 — 248, 
613—631, II, 19—62; Johnston, Chr., The Epistolary Literature, 
JAOS 18 I S. 125 ff., 19 I S. 41 ff. (auch separat); Martin, Revue 
de l’institut Catholique de Paris, 1901 und Recueil XXIII u. XXIV; 
Delattre, PSBA 1900 u. 1901; Geldern, C. v., BA IV, 501-545; 
Thompson, l.c., Bd. VII; Behrens, Assyrisch-Babyl. Briefe religiösen 
Inhalts (Leipzig, Hinrichs). Zahlreiche Briefe dieser Zeit sind noch 
behandelt von Winckler, Forschungen, passim und von anderen in 
verschiedenen Zeitschriften. 

# 66. Allgemeines. 

Die ältesten der in Keilschrift erhaltenen Briefe entstammen 
der Zeit der ersten babylonischen Dynastie (ca. 2400 — 2200), die 
vorläufig jüngsten aus der Perserzeit. In der Hauptsache gehören 
sie aber vier Perioden an, der Hammurabizeit, dem 15. Jahrhundert, 
der Sargonidenzeit und dem neubabylonisch-persischen Reich bis auf 
Artaxerxes I. Es ist von vornherein klar, daß sich innerhalb der Brief- 
literatur, die dem augenblicklichen Bedürfnis ihren Ursprung ver- 


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264 


Kap. 18: Briefe. 


dankt und also auch unwillkürlich den Stempel der besonderen Zeit- 
verhältnisse an sich trägt, unmöglich ein so ausgeprägter Kon- 
servatismusfast 2000 Jahre hindurch geltend machen kann, wie bei der 
schönen Literatur und auch bei den offiziellen Staatsdokumenten, 
den feierlichen Königsinschriften usw. Zu diesen Teilen der Keil- 
schriftliteratur steht die Briefliteratur in demselben Verhältnis wie 
die Briefstellerei irgend eines Privatmannes zu den „klassischen“ 
Erzeugnissen. Die Briefe sind durchaus aus dem Bedürfnis der 
Verständigung über irgend eine praktische Frage erwachsen. 
Die Verfasser sind sehr oft Leute, die keineswegs im vollen Be- 
sitz der schriftstellerischen Routine waren, wie etwa die offiziellen 
Historiographen des Hofes oder die Beamten der königlichen 
Kanzlei. Unter den aus der Hammurabizeit stammenden Briefen 
stammt die Mehrzahl aus der königlichen Kanzlei. Sie tragen 
daher ein mehr literarisches Gepräge; ihre Formulierung ist 
weniger willkürlich und zufällig als z. B. fast bei allen aus dem 
Archiv zu Ninive stammenden Briefen, die zum allergrößten 
Teil an den König oder an Mitglieder seines Hofstaates gerichtet 
sind. Diese Briefe zeigen einen ausgeprägt vulgären Charakter. 
Sie sind abgefaßt in der gesprochenen Sprache des Absenders, 
wie sie ihm aus dem Munde ging; sie sind daher voll von 
sprachlichen Freiheiten, die der Literatursprache durchaus fremd 
geblieben sind. Auch in der Konzeption kommt die ursprüng- 
liche Denkungsart, die nicht in die Fesseln der Logik eingespannt 
ist, zu unmittelbarem Ausdruck. Die Gedanken folgen einander 
in dem Briefe in derselben Unordnung wie in dem Geplauder, 
wo ein Wort das andere gibt, ohne Rücksicht auf eine folge- 
richtige, straffe Gedankenentwicklung. 

Die babylonisch-assyrischen Briefe sind Kraut- und Rüben- 
Briefe, die keinen anderen Zweck verfolgen, als auszusprechen, 
was zu sagen ist, wie es auch immer sei, ohne jede Absicht auf 
eine ästhetische Wirkung. Gelegentlich bringt es ja der Gegen- 
stand mit sich, daß man sich gewählt ausdrückt, so in den Briefen, 
die ausschließlich Ergebenheitsversicherungen und freundliche 
Wünsche für den Adressaten enthalten. Diese Devotionalien 
unterscheiden sich denn auch wesentlich von den übrigen „ge- 
schäftlichen“ Korrespondenzen durch ihre sorgfältigere Struktur, 
ihre reinere Sprache Das ist nun freilich weniger das Verdienst 
des Briefschreibers, als eine Folge der jahrhundertelangen Übung 
dieser Ergebenheitsadressen, die gerade wie bei uns einen festen 


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§ 66. Allgemeines. 


265 


Stil ausgebildet hat, einen eisernen Bestand von Formeln und 
Floskeln, die lediglich aneinandergereiht zu werden brauchten. 
Diese Gattung der Briefe ist aber die weniger umfangreiche ; sie 
sind auch in jeder Flinsicht weniger ergiebig für die Forschung. 
Dieser bieten gerade die Briefe „geschäftlichen“ Inhalts — ge- 
schäftlich ist hier im weitesten Sinn zu verstehen und umfaßt 
alle Veranlassungen, die über das Bedürfnis der Loyalitätsver- 
sicherung hinausgehen — ein fast unerschöpfliches Material, in 
grammatischer und lexikalischer Hinsicht, in kulturgeschichtlicher, 
religiöser und politischer Beziehung. Die Emanzipation der 
Briefschreiber von dem literarischen Stil führt zur Verwendung 
einer Fülle neuer Wortformen und -Stämme, die jenem ganz 
fremd sind. Dadurch, daß kaum irgend eine Seite des alltäg- 
lichen Lebens, der religiösen Betätigung, der politischen Verwal- 
tung auch in ihren geheimen und geheimsten Winkelzügen in 
den Korrespondenzen unberührt bleibt, erschließen sich uns in 
frischer Unmittelbarkeit viele intime Einzelheiten, die in den 
offiziellen Dokumenten entweder gar nicht hervortreten oder in 
schwer verständlicher Formelhaftigkeit sich verhüllen. 

Diese Mannigfaltigkeit des Inhalts ist besonders groß in den 
assyrischen und babylonischen Briefen der letzten Perioden. Die 
altbabylonischen Briefe der Hammurabizeit enthalten fast aus- 
schließlich Stücke aus der Korrespondenz Hammurabis mit seinem 
Statthalter Sinidinnam in Larsa und betreffen ausschließlich Gegen- 
stände der inneren Verwaltung. Die Briefe der Tel-el-Amamazeit da- 
gegen sind durchaus den Fragen der äußeren Politik, den Beziehungen 
der Staaten untereinander gewidmet. Ihr eigentümlicher Reiz liegt 
in der Bloßlegung der Intimitäten des diplomatischen Verkehrs, in 
der unfreiwilligen Selbstcharakterisierung der königlichen Brief- 
schreiber, ihr unvergleichlicher historischer Wert außerdem in der 
Aufklärung, die sie über die Kabinettspolitik der großen Reiche 
Ägypten, Babylonien und des damals mächtig sich regenden 
Assyrien, wie über die politischen und kulturellen Zustände in 
den Staaten zwischen Euphrat und Mittelmeer gewähren. Sie 
sind nichts Geringeres als der Schlüssel für das richtige Ver- 
ständnis der politischen Geschichte des ganzen alten Orients ge- 
worden. 


So individuell die keilinschriftlichen Briefe gegenüber den 
literarischen Erzeugnissen ihrem Inhalt und ihrer Sprache nach 


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266 


Kap. 18: Briefe. 


sind, so konventionell erscheinen sie in der strengen Beobach- 
tung der Eingangsformeln. 

In der Hammurabi- und Tel-el-Amarnazeit ist die ausschließlich 
gebrauchte Eingangsformel: Ana N. N. ki-bi-ma umma N. N., 
d. h. „An N. N. melde!: So (sagt) N. N.“ 1 , worauf in den Hammu- 
rabibriefen unmittelbar der Gegenstand der Mitteilung folgte. 
Aus der Hammurabizeit sind bis jetzt nur ganz wenige Briefe 
erhalten, die nicht von dem Könige an Beamte gerichtet sind. 
Aber auch diese wenigen Briefe verzichten vollständig auf die 
Ergebenheitsfloskeln, die in den späteren Briefen üblich sind. 
Ober rein geschäftliche Korrespondenzen zwischen Privatpersonen 
aus dieser Zeit s. unten S. 269. Die Ergebenheitsversicherungen 
nehmen einen sehr breiten Raum ein schon in den Amarnabriefen, 
deren Eingangsformel sich sonst mit der der Hammurabizeit deckt. 
Sie sind hier überaus mannigfaltig je nach dem Verhältnis des Ab- 
senders zum Adressaten. Wenn die großen Potentaten von Baby- 
lonien und Ägypten, Mitanni und Assyrien aneinander schreiben, so 
konstatieren sie zunächst mit Befriedigung, daß es ihnen selber, 
manchmal auch, daß es ihren Familien, ihren Rossen und Streitwagen 
wohl gehe, um dann dem Adressaten das Gleiche in etwas, aber 
nicht viel ausführlicherer Form zu wünschen. Wenn aber einer 
der kleinen Fürsten oder Statthalter an „die Sonne“, den großen 
Herrn in Ägypten schreibt, so bezeichnet er sich als dessen 
Diener, als den „Staub seiner Füße“ und die „Erde, auf die er 
tritt“, den „Schemel seiner Füße“, den „Thron, auf dem er sitzt“ 
fällt ihm zu Füßen, und zwar meist siebenmal siebenmal, manch-, 
mal sogar auf Brust und Rücken. Direkte Wünsche oder 
Schmeicheleien kommen verhältnismäßig seltener, aber doch hin 
und wieder vor; in der Regel sind über das gewöhnliche Maß 
hinausgehende Schweifwedeleien durch ein besonders schlechtes 
Gewissen des Schreibenden motiviert Das Mindestmaß bieten 
die Briefe des Abdchiba von Jerusalem, der immer schreibt: „Zu 
Füßen meines Herrn, des Königs, siebenmal siebenmal falle ich.“ 
Wenn der Pharao an einen seiner Untergebenen schreibt, so 
bedient er sich wohl der allgemein üblichen Eingangsformel, 
verzichtet aber auf jeden Gruß und Wunsch. 

Anders bei den assyrischen Königen der späteren Zeit. Sie 

1 Das ist wohl die einleuchtendste Übersetzung der schwierigen 
Phrase. Der Imperativ wendet sich an den offenbar personifizierten 
und mit dem Überbringer identifizierten Brief. 


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§ 66. Allgemeines. 


267 


haben wie auch die anderen Glieder des königlichen Hauses 
eine eigene Eingangsformel zu ausschließlichem Gebrauch. Ihre 
Briefe beginnen: Abit oder amat scharri, märat scharri od. ä., 
„Willensmeinung, Befehl des Königs, der Königstochter“ usw. 
Der assyrische König verschmäht es auch nicht, seine Beamten huld- 
voll zu begrüßen und tut dies mit den Worten : „Der Gruß von mir tue 
wohl Deinem Herzen“. Briefe des Königs sind unter den späteren 
Briefen nur ganz vereinzelt erhalten, offenbar weil es versäumt worden 
ist, Konzepte bzw. Kopien von ihnen im Archive zurückzubehalten. 
Die erdrückende Mehrzahl der Briefe dieser Zeit sind an den 
König oder an Personen seines Hauses und Hofstaates gerichtet 
Die Eingangsformel ist hier: „An den König, meinen Herrn, 
Dein Diener N. N“. Darauf folgt ein Wunsch, der kürzer oder 
ausführlicher gehalten ist, z. B. 1 : „Heil sei dem König, meinem 
Herrn, gar sehr! Nebo und Marduk mögen den König, meinen 
Herrn, segnen! Wohlbefinden des Königs, meines Herrn, Ge- 
sundheit des Herzens, Gesundheit des Leibes !“ Eine Erweiterung 
der Formel namentlich durch Anrufung zahlreicher Götter bieten 
besonders die spontanen Ergebenheitsadressen, deren Zweck 
lediglich Loyalitätskundgebungen und Glückwünsche sind (vgl. 
z. B. unten S. 279). Über die in assyrischen Briefen bis jetzt 
seltene, in den neubabylonischen aber die Regel bildende Eingangs- 
formel „Brief (egirtu, duppu) des N. N. an N. N.“ vgl. S. 277 f. 

In dem Hauptteil des Briefes wird zunächst auf das vorher- 
gegangene, die Antwort veranlassende Schreiben Bezug genommen 
und dann die Antwort gegeben. Der Umstand, daß nur in ganz 
seltenen Fällen dieses Schreiben des Königs erhalten ist, erschwert 
das Verständnis der Antwort und damit des ganzen Briefes oft 
sehr. Die Berichterstattung selbst ist oft von außerordentlicher 
Kürze und Bestimmtheit In der Regel fehlt auch dem Schreiben 
ein eigentlicher Schluß. Wo ein solcher angefügt wird, enthält 
er entweder einen Wunsch für das Wohlergehen des Königs oder 
eine Wendung wie „Der König wird es schon wissen ; er möge 
tun, wie ihm beliebt“, oder aber der Schreiber konstatiert noch- 
mals ausdrücklich, daß er nach Wunsch und Befehl des Königs 
gehandelt habe. 

Zur Technik des brieflichen Verkehrs bei den Babyloniern 
und Assyrern ist noch zu bemerken, daß die Briefe in Tonhüllen 

1 K 604. 


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268 


Kap. 18: Briefe. 


eingeschlossen zu werden pflegten, die mit dem Siegelabdruck 
des Absenders versehen wurden. Um den inliegenden Brief er- 
reichen zu können, war es notwendig, die Umhüllung zu zer- 
brechen. Die Umhüllung war mit der Adresse versehen. 
Dieses Verfahren ist schon zu Hammurabis Zeiten geübt worden. 

# 67. Die Briefe der Hammurabizeit 

betreffen ausschließlich Gegenstände der inneren Verwaltung. 
Die bis ins kleinste sich erstreckende Fürsorge Hammurabis, 
dieses großen Friedensfürsten und Gesetzgebers, bringt es aber 
mit sich, daß der Kreis der Verhältnisse, die in seinen und seiner 
Beamten Briefen zur Sprache kommen, ein außerordentlich um- 
fassender ist, so daß die Detailkenntnisse, die sie für die Kultur- 
geschichte der damaligen Zeit vermitteln, sehr mannigfaltig sind. 
Hammurabi hielt seine Beamten unter ständiger Kontrolle und 
vergewisserte sich durch eine straff organisierte, regelmäßige Be- 
richterstattung, daß die Verwaltungsgrundsätze, die er unter seinen 
Augen in Babylon zur Geltung gebracht, auch in den Provinzen 
beobachtet wurden. Bei allen wichtigeren Vornahmen waren die 
Beamten gehalten, sich Weisungen vom König zu holen. Der 
größten Fürsorge erfreute sich die Unterhaltung und Erweiterung 
des Kanalisationssystems, das eine Voraussetzung für die Frucht- 
barkeit des Landes war, und die Viehzucht, die in dem frucht- 
baren Land und namentlich an den Grenzgebieten eine Quelle 
der Volkswohlfahrt und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit 
war. Dieses Verwaltungssystem setzte natürlich einen sorgsam 
geregelten Postverkehr voraus. Das Botenwesen spielt denn auch 
in den Briefen von der ältesten bis in die jüngste Zeit eine 
gleichmäßig bedeutende Rolle. 

Nur zwei Briefe spielen auf auswärtige Angelegenheiten an, 
auf die Eroberung elamitischer Götterbilder. Wenn von mili- 
tärischen Angelegenheiten die Rede ist, so beschränkt sich das 
auf interne Truppenbewegungen. In Babylonien steht natur- 
gemäß auch die Kultuspflege unter der Fürsorge der Staats- 
behörden: Tempelbauten, die großen Feste, die Eintreibung der 
Tempeleinkünfte. Die Priester sind Staatsbeamte; über ihre 
Funktionen, Opfer, Opferschau und Vorzeichendeutung läßt sich 
der König Bericht erstatten. Die Fürsorge des Königs erstreckt 
sich in den Briefen auch auf die Regulierung des Kalenders, 
er erteilt Weisung zur Einschaltung des Interkalarmonats. Auch 


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§ 67. Die Briefe der Hammurabizeit. 


269 


auf die Justizverwaltung in den Provinzen übte der König seinen 
Einfluß aus. Eine ganze Reihe von seinen Briefen befaßt sich 
mit speziellen Fällen der Rechtspflege, wie ja auch der Kodex 
Hammurabi ausdrücklich der Appellation an den König Raum 
gibt (§ 129). Dem wirtschaftlichen Leben mußte unter einem 
so praktisch angelegten Herrscher die besondere Aufmerksam- 
keit der Behörden sicher sein. Er ließ Kornhäuser anlegen 
für Zeiten des Mißwachses; die Fluren schützte er durch Damm- 
bauten gegen Hochwasserschäden. Er sorgte für statistische Er- 
hebungen über die Erträgnisse der Feldwirtschaft und der Vieh- 
zucht, wachte über die Instandhaltung der Zufahrtstraßen zu 
Wasser und zu Land, damit die Verteilung der landwirtschaft- 
lichen Produkte und die Einfuhr fremder Erzeugnisse ungehemmt 
vor sich gehen konnte Auf ausgedehnten Kronländem besaß 
der König selber mächtige Herden, über deren Entwicklung er 
sich ständig auf dem laufenden erhalten ließ. Schon in den 
etwas älteren Tempellisten aus der Zeit der Könige von Ur tritt 
eine ausgebildete Organisation von Beamten hervor, denen die 
Pflege und Verantwortlichkeit für die Landwirtschaft zukam. 
Auch die Arbeiterschaft, die zumeist aus Kriegsgefangenen sich 
ergänzenden Staatssklaven, durften der Fürsorge des Königs sich 
erfreuen. 

Von diesen Briefen unterscheidet sich in mehrfacher Hin- 
sicht die rein geschäftliche Korrespondenz zwischen Privatleuten, 
von der auch aus der Hammurabizeit Proben erhalten sind 
(vgl. Meißner BA II, 557 ff.). Sie haben zwar die Eingangsformel 
mit den übrigen gemeinsam, fügen aber dann regelmäßig einen 
kurzen Wunsch bei: „Samas und Marduk mögen Dir Leben 
schenken.“ Äußerlich unterscheiden sie sich auch insofern, als 
sie nie von einer äußeren Hülle umgeben sind, offenbar wegen 
ihres spontanen Charakters und weil sie nicht zur Aufbewahrung 
bestimmt waren. Auf uns gekommen sind sie zusammen mit 
zahlreichen Kontrakten, die in den Archiven von Tempeln und 
Kaufleuten angesammelt worden waren. 

Als Beispiel eines Briefes des Königs Hammurabi an Sini- 
dinnam diene King, III, 75 f.: 

Zu Sinidinnam sprich: Also sagt Hammurabi: Unmittelbar nach 
Empfang dieses Schreibens lasse die Verwalter Deinei Tempel 
allesamt und Arad-Samas, den Sohn des Eribam, den Hirten 
des Samastempels, die Deiner Kontrolle unterstehen, nebst 


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270 


Kap. 18: Briefe. 


ihrer vollständigen Abrechnung Dir bringen. Nach Babel sende 
sie, damit sie Rechnung ablegen. Tag und Nacht sollen sie 
reisen. Binnen zwei Tagen sollen sie in Babel eintreffen 1 . 

King, III, S. 12: 

Zu Sinidinnam sprich: Also sagt Hammurabi: Da das Jahr eine 
Lücke hat, werde der kommende Monat als Elul II (Schalt- 
Elul) geschrieben ! Und während ich befohlen hatte, daß das 
Oeschenk am 25. Tischri in Babel eintreffen soll, treffe es am 
25. Elul II in Babel ein. 

§ 68. Die Tel-el-Amarnabriefe. 

Über alle Einleitungsfragen, Fundort, Geschichte, Inhalt, Zeit der 
Tafeln vgl. die ausführlichen Erörterungen bei Knudtzon, El-Amama- 
Tafeln, S. 1 ff., die hier bereits benutzt werden konnten: Ebenda auch 
alle speziellen Literaturangaben. 

Sie sind im Jahre 1887 durch ein nach Mergel suchendes 
Bauemweib in Mittelägypten am östlichen Nilufer, auf der Ruinen- 
stätte der von Amenophis IV. erbauten Residenz Echut-aton, dem 
heutigen Tel-el-Amarna 2 , gefunden worden. Sie waren in Holz- 
kisten verpackt, denen Alabasterplatten mit den hieroglyphischen 
Namen der ägyptischen Könige Amenophis IV. und seines Vaters 
Amenophis III. als Verschlußstücke beilagen. Sie bilden einen 
Teil des Staatsarchives der beiden Könige. 

Das Verblüffendste an diesem Fund war die Wahrnehmung, 
daß die ganze Korrespondenz, auch die Briefe der Pharaonen, 
in Keilschrift geschrieben und bis auf 3 Tafeln in der Ar- 
zawa- bezw. Mitannisprache — in babylonischer Sprache abgefaßt 
waren. Das beweist, daß babylonische Schrift und Sprache den 
diplomatischen Verkehr in ganz Vorderasien im 15. Jahrhundert 
beherrscht hat. Freilich verrät die Handhabung der Sprache, 
daß die Verfasser keineswegs mehr von der Sprache verstanden 
haben, als zur notdürftigen Verständlichmachung eben hinreichte. 
Interessant ist, daß auch einige Texte mythologischen Inhalts bei 
den Briefen gefunden wurden, die durch deutliche Spuren ver- 
raten, daß sie als Übungsmaterial gedient haben für die ein- 
heimischen Schreiber, denen die Besorgung der auswärtigen 
Korrespondenz übertragen war. Der mangelhaften Kenntnis des 


1 Die Erfüllung gerade dieser letzten Weisung setzt die denkbar 
besten Postverbindungen zwischen Larsa und Babylon voraus. 

* Über die Entstehung dieser geographisch nicht korrekten Be- 
zeichnung vgl. Knudtzon, VAB II, S. 17. 


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§ 68. Die Tel-el-Amarnabriefe. 


271 


Babylonischen in Ägypten tragen die babylonischen Absender 
denn auch rücksichtsvoll Rechnung, indem sie ideographische 
und kompliziertere Schreibungen vermeiden und in ihren Briefen 
durchgängig Silbenzeichen verwenden. Am auffallendsten tritt 
die Unzulänglichkeit der Sprachkenntnisse hervor in den Briefen 
aus Alaschja-Cypem, in denen offenbar an der Hand eines 
„Sprachführers“ oder Wörterverzeichnisses Wort an Wort gefügt 
wird, ohne daß auf grammatische Regeln irgendwelche Rücksicht 
genommen würde. Für die syrischen Briefe sind charakteristisch 
die zahlreichen kanaanäischen Glossen, die gleichfalls in Keil- 
schrift, aber durch äußere Kennzeichen hervorgehoben, babylo- 
nischen Worten beigefügt werden. 

Das Material, aus dem die Tafeln hergestellt wurden, ist 
gebrannter Ton und „verrät schon durch seine Farbe und die 
verschiedene Festigkeit des Materials, woher der betreffende Brief 
jedesmal stammt. Alle Schattierungen von Blaßgelb bis Rot- 
und Dunkelbraun sind auf diese Weise vertreten. Neben harten, 
sehr gut lesbar gebliebenen Stücken liegen zerbröckelnde, mürbe 
Exemplare, die, seitdem sie der Luft ausgesetzt sind, schon be- 
trächtlich gelitten haben 1 .“ 

Die Fundstücke von Tel-el-Amarna sind nicht vereinigt geblieben, 
sondern aufgeteilt worden. 82 der besterhaltenen Tafeln befinden 
sich im Britischen, etwa 200, darunter viele Fragmente, im Ber- 
liner, 50 im Cairener Museum, 22 im Ashmolean- Museum zu 
Oxford; nur wenige sind im Privatbesitz verblieben 2 . 

Seit Thutmoses III. (Manachbiria) war Syrien bis zur Bucht 
von Iskanderun der ägyptischen Herrschaft unterworfen. Sein 
zweiter Nachfolger war Amenophis III., der Erbauer der Mem- 
nonssäulen, derNimmuria der TA-Briefe, dem nach 36 jähriger Regie- 
rung sein Sohn Amenophis IV., Napchuria, folgte. Napchuria hat 
vor allem durch religiöse Reformen große Umwälzungen in 
Ägypten hervorgerufen. Er hat seinen Sitz von Theben, dem 
Zentralheiligtum des Gottes Ammon, in die von ihm neu erbaute 
Stadt Echut-aton verlegt und sie zum Mittelpunkt der von ihm 
proklamierten monotheisierenden Verehrung der Sonnenscheibe, 
Aton, gemacht. Daß eine solche Reform nicht ohne innere Un- 
ruhen vor sich gegangen, ist bei orientalischen Verhältnissen 


1 Niebuhr AO 1, 2, S. 5. 

3 Genaueres darüber bei Knudtzon, VAB II, S. 12 ff. 


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272 


Kap. 18: Briefe. 


selbstverständlich. Die unmittelbare Folge davon war wachsende 
Anarchie in den unterworfenen Ländern. Auf die Zustände im 
ganzen Bereich von Syrien, vom nördlichen Eleutheros bis zum 
Nachal-Mu^ri, werfen die Amarnabriefe ein grelles Licht Die 
unterworfenen Völker waren im Genuß der Selbstverwaltung. 
An der Spitze der einzelnen Städte und Gaue standen einheimische 
Fürsten oder vom Pharao bestellte Statthalter (chazänu). Unter 
diesen allen besteht aber ein ununterbrochener Krieg eines gegen 
alle. Die Briefe strotzen von Bitten um Hilfe, von Denunzia- 
tionen, von heuchlerischen Ergebenheitsversicherungen. Neben 
diesen Wirren im Innern sind für die Unruhe im Land von 
großem Einfluß die von außen drohenden Gefahren. Zwar die 
großen Reiche, Mitani, Babylonien, das aufstrebende Assyrien 
leben im besten Einvernehmen mit dem Pharao, aber die noch 
unorganisierten Horden der Beduinen, der „Chabiri“ im Süden und 
der Suti im Norden beunruhigen das Land durch Plünderungs- 
züge und werden auch oft von einzelnen Rebellen unter den 
tributären Gaufürsten in ihre Dienste gegen die Nachbarn ge- 
dungen. Diese unaufhörlichen Unruhen und Brandschatzungen 
mußten ihre Wirkung auch äußern auf die Lieferung der Abgaben 
an den ägyptischen Hof. Die dabei vorkommenden Unregelmäßig- 
keiten nehmen einen breiten Raum in der Korrespondenz ein; 
sie wirkten aber auch wieder zurück auf die Verhältnisse im 
Lande, da die Exekution gegen rückständige Zahler gerne dem 
Nachbarn übertragen wurde, dessen Eingreifen natürlich zu immer 
neuen Reibereien führte. 

Das Verhältnis Ägyptens zu den Großstaaten war, wie schon 
erwähnt, ein durchaus freundschaftliches, ja man zeigte sich auf 
beiden Seiten stets äußerst beflissen, die Beziehungen durch 
neue verwandtschaftliche Bande, Austausch von Gesandtschaften 
und Geschenken immer aufs neue zu festigen. Die gelegentlich her- 
vortretenden Differenzen gehen zurück auf gekränkte Eitelkeit oder 
unbefriedigte Gewinnsucht und können die politischen Beziehungen 
nicht trüben. Gerade die zwischen den Vertretern der großen 
Reiche geführte Korrespondenz erweckt durch ihre Intimitäten 
unser höchstes Interesse. 

In Babylonien herrschte zur Zeit Nimmurias der der Kassiten- 
Dynastie angehörende König Kadaschmancharbe. Vier Briefe von 
ihm an den Pharao und einer von diesem an den Babylonierkönig, der 
wohl als Kopie im Archiv zurückbehalten worden war, sind er- 


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§ 68. Die Tel-el-Amamabriefe. 


273 


halten. Ihr Hauptinhalt dreht sich um Heiratspläne und Ge- 
schenke, und zwar ist es dem Babylonier immer wieder um Gold 
zu tun, das, wie er meint, in Ägypten so reichlich vorhanden 
sei wie Staub. Die Heiratspläne stießen auf ägyptischer Seite auf 
prinzipiellen Widerspruch; denn der Babylonier, der dem Pharao 
seine Tochter zum Weibe senden will, begehrte seinerseits eine 
ägyptische Prinzessin für seinen Harem und mutete damit dem 
Pharao zu, seine Tochter, die wie er göttlicher Abstammung ist 
und also lediglich mit einem Sonnensohne selbst eine ebenbür- 
tige Ehe eingehen kann, in eine Mesalliance zu vergeben. Den 
stolz abweisenden Worten des Pharao : „Von jeher ist eine ägyp- 
tische Königstochter niemandem gegeben worden“, setzt Kadasch- 
mancharbe entgegen : der Pharao habe doch das Recht, zu tun, wie 
ihm beliebe, und brauche sich von niemandem dreinreden zu lassen; 
schließlich wolle er sich aber mit irgend einem anderen schönen 
Weibe zufrieden geben, die er dann als Königstochter ausgeben 
wolle. Wenn er freilich auch dagegen sich sperre, so sei er 
„nicht auf Freundschaft und Brüderschaft bedacht“, und dann 
wolle er ihm auch kein Weib schicken. Am Schluß dieses 
Briefes x bittet Kadaschmancharbe um Gold, das er für große Bauten 
dringend bedürfe; wenn er es nicht schleunig, „noch in dieser 
Ernte“ erhalte, dann brauche er es überhaupt, nicht mehr, und 
wenn ihm der Pharao dann 3000 Talente Gold schicken würde, 
würde er es nicht annehmen, sondern zurückschicken, aber auch 
seine Tochter ihm nicht zur Frau geben. 

Ein Brief * des Bumaburias 11., des dritten Nachfolgers Kadasch- 
mancharbes, an Amenophis IV. (Napchuria) ist von besonderem 
Interesse wegen seiner Anspielungen auf Assyrien, dessen König 
Assuruballith sich vermessen hat, direkt mit dem Pharao in Ver- 
bindung zu treten, obwohl er nur Lehensmann des Babyloniers 
sei. Auch dieser Brief enthält die obligate Bitte um Gold. Da 
er vollständig erhalten ist, gebe ich ihn im Wortlaut wieder: 

An Nipchuria, König von Ägypten : Burraburias, König von Kar- 
duniasch (= Babylonien), dein Bruder. Mir geht es gut; 
dir, deinem Hause, deinen Frauen, deinen Söhnen, deinem 
Lande, deinen Großen, deinen Rossen, deinen Streitwagen 
gehe es sehr gut! 

Seit mein Vater und dein Vater miteinander Freundschaft ge- 
schlossen hatten, haben sie sich gegenseitig schöne Geschenke 

1 Winckier 2 (Knudtzon 3). 

0 Winckier 7 (Knudtzon 9). 

Weber, Literatur. 18 


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274 


Kap. 18: Briefe. 


geschickt, und etwas schönes, worum gebeten wurde, haben sie 
sich nicht abgeschlagen. Jetzt hat mein Bruder mir (nur) zwei 
Minen Oold als Geschenk geschickt; nun aber: ist Gold in 
Menge vorhanden, so schicke doch so viel wie dein Vater; 
wenn aber wenig vorhanden ist, so schicke (wenigstens) die 
Hälfte von dem deines Vaters. Warum hast du nur zwei Minen 
Gold geschickt? Jetzt, da das Werk an dem Tempel vielfach ist 
und ich es stark in Angriff genommen habe und ausführe, 
schicke mir viel Gold! Auch du, was du bedarfst aus meinem 
Lande, schreibe, damit man es dir bringe ! 

Zur Zeit Kurigalzus, meines Vaters, haben die Kanaanäer alle- 
samt an ihn geschrieben: „Gegen die Grenze des Landes 
(Ägypten) wollen wir ziehen und einen Einfall machen; mit 
dir wollen wir uns vereinigen.“ Mein Vater (aber) hat ihnen 
folgendes geschrieben: „Qib es auf, mit mir gemeinsame 
Sache machen zu wollen! Wenn ihr den König von Ägypten, 
meinen Bruder, befehden und mit einem andern in Verbindung 
treten werdet, so gehe ich nicht (mit). Sollte ich nicht viel- 
mehr euch ausplündem? Denn er ist mit mir in Verbindung 
getreten“. Mein Vater hat nicht auf sie gehört um deines 
Vaters willen. Jetzt (kommt nun dies): Assyrer, Untertanen 
von mir, habe ich dir nicht geschickt, wie sie selbst be- 
richtet haben. Warum sind sie (nun doch) in dein Land ge- 
kommen? Wenn du mich liebst, so sollen sie nicht irgend- 
ein Geschäft machen; mit leeren Händen laß sie (hier) an- 
langen. 

Zum Geschenk für dich habe ich drei Minen schönen Lapislazuli 
und fünf Oespanne Rosse für fünf hölzerne Streitwagen dir 
übersandt. 

Ganz ähnlich wie zwischen Ägypten und Babylonien sind 
die Beziehungen zwischen Ägypten und Mitani-Chanigalbat, einem 
Reiche, dessen Grenzen damals von Kappadozien bis über die 
spätere assyrische Hauptstadt Ninive hinausreichten. König war 
damals Duschratta, von dem sechs Briefe an Nimmuria, einer an 
dessen Witwe Teje, drei an Napchuria erhalten sind, meist von 
außerordentlicher Weitschweifigkeit; einer davon ist in der noch 
unverstandenen Landessprache abgefaßL 

Die Mehrzahl der Briefe stammt aber von den tributpflich- 
tigen Fürsten des Westlandes, von einem ungenannten Herrscher 
auf Cypem (9), von Aziru, dem Präfekten des Amoriterlandes(lO), 
an den auch ein Schreiben (Winckler Nr. 50) des Pharao ge- 
richtet ist, von Ribaddi von Byblos (ca. 60), von Abimilki von 
Tyrus (8), Zimrida von Sidon (2), Abdchiba von Jerusalem (7), 
Jitia von Askalon (7) und von vielen andern Fürsten und Städten, 
wie Nuchaschschi, Dunip-Heliopolis, Beirut, Kadesch am Orontes, 


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§ 68. Die Tel-el-Amamabriefe. 


275 


Akko, Megiddo usw. usw. Zahlreiche Proben aus diesen Briefen 
s. bei Niebuhr, AO 1,2. 

Der Inhalt aller dieser Schreiben, sämtlich an den Pharao 
oder an hohe Beamte und Feldherm des ägyptischen Hofes ge- 
richtet, erschöpft sich in Denunziationen und Klagen über händel- 
süchtige Nachbarn, Bitten um Hilfe, die mit mehr oder weniger 
aufrichtigen Ergebenheitsversicherungen motiviert werden. Nament- 
lich sind es die Einfälle der Chabiri, der Vorläufer der Hebräer, 
die die beschauliche Ruhe der Gaufürsten stören und gegen die 
immer wieder der starke Arm der Sonne von Ägyptenland ange- 
rufen wird. 

Etwa derselben Zeit wie die Amamabriefe gehört ein Brief 
eines unbekannten altassyrischen Königs an seinen Vater, der 
König von Babel war, an; vgl. Winckler, Unteres. S. 133. Einen 
Brief aus der Kassitenzeit, der wichtige Aufschlüsse über das 
Verhältnis von Babylonien zu Assyrien gewährt, hat — ohne die 
Eingangsworte — Assurbanipal für seine Bibliothek abschreiben 
lassen \ Gleichfalls aus der Kassitenzeit stammt der Brief des 
Adadschumna?ir, König von Karduniasch an die beiden Assyrer- 
könige Assumarära und Nabudaian (III R 4 Nr. 5). Auch die auf 
palästinensischem Boden aufgefundenen Privatkorrespondenzen 
dürften in diese Zeit gehören (vgl. Hrozny bei Sellin, Taannek). 
Alle diese Briefe bedienen sich gleichfalls der für die Hammu- 
rabi- und Amamazeit charakteristischen Eingangsformel. 

Während diese Bogen im Druck sich befanden, ist nun auch 
die Kunde von der Entdeckung eines neuen „Tel-el-Amama“ auf 
dem Boden Kleinasiens gekommen 4 . Die von H. Winckler vor- 
bereiteten und im Sommer 1906 durchgeführten Ausgrabungen 
in Boghazköi, im Innern Kleinasiens, haben die Gewißheit gebracht, 
daß dort die Hauptstadt des alten Hethiterreiches begraben liegt, 
und zugleich das Staatsarchiv des hethitischen Großkönigs zutage 
gefördert. Die Urkunden — neben zahlreichen großen, voll- 
kommen erhaltenen Tafeln mehr als 2000 kleinere Stücke — ge- 
hören wie die von Tel-el-Amarna in die Zeit um 1400 v. Chr. 


1 Hommel, Assyriolog. Notes § 9; Winckler, F. I S. 389 ff.; JRAS 
1904 407 ff. 

* Vgl. Unterhaltungsbeilage zur Nordd. Allg. Ztg. 1906 Nr. 263 
(9. Nov.), OLZ 1906 Sp. 607 ff. 

18* 


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276 


Kap. 18: Briefe. 


Sie bestehen wie jene in der Hauptsache aus Korrespondenzen 
und zwar, wie es scheint, zumeist von Vasallen des Großkönigs von 
Chetaland, wieden Herrschern von Mitanni, Kisvatna, Kumana,Ala- 
schia. Daneben sind aber auch Briefe aus Ägypten gefunden worden. 
Von großer Wichtigkeit sind die Vertragsinschriften des Archivs, 
so vor allem die assyrisch-babylonische Fassung des großen Ver- 
trags zwischen Ramses II. und dem Hethiterkönige Chattuschil \ 
sowie ein Vertrag zwischen dem Hethiterkönig und seinem 
Vasallen Surasura von Kisvadua. Für die Beurteilung der inneren 
politischen Verhältnisse sind von Interesse Zensuslisten oder Kataster, 
die in der Anlage den oben § 59 besprochenen Listen aus Harran 
ziemlich genau zu entsprechen scheinen. 

Alle diese neu gefundenen Tafeln sind in babylonisch- 
assyrischer Keilschrift geschrieben, aber wie es scheint, zum 
großen Teil in der Hethitersprache abgefaßt. Da babylonische 
Ideogramme und Lesehülfen in großem Umfange verwendet 
worden sind, wird ihre Entzifferung wohl möglich sein. Damit 
ist auch eine neue Hoffnung gegeben , daß es endlich gelingen 
wird, auch das Verständnis der bisher noch so gut wie völlig 
dunklen hethitischen Hieroglyphentexte zu fördern. Die zahlreichen 
Denkmäler in babylonisch-assyrischer Sprache, die das Archiv 
enthält, beweisen von neuem die Ausbreitung der babylonisch- 
assyrischen Kultur, die Vorherrschaft der babylonisch-assyrischen 
Sprache im Völkerverkehr wie an allen politischen und kulturellen 
Zentren des alten Vorderasien. 

$ 69. Babylonische und assyrische Briefe aus der 

Sargonidenzeit. 

Im ganzen sind bisher — abgesehen von den astrologischen 
Berichterstattungen vgl. S. 281 — etwa 900 solcher Briefe ver- 
öffentlicht worden, etwa noch einmal so viel harren im Britischen 
Museum noch der Veröffentlichung. Leider sind sie erst zum 
kleinsten Teile bearbeitet. Eine Klassifikation dieser Korrespon- 
denzen ist daher hier nur in groben Umrissen möglich. 
Was zunächst äußerliche Kennzeichen anlangt, so heben sich von 
allen anderen Briefen diejenigen ab, die den König oder Mit- 


1 Vgl. die Edition und Uebersetzung der ägyptischen Fassung 
durch W. M. Müller (MVAO 1902,5). 


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§69. Babylonische u. assyrische Briefe aus der Sargonidenzeit. 277 

glieder des königlichen Hauses zu Absendern haben (etwa 30). 
Über ihre Eingangsformeln vgl. ob. S. 267. Harper hat in seiner 
Sammlung von bis jetzt 876 Briefen überhaupt die Scheidung 
nach Absendern zugrunde gelegt, vgl. den Index IV zu Bd. VIII. 
Eine allerdings verhältnismäßig kleine Gruppe läßt sich aber auch 
ausscheiden nach den Abweichungen, die in den Eingangs- 
formeln durch die Rücksicht auf die verschiedenen Adressaten 
hervortreten. Diese Abweichungen lehren die Eigentümlich- 
keiten des Briefstils kennen und sind auch interessant durch die 
Einblicke, die sie in das Wesen der Etikette in der babylonisch- 
assyrischen Gesellschaft gewähren. Die weitaus überwiegende 
Zahl der Briefe ist an den König, bis jetzt 7 an die Königin- 
mutter (Harper 236, 303, 324, 368, 478, 569, 677), 9 an den Königs- 
sohn (Harper 10, 65, 152, 175, 187, 189, 445, 500, 654), 1 an 
die Königstochter (Harper 54), etwa 70 an königliche Beamte und 
an Privatpersonen gerichtet. 

Die Schreiben an den König, wie auch alle Briefe an die 
Königinmutter haben fast durchweg die Eingangsformel „an den 
König, meinen Herrn, Dein Knecht N. N.“. Häufig findet sich 
auch, namentlich in den Briefen babylonischer Absender und 
offenbar in Andeutung spezieller politischer Verhältnisse eine 
erweiterte Form wie „an den König der Länder, meinen Herrn“ 
oder „an den König der Könige, meinen Herrn“, so nament- 
lich in den Briefen Bel-ibni’s an Assurbanipal. Einmal beginnt 
ein Brief (Harper 723) „Dein Knecht N. N. Heil dem König, 
meinem Herrn!“ Einmal (Harper 838): „Brief des N. N. an den 
König, seinen Herrn!“ Eine in manchen Briefen an den König 
(Harper 698, 721, 747, 749, 803, 832, 833, 835—837) oder 
an den sukallu (Minister od. ä.) (H £447 748, 781, 805, 844) 
vorkommende Eingangsformel ist: „Dein Knecht N. N. An die 
Person des Königs, meines Herrn, (direkt) will ich mich wenden“. 
Alle Briefe mit dieser Eingangsformel sind neubabylonisch ge- 
schrieben. Der Name des Königs wird, soviel ich sehe, in allen 
Harperbriefen nur zweimal genannt: H 422, in der zuletzt ge- 
nannten Eingangsformel; und H 524 in der gewöhnlichen Ein- 
gangsformel; beide Briefe sind an Sargon gerichtet. 

Die gewöhnliche Eingangsformel der Briefe an den König 
(an den König, meinen Herrn, Dein Knecht N. N.) wird auch 
gebraucht in den Briefen an die hohen Beamten, an den ikkaru 


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278 


Kap. 18: Briefe. 


(Landwirtschaftsministert?) 1 Harper 4, 15, 38, 183, 223, 332, 361, 
735, 816), an den A-Ba 4 mäti (H 62, 221), den A-Ba 4 ekalli 
(H 220), an den sukkallu (H 70, 132, 235), an den Rabsake, den 
Obermundschenk (H 283), an den nägir ekalli, den Tempelauf- 
seher (H 112) — an diesen auch einmal die Formel „Brief des 
N. N. an den Palastaufseher meinen Herrn“ (H 409) — an den 
amel schane (H 382), an den Vorsteher des Frauenhauses (H 145) 
und an einen noch unbestimmbaren Beamten in H 855. 

Auch in diesen Briefen ist der Name des Beamten nie ge- 
nannt Die Eingangsformel „Brief des N. N. an N. N.“ 3 ist die 
bei Privatpersonen übliche (H 185, 214, 219, 345, 527 usw.). 
Sie wird aber auch gelegentlich gegenüber dem König (H 838), 
gegenüber Beamten (H 409, 623, 806) gebraucht Auch der 
„Königssohn“ d. i. der Kronprinz, bedient sich ihrer (H 430), 
während die Königstochter die Formel „Willensmeinung der 
Königstochter an N. N.“ gebraucht (H 308). Ein Brief des Sa- 
massumukin, offenbar aus der Zeit, da er noch König von Baby- 
lonien war, an seinen Bruder, den König Assurbanipal von 
Assyrien beginnt: „an den König, meinen Bruder 4 . Brief des 
Samassumukin“ (H 426). Die Briefe an den Königssohn beginnen 
in der Regel mit der Formel „an den Königssohn, meinen Herrn, 
Dein Knecht N. N.“ In den Ausnahmen (H 10, 654) wird er 
offenbar als Mitregent seines Vaters angesprochen. Von sonstigen 
Abweichungen vom gewöhnlichen Stil seien genannt H 273, wo 
nach dem Eingang „an N. N.“ unmittelbar zur Sache geschritten 
wird. Grußformeln fehlen sonst, soweit ich sehe, nur in H 121 
bis 125, 512, 513, 515. ln einem Falle beginnt ein Brief, 
der nicht an den König gerichtet ist, mit „an meinen Herrn, 
Dein Knecht N. N“, ohne nähere Bezeichnung des Adressaten. 
Ein anderer ähnlicher Fall ist mir nicht bekannt 

Von Einfluß auf die Wahl der Höflichkeitsformeln war 
zweifellos auch der Beruf des Absenders 5 . So wünschen Feld- 


1 Von Zimmern als Epitheton des Königs selbst aufgefaßt, bei 
Behrens S. 51 Anm. 1. 

1 Das ist wohl der Landes- bzw. Palastastrolog. 

4 In den späteren Briefen ist dies die Regel, wird auch Kronbe- 
amten gegenüber gebraucht Briefe an den König aus späterer Zeit sind 
noch nicht veröffentlicht. 

4 Die Prinzen schreiben an den König als ihren „Herrn“. 

’* Vgl. Behrens, l. c. S. 26. 


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§ 69. Babylonische und assyrische Briefe aus der Sargonidenzeif. 279 

herrn wie Upachchar-Bel nicht nur dem Lande des Königs Heil, 
sondern auch den Festungen darin (H 200, 424, 732). Die Ärzte 
pflegen die ihnen am nächsten stehenden Götter der Heilkunde 
Ninib und Gula um Segen für den Adressaten anzurufen. 

Inhaltlich lassen sich am leichtesten zwei Gruppen auseinander- 
halten: 1. reine Ergebenheits- und Glückwunschadressen, 2. Briefe 
geschäftlichen Inhalts. 

Ein nach verschiedenen Seiten hochinteressantes Beispiel ist 
der Brief Harper 2 (K 183), der ausführlich die segensreichen 
Wirkungen der Regierung des Königs preist 1 : 

„An den König, meinen Herrn, Dein Knecht Adad-schum-u^ur. 
Heil dem König, meinem Herrn! Nebo und Marduk mögen 
den König, meinen Herrn, reichlich, reichlich segnen. Der 
Gott, der der König unter den Göttern ist, hat zum König- 
tum über Assyrien den Namen des Königs, meines Herrn, 
berufen. Samas und Adad haben mit ihrem treuen Blick 
dem König, meinem Herrn, für die Königsherrschaft über die 
Länder eine günstige Regierungszeit festgesetzt, beständige 
Tage, Jahre der Gerechtigkeit, schwere Regengüsse, massige 
Hochwasser, günstigen Kaufpreis. Die Götter sind gnädig, 
Gottesfurcht herrscht, die Tempel werden überreich. Die 
großen Götter des Himmels und der Erde haben in der Zeit 

des Königs, meines Herrn ; die Alten hüpfen, die 

Jungen singen. Die Frauen und Jungfrauen ergreifen mit 
Jauchzen [den Beruf?] der Frauen: sie machen Beilager, 
Söhnen und Töchtern schenken sie das Leben, die Zeugung 
ist gesegnet. Wen seine Sünden dem Tode überantworten, 
dem schenkt der König, mein Herr, das Leben. Die viele Jahre 
hindurch gefangen saßen, die hast du befreit; die vieleTage lang 
krank lagen, sind neu belebt; die hungrig waren, sind gesättigt, 
die traurig waren, sind getröstet; die Anpflanzungen sind mit 

Früchten (?) bedeckt“ Dann klagt der Schreiber in 

rührenden Worten, daß sein Sohn nicht wie die Söhne anderer 
Beamter an den Hof berufen worden sei. Das war offenbar 
durch Intriguen der Kollegen vereitelt worden. Nun bittet er 
den König, daß es seinem Sohn vergönnt sein möchte, in den 
Dienst des Königs zu treten. 

Unter den anderen Briefen sind die Berichte der Gouverneure 
und Statthalter sowie der Feldherrn, die vor dem Feinde stehen, 
oft von größtem historischen Interesse, z. B. H 280 und 281 
aus dem Feldlager in Elam, H 144, 197, 380, 381, 424, 444 
aus Armenien, H 344 aus dem Meerland, H Ö9J aus Arabien, 
259 berichtet über Scharmützel gegen Babylonier, 349 über die 


* Vgl. BA 1,617 ff. 


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280 


Kap. 18: Briefe. 


Unterdrückung eines Aufstandes in Borsippa. Das Intriguenspief, 
das in Babylonien allezeit gegen Assyrien im Schwange ging, trieb 
besonders üppige Blüten zur Zeit, da Samassumukin gegen seinen 
königlichen Bruder zu rebellieren begann, und kommt auch in 
mancherlei Klagen an den Assyrerkönig zum Ausdruck (vgl. 
Peiser in MVAG 1898,6). ln H 418 meldet der neuemannte 
Bürgermeister von Babel, daß er sein Amt angetreten, in die Stadt 
eingezogen und wie er aufgenommen worden sei. 

Denunziationen waren überhaupt eine stehende Regel in dem 
babylonisch-assyrischen Polizeistaat; eine ganze Anzahl hoher Be- 
amter hatten die Abgaben für den Tempel verweigert (H 43), über 
nachlässige Tempelbeamte berichtet H 42, ein Offizier hat das 
väterliche Haus des Schreibers geplündert (H 152), daß sich einige 
eben beförderte Offiziere in der Freude darüber bezecht haben, 
hinterbringt H 85 dem König. Der König wird auch in strittigen 
Fällen als Schiedsrichter angerufen (H 168, 177, 179). Der Ver- 
fasser von H 99 beklagt sich über zu hohe Besteuerung. Eine 
große Zahl von Briefen berichten über Pferdelieferungen für den 
Hof (H 61, 63, 71, 192, 252, 394, 440 usw.). H 81 berichtet 
über den Ausfall der Weinlese. Der Verfasser von H 102 klagt, daß 
es bei dem ihm übertragenen Kanalbau an Arbeitern mangelt, der 
von H 1 1 4 bittet den König, dafür zu sorgen, daß er das Gold, 
das ihm zur Anfertigung von Götterstatuen versprochen ist, doch 
endlich erhalte. Viele Briefe enthalten eine ganze Reihe von Be- 
richterstattungen: H 128 über den Vollzug einer geheimen Ver- 
haftung, über das Verhalten des Volks im Verwaltungsbezirk, über 
den Ausfall der Ernte, über Wetterschaden. Zahlreich sind die 
Briefe von Ärzten, ln H 391 handelt es sich um die Person 
des Königs selbst Der Arzt rechtfertigt seine bisherige Behand- 
lungsmethode und gibt neue Heilmittel an. In rührender Weise 
erscheint der König besorgt um das Ergehen ihm nahestehender 
Beamten, über das er sich fleißig Bericht erstatten läßt (H 1 , 77, 
108, 109, 204 usw.). H 274 gibt dem Dank eines durch die 
Fürsorge des Königs genesenen Kranken Ausdruck. In H 324 
wird die Königinmutter, die um ihren im Feld stehenden könig- 
lichen Sohn besorgt ist, getröstet und aufgerichtet : „ein Gnaden- 
bote Bels und Nebos zieht mit dem König, meinem Herrn“. 

In großer Zahl sind Briefe religiösen Inhalts vertreten, Be- 
richte über Götterprozessionen (H 42, 65, 338 u. a.), über kul- 
tische Handlungen, die zur Abwehr von allerlei Übel anbefohlen 


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§ 70. Briefe aus neubabylonischer und persischer Zeit. 281 


waren (H T $, 23, 24 usw.), besonders aber über die Deutung 
merkwürdiger Prodigien durch die Wahrsagepriester. H 9 be- 
richtet über die Orakelbefragung, die der König über 4 politische 
Vornahmen angeordnet hat; ähnlichen Inhalts sind H 31 u. H 58. 
ln H 137 wird dem König mitgeteilt, daß eine Mondfinsternis 
am westlichen Himmel eintrete, die eine Niederlage der Feinde 
im Westen bedeute, also einen Erfolg des Feldzuges dorthin ver- 
spreche. 

Astrologische Berichterstattungen sind in außerordentlich 
großer Zahl aus der Sargonidenzeit erhalten. Aber nur der 
kleinste Teil derselben scheint eine Antwort auf vorhergehende 
Anfrage des Königs zu enthalten und sich auf spezielle Fälle zu 
beziehen. Die große Mehrzahl sind vielmehr spontane Bericht- 
erstattungen über alle im Bereich der betreffenden astrologischen 
Station beobachteten auffallenden himmlischen und irdischen Er- 
scheinungen. Sie unterscheiden sich von den anderen auch 
äußerlich durch das Fehlen der Adresse und der Grußformeln. 
Sie scheinen also nicht an die Person des Königs, sondern an 
die astrologische Zentralstelle in Babel gerichtet zu sein. 

Von Privatbriefen sei noch H 219 erwähnt, in dem ein 
Sohn seinem Vater versichert, daß er für ihn bete. 

Literargeschichtlich von größtem Interesse ist endlich ein 
Brief 1 eines nicht genannten Königs an einen gewissen Schadunu, 
in dem der Adressat angewiesen wird, Abschriften von allen Be- 
schwörungstexten, die sich in Borsippa auffinden lassen und in 
Assyrien nicht vorhanden sind, zu beschaffen. Man geht wohl 
nicht fehl, in diesem König Assurbanipal zu vermuten, der diese 
Abschriften zur Ergänzung seiner Bibliothek begehrte. Verwandte 
Texte sind auch Harper 18 (vgl. Behrens S. 93 f) und 447. 

§ 70. Briefe aus neubabylonischer und persischer Zeit. 

Textausgabe: CT XXII, vgl. auch den „Descriptive Index“ Kings 
ebd. S. 4 ff. 

Während der Drucklegung dieses Buches ist vom Britischen 
Museum eine Sammlung von 245 Briefen aus der Zeit von etwa 
600 bis 450 veröffentlicht worden 2 . Diese Briefe haben sämtlich 
einen in der Hauptsache privaten Charakter, beziehen sich auf die 

1 CT XXII, Nr. 1. 

2 3 Briefe, darunter der oben genannte, die mit dieser Sammlung 
zugleich veröffentlicht wurden, sind offenbar älter. 


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282 


Kap. 19: „Wissenschaftliche“ Texte. 


Lebensinteressen des gemeinen Mannes im Bereich der Güter- 
verwaltung des Samastempels oder anderer Tempel zu Sippar. 
Im Gegensatz also zu dem zumeist politischen Charakter der 
Briefe der Sargonidenzeit liegen hier durchweg Dokumente des 
Geschäftslebens, Zeugnisse des Handels und Wandels der Ge- 
werbe oder Ackerbau treibenden Bevölkerung vor in der Form 
von Korrespondenzen, Berichterstattungen, Anfragen u. drgl. an 
die zuständigen Organe der Grundherrschaft oder an Privat- 
personen. Der Stand des Absenders scheint nie genannt, dagegen 
kommt als Adressat sehr häufig der „Priester von Sippar“ oder der 
qepu, ein hoher Beamter, vor. Wenn diese Adressaten häufig 
als „Vater“ oder „Bruder“ von dem Absender angeredet werden, 
so ist das wohl nicht als Verwandtschaftsbezeichnung aufzufassen. 
Sehr häufig sind einzelne Briefe an mehrere Adressaten zu- 
gleich gerichtet, die dann meist als „Brüder“ des Absenders be- 
zeichnet werden. 

Die, soweit ich sehe, ausnahmslos gebrauchte Form der Ein- 
leitung ist folgende : Brief (Im) des N. N. an N. N., woran sich 
ein kürzerer oder längerer Segenswunsch meist unter Anrufung 
der Götter Bel und Nebo oder Nebo und Marduk schließt. 

Einzelne von den Tafeln sind genau und zwar nach Regie- 
rungsjahren des Nabonaid, Cyrus, Kambyses oder Darius datiert. 

Die Briefe sind auf oblonge Tontafeln geschrieben, die etwas 
kleiner sind als die in der altbabylonischen Periode gebräuch- 
lichen. Auch die Schrift ist kleiner und gedrängter als auf den 
Tafeln der früheren Zeit. Wie damals aber wurden auch in 
dieser späten Zeit die Briefe in Tonhüllen eingepackt und zur 
Versendung gebracht. Die Hülle trug stets den Namen des 
Adressaten, gelegentlich auch Name und Siegel des Absenders. 
Bei einigen Tafeln der Sammlung finden sich Siegelabdrücke auch 
am Schlüsse des Briefes selbst angebracht. 


Kap. 19. „Wissenschaftliche“ Texte. 

$ 71. Allgemeines. 

Der Ausdruck „wissenschaftliche“ Texte ist in der baby- 
lonisch-assyrischen Literatur nur mit Einschränkung zu gebrauchen. 
Es unterliegt zwar keinem Zweifel, daß die Pflege der „Wissen- 


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§ 71. Allgemeines. 


283 


schäften“ namentlich in Babylonien überaus rege war und erstaun- 
liche Ergebnisse gezeitigt hat, so vor allem in der Astronomie, 
Astrologie und Mathematik, und sicherlich war auch das 
Studium der Schriftgeschichte, die Paläographie, und die Be- 
schäftigung mit der sumerischen Sprache von einem im besten 
Sinne „wissenschaftlichen“ Geiste getragen. Wissenschaftlichen 
Bestrebungen verdanken vielleicht auch, wenigstens zum Teil, die 
Synonymenlisten und die Kommentare zu alten Literaturwerken 
ihre Entstehung. Auch die oben § 56 besprochenen historio- 
graphischen Texte sind zweifellos als Früchte wissenschaftlicher 
Betätigung zu würdigen. Für die Heilkunde haben wir unmiß- 
verständliche Belege, die bekunden, daß sie in wissenschaftlichem 
Sinne geübt und gepflegt worden ist, wenn ihre Grundlage und 
Methode auch grundsätzlich denen der modernen Medizin wider- 
sprechen und sie selbst den engen Zusammenhang mit Magie 
und Beschwörungskunst nie verloren hat 

Wir dürfen freilich in keinem einzigen Falle die babylonisch- 
assyrische „Wissenschaft“ nach Voraussetzungen, Motiven und 
Zielen ebensowenig wie nach ihren Methoden mit der modernen 
vergleichen. Jene hatte ihre eigentümlichen erkenntnistheoretischen 
Voraussetzungen ebenso wie diese, jene war genau wie diese 
durch eine Weltanschauung gebunden. Ein wesentlicher Unter- 
schied liegt auch in den Motiven der wissenschaftlichen Forschung 
hier und dort Die moderne Wissenschaft ist wenigstens grund- 
sätzlich von aller Tendenz losgelöst, sie hat die stärkste Wurzel 
ihrer Kraft in ihrer prinzipiellen Absolutheit, die keine Marsch- 
richtung anerkennt, die sich ihr nicht aus ihrer eignen Entwick- 
lung heraus von selbst aufzwingt. Der babylonisch-assyrischen 
Wissenschaft, deren literarische Zeugnisse wir vor uns haben, 
war der Gedanke einer Wissenschaft um der Erkenntnis willen 
vollständig fremd. Sie war lediglich ein Mittel zum Zweck, nie 
Selbstzweck. Sie arbeitete mit bestimmten Voraussetzungen und 
erschöpfte sich in der Begründung und Verdeutlichung dieser 
Voraussetzungen. Die Voraussetzungen selbst waren ihr unan- 
tastbar, standen außerhalb aller Diskussion als das schlechthin 
Gegebene, als der eine feste Punkt, zu dem alles, was zu allen 
Zeiten im Weltenraum vor sich ging, eine Beziehung haben 
mußte, wenn es einen Sinn haben sollte. Diese Beziehung auf- 
zuweisen, diesen Sinn auszulegen war ihre Aufgabe. 

So mußte alle Astronomie ganz von selbst zur Astrologie 


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284 


Kap. 19: „Wissenschaftliche“ Texte. 


werden. Die Erkenntnis der kosmischen Erscheinungen gewann 
nur dann Bedeutung, wenn sie in Beziehung zu der göttlichen 
Weltregierung gesetzt waren. 

Eine weitere Anwendung erfuhren die astronomischen 
Kenntnisse im Kalender, dessen Bedeutung für das bis ins Kleinste 
wohlgeordnete Staatswesen, für Ackerbau, Handel und Wandel 
allein hingereicht hätte, die Pflege der Astronomie auf der Höhe 
zu erhalten. 

Wie die Astronomie, so mußten in größerer oder geringerer 
Unmittelbarkeit auch alle anderen Wissenszweige einem letzten 
Endziele oder einer ersten Voraussetzung, immer aber praktischen 
Zwecken dienen. 

Die Geschichtswissenschaft hatte die Aufgabe, die im Sinne 
der Weltanschauung folgerichtige Entwicklung alles Weltge- 
schehens im einzelnen nachzuweisen, die Entsprechung der 
irdischen Ereignisse mit den präexistenten Normen darzutun, 
aufzuzeigen, wie sich im Völkerschicksal der von Urbeginn an 
festgelegte „Kreislauf“ der „Bestimmungen“ vollzog. Ihr lag es 
ob, immer wieder den Zusammenklang der sich vor den Augen 
der Mitlebenden abspielenden Geschehnisse mit den ewigen Rat- 
schlüssen der Götter, die Legitimität aller irdischen Ordnung auf- 
zuzeigen und in Anerkennung zu erhalten. Freilich ein theo- 
retisches Werk hat diese Geschichtswissenschaft nicht hinter- 
lassen, kein Kompendium, das alle ihre Grundsätze und die 
Methoden ihrer Anwendung in unmißverständlichen Sätzen über- 
lieferte. Wir vermögen sie lediglich aus einigen Spuren ihrer 
praktischen Betätigung zu erschließen. Die Beispiele Nabu- 
naids, Sargons, Nabonassars, Senacheribs sind oben S. 207 f. 
besprochen. Ein besonders lehrreiches Beispiel der von dieser 
„Wissenschaft“ inspirierten Geschichtskonstruktion hat uns Berosus 
in seinem Geschichtswerk überliefert Vgl. auch oben S. 200 f. 
Auch die Übertragung bestimmter legendarischer Stoffe auf ge- 
wisse Herrscher, vornehmlich auf die Dynastiengründer, geht im 
letzten Sinn auf diese babylonische „Wissenschaft“ zurück. Das 
Studium der Vergangenheit hatte ausschließlich die Interessen der 
Gegenwart im Auge. Nicht wie die Vergangenheit war, sondern 
wie die Gegenwart sein mußte, wenn sie ihre Bestimmung er- 
füllen wollte — das zu erkennen war die treibende Kraft aller 
Bemühungen der babylonischen Wissenschaft um die Geschichte 
der Vorzeit. 


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§ 71. Allgemeines. 


285 


Wie Astronomie und Geschichtswissenschaft nicht um ihrer 
selbst willen gepflegt wurden, so waren auch beim Studium der 
Schrift und der Sprache der sumerischen Sprachdenkmäler vor 
allem praktische Interessen maßgebend, die ihrem Wesen nach 
wiederum stark von der Weltanschauung des alten Orients be- 
einflußt waren. Die Kontinuierlichkeit der religiösen Übung war 
das stärkste Band, das die jeweilige Gegenwart im alten Orient 
mit der Vergangenheit, mit dem Anfang aller Dinge in Verbin- 
dung und Beziehung erhielt. Das Verständnis der religiösen Ur- 
kunden, vor allem der Zauberformeln und Beschwörungstexte 
hatte aber eine genaue Kenntnis der altgeheiligten Sprache zur 
unabweisbaren Voraussetzung. Daher war ihr Studium ebenso- 
sehr eine sittliche Pflicht, wie eine Forderung des persönlichen 
Interesses. 

Besonders deutlich liegt der Zusammenhang des wissen- 
schaftlichen Betriebes in Babylonien mit den Grundlehren der 
Religion und Weltanschauung in der Medizin zutage, ln an- 
mutiger Form kommt dieser Zusammenhang in der Legende vom 
Zahnschmerzwurm (vgl. § 1 7) zum Ausdruck. Der Gedanke, daß - 
alle Krankheit Wirkung unheilvoller Dämonen ist, zieht sich durch 
die ganze Literatur der Beschwörungsformeln hindurch. Für die 
Beziehungen, die zwischen den Krankheitserscheinungen und den 
Vorgängen im Kosmos aufgespürt wurden, bieten die Ominatexte 
zahllose Belege. 

Wenn man nun freilich von einer babylonisch-assyrischen 
Geographie, Zoologie, Mineralogie u. drgl. spricht, so hat das in 
den erhaltenen Texten keinerlei Stütze, die meist lediglich als Zu- 
sammenstellungen von Vokabeln, nach sachlichen Gesichtspunkten 
gruppiert, aufzufassen sind. Mit demselben Rechte könnte man dann 
auch in den Götter- und Tempellisten Zeugnisse einer theologischen 
Wissenschaft erblicken. Daß auch diese Zusammenstellungen eine 
geistige Tätigkeit voraussetzen und bekunden, gibt noch kein 
Recht, sie als Ergebnisse eines wissenschaftlichen Betriebes anzuer- 
kennen. Die Beurteilung des babylonischen Geisteslebens kann 
eines so stark verkürzten Maßstabes wohl entraten. 

Dagegen darf man als eine ganz spezifisch babylonische 
Wissenschaft die Ominologie bezeichnen im Hinblick auf die bis 
zur denkbar höchsten Virtuosität ausgebildete Fähigkeit der An- 
wendung der aus dem System der Weltanschauung gewonnenen 
Erfahrungssätze auf alle Vorkommnisse am Himmel und auf der 


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286 


Kap. 19: „Wissenschaftliche“ Texte. 


Erde. Bei der Besprechung der Ominatexte wurde gelegentlich 
auf die subtile Spezialisierung aller „Vorzeichen“ hingewiesen. 
Uns fehlt heute noch in den meisten Fällen der Schlüssel zum 
Verständnis der in den großen Ominawerken niedergelegten Deu- 
tungen. Es kann aber keine Frage sein, daß wir es hier mit 
den Zeugnissen einer eigenen, in jahrtausendelanger Übung bis 
ins Kleinste ausgebildeten „Wissenschaft“ zu tun haben. Eine 
Sparte dieser Wissenschaft ist die Astrologie, eine andere die 
Leberschau, eine andere die Becherwahrsagung. Für jedes Be- 
obachtungsfeld galt es, eine fast unerschöpfliche Fülle von Varia- 
tionen festzustellen und für jeden einzelnen Fall die Beziehung 
zu den aus der „Weltanschauung“ gewonnenen Erfahrungssätzen 
herzustellen. So fremdartig eine solche „Wissenschaft“ unseren 
Begriffen ist, so haben wir doch kein Recht, ihr diesen Ehren- 
titel zu weigern, da sie alle formalen Forderungen erfüllt, die man 
an die Wissenschaft zu stellen berechtigt ist. 


§ 72. Philologische Texte. 

L Syllabare. 

Unter Syllabaren versteht man Zeichenerklärungen in Tabellen- 
form. Aber nur die Syllabare der sog. I. Klasse (Sa) führen ihren 
Namen mit Recht, denn bei den anderen handelt es sich nicht um 
Erklärung von Silbenzeichen, sondern von Wortzeichen oder 
Ideogrammen. 


1. Die Syllabare der l. Klasse (Sa). 

Publiziert zuletzt in CT XI. pl. 1 ff. — Die verschiedenen Frag- 
mente sind zusammengearbeitet von Delitzsch AL* S. 83ff. Bearbeitung: 
Hommel, Sumerische Lesestücke, S. 66 ff. Über die Anordnung von 
S a vgl. Peiser, ZA 1, 95 ff.; II. 316ff. und Zimmern in ZDMQ. 50, 667. 

Bestehend aus 3 Kolumnen, von denen die mittlere das zu 
erklärende Zeichen, die linke die Aussprache, und zwar sowohl 
die semitische wie die sumerische, die rechte den Namen des 
Zeichens enthält. Z. B.: 


ku-ü 

zi-i 

du-ur 

(tu-ku)-ul 


X 

X 

X 

X 


tu-kul-lum 

tu-kul-lum 

tu-kul-lum 

tu-kul-lum 


d. h. das Zeichen X, das in der Sprache der Grammatik tukullum 
heißt, hat die Lautwerte ku, zi, dur, tukul. 


Hatte der angehende babylonische oder assyrische Gelehrte 
mit der Absolvierung der Syllabare Sa sich der Anfangsgründe 


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§ 72. Philologische Texte. 


287 


der Schriftlehre bemächtigt, so führten ihn die Syllabare Sb bis 
Sd in die tieferen Geheimnisse der Schrift und speziell in den 
Wortschatz der sumerischen Sprache ein. 

2. Die Syllabare der 2. Klasse (Sb). 

CT XI pl. 14 ff. ; Delitzsch, AL* S. 91 ff., jetzt ergänzt durch das 
neubab. Fragment bei Weißbach, Babylonische Miszellen, S. 27 ff. pl. lOf. 
Bearbeitung: Hommel, Sum. Lesestücke, S. 74ff. 

Bestehend aus 3 Kolummen, von denen die mittlere das zu 
erklärende Ideogramm, die linke dessen sumerische Aussprache, 
die rechte dessen semitische Übersetzung enthält Z. B. 1 : 
ni-e X : ki-nu-nu (Kohlenbecken) 

i-zi X 1 i-scha-tum (Feuer) 

bi-il X ! qa-lu-ü (verbrennen) 

d. h. das Ideogramm X bedeutet in der (sumerischen) Aussprache 
ne: Kohlenbecken, in der Aussprache izi : Feuer, in der Aussprache bil: 
verbrennen. 

Eine eigenartige Variante zu S b bilden die Listen, die CT XII, 
pl. 24 ff. veröffentlicht sind. Während sich Sb mit der Auf- 
führung der wichtigsten Ideogramme und immer nur einem semi- 
tischen Äquivalent begnügt, werden hier die ganzen Materialien in 
der denkbar erschöpfendsten Vollständigkeit vorgeführt, und zwar 
unter strenger Einhaltung der Anordnung nach Zeichenformen. 
Soweit die erhaltenen Fragmente einen Einblick gestatten, scheint 
es sich ausschließlich um solche Zeichen zu handeln, denen andere 
Zeichen eingeschrieben werden können. Nach der Erörterung des 
Grundzeichens nach allen seinen sumerischen Lautwerten und 
sämtlichen semitischen Bedeutungsnüancen werden alle Modifi- 
kationen durch Einschreibung anderer Zeichen ebenso abgehandelt. 
Daß der maßgebende Gesichtspunkt bei diesen Zusammenstellungen 
die Möglichkeit eingeschriebener Elemente ist, geht daraus 
hervor, daß jedesmal das eingeschriebene Zeichen neben dem 
Kompositum wiederholt wird. 

Eine Grenzlinie zwischen S b und den durchgehends mit Glossen 
versehenen Vokabularien (vgl. S. 289) ist kaum streng durchzuführen. 
Streng genommen gehört auch S b zu den Vokabularien, da hier das 
charakteristische Merkmal der übrigen Syllabare, die Anführung der 
Zeichennamen, fehlt und nicht Silben-, sondern Sinnzeichen erklärt 
werden. Doch ist, um Verwirrung zu vermeiden, die übliche Be- 
zeichnung beibehalten worden. 

1 Weißbach, I. c. S. 28. 


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288 


Kap. 19: „Wissenschaftliche“ Texte. 


3. Die Syllabare der 3. Klasse (Sc). 

CT XXI pl. 29ff.; Delitzsch, AL* S.67ff.; 4 R* 62f. Bearbeitung: 
Hotnmel, Sum. Lesest, S. 83 ff. 

Bestehend aus 4 Kolumnen stellen sie bis zu einem ge- 
wissen Grade eine Kombination von S* und Sb dar. Zu den 
3 Kolumnen von Sa (Aussprache, Zeichen, Zeichenname) treten 
in der 4. Kolumne die semitischen Übersetzungen des ldeo- 
grammes und zwar unter gelegentlicher Anfügung zahlreicher 
Synonyma. Es handelt sich nicht darum wie in Sa, in der ersten 
Kolumne alle Möglichkeiten der Aussprache zu registrieren, es 
wird vielmehr für jedes Zeichen nur eine Aussprache mitgeteilt, 
die für eine ganze semitische Wörtergruppe Geltung hat; wenn 
dagegen dasselbe Ideogramm in verschiedener Aussprache ver- 
schiedene Bedeutung hat, so wird es meist auch an verschiedenen 
Stellen behandelt Die Absicht von Sc ist demnach die Samm- 
lung der babylonisch -assyrischen Übersetzungen, die für ein 
Ideogramm unter Voraussetzung einer bestimmten Aussprache 
möglich sind. Es korrespondieren also Kol. 1 und Kol. IV, während 
Kol. II und III als Erläuterung beigegeben sind. Z. B.: 


d. h. 


(männlich) 

(gerade) 

(zeugen, einem Weibe bei- 
, . (wohnen) 

(aufschutten) 

(ausgießen) 

(ausgießen) 

(Tafel) 

(umgeben) 

(wollen) 

das Ideogramm Y, das dubbu heißt, hat in der Aussprache dub 


gi-isch 

X 1 

| ni-ta-chu 

zi-ka-ru 

i-scha-ru 

ri-chu-ü 

du-ub 

Y 

du-ub-bu 

scha-pa-ku 

ta-ba-ku 




sa-ra-qu 

tu-ub-bu 




la-mu-ü 

gi-bu-u 


die Bedeutungen „aufschütten“, „ausgießen“ usw. usw. 


4. Die Syllabare der 4. Klasse (Sd). 

Br.Mus. 82 — 8 — 16, 1 : Smith, Miscellaneous Textes 25 — 26; Abel- 
Winckler, Keilschrifttexte 54 f.; CT XI, 49f. Bearbeitung: Hommei, Sum. 
Les. 96 ff. Außerdem: Sm 1300 (CT XI, 35 f.), K 4174 (ib. 45—48, vgl. 
Meißner, Supplement, Taf. 8—9) und kleinere Fragmente in CT XI. 

Während die als Sc bezeichneten Tabellen durchaus ein- 
fache Ideogramme behandeln, enthält eine weitere Gattung 
von Syllabaren zusammengesetzte Ideogramme, und zwar neben 


1 Dasselbe Ideogramm in der Aussprache usch ist an anderer Stelle 
behandelt. 


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§ 72. Philologische Texte. 


289 


sachlichen Begriffen vor allem auch Städtenamen, Beamtentitel u. a. 
In der Anlage entsprechen diese Tabellen völlig denen der 
Klasse Sc. 

II. Lexikalische Texte. 

In allen bisher besprochenen Texten handelt es sich vor allem 
um die Erlernung der Ideogramme. Eine große Zahl von 
Listen sind aber rein lexikalischer Natur, und zwar sind es 
sowohl sumerisch-semitische Vokabularien, als auch semitische 
Synonymenlisten zur Erlernung offenbar besonders der der Literatur- 
sprache angehörenden und sonstiger selten vorkommenden Wörter. 
Die Anordnung ist durchweg dieselbe, in zwei Kolumnen, von 
denen die linke das zu erklärende, die rechte das erklärende 
Wort enthält. 

1. Sumerisch-semitische Vokabulare. 

Veröffentlicht CT XVIII. pl. 32—50 ; CT XIX, pl. 1-50 ; CT XII, 
1-23, 33—50. 

Sie setzen die Kenntnis der Sprache meist voraus, bei einigen 
Tafeln ist aber gleichwohl die sumerische Aussprache in kleiner 
Schrift als Glosse den sumerischen Wörtern entweder immer oder 
wenigstens vielfach beigeschrieben. Der Umfang dieser Listen 
muß sehr groß gewesen sein. Soweit sie nicht Schülerübungen, 
sondern Lehrbücher waren, sind sie wohl alle in Serien einge- 
gliedert gewesen. So haben wir von der Serie An-Ta-Gal: 
schaqü große Stücke der 3., 5., 7., 8. und vielleicht auch der 10. 
Tafel (CT XVIII). Desgleichen große Stücke einer Serie Alam : 
la-a-nu (ib). Von der Serie Sag-AIan : nabnitum sind Stücke der 
1., 4., 5., 10., 21., 22., 23., 25. Tafel erhalten (CT XII, 33 
bis 50), von einer Serie Id-A : na-a-qu wissen wir, daß sie aus 
mindestens 40 Tafeln bestanden hat (CT XII, 1 — 23, kopiert laut 
Unterschrift im 10. und 11. Jahr des Artaxerxes I., also 455 und 
454 v. Chr. nach Originalen zu Borsippa und Babel [pl. 1 3]). Die 
sumerische Aussprache ist in beiden Serien durchweg in Glossen 
beigeschrieben. Wie in Sc sind in der semitischen Kolumne 
zahlreiche Synonymen mit aufgenommen. Bei der überwiegenden 
Mehrzahl der Texte kann aber die Zugehörigkeit zur betr. Serie 
wegen ihrer fragmentarischen Erhaltung nicht mehr festgestellt 
werden. Die Anordnung dieser Vokabularien ist keine einheit- 
liche, wie sich auch bei den Syllabaren Sb bis Sd ein festes 
System nicht erkennen läßt. Die Gestalt der Zeichen ist wohl 

Weber, Literatur. 19 


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290 


Kap. 19: „Wissenschaftliche“ Texte. 


das im allgemeinen maßgebende Prinzip, das aber durch andere 
Einflüsse durchbrochen wird. So sind die sumerischen Worte 
zumeist nach den Anfangscharakteren geordnet, dazwischen werden 
solche, die mit denselben Charakteren schließen, angefügt, andere 
sind lediglich nach verwandten Bedeutungen gruppiert. 

Möglicherweise gehören hierher auch die zweisprachigen Listen, 
die nach Gegenständen geordnet sind (vgl. S. 293 f.). 

2. Semitische Synonymenlisten. 

Texte: CT XVIII, 1-31. 

Von Serien ist bis jetzt nur eine: malku : scharru erkannt 
(1. c. pl. 17 — 31), die zum mindesten aus 8 Tafeln bestand. 
Identifiziert konnten bisher werden Stücke der 1., 3. u. 8. Tafel. 

3. Dreisprachige Listen. 

a) Das dreisprachige Vokabular K 4319: 5 R 11—12. Delitzsch, 
AL’, 126 — 130; Abel-Winckler, Keilschrifttexte, 56f. Bearbeitet 
von Hommel, Sum. Les., 55 ff. 

b) Die dreisprachige Götterliste Kl 71: 2R59 + 2R54 Nr. 2; 
Lenormant, Choix, Nr. 29. Bearb. v. Hommel, 1. c. S. 45 ff. 

Mit dem Studium dieser Texte erklomm der Priesterzögling 
eine ungleich höhere Stufe. Sie stellen die beiden „Dialekte“ der 
sumerischen Sprache einander gegenüber und fügen in einer 
3. Kolumne die semitische Übersetzung bei. Sie dienten zunächst 
wohl zur Erlernung auch der „neusumerischen“ Formen der 
Sprache der Bußpsalmen usw. Da man sich nicht damit be- 
gnügte, der „dialektischen Form“ der Wörter die semitische Über- 
setzung beizufügen, sondern ihr auch die „altsumerische“ gegen- 
überstellte — zumal in der Götterliste — , so beweist das zum 
mindesten ein über den nächsten Bedarf und den rein mecha- 
nischen Wissenschaftsbetrieb hinausgehendes, sprachgeschichtliehes 
Interesse. Man könnte aber vielleicht auch weitergehen und an- 
nehmen, daß die babylonisch-assyrischen Grammatiker über lexi- 
kalische Zusammenstellung hinausgegangen sind und die heilige 
Sprache auch hinsichtlich ihrer lautgesetzlichen Entwicklung stu- 
diert haben. Auf jeden Fall sind sie für uns für die Erkenntnis 
dieser Entwicklung von allergrößter Bedeutung. 

4. Das sog. Kossäische Vokabular 
Transkr. u. Bearbeitung bei Delitzsch, Sprache der Kossäer 14ff. ; 
vgl. auch Hommel, Grundriß S. 36f. — Neubabylonische Schrift; bis auf 
wenige Zeilen vorzüglich erhalten. 

enthält auf 48 Zeilen ebensoviele „kossäische“ Worte mit neben- 


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§ 72. Philologische Texte. 


291 


stehender semitischer Übersetzung, und zwar zunächst 16 Gottes- 
namen, dann allgemeine Begriffe wie Gott, Stern, Himmel, Erde, 
Wind, König, Mensch, Bogen, Schatten, Hilfe usw. 

Die Veranlassung zur Abfassung dieses Vokabulars war viel- 
leicht das Bedürfnis, ein Hilfsmittel zum Verständnis der Sprache 
des mit den Assyrem in vielfache Berührung kommenden Volks 
der Kassiten zu schaffen; in diesem Falle müßten wir freilich 
noch weitere ähnliche Texte erwarten. Wahrscheinlicher ist mir, 
daß die Tafel eine linguistische Studie eines sprachenbeflissenen 
Gelehrten enthält. Beachtenswert ist übrigens, daß die Mehr- 
zahl der erklärten Wörter Bestandteile kassitischer Personen- 
namen sind. 

Die vollständig der Erklärung von Personen- und zwar meistens 
Königsnamen gewidmete Tafel 5 R 44 enthält in Kol. I, 23—29; 111,52; 
IV, 33 —44 kassitische Personennamen mit semitischer Übersetzung. 
Vielleicht enthält auch K 8668 eine kassitisch-semitische Wörterliste; 
dagegen scheint in OBJ Bd. I, pl. 63 Nr. 146 eine rein kassitische 
Wörterliste ohne semitische Übersetzung vorzuliegen (vgl. Hommel 
Grundriß, S. 36 A. 3). 

III. Grammatische Texte. 

1. Ein umfangreicher Text, der nach den Anfangsworten 
den Namen „ana ittischu“ führt und wie alle anderen ähnlichen 
Texte jedenfalls allgemein in den Schulen gebraucht worden ist, 
lehrt uns den weiteren Gang des semitischen Sprachunterrichts 
kennen. Er enthält die Formenlehre der sumerischen Sprache 
in Paradigmen und kurzen Sätzen, aber auch schwierige Materialien, 
wie namentlich Beispiele aus den Gesetzessammlungen. Im Zu- 
sammenhänge dieser Serie sind auch die oben § 61 besprochenen 
sog. „sumerischen Familiengesetze“ überliefert worden. 

Es sind bis jetzt 4 Tafeln dieser Serie identifiziert (1, 2, 6(?), 7), 
eine weitere mit großer Wahrscheinlichkeit ihr zugewiesen. Diese Tafeln 
sind zum größten Teil gut erhalten, in 4 Kolumnen geschrieben und 
zählen 262, 248, 194, 175, 221 Zeilen. Veröffentlicht u.a. in 2 R 11 (Haupt, 
ASKT 45 ff.), 2 R 12f. (Haupt, S54ff.), 2 R 14f. (Haupt, 71 ff.), 2 RIO u. 
5 R24 (Lenormant, Choix, Nr. 15) 2 R8f. (Haupt S. 69ff.). Auszüge bei 
Delitzsch, AL 3 "- 4 ; über die Literaturnachweise zu den einzelnen Frag- 
menten und Duplikaten s. Bezold, Literatur S. 211 ff. Vgl. auch Hommel, 
Geschichte S. 382 ff., Meißner, WZKM 4, 301 ff. 

Alle bisher gefundenen Fragmente stammen aus Assurbani- 
pals Bibliothek, gehören aber, wie es scheint, verschiedenen Re- 
zensionen an. Ein grammatisches Paradigma z. B. lautet (Delitzsch, 
AL*, S. 113, Z. 92 ff.): 

19 * 


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292 


Kap. 19: „Wissenschaftliche“ Texte. 


Ki-Ni-Ta 

Ki-Ne-Ne-Ta 

Ki-Mu-Ta 

Ki-Me-Ta 

Ki-Zu-Ta 

Ki-Zu-Ne-Ne-Ta 


it-ti-schu 

it-ti-schu-nu 

it-ti-ia 

it-ti-ni 

it-ti-ka 

it-ti-ku-nu 


(mit ihm) 
(mit ihnen) 
(mit mir) 
(mit uns) 
(mit dir) 
(mit euch) 


Der weitere Inhalt besteht zum großen Teil aus Beispielen, 
die aus der Sprache der Rechtsurkunden hergenommen sind. 
Und zwar ist es die Sprache und das Recht der altbabylonischen 
Zeit, die ihnen zugrunde liegen. Damit ist die Möglichkeit ge- 
geben, daß die Zusammenstellung der Serie selbst, wenigstens 
dem Grundstock nach, bis in die Zeit Hammurabis zurückreicht 
Ihre ursprüngliche Bestimmung war wohl die, als Handbuch zur 
Erlernung der juristischen Terminologie den mit der Beurkundung 
von Vertragsabschlüssen betrauten Priestern zu dienen (vgl. 
Hommel und Meißner 11. cc.) 

2. Schulzwecken haben auch gewisse Abschriften von Zauber- 
bzw. Beschwörungstexten 1 gedient, die nicht wie gewöhnlich die 
semitische Übersetzung des sumerischen Orginals inter lineas geben, 
sondern — wie bei den Paradigmensammlungen usw. der Serie 
ana ittischu — nebenher in eigener Kolumne laufen lassen. 

Demselben Zwecke dienten auch die meisten uns erhaltenen 


Niederschriften der unten § 76 besprochenen Sprichwörter. 


IV. Paläographische Texte. 

Was der babylonische Student bisher gelernt, befähigte ihn 
aber nur zum Verständnis der in die Schrift seiner Zeit umge- 
schriebenen Texte. Die Originale mit ihren altertümlichen Schrift- 
zeichen waren ihm auch nach Absolvierung der grammatischen 
Kurse ein verschlossenes Land. So mußten den grammatischen 
Stücken notwendig epigraphische, genauer paläographische an die 
Seite treten. Einige solcher Studententafeln sind erhalten. Es 
sind entweder reine Zeichenlisten, die alle möglichen Zeichen- 
varianten aus verschiedenen Epochen und Schulen zusammenstellen, 
oder sie haben zudem jeweils die moderne neubabylonische oder 
neuassyrische Form eingeschrieben (vgl. die Texte CT V 8 — 12 
u. 13—16). Diese Tafeln sind offenbar durchaus ernst zu nehmen, 
wenn es auch bis jetzt nicht gelingt, die oft sehr zahlreichen und 


1 2 R 17— 18; Haupt ASKT 82 ff., zum Teil bei Delitzsch, AL S “- 4 
S. 132f. bzw. 116ff. 


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§ 72. Philologische Texte. 


293 


manchmal höchst eigentümlichen Varianten auch als wirklich in 
Texten gebräuchlich nachzuweisen. 

Dagegen gibt es noch einige andere Täfelchen, die nur als Schul- 
arbeiten angesehen werden können und keineswegs als Reinschriften, 
die für das strenge Auge des Lehrers berechnet sind. Sie enthalten 
vielmehr neben richtigen Zeichenvarianten offenkundige Kritzeleien und 
Spielereien, die wohl nicht viel anders zu taxieren sind als die graphischen 
Künste, die Langeweile unbeschäftigter Schüler auch heute noch auf 
Fließblätter und Diarien zaubert. Man hat diese Kritzeleien leider ge- 
legentlich blutig ernst genommen und Schlüsse aus ihnen gezogen, die 
nur auf Abwege führen konnten. Ein solches Täfelchen ist veröffentlicht 
CT V 7, und auch die sog. Hieroglyphentafel (vgl. Delitzsch, Entstehung 
des ältesten Schriftsystems, S. 199ff. u. oben S. 23) wird wenigstens 
rücksichtlich ihres Quellenwertes für die Erkenntnis der Schriftgeschichte 
nicht höher gewertet werden dürfen. 

Alle hier besprochenen „paläographischen“ Texte stammen aus 
Assurbanipals Bibliothek. 

V. Wörterlisten mit sachlicher Anordnung. 

Neuausgabe: CT XIV, vgl. dazu Meißner in MVAQ 1904, 3 
(Assyriologische Studien II). 

Während die oben besprochenen Texte wohl alle dem Be- 
dürfnis des sprachlichen Unterrichts auf den Schulen Babyloniens 
und Assyriens zu dienen bestimmt waren, ist der Zweck einer 
großen Anzahl von Wörterlisten noch nicht völlig klar. Es sind 
zumeist zweisprachige Listen, die nach sachlichen Gesichts- * 
punkten gruppiert sind, Zusammenstellungen von Stemnamen 
(CT XIV, 15 — 17), Pflanzennamen (ib. 10, 18 — 50 u. sonst), Tier- ~ 
namen überhaupt (ib. 1 — 2), Vogelnamen (ib. 3ff.), Fischnamen 
(ib. 11, 12), Schaf- und Eselarten (ib. 11), Schlangen (ib. 13), dann 
Waffennamen und Rohrgegenstände (ib. 1 3) usw. 

Da die zweisprachigen Texte dieser Gattung die Regel sind, 
einsprachige nur ausnahmsweise begegnen und in manchen Fällen 
— wie bei den Vokabularien oben II, 1 — auch Synomyma des 
semitischen Wortes beigeschrieben sind (z. B. in den dreispaltigen 
Texten CT XIV, 3 — 7), darf man wohl annehmen, daß der Haupt- \ 
zweck dieser Sammlungen lexikalischer Natur war. Daneben muß / 
freilich auch ein spezieller Gesichtspunkt bei einzelnen Zusammen- 
stellungen maßgebend gewesen sein, insofern es sich herausstellt, 
daß z. B. bei den Pflanzennamen einige Listen geradezu als 
medizinische Rezepte aufzufassen sind. So ist es wohl möglich, 
daß gelegentlich auch noch andere dieser Wörterlisten sich als 
Verzeichnisse für nichtwissenschaftliche, praktische Zwecke er- 


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294 


Kap. 19: „Wissenschaftliche“ Texte. 


weisen. Möglicherweise sind auch hierunter vereinzelte Schüler- 
arbeiten nachzuweisen. Sicherlich sind aber wenigstens einige dieser 
Texte als Vokabularien zu Schulzwecken zu betrachten, das be- 
weisen die zweifellos als Schülerarbeiten anzusehenden Texte CT 
XIV, 47 — 49, die in der ganzen Anlage den großen Listen völlig 
entsprechen. 

Ein besonders interessantes Beispiel für diese Art von Texten 
ist das laut Unterschrift vom König Assarhaddon für seinen Sohn, 
den Prinzen Assurbanipal, bestimmte Vokabular 1 , das meist als 
„Lehrbuch des Prinzen Assurbanipal“ bezeichnet wird. Es ist 
zweisprachig abgefaßt und nach sachlichen Gesichtspunkten ge- 
ordnet Die uns erhaltene Tafel enthält durchweg Gegenstände, 
die aus Holz bestehen oder gefertigt sind. 

Während alle bisher genannten derartigen Listen in Nieder- 
schriften aus jüngerer Zeit erhalten sind, besitzen wir auch eine 
überaus eingehende nach Gegenständen geordnete Liste aus der 
Zeit der Hammurabidynastie 4 . Sie ist einsprachig und zwar 
sumerisch abgefaßt und verzeichnet der Reihe nach die ver- 
schiedensten Arten von Steinen, Pflanzen, Knoblauch, Fischen, 
Vögeln u. a. 

VI. Schülerarbeiten. 

Die seither besprochenen „philologischen“ Texte geben 
einen Überblick über die im babylonischen Sprachunterricht ge- 
brauchten Lehrmittel. Eine ganze Anzahl von Texten zeigen uns 
auch, welche Früchte dieser Unterricht bei einzelnen Schülern 
gezeitigt hat. 

Die älteste, aber auch unbeholfenste Schülerübung haben 
wir möglicherweise in der von Hilprecht (Exploration in Bible- 
Lands 405) abgebildeten Tafel 8 , die lediglich drei Reihen Striche 
enthält und einer vorsargonischen Schicht — also jedenfalls dem 
4. vorchristlichen Jahrtausend — entstammt. Andere Abc-Tafeln hat 
Hilprecht aus den Nippurfunden mitgeteilt 4 ; sie zeigen die Ein- 
übung der verschiedenen Elemente der Keilschriftzeichen, des 
Winkelhakens, des horizontalen und vertikalen Keilstriches. Von 

1 Text: Delitzsch, AL 5 86 ff. Vgl. auch Meißner in OLZ, 1906, 
Sp. 162 f. 

J Veröffentlicht CT VI, 1 1 ff. 

3 Wenn sie nicht etwa als Gewicht zu betrachten ist. 

4 Die Ausgrabungen im Bel-Tempel zu Nippur, S. 57 ff. 


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§ 72. Philologische Texte. 


295 


den Zeichendementen führt der Weg zur Übung ganzer Zeichen 
und vor allem zur Erlernung der archaischen Schrift. In K 103 
(5 R 31 Nr. 6) haben wir eine Probe, wie ein Schüler sich mit 
den archaischen Zeichen eines alten literarischen Textes abmüht 
Daß er derselben nicht überall Herr geworden, beweisen die ge- 
legentlichen Beischriften ul idi „weiß ich nicht“. Von den 
Sprachstudien geben die von Schülerhand geschriebenen Listen 
des verschiedensten Inhalts — auch chronologische Listen dienten 
als Vorlage — Kunde. 

Von besonderer Bedeutung für uns sind die Schülerversuche 
an zusammenhängenden Texten, denen wir manches sonst vid- 
leicht verloren gebliebene Stück der babylonisch -assyrischen 
Literatur verdanken. Es ist allerdings vor einer kritiklosen Über- 
schätzung dieser Texte ernstlich zu warnen, denn es scheint sich 
bei ihnen keineswegs immer nur um Abschriften von zuver- 
lässigen Vorlagen, sondern gelegentlich auch um Kompositions- 
übungen zu handeln, und auch die Abschriften verlieren durch 
ihren schülerhaften Charakter sehr wesentlich an objektiver Be- 
deutung. Namentlich bei solchen Schülertexten, die offenbar als 
Übersetzungsaufgaben ins Sumerische zu betrachten sind, ist Vor- 
sicht geboten. Zu den letzteren gehört jedenfalls das § 14 be- 
handelte Stück; als schülerhafte Kompositionsversuche sind wohl 
auch inhaltlich die beiden Texte von § 18 zu werten. 

Das in jeder Hinsicht wichtigste Denkmal des an babylo- 
nischen Literaturstücken sich mühenden Schülerfleißes ist das 
Exemplar des Adapamythus, das wir dem Tel-el-Amamafund ver- 
danken. Es war als Übungsmaterial für die Keilschriftstudien 
der Schreiber des Pharao aus Babylonien bezogen und weist rote 
Striche zwischen den einzelnen Worten auf, mittels deren sich 
die Lernenden durch den Text hindurchhelfen mußten. Andere 
Übungstexte weisen andere Lesehilfen auf (so VATh 348 Trennung 
der einzelnen Zeichen durch Punkte); besonders instruktiv ist 
K3927 (ASKT S. 75) durch seine gelegentlichen Eintragungen der 
Aussprache bei Ideogrammen. Vielleicht darf man auch die zahl- 
reichen astrologischen Tafeln, bei denen die Aussprache der 
Ideogramme durch beigeschriebene „Glossen“ angegeben ist, 
hierher stellen. 

VH. Praeparationen, bezw. Kommentare. 

Von großer praktischer Bedeutung sind die Bearbeitungen 


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296 


Kap. 19: „Wissenschaftliche“ Texte. 


einzelner Literaturstücke. Es ist nicht immer sicher zu entschei- 
den, ob es sich dabei um Präparationen oder um Kommentare 
handelt, doch ist das auch von geringer Bedeutung für ihre Ver- 
wendbarkeit, die durch ihre Zuverlässigkeit entschieden wird, an 
der zu zweifeln bis jetzt in keinem Falle ein Grund vorliegt. 
Besonders häufig scheint das Schöpfungsepos Enuma elisch und 
von diesem wiederum die L Tafel präpariert bzw. kommen- 
tiert worden zu sein 1 . Die erhaltenen Fragmente dieser Stu- 
dien lehren, daß die Z. Tafel von Enuma elisch auch in das 
Sumerische übersetzt worden ist 2 . Einen wichtigen Kommentar 
besitzen wir auch zu dem oben § 38,1 besprochenen Text: „Ich 
will rühmen den Herrn der Weisheit“ (5R57), zu Teilen der 
Schurpuserie (2 R 15 Nr. 1}, zu Ominatexten (z. B. 5 R 11 Nr. 2), 
zum astrologischen Werk Sargons (z. B., Craig, Astr. L 91 f.) und 
zu vielen anderen Texten (vgl. Bezold, Catalogue Index s. v. Lists, 
explanatory). Inhaltlich gehören hierher auch die mit Glossen 
versehenen Rezensionen literarischer Stücke. Von den Kommen- 
taren zum Schöpfungsepos unterscheidet King (Sev. Tabl. II S. 157) 
drei Arten: L solche, die den Text Zeile für Zeile, 2. solche, die 
ausgewählte Stellen, 3. solche, die ideographisch geschriebene Titel 
erklären. 

Die praktische Bedeutung dieser Textklasse liegt für uns in 
den häufig von ihnen gebotenen Ergänzungen zu fragmentarisch 
erhaltenen Texten und in der Ersetzung seltener Worte oder 
Ideogramme durch geläufigere oder umschreibende Ausdrücke. 

VIII. Kataloge. 

Unter den Texten der Bibliothek Assurbanipals finden sich 
auch eine ganze Anzahl von Titelverzeichnissen, die man am ein- 
fachsten als Kataloge bezeichnet hat Sie sind ihrem praktischen 
Zweck nach offenbar verschieden zu beurteilen. 

Die Kataloge von Handerhebungsgebeten (4 R 53 III, 44 — IV, 
28: K 2832-1-6680), von Beschwörungstexten (K3041 [?], 3996, 
6961, 10664, Sm 103, Rm 529), von Ritualtexten (Zimmern, Ri- 
tualtafeln, Nr. 96), von Ominatexten (CT XX, lj K 6962, 12722, 
13818) haben jedenfalls ausschließlich den praktischen Bedürf- 

1 Die Kommentare zu Enuma elisch sind veröffentlicht von King, 
Sev. Tablets App. L 

- Zur Annahme, daß das Epos ursprünglich sumerisch abgefaßt 
gewesen sei, liegt kein Grund vor. 


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§ 72. Philologische Texte. 297 

nissen der Tempelarchivare oder der Bibliothekare Assurbanipals 
gedient. 

Desgleichen dürfte die Mehrzahl der von Bezold im „Ca- 
talogue“ als Kataloge literarischer Werke aufgeführten Texte 
K 2248, 7468, 10797, 13280; Sm2137 (vgl. auch Sm 150 in 
ZAI 191) und vielleicht auch Rm618 (Bezold Catalogue S. 1627) 
als bibliothekarische Hilfsmittel anzusprechen sein. 

Dagegen erfordert der Text K9717 und sein Duplikat Sm 
669 (Haupt, Nimrodepos S. 90 f.) ausführlichere Besprechung, da 
man in ihnen die Verfassernamen wichtiger Literaturwerke ge- 
funden zu haben glaubte. 

Auch wenn der Sinn dieser schwierigen Texte zweifellos 
klar wäre und tatsächlich die in Frage kommenden Namen dem 
Zusammenhang nach nur als Namen der Autoren der betreffen- 
den Literaturstücke aufgefaßt werden könnten, so spräche der 
ganze Charakter der babylonischen Literatur (vgl. oben S. 1 ff., 
34f., 116, 121) dagegen, daß es sich bei diesen Angaben um 
zuverlässige Überlieferung handeln kann, ln diesem Falle könnte 
man sie höchstens als vage, ihrer Entstehung nach gar nicht 
mehr zu kontrollierende Priestermeinung ansprechen. 

Aber die Erklärung des Textes ist zum mindesten höchst 
unsicher. Einige der in Frage kommenden Stellen lauten: 

[Ku]-Qar ilu Gilgamesch: scha pi-i 1 ilu Sin-li-ki-un-nin-ni am ' lu 
m[asch-maschu(?) 

[Ku]-Qar 1 E-ta-na: scha pi-i 1 Amei- ilu Nannar [ \ 

Die Bedeutung des Ideogramms Ku-Qar, dessen Lesung 
noch unbekannt, ist offenbar Serie, sicher aber nicht, wie noch 
oben S. 38 fragend angenommen wurde, „Geschichte“, „Erzäh- 
lung“, da es auch als Etikette von Ominaserien und Beschwörungs- 
texten (vgl. CTXX11, Nr. 1; Harp. 18) verwendet wird (CT XX, 
48. 49; bei einer anderen Tafel derselben Serie fehlt es, ib. pl. 50; 
auch die Serie der Leberomina wird so bezeichnet, vgl. Bezold, 
Cat. zu K 8690). Schon diese allgemeine Bedeutung des Gattungs- 
begriffes, unter dem in diesem Text die Literaturerzeugnisse auf- 
treten, macht es unwahrscheinlich, daß hier von dem Verfasser 
die Rede ist. Dazu kommt noch, daß auf Sm 669 offenbar eine 
ganze Anzahl von Texten manchmal mit derselben Persönlichkeit 
zusammengebracht werden unter der Formel 
an-na-tum (diese) scha pi-i N. N., 

während einmal (Z. 13), wo nur ein Titel vorhergeht, die Formel 
an-nuj-u scha pi-i N. N. 


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298 


Kap. 19: „Wissenschaftliche“ Texte. 


zu lauten scheint. Danach scheint aber die Annahme, dass wir 
es hier mit Autorennamen zu tun hätten, auch durch den Befund 
der Texte vollkommen ausgeschlossen. Unklar bleibt noch die 
Phrase scha pl N. N. und damit auch das Verhältnis des N. N. 
zu den jeweils vorhergenannten Literaturstücken. Man würde 
zunächst natürlich daran denken, daß hier die Namen der von 
Assurbanipal beschäftigten Kopisten und die ihnen zugewiesene 
Aufgabe genannt seien. Dagegen scheint aber zu sprechen, daß 
in den wenigen Fällen, in denen die stark verstümmelten Texte 
den Berufsnamen erkennen lassen, stets die Titel maschmaschu 
und ummanu 1 dem N. N. folgen, von denen jedenfalls der erstere 
eine hohe Priesterklasse bezeichnet. Das Verständnis der Texte 
wird vor allem aber dadurch erschwert, daß in keinem einzigen 
Falle ein vollständiger Satz erhalten ist. 

K 73. Sonstige „wissenschaftliche“ Texte. 

1. Was wir an Texten zur Zoologie, Botanik und Mi- 
neralogie 2 haben, sind ausschließlich Listen, deren Zweck je- 
denfalls zunächst ein literarischer ist ln ihnen ist der Wort- 
schatz nach sachlichen Gesichtspunkten, nach Begriffskategorien 
zusammengestellt. Wenn diese Texte auch uns ein willkommenes 
Material bieten zur Beurteilung der naturkundlichen Kenntnisse 
der Alten, so ist bei ihrer Zusammenstellung das naturwissen 
schaftliche Interesse sicherlich nicht in erster Linie maßgebend 
gewesen. Vgl. oben S. 293 f.. 

2. Auch bei den geographischen Texten 2 überwiegen 
weitaus die Listen. Solche sind, wie es scheint, schon aus alt- 
babylonischer Zeit überliefert (4 R 2 36, wohl in der Kassitenzeit 
umredigiert, vgl. Hommel, Grundriß S. 344). Sie zählen Städte, 
Landschaften, Berge, Gebirge, Ströme, Kanäle, Tempel Baby- 
loniens und seiner nächsten Nachbarländer, der Text 2 R 53 
Nr. 1 rev. auch solche Syriens und Kleinasiens auf. Welchem 
Zwecke diese Listen gedient haben mögen, ist nicht völlig klar. Sie 


1 geschr. Um-Me-A ; K9717, 20 steht, wie es scheint, Nu Um- 
[Me-A .... 

2 CT XIV, vgl. Meißner, MVAO 1904, 3; Delitzsch, Assyr. Studien 1; 
Bezold, Lit. § 113, a—c; Teloni §40. 

* IVR 2 36; II R 50— 53.61, zum großen Teil bearbeitet bei Delitzsch, 
Paradies; vgl. auch Bezold, Lit. § 114; Hommel, Grundriß S. 325 Anm.2; 
Teloni § 41. 


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§ 73. Sonstige „wissenschaftliche“ Texte. 299 

mögen wohl im Unterricht Verwendung gefunden haben, aber 
auch von den Verfassern der Königsinschriften und den Historio- 
graphen als Nachschlagewerke benutzt worden sein. Von großer 
Wichtigkeit sind die Routenlisten oder Itinerare, wie sie in 
den historischen Texten sich finden, besonders aber die Liste 
K 4315 + K 4379, die sich fast ausschließlich mit dem Ost- 
tigrisgebiet befaßt 1 II . 

Speziell auf einen in seiner Art wissenschaftlichen Betrieb der 
geographischen Studien lassen aber die erhaltenen Kartenskizzen 
schließen, von denen eine (Sp 11 967, CT XXII, 49) das Fragment 
eines Stadtplanes von Babel, die andere (Br. M. 82,7 — 11,509, 

ZA IV, 369, CT XXII, 48) eine Weltkarte darzustellen scheint 2 . ' 
Daß die Topographie schon seit den ältesten Zeiten bewußter- 
maßen gepflegt wurde, beweisen die Planskizzen von Örtlich- 
keiten, Fortifikationen, Kanälen, Tempeln u. a., die in Telloh auf- 
gefunden worden sind, wie auch die Bronzetore von Balawat 
aus dem 9. Jahrhundert 8 . Neben diesen bildlichen Darstellungen 
darf man wohl auch an die epischen Stellen, die Anweisung zum 
Bau der Arche (vgl. oben S. 94), und das an den Himmel ge- 
zeichnete Bild des Labbu (S. 64) erinnern. 

3. Die Texte, die als literarische Zeugen des theoretischen 
Betriebs der Mathematik, der Astronomie und Astrologie in Be- 
tracht kommen, tragen nichts weniger als literarischen Charakter. 
Von den mathematischen Texten sind es vor allem die Ta- 
bellen, in denen mathematische Verhältnisse verschiedener Zahlen 
fertig für den Gebrauch des Geometers vorliegen (z. B. für die 
ersten 38 Zahlen die Quadrate und Kuben im Sexagesimalsystem 
ausgedrückt 4 R - 37). 

Von größtem Interesse schon durch ihr Alter — sie gehören 
etwa in die Zeit kurz vor der ersten Dynastie von Babel — sind 
die CT IX, 8 — 13 und 14 — 15 veröffentlichten beiden Samm- - 
lungen von offenbar vollständig durchgeführten mathematischen 
Aufgaben. Die einzelnen Aufgaben sind durch Striche abgeteilt 

I Text: 5 R 12 Nr. 6 -f- 2 R 52 Nr. 2; bearb. von Jensen, ZA XV 
und jetzt (nach persönlicher Mitteilung) von Hommel im Grundriß 
S. 459 ff. 

a vgl. Hommel, Grundriß 253f., Jeremias ATAO*, 16. Eine andere, 
ebenfalls CT XXII, 49 veröffentlichte Planskizze läßt sich noch nicht 
bestimmen. 

II Thureau-Dangin, RTC passim, vgl. Teloni § 43. 


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300 


Kap. 19: „Wissenschaftliche“ Texte. 


und endigen immer mit den Worten „Kiäm ne-bi-sum“ bzw. 
/ lediglich „ne-bi-sum“ 1 , was offenbar soviel als „quod erat de- 
monstrandum“ bedeutet Das bis jetzt recht spärliche Material 
von theoretischen Tafeln mathematischen Inhalts wird durch den 
XX. Band der Babylonian Expedition of the Univers. of Penn- 
sylvania ergänzt werden, in dem H. V. Hilprecht die „Mathe- 
" matical and Astronomical Tablets from the Temple Library at 
Nippur“ vorlegen wird. 

Von eigentlichen astronomischen Inschriften aus Assur- 
banipals Bibliothek scheint nach Bezold bisher nur ein einziges 
Fragment gefunden, „auf dem von der Umlaufszeit eines Pla- 
neten und der Entfernung gewisser Sterne von bestimmten Punkten 
die Rede zu sein scheint“ (Ninive und Babylon S. 88). Dagegen 
stammen aus der Bibliothek einige Sternlisten (vgl. Bezold, Cata- 
logue S. 2096). Das neubabylonisch-chaldäische Reich hat auch 
eine größere Anzahl theoretischer Texte astronomischen Inhalts 
hinterlassen, „rechnungsmäßige astronomische Aufzeichnungen, 
bei denen sich Beobachtungstafeln und Berechnungstafeln unter- 
scheiden lassen“ (ebenda S. 90). Von den astrologischen 
Texten war oben § 51 die Rede. Hier sei noch der sog. Astro- 
labe, die zur Berechnung der Gestirnhöhe dienen (vgl. z. B. 
Hommel, Aufss. u. Abhh. S. 242, 458 ff.) gedacht. 

4. Was endlich die babylonisch-assyrische Heilkunde* an- 
langt, so haben wir wiederum nur wenige Reste der früher zweifel- 
los umfangreichen theoretischen Literatur. Zunächst liegen auch 
hier wieder Zusammenstellungen in der Form von Listen 
/ vor, Namen von Ingredienzien bestimmter Arzeneien. Sodann 
aber scheint es auch Handbücher der Heilkunde gegeben zu 
haben. Dafür dürfen wir jedenfalls z. B. den Text K 191 usw. 
halten, von dem F. v. Öfele sagt, er behandle die Heilkunde in 
einer Weise, daß er in griechischer Übersetzung unbedenklich den 
Knidischen Schriften innerhalb des hippokratischen Corpus zu- 
gezählt würde“. Der Text gehört zu der Serie „Wenn ein Mensch 

an (suälam) krankt, es zu Leibschneiden wird“, von der 

Küchler die erhaltenen Fragmente bearbeitet hat. Eine Probe 
dieses Textes lautet (nach Küchler): 

1 oder ne-pi-schum zu lesen? 

3 vgl. zur Einführung F. von Öfele : Keilschriftmedizin in Parallelen 
(AO IV 2*)'; ders. im Handbuch der Geschichte der Medizin, 1901. — 
Küchler Beiträge zur Kenntnis der assyrischen Medizin, 1902. 


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Kap. 20: Volkstümliche Literatur. § 74. Allgemeines. 301 

Wenn ein Mensch Rauschtrank getrunken hat und sein Kopf 
ihm gepackt ist, er sein Wort vergißt, während seines 
Redens (sie) „auswischt“ , seinen Verstand nicht festhält, 
dem betreffenden Menschen seine Augen starr sind (?), sollst 
du zu seiner Genesung . . (folgen die Namen von 1 1 Pflanzen) 
diese 11 Pflanzen in eins zerreiben, er soll (es) mit Öl und 
Rauschtrank vor dem Herankommen der Göttin Gula, am 
Morgen, ehe die Sonne aufgeht (und) ehe jemand ihn geküßt 
hat, trinken, so wird er genesen.“ 

Dieses Beispiel zeigt die Formulierung der Diagnose und 
die Kranhkeitsbehandlung. Es ist aber auch charakteristisch da- 
für, daß die Heilkunde auch da, wo sie rationell war, nie die 
Krücken der Magie entbehren konnte. Aller Wissenschaft und Kunst 
wurde doch erst auf magischem Wege der Erfolg garantiert 
Als Belege für die babylonisch-assyrische Heilkunde können 
auch fast alle Beschwörungstexte gelten ; vgl. auch den „Zahn- 
schmerzwurm“-Text oben § 17. 


Kap. 20: Volkstümliche Literatur. 

§ 74. Allgemeines. 

In diesem Kapitel sollen die spärlichen Reste der volkstüm- 
lichen Literatur zu kurzer Besprechung kommen. 

Was zunächst die sog. Tierfabeln anlangt, so gehören sie 
ihrem literarischen Charakter nach eigentlich zu der Gruppe der 
epischen Dichtungen. Wenn sie dort nicht eingereiht worden 
sind, so liegt der Grund hierfür in der speziellen Eigenart des baby- 
lonischen Epos, das durchaus auf den grandiosen Grundton der 
Göttersage, der Mythologie aufgebaut ist, zu dem der naive, volks- 
tümliche Charakter der Tierfabel in keinerlei Beziehung steht ln 
einem Stück scheinen wohl beide Kategorien auch inhaltlich sich 
eng zu berühren, in der Tendenz: sie haben beide einen lehr- 
haften Charakter. Aber diese Verwandtschaft ist eine rein äußer- 
liche, der Inhalt der jeweiligen Lehre ist hier und dort so ver- 
schieden wie das ganze Milieu. Das babylonische Epos ist ein 
Lehrgedicht in dem Sinne, daß es die geltende Weltanschauung 
in faßliche Form einkleidet und dem Volk zugänglich macht, es 
bietet mit anderen Worten die Begründnng der herrschenden 
Welt- und Staatsordnung in dichterischer Form. Das Epos be- 


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302 


Kap. 20: Volkstümliche Literatur. 


lehrt über die Beziehungen zwischen Göttern und Menschen, 
Schicksal und Welt, Diesseits und Jenseits. Die „Lehre“ der 
Fabeln dagegen erstreckt sich ausschließlich auf Gegenstände und 
Verhältnisse dieser Erde, die Beziehungen zwischen Mensch und 
Mensch; sie entwickeln keine Dogmatik, sondern eine Ethik, sind 
nicht Verdeutlichungen von Theorien, sondern Einkleidungen von 
praktischen Lebenswahrheiten. 

Daher gebührt ihnen eine vom Epos durchaus gesonderte 
Stellung in der Literatur, und als passende Gefährten werden ihnen 
am besten die wenigen, aber hochinteressanten Bruchstücke einer 
Literatur an die Seite gestellt, die aus dem praktischen Leben er- 
wachsen ist und, was jene im Gleichnis ausdrücken, in die Form 
des Erfahrungssatzes, der Lebensregel gießt, — der Spruch- 
literatur. 

Während Fabeln und Sprüche für die sittlichen Forde- 
rungen des täglichen Lebens eine aus dem gesunden Volks- 
empfinden für Recht, Sitte und Zuträglichkeit herausgewachsene 
Formulierung vermitteln, geben andere Texte theoretische Ver- 
haltungsmaßregeln, so das Königsgesetz (DT1), das sog. Sabbat- 
gesetz u. a. Für die Erkenntnis der sittlichen Forderungen, die man 
als „ungeschriebenes Gesetz“ bezeichnen kann, weil sie nicht wie 
ein staatliches Gesetz niedergeschrieben und sanktioniert zu werden 
brauchten, da sie sich in jeder Gesellschaft von selbst durchsetzen 
und nicht erschöpfend beschrieben werden können, weil sie zu 
sehr in ihren Einzelheiten von Zufälligkeiten und Imponderabilien 
bestimmt sind, besitzen wir im Zusammenhang von Texten ver- 
schiedener Literaturgattungen, namentlich der Beschwörungs- 
formeln und Bußpsalmen, wertvolle Belege. Wir sehen da, daß 
das Gefühl für das ungeschriebene Gesetz des Taktes, der Liebe, 
der Rücksicht auf den Nächsten außerordentlich verfeinert und 
empfindlich war. Die wirkungsvollste Begründung war für alle diese 
Forderungen ihre Verknüpfung mit der Religion. Wir haben oben 
schon hervorgehoben, daß der Kodex Hammurabi — und ebenso 
ist es mit den sumerischen Familiengesetzen — auf jede Moti- 
vierung durch religiöse oder moralisierende Tendenzen verzichtet 
und sich mit der Ordnung der bürgerlichen Rechteverhältnisse 
unter dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit begnügt Das 
konnte er ruhig tun, da die Religion das ganze weite Gebiet 
der Sitte und der Moral des guten Willens zu ihrer Einfluß- 
sphäre gemacht hatte. 


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§ 75. Tierfabeln. 


303 


§ 75. Tierfabeln. 

Literatur: 1) „Der Fuchs“. Text: CT XV, 31— 33; 4 Fragmente, 
davon 3 aus Assurbanipals Bibliothek, 1 aus neubabylonischer Zeit. 
Übers.: Smith-Delitzsch, Chaldäische Genesis, S. 136 ff., wo z. T. andere 
Fragmente hierhergezogen sind (völlig veraltet). 

2) „Pferd und Ochs“. Text: CT XV, 34 — 37, 1 großes und eine 
ganze Reihe zum Teil sehr kleiner Fragmente, sämtlich aus Assurbani- 
pals Bibliothek. Übers.: Smith-Delitzsch, 1. c. S. 139 ff. (völlig veraltet). 

3) „Der Hund“. Text: CT XV, 38. 

4) „Das Kalb“. Text: CT XV, 38. 

Unter den Tierfabeln verstehen wir hier solche Erzählungen, 
in denen ausschließlich Tiere handelnd und mit einander redend 
auftreten. Redende Tiere spielen ja auch in anderen Stücken 
der babylonischen Literatur eine Rolle, so vor allem im Etana- 
mythus, wo der Adler, das Adlerjunge und die Nachtschlange 
handelnd auftreten (vgl. § 22) und in der Legende vom göttlichen 
Sturmvogel Zu (§ 21), wo der Vogel in gleicher Weise einge- 
führt wird. Zu den redenden Tieren muß auch der Zahnschmerz- 
wurm in der gleichnamigen Legende (§ 17) gerechnet werden. 
In allen diesen Texten sind aber die redenden Tiere nicht unter 
sich, sondern treten neben anderen Personen, Göttern oder 
Menschen, auf. Ob dasselbe auch bei den von uns als Tierfabeln 
angesprochenen Texten der Fall ist, läßt sich allerdings wegen 
ihrer Lückenhaftigkeit nicht mit Sicherheit behaupten. 

ln den keilschriftlichen „Katalogen“ zu Assurbanipals Biblio- 
thek sind folgende Titel von Tierfabeln erhalten: „Der Fuchs“ 
(K 9717), „Das Kalb, als es dies vernahm“, „Ochs und Pferd“, 
„Der gewaltige Ochse“ (Rm 618). Von diesen Fabeln haben wir 
wenigstens in Bruchstücken die Erzählung vom Fuchs, vom 
Kalb und von Ochs und Pferd, letztere allerdings in Auszügen, 
die unter dem Namen „Als die erhabene Istar“ vereinigt waren 
(vgl. S. 304 Anm. 2). 

Die Lückenhaftigkeit der erhaltenen Tierfabeltexte ist leider 
so groß, daß wir keinen einzigen seinem Zusammenhang nach 
völlig überblicken können. 

Weitaus am meisten ist uns von der Fabel von Pferd und 
Ochs erhalten, aber auch hier nicht genug, um Inhalt uud Ten- 
denz mit wünschenswerter Sicherheit bestimmen zu können. 

Die technische Anlage dieser wie auch der anderen Tier- 
fabeln scheint auf die durch eine bestimmte, immer wieder- 


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304 


Kap. 20: Volkstümliche Literatur. 


kehrende Formel eingeleitete Wechselrede aufgebaut zu sein. Diese 
Einleitung 1 lautet: 

Der Ochs (bzw. das Pferd) tat seinen Mund auf, redete und 
sprach zum Pferd (bzw. zum Ochsen). 

Alle durch diese Worte eingeleiteten Abschnitte sind auch 
im Text durch Trennungsstriche als besondere Teile der Fabel 
hervorgehoben. 

Der babylonische Name der uns erhaltenen Reste der Fabel 
von Pferd und Ochs scheint gewesen zu sein „Als die erhabene 
Istar“ *, welche Worte offenbar die Eingangsworte des ganzen 
Textes bildeten und entsprechend der epischen Erzählungswetse 
der Babylonier eine Art Kosmologie oder bis zur Urzeit zurück- 
reichende Genealogie eingeleitet haben mögen. Diese ursprüng- 
lich etwa 35 Zeilen umfassende Einleitung ist zum kleinen Teil 
erhalten und an einigen Stellen aus der unmittelbar folgenden 
Rede des Ochsen wieder herzustellen. Deutlich ist hier eine 
Anspielung auf eine Überschwemmung, wohl auf die große Flut. 
Am Schlüsse der Einleitung wird hervorgehoben, wie gut es die 
Tiere nunmehr bei reichlichem Futter haben, und endlich von 
dem Freundschaftsbündnis zwischen dem Pferd und dem Ochsen 
kurz berichtet. Die erste Rede tut der Ochs an das Pferd, „er- 
haben im Kampf“. Wie oft Rede und Gegenrede wechseln, ist 
nicht festzustellen, nach den erhaltenen Fragmenten aber min- 
destens 12 mal. Eine wichtige Rolle scheint in den Wechselreden 
das Los der beiden Tiere zu spielen. Jedes sucht seine eigene 
Stellung in der Welt, seine Anlagen, seine Bestimmung auf Kosten 
der des Gegenspielers ins vorteilhafteste Licht zu stellen. Über 
den Gedankengang im einzelnen wie auch über „Fabula docet“, 
die lehrhafte Pointe des Ganzen, wage ich bei der Lückenhaftig- 
keit des Textes keine Vermutung. 


1 Sie gehörte überhaupt zu dem Sprachgebrauch des epischen 
Stiles und wird in allen epischen Dichtungen mehr oder weniger häufig 
angewendet, am konsequentesten im Etanamythus, sehr häufig, nament- 
lich in den Gesprächen zwischen dem Freundespaar, im Gilgamesch- 
epos und sonst. Aus einer Untersuchung dieser Eingangsformeln 
lassen sich vielleicht wertvolle textkritische Beobachtungen ableiten. 

5 Nach K 3456 + D T43, Rev. Z.33: Nishu machrü inum iIu istar 
schurbütum, d. i. „1. Auszug von »Als die erhabne Istar«“. Z. 31—32 
sind der Folgeweiser für den nächsten nishu. Durch diese Erklärung 
der Stelle wird auch die bisher geltende Meinung, als hätte man es bei 
den babylonischen Tierfabeln mit Rahmenerzählungen zu tun, hinfällig. 


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§ 75. Tierfabeln. 


305 


Für die Frage nach der Entstehungszeit dieser Fabel ist von 
Wichtigkeit, daß das Vorkommen des Pferdes in Babylonien erst für 
die Kassitenzeit sicher nachgewiesen werden kann. 

Die Fabel vom Fuchs — gleichfalls nur fragmentarisch 
erhalten — ist jedenfalls nicht zu den eigentlichen Tierfabeln zu 
rechnen, da in ihr auch Götter in Aktion treten. Bemerkenswert 
ist, daß wir von ihr r.uch ein Fragment aus neubabylonischer 
Zeit besitzen, während alle anderen Fabeltexte aus Assurbanipals 
Bibliothek stammen. Von dem vorhergehenden unterscheidet er 
sich schon äußerlich dadurch, daß die Einführungsformel 1 für eine 
neue Rede stets lautet: 

Als dies der Fuchs hörte, .... 

Dieser Text ist aber vor allem interessant, weil sich in ihm 
eine deutliche Spur einer Dublette des „Zwiegesprächs zwischen 
Marduk und Ea“ findet, nämlich ein solches zwischen Samas und 
Ea, das auch in der Zahnschmerzwurmlegende und in Istars 
Höllenfahrt, Rev. Z. 3 — 4, vorkommt. 

Da, wo der Text einsetzt, ist offenbar ein Tier (der Löwe[?| 
vgl. K 3641, Rev. 11) dabei, sich vor Samas über den Fuchs zu 
beklagen. Der Fuchs steht daneben und beeilt sich, sich zu ver- 
teidigen. Es ist zweifellos, daß wir hier ein Schiedsgericht des 
Samas über die verschiedenen Tiere vor uns haben, das an die 
Thingszene erinnert, die König Nobel im Eingang zum Reinecke 
Fuchs mit seinen Tieren abhäli Die letzten Zeilen der Rede des 
Anklägers lauten: 

Samas! aus deinem Gericht möge der Nachsteller (?) nicht ent- 
wischen! 

Der Zauberer (?), der Hexenmeister mögen töten den Fuchs! 

„Als nun der Fuchs dieses hörte, erhob er sein Haupt, vor 
Samas weint er, vor dem Glanze des Samas fließen seine Tränen“ 
und er fleht: 

Mit diesem Richterspruch, o Samas, wollest du mich nicht 

bannen ! 

Leider ist der Text zu lückenhaft erhalten, um weitere Ver- 
mutungen über seinen Inhalt zu rechtfertigen. 

Erwähnt mag noch werden, daß wie die Fabel von Ochs 
und Pferd, so auch die vom Fuchs einen speziellen Namen nach 
den Anfangsworten des Ganzen geführt zu haben scheint; die 


1 Dieselbe Formel findet sich nach dem oben erwähnten lite- 
rarischen Keilschriftkatalog auch in der Fabel vom Kalb. 

Weber, Literatur. 20 


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306 Kap. 20: Volkstümliche Literatur. 

neubabylonische Tafel (CT XV, 31) trägt nämlich die Unter- 
schrift: 

[Tafel X 1 ?] Als Bel im Lande ein Regiment eingesetzt hatte. 

Aus diesem Textanfang läßt sich entnehmen, daß auch diese 
Fabel eine kosmologische oder genealogische Einleitung gehabt 
haben muß. 

Noch viel weniger als von den beiden bisher besprochenen 
Fabeln ist von den beiden noch übrigen erhalten. Weder der 
Text vom Kalb noch der vom Hund — je ein kleines Fragment — 
läßt irgendwelche Schlüsse auf den Inhalt zu. 

8 76. Sprichwörter. 

Texte: 2 R 16 und Sm. 61 ; Delitzsch, AL*118ff. (im Auszug). 
Bearbeitet von Jäger im BA II, S. 274 ff. Dessen Übersetzungen der 
ungemein schwierigen Texte sind dem Folgenden meist zugrunde gelegt 
Vgl. auch Hommel, Geschichte, S. 249 u. 388, Sum. Lesestücke S. 1 1 8 f . 
und Teloni, Letteratura § 87. 

Eine Sammlung von Sprichwörtern ist uns durch Assurbani- 
pals Bibliothek überliefert Sie diente als Übungsmaterial zur 
Erlernung der sumerischen Sprache und ist zweisprachig erhalten. 

Textproben: 

„(Wer da sagt:) »O, daß ich doch Vergeltung üben könnte und 
noch hinzufügen könnte!« — der schöpft aus einem Brunnen, in 
welchem kein Wasser ist, und reibt die Haut, ohne sie zu 
salben.“. 

Seitdem ihr Gott sich hinausgewendet hat, ist eingezogen in die 
Niederlassung der Frevel, ist seßhaft geworden die Bosheit, 
nicht wird alt der Fromme; der Verständige, Weise, auf dessen 
Weisheit sein Herr nicht achtete, und der Edle, den sein Herr 
vergaß, sein Mangel tritt ein, nicht erhebt sich wieder sein 
Haupt. 

Bei unheilbarer Krankheit und unstillbarem Hunger sind (auch) 
eine Truhe voll Silber und ein Schrein voll Goldes, die Ge- 
sundheit wiederzugeben, den Hunger zu stillen unvermögend. 

Wenn das Saatkorn nicht gut ist, wird kein Keim hervorkommen, 
Same nicht wachsen. 

Das Leben von gestern alltäglich fürwahr! (= Ein Tag wie der 
andere.) 

Du gingst und nahmst das Feld des Feindes, da kam und nahm 
dein Feld der Feind, d. i. Wie du mir, so ich dir. 

Die Freigebigkeit des Königs hat die Freigebigkeit des obersten 
Beamten zur Folge. 

1 Nach der folgenden Zeile ist die erhaltene Tafel die letzte 
der Serie. 


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§ 76, Sprichwörter. — § 77. Texte zur Sittenlehre. 307 

In einem Briefe der Sargonidenzeit (Harper 652) lesen wir 
die offenbar ein geläufiges Sprichwort zitierenden Zeilen 1 : 

Der Mann ist der Schatten Gottes; der Sklave ist der Schatten 
des Mannes, aber der König ist gleich Gott. 

Eine besondere Form des Sprichwortes 2 ist die der Ein- 
kleidung in das Gewand der rhetorischen Frage: 

Wer wird schwanger, ohne zu empfangen? 

oder: 

Wer wird dick, ohne zu essen? 

In beiden Fällen handelt es sich lediglich um drastische 
Beispiele für die ein wenig alltägliche Wahrheit, daß alles auf 
der Welt einen Grund haben muß. 

Endlich sei noch auf eine interessante Verwendung einer 
sprichwörtlichen Redensart hingewiesen, die D. H. Müller 8 in den 
Amamabriefen aufgezeigt hat. Wenn auch das Sprichwort selbst 
in Syrien und nicht in Babylonien entstanden zu sein scheint, 
so berechtigt doch seine Verwendung in der keilschriftlichen 
Korrespondenz dazu, es auch hier zu erwähnen. Rib-Addi, der 
Fürst von Byblos, klagt, daß er sein Feld nicht habe bestellen 
können wegen feindlicher Überfälle und rechtfertigt sich damit, 
offenbar wegen unterlassener Tributsendungen, vor dem Pharao: 
Mein Feld ist gleich einer Frau, die keinen Mann hat, wegen 
Mangels an Bestellung (Winckler, 55 u. 79 = Knudtzon 74 
und 75). 

Offenbar liegt hier ein Sprichwort etwa folgenden Wortlautes 
zugrunde : 

Ein unbestelltes Feld ist wie ein Weib, das keinen Mann hat, 
oder vielleicht besser umgekehrt: 

Ein Weib, das keinen Mann hat, ist gleich einem Feld, das nicht 
bestellt wird. 

Es ist zweifellos, daß auch innerhalb der eigentlichen baby- 
lonisch-assyrischen Literatur sich aus mancher stehenden Redens- 
art ein ursprüngliches Sprichwort wird ermitteln lassen. 

§ 77. Texte zur Sittenlehre. 

Zeugnisse für die sittlichen Anschauungen der Babylonier 
und Assyrer, für die Forderungen, die einerseits die ethische Er- 

' Vgl. Delitzsch, Babel-Bibel 111 S. 38. 

1 Ich glaube nicht, daß man diese Fragesätze, wie es bisher 
immer geschehen ist, als Rätselfragen auffassen darf. Inhaltlich wenig- 
stens decken sie sich jedenfalls durchaus mit der übrigen 'Spruch- 
literatur. * Semitica I, 30 ff 

20 * 


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308 


Kap. 20: Volkstümliche Literatur. 


kenntnis für das Verhalten der Menschen untereinander, ander- 
seits die religiöse Überzeugung für das Verhalten zu der Gott- 
heit und den ihr geheiligten Institutionen aufgestellt hat, gibt es 
besonders innerhalb der religiösen Literatur außerordentlich viele. 
Namentlich die Beschwörungsfonnein sind reich an Andeutungen, 
aus denen sich weitgehende Schlüsse ziehen lassen. Meist treten 
diese Anspielungen vereinzelt und verstreut auf, in der Regel 
dann, wenn es sich darum handelt, zu ermitteln, durch welche 
Verfehlung sich der Mensch den Zorn seines Schutzgottes, die 
Heimsuchung durch den Dämon zugezogen haL 

In der Beschwörungsserie Schurpu haben wir dagegen einen 
ganzen Kanon von Verfehlungen, der für die Kenntnis der baby- 
lonischen Ethik von großer Wichtigkeit ist (vgl. die Mitteilungen 
oben S. 160, und vor allem Zimmern, Beiträge, Schurpu-Tafeln 
II, HI, VIII). 

Daneben aber haben wir einige Texte, die in besonderer 
Weise der Erörterung solcher sittlicher, ethisch oder kultisch be- 
gründeter Forderungen gewidmet sind, so die sog. Hemerologien 1 
und die Texte DT 1 2 und K 7897 8 . 

Aus den ersteren sei das sog. Sabbathgesetz 1 hier mitgeteilt: 
Der Hirte der zahlreichen Menschen(d.i. der Oberpriester) soll (am 
Sabbath) Fleisch, das auf (heißer) Asche gekocht ist, gesalzenes 
Brot nicht essen, das Gewand seines Leibes nicht wechseln, ein 
helles Kleid nicht anziehen, ein Opfer nicht darbringen. Der 
König soll einen Wagen nicht besteigen, als Herrscher(?) keinen 
Ausspruch tun. Der Orakelpriester soll im Adyton einen Be- 
scheid nicht geben, der Arzt an einen Kranken die Hand 
nicht legen. Eine Verfluchung vorzunehmen ist nicht passend. 

Der Text DT 1 6 gibt sich schon äußerlich als ein Katechis- 
mus sittlicher Forderungen vor allem durch die Ankündigung der 
für ihre Nichtbeachtung drohenden Strafen. 

1 4 R 32 f. 

3 4 R* 48 und CT XV, 50, vgl. Sayce, Records of the Past VII, 
1 1 7ff. ; Boissier, Rech, sur quelques contrats, S. 7 ff.; Teloni, Letteratura, 
S. 225. 

2 Text und Bearbeitung: Macmillan in BA V, 5 Nr. 2 (S. 5 77 ff.). 
Vgl. auch Delitzsch, Babel-Bibel III S. 21 ff. 

4 Vgl. auch Delitzsch AL‘S. 82; zur Übersetzung Zimmern, KAT* 
S. 593. Ganz ähnliche Vorschriften enthält K 3597, vgl. Bezold, Cata- 
logue S. 547. 

6 Aus Assurbanipals Bibliothek. Nach der Unterschrift „voll- 
ständig“ abgeschrieben. 


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§ 77. Texte zur Sittcnlehre. 


309 


Hier heißt es z. B. (Z lff): 

(Wenn) der König nicht achtet auf das Recht, so wird sein Volk 
vernichtet werden und sein Land zerfallen. 

(Wenn) er auf das Recht seines Landes nicht achtet, so wird Ea, 
der König der Schicksalsbestimmungen, sein Geschick ver- 
ändern, ihn mit einem widrigen (Geschick) beschwören (?). 

(Wenn) er auf seinen Abqallu 1 nicht achtet, so werden seine Tage 
kurz sein. 

(Wenn) er auf den ummänu- Priester 1 nicht achtet, so wird sein 
Land rebellieren. 

(Wenn) er (dagegen) auf einen Schurken achtet, so 

(Wenn) er auf die Botschaft Eas achtet, werden die großen 
Götter ihn mit einer gerechten Entscheidung und Bestimmung 
beschwören (?). 

(Wenn) er die Bewohner von Sippar mißachtet, aber dem Fremd- 
ling Recht schafft, so wird Samas, der Richter Himmels und 
der Erde, fremdes Recht in sein Land bringen. 

Die literarische Form dieses Textes ist durchaus die der Omina- 
literatur. Nicht nur die Art der Gegenüberstellung von These 
und Antithese ist hier wie dort die gleiche, auch die sachlichen 
Beziehungen zwischen der Verfehlung und der Strafe sind ganz 
ähnlich denen, die zwischen dem Vorzeichen und seiner Deutung 
bestehen (vgl. z. B. oben S. 197, Anm. 1 und in dem zuletzt mit- 
geteiltcn Satz: Bevorzugung des Fremdlings vor Gericht auf 
Kosten des Volksgenossen hat Einführung eines fremden Rechts 
und Beseitigung des einheimischen zur Folge). 

Von dem Text K 7897 sind bisher drei Exemplare bekannt 
geworden. Zwei davon stammen aus Assurbanipals Bibliothek, 
das dritte ist in neubabylonischer Abschrift erhalten. 

Er lautet, soweit er gut erhalten ist, folgendermaßen: 

Verleumde nicht, sondern rede Freundliches; 

Böses rede nicht, sondern bekunde Wohlwollen! 

Wer verleumdet und Böses redet, 

Dem wird es Samas vergelten, indem er sein Haupt 

• 

Mache nicht weit deinen Mund, wahre deine Lippen! 

Bist du erregt, sprich nicht sofort! 

Redest du jählings, hast du’s nachher zu büßen, 

Mit Schweigen (vielmehr) besänftige deinen Sinn! 

Täglich bringe dar deinem Gott 

Opfer, Gebet, den (der Gottheit) würdigsten Weihrauch, 

Gegen deinen Gott habe ein lauteres Herz, 

Das ist es, was der Gottheit am würdigsten ist. 

1 Ein hoher (Richter?)-Beamter, „Entscheider“ oder ähnlich, 

- ein Orakelpriester. 


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310 


Kap. 20: Volkstümliche Literatur. 


Gebet und Flehen und Niederwerfen aufs Angesicht 

Sollst du frühmorgens ihm darbringen, dann werden gewaltig 

deine Kräfte 

Und zum Äußersten werden sie mit Gott dich leiten. 

In deiner Weisheit lerne von (dieser) Tafel: 

(Gottes)furcht gebiert Gnade, 

Opfer fördert das Leben, 
und Gebet löset die Sünde. 

Wer die Götter fürchtet, wird nicht schreien 

Wer die Anunnaki fürchtet, wird verlängern (seine Tage?) 

Mit dem Freund und dem Genossen rede nicht 

Niedriges sollst du nicht reden, sondern Wohlwollen 

Wenn du etwas versprichst, so gib 

Wenn du zu Hilfe kommst, so 


Als ein Herr sollst du sie nicht unterdrücken, 

Deswegen ist dein Gott zornig über dir 1 . 

Nicht ist es wohlgefällig vor Samas, er wird es vergelten 

mit Bö[sem]. 

Gib Speise zu essen, Wein zu trinken, 

Trachte nach der Gerechtigkeit, sorge und 

Das ist wohlgefällig vor Samas und er wird es vergelten 

mit Gu[tem]. 

Bring Hilfe, schütze 

Die Magd in dem Hause sollst du nicht 

Zum Schlüsse seien noch einige kurze, aber um so inhalts- 
reichere Sätze aus der babylonisch-assyrischen Literatur mitgeteilt, 
in denen eine erhabene sittliche Weltanschauung den prägnantesten 
Ausdruck gefunden hat. Z. B. 2 : 

Fürchte Gott, ehre den König ! 

oder 3 : 

Der (wahre) Freund erinnert sich auch dessen, der seiner vergißt, 
und endlich 3 : 

Dem, der dir Böses tut, vergilt mit Gutem. 


1 Im Text steht, „sein Gott zornig über ihm", was wohl auf Ver- 
sehen beruht. 

3 vgl. Delitzsch, Babel und Bibel 111 S. 57. 

3 vgl. Behrens, WZKM, 1905, S. 393 ff. 


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311 

Altbabylonische Bilderzeichen. 



11 Knie. 11 Sandale. u Ochse(nkopf). 14 Vogel. 16 fliegen. 18 Augu- 
rium. 17 erzeugen (Eier legender Vogel). 111 Fisch. 18 (Schakal)ohren. 
20 Holz(stück). 21 Garten. 22 Opfer (hingelegte Ähren). 23 Tag (Sonnen- 
aufgang). 24 Sonnenuntergang. 86 Nacht. 22 Gott, Himmel. 27 Stem(bild). 
28 Erde. 28 Berg(gruppe). 30 Wasser. 81 Gefäß. 28 Krug (auf Qestell). 
33 Dolch. 34 Wage. 33 Dreschflegel. 38 Pflugschaar. 37 Stadt (Grund- 
riß). 38 Weg(-kreuzung). 38 Richtung (Orientation). 14 bilden (Gußform) 
41 Herr (eig. Thron). 


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312 



Tontafel 1 des Königs Dungi von Ur. 

(ca. 2500 v. Chr.) 

1 

2 

3 

4 

5 


6 


Dasselbe in Neuassyrischer Transcription. 









- sfrr* 


&& VA 






-ja ^ <rt 


1 Die Tafel ist zur Veranschaulichung der ursprünglichen Schreibweise (von oben 
nach unten) der ältesten Texte, namentlich der Statueninschriften, umgelegt worden. Die 
Schreibweise von links nach rechts, unter Horizontalleg ung des ursprünglich vertikal ge- 
richteten Zeichens, wie sie in der neuassyrischen 'Transcription angewendet wurde, hat sich 
sehr frühe schon für alle Tontafeln durchgesetzt und ist auch von dein Schreiber obiger 
Tafel, wie schon aus dem Duktus der Schrift ersichtlich, befolgt worden. 


Druck von Hartmann & Wolf in Leipzig. 


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