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Die All
der
aturzüchtung
August Weismann
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Die
Allmacht der Murzüchtung.
Eine Erwiderung
an
Herbert Spencer.
Von
August Weismann,
Professor in Freiburg i. Br.
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Jena,
Verlag von Gustav Fischer.
1898.
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Vorwort
Vorliegender Aufsatz ist in der Hauptsache eine Ant-
wort auf zwei Artikel von Herbert Spencer, deren
erster „The inadequacy of natural selection u im Februar
und März dieses Jahres in der „Contemporary Review" er-
schienen und hauptsächlich gegen meine Ansichten über Ver-
erbung und Naturzüchtung gerichtet ist , deren zweiter im
Mai gedruckt wurde, betitelt „Professor Weismann's Theo-
ries", ein „Postscript" zu dem ersteren. Wenn ich auch
ungern in Polemik eintrete, falls sie weiter nichts bezweckt,
als zu zeigeu, dass der Andere Unrecht und man selbst un-
zweifelhaft Recht habe, so thue ich es doch gern, wenn da-
durch die Sache selbst gefördert wird. In diesem Falle
bietet sich mir dadurch die Gelegenheit, Einiges über Natur-
züchtung zu sagen, was ich schon längst gern einmal öffent-
lich ausgesprochen und wozu ich sonst vielleicht nicht so
bald Anlass gefunden hätte. Die Ansichten über diesen
Factor der Entwicklungslehre gehen heute so weit aus-
einander, dass es vielleicht an der Zeit ist, diesem Problem
etwas schärfer als bisher auf den Leib zu rücken. Viele
verwerfen Selection als Umwandeluugsfactor ganz, Andere
gestehen ihm nur eine untergeordnete Wirksamkeit zu, indem
sie sagen , Selection könne nichts schaffen , sondern nur
325985
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— IV -
negiren ; erst müsse etwas da sein, ehe es verworfen werden
könne, und was im Kampf ums Dasein übrig bleibe, sei des-
halb doch nicht von diesem hervorgebracht. Aber auch Die-
jenigen, welche Selection als positiv schaffendes Princip theo-
retisch anerkennen, zweifeln doch häufig an seiner Tragweite
und nicht selten auch an seiner Wirklichkeit; sie meinen, es
sei ja denkbar, dass alle Anpassungen auf Selection beruhen,
aber dass wirklich die Variationen durch den Kampf ums
Dasein in bestimmter Weise gerichtet würden und so das
Zweckmässige hervorbrächten, sei zwar eine schöne und be-
strickende Hypothese , aber eben doch nur eine Hypothese,
für die der Beweis nicht zu erbringen sei.
Ich bin nun, je länger ich über diese Dinge nachdenke,
um so mehr durchdrungen davon , wie wenig wir an Daten
für den einzelnen Fall beibringen können, und wie weit
wir auf diesem Gebiete vom Beweise entfernt sind. Vielen
werde ich vielleicht in dieser Hinsicht zu weit zu gehen
scheinen und zu absprechend sein. Allein trotzdem glaube
ich, dass das Princip der Selection sich über den Werth einer
blossen Hypothese erheben und als thatsächlich wirkend nach-
weisen lässt, und den Versuch, dies zu thun, habe ich hier
eingeflochten.
In der etwas früher gedruckten englischen Ausgabe
dieser Schrift ist ausser auf S p e n c e r ' s gegen mich gerichtete
Aufsätze nur noch auf eine Arbeit von Buckman einge-
gangen worden. Hier habe ich noch zwei andere Schriften
der neuesten Zeit mit hereingezogen, die eine am Anfang,
die andere am Ende.
Lindau am Bodensee,
den 8. September 1893.
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• - . . •
1 l . • 1
•
er die Entwicklung des Vererbungsproblems,
wie sie sich in diesem letzten Jahrzehnt ge-
staltet hat, im Genaueren verfolgte, dem ist es
bekannt, dass meine Ansicht von der Nichtvererbung er-
worbener Eigenschaften zwar wohl manche bedeutende Zu-
stimmung, aber auch zahlreichen Widerspruch gefunden hat,
dass sie sich jedenfalls heute noch nicht der allgemeinen
Anerkennung in der Wissenschaft erfreut. Manche glauben
eine derartige Vererbung für ihre theoretischen Ansichten
in Bezug auf die Entwicklungslehre unentbehrlich und fol-
gern daraus , dass sie existiren müsse, Andere meinen
dieselbe sogar durch Thatsachen nachweisen zu können.
Die meisten solcher vermeintlichen Beweise beruhen freilich
auf unvollkommenem Verständniss des ganzen Problems,
um welches es sich handelt, vor allem auf Unklarheit dar-
über, was mit der Bezeichnung einer „erworbenen" Eigen-
schaft eigentlich gemeint ist. Man dürfte sich billig ver-
wundern, wie schwer es hält, diesen einfachen Begriff zum
allgemeinen Bewusstsein zu bringen, nachdem doch schon
während nahezu zehn Jahren derselbe scharf begrenzt, durch
Beispiele erläutert und so oft durchgesprochen worden ist.
W e i » m a n n , Allmacht der Naturzüchtung. 1
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Aber dennoch vergeht kein Jahr, ohne dass ein oder meh-
rere Schriftsteller in diese für die Entwickelungslehre funda-
mentale Frage einzugreifen suchen, während sie doch über
den Grundbegriff derselben sich noch im Unklaren befinden.
So hat erst kürzlich wieder ein verdienter „Thier-
physiologe" entschiedene Einsprache gegen meine Ansicht
erhoben vom „Standpunkte der landwirtschaftlichen Thier-
zucht' 4 aus. M. Wilckens 1 ) in Wien meint, ich hätte „die
Erfahrungen und Thatsachen auf dem Gebiet der Thier-
zucht viel zu wenig beachtet", und daraus „erkläre sich der
schroffe Gegensatz zwischen den thierzüchterischen Ver-
erbungstatsachen" und meiner Vererbungstheorie. „Die
Zoologen sollten steh daran gewöhnen, die landwirtschaft-
liche Thierzucht als den experimentellen Theil der Zoologie
zu betrachten." Nun ich glaubte, ich hätte zu verschiedenen
Malen und recht eingehend diese Thatsachen berücksichigt
und verwerthet; ich habe nicht nur Hauptwerke der land-
wirtschaftlichen Züchtung, wie das von Settegast, stu-
dirt, sondern mir auch durch persönliche Besprechung mit
erfahrenen Züchtern das auf dieser Seite der Wissenschaft
gewonnene Material an Thatsachen zugänglich zu machen
gesucht. Meine Beweise gegen die Annahme einer Ver-
erbung von Verstümmelungen sind zum Theil daher ge-
nommen 2 ). Wenn ich dieses Material nicht noch öfter
1) Wilckens, „Die Vererbung erworbener Eigenschaften
vom Standpunkte der landwirtschaftlichen Thierzucht in Be-
zug auf Weismann's Theorie der Vererbung." Biologisches
Centraiblatt vom 15. Juli 1893, p. 420.
2) Vergleiche z. B. meinen Aufsatz „Ueber die Hypothese
einer Vererbung von Verletzungen", Jena 1889, und in den
„Aufsätzen über Vererbung und verwandte biologische Fragen",
Jena 1892, Aufsatz VIII.
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3 -
und vor allem nicht in feineren Fragen benutzt habe, so
liegt dies einfach daran, dass die auf dem Gebiete land-
wirtschaftlicher Thierzucht heute bereit liegenden That-
sachen nicht bis in die feineren Probleme hineinreichen,
und sie thun dies deshalb nicht, weil die Thierzüchter diese
Probleme noch nicht ergriffen haben. Es ist ein Irrthum,
wenn Wilckens meint, dass die thierzüchterischen That-
sachen mit meiner Theorie im Gegensatz stünden; sobald
man nur erst das Problem , um welches es sich handelt,
richtig erkannt hat, stehen sie im schönsten Einklang mit
ihr. Wenn mein Kritiker freilich unter „somatogenen" oder
„erworbenen" Eigenschaften jede Abänderung einer Function
begreift, dann giebt es allerdings zahlreiche vererbbare „er-
worbene Eigenschaften"; ich habe aber von „functioneller
Abänderung" immer nur im Sinne einer Abänderung durch
die Functionirung, also durch Gebrauch oder Nicht-
gebrauch geredet; allein in diesem Sinne ist das Wort
„somatogene" Abänderung überhaupt gemeint. Theile eines
Organismus können in doppelter Weise verändert werden:
durch Aenderung der Keimesanlagen, wo dann die sicht-
bare Variation erst in einer folgenden Generation auftritt,
und durch gesteigerten oder geminderten Gebrauch des be-
treffenden Theils; die ersteren Abänderungen sind die
blastogenen, diezweiten die somatogenen, und von
letzteren allein bestreite ich ihre Vererbbarkeit. Auch kli-
matische Einflüsse, soweit sie nur das Sorna treffen, würden
sich in die letztere Kategorie vielleicht einfügen lassen, inso-
fern auch durch sie gewisse Theile des Thiers oder der Pflanze
(Zellen oder Zellentheile) zu stärkerer, andere zu geringerer
Thätigkeit veranlasst und dadurch verändert werden mögen,
wenn sich das auch nicht im einzelnen Fall nachweisen lässt.
1*
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W i 1 c k e n s meint, „die Thatsachen der Vererbung e r -
worbener Eigenschaften seien auf dem Gebiet der land-
wirtschaftlichen Thierzucht allgemein bekannt", und führt
als „bestes Beispiel" dafür die Entstehung des englischen
Vollblutpferdes an. „Durch fortda uernde Ueb u ng
auf der Rennbahn und Weiterzüchtung der schnellsten
Pferde sind die Nachkommen" der Begründer der Rasse,
dreier orientalischer Hengste, „in ihrer Körperform ganz
verändert worden. Der Kopf ist kleiner, der Hals länger,
das Gestell höher geworden " Auch ich habe diese
Entstehungsgeschichte berührt 1 ), aber ich sehe nicht, in-
wiefern durch dieselbe irgend etwas für die Vererbung
„somatogener" Eigenschaften bewiesen wird. Mein Kritiker
sagt freilich: „durch fortdauernde Uebung auf der Renn-
bahn" seien diese Veränderungen eingetreten, aber ist das
nicht einfach eine Petitio principii? Das ist es ja eben,
was zu beweisen wäre. Er, wie die meisten Thierzüchter,
scheinen in dieser Vorstellung so befangen zu sein, dass
sie es gar nicht bemerken, wie sie hier etwas voraussetzen,
was weit davon entfernt ist, bewiesen zu sein. Grade dies
ist es, was ich bestreite. Nicht das Rennen hat die
Pferde in 200 Jahren zu Rennpferden gemacht,
sondern die Auswahl der für das Rennen vor-
theilhaftesten Variationen unter den Nach-
kommen ausgezeichneter Schnellläufer.
Darwin sagt einmal, als er von den Erfolgen der
Züchter und den Preisausschreiben für neue Varietäten
spricht : „Die Preisrichter ordneten Bärte an für die Hühner,
1) „Das Keimplasma, eine Theorie der Vererbung", Jena
1892, p. 382.
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— 5 -
und nach 6 Jahren hatten 57 Gruppen von den im Krystall-
palast ausgestellten Hühnern Barte." Sollte Jemand ge-
neigt sein, zu glauben, dass diese Bärte durch Ziehen an
den Federn, oder durch was immer für eine Manipulation
oder Uebung entstanden seien? Oder der Schwanz der
Pfauentaube durch häufiges Spreizen des Schwanzes? Ich
werde meinem Kritiker eine solche Thorheit nicht zumuthen,
allein hundert von Fällen könnten angeführt werden, welche
dasselbe beweisen, dass nämlich die mannigfaltigsten Ab-
änderungen an allen möglichen Theilen von Thieren durch
blosse Auswahl der sich darbietenden Variationen zur Nach-
zucht fixirt und gesteigert werden können, bei völligem
Ausschluss irgend einer Uebung. Und nun denke man
noch weiter an die unzähligen Rassen der Blumen und
Früchte, an die Riesenstachelbeeren u. s. w., bei welchen
allen Uebung nicht in Betracht kommen kann. K ei in es -
Variationen sind es, welche in allen diesen Fällen aus-
gewählt und gezüchtet wurden, und diese boten sich dar,
unabhängig von jeder Beeinflussung durch die Art der
Functionirung.
Was berechtigt uns also, grade beim Rennpferd anzu-
nehmen, dass die Uebungsresultate des Einzellebens bei den
eingetretenen Veränderungen der Nachkommen eine Rolle
spielen? Doch wohl nichts Anderes, als das Vorurtheil, es
müsse so sein.
Niemand wird es mit grösserer Freude begrüssen, als
ich, wenn die landwirtschaftliche Thierzucht sich in den
Dienst rein theoretischer Probleme stellt; dazu wäre aber
vor allem nöthig, dass sie sich dazu verstünde, diese Pro-
bleme kennen zu lernen, anstatt bloss über sie abzusprechen.
Wie wenig aber mein Kritiker in das Wesen der von ihm
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verworfenen Ansichten eingedrungen ist, beweist am besten
seine Schlussbemerkung: „Aber auch mit den Thatsachen
der Physiologie befindet sich der Zoologe Weismann im
Widerspruch, sonst würde er nicht auf den Gedanken ge-
kommen sein, dass sich irgendwo in einer verborgenen Ecke
des lebenden Organismus ein kleiner Theil (das Keim-
plasma) organisirter Substanz unabhängig halten könnte von
den Einflüssen der Ernährung und des Stoffwechsels."
Ganz so primitiv, wie mein Kritiker annimmt, sind
denn doch wohl meine physiologischen Vorstellungen nicht.
Wenn er das Capitel über Variationen in meinem oben
schon angeführten, von ihm gekannten Buche *) nachsehen
wollte, würde er finden, dass ich die individuelle Variation
auf ungleiche Ernährungseinflüsse innerhalb des
Keimplasmas zurückführe, in einem anderen Capitel aber
würde er finden -), dass Ernährungseinflüsse nicht genügen,
um die Vererbung einer erworbenen (somatogenen) Eigen-
schaft zu bewirken, weil das Keimplasma zu diesem Behuf
nicht nur schlechthin irgendwie verändert, sondern in einer
ganz bestimmten Weise verändert werden müsste, nämlich
adäquat der Veränderung des betreffenden Somatheils.
W i 1 c k e n s gibt mir aber Recht, wenn ich die Ver-
erbung von Verstümmelungen in Abrede stelle; er meint,
„diejenigen, die behauptet haben, dass Verletzungen als er-
worbene Eigenschaften vererbbar seien, haben es den Geg-
1) „Das Keimplasma, eine Theorie der Vererbung",
p. 538—583.
2) Ebendaselbst, p. 515—524; derselbe Gedanke ist übri-
gens schon in meiner ersten Schrift „über Vererbung" 1883
dargelegt und zieht sich durch alle meine Schriften hin , in
denen dieser Punkt berührt wird.
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nern sehr leicht gemacht, sie zu widerlegen". Mir scheint,
so ganz leicht ist es doch nicht gelungen, die Ueberzeugung
zum Durchbruch zu bringen, dass Verstümmelungen nicht
vererbbar sind ; der Kampf darüber hat sich zum mindesten
durch sechs Jahre hingezogen. Es werden aber auch heute
noch immer wieder neue Fälle vorgebracht, welche eine
solche Vererbung beweisen sollen. Auf einen derselben
will ich kurz eingehen, weil er auf den ersten Blick wirk-
lich beweisend zu sein scheint.
Es sind das Beobachtungen und Versuche, welche ein
englischer Geologe, Buckman, in vorigem Jahre mit-
getheilt hat 1 ). Es ist bekannt, dass die kleine Zehe
an unseren Füssen mehr oder weniger verkümmert ist ; sie ist
nicht nur kleiner, sondern auch verkrümmt, und man
schreibt dies gewöhnlich dem Druck des Schuhes zu, dem
sie während des grössten Theils des Lebens ausgesetzt ist
Bei Neugeborenen zeigt sich die Zehe noch grade, und
man könnte also glauben, die Verkrümmung entstehe in
jedem Einzelleben von Neuem und unabhängig von Ver-
erbung.
Buckman hat nun aber an seinen eigenen Kindern
beobachtet, dass die Zehe krumm wird, auch wenn die
Kinder keine Schuhe tragen, sondern barfuss gehen, und
zwar schon 6 Monate nach der Geburt. Er schliesst dar-
aus ganz richtig, dass die Verkrümmung der kleinen Zehe
eine ererbte Eigenschaft ist, glaubt nun aber damit die
Vererbung erworbener Eigenschaften bewiesen zu haben,
1) S. S. Buckman, „Some Laws of Heredity and their
Application to Man" in „Proceed. Cotteswold Naturalist's Field
Club", Vol. 10, Part 3, p. 258, 1892.
indem er keinen Zweifel hegt, dass die Verbildung der Zehe
durch den Schuhdruck entstanden und allmälig erblich
geworden ist.
Diese Annahme ist nun aber irrig. Wir besitzen eine
genaue anatomisch - statistische Untersuchung der kleinen
Zehe von W. Pfitzner 1 ), aus welcher hervorgeht, dass
dieselbe in einem langsamen Rückbildungs-
process begriffen ist, der nicht auf den Schuh-
druck bezogen werden kann*); sie ist im Begriff,
„sich aus einer dreigliedrigen in eine zweigliedrige Zehe"
zu verwandeln. Unter 47 Füssen der Strassburger Ana-
tomie fand sich 13mal Synostose der zweiten und dritten
Phalanx der kleinen Zehe vor, und Pfitzner konnte diese
Verschmelzung der Gelenke schon bei Kindern unter 7 Jahren,
ja in einzelnen Fällen schon bei Embryonen nachweisen.
Seine Untersuchungen sind nicht etwa zur Lösung der Frage
nach der Vererbung erworbener Eigenschaften und deshalb
mit Voreingenommenheit angestellt, sondern ganz objectiv.
Er berührt diese Frage gar nicht, ja nimmt sogar eine
solche Vererbung als möglich an, indem er zuerst unter-
sucht, ob nicht die Verkrüppelung eine Folge der vererbten
Wirkung des Seitendrucks, und dann, ob nicht vielleicht
„die accumulirende Wirkung der Vererbung" die durch das
Schuhwerk im einzelnen Falle erzeugte sehr schwache Atro-
phie dieser Zehe gesteigert haben könnte. Er verneint
1) W. Pfitzner, „Die kleine Zehe" Archiv f. Anatomie
und Physiologie, 1890, p. 12.
2) Die Gründe, warum dies nicht statthall ist, möge man
im Original nachlesen, sie liegen hauptsächlich in der Natur
der Abänderung, die derart ist, dass sie durch Seitendruck
nicht entstanden sein kann.
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aber auch diese Frage , weil die barfüssgehenden Japaner
und Neger dieselbe Verschmelzung der Phalangen auf-
weisen.
Auf meine Veranlassung hatte Professor W i e d e r s -
h e i m die Güte, die kleinen Zehen einiger ägyptischer Mu-
mien zu untersuchen, und es ergab sich, dass auch bei diesen
die Verwachsung der Phalangen häufig vorkommt und zwar
nicht nur bei Erwachsenen, sondern auch schon bei Kin-
dern l )-
So verhält sich also die Sache ähnlich, wie bei der
Rückbildung des Schwanzes bei Hund und Katze, die auch
den Anlass zu der irrigen Vorstellung gegeben hat, als be-
ruhe sie auf der Vererbung künstlicher Verstümmelung.
Beiderlei Organe befinden sich in einer sehr langsam vor-
schreitenden Rückbildung, deren Erklärung bei der kleinen
Zehe noch weniger Schwierigkeiten begegnen dürfte, als bei
dem Schwanz des doraesticirten Hundes, denn die Physio-
logie hat längst nachgewiesen, dass die kleine Zehe beim
Gehen keine oder nur eine ganz untergeordnete Rolle spielt,
dass sie also — wenigstens in ihrer vollen ursprünglichen
Ausbildung, wie sie heute noch bei den höchsten Affen ent-
wickelt ist — überflüssig ist. Ueberflüssige Theile aber
stehen nicht mehr unter Controlle der Naturzüchtung, wer-
den nicht mehr auf der Höhe ihrer Ausbildung erhalten,
sondern sinken langsam durch Panmixie von ihr herab.
Die erbliche Verkümmerung der kleinen Zehe erklärt sich
also von meinem Standpunkt aus ganz einfach.
1) Wiedersheim, „Der Bau des Menschen als Zeug-
niss für seine Vergangenheit", 2. Auflage, Freiburg i. Br. u.
Leipzig 1893, p. 77.
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— 10 —
Ich will mich aber nicht damit aufhalten, noch andere
der scheinbaren Beweise für eine Vererbung erworbener
Eigenschaften zu widerlegen ; hätte ich auch alle wiederlegt,
die bisher vorgebracht wurden, es tauchten doch immer
wieder neue auf, und auf diesem Wege kämen wir nie zu
einem Abschluss. Auch habe ich ja von jeher hervor-
gehoben, dass die Annahme eines Erklärungsprincips auch
dadurch sich rechtfertigt , dass ohne sie gewisse Erschei-
nungen unerklärlich bleiben. Ich habe es deshalb von vorn-
herein als meine Aufgabe betrachtet, zu zeigen, dass die
Annahme einer Vererbung erworbener Eigenschaften zur
Erklärung der bekannten Erscheinungen nicht noth wendig
ist, und habe damit begonnen, eine ganze Reihe von Er-
scheinungen, die man bisher nur mit Hülfe dieser Annahme
zu erklären gewohnt war, ohne sie verständlich zu machen,
so das Verkümmern überflüssig gewordener Theile, die Ent-
wickelung der Instincte, das Dasein künstlerischer Talente
beim Menschen. Es war mir auch keinen Augenblick
zweifelhaft, dass damit noch nicht Alles geleistet sei, dass
es noch andere Vorgänge gebe, welche nur durch diese An-
nahme Erklärung finden zu können scheinen, und unter
diesen stand obenan das, was Herbert Spencer 1 ) jetzt
wieder in einem längeren Aufsatz in den Vordergrund ge-
stellt und als zwingenden Grund für die Annahme einer
Vererbung erworbener Eigenschaften geltend gemacht hat :
die harmonische Abänderung der verschie-
denen zu einer physiologischen Leistung zu-
sammenwirkenden Theile ( Coadap tati o n).
1) Herbert Spencer, „The inadequacy of natural Se-
lection", Contemporary Review for February and March 1893.
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— 11 -
Es ist nicht zum ersten Male, dass der berühmte Philo-
soph gerade diese Erscheinung gegen meine Ansichten ins
Feld führt, er hat schon vor 7 Jahren einen Aufsatz ') er-
scheinen lassen, der im Wesentlichen dieselben Argumente
geltend macht, und ich hätte gern schon damals darauf ge-
antwortet, wäre ich nicht durch die Verfolgung anderer
Probleme daran gehindert gewesen.
Der Gedankengang Herbert Spencer' s ist, kurz
zusammengefasst, der folgende. Wenn eine Vererbung er-
worbener Abänderungen nicht bestünde, so müsste alle
dauernde Veränderung auf Naturzüchtung beruhen. Nun
müssen aber die meisten nützlichen Veränderungen eines
Theils mit Veränderungen anderer Theile verbunden sein,
wenn sie überhaupt wirksam werden sollen, und dieser co-
operativen Veränderungen sind häufig eine so grosse Zahl,
dass man nicht einsieht, wie sie alle zu gleicher Zeit und
unabhängig von einander durch spontane Variation und
Naturzüchtung sollten entstehen können. Man kann nicht
annehmen, dass sie alle stets in gleichem Sinne variiren,
so dass z. B. die Vergrößerung des Geweihes beim Hirsch
immer schon von selbst mit einer Verdickung der Schädel-
wand, einer Verstärkung des Nackenbandes und der Hais-
und Rückenmuskeln verbunden sein müsse, denn wir kennen
zahlreiche Beispiele, welche beweisen, dass cooperirende
Theile ganz verschieden, ja entgegengesetzt variirt haben.
Wie könnten sonst die enormen Unterschiede zwischen den
Hinter- und Vorderfüssen des Känguruhs, oder wie könnten
die mächtigen Scheeren des Hummers an denselben Bein-
paaren entstanden sein, welche bei der Languste eine ein-
1) „Die Faktoren der organischen Entwickelung", in Kos-
mos 1886, p. 241.
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— 12 —
fache kleine Klaue tragen u. s. w.? Man niuss also, so
nieint Spencer, annehmen, dass die zusammenwirkenden
Theile unabhängig von einander variiren. Nimmt man dies
aber an, so wird der Process der Umwandlung nicht nur
ein unendlich langwieriger und complicirter , sondern ein
fast unmöglicher, denn wie sollten alle die zusammenwirken-
den Theile zu gleicher Zeit der Naturzüchtung die geeig-
neten Variationen darbieten, und doch verlangt z. B. die Ver-
größerung des Geweihes, dass zugleich auch das den Kopf
tragende Ligament stärker werde und die Muskeln, welche
den stärker belasteten Kopf tragen. Ja, auch die Dorn-
fortsätze der Rückenwirbel müssen in der Richtung des
Grösserwerdens variiren , und die Knochen , Muskeln und
Bänder, die Nerven und Gefässe aller dieser Theile und
der ganzen vorderen Extremität. Und alle diese Hun-
derte von einzelnen Theilen sollten unabhängig von ein-
ander gleichzeitig durch Naturzüchtung im richtigen Maasse
verändert werden können ? Wenn sie aber nicht gleich-
zeitig sich verändern, so nützt die Abänderung des ein-
zelnen Theils nichts, denn eine Verstärkung der Nacken-
muskeln und -Bänder ohne Vergrösserung des Geweihes hat
keinen Nutzen, und eine Vergrösserung des Geweihes ohne
gleichzeitige Verstärkung der Bänder, Muskeln u. s. w. würde
sogar gefährlich und höchst nachtheilig für das Thier sein.
Es bleibt also, so scheint es, nichts übrig, als mit
Spencer anzunehmen, dass functionelle Abänderungen
vererbt werden, und dass auf diese Weise alle zusammen-
wirkenden Theile in Harmonie bleiben, d. h. dass die Ver-
änderung des einen von ihnen, hier z. B. des Geweihes,
stets genau, von dem Maass von Veränderung der anderen
Theile begleitet wird, welches für die Gesammtwirkung der
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— 13 -
Theile erforderlich ist; die Vererbung erworbener Abände-
rungen wäre demnach — so scheint es — eine unvermeid-
liche Annahme, und Herbert Spencer ist so sehr von
der Kraft seiner Argumente überzeugt, dass er gradezu
erklärt: „either there has been inheritance of acquired
characters, or there has been no evolution".
Ich kann auch heute nicht dieser Meinung sein. Seitdem
ich vor 10 Jahren die Ansicht ausgesprochen habe, dass
functionelle Abänderungen (erworbene Charaktere) nicht
vererbt werden könnten, habe ich nicht aufgehört, diese
Meinung auf ihre Richtigkeit zu prüfen, und überall, wo ich
im Stande war, tiefer in die Erscheinungen einzudringen,
habe ich dieselbe bestätigt gefunden. Ich gebe aber zu.
dass der Einwurf Spencer' s ein bestechender ist, und ich
würde mich nicht wundern, wenn Viele, die seinen Aufsatz
gelesen und sich mit den enormen Schwierigkeiten bekannt
gemacht haben, welche nach seiner Ansicht einer Erklärung
der betreffenden Erscheinungen durch Naturzüchtung ent-
gegenstehen, sich von der Macht seiner Darstellungskunst
hingerissen fühlen und die leichtere Erklärung dieser
Erscheinungen, diejenige durch Vererbung erworbener Eigen-
schaften, auch für die richtige halten.
Ich hoffe aber zu zeigen, dass sie nicht die richtige
sein kann, und dass wir hier, wie bei dem Verkümmern
nicht gebrauchter Theile, die scheinbar einfachste und bei-
nahe selbstverständliche Erklärung verwerfen und nach einer
anderen suchen müssen.
Was ist einfacher und scheinbar selbstverständlicher,
als dass Organe, die nicht benutzt werden, verkümmern
eben durch ihre Unthätigkeit V Wir wissen ja, dass Thätig-
keit die Muskeln und viele andere Theile kräftigt, Un-
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thätigkeit sie schlaff und dünn macht, und wie nahe liegt
die Annahme, dass sich dieses Verkümmern von Generation
auf Generation vererbte! Aber diese Annahme ist nicht
richtig und kann einfach dadurch widerlegt werden, dass
auch solche Theile verkümmern, wenn sie nutzlos werden,
welche nur passiv functionirten , d. h. welche durch ihre
blosse Anwesenheit nützlich sind, wie der harte Hautpanzer
der Krebse und Insecten oder die schützende Färbung eines
Insectes.
Wenn es gelänge, nachzuweisen, dass Abänderungen
eines Körpertheiles von complicirterem Bau, dessen
Leistungen mit vielen anderen Theilen zusammenhängen,
vor sich gegangen sind, ohne dass Vererbung erworbener
Abänderungen dabei im Spiel gewesen sein kann, so wäre
der Beweis erbracht, dass auch dieses letzte Bollwerk des
Lamarck' sehen Princips unhaltbar ist. Solche Fälle aber
lassen sich aufzeigen, wie ich glaube.
Es gibt glücklicherweise Thierformen, welche sich
nicht fortpflanzen, sondern immer wieder von neuem von
Eltern hervorgebracht werden, die ihnen nicht gleichen, und
diese Thiere, die also nichts vererben können, haben sich
trotzdem im Laufe der Erdgeschichte verändert, haben über-
flüssige Theile eingebüsst, andere vergrössert und umge-
staltet, und diese Umgestaltungen sind zuweilen sehr be-
deutende und verlangen die Veränderung vieler Theile des
Körpers, weil viele Theile sich nach ihnen richten, mit ihnen
in Harmonie stehen müssen.
Ich rede von den „Neutra" der staatenbildenden In-
secten, vor allem von denjenigen der Ameisen und
Termiten. Bei letzteren giebt es deren meist zweierlei:
Soldaten und Arbeiter, bei den Ameisen sind es meist nur
— 15 —
sog. Arbeiter. Die Fortpflanzungsorgane dieser Neutra
bleiben klein und sind in vielen Fällen gradezu verküm-
mert zu nennen. Aber obgleich diese Thiere sich nicht
oder doch nur ausnahmsweise fortpflanzen, weichen sie doch
von ihren Eltern, den Männchen und Weibchen, mehr oder
weniger stark ab, und zwar auch in anderen Theilen des
Körpers, und diese Abweichungen haben sich im Laufe der
Zeiten vermehrt und gesteigert.
Schon Charles Darwin war diese Thatsache nicht
entgangen, wenn er sie auch nicht in Bezug auf die Frage
ins Auge gefasst hat, die uns hier beschäftigt. In seiner
„Entstehung der Arten" ist bereits eine längere Besprechung
der Entstehung der Ameisen-„Neutra" enthalten, und damals
schon gab er diejenige Erklärung für dieselbe, die wir auch
heute noch als die einzig mögliche ansehen müssen, näm-
lich die durch Selection der Eltern dieser Neutra. Damals
handelte es sich noch darum, die Entwickelungs- und Selec-
tionstheorie gegen alle möglichen Einwürfe zu vertheidigen
und die ihnen im Wege stehenden Schwierigkeiten zu be-
seitigen. Als eine solche „anscheinend unüberwindliche
Schwierigkeit" besprach damals Darwin die Existenz der
Neutra in den Insectenstaaten und führte ihre Entstehung
darauf zurück, dass eine Selection der fruchtbaren Weibchen
in dem Sinne stattgefunden haben müsste, dass Weibchen,
welche neben fruchtbaren auch sterile Nachkommen hervor-
brachten, für den Staat von grösserem Vortheil waren, weil
die Existenz blos arbeitender Mitglieder denselben
forderte und kräftigte, und ihm eine Ueberlegenheit sicherte
gegenüber arbeiterlosen Kolonien. So siegten im Laufe
der Zeiten die mit Arbeitern versehenen Staaten über die
arbeiterlosen und verdrängten sie zuletzt vollständig, und
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auf dieselbe Weise entstanden alle die Veränderungen an
den Arbeitern, welche sie mehr und mehr geschickt machten,
dem Staate nützlich zu sein.
Es mag schwer sein, sich eine so langsam und auf
Umwegen arbeitende Selection vorzustellen, aber wir müssen
diese Erklärung dennoch für die richtige halten, weil sie
die einzig mögliche ist, es sei denn, man nehme eine innere
Entwickelungskraft an, welche die Umwandlungen der Orga-
nismen hervorrufe, wie dies von N ä g e 1 i und Anderen be-
kanntlich geschehen ist. Ich habe aber schon vor langer
Zeit den ausführlichen Beweis angetreten dass eine solche
„phyletische Entwicklungskraft" in Widerspruch mit un-
zähligen Thatsachen steht. Sie würde nur dann mit der
Thatsache der genauesten Anpassung sämmtlicher Organismen
an ihre Lebensbedingungen vereinbar sein, wenn man zu-
gleich die Annahme einer „prästabilirten Harmonie" zwischen
den Art- Umwandlungen und den Lebensbedingungen machen
wollte, so dass jede einzelne kleinste Veränderung der letz-
teren nach Zeit und Ort auf das genaueste vorher bestimmt
wäre und mit den nach Zeit und Ort ebenso genau be-
stimmten Abänderungen aufs Haar zusammenträfe. Leib-
niz dachte sich bekanntlich das Verhältniss von Körper
und Seele in dieser Weise und verglich sie zwei Uhren,
die so genau gearbeitet sind, dass sie unabhängig von ein-
ander immer vollständig gleich gehen.
Eine solche Annahme liegt dem Verfasser der „Prin-
ciples of Biolog}'" fern, und da er ja überdies das Selections-
princip als wirkend anerkennt, so wird auch er keine andere
Erklärung für die Bildung der Neutra zu geben haben, als
1) „Studien zur Descendenztheorie", Leipzig 1876, p. 295
u. 322 ; englisch : „Studies in the Theory of Descent", trans-
lated by R. Meldola, Part ni, London 1882, p. 664 u. 706.
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die Darwinsche, er müsste denn versuchen wollen, die
Thatsachen selbst zu bestreiten, worauf ich zurückkommen
werde. Sobald er aber diese Erklärung als die richtige
annimmt, hat er zugleich zugegeben, dass nicht nur die
Verkümmerung überflüssig gewordener Theile, nicht nur
die höhere Entwickelung anderer Theile, sondern auch
die harmonische, zweckentsprechende Umge-
staltung vieler zusammenwirkender Theile
(cooperative parts) ohne jegliche Mitwirkung der
Vererbung erworbener Eigenschaften vor sich
gehen kann.
Ich schreite zum Beweise. Di« Ameisen gehören zu
denjenigen Thieren, welche in Bezug auf ihr Leben und
Treiben, wie auf ihre Organisation am allergenauesten unter-
sucht worden sind. Eine lange Keine ausgezeichneter Be-
obachter haben sie anhaltender Forschung werth gehalten,
und manche von diesen haben ihnen sogar ihre Forschungs-
kraft ganz ausschliesslich gewidmet, wie P. Huber,
A. Forel und der Jesuitenpater W a s m a n n. Es liegt ein
grosses und vorzügliches Material an Beobachtungen vor,
so dass theoretische Schlüsse hier auf eine feste Grundlage
gestellt werden können. Ich sehe deshalb auch ganz von
den Termiten ab, über die wir viel weniger sicher und
genau unterrichtet sind.
Dass die Arbeiterinnen der Ameisen durch
phyletische Umgestaltung fruchtbarer Weibchen entstanden
sind, wird wohl auch ohne ausführlichen Beweis zugegeben
werden. Woher sollten sie auch sonst gekommen sein?
Dies ist auch die Ansicht sämmtlicher Ameisen-Forscher
der neueren Zeit, von Forel bis zu Wasmann. Heute
noch leben einige Arten, wie Leptothorax acervorum, bei
W e l s m a u n , Allmacht der Naturatichlung. 2
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- 18 —
denen die Arbeiter den Weibchen sehr ähnlich sind, auch
sind Uebergangsformen zwischen Weibchen und Arbeitern
gerade bei diesen Arten nicht selten aufgefunden worden,
und der letztgenannte Schriftsteller hat nicht weniger als
sechs verschiedene Kategorien solcher Uebergangsformen
aufgestellt *).
Was nun die Natur der Abänderungen betrifft,
durch welche die Arbeiter und Weibchen sicli unterscheiden,
so sind sie theils Rückbildungen, theils Vorwärts-
bildungen, d. h. stärkere Entfaltung und Umbildung
gewisser Theile.
R ü c k g e b i 1 d e t ist bei den Arbeiterinnen aller bisher
darauf untersuchten Ameisen der Eierstock und das Recep-
taculum seminis. Den Untersuchungen eines schwedischen
Forschers, Ad ler z, verdanken wir genauere Angaben
darüber, aus welchen hervorgeht, dass das Receptaculum
bei allen untersuchten Arten vollständig geschwunden ist,
während die Eierstöcke in verschiedenem Grade rückgebildet
sind; bei einer Art sind noch Eiröhren in jedem Ovarium
vorhanden, bei einer anderen nur 1—5, bei einer dritten
nur 3, bei anderen nur 1—2, bei Tapinoma und fast allen
Myrmeciden nur noch eine, und bei Tetramorium gar keine
Eiröhre mehr.
Rückgebildet sind bei vielen Arten die Augen der
Arbeiter; die drei Ocellen fehlen oft vollständig, und bei
den Netzaugen ist die Zahl der Facetten und damit die
Leistungsfähigkeit des Auges mehr oder weniger stark herab-
gesetzt gegenüber der der Weibchen und Männchen der-
1) E. Wasmann, „Uober die verschiedenen Zwischen-
formen von Weibchen und Arbeitern bei Ameisen", Stettiner
ontomolog. Zeitung, 1890, p. 300.
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— 19 —
selben Art. Wir verdanken F o r e 1 eine ganze Liste genauer
Angaben über diese Verhältnisse. So besitzt z. B. das
Männchen von Formica pratensis ungefähr 1200 Facetten
an jedem Auge, das Weibchen derselben Art nur 830, die
Arbeiterin aber deren nur nahezu 600; bei der gewöhn-
lichen Rasenameise Solenopsis fugax hat das Männchen mehr
als 400 Facetten, das Weibchen etwa 200 und die Arbeiterin
nur 6—9.
Dass die Männchen die am höchsten entwickelten Augen
besitzen, kann den nicht überraschen, der weiss, dass das-
selbe bei sehr vielen Insecten der Fall ist; gibt es doch
unter den Ephemeriden Arten (Potamanthus), bei welchen
das Männchen ausser den gewöhnlichen Netzaugen noch
ganz besondere grosse, turbanförmige Augen oben auf dem
Kopfe trägt, die ihm ein ganz sonderbares Aussehen geben.
Es sind aber die Männchen, welche die Weibchen aufsuchen,
und denen deshalb bessere Sehwerkzeuge beim Flug hoch
in der Luft von Vortheil sind. Aber auch die Weibchen
der Ameisen bedürfen der Augen beim Hochzeitsflug, und
nur die Arbeiter, die stets am Boden und viel sogar im
Dunkeln leben und arbeiten, können nur einen beschränkten
Gebrauch von ihrem Gesichtsorgan machen.
Aber man wird vielleicht zweifeln, ob hier in der That
eine Rückbildung bei den Arbeiterinnen, und nicht vielleicht
einfach nur eine Steigerung in der Entwicklung der Netz-
augen bei den Weibchen und Männchen vorliege. Ich
halte es auch sehr wohl für möglich, dass in manchen
Fällen die Netzaugen der Weibchen und Männchen sich seit
der Feststellung eines Arbeitertypus noch vergrössert haben,
allein nicht nur der Schwund der Punktaugen (Ocellen) bei
vielen Arten beweist, dass dennoch zugleich eine Rc-
58»
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duction der Arbeiteraugen stattgefunden hat, sondern auch
solche Fälle wie Solenopsis fugax ; denn so kleine, nur aus
6—9 Facetten bestehende Netzaugen wie bei dieser Art
haben die auf den Hochzeitsfiug ausschwärmenden Weibchen
bei keiner heute lebenden Art, und die Vorfahren der
Ameisen müssen, wie alle noch nicht zu Staaten vereinigten
räuberischen Hymenopteren, grosse Netzaugen besessen
haben.
Rückgebildet sind ferner bei den Arbeitern die Flügel
und zwar vollständig, so dass an dem vollendeten Insect
nichts mehr von ihnen zu sehen ist. In diesem Fall lässt
sich auch der Beweis führen, dass die Stammformen schon
Flügel besassen, denn Dewitz hat die Imaginalscheiben
der Flügel in der Larve nachgewiesen ; dieselben entwickeln
sich aber in der Puppe nicht mehr weiter.
Neben den Flügeln sind bei den Arbeitern auch die
beiden Abschnitte des Thorax rückgebildet, an
welchem die Flügel sitzen, sowie die Muskeln des Thorax,
welche die Flügel bewegen. Letzterer Punkt ist direct fest-
gestellt worden lässt sich aber schon aus der bedeutenden
Verkleinerung der beiden hinteren Thoracalsegmente bei
den Arbeitern erschliessen. Diese beiden Segmente sind
zugleich viel einfacher gestaltet, die Leisten, welche kleine,
schildförmige Abschnitte des Mesothorax umgrenzen, das
sog. Scutellum und Proscutellum, fehlen ganz und ebenso
das Postscutellum , auch verschmelzen die unterhalb der
sonstigen Ansatzstelle der Hinterflügel gelegenen zwei kleinen
Seitenstücke. Die Veränderungen am Thorax sind also ganz
1) Von Adler z für die Arbeiterinnen von Camponotus
und Formica.
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— 21 —
solche, wie sie durch Vererbung der anhaltenden Wirkung
des Nichtgebrauches entstehen müssten, falls es eine solche
Vererbung gebe. Aber die Arbeiterinnen sind un-
fruchtbar und vererben gar nichts.
Rudimentär sind ferner bei den Arbeiterinnen alle die-
jenigen Instincte, welche sich auf Fortpflanzung beziehen.
Schon früher habe ich zu zeigen versucht, dass sich
alle diese Rückbildungen bei den sterilen Individuen der
staatenbildenden Insecten nur durch Panmixie erklären
lassen, denn wo keine Nachkommen sind, da kann auch die
Wirkung des Nichtgebrauchs nicht auf sie übertragen werden.
Uebrigens würde eine Verkümmerung der Flügel auch
dann nicht durch Vererbung der Folgen des Nichtgebrauchs
erklärt werden können, wenn die Arbeiterinnen Nachkommen
hervorbrächten, denn die Flügel sind passive Organe bei
den Insecten, deren Vollkommenheit durchaus nicht von
ihrem Gebrauch abhängt ; sie sind fertig, ehe sie gebraucht
werden, und nützen sich durch den Gebrauch höchstens ab,
anstatt dadurch stärker zu werden. Auf ähnliche Fälle
(Hautpanzer der Einsiedlerkrebse u. s. w.) habe ich schon
vor langer Zeit hingewiesen 4), und ich kann mir das Igno-
riren solcher zwingender Fälle von Seiten Herbert S p e n-
cer's nur dadurch erklären, dass ihm als Philosophen diese
Thatsachen nicht durch eigene Anschauung bekannt sind
und ihm deshalb minder schwerwiegend erscheinen, als dem
Naturforscher; denn ich möchte durchaus nicht annehmen,
dass er den Schwierigkeiten, welche sich seiner Ansicht ent-
gegenstellen , absichtlich aus dem Wege geht, wie es die
1) „Aufsätze über Vererbung" u. s. w., p. 571 u. f., engl.
Ausgabe Vol. II, p. 20.
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- 22 —
Art der Volksredner und Advocaten — leider auch mancher
Naturforscher ist.
Grade die Ameisen geben uns aber noch einen in-
teressanten Fall an die Hand, der beweist, dass Verküm-
merung eines Organs nicht auf Vererbung functioneller
Atrophie beruht, dass es vielmehr verkümmern
kann, auch wenn es fortfährt, zu f u nctioniren.
Die Verminderung der Facettenzahl an den Augen
der Arbeiterinnen nämlich würde auch dann nicht auf Ver-
erbung functioneller Atrophie bezogen werden können, wenn
die Arbeiterinnen sich fortpflanzten, denn ihre Augen werden
heute noch ebenso gut vom Licht getroffen, wie in früheren
Zeiten, wo sie noch fruchtbare Weibchen waren ! Wir haben
es ja nicht mit Thieren zu thun, die in absoluter Finster-
niss leben, sondern abwechselnd im Licht und im Dunkeln,
genau so wie die fruchtbaren Weibchen, bei denen nur der
Hochzeitsflug noch hinzukommt. Die Augen der Arbeiterinnen
werden also (tatsächlich nicht ausser Function gesetzt! Sie
werden vom Licht getroffen, so gut wie bei den Weibchen,
sie können also nicht aus Mangel an Function verkümmern,
sondern sie verkümmern, weil und soweit sie über-
flüssig sind zur vollkommenen Ausführung
der Lebensaufgaben einer Arbeiterin. Also auch
auf diesem Wege werden wir zur Panmixie geführt.
Die zweite Grupp e von Veränderungen, welche an den
Arbeiterinnen eingetreten sind , ist die Vorwärtsent-
Wickelung mancher Theile, und hier ist vor allem die
bedeutend stärkere Ausbildung des Gehirns
zu nennen , die in Zusammenhang steht mit der grösseren
Intelligenz und den vielseitigeren Instincten der Arbeiterinnen,
deren Functionen bekanntlich sehr mannigfacher Art sind,
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und zum Theil derartige, wie sie erst durch die Staaten-
bildung und die Existenz von Arbeitern möglich geworden
sind. Aber auch äusserlich sind die Arbeiterinnen nicht
selten durch Eigenthümlichkeiten ausgezeichnet, welche mit
ihrer Thätigkeit aufs genaueste zusammenhängen und des-
halb nicht schon von den Geschlechtsthieren her auf sie
vererbt sein und diesen selbst dann verloren gegangen sein
können. Dahin gehören z. B. die langen Dornen, welche
die Arbeiterinnen mancher Arten (z. B. von Atta) auf dem
Kopf und dem Rücken tragen.
Grade bei der Gattung Atta unterscheiden sich aber
die Arbeiterinnen von den Weibchen noch durch viel tiefer
greifende Merkmale. Bei manchen Arten kommen zwei
Formen von Arbeiterinnen vor, deren eine als „Sol-
daten" bezeichnet zu werden pflegt, weil sie die Verteidigung
der Kolonie übernehmen. Diese nun zeigen sich oft sehr
verschieden von den anderen Arbeitern und noch mehr von
den fruchtbaren Weibchen. So ist bei Pheidole megacephala
der Kopf der Soldaten viel grösser und mit viel mächtigeren
Kiefern ausgerüstet, und „die Grösse des Kopfes gestattet
den Muskeln, welche die Kiefern bewegen, ganz ungewöhn-
liche Dimensionen", wie Lubbock 1 ) berichtet, der diese
südeuropäische Art im Leben beobachtet hat Bei der
mitteleuropäischen Colobopsis truncata hat Carlo Em6ry
auch zwei Arbeiterformen entdeckt, von denen die „Sol-
daten" so verschieden sind von der gewöhnlichen Arbeiter-
form, dass man sie bisher für eine andere Art gehalten
hatte (C. fuscipes), als man sie im Nest der Colobopsis
1) Sir J o h n L u b b o c k , „Ameisen, Bienen und Wespen",
Leipzig 1883, p. 16.
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1
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fand. Auch hier besitzen die „Soldaten" einen sehr grossen
nnd dicken Kopf, den sie in recht sonderbarer Weise be-
nutzen. Derselbe ist nämlich so gross, dass er grade eiue
der vielen kleinen Eingangspforten zum Neste verschliesst,
und so bewachen sie das Nest, indem jede von ihnen eine
Pforte besetzt hält.
Es lässt sich nun wohl nicht leugnen, dass wir hier
Veränderungen vor uns haben, welchen in verkleinertem
Maassstabe ähnliche Vorgänge zu Grunde liegen müssen,
wie sie Herbert Spencer mit Recht bei der Beschwerung
des Kopfes eines Hirsches mit einem immer grösser und
schwerer werdenden Geweih (Torfhirsch) annahm ; das heisst :
es müssen viele Theile gleichzeitig und in
Harmonie mit einander verändert worden sein.
Wenn die Kiefer stärker und grösser wurden, konnten sie
nur dann brauchbar bleiben, wenn auch die sie bewegende
Musculatur stärker und wenn die Chitinkapsel des Kopfes,
an der sie eingelenkt sind, dicker wurde. Der Kopf musste *
also zugleich grösser und sein Hautpanzer dicker werden.
Auch die Nerven, welche die Kaumuskeln versorgen, mussten
reicher an Nervenfasern werden, um die vierzahlreicheren
Muskelfasern alle versorgen zu können, und dementsprechend
werden auch die entsprechenden Bewegungscentren des Ge-
hirns eine Verstärkung ihrer Elemente haben erfahren
müssen u. s. w. Aber damit sind wir noch nicht zu Ende,
denn wie beim Hirsch das schwerere Geweih eine Verstär-
kung der Bänder, Knochen und Muskeln mindestens des
Halses und der ganzen vorderen Extremitäten erfordert, so
konnte auch der grössere und schwerere Kopf der zum
Soldaten umgewandelten Ameise nicht mehr von dem Thorax
und den Beinen getragen und bewegt werden, wenn diese
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t
- 25 -
Theile nicht auch in der Festigkeit ihres Skelettes, den Ge-
lenkhäuten. Muskeln und Nerven u. s. w. verstärkt wurden.
Alle diese Veränderungen können nicht auf der Ver-
erbung functioneller Abänderungen beruhen, da die Arbei-
terinnen sich nicht oder doch nur ganz ausnahmsweise fort-
pflanzen, sie können also nur durch Selection der
Ameiseneltern entstanden sein, d. h. dadurch, dass
immer diejenigen Eltern am meisten Aussicht auf Erhaltung
ihrer Kolonie hatten, welche die besten Arbeiterinnen her-
vorbrachten; keine andere Erklärung ist denkbar. Darauf
aber grade, dass keine andere Erklärung
denkbar ist, beruht überhaupt die Noth wen-
digkeit für uns, das Princip der Naturzüchtung
anzunehmen. Sie allein vermag die Zweckmässigkeiten
der Organismen zu erklären, ohne ein zweckthätiges Prin-
cip zu Hülfe zu nehmen. Herbert Spencer tadelt es
scharf, dass in meinen Aufsätzen öfters der Ausdruck ge-
braucht sei „it is easy to imagine", und meint, viele meiner
Argumente seien auf Dinge gegründet „it is easy to ima-
gine". Vielleicht ist der Ausdruck tadelnswerth, insofern
er auf eine allzu leichte Beweisführung zu schliessen ge-
stattet. Ich freue mich, dass ich ihn auch wirklich nicht
gebraucht habe, wenigstens nicht in der von Spencer ge-
rügten Weise. Mein Gegner hat übersehen, dass die eng-
lische Ausgabe meiner Aufsätze nicht das Original, sondern
eine Uebersetzung ist. Das „it is easy to imagine" stammt
gar nicht von mir her, sondern ist eine etwas allzu freie
Uebersetzung verschiedener Wendungen des deutschen Ori-
ginals. Die von Spencer speciell angeführte Stelle lautet
z. B. im Deutschen : „so könnte man immerhin daran denken,
dass . . . .". An einer anderen Stelle (Aufsatz VIII, p. 524)
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beruht das „it is easy to imagine" auf den Worten : „es ist
also an und für sich durchaus nicht unzulässig . . .**, an
einer dritten (Aufsatz IV, p. 225) heisst es : „allein es wäre
ja ganz wohl denkbar . . . ." Unter den acht Stellen, in
welchen der Ausdruck in der englischen Ausgabe vor-
kommt '), finden sich nur zwei, bei welchen er auch in der
deutschen Ausgabe steht, und in diesen wird wohl auch
mein gestrenger Kritiker nichts gegen denselben einzu-
wenden haben. Auf p. 185 heisst es: „in allen diesen
Fällen ist es leicht, sich die Selectionsprocesse vorzustellen,
durch welche . . . .", und auf p. 520; „wir können uns leicht
davon eine Vorstellung machen, wenn wir erfahren, dass in
Japan . . . Ich glaube, ein Naturforscher darf wohl
danach streben, sich Vorgänge, welche er erschlossen hat,
auch concret vorzustellen, es liegt im Gegentheil ein
gewisser Grad von Bestätigung des blos Erschlossenen
darin, wenn man im Stande ist, sich eine ins Einzelne
gehende Vorstellung davon zu machen. Die Wahrheit des
erschlossenen Vorgangs hängt freilich nicht davon ab, dass
uns dies gelingt, sondern von der zwingenden Kraft des
Schlusses; hierin stimmen also wohl Naturforscher und
Philosoph — theoretisch wenigstens — überein.
Praktisch scheint es mir allerdings, als ob mein
Gegner fast mehr geneigt sei, von der leichten oder schwe-
reren Vorstellbarkeit einer Vorgangs auf dessen Wirklich-
1) Einer meiner Freunde hat sich die Mühe genommen,
meine Aufsätze in englischer Ausgabe auf den Ausdruck „it
is easy to imagine" hin durchzusehen. Er fand ihn gar nicht
in Aufsatz I, V, VI, VII, IX, X, XI u. XII, 2mal in IL lmal in
III u. in IV das Wort „imagine" 3mal in etwas anderer Ver-
bindung, 2mal in VIII.
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keit zu schliessen als ich selbst. Er verwirft die Möglich-
keit, complicirte harmonische Umgestaltungen des Körpers
(Coadaptation) durch Naturzüchtung zu erklären, weil so
vielfache und verwickelte gleichzeitige Züchtungsprocesse
nicht vorgestellt werden können, nimmt aber andererseits
die sonderbare Höhe des Vorderkörpers der Giraffe als
Product der Naturzüchtung, weil hier der Vorgang schein-
bar leicht sich vorstellen lässt. Freilich ist er in dem
zweiten Fall zu dieser Annahme genöthigt, weil das La-
marck'sche Princip der Vererbung functioneller Abände-
rung ihn hier im Stiche lässt, da, wie er sagt, eine Ver-
längerung der Beine und des Halses durch das Recken
nach hohen Zweigen nicht hervorgebracht werden könne.
Ich muss sagen, dass mir grade in Bezug auf die Berech-
tigung, den Vorgang der Naturzüchtung in einem bestimmten
Falle anzunehmen, wenig darauf anzukommen scheint, ob
wir ihn uns leichter oder schwerer, oder selbst sehr schwer
nur vorzustellen vermögen, und zwar deshalb, weil ich
nicht glaube, dass wir in irgend einem Falle
überhaupt im Stande sind, uns die morpho-
logische Umwandlung dabei wirklich und im
Einzelnen vorzustellen. Auch ich beziehe die Länge
des Halses und der Vorderbeine der Giraffe auf Selections-
processe, aber ich bestreite, dass wir uns dieselben irgend-
wie anders als ganz allgemein und sehr unbestimmt vorzu-
stellen vermögen. Es fehlen uns dazu die Daten. Wir
wissen weder, wie gross die Variationen sein müssen,
welche über Leben oder Untergang entscheiden können,
noch wissen wir, wie häufig die durch Selection häufbaren
Variationen vorkommen, noch auch wie oft, in welchen Zeit-
zwischenräumen sie zur Selection führen. Wir kennen also
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in der That gar nichts, als die principielle Grundlage des
Processes, und deshalb kann Jeder, der den logischen
Zwang der Theorie nicht begreifen oder nicht anerkennen
will, mit Leichtigkeit den einzelnen Fall als unannehmbar
hinstellen. Herbert Spencer scheint es unbekannt zu
sein, dass Nägeli in seinem Buch 1 ), welches vor einem
Jahrzehnt viel Aufsehen in der Wissenschaft machte, grade
diesen Fall von der Giraffe analysirte und zu zeigen suchte,
dass Selectionsprocesse durchaus nicht im Stande seien, die
Höhe der Giraffe zu erklären.
Mein Gegner meint ferner, die ausserordentliche Fein-
heit der Tastempfindung an der Zungenspitze lasse sich
nicht durch Selectionsprocesse erklären , denn ich würde
doch nicht behaupten wollen, dass ein Individuum mit weni-
ger feinfühliger Zungenspitze als ein anderes jemals da-
durch im Kampf ums Dasein unterlegen sei. Eine solche
Wirkung scheint ihm offenbar schwer vorzustellen. Sie ist
es auch, weil wir in den Lebenskampf der Thiere nur sehr
unvollkommen hineinsehen, und noch mehr, weil wir leicht
vergessen, dass es sich bei so hochentwickelten Organen,
wie es die Zunge des Menschen ist, um das Endresultat
eines unendlich langen, durch Tausende und Tausende von
Arten sich fortziehenden Vervollkommnungsprocesses han-
delt, den wir wiederum völlig ausser Stande sind uns
einigermaassen entsprechend vorzustellen. Unsere Vor-
stellungskraft reicht nicht bis zu so ungeheuren Zeitfolgen
und so langgedehnten Entwickelungsreihen ; wir sprechen
von ihnen, ohne recht zu wissen, was wir sagen, etwa so,
1) „Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungs-
lehre", München u. Leipzig 1884.
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wie wenn wir von einer Billion oder Trillion von Dingen
reden ; wir müssen den ungeheuren Haufen in eine Einheit
verwandeln, um damit operiren zu können, da die Vielheit
allzu weit über unsere Erfahrung hinausgeht. Das wird
leicht vergessen. Uebrigens ist die Zunge bei vielen Thieren,
und zwar grade noch bei den nächsten Verwandten des
Menschen, den Alfen — wie Rom an es 1 ) sehr richtig be-
reits gegen Spencer bemerkt hat — ein Tastorgan, wel-
ches nicht blos im Munde zu functioniren hat, indem es
beim Kauen den Bissen zurechtschiebt , sondern welches
zugleich als Hand zum Betasten äusserer Gegenstände
dient. Warum sollte also nicht ein entscheidender Vortheil
im Kampf ums Dasein darin liegen können, wenn es feiner
ausgebildet ist, als bei anderen Individuen der gleichen
Art? Hängt doch das Leben der Thiere wesentlich von
der Schärfe ihrer Sinnesorgane ab.
Aber freilich in diesem Falle steht dem Anhänger La-
ma r c k ' s der Ausweg! mittelst der Vererbung functioneller
Abänderungen frei, insofern man annehmen kann, die Tast-
papillen der Zungenspitze hätten sich durch den intensiven
Gebrauch immer zahlreicher vermehrt. Aber es gibt Bei-
spiele genug, in welchen man diesen hypothetischen Factor
ausschliessen kann, und eins davon möchte ich hier an-
führen, weil er mir schon seit langer Zeit ein guter Beweis
dafür zu sein scheint, wie wenig bei der Annahme von
Selectionsprocessen darauf ankommt, ob wir sie uns leicht
oder schwer vorstellen können.
Sehr viele Insecten, besonders schön aber die Bienen
1) „Mr. Herbert Spencer on natural Selection" in
Contemp. Review, No. 328, April 1893, p. 499.
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und Wespen, haben an dem unteren Ende der Tibia ihrer
Vorderbeine einen spornartigen, etwas beweglichen Fortsatz,
dem gegenüber der Metatarsus einen kleinen, fast halbkreis-
förmigen, mit einem Kamm kleiner Zähnchen besetzten
Ausschnitt trägt. Diese „Putzscharten" dienen zum
Reinigen der Fühler, indem der zu reinigende Theil zwischen
den zwei Armen einer Scheere durchgezogen wird. Be-
sonders F. Dahl 1 ) hat diese interessanten und sehr zier-
lichen Einrichtungen bei vielen Insecten untersucht und
abgebildet, und etwas früher schon Canestrini und
B erlese 2 ). Diese Scharten nun bilden eine plötzliche
und recht auffällige Unterbrechung der Fläche des Beins;
bei einer kleinen Biene, Nomada, hat es ganz den Anschein,
als habe man mit dem Locheisen ein halbkreisförmiges Stück
aus dem Glied herausgeschlagen, so plötzlich und regel-
mässig ist die Scharte. Man könnte sich vorstellen, das
Insect habe durch das immer wieder von Neuem geübte
Durchziehen des Fühlers zwischen Sporn und Tarsus all-
mälig diese halbkreisförmige Scharte hineingewetzt Das
würde aber die Vererbung erworbener Eigenschaften vor-
aussetzen, und diese ist hier dadurch ausgeschlossen, dass
die Functionirung des Hautskelettes eine rein passive ist.
Die Insecten bringen ihre Beine fertig aus der Puppe mit,
machen später keine Häutung mehr durch, und von
einer f unc tionell en Abänderung des Chitin-
skelettes kann keine Rede sein. Dasselbe ist nicht
mehr ein lebendiger Theil des Thieres, sondern eine Ab-
1) F. Dahl, „Beiträge zur Kenntniss des Baues und der
Functionen der Insectenbeine", Berlin 1884.
2) Canestrini u. Berlese, „La streggia degli Ime-
notteri", Padova 1880.
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sonderung der darunter liegenden Schicht lebender Zellen.
Wenn auch das Reinigen der Fühler wie eine Feile wirkte,
so würde eben nur todte Substanz weggefeilt, so etwa, wie
wenn wir uns die Nägel an den Fingern abfeilen. Es wird
wohl auch der hartnäckigste Anhänger der Vererbung er-
worbener Eigenschaften nicht behaupten wollen, dass sich
ein solcher Defect vererben könne.
Da diese Erklärung somit nicht möglich ist, so bleibt
nur diejenige durch Naturzüchtung, und es ist auch „leicht
sich vorzustellen", dass es für das Insect von Nutzen sein
muss, so wichtige Sinnesorgane, wie es die Fühler sind,
von Staub und Schmutz befreien zu können. Aber sobald
man nun versucht, sich den Selectionsprocess im Einzelnen
auszudenken, erkennt man, dass wir auch hier im Grunde
nichts wissen , und dass es jemand, der Selectionsprocesse
überhaupt in das Gebiet der Phantasie verweisen wollte,
ungemein leicht sein würde, seiner Ansicht Nachdruck zu
verleihen ; denn es ist sehr schwer, sich diesen
Selectionsprocess wirklich im Einzelnen vor-
zustellen, und heute noch nicht möglich, ihn zu erweisen
in irgend einem Theile. Da eine plötzliche Entstehung der
Putzscharte ausgeschlossen ist, so würden wir also anzu-
nehmen haben, dass die Scharte damit begonnen habe,
dass Individuen der betreifenden Bienen -Art vorkamen,
welche an Stelle der späteren Scharte eine kleine Ab-
flachung der stark convex gewölbten Oberfläche des Meta-
tarsus besassen, und dass diese den gewöhnlichen Individuen
der Art im Kampf ums Dasein dadurch überlegen waren.
Wie leicht wäre es aber dem Gegner, diese Ueberlegenheit
anzuzweifeln. Er würde vielleicht bereit sein, zu glauben,
dass ein Insect, welches gar keine Mittel habe, seine Fühler
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zu reinigen, im Nachtheil sei gegenüber einem anderen,
welches solche Mittel besässe, aber er würde es für absurd
erklären, zu glauben, dass so geringfügige Verbesserungen
an dem Putzapparat, wie sie eine kleine Abflachung des
Tarsus darstelle, darüber entscheiden könne, wer untergehen
und wer überleben solle.
Dutzendweise sind ja auch thatsächlich solche Einwen-
dungen gegen die Existenz einer Naturzüchtung erhoben
worden, und nicht blos von Unwissenden und oberfläch-
lichen Denkern, sondern von sehr kenntniss- und gedanken-
reichen Männern der Wissenschaft ; ich erinnere nur wieder
an Nägeli. Wir können auch einen solchen Wider-
strebenden nicht zu unserer Meinung zwingen , wenigstens
nicht in dem einzelnen Fall, weil wir nicht nachweisen
können, was er bezweifelt; wir sind unfähig, direct zu be-
weisen, dass ein so kleiner Vortheil den Ausschlag über
Leben und Tod geben kann, und noch viel weniger, dass
er ihn in vielen Fällen geben muss und in jeder Gene-
ration immer wieder von neuem gibt, so dass schliesslich
die Variation mit einer seichten Abflachung des Tarsus die
herrschende wird. Alles, was wir thun können, ist, dass
wir die Nützlichkeit der vervollkommneten Einrichtungen
nachweisen, indem wir, wie Forel es gethan hat, einem
solchen Insect die Vordertibien sammt ihrem Putzapparat
abschneiden und dann feststellen, dass es sehr bald an
seinen Fühlern schmutzig wird und nicht mehr im Stande
ist, sich zu reinigen.
Damit aber, dass gegenüber dem Sporn eine kleine
Abplattung sich bildet, ist der Züchtungsprocess , den wir
fordern müssen, erst begonnen, aber noch lange nicht
zu Ende. Wie kommt es — so wird unser Gegner sagen —
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dass nun die allmälige Vertiefung der Abplattung so regel-
massig weiter schreitet, dass zuletzt ein ganz tiefes halbkugel-
förmiges Loch entsteht? Waren etwa nur solche Variationen
vortheilhaft und entschieden über Leben und Tod, welche ganz
regelmässige Fortschritte von der anfänglichen Abplattung bis
zur endlichen glatt herausgeschnittenen Halbkugelfläche dar-
stellten? Und wie kann man glauben, dass etwas weniger
regelmässige Vertiefungen, die doch neben den regelmässigen
vorkommen mussten, stets wieder zum Untergang ihrer
Träger führten?
Und schliesslich ist die Höhlung der Scharte auch noch
mit mikroskopischen Kammzähnchen besetzt, von denen
wohl auch jedes, wenn es durch zufällige Variation ent-
standen war, den Auschlag gab über Leben und Tod und
so befestigter Besitz der Art wurde?!
Auf den ersten Einwurf könnten wir etwa antworten,
dass diese Selectionsprocesse ungemein lange anhalten, und
deshalb die anfangs vielleicht noch unregelmässige Scharte
im Laufe ungezählter Generationen dadurch immer regel-
mässiger wurde, dass die Putzscharte ihrem Zweck um so
besser diente, je vollkommener sie sich der Gestalt des zu
reinigenden Fühlers anpasste. Wir würden uns darauf be-
ziehen dürfen, dass der Putzapparat in sehr verschiedenen
Graden der Ausbildung heute noch bei verschiedenen Arten
vorkommt, dass er überhaupt eine weite Verbreitung bei
den Insecten hat, somit also schon seit den frühesten Zeiten
des Insectenlebens auf unserer Erde in fortwährender lang-
samer Verbesserung begriffen war. Aber auch dies wird
vielleicht keinen Eindruck auf den Gegner machen, der
ruhig dabei bleibt, zu behaupten, dass so winzige Ver-
besserungen den Ausschlag über Leben und Tod nicht geben
Weismann. Allmacht der Naturaik-htung. 3
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könnten. Und dasselbe wiederholt sich in Bezug auf den
letzten Einwand, auf den man etwa antworten könnte, dass
die Kaminzähne, welche die Putzscharte auskleiden, nicht
einzeln, sondern alle auf einmal entstanden seien, zuerst
als geringe Rauhigkeit der Chitinfläche, dann als immer
stärker vorspringende und immer regelmässiger sich ge-
staltende Spitzchen.
Ganz so, wie in diesem Falle, steht es in jedem ein-
zelnen Falle von Naturzüchtung. Wir sind ausser Stande,
ihn zu erweisen, und brauchen, um ihn unerweisbar er-
scheinen zu lassen, noch gar nicht zu der von Spencer
in den Vordergrund gestellten coadaptation zu greifen.
Uebrigens glaube ich, dass es kaum irgendwelche Umwan-
delungen gibt, bei denen nicht meh rere Theile harmonisch
mit einander abändern müssen, damit eine nützliche Bildung
entstehe. Auch in dem Fall der Putzscharte verhält es
sich so, denn der Sporn der Tibia, welcher dem Ausschnitt
in dem Metatarsus gegenübersteht, bildet den anderen Arm
der Scheere, durch welche die Fühler zum Reinigen durch-
gezogen werden, und auch dieser ist durch freie Einlenkung
und durch eigentümliche Krümmungen an seine Function
genau angepasst. Es müssen also auch an ihm Selections-
processe gewirkt haben, denn auch hier ist Abänderung
durch die Function ausgeschlossen, da der Sporn nur
passiv functionirt. Gewiss haben wir die Erfolge der
künstlichen Züchtung für uns, aber wie HerbertSpencer
richtig einwirft, künstliche und natürliche Züchtung sind
wohl analoge Vorgänge, aber durchaus nicht die gleichen.
Die Rolle des auswählenden Züchters spielt bei der natür-
lichen Züchtung der Kampf ums Dasein, und grade die Wir-
kung dieses Factors können wir in keinem einzigen Falle
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genau beurtheilen. Wer wollte heute von irgend einer
kleinen Formabänderung an einer Art sagen, dass sie ihren
Besitzer befähige, im Kampf ums Dasein zu siegen und
so zum Ausgangspunkt einer vortheilhaften Umgestaltung
dieses Theils zu werden? Selbst in den allereinfachsten
Fällen ist dies nicht möglich; Niemand könnte z. B. auch
nur darüber entscheiden, wie stark die Variation der Farbe
eines grünen Insectes sein müsse, um als Ausgangspunkt
eines Selectionsprocesses etwa bei Anpassung an eine neue
und etwas anders gefärbte Futterpflanze zu dienen. Wir
haben kein Urtheil über das, was Romanes kürzlich sehr
gut den „Selectionswerth" einer Variation genannt hat 1 ),
was Lloyd -Morgan schon früher als Eliminations-Value
bezeichnet hatte ; wir können nur im Allgemeinen mit Dar-
w i n sagen, dass Selection durch Häufung „kleinster Varia-
tionen" arbeitet, und daraus schliessen, dass diese
„kleinsten Variationen" Selectionswerth be-
sitzen müssen. Die Höhe aber dieses Selectionswerthes
im einzelnen Fall genauer zu bestimmen , ist uns bis jetzt
nicht möglich gewesen.
W r enn man deshalb mit Herbert Spencer fragt:
Glauben Sie, dass ein geringes Plus von Feinfühligkeit der
•
1) Bei physiologischen Abänderungen scheint es etwas
anders zu sein, aber auch hier können Zahlenwerthe nicht
gegeben werden. Wenn z. B. einige Pflanzen einer südlichen
Art dem Winterfrost widerstehen, während die meisten ihm
erliegen, so ist damit der Selectionswerth dieser Variation er-
wiesen, aber hier kennen wir eben die Structurabänderung
selbst gar nicht, sondern nur ihren Effect und Nutzen für die
nach Norden vordringende Kolonie der Art. Ob die Art da-
durch schon befähigt wird, sich weiter nördlich auszubreiten,
ist damit natürlich auch noch nicht gesagt, sondern hängt von
vielen anderen Factoren zugleich ab.
3*
— 36 —
Zungenspitze jemals den Ausschlag darüber gegeben hat,
wer untergehen und wer überleben soll, so kann der Eine
mit demselben Recht darauf bejahend, wie der Andere ver-
neinend antworten. Der Eine findet es leicht vorzustellen,
der Andere schwer, und keines von beiden Urtheilen kann
die Entscheidung in der Sache geben.
So könnte man auch fragen : Glauben Sie , dass eine
leichte Schattirung ins Graue, wenn sie bei den Eiern eines
Vogels mit grauer Umgebung des Nestes auftritt, den Sieg
davon tragen wird über die ursprüngliche weisse Farbe?
Darauf würden wohl Viele heute mit „Ja", Einige aber
sicherlich auch mit „Nein" antworten, und meiner Meinung
nach würden Beide im Unrecht sein, denn woher sollten
wir den Selectionswerth dieser Variation kennen?
Fahren wir aber fort, zu fragen: Glauben Sie, dass
eine Raubfliegen Variation mit einer Facette mehr an den
Netzaugen, als die übrigen Artgenossen , daraus einen so
grossen Vortheil zieht, dass sie mehr Nachkommen hinter-
lassen wird, als ihre anderen Artgenossen ? Oder müssten
es zwei Facetten mehr sein, oder würde der Selections-
werth erst bei einer Differenz von zehn Facetten erreicht V
Wer kann behaupten, dass er darüber etwas sagen könnte ?
Und dennoch haben wir keine andere Erklärung für die
aulfallende genaue Anpassung der Netzaugen bei allen In-
secten an ihre Lebensbedingungen, als Naturzüchtung.
So könnte man ins Unendliche weiter fragen, ohne
jemals eine sichere Antwort zu bekommen. Noch eine
Frage sei mir gestattet, die uns wieder zu unserem Thema,
den Ameisen, zurückführen wird: Glauben Sie, dass die
feinen Bürstchen an den verbreiterten Metatarsen der Honig-
biene dadurch entstanden sind, dass kleine Variationen der
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Hintertarsen der Weibchen nach dieser Richtung von so
starkem Vortheil waren für die Erhaltung des Bienenstockes,
dass er anderen Stöcken gegenüber der überlebende wurde ?
Die Antwort Vieler wird lauten, dass dies nicht nur schwer
vorzustellen sei, sondern dass man es überhaupt nicht
glauben könne, denn die Arbeiterin selbst habe ja keinen
Vortheil davon, sie lebe deshalb nicht länger oder besser,
sie sei dadurch nur befähigt, etwas mehr Pollen auf ein
Mal in den Stock zu tragen und die Bienenlarven also etwas
reichlicher oder rascher zu ernähren ; das könne aber unmöglich
von entscheidender Bedeutung für den Untergang oder das
Ueberleben dieser Bienenfamilie in der Concurrenz mit an-
deren Familien sein. Bedenke man vollends, dass die Arbeite-
rinnen steril seien, und dass somit nicht sie selbst, sondern
ihre Eltern, die Geschlechtsthiere, der Selection unterworfen
werden müssten, je nachdem sie bessere oder schlechtere
Arbeiterinnen hervorbrächten , so sei es vollends ganz un-
denkbar, dass so winzige Variationen, wie eine kleine Ver-
breiterung der Metatarsen oder eine dichtere Beborstung
derselben, jemals den Ausschlag über Untergang oder Fort-
dauer der Eltern gegeben haben könnten.
Ich bin natürlich nicht dieser Ansicht, sondern glaube,
dass es sich hier, wie bei den Ameisen verhält, und dass
in der That jede kleine Verbesserung an den Arbeiterinnen
aus einer Variation einer Determinante des Keimplasmas
hervorgeht, welches in den Keimzellen der Eltern enthalten
war. Zu näherer Erläuterung möchte ich mich, in Ermange-
lung einer besseren , auf meine Vererbungstheorie stützen
dürfen. Nach dieser *) ist der Di- oder Polymorphismus
1) „Das Keimplasma, eine Theorie der Vererbung", Jena
1882, p. 460.
- 38 -
einer Art im Keiinplasma derart enthalten, dass gewisse
Determinanten doppelt oder mehrfach vorhanden sind, und
dass es von gewissen, uns meist noch unbekannten Be-
dingungen abhängt, welche von den stellvertretenden Deter-
minanten oder Determinantengruppen activ wird und welche
passiv bleibt. Unter „Determinanten" verstehe ich Ein-
heiten des Keimplasmas , welche die Anlage bestimmter
Zellen oder Zellengruppen des Körpers sind. Wenn nun
der entsprechende Körpertheil bei einer Art in zweifacher
Gestalt auftritt, wenn z. B. bei den Weibchen einer
Schmetterlingsart die Schuppen einer bestimmten Stelle des
Flügels braun , bei den Männchen aber blau sind , so ist
dies nach meiner Vorstellung im Keimplasma dadurch vor-
gesehen, dass die Determinanten jener Flügelschuppen
doppelt vorhanden sind, die einen stellen die Anlage brauner
Schuppen, die anderen die Anlage blauer Schuppen vor.
Beide zugleich können nicht in demselben Individuum activ
werden, d. h. können nicht zur Bildung von Schuppen
führen, sondern die eine bleibt inactiv, während die andere
zur Activität bestimmt wird.
Wenn der Dimorphismus zum Polymorphismus wird,
und z. B. die Weibchen einer Art selbst wieder doppel-
gestaltig werden, so kommt dies nach meiner Vorstellung
dadurch zu Stande, dass jene Doppeldeterminanten zu drei-
fachen sich vermehren. Gäbe es Schmetterlinge mit Ar-
beiterinnen und hätten diese rothe Färbung an jener Stelle
des Hügels, welche bei den Männchen blau, bei den Weib-
chen braun ist, so würden an einer bestimmten Stelle des
überaus kunstvollen und höchst verwickelten Gebäudes des
Keimplasmas immer je drei vicariirende Determinanten
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liegen, von denen bei der Entwickelung des betreffenden
Eies oder der betreffenden Samenzelle immer nur eine
activ würde und somit jene Stelle des Flügels entweder
mit braunen, blauen oder rothen Schuppen bedeckte.
Uebertragen wir nun diese theoretische Vorstellung auf
die Bienen oder Ameisen, so wird ein jeder Theil des Ameisen-
körpers, der bei Männchen, Weibchen und Arbeiterin ver-
schieden gebaut ist, durch dreifache vicariirende Determi-
nanten im Keimplasma vertreten sein, von denen immer
nur eine bei der Entwickelung eines Eies zur Geltung,
d. h. zur Ausbildung des betreffenden Körpertheils gelangt,
die anderen aber inactiv bleiben.
Die Umbildung der Körpertheile der Arbeiterinnen bei
Ameisen und Bienen wird also so zu denken sein, dass ein
Geschlechtsthier (Weibchen oder Männchen), dessen Keim-
plasma günstige Variationen der Arbeiterinnen-Determi-
nanten enthält, bessere Aussicht für die Erhaltung ihrer
Nachkommenschaft hat, als andere, die nur weniger günstige
Variationen solcher Determinanten darbieten. Der Selec-
tionsprocess selbst ist der gleiche, wie wenn es sich um
die Erzielung günstiger Einrichtungen am Körper des Ge-
schlechtsthieres selbst handeln würde, denn in beiden Fällen
ist es — wie ich früher einmal sagte — nicht eigentlich
der Körper des Thieres, der selectirt wird, sondern das
Keimplasma, aus welchem dieser Körper sich entwickelt.
Der Unterschied zwischen beiden Fällen liegt nur darin,
dass die Ueberlegenheit im Kampf ums Dasein in dem einen
Fall durch Charaktere oder Variationen des eignen Körpers
gesetzt wird, im anderen Falle erst durch Charaktere einer
bestimmten Art von Nachkommen, der Arbeiterinnen. Be-
- 40 -
stände der Ameisenstaat aus zusammenhängenden Individuen,
ähnlich einem Polypenstock oder einer Siphonophoren-
Kolonie, so würde ein Selectionsprocess, durch welchen nur
die Arbeiterinnen abgeändert werden, unserer Vorstellung
leichter zugänglich sein, indem diese dann, physiologisch
betrachtet, nur Organe des Stockes wären, so wie die
Fangfäden, die Schwimmglocken, die Magenschläuche der
Siphonophoren. Wie diese sich nicht fortpflanzen und somit
nur durch Selection des Eies oder Keimplasmas, aus welchem
der ganze Stock abstammt, abändern können, so können auch
beim Ameisenstock oder vielmehr „Staat" die unfruchtbaren
Individuen oder Organe des Stockes nur durch Selection
des Keimplasmas abgeändert werden, aus dem der ganze
Stock hervorgegangen ist In Bezug auf Selection verhält
sich der ganze Stock wie ein einziges Individuum ; der Stock
wird selectirt, nicht die einzelnen Individuen, und seine
Individuen-Arten verhalten sich dabei ganz wie die Theile
eines einzelnen Individuums bei der gewöhnlichen Selection.
Unter diesem Gesichtspunkt wird auch ein Umstand
verständlich, der sonst ganz widersinnig erscheinen müsste,
nämlich die Beschränkung der fruchtbaren
Weibchen eines Stockes auf eine einzige, wie
dies bei der Honigbiene eingetreten ist. Wären in einem
Stock zu gleicher Zeit viele Weibchen mit Eierlegen be-
schäftigt, so würde eine Naturauslese derselben nach der
Güte der von ihnen hervorgebrachten Arbeiterbrut viel
schwieriger und langsamer stattfinden , weil dann das Ge-
deihen des Stockes von vielen verschieden beanlagten
Arbeiterinnen abhinge, so dass also gewissermaassen nur
die Resultirende aus den Producten aller dieser Weibchen
selectirt würde. Eine Königin würde deshalb, weil sie
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— 41 —
schlechtere Arbeiterinnen hervorbringt, durchaus noch nicht
zum Aussterben veranlasst werden, denn ihr Stock würde
zugleich durch andere Königinnen mit Arbeiterbrut ver-
sehen, und wenn unter diesen die Mehrzahl bessere Arbeite-
rinnen hervorbrächte, so würde der Stock sich im Kampf
ums Dasein mit anderen Stöcken noch lange halten können,
so lange, bis die schlechtere Arbeiterbrut einmal das ent-
schiedene Uebergewicht in dem Stock bekäme. Offenbar
müssen die Arbeiterinnen rascher verbessert werden, wenn
sie in einem Stock alle von einer Königin herstammen,
d. h. wenn sie alle gleich oder doch nahezu gleich sind.
Nun überlebte der Stock im Kampf ums Dasein, wenn diese
eine Königin bessere Arbeiterinnen hervorbrachte, wenn
dadurch rascher und besser die Brut versorgt wurde, wenn
mehr Vorräthe für den Winter gesammelt wurden, und in
Folge dessen eine geringere Sterblichkeit im Stock herrschte.
Ich möchte deshalb vermuthen, dass die merkwürdige Be-
schränkung der fruchtbaren Weibchen auf wenige (Termiten)
oder gar nur auf eine (Bienen) darin ihren Grund hat, dass
dadurch die allmälige Verbesserung der Geschlechtslosen
durch Naturzüchtung einigermaassen leichter und schneller
erfolgen konnte; oder besser: darin, dass die Stöcke mit
wenig Königinnen im Vortheil waren, weil sie sich relativ
rascher verbessern konnten. Mir scheint, dass sich die
Selection der Arbeiter unter diesen Umständen „leichter
vorstellen" lässt, wenn freilich auch nur im Princip
und nicht im Einzelnen. Sobald man den Selectionsprocess,
durch weichen etwa das Bürstchen oder das Körbchen der
Arbeiterinnen der Bienen entstanden ist, im Einzelnen aus-
denken will, erkennt man. dass dazu noch alle und jede
Einzeldata fehlen.
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Es ist auch meiner Ansicht nach nicht zu hoffen,
dass wir diese jemals gewinnen werden , weder hier noch
auch in irgend einem viel einfacheren Process der Natur-
züchtung. Dazu würde nämlich nicht nur eine Werth-
schätzung der kleinsten Variationen gehören in Bezug darauf,
ob und wie oft unter 1000, 100000 oder Millionen Indi-
viduen eine Variation den Ausschlag über Leben und Tod
gibt, sondern auch noch vieles Andere, was wir niemals fest-
stellen können, z. B. die Zahl der gleichzeitig lebenden
Individuen der Art, der Grad ihrer Vermischung unter-
einander auf ihrem Wohngebiet und das procentuale Vor-
kommen der fraglichen Variation. Alles das ist nach meiner
Ueberzeugung nicht in Erfahrung zu bringen, und so werden
wir auch durch Erfahrung niemals den Vorgang der Natur-
züchtung feststellen können.
Was ist es denn aber, was uns diesen Vorgang dennoch
mit so grosser Sicherheit als wirklich annehmen, und ihm
eine so ausserordentlich hohe Bedeutung zuschreiben lässt?
Nichts Anderes als die Macht der Logik ; wir müssen Natur-
züchtung als das Erklärungsprincip der Umwandlungen an-
nehmen, weil uns alle anderen scheinbaren Erklärungs-
principien im Stich lassen, und weil es nicht denkbar ist,
dass es noch ein anderes Princip geben könne, welches die
Zweckmässigkeiten der Organismen erklärt, ohne ein
z we ck thätiges Princip zu Hülfe zu nehmen. Es
ist mit anderen Worten die einzig denkbare natür-
liche Erklärung der Organismen, als Anpass-
ungen an die Bedingungen aufgefasst.
Gewiss konnte man a priori nicht vorauswissen, ob
nicht noch andere Factoren bei der Umwandlung der Arten
eine wichtige Rolle spielen, und ich selbst war vor 25 Jahren
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noch der Ansicht, dass ausser der primären Variation und
deren Häufung und Ordnung durch Naturzüchtung auch
noch die vererbten Wirkungen von Gebrauch und Nicht-
gebrauch eine nicht unerhebliche Rolle spielten. Es sieht
ja auch ganz so aus, als ob es so wäre, wie die Spencer-
schen Beispiele von der dem Gebrauch parallel gehenden
harmonischen Umgestaltung vieler und verschiedenartiger
zusammenwirkender Theile sehr gut anschaulich machen.
Aber sieht es nicht auch ganz so aus, als ob nichtgebrauchte
Theile direct durch den Nichtgebrauch verkümmerten, und
doch ist dem nicht so, wie ich früher schon erwiesen zu
haben glaube und jetzt von neuem mit Thatsachen belegte ?
Wenn sich die Augen der Arbeiterinnen bei vielen Ameisen
zurückbilden, obgleich diese Thiere sich nicht fortpflanzen,
und obgleich ihre Augen kaum weniger vom Licht getroffen
werden, als diejenigen der Geschlechtsthiere , von welchen
sie erzeugt werden, so kann das ganz unmöglich auf
der Vererbung von Nichtgebrauch beruhen. Und wenn
harmonische Umgestaltung des Kopfes mit allen seinen und
des Thorax zusammenwirkenden Theilen bei den sterilen
Arbeiterinnen gewisser Ameisen-Arten eingetreten ist, so
in uss dies geschehen sein ohne jede Mitwirkung einer hypo-
thetischen Vererbung functioneller Abänderung. Gegen
diese Schlussfolgerung hilft nichts mehr, keine Ausflucht
ist mehr möglich, sobald die Thatsachen feststehen.
Sind nun diese Thatsachen unangreifbar?
Das ist die Frage, die jetzt genau geprüft werden muss.
Die Anhänger des Lamarck' sehen Princips könnten
geltend machen, dass die Unfruchtbarkeit der Arbeiterinnen
bei den Ameisen keine absolute sei, dass Eiablage in seltene-
ren Fällen constatirt sei, dass zwar aus diesen Eiern, die
— 44 —
natürlich unbefruchtet bleiben , zwar stets nur Männchen
hervorgehen, dass dies aber genüge, um die Eigenschaften
der mütterlichen Arbeiterin fortzupflanzen. Darauf wäre
Folgendes zu erwidern: Es ist richtig, dass bei mehreren
Arten die Arbeiterinnen zuweilen Eier legen (Forel,
L u b b o c k , Wasmann), vor allem in Gefangenschaft
unter künstlich hergestellten Verhältnissen, besonders bei
hoher Temperatur, aber es geschieht dies, soweit bekannt
ist, nur ausnahmsweise. Wenn nun auch ein kleiner Procent-
satz der Männchen solchen Eiern entstammte, so würde
dadurch doch niemals eine Verbreitung der Arbeitereigen-
schaften im ganzen Stock stattfinden können, weil die wenigen
Männchen, welche von Arbeiterinnen abstammen, einer viel
grösseren Zahl von Männchen gegenüberständen, welche
von Königinnen stammen. Wenn freilich sämmtliche Männ-
chen der Kolonie aus Eiern von Arbeiterinnen hervorgingen,
und die Königinnen nur weibliche Nachkommen hervor-
brächten, dann wäre der Einwurf berechtigt, dann könnten
die Ameisen nicht mehr als ein Beispiel für die Umge-
staltung der Lebensformen unter Ausschluss einer Vererbung
functioneller Abänderung geltend gemacht werden, aber, so-
viel wir wissen, verhält sich die Sache nicht so. Allerdings
ist mir keine Beobachtung bekannt, welche direct erwiese,
dass die Königinnen Männchen und Weibchen hervorbringen,
wie dies für die Bienen längst feststeht, aber noch viel
weniger ist das Umgekehrte erwiesen, dass nämlich die
Königinnen keine Männchen hervorbringen. Wenn man
nun noch hinzunimmt, dass ja auch bei den Bienen die
Arbeiterinnen unter Umständen Eier legen, aus denen wie
bei den Ameisen immer nur Männchen kommen, und weiter
erwägt, dass der Zustand der Rückbildung, in welchem sich
der Eierstock befindet, bei den verschiedenen Arten ver-
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— 45 —
schieden weit vorgeschritten ist, bei Solenopsis fugax aber
bis zum Verschwinden sämmtlicher Eiröhren,
also bis zu vollkommner Unfruchtbarkeit, so
wird man es für äusserst unwahrscheinlich halten müssen,
dass auch nur bei irgend einer Art die Hervorbringung der
Männchen ausschliesslich den Arbeiterinnen übertragen sein
sollte. Man wird vielmehr sich die Sache so vorzustellen
haben , dass bei der Phylogenese der Arbeiterinnen zuerst
die Fruchtbarkeit sich minderte und zugleich das Recepta-
culum schwand, so dass nur noch unbefruchtete Eier hervor-
gebracht werden konnten, dass aber dann auch diese Fort-
pflanzung seltener und seltener wurde, Hand in Hand mit
der immer mehr abnehmenden Zahl der Eiröhren, bis zu-
letzt mit dem Schwund der letzten Eiröhre bei Solenopsis
fugax auch jeder Grad von Fortpflanzung in Wegfall kam.
Dieses stimmt auch ganz mit den Ansichten unserer besten
Ameisenforscher, wie dennForel schon in seinem grossen
Werk über die Ameisen der Schweiz eben grade die Un-
fruchtbarkeit der Arbeiterinnen für einen wesent-
lichen Charakter derselben erklärte, durch den sie erst ge-
schickter wurden für die vielen, ihnen heute obliegenden
Arbeiten, als die fruchtbaren, mit zahlreichen Eiern be-
lasteten Königinnen.
Wenn aber für die Lamarckianer noch irgend eine Hoff-
nung ist, das erdrückende Gewicht der Ameisen-Thatsachen
von sich abzuwälzen, so ist hier der Punkt, wo sie ein-
setzen müssten, und deshalb möchte ich noch einem Ein-
wurf im voraus begegnen. Forel hat öfters beobachtet,
dass alte Ameisenstöcke nur noch Männchen enthielten,
und man könnte versuchen, dies dahin zu deuten, dass hier
nur Arbeiterinnen noch im Stocke gewesen seien und dass
Digitized by Google
- 46 —
diese eben die Männchen hervorbringen. Die Thatsaehe
ist aber einer viel natürlicheren Deutung fähig, sobald man
sich erinnert, dass es ja auch bei den Bienen Stöcke gibt,
in welchen keine Arbeiterinnen oder Königinnen mehr aus
den Eiern entstehen, sondern nur noch Männchen (Drohnen).
Hier wissen wir, dass diese Männchen von einer sog.
„drohnenbrütigen" Königin hervorgebracht wurden, d. h.
von einer alten Königin, deren Samenvorrath erschöpft war,
und die deshalb die Eier, welche sie legte, nicht mehr be-
fruchten konnte. Bei den Ameisen wird es genau ebenso
sein; wissen wir doch durch Lubbock, dass Ameisen-
Königinnen bis zu 15 Jahren alt werden, Zeit genug, ihren
Vorrath an Samen zu erschöpfen.
Man könnte nun etwa versuchen anzunehmen, dass die
Arbeiterinnen im Laufe der Phylogenese ihre Fruchtbarkeit
erst ganz zuletzt eingebüsst hätten, nachdem sie bereits
ihre übrigen Umwandlungen eingegangen hatten. Allein
diese Annahme ist nicht stichhaltig, weil der Körperbau
und die Thätigkeit der Arbeiterinnen mit ihrer Unfrucht-
barkeit in genauem Zusammenhang steht. Forel hält ent-
schieden die Entstehung der Unfruchtbarkeit für das zeit-
lich Primäre bei der Arbeiter-Entstehung ; nach seiner Ansicht
wurden zuerst die Arbeitskräfte eines Ameisenstaates da-
durch verbessert, dass bei einer grossen Zahl der Weibchen
die Eiproduction in Wegfall kam , während zugleich Kraft,
Intelligenz, Arbeitstrieb mehr und mehr sich steigerten,
und die überflüssig gewordenen Theile nach und nach
schwanden: die Flügel, da die Thiere einen Hochzeitsflug
nicht mehr unternahmen, die Ocellen und ein Theil der
Facettenaugen aus demselben Anlass.
Man könnte aber das Gewicht dieser Gründe bestreiten
Digitized by Googk?
und trotzdem annehmen, die Unfruchtbarkeit sei erst nacli
den übrigen Abänderungen eingetreten. Dann würde doch
mindestens die eine Frage für die Anhänger Lama rck's
unlösbar bleiben: wie ist die Unfruchtbarkeit
selbst als erbliche Einrichtung entstanden?
Gewiss nicht durch Vererbung functioneller Abänderung,
denn diese Abänderung, die Unfruchtbarkeit, schliesst hier
die Vererbung an und für sich schon aus.
Uebrigens gibt es noch einen anderen Weg, um zu
zeigen, dass auch nach Entstehung steriler Arbeiterinnen
noch immer Abänderungen möglich waren, und zwar auch
solche vieler harmonisch zusammengestimmter Theile gleich-
zeitig. Dieser liegt darin, dass es manche Arten mit
zweierlei Arbeiterinnen gibt, von denen die eine
erst durch allmälige Umwandlung aus der anderen hervor-
gegangen sein muss. Ich habe schon oben der Soldaten
von Pheidole megacephala und von Colobopsis truncata
erwähnt, deren colossale Kiefer und Köpfe aus den ent-
sprechenden Theilen der Arbeiterinnen nur durch harmo-
nische Umwandlung vieler verschiedenartiger Theile ent-
stehen konnten.
Aber man wird zweifeln, ob überhaupt diese „Soldaten"
durch allmälige Umwandlung von Arbeiterinnen entstanden
sind, man wird vielleicht sagen, sie könnten ja auch direct
aus fruchtbaren Weibchen hervorgegangen sein und ihre
Fruchtbarkeit erst verloren haben, als ihre sonstige Um-
wandlung schon vollendet war. Allein dem steht die That-
sache entgegen, dass die Entstehung von zweierlei Arbeiter-
formen uns heute noch in vielen ihrer Etappen erhalten
geblieben ist, und dass wir daraus ihre Entstehungsgeschichte
erschliessen können. Viele Arten zeigen kleine Unterschiede
— 48 —
der Körpergrösse bei den Arbeiterinnen, bei anderen sind
diese Unterschiede bedeutend gesteigert, aber die grossen
Arbeiterinnen sind durch viele Uebergänge noch mit den
kleinen verbunden. Dann gibt es ^rten, bei welchen diese
Verbindungsglieder weggefallen sind, und diese leiten end-
lich zu denen hinüber, in welchen mit der Körpergrösse
zugleich weitere Form- und Instincts-Abänderungen ver-
bunden sind. Die „Soldaten" sind also nicht unabhängig
von den Arbeitern und gleichzeitig mit ihnen entstanden,
sondern haben sich im Anschluss an die schon vorhandenen
Arbeiter durch weitere Differenzirung nach dem Princip
der Arbeitstheilung später gebildet, also zu einer Zeit,
in welcher längst der heute noch vorhandene
scharfe Unterschied zwischen Weibchen und
Arbeiterinnen vorhanden, und die regelmässige
Fortpflanzung der letzteren längst aufgegeben
w a r.
Wer aber immer noch daran zweifeln sollte, dass alle
die verschiedenen Umgestaltungen der Weibchen zu Arbeite-
rinnen unabhängig von directer Vererbung, und deshalb
auch von dem Lamarck'schen Princip entstanden sind,
den verweise ich auf das Studium gewisser Instincte der
Ameisen und deren Folgen für die Organisation der Arbeiter.
Durch die Gewohnheit oder vielmehr den Instinct „Sklaven"
zu machen und zu halten, sind an den Herren selbst höchst
merkwürdige Veränderungen eingetreten, und diese können
alle nur durch Naturzüchtung erklärt werden, da der Trieb
Sklaven zu halten erst entstanden sein kann, als bereits
Arbeiter vorhanden waren. Die meisten Ameisen - Arten
machen überhaupt keine Sklaven, aber es gibt Arten, welche
es manchmal thun, manchmal auch nicht; so die viel be-
Digitized by Google
sprochene *) und sehr genau in vielen Ländern beobachtete
Formica sanguinea. Bei dieser gehen die Arbeiterinnen oft
auf Raub aus, brechen in die Kolonien anderer Arten (z. B.
Formica fusca) ein und schleppen deren Puppen in ihr eignes
Nest; aber dieser Instinct ist bei ihnen noch nicht festes
Besitzthum der Art geworden, denn man findet auch Kolo-
nien ohne Sklaven. Dementsprechend zeigt auch Formica
sanguinea noch keine Abänderungen in Bau und Trieben,
wie sie bei Polyergus rufescens eingetreten sind, bei welcher
alle Kolonien Sklaven enthalten, somit der Sklavenhaltungs-
trieb ein fester Artcharakter geworden ist.
Diese beiden Arten , Formica sanguinea und Polyergus
rufescens, repräsentiren uns also zwei Stadien in der Ent-
wickelung des Sklavenhaltungstriebs. Zwischen diesen beiden
Stadien nun muss der Ursprung der Veränderungen liegen,
welche bei Polyergus durch das Sklavenhalten entstanden
sind, ich meine: die Umwandlung der Kiefer aus
Arbeitswerkzeugen in tödtliche Waffen und
geschickte Transportwerkzeuge, und die Ver-
kümmerung der gewöhnlichen Instincte der
Arbeiter. Alle diese Abänderungen müssen
also unwiderleglich ohne jede Mitwirkung von
Vererbung functioneller Veränderungen er-
folgt sein. Die Kiefer von Polyergus rufescens haben
den sog. „Kaurand" verloren. Ameisen kauen zwar nicht
im eigentlichen Sinne des Wortes, sondern sie lecken, aber
1) Vergleiche: Forel a. a. 0. u. W asm an n, „Die zu-
sammengesetzten Nester u. gemischten Kolonien der Ameisen,
ein Beitrag zur Biologie, Physiologie und Entwickelungs-
geschichte der Ameisengesellschaften", Münster i. W. 1891.
W e i s m a n n , Allmacht der Naturzüchtung. 4
■
— 50 -
sie bedienen sich häutig doch auch der Kiefer, um ihre
Nahrung in Stücke zu reissen ; hauptsächlich aber gebrauchen
sie ihre Kiefer zu allen möglichen häuslichen Verrichtungen,
zum Hin- und Hertransportiren der Eier, Larven und
Puppen, zum Herbeischleppen des Baumaterials, zum Auf-
bauen der Gänge, Zellen und Höhlen des Nestes und zum
Miniren in Erde oder Holz u. s. w. Bei Polyergus haben
nun die Arbeiterinnen alle diese häuslichen Triebe verlernt,
sie kümmern sich nicht mehr um ihre Brut und überlassen
die Sorge dafür vollständig ihren Sklaven, sie schleppen
weder Nahrung herbei, noch Material zum Nestbau, indem
auch dies ihre Sklaven schon ausreichend besorgen, und
thun nichts, als kämpfen und Puppen anderer Arten rauben
und in ihr Nest schleppen. Dementsprechend sind ihre
Kiefer zu säbelförmigen, spitzen und starken Zangen umge-
wandelt worden, die zugleich eine mörderische Waffe sind,
wenn sie damit ihrem Feind den Kopf durchbohren, wie es
ihre Gewohnheit ist, und zugleich ein ungemein geschicktes
Werkzeug zum Transport der geraubten Puppen, weil die
beiden Kieferzangen den Puppenkörper umfassen können,
ohne ihn zu verletzen. Diese genaue Anpassung der Kiefer
an den Puppenraub kann also nur durch Selectionsprocesse
erklärt werden, welchen das Keimplasma der Eltern der
Arbeiterinnen unterworfen wurde, und ebenso die starke
Entwickelung des Kampftriebes, des Mutlies und des Triebes,
fremde Puppen zu rauben und ins Nest zu schleppen. Hier
also haben wir positive Selection.
Negative Selection oder P a n m i x i e aber haben wir
in der Verkümmerung der gewöhnlichen Triebe der Ar-
beiterinnen : Sorge für die Brut, den Nestbau, die Nahrungs-
vorräthe und d i e höchst ungewöhnliche und höchst
Digitized by Google
— 51 -
lehrreiche Verkümmerung des Triebes der
Nahrungssuche.
Herbert Spencer richtet in seinem Aufsatz seine
Angriffe auch gegen Panmixie und sucht zu beweisen,
dass ich unter diesem Namen die Selection des minder
Schädlichen verstehe, und dass damit nichts zu erklären sei.
Er bezieht sich auf mein Beispiel der blinden Höhlenthiere,
z. B. des Proteus, und meint, es sei nicht möglich, dass das
Princip der Sparsamkeit (economy of growth) hier den Aus-
schlag über Leben und Tod gegeben haben könne, da die
Unterschiede der individuellen Variation in Bezug auf die
Grösse des Auges viel zu minimal seien. Er mag darin
Recht haben, allein Panmixie ist auch nach meiner Dar-
*
Stellung etwas ganz Anderes, als das Ueberleben des min-
dest Unpassenden, es ist das Herabsinken eines überflüssigen
Organs von der Höhe seiner Ausbildung durch den
Nichtuntergang derjenigen Individuen, welche
es in weniger vollkommener Ausführung be-
sitzen. Nach meiner Ansicht wird jedes Organ nur durch
unausgesetzte Selection auf der Höhe seiner Ausbildung
gehalten und sinkt unaufhaltsam, wenn auch überaus lang-
sam von dieser Höhe herab, sobald es keinen Werth mehr
für die Erhaltung der Art besitzt. Das ist es, was ich als
Panmixie bezeichnet habe, wie Romanes sehr richtig
kürzlich gegen Spencer ausgeführt hat l ). Das Princip
der Sparsamkeit habe ich nur als eine mögliche Nebenhülfe
des Verkümmerns angeführt, Es heisst auf p. 568 der
Aufsätze grade in Bezug auf den Proteus: „Mög-
1) „The Spencer-Weismann Controversy" in The
Contemporary Review, Nr. 331, July 1893.
4*
Digitized by Google
- 52 -
lieh er weise hilft dabei noch der Umstand mit, dass kleinere
und verkümmerte Augen jetzt" — nachdem der Rückschritt
des Organs einmal in Gang ist — „sogar ein Vortheil sein
können, insofern dadurch andere, für das Thier jetzt wich-
tigere Organe, wie die Spur- und Geruchsorgane, sich um
so kräftiger entwickeln können. Aber auch ohne dies
wird das Auge, sobald es nicht mehr durch Naturzüchtung
auf der Höhe seiner Organisation erhalten wird, nothwendig
von ihr herabsinken müssen, langsam, sehr langsam sogar,
besonders im Beginn des Processes, aber unaufhalt-
s a m. u „Auf diese Weise erklären sich in einfacher Weise
a 1 1 e Fälle von Rückbildung, mögen sie Organe oder Arten
betreffen, welche sie wollen."
Wie weit etwa das Princip der Sparsamkeit bei manchen
der Verkümmerungsvorgänge mit eingreift, lässt sich schwer
und natürlich immer nur für den einzelnen Fall bestimmen ;
dass aber meine damalige Meinung richtig war, nach welcher
Panmixie allein ausreicht, um einen Charakter zu
völligem Schwund zu bringen, das beweist unter Anderem
auch die eben erwähnte Verkümmerung des Triebes zur
Nahrungssuche bei der kriegerischen Amazonen - Ameise
Poljergus rufescens. Diese Ameise, und zwar nicht nur Weib-
chen und Männchen, sondern grade auch die Arbeiterinnen
haben es gänzlich verlernt, ihre Nahrung zu erkennen ; F o r el,
L u b b o c k und W a s m a n n haben sich alle überzeugt, dass
die älteren Angaben Huber's darüber vollkommen richtig
sind, und auch ich selbst habe seine und F o r e 1 's Versuche
mit demselben Erfolg wiederholt. Eingesperrte Thiere ver-
hungern, wenn sie keinen ihrer Sklaven bei sich haben,
der sie füttert ; sie erkennen den Honigtropfen nicht als
etwas, was ihren Hunger stillen könnte und wenn Was-
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mann ihnen die Kiefer in eine todte Puppe hineinsteckte,
so fingen sie nicht an zu fressen , leckten höchstens ver-
suchsweise daran und entfernten sich dann wieder. Sobald
man ihnen aber einen Sklaven, also eine Arbeiterin z. B.
von Formica fusca beigibt, so kommen sie zu dieser und
betteln sie um Nahrung an , und die Sklavin läuft zum
Honigtropfen, füllt ihren Kropf mit Honig und füttert dann
die Herrin.
Nicht der Nahrungstrieb ist also hier verloren gegangen,
wie man oft gesagt hat, sondern vielmehr die Fähigkeit,
die Nahrung als solche zu suchen und zu erkennen. Ge-
nauer ausgedrückt : der Trieb der Nahrungsaufnahme wird
hier nicht durch den Gesichtseindruck der Nahrung
selbst, sondern durch den der Sklavin ausgelöst. Es
sieht so aus, als ob diese Amazonen durch die Anwesen-
heit der zum Füttern stets bereiten Sklavinnen die Ge-
wohnheit der Nahrungssuche nach und nach eingebüsst
hätten, indem sie sich gewöhnten, die Sklavin als Nahrungs-
spenderin zu betrachten, scheinbar ein vortreffliches Bei-
spiel für die directe Wirkung des Nichtgebrauchs und für
die Vererbung functioneller Verkümmerung — wenn nur
diese Amazonen nicht steril wären!
Die einzig mögliche Erklärung ist die durch Panmixie ;
da keine Amazone Noth litt bei der steten Anwesenheit
fütternder Sklavinnen, so konnte die Vollkommenheit des
Instinctes der Nahrungssuche nicht mehr dabei mit ent-
scheiden, wer überleben und wer untergehen sollte; Indi-
viduen mit schlechter entwickeltem Nahrungssuchtrieb waren
ceteris paribus ebenso gut als andere, und Kolonien mit
solchen blieben deshalb ebensowohl erhalten als andere.
So musste langsam dieser Trieb von seiner ursprünglichen
- 54
Vollkommenheit einbüssen und ist nach gewiss ungeheuer
langen Generationsfolgen schliesslich ganz geschwunden.
Ich gebe vollkommen zu, dass sich das sehr „schwer vor-
stellen" lässt, aber es muss so gewesen sein, da jede andere
Erklärung durch die Unfruchtbarkeit der Amazonen aus-
geschlossen ist.
Wir kennen nun die materielle Grundlage eines Triebes
nicht im Einzelnen, wir wissen nicht, wie viele Zellen oder
Fasern des Gehirns der Sitz dieses Triebes sind, aber sei
dem, wie ihm wolle, jedenfalls ist das, was hier von mate-
rieller Substanz durch den Schwund dieses Triebs etwa in
Wegfall gekommen ist, so minimal in Bezug auf Masse,
dass man wohl kaum daran denken kann, das Princip der
Sparsamkeit sei hier nebenbei noch mit im Spiel gewesen.
Wir hätten also hier einen Fall von völligem Schwund
eines Charakters, für dessen Erklärung wir
gänzlich auf das Princip der Panmixie ange-
wiesen sind.
Es ist hier nicht der Ort, auf dieses Erklärungsprincip
im Genaueren einzugehen; dasselbe ist nichts Anderes als
eine Consequenz aus der allgemeinen Annahme des Selec-
tionsprineips, als bewirkendem Factor sämmtlicher An-
passungen. Sobald man zugibt, dass die Zweckmässigkeit
eines Theils stets durch Selection bewirkt worden ist, dann
muss sie auch durch Selection erhalten werden, und zwar
vermöge des einen Hauptfactors der Selection : der Variation.
Denn wenn auch ein nützlicher Charakter um so constanter
werden muss, je längere Zeit hindurch er schon durch stete
Wiederholung der Selection befestigt wurde, so zeigt doch
die Beobachtung, dass eine völlige Constanz bei keinem
noch so alten Charakter erreicht worden ist, dass überall
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kleine Schwankungen vorkommen. Sobald also dann Se-
lection aufhört auf den Charakter einzuwirken, muss das
langsame Herabsinken desselben von der vorher erreichten
Organisationshöhe beginnen.
Diese Consequenz aus der Selection ist auch nicht zum
ersten Male von mir gezogen worden, sondern, wie man
vor einiger Zeit erfahren hat, zehn Jahre vorher schon von
Rom an es 1 ). Wenn es diesem scharfsinnigen Forscher
nicht gelang, diese richtige Folgerung in der Wissenschaft
zur Geltung zu bringen, so lag dies daran, dass er nicht
mit der Vererbung erworbener Eigenschaften vollständig
brach, wie er denn auch heute noch daran festhält und
grade in Bezug auf harmonische Umgestaltung zusammen-
wirkender Theile (coadaptation) das Princip der Vererbung
functioneller Abänderungen mit Spencer nicht entbehren
zu können glaubt ; erklärt er mich doch heute noch für einen
„Ultra-Darwinian". Roman es nun machte in jenem Auf-
satz von 1874 das Aufhören der Selection nur als ein Htilfs-
princip geltend, welches andere Factoren der Entartung
nichtgebrauchter Theile unterstützen sollte, besonders „eco-
nomy of growth" und „disuse", Nichtgebrauch. Er sagt:
„The cessation of selection should therefore be regarded as
a reducing cause, which co-operates with other reducing
causes in all cases, and which is of special importance as
an accelerating agent when the influence of the latter be-
comes feeble". Wenn nun aber, wie Roman es glaubte,
1) Nature, Vol. IX, „Natural Selection and Dysteleology 4 '
in der Nummer vom 12. März 1874; in der Nummer vom
9. April 1874 ein zweiter Artikel „Rudimentary Organs" und
in der Nummer vom 2. Juli 1874 ein dritter: „Disuse as a
reducing cause in species".
- 5(5 —
neben diesem Einfluss der „cessation of selection" noch die
directe Wirkung des Nichtgebrauchs als Vererbung func-
tioneller Atrophie, economy of growth u. s. w. mit an dem
Verkümmern eines Organs arbeiteten, dann war es unmög-
lich, dessen Thätigkeit überhaupt als existirend zu erweisen,
weil seine Wirkung stets mit der der anderen Factoren
vermischt sein musste. Nur wenn er die Arbeiterinnen der
koloniebildenden Insecten herbeigezogen hätte, würde Ro-
ma n e s erkannt haben, dass der Factor, welchen er richtig
erschlossen hatte, allein im Stande ist, Rückbildung zu
veranlassen, dass er also der Haupt- Factor dabei ist; dies
hätte aber zugleich seine Ueberzeugung von der Vererbung
functioneller Abänderungen umstürzen müssen, und er
würde dann seinen Artikel nicht mit den Worten geschlossen
haben: „However, as before remarked, the question thus
raised is of no practical importance; since whether or not
disuse is the principal cause of atrophy in species, there is
no doubt, that atrophy accompanies disuse." So kam es,
dass ein völlig berechtigter Gedanke nicht zur Geltung kommen
konnte und so gut wie gänzlich wieder in Vergessenheit
gerieth. Rom an es meinte, dass Nichtgebrauch doch, nur
einen Theil des Verkümmerns erkläre, und dass dann „ces-
sation of selection" einsetze. So erkläre es sich, warum
die Reduction der Flügel bei Ente und Gans so verschieden
sei, da der Nichtgebrauch doch gleich stark sei. Aber die
Arten variirten eben verschieden stark. — Dies ist nun
nach meiner Meinung ganz richtig, insofern Panmixie in der
That von der Variabilität der betreffenden Art abhängt in
Bezug auf das Tempo ihrer Wirkung ; deshalb deuten solche
Fälle wie Ente und Gans darauf hin, dass Nichtgebrauch
nicht die wahre und directe Ursache des Rudi-
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mentärwerdens sein kann. Rom an es war der Wahrheit
sehr nahe, aber er fand sie nicht, sondern fuhr fort: „I
deem it in the last degree improbable, that disuse should
not have assisted in reducing the unused organs of our do-
mestic animals and the effect of this remark is to show
that the cessation of selection is not able to ac-
complish so much reduction as I antecedently
ex pect ed. On the other hand it seems to me no less
improbable, that the cessation of selection should not have
here operated to some extent; but in what degree the ob-
servable effects are to be attributed to this cause and in
yfhat degree to disuse I shall not pretend to suggest,"
Ich selbst bin zu der Auffindung des Princips der Pan-
mixie durch schwere Zweifel an der Vererbung erworbener
Eigenschaften geleitet worden. Wenn eine solche nicht
existirte, so musste eine andere Ursache des Schwindens
überflüssiger Theile auffindbar sein ; so kam ich auf Pan-
mixie. Da ich sowohl die Vererbung functioneller Atrophie
als auch die Vererbung der Wirkungen des Sparsamkeits-
princips in der einzelnen Ontogenese leugnen musste, so
war das neue Princip mit seiner Aufstellung auch schon
als wirkend nachgewiesen ; es gab für mich eben nur die
eine Erklärung des Rudimentär werdens , diejenige
durch Selection, mochte man dasselbe allein auf ne-
gative Selection (Panmixie) beziehen oder sich vorstellen,
dass daneben auch noch positive Selection thätig sei, als
Bevorzugung und Ueberleben des minder Schädlichen. Nur
in diesem letzteren Sinne kann ich natürlich vom Princip
der Sparsamkeit sprechen, wie dies übrigens auch von Her-
bert Spencer so verstanden worden ist , nicht in dem
Sinne einer Vererbung der Wirkungen des Kampfes der
- 58
Theile in der Ontogenese. Uebrigens möchte ich ausdrücklich
betonen, dass ich jetzt nach voller Würdigung der Ver-
hältnisse bei den Ameisen, noch mehr als vor zehn Jahren
geneigt bin, das Princip der Sparsamkeit für einen sehr
unbedeutenden Factor des Rudimentärwerdens zu halten,
der bei den meisten dieser Processe wahrscheinlich gar
nicht mitspielt.
Wenn es nun feststeht, dass die Vererbung functioneller
Abänderungen bei der harmonischen Abänderung vieler
cooperirenden Theile der Ameisen-Arbeiterinnen nicht mit-
gewirkt hat, so fragt es sich, mit welchem Recht wir Natur-
züchtung als den bewirkenden Factor derselben ansehen
dürfen.
Die Antwort darauf ist sehr einfach , sie lautet : mit
demselben Recht, mit welchem wir sie irgend-
wo in der Natur annehmen. Wie oben schon kurz
angedeutet wurde, nehmen wir sie an, nicht weil wir den
Vorgang im Einzelnen nachweisen könnten, auch nicht, weil
wir ihn je nach Wissen und Vorstellungskraft leichter oder
schwerer vorstellen können, sondern einfach, weil wir
müssen, weil es die einzig mögliche Erklärung
ist, die wir denkbarerweise geben können. Denn für An-
passungen sind überhaupt für den Naturforscher nur
zwei Möglichkeiten a priori vorhanden, nämlich die Ver-
erbung functioneller Anpassung und Naturzüchtung. Da
nun die erstere hier ausgeschlossen werden konnte, so
bleibt nur die zweite übrig. Man hat oft gesagt, dass der
Beweis für das thatsächliche Eingreifen einer „Natur-
züchtung" in die Gestaltung der Organismen-Entwickelung
noch niemals erbracht worden sei, man könne sich die
Sache wohl so* vorstellen , aber ein zwingender Grund zu
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— r>9
dieser Annahme liege nicht vor. Dies ist wohl richtig,
allein ich glaube, dass man den Beweis erbringen kann,
fussend grade auf den Verhältnissen bei den Ameisen.
Zunächst lässt sich auch ohne Hülfe dieser ausnahms-
weise günstigen Fälle ein Wahrscheinlichkeitsbeweis führen.
Dass Naturzüchtung ein thatsächlich wirkender Factor ist,
dass Variation, Vererbung und Kampf ums Dasein, d. h.
Decimirung der Nachkommen, wirklich die Anpassungen
der Organismen an ihre Lebensbedingungen bewirken, das
wird nicht nur dadurch höchst wahrscheinlich, dass alle
Organisation als Anpassung sich entpuppt, sobald man sie nur
recht versteht, und dass die drei genannten Factoren als wir-
kend nachgewiesen sind, sondern diese Wahrscheinlichkeit wird
noch bedeutend erhöht durch die K e n n t n i s s der künst-
lichen Züchtung, welche der Mensch ausübt. Bei
diesem analogen Process sind zwei Factoren, Variation und
Vererbung, die gleichen, wie bei der angenommenen Natur-
züchtung, und nur der dritte Factor ist verschieden. Der
hohe theoretische Werth der künstlichen Züchtung scheint
mir nun darin zu liegen, dass er die steigernde und um-
wandelnde Wirkung der beiden ersten Factoren sicher-
stellt. Hätten wir diese erschliessen müssen, so stünde es
schlecht um den Beweis der Naturzüchtung, denn unsere
Kenntnisse der fundamentalen Vorgänge von Variation und
Vererbung sind viel zu gering, als dass wir den Erfolg der
Combination gleicher oder ungleicher Elterneigenschaften
auf das Kind hätten vorhersagen können. Künstliche Züch-
tung aber hat uns mit einem reichen Erfahrungsschatz ver-
sehen, und wir dürfen jetzt sicher auf der That-
sache fussen, dass Steigerung, überhaupt Ver-
änderung der Eigenschaften in bestimmter
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— 60
Richtung wirklich durch Auswahl bestimmt
qualificirter Eltern zur Nachzucht zu Stande
kommen kann.
Dies aber ist die Grundlage des Processes der Natur-
züchtung ; wir wissen, Umwandlung in bestimmter Richtung
kann durch Auswahl zur Nachzucht hervorgerufen werden,
und nun handelt es sich nur noch um den dritten Factor
des Processes, denjenigen, der die Auswahl besorgt. Nun
ist aber dieser, der Kampf ums Dasein, grade ein solcher,
der einen Zweifel über seine Wirkung in allgemeiner
Beziehung gar nicht zulässt; dass es Variationen gibt,
welche im Kampf ums Dasein zum Siege führen müssen,
ist nicht zweifelhaft, nur können wir sie nicht schon im
voraus als solche erkennen. Das Ueberleben des Passend-
sten ist sicher, aber wir wissen im einzelnen Fall nicht,
was das Passendste ist und wie oft es in jeder Generation
überlebt und überleben muss, um zum Siege zu gelangen.
Wir können also den Beweis, dass eine bestimmte An-
passung durch Naturzüchtung entstanden ist, für gewöhn-
lich nicht leisten. Wenn nun aber, wie im Falle der
Ameisen, die andere Erklärungsmöglichkeit, die durch func-
tionelle vererbte Anpassung, ausgeschlossen werden kann, so
ist damit, zum mindesten für diesen Fall, die
Wirklichkeit der Naturzüchtung erwiesen. Und
nun sind wir berechtigt, weiter zu schliessen: wenn in
diesem einen bestimmten aber sehr vielseitigen Falle der
Kampf ums Dasein so wirkt, wie Naturzüchtung es annimmt,
d. h. so wie der wählende Züchter bei der künstlichen
Züchtung, dann müssen auch die kleinen Varia-
tionen, welche wir überall und bei allen Kör-
pertheilen vorfinden, Selection swerth besitzen
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— 61 —
können, und wenn sie diesen besitzen in diesem Falle,
so liegt kein Grund vor, dass sie ihn in unzähligen
anderen analogen Fällen nicht auch besitzen sollten —
mit anderen Worten: Naturzüchtung bewirkt alle
Art-Anpassungen.
Wir können also den Beweis für die Wirklich-
keit derNaturzüchtung durch Ausschliessung führen,
und sobald das einmal geschehen ist, schrumpfen die all-
gemeinen Einwürfe, welche sich auf unsere Unfähigkeit
stützen, den Selectionswerth im einzelnen Fall zu erweisen,
zu einem gewichtslosen Einwurf zusammen.
Deshalb werde ich auch hier nicht versuchen, eine ein-
gehende Erklärung der harmonischen Abänderung zu geben.
Es kommt nichts darauf an, ob ich im Stande bin, dies zu
thun, oder nicht, ob ich es besser oder schlechter thun
kann ; sobald feststeht, dass Naturzüchtung das einzige
Princip ist, welches in Betracht kommt, so muss es eine
richtige Erklärung dieser Vorgänge durch Naturzüchtung
geben. Die Erklärung mag sehr schwierig sein, es mag
noch Vieles an Daten fehlen, um sie mit Sicherheit geben
zu können, das widerlegt den Vorgang selbst so wenig, als
die Ansicht der modernen Physiologie, es gäbe keine be-
sondere Lebenskraft, dadurch widerlegt wird, dass wir heute
noch nicht im Stande sind, auch nur einen einzigen Lebens-
process rein aus physikalischen Kräften heraus zu erklären.
Ich glaube übrigens, dass sich auch heute schon eine un-
gefähre und allgemeine Erklärung der harmonischen Ab-
änderung (Coadaptation) wohl geben lässt, und werde eine
solche an einem anderen Orte versuchen.
Sollte sie aber auch noch so unvollkommen ausfallen,
man wird daraus nicht einen Beweis für die Vererbung
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functioneller Abänderungen herleiten können , vielmehr
betrachte ich dieselbe jetzt für definitiv wider-
legt, nachdem sie auch aus ihrem letzten Schlupfwinkel,
der harmonischen Abänderung cooperirender Theile, ver-
trieben ist. Wenn man sich erinnert, dass directe Beweise
für diese Form der Vererbung fehlen, dass somit die Be-
rechtigung, sie anzunehmen, sich nur darauf stützte, dass
sie zur Erklärung gewisser Erscheinungen unentbehrlich
schien, so wird man zugeben müssen, dass jetzt, nachdem
gezeigt wurde, dass diese Erscheinungen auch da vorkommen,
wo die Vererbung functioneller Abänderungen ausgeschlossen
ist, kein Grund mehr vorliegt, dies Erklärungsprincip
anderswo als wirkend anzunehmen. Wenn die Arbeiterin
einer Ameisenart sich zum Soldaten umwandelt, wenn eine
Menge cooperirender Theile derselben harmonisch abändern
können, ohne Hülfe der angenommenen Vererbung functio-
neller Abänderungen, dann liegt kein Grund vor, dieselbe
Fähigkeit dem Hirsch oder der Giraffe abzusprechen. Es
wäre unlogisch, hier eine neue unerwiesene Kraft anzu-
nehmen, nachdem einmal erwiesen ist, dass analoge Um-
wandlungen bei den Ameisen ohne eine solche Kraft er-
folgen. Damit wird auch Spencer übereinstimmen müssen,
denn er sagt: „a recognised principle of reasoning — the
law of parsimony — forbids the assumption of more causes
than are needful for explanation of phenomena" (p. 750).
Somit halte ich es jetzt für erwiesen, dass alle erbliche
Anpassung auf Naturzüchtung beruht, dass Naturzüchtung
das einzige grosse Princip ist, welches die Organismen
befähigt, ihren wechselnden Lebensbedingungen bis zu einem
gewissen hohen Grade zu folgen, indem es auf den alten
Anpassungen neue aufbaut; es ist nicht ein Hülfsprincip.
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— 63 —
welches da einsetzt, wo die vermeintliche Vererbung func-
tioneller Abänderungen im Stiche lässt, sondern es ist das
Hauptprincip der Abänderung der Organismen, neben wel-
chem die primäre Variation, wie sie durch directe Ein-
wirkung äusserer Einflüsse auf das Keimplasma entsteht,
direct nur in sehr untergeordneter Weise in Betracht kommt.
Denn der Organismus besteht, wie ich schon früher sagte,
aus Anpassungen, neuen, älteren und uralten, und was an
primären Variationen in der Physiognomie der Arten etwa
mitspielt, ist wenig und von untergeordneter Bedeutung.
Ich halte deshalb die Entdeckung der Naturzüchtung für
eine der fundamentalsten, die auf dem Gebiete des Lebens
jemals gemacht worden ist, eine Entdeckung, die allein ge-
nügt, den Namen Charles Darwin und Alfred Wal-
1 a c e die Unsterblichkeit zu sichern, und wenn meine Gegner
mich als „Ultra-Darwinisten" hinstellen, der das Princip
des grossen Forschers ins Einseitige übertreibt, so macht
das vielleicht auf manche ängstliche Gemüther Eindruck,
welche das „juste-milieu'' überall schon im voraus für das
Richtige halten, allein mir scheint, dass man niemals schon
a priori sagen kann, wie weit ein Erklärungsprincip reicht,
es muss erst versucht werden, und diesen Versuch
gemacht zu haben, das ist mein Verbrechen oder mein Ver-
dienst Erst sehr allmälig habe ich die ganze Tragweite
des Selectionsprincips erkennen gelernt und bin allerdings
dadurch über die Darwinschen Vorstellungen hinaus-
geführt worden. Der Fortschritt in der Wissenschaft geht
meist einher mit dem Kampf gegen festgewurzelte Vor-
urtheile; ein solches war die Annahme einer Vererbung
erworbener Abänderungen. Jetzt, nachdem dasselbe glücklich
überwunden ist, lässt sich erst die ganze Tragweite der
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- 64 —
Naturzüchtung übersehen, erst jetzt ist* ihre volle Durch-
führung möglich geworden. Nicht Uebertreibung,
sondern völlige Durchführung des Princips ist
es, was damit erreicht worden ist.
Zum „Postscript" Spencer's.
In einem zweiten Aufsatz l ), betitelt „Professor Weis-
mann's Theories 4 ', wendet sich Herbert Spencer gegen
einige andere meiner „fundamental theories", deren weit-
verbreitete Annahme ihn noch mehr überrasche, als die-
jenige der Nichtvererbung erworbener Eigenschaften. Es
sind dies meine Ansichten über den Gegensatz von
somatischen und propagatorischen Zellen bei
den Metazoen und über die Unsterblichkeit letz-
tererund der Einzelligen. Ich will auch auf diese
Einwürfe eingehen, obwohl ich Grund hätte, mir einen
Gegner zu wünschen, der sich vollständiger mit den An-
sichten bekannt gemacht hätte, die er bekämpft, als dies
bei Spencer der Fall ist. Seine Angriffe treffen nicht
immer den Kernpunkt meiner Ansichten, und er kennt vor
allem ihre Begründung nur zum Theil. Ich bedaure dies
besonders deshalb, weil ich dadurch genötigt bin, Manches
zu wiederholen, was vielen Lesern schon bekannt sein wird,
und weil mir ein derartiger Kampf fast als eine für die
Wissenschaft nutzlose Kraftvergeudung erscheint — und
zwar in Bezug auf beide Theile, den Angreifer und den
Vertheidiger. Spencer bezieht sich fast allein auf die
1) Contemporary Review, No. 329, May 1803.
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beiden ersten meiner Aufsätze 1 ), ein einziges Mal auch auf
den fünften; die späteren scheint er nicht zu kennen, be-
sonders nicht den zusammenfassenden und grade für die
von ihm bekämpften Punkte abschliessenden zwölften und
letzten des Buches. Da nun diese Aufsätze, wie im Vor-
wort gesagt ist, innerhalb eines Jahrzehntes entstanden und
nacheinander veröffentlicht, nachher aber unverändert
zu einem Buche zusammengefasst sind, so stellen sie ge-
wissermaassen die verschiedenen Etappen einer fortlaufenden
Untersuchung dar, und derjenige, der sich blos an die ältesten
Aufsätze der Jahre 1881 und 1883 hält, bekämpft nur die
erste und naturgemäss unvollkommenste Begründung meiner
Ansichten. Mein Gegner würde sich wohl manchen Ein-
wurf erspart haben, hätte er die späteren Aufsätze gelesen.
Auch die Form der Spencer' sehen Polemik hätte
mich — käme sie nicht eben grade von Herbert Spen-
cer — abhalten können, zu antworten, insofern sie nichts
weniger als rein sachlich gehalten ist. Die Redewendung
„it is easy to imagine", welche mein Kritiker, wie oben
gezeigt wurde, ganz mit Unrecht mir zur Last legt, wird
hier wieder und wieder gegen mich ins Feld geführt, grade
als ob man aus dieser vielleicht unzweckmässigen Wendung
auf leichtfertige Arbeit zu schliessen berechtigt wäre.
Doch ich komme zur Sache. Spencer 1 8 wissen-
schaftliche Angriffe richten sich zunächst gegen meine An-
sicht von der Zusammensetzung des Metazoen-
körpers aus zweierlei Zellen, somatischen und
propagatorischen, welche sich nach dem Princip der
1) „Aufsätze über Vererbung und verwandte biologische
Fragen", Jena 1892.
Weltmann, Allmacht der Natuncurhtunic. 5
— 66 —
Arbeitsteilung in die Functionen zur Erhaltung der Species
getheilt haben ; die somatischen übernehmen die Ernährung
im weitesten Sinne des Wortes, die propagatorischen die
Fortpflanzung. Er beginnt damit, schon die Beziehung der
beiden Zellenarten auf Arbeitstheilung als eine falsche Auf-
fassung (fallacious Interpretation) zu bezeichnen. Arbeits-
theilung beruhe auf einem Austausch von Diensten,
hier aber finde kein Austausch statt. Nach meiner Ansicht
besagt der Ausdruck Arbeitstheilung, dass die Leistungen,
welche früher von jedem Mitglied einer Gemeinde geleistet
wurden, jetzt einzeln auf verschiedene Mitglieder derselben
vertheilt sind, und in diesem Sinne ist die Differenzirung
einer früher gleichartigen Zellenkolonie in eine aus soma-
tischen und propagatorischen Zellen zusammengesetzte un-
bestreitbar nach dem Princip der Arbeitstheilung erfolgt,
ganz abgesehen davon, ob die somatischen Zellen einen
Vortheil von den propagatorischen haben oder nicht. Der
Vortheil kommt dem Ganzen zu gut, und in diesem
Sinne ist der Ausdruck seit vierzig Jahren in der Biologie
üblich, seitdem Rudolph Leuckart die Siphonophoren-
stöcke als Kolonien aufzufassen lehrte, deren Personen
„nach dem Princip der Arbeitstheilung" differenzirt sind.
Gewiss ist der Ausdruck zuerst von den Verhältnissen der
menschlichen Gesellschaft hergenommen, und dort kann man
sagen, dass er zugleich einen Austausch von Diensten ein-
schliesst, aber wenn man ihn auf den Organismus über-
trägt, so tritt dieser Theil des Begriffes zurück gegenüber
dem der Differenzirung der Theile zu höherer
Gesammtleistung des Ganzen. Es ist irrig, dass hier
stets ein Austausch von Diensten stattfinde, und es ist auch
irrig, dass in diesem Austausch „the essential nature of this
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- 67 -
division of labour" liege. Spencer fragt: „where is the
exchange of Services between somatic cells and reproductive
cells"? und antwortet: „there is none". Ganz richtig, die
Fortpflanzungszellen leisten den somatischen Zellen, soviel
wir wissen, nichts, und deshalb soll also eine Zellenkolonie,
welche nur aus Körper- und Fortpflanzungszellen besteht,
nicht nach dem Princip der Arbeitstheilung differenzirt sein.
Aber billigt es nicht Spencer selbst, wenn die Biologen
den Begriff der Arbeitstheilung auf die Differenzirung der
Zellenmasse eines Organismus anwenden, auf die Trennung
der Zellen in solche der Haut, der „digestion, respiration,
circulation, excretion, etc."? Und warum hat er hier die
Fortpflanzungszellen ausgelassen, die doch dem Organismus
auch zukommen, und die es mit seinen eignen Worten
widerlegt haben würden, dass ein Austausch von Diensten
das Wesen der Arbeitstheilung ausmacht? Oder, um bei
einem der ältesten Beispiele der Arbeitstheilung zu bleiben,
welche Dienste leisten die weiblichen und männlichen Ge-
schlechtspersonen des Siphonophorenstocks einer Fangperson
oder einer Schwimmglockenperson oder einem Polypen des
Stockes? Wo ist der Austausch von Diensten ? „There is
none." Folglich ist mindestens in der Biologie nicht der
Austausch von Diensten das Wesentliche der Arbeitstheilung,
sondern die Vertheilung der Functionen der Ge-
meinschaft auf verschiedene Individuen, und
die damit verknüpfte Steigerung dieser Func-
tionen zu Gunsten höherer Leistungsfähigkeit
der Gemeinschaft. Die Arbeitstheilung ist das Mittel,
deren „Natur" sich bedient, um die Leistungsfähigkeit der
Organismen zu steigern ; ohne die Differenzirung nach dem
Princip der Arbeitstheilung gäbe es keine höheren Organismen.
5*
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— 68 —
Docli lassen wir den Streit um Worte; und wenden uns
zu wichtigeren Punkten ! Mein Gegner hält es für unrichtig,
dass die erste Arbeitsteilung diejenige in somatische und
propagatorische Zellen gewesen sei, und schliesst dies daraus,
dass nach meiner eignen Angabe diese Scheidung heute
noch nicht überall eine absolute ist, und dass in der Onto-
genese der Vertebraten die Geschlechtszellen erst spät auf-
treten, bei Hydroiden sogar erst in späteren Generationen.
Er nennt diese Thatsachen einen Riss (crack) durch meine
Theorie, ja gradezu einen Abgrund (chasm); ja, er hält sie
für so vernichtend für meine Ansicht, dass er mich jenem
Franzosen vergleicht, der die widersprechenden Thatsachen
durch das Wort beseitigt: „tant pis pour les faits."
Ich muss gestehen, dass ich einigermaassen erstaunt
bin über die ausserordentliche Leichtigkeit, mit der Her-
bert Spencer mit den Ansichten Anderer fertig wird.
Sollte denn der Verfasser der Principien der Biologie nicht
wissen, wie tausendfach in der Entwicklungsgeschichte zeit-
liche und örtliche Verschiebungen vorkommen, ja, dass es
kaum eine Ontogenese gibt, bei welcher solche Verschie-
bungen nicht mitspielen? Wenn er es nicht wusste, so
hätte er nur meinen Aufsatz IV zu lesen brauchen, in
welchem dies grade in Bezug auf die Keimzellen-Genese
ausführlich erörtert wird (Deutsche Ausgabe, p. 247).
Sollen wir die primären Verhältnisse bei den Verte-
braten suchen, derjenigen Thiergruppe, die zuletzt von
allen entstanden ist '? Oder bei den Hydroiden, deren Fort-
pflanzungsweise der Generationswechsel ist, ebenfalls eine
durchaus secundäre und spät erworbene Form der Fort-
pflanzung? Besteht nicht die Kunst, den phylogenetischen
Zusammenhang der Arten zu erschliessen , grossentheils
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grade darin, diese unzähligen Verschiebungen in der Onto-
genese herauszufinden und auf die primären Verhältnisse
zurückzuführen V Inwiefern beweist also das späte Auf-
treten der Keimzellen bei diesen Thiergruppen und vielen
anderen noch, dass die primäre Differenzirung nicht die-
jenige in somatische und propagatorische war ?
Gewiss liegt darin, dass die Keimzellen bei Vorte-
braten und anderen Thieren sich erst spät differenziren,
auch noch kein Beweis dafür, dass sie sich ursprünglich
zu Anfang der Ontogenese differenzirten, aber in Aufsatz IV
ist ein Beweis dafür gegeben (p. 243 d. D. A.), insofern
gezeigt wird, dass heute noch bei gewissen niederen Or-
ganismen dieser Zustand der ersten Differenzirung eines
mehrzelligen Wesens erhalten geblieben ist; zum Ueber-
fluss ist sogar eine Abbildung der Algen Pandorina und
Volvox beigegeben. Bei der erstgenannten Art ist noch
keine Arbeitstheilung eingetreten, alle Zellen der Kolonie
stehen noch gleichzeitig der Ernährung und der Fort-
pflanzung vor, während bei dem naheverwandten Volvox
die Zellen in somatische Zellen für Ernährung, Bewegung
u. s. w. und in Fortpflanzungszellen getrennt sind. Wir
haben also hier dicht nebeneinander noch die zwei von
der Theorie geforderten, aufeinander folgenden Stufen phy-
letischer Entwickelung bis auf unsere Tage erhalten vor uns.
Wer freilich diese Thatsachen nicht kennt, für den stellen
sie auch keinen Beweis dar, und ich gestehe, dass mich die
Kritik Herbert Spencer's ein wenig an jenen Mann
erinnert, der sagte: „ich kenne zwar Ihre Gründe nicht,
aber ich missbillige sie". Und nicht nur ignorirt S p e n c e r
den grössten Theil meiner Aufsätze, sondern auch solche
Argumente, die im Aufsatz II enthalten sind, den er ge-
— 70 -
lesen hat; unmittelbar auf den Satz von p. 74, den er citirt,
wird Bezug genommen auf meine früheren Untersuchungen
über die Entstehung der Sexualzellen bei den Hydromedusen,
aus welchen hervorgeht, dass grade bei den Sexualzellen
zeitliche Verschiebungen ihres Auftretens in bedeutendem
Maasse thatsächlich stattfinden, und in Aufsatz IV werden
dieselben im Genaueren mitgetheilt und auf ihren be-
weisenden Werth für die Continuität des Keimplasmas ge-
prüft. Aber auch den Aufsatz über diese Hypothese scheint
Spencer nicht zu kennen.
Der folgende Angriff richtet sich gegen die den Ein-
zelligen und den Keimzellen von mir zugesprochene Un-
sterblichkeit im Gegensatz zu der Sterblichkeit der
Individuen bei den Metazoen. Es wird zunächst geltend
gemacht, dass ich ein allgemeines Entwickelungsgesetz über-
sehen hätte, welches die Nothwendigkeit des Todes ein-
schliesst. „The changes of every aggregate, no matter ot
what kind, inevitably end in a State of equilibrium. Suns
and planets die, as well as organisms. The process of inte-
gration, which constitutes the fundamental trait of all evo-
lution, continues until it has brought about a State which
negatives further alterations, molar or molecular . . . ."
Vielleicht wird man mir glauben, wenn ich versichere, dass
auch mir diese Vorstellungen bekannt sind, ich glaube aber,
dass sie nichts zu thun haben mit dem Unterschied, der
in Bezug auf Tod und Fortdauer zwischen Einzelligen und
Vielzelligen besteht, und nur darum handelt es sich in
meinen biologischen Abhandlungen. Uebrigens sehe ich,
dass ich am Schlüsse des ersten Aufsatzes, den Spencer
gelesen hat, vorsichtig genug war, einem Missverstehen im
Sinne Spencer' s vorzubeugen, indem ich dort (p. 40
Digitized by Google
d. D. A., p.34 d. E. A.) ausdrücklich sagte : „Ich habe wieder-
holt von einer ewigen Dauer gesprochen, einerseits der ein-
zelligen Organismen, anderseits der Propagationszellen. Ich
habe damit zunächst nur eine unserem menschlichen Auge
unendlich erscheinende Dauer bezeichnen wollen."
Aber nun zur eigentlichen Frage. Nach meiner Ansicht
sind die Protozoen und Keimzellen in dem eben bezeich-
neten Sinn unsterblich, d. h. wie mein Gegner richtig er-
läutert, sie können sich theilen und wieder theilen, so-
lange als die äusseren Bedingungen dafür vorhanden sind.
Spencer bestreitet die Richtigkeit dieses Satzes und zwar
zuerst deshalb, weil für viele Einzelligen Conjugation noth-
wendig scheint, welche bekanntlich von meinen Gegnern
als „Verjüngung" des Lebens aufgefasst wird. Er meint:
„if the immortality of a series is shown if its members
divide and subdivide perpetually, then the opposite of im-
mortality is shown when, instead of division, there is union.
Each series ends, and there is initiated a new series,
differing more or less from both. Thus the assertion that
the reproductive cells are immortal, can be defended only
by changing the conception of immortality otherwise implied."
Herbert Spencer hätte mich nicht daran zu er-
innern brauchen, dass mit der Conjugation und der Be-
fruchtung die Vermischung zweier Individualitäten einhergeht,
da es ja eben gerade meine Ansicht ist, nach welcher die
beiden Vorgänge nichts Anderes bedeuten, als eben dieses;
deshalb habe ich sie als Amphimixis bezeichnet Beweist
das aber, dass sie auch eine Verjüngung des Lebens be-
deutet? Eben dieses habe ich wiederholt bestritten, und
wenn Herbert Spencer meinen Aufsatz XII lesen wollte,
so würde er die Gründe dafür kennen lernen, welche mich
— 72 —
dazu bestimmen. Ich würde sie ihm gern hier wiederholen,
aber sie erfordern eine längere Auseinandersetzung, für
welche ich den Platz hier nicht beanspruchen kann. Mir
scheint, dass die Fähigkeit unbegrenzter Fortpflanzung,
d. h. der „Unsterblichkeit" im biologischen Sinn durch den
Act der Amphimixis so wenig berührt wird, als durch irgend
einen anderen Lebensact, z. B. den der Nahrungsaufnahme.
Auch die letztere ist zur Fortsetzung der Theilungen nöthig,
für viele Einzellige auch die erstere. Ob für alle, wissen
wir nicht, wohl aber wissen wir, dass Amphimixis für die
Unsterblichkeit der Geschlechtszellen nicht überall Bedin-
gung ist. Spencer selbst setzt ja in seinem Artikel des
Weiteren auseinander, dass die Blattläuse unter günstigen
Bedingungen sich endlos auf parthenogenetischem Wege
vermehren können. Aber wäre selbst Amphimixis uner-
lässliche Bedingung der Unsterblichkeit, würde diese
dann dadurch aufgehoben? Sind die conju-
girten Zellen etwa todtV
Mein Gegner scheint die Schwäche seines Sophismus
auch zu fühlen, denn er macht noch zwei andere Versuche,
die Thatsache der unbegrenzten Zweitheilung der Infusorien
hinwegzuerklären. Zunächst bezweifelt er die Thatsache
selbst, indem er fragt: „what observer has watched for
forty years to see whether the fissiparous multiplication of
Protozoa does not cease? What observer has watched for
one year, or one month, or one week?" Hätte er meinen
Aufsatz über Amphimixis gelesen, so würde er erfahren
haben, dass ein französischer Forscher Maupas in der
That die staunenswerthe Beharrlichkeit gehabt hat, die Fort-
pflanzung der Infusorien durch Monate hindurch auf dem
Objectträger zu verfolgen. Wäre dies aber auch nicht ge-
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schehen , so wissen wir doch von vielen Infusorienarten,
dass sie schon zu Ehrenberg's und 0. F. Müll er 's
Zeiten vorhanden waren, und dies beweist, wenn man nicht
die absurde Annahme einer Generatio aequivoca so hoch
differenzirter Thiere machen will, dass sie sich doch immer-
hin seit einem Jahrhundert durch stete Theilung vermehrt
haben. Es gibt aber lebende Foraminiferen, die schon im
Tertiär gefunden werden, deren Zweitheilungen sich also
durch ganze geologische Perioden fortgesetzt haben.
Der zweite Versuch aber, die Unsterblichkeit zu wider-
legen, ist der, dass gesagt wird, die zwei in der Conjugation
miteinander verschmelzenden Infusorien seien nicht
mehr dieselbe Individualität, wie vor ihrer Ver-
schmelzung, es entstehe dadurch ein neues Individuum. Das
ist nun zwar insoweit richtig, als in der That zwei Indi-
vidualitäten hier sich vermischen, wie ich gezeigt habe
(Aufsatz XII), allein widerlegt dies meine Behauptung, dass
der natürliche Tod den Einzelligen fehlt V Ist etwa Con-
jugation gleich Tod? Findet sich nicht dieselbe Conjugation
oder Amphimixis bei der Befruchtung der Metazoen, und
ist diese der natürliche Tod derselben? Nun, wenn dies
nicht so ist, dann haben eben die Metazoen
diesen natürlichen Tod noch ausserdem, sie
unterscheiden sich dadurch von denProtozoen
— q. e. d., denn das ist Alles, was ich behauptet habe. Ich
habe darauf aufmerksam gemacht , dass hier eine wesent-
liche Verschiedenheit zwischen Protozoen und Metazoen be-
steht, dass bei den Metazoen die DifFerenzirung von Körper
und Keimzellen auftritt, und dass dieser Körper allein
dem natürlichen Tod unterworfen ist. So ist es wirklich,
und dies wird durch alle Sophismen Herbert Spencer' s
- 74 —
nicht aus der Welt geschafft. Was soll es heissen , wenn
er auseinandersetzt, dass die Soniazellen eines gesunden
Weibes noch lange fortfahren sich durch Theilung zu ver-
mehren, nachdem die Keimzellen ihres Ovariums längst ab-
gestorben sind ? Wann hätte ich je behauptet, dass Keim-
zellen nicht sterben könnten? Ich habe im Gegentheil
raeinen früheren Gegnern den Unterschied zwischen acciden-
tellem und natürlichem Tod mehrfach klar zu machen ge-
sucht, so in Aufsatz III gegen Götte. Das Absterben
aber derjenigen Eizellen, welche nicht zur Befruchtung ge-
langen, ist in demselben Sinne als accidenteller Tod zu be-
trachten, als der Tod eines Wolfs durch Hunger: die Be-
dingungen des Weiterlebens sind nicht erfüllt
Spencer greift die Sache aber noch von der anderen
Seite an, indem er die Sterblichkeit des Körpers leugnet,
oder vielmehr nicht des Körpers als Ganzes, sondern die
Fähigkeit unbegrenzter Theilung der Körperzellen. Ich be-
zog den natürlichen Tod und damit die natürliche Lebens-
dauer auf eine bestimmte Regulirung der Fortpflanzuungs-
kraft der somatischen Zellen; Spencer ist der Ansicht,
dass ihr Absterben durch die äusseren Bedingungen veran-
lasst wird, dass sie also unter günstigen Bedingungen
ebenso gut fähig wären zu unbegrenzter Vermehrung, als
die Propagationszellen. Er gibt sich viele Mühe, Fälle
darzulegen, in welchen Arten sich unbegrenzte Zeit hin-
durch mittelst Knospung fortgepflanzt haben, wie das ja
von zahlreichen Pflanzen wohl bekannt ist.
Hätte er meine Aufsätze alle gelesen, oder in mein
neues Buch 4 ) mehr als blos hereingeblickt , so würde er
1) „Das Keimplasma, eine Theorie der Vererbung", Jena
1892, Capitel VI u. VII.
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- 75 —
sich einen solchen Windmühlenkampf erspart haben. Denn
ich habe ausdrücklich anerkannt, dass viele somatische
Zellen die Fähigkeit unbegrenzter Fortpflanzung besitzen,
nämlich alle diejenigen, welche zu Keimzellen oder zu
Knospenzellen hinführen, also die Zellen der Keim-
bahnen und diejenigen, von welchen die Entstehung
neuer Personen durch Knospung ausgeht. In dem ersten
Aufsatz, auf welchen sich Spencer bezieht, ist davon noch
nicht die Rede, weil es damals vor allem darauf ankam,
die neue Erkenntniss möglichst scharf und klar hinzustellen,
ich meine den Gegensatz der Wesen ohne und mit natür-
lichem Tod. So habe ich damals nur die einfacheren Fälle
ins Auge gefasst und die Erklärung dafür zu geben gesucht,
warum die Somazellen ihre unbegrenzte Vermehrungskraft
verloren, ohne noch danach zu fragen, ob es bei den
höheren Metazoen mit verlegter Keimzellenstätte und bei
den Cormen nicht auch somatische Zellen gebe mit unbe-
grenzter Vermehrungskraft.
Schon vor mehreren Jahren hat mir de Vries ent-
gegengehalten, dass bei den Pflanzen der Unterschied
zwischen Somazellen und Keimzellen kein so scharfer sei,
als bei den Metazoen, und ich habe ihm dies vollauf zu-
gegeben und hinzugefügt, dass es bei den stockbildenden
Metazoen ebenso sei. In beiden Fällen spielt eben die
Knospung mit und bedingt die Anwesenheit von Zellen,
welche sich die unbegrenzte Vermehrungsfähigkeit erhalten
haben. Nach meiner Ansicht müssen Zellen, von welchen
Knospung ausgehen soll , die Elemente enthalten , welche
zum Aufbau einer neuen Person erforderlich sind, d. h.
Keimplasma, oder falls mehrere Zellen zur Knospe zu-
sammenwirken, eine bestimmte Combination von Deter-
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— 7C>
mutanten. Diese Keimplasma in gebundenem Zustand füh-
renden Zellen habe ich ausdrücklich als Somazellen be-
zeichnet und ebenso diejenigen Zellen, welche die „Keim-
bahnen" darstellen, d. Ii. welche auf dem Wege vom Ei zu
den Keimzellen des aus dem Ei sich entwickelnden Meta-
zoons liegen. Auch diese Zellen enthalten Keimplasma in
inactivem Zustand , und so sind es also vor allem solche
Somazellen , welche inactives Keimplasma führen , die die
Fähigkeit unbegrenzter Vermehrung sich erhalten, oder
vielleicht besser, die sie sich wiedergewonnen haben. Ich habe
mehrfach hervorgehoben 1 ), dass diese Zellen nicht einmal
immer jngendliche zu sein brauchen, dass sie vielmehr auch
histologisch differenzirt sein können, wie z. B. die Epi-
dermiszellen des Begonia-Blattes, aus welchen neue Pflänz-
chen hervorknospen (vergl. „Das Keimplasma etc." p. 244
und 259). Es gibt also „unsterbliche" Somazellen auch
nach meiner Ansicht, und in meinem neuen Buch hätte
S p e n c e r ein ganzes Capitel über Knospung finden können,
in welchem unter Anderem auch der Versuch gemacht wird,
die Gründe aufzudecken , warum solche Zellen bei den
Pflanzen in so grosser Menge vorhanden sind.
Ein Gegensatz der Meinung aber besteht allerdings
zwischen Spencer und mir in Bezug auf die Ursachen,
welche die Sterblichkeit der meisten Somazellen bei den
Metazoen ohne Knospung bedingen. Spencer macht
äussere, ich innere Ursachen dafür verantwortlich. Mein
Gegner zählt neun verschiedene Factoren auf, welche fördernd
oder hemmend auf die Zellvermehrung einwirken und welche
nach seiner Vorstellung allein genügen, um die beobachteten
1) „Keimplasma", 1892, p. 259 u. f.
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Verschiedenheiten in der Dauer der Zellvermehrung zu er-
klären. Da ist zuerst der von den Eltern überkommene
Nahrungsstoff, dann die Qualität der Nahrung, der Grad
von „visceral development", der für die Herbeischaffung
der Nahrung nöthige Aufwand von Kraft, die Kosten für
die Aufrechterhaltung der Körperwärme, und schliesslich
das Verhältniss der Masse des Körpers zur Oberfläche in
seinen verschiedenen Aeusserungen. Es ist nun gewiss
ganz richtig, dass alle diese Factoren einen Einfluss auf
die Zellvermehrung ausüben, aber wenn Spencer meint,
ehe man noch andere Ursachen für die Normirung der Zell-
vermehrung annehme, müsse man gezeigt haben, dass die
von ihm aufgeführten nicht ausreichten zur Erklärung, so
halte ich dies für einen logischen Fehlschluss. Diese Argu-
mentirung würde nur dann richtig sein, wenn eine unbe-
kannte Kraft zur Erklärung angenommen werden sollte,
so wie z. B. Spencer eine Vererbung erworbener Eigen-
schaften annimmt, um die „coadaptation" zu erklären. Hier
steht die Sache aber anders; ich nehme zur Erklärung der
verschiedenen Lebensdauer der Zellen nicht eine unbekannte
Kraft an, sondern denjenigen Factor, den Herbert
Spencer vergessen hat, aufzuführen, und der der wich-
tigste von allen ist, nämlich die Beschaffenheit der
lebenden Zellen selbst. Oder wollte mein Gegner
etwa leugnen, dass die Qualität der lebenden Substanz der
Zelle selbst einen Einfluss auf ihre Vermehrungsfähigkeit
ausübt? Vermehren sich alle Zellen gleich stark und gleich
lang, wenn sie unter denselben äusseren Einflüssen stehen,
ist nicht vielmehr das Erste und Wichtigste von allem, was
die Zelle bestimmt, eben ihre eigne Constitution'? Es ist
also wohl nicht zu bestreiten, dass diese als die zehnte
- 78 -
Ursache den neun Spencer 'sehen hinzugefügt werden
muss ; meiner Meinung nach aber ist sie die Hauptursache.
Die Function der Zelle hängt in erster Linie
von ihrer Constitution ab, und alles Andere
kommt in zweiter. In meinem XII. Aufsatz ist es aus-
führlich dargestellt, wie weibliche sowohl als männliche
Keimzellen des Pferdespulwurms sich ganz gesetzmässig
durch eine bestimmte Zahl von Theilungen vermehren und
dann unfähig wei den, sich noch weiter zu theilen. Erst be-
ginnen die Urkeimzellen mit mehreren Theilungen, dann
kommt eine lange Unterbrechung der Vermehrung, die Ur-
keimzellen wachsen und werden zu Mutterzellen. Nun erst
folgt wieder eine Periode der Vermehrung, indem sich jede
Zelle rasch hintereinander zweimal theilt, und dann hört
die Fähigkeit zu weiterer Vermehrung auf, sowohl bei der
reifen Samenzelle, als bei der Eizelle. Welche der neun
Spe nc er' sehen Ursachen mag an diesem gesetzmässigen
Rythmus wohl die Schuld tragen ? Die Qualität der Er-
nährung vielleicht ? Allein diese bleibt sich gleich während
der ganzen Zeit, der Keimstock des Thieres schwimmt im
Blut, und während die erstgebildeten Keimzellen schon die
Reife erlangt haben, bilden sich andere erst zu Mutterzellen
aus u. s. w. Oder ist das Verhältniss der Masse der Zelle zu ihrer
Oberfläche daran Schuld? Aber die "reife Eizelle vermag
sich nicht zu vervielfältigen und dennoch, sobald die win-
zige Masse der Samenzelle hinzugekommen ist, fängt sie an,
sich fort und fort zu theilen, und in einem ganz anderen und
neuen Sinn, der auch nirgends anders, als in ihrer eigenen
lebendigen Substanz seinen Grund haben kann. Oder muss
ich auch noch daran erinnern, dass es Eier gibt, bei denen
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— 79 -
diese lange Episode Mitogenetischer T hei hin gen auch ohne
Amphimixis eintritt, die parthenogenetischen Eier? Dass bei
manchen Schmetterlingen (Bombyx mori z. B.) die meisten
Eier nur auf Befruchtung hin in diese Episode eintreten, ein-
zelne aber auch ohne diese? Und das sollte nicht wesent-
lich und in erster Linie von der „Constitution" des Eies
selbst, d. h. von der Qualität und Menge seiner Lebens-
theilchen abhängen? Und diese Episode selbst, die mit der
Befruchtung anhebt und mit dem Tode schliesst, sie sollte
nicht nur nach ihrer Qualität, sondern auch nach ihrer
Dauer von etwas Anderem bestimmt werden?
Spencer findet einen Widerspruch darin, wenn ich
einerseits die Normirung der Lebensdauer der Arten von
den äusseren Lebensbedingungen abhängig sein lasse und
andererseits die Dauer des Lebens auf innere Qualitäten der
Zellen beziehe. Wenn der König befiehlt, die Flotte soll
auslaufen, ist dann er es, der die Schiffe mit Kohlen ver-
sieht, mit Mannschaft, mit Vorräthen, der die richtigen Leute
aussucht und an den richtigen Platz stellt, der die Schiffe
auswählt, den Curs bestimmt oder der die Maschinen macht
und zusammensetzt u. s. w.? Nun, der König entspricht hier
den äusseren Lebensbedingungen; sie sind es, welche be-
fehlen: diese Art soll eine Lebensdauer von zwei, von zehn,
von hundert Jahren haben ; die Mittel aber , durch welche
dieser Befehl ausgeführt wird, liegen nach meiner Auffassung
in erster Linie in der Normirung des Zellenlebens. Es ist
leicht, misszuverstehen, wenn man misszuverstehen wünscht
(vergl. Spencer's Appendix p. 748). Die Arbeitsteilung
im Metazoenkörper hat es mit sich gebracht, dass viele
Drüsen- und Epithelzellen sich durch ihre eigenen Functionen
aufreiben, und dass sie fortwährend neu ersetzt werden
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— 80 —
müssen. Wir wissen es noch nicht ganz genau, in welchem
Grade andere hoch differenzirte Zellen, wie Muskel- und
Nervenzellen, demselben Schicksal unterworfen sind, aber
dass sie durch die Function abgenutzt werden, ist sehr
wahrscheinlich. Meine Hypothese besteht nun darin, dass
ich annehme, es sei der Wiederersatz der durch die Function
zu Grunde gehenden Somazellen bei jeder Art regulirt, und
zwar durch Modificationen in ihrer Constitution.,, Da Fort-
pflanzung so gut eine Function ist als Ernährung, so wird
auch sie von der Constitution der Zelle regulirt werden
müssen, d. h. bei gleicher Ernährung u. s. w. wird die eine
Zellenart sich rascher, die andere langsamer fortpflanzen,
der Process der Fortpflanzung wird bei der einen früher, bei
der anderen später sein Ende finden.
Die somatischen Zellen haben durch einseitige Ausbildung
für eine bestimmte Function die unbegrenzte Fortpflanzungs-
fähigkeit verloren; sie konnten einen hohen Grad der Dif-
ferenzirung annehmen, weil ihre unbegrenzte Fortpflanzungs-
fähigkeit für die Erhaltung der Art nicht mehr nöthig war.
Im Aufsatz XI heisst es p. 645: „Ich glaube, gezeigt zu
haben, dass Organe, welche nicht mehr gebraucht werden,
schon allein durch Panmixie rudimentär werden und schliess-
lich ganz schwinden müssen, nicht durch die directe Wirkung
des Nichtgebrauchs, sondern dadurch, dass Naturzüchtung
sie nicht mehr auf der Höhe ihrer Ausbildung erhält. Was
für Organe gilt, gilt ebenso auch für Functionen, denn Func-
tionen sind nur der Ausdruck einer bestimmten Beschaffen-
heit materieller Theile, mögen wir nun dieselben wahrnehmen
oder nicht. Wenn nun also die Unsterblichkeit der Ein-
zelligen darauf beruhen muss, dass ihre Substanz so zu-
sammengesetzt ist, dass der Stoffwechsel genau wieder in
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— 81 —
sich zurückkehrt — , warum sollte und wie könnte
diese die Unsterblichkeit bedingende Beschaf-
fenheit der Lebenssubstanz auch dann noch
beibehalten worden sein, als sie nicht mehr
nöthig war? Und es liegt doch auf der Hand, dass sie
nicht mehr nöthig war bei den somatischen Zellen der Viel-
zelligen." Ich fahre heute fort : Da aber, wo sie nöthig war,
wie bei den die Knospung bedingenden Zellen, musste sie
erhalten bleiben und blieb erhalten. Ich füge weiter hinzu,
dass nicht blos bei hoher histologischer Differenzirung der
Zellen die unbegrenzte Theilbarkeit derselben verloren ging,
sondern überall, wo sie nicht mehr nöthig oder vortheilhaft
war, wie dies dem Princip der Panmixie entspricht. So er-
klärt sich z. B. die im Aufsatz XI, p. 646 mitgetheilte Be-
obachtung des Botanikers Klein, aus welcher hervorgeht,
dass schon bei einem der niedersten Heteroplastiden , dem
Volvox, die Körperzellen sterben, wenn die Fortpflanzungs-
zellen entleert sind, obwohl doch hier die somatischen Zellen
sich selbständig ernähren und die äusseren Bedingungen
nach wie vor dieselben sind. Dennoch sterben die Somazellen
und vermehren sich nicht weiter, und es dürfte Herbert
Spencer schwer werden, eine seiner neun Ursachen der
Zellregulirung dafür verantwortlich zu machen, während meine
Annahme, dass diese Somazellen durch ihre eigne Beschaffen-
heit auf eine bestimmte ADzahl von Zellgenerationen normirt
sind, auf begründeten Widerspruch kaum treffen dürfte.
Mein berühmter Gegner kommt zum Schluss und ge-
wissermaassen als Krönung seines ganzen Gebäudes von Be-
weisen wieder auf die Vererbung erworbener Eigen-
schaften zurück und führt für sie jene zweifelhaften Fälle
an, in welchen das Kind nicht dem Vater, sondern einem
Weitmann, Allmacht der Naturzüchtung;. 6
- 82 -
früheren Gatten seiner Mutter gleichen soll. Wenn er in
mein neues Buch etwas genauer hineingesehen hätte, so
würde er gefunden haben, dass auch mir diese Fälle nicht
entgangen sind, und dass ich sie — da eine brauchbare Be-
zeichnung noch nicht vorhanden war 1 ) — als Telegonie
oder Fernzeugung in einem besonderen Capitel besprochen
habe. Sie waren bisher meist als „Infection des Keims' 4 ,
oder auch als „Superfotation" bezeichnet worden. Auch mir
sind viele solche „Fälle" erzählt worden, unter Anderem
habe ich schon vor vielen Jahren in Bezug auf die Ver-
mischung von Negern und Weissen von einem Arzt aus New-
Orleans dasselbe versichern hören, was Spencer jetzt von
einem „distinguished correspondent" aus den Vereinigten
Staaten erfahren hat. Solange man aber keine besseren
Daten, als solche „on dit" hat, wird man die Telegonie noch
nicht als eine Thatsache betrachten dürfen; es können hier
so viele Täuschungen mit unterlaufen , dass man ohne be-
weisende Versuche die Sache nicht für sicher halten und
wissenschaftliche Schlüsse darauf bauen kann. Darum habe
ich in meinem Buch zu solchen Versuchen aufgefordert 1 )
und zwar speciell die zoologischen Gärten, in denen die
nöthige Sorgfalt und Ueberwachung der Thiere längere Zeit-
räume hindurch leichter möglich ist, als in kleinen zoo-
logischen Instituten, wie z. B. in meinem eigenen.
Spencer nimmt heute schon die Telegonie als erwiesen
an und sieht in ihr „an absolute disproof of Professor
Weismann's doctrine that the reproductive cells are inde-
pendent of, and uninfluenced by, the somatic cells" und
1) „Das Keimplasma, eine Theorie der Vererbung", Jena
1892, p. 505.
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- 83 -
glaubt durch sie jedes Hinderniss überwunden, welches der
„transmission of acquired characters" im Wege stand.
Sehen wir zu, wie Spencer die Telegonie zu einem
Beweis für die Vererbung erworbener Eigenschaften des
Körpers stempelt. Nach seiner Ansicht zeigen diese Fälle
„that while the reproductive cells multiply and arrange
themselves during the evolution of the embryo, some of their
germ-plasm passes into the mass of somatic cells constituting
the parental body and becomes a permanent component of
it. Further they necessitate the inference, that this intro-
duced germ-plasm, everywhere diflused, is some of it in-
cluded in the reproductive cells subsequently formed". Ich
verstehe nicht, aufweiche Thatsachen Spencer sich berufen
könnte, wenn er Keimplasma aus den Zellen des Embryo in
die der Mutter übergehen lässt. Der Embryo der Säuge-
thiere steht nur durch die Placenta mit mütterlichem Gewebe
in engem Contact, sollten die Zellen der Placenta Keimplasma
enthalten? Aber ich vergesse, dass Spencer auf der Vor-
stellung völlig gleichartiger „physiological units" steht, von
der freilich erst gezeigt werden müsste, wie sie im Stande
ist, die Differenzirungen beim Aufbau des Körpers zu erklären.
Da würde mir die Vorstellung noch eher annehmbar scheinen,
dass einige der Spermazellen sich in Körperzellen der mütter-
lichen Gewebe einbohren, damit wäre doch wenigstens die
Anwesenheit von väterlichem Keimplasma gesichert. Allein
auch diese Vermuthung stimmt nicht mit den Thatsachen,
da wir wissen, dass die Samenzellen zwar sehr stark von
den Eizellen angezogen werden, nicht aber von anderen be-
liebigen Zellen. Die Vorstellung Spencer' s vollends, dass
das vom Embryo in Zellen der Mutter, also doch wohl der
mütterlichen Placenta eingedrungene väterliche Keimplasma
6*
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sich der ganzen Masse der somatic cells des mütterlichen
Körpers mittheile, ist eine so phantastische, dass ich wohl
mit Spencer sagen darf: „let us not be content with words,
but look at the facts"! Die Thatsachen aber, auf welche er
sich dabei beruft, sind wohl in diesem Sinne durchaus un-
verwerthbar. Allerdings hat Sedgwick beobachtet, dass
die Zellen des Peripatus-Embryo ein sog. Syncytium bilden,
d. h. dass ihre Zellkörper sichtbarlich nicht voneinander
geschieden sind, auch ist es bekannt, dass bei Pflanzen und
bei Thieren die Zellen mancher oder vieler Gewebe durch
protoplasmatische Ausläufer in Verbindung stehen, aber be-
weist das, dass Keimplasma auf diesem Wege von Zelle zu
Zelle transportirt wird? Der Nachweis, dass eine Land-
strasse von London nach Oxford führt, genügt nicht, um zu
beweisen, dass Peter sie gegangen ist.
Wenn Herbert Spencer auch nur einen Blick in
meine Aufsätze V, VI und XII geworfen hätte, so wäre es
unerklärlich, wie er die Forschungen des letzten Jahrzehnts
über das mikroskopische Verhalten des Zellkerns bei seinen
Hypothesen so gänzlich ausser Acht lassen konnte. Wir
besitzen doch heute eine Fülle von Thatsachen, welche mit
Sicherheit schliessen lassen, dass die Vererbungssubstanz im
Kern der Keimzelle enthalten und dort derart eingeschlossen
und sorgfältig aufbewahrt ist, dass sie niemals als Ganzes
aus der Kernkapsel herauskommt. Soll sie einer anderen
Zelle mitgetheilt werden , so geschieht dies auf dem Wege
der Kern- und Zelltheilung. Ein besonderer Apparat von
erstaunlicher Feinheit und Präcision ist dafür in der Zelle
enthalten, dessen wunderbarer Mechanismus heute noch den
Gegenstand eifriger Forschung unserer besten Mikroskopiker
auf botanischem, wie auf zoologischem Gebiete bildet. Wozu
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wäre dieser ganze Th eilungs- App arat, wenn
die Vererbungssubstanz ebenso gut durch den
Zellkörper von Zelle zu Zelle versandt werden
könnte? Die Forschungen haben ferner ergeben, dass die
Vermischung der Vererbungssubstanz zweier fremder Zellen,
d. h. solcher, die nicht Geschwisterzellen sind, durch einen
besonderen verwickelten Vorgang zu Stande kommt, den ich
als Amphimixis bezeichnete, und der, soweit wir wissen»
regelmässig nur als Conjugation bei den Einzelligen und als
Befruchtung bei den Vielzelligen vorkommt. Nur bei den
höheren Pflanzen ist Amphimixis auch bei anderen Zellen
beobachtet worden als regelmässige Erscheinung, nämlich
bei gewissen zwei Kernen des sog. „Embryosackes". Es ist
durchaus nicht unmöglich, dass Amphimixis auch sonst noch
vorkommt, wenn auch nur ausnahmsweise, d. h. unter ganz
besonderen dafür günstigen Umständen, und ich habe den
Versuch gemacht, die Entstehung der „Propfbastarde", z. B.
des berühmten Cytisus Adami, auf diese Weise zu erklären.
Ich schloss aus den Thatsachen, dass Vererbungssubstanz
(Idioplasma) „allein in den Kernstäbchen seinen Sitz hat,
eine feste Substanz ist und nur durch Zell- und Kern-Ver-
schmelzung gemischt werden kann", dass der Entstehung
eines Propfbastards die Amphimixis zweier Cambiumzellen
der beiden Pflanzen-Species an der Propfstelle zu Grunde
liegen muss, fügte aber hinzu, dass hier „ein ungewöhnlicher
Zufall bei der Bildung" einer solchen „Mischlingsknospe
gewaltet haben muss", da alle Versuche, diesen Mischling
(Cytisus Adami) zum zweiten Male hervorzubringen, bisher
vergeblich gewesen sind" l ).
1) „Keimplasma", deutsche A., p. 447.
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- 86 —
Wenn wir nun aber auch vermuthen dürfen, dass unter
besonders günstigen Verhältnissen Amphimixis auch zwischen
anderen, als Keimzellen stattfinden kann, so wäre es doch ganz
unzulässig, anzunehmen, dass dies häufig und unter beliebigen
somatischen Zellen vorkäme, oder gar bei allen Somazellen
und fortwährend, wie dies angenommen werden müsste, wenn
Spencer' s Voraussetzung der Versendung von Keimplasma
vom Embryo aus durch den Körper der Mutter wirklich
stattfinden sollte. Eine solche Verbreitung aber, wie er selbst
sie sich vorstellt, also ohne Amphimixis, nur durch proto-
plasmatische Zellausläufer von Zelle zu Zelle steht in un-
lösbarem Widerspruch mit den eben angeführten Thatsachen.
Das Keimplasma wird von der Natur sorgfältig in eine
Kapsel eingeschlossen in jeder Keimzelle und nur unter höchst
verwickelten Vorsieh tsmaassregeln den Tochterzellen, nur
unter der Form der Amphimixis fremden Zellen ausgeliefert.
Dies nimmt uns das Recht, anzunehmen, Keimplasma könne
auch, einem Schwärm von Vögeln gleich, sich von Zelle zu
Zelle durch den ganzen Körper verbreiten, zumal wenn kein
anderer Grund für diese Annahme vorhanden ist, als damit
die Hypothese von der Vererbung erworbener Eigenschaften
dadurch plausibel gemacht werden könne *).
Wenn deshalb Spencer als „a sample of his (i. e. my)
reasoning" anführt, dass ich selbst auf der einen Seite zu-
gebe, es könnten die Bakterien der Syphilis oder die von
mir vermutheten Mikroorganismen der traumatischen Epi-
lepsie aus einem von diesen Krankheiten durchseuchten
Körper in die Keimzellen desselben einwandern, während ich
auf der anderen Seite das „parental protoplasm", d. h. die
1) Vergleiche ,,Keimplasma", p. 37.
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Vererbungssubstanz dort nicht zulasse so vergisst er, dass
die Infection des Keimes durch Syphilis eine erwiesene That-
sache ist, während ein im Körper der Mutter vagabundirendes
Keimplasma noch nie gesehen worden ist und aller Erfah-
rung über die Uebertragung desselben von einer Zelle in
eine andere geradezu Hohn spricht. Es leidet keinen Zweifel,
dass ein Mörder von London nach Paris fahren kann, so
gut wie ein anderer Mensch, wenn er aber im Zuchthaus
eingesperrt ist, so geht das nicht so ohne weiteres, er muss
erst seinen Kerker sprengen. Dazu scheint das Keimplasma
nur unter ganz bestimmten Bedingungen im Stande zu sein,
während die freie Mikrobe ungehindert mittelst der Blut- und
Säfteströmung und wohl auch durch Wanderung von Zelle
zu Zelle durch den ganzen Körper gelangt.
Die Spencer' sehe Erklärung der Telegonie ist also
durchaus unzulässig, und die Erscheinung selbst, weit ent-
fernt, „an absolute disproof of Professor Weismann's doctrine"
zu sein, lässt sich vielmehr mit dessen Theorie jedenfalls
sehr viel leichter in Einklang setzen, falls sie sich als wirk-
lich existirend erweisen sollte. In meinem „Keimplasma"
habe ich bereits eine Erklärung für sie versucht. Dieselbe
ergibt sich so einfach und natürlich aus meinen Anschauungen
über Keimplasma, Amphimixis u. s. w., dass Rom an es,
ohne noch mein Buch gesehen zu haben, in seinem schon
erwähnten, gegen Spencer gerichteten Artikel sie sich der
Hauptsache nach ganz conform mit mir gewissermaassen
construirte als die Antwort, welche ich vermuthlich Herbert
Spencer geben würde. Ich habe übrigens dieselbe Er-
klärung für Telegonie schon im Jahre 1887 in der biologischen
1) a. a. 0., p. 448.
— 88 —
Section der britischen Naturforscher-Versammlung zu Man-
chester gegeben, als ich gefragt wurde, wie ich solche Fälle
mit meiner Theorie vereinigen könnte. Es gibt keine ein-
fachere Annahme, als die, dass die Sperniatozoen zuweilen
bis ins Ovarium gelangen und dort in einzelne unreife Eier
eindringen. Amphiraixis kann nicht stattfinden, da das Keim-
plasma des Eies noch nicht reif ist, aber der Kern der
Samenzelle bleibt unter Umständen lebendig und erhält sich
so bis zu der Zeit einer zweiten Begattung durch einen
zweiten Gatten. „Erfolgte dies einige Zeit nach Ablauf der
ersten Geburt, so würde es leicht ungefähr mit der zweiten
Begattung zusammentreffen, und so den Schein erwecken,
als ob die Befruchtung von dieser herrührte." Mit dieser
Andeutung einer Erklärung glaubte ich mich begnügen zu
dürfen und fuhr deshalb fort (a. a. O. p. 507) : „Gesetzt, die
Telegonie würde erwiesen, so müsste man eine solche nach-
trägliche Befruchtung einer Eizelle für möglich halten ; freilich
dürfte man sich dann billig wundern, warum nicht gelegent-
lich Stuten, Kühe oder Schafe trächtig werden, ohne zum
zweiten Male belegt worden zu sein. Bis jetzt ist dies
noch niemals beobachtet worden, und so möchte
ich glauben, dass die Ansicht von Settegast die richtige
ist, nach welcher es Telegonie überhaupt nicht gibt, und alle
dafür angeführten, und von ihm kritisch erörterten Fälle auf
Täuschung beruhen."
Ich muss sagen, dass ich auch heute noch , trotz der
von Spencer und von Rom an es neu beigebrachten Fälle,
die Telegonie nicht für erwiesen halte, obgleich ich mich
dadurch bei Herbert Spencer dem Verdacht aus-
setze, dass ich nicht nur bereit bin, „to base conclusions on
things it is easy to imagine", sondern dass ich auch „reluc-
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— 89 —
tant 4 ' bin, „to accept testimony which it is difficult to doubt".
Ich bestreite nicht die Möglichkeit der Telegonie, ich ge-
stehe sogar, dass von jeher die weite Verbreitung dieser
Annahme mir Eindruck gemacht hat, dass ich mir sagte, sie
könne möglicherweise eine berechtigte sein, und Thatsachen
ihr zu Grunde liegen. Ist ja doch auch der „Rost" des
Getreides (Puccinia graminis) seit Langem von den Bauern
mit der Berberitze als Ursache desselben ganz richtig in
Verbindung gebracht worden, ehe es de Bary gelang, diese
populäre Sage zur wissenschaftlichen Thatsache zu erheben,
indem er zeigte, dass der Pilz auf dem Getreide in Gene-
rationswechsel stehe mit dem Aecidium Berberidis auf den
Berberitzen-Blättern. Man soll also, so meine ich, solche
Volkssagen nicht ohne weiteres als Fabeln verwerfen. Ich
würde auch einen Fall wie denjenigen von Lord Morton's
Stute für einen genügenden Beweis halten, wenn er völlig
sicher und unzweifelhaft wäre. Allein das ist keineswegs
der Fall, wie schon Settegast eingehend gezeigt hat 1 ).
Er bezweifelt nicht, dass, „nachdem die Stute mit einem
Quaggahengst einen Bastard als Erstling gezeugt hatte, sie
später von einem Pferdehengst Füllen brachte, die streifige
Zeichnung am Halse, Widerrist und an den Beinen besassen u ,
aber er bestreitet, dass irgend welche andere Merk-
male des Quagga an dem Füllen zu sehen gewesen seien.
An den Bildern von Agasse in Surgeon's College zu London
„würde auch die lebhafteste Phantasie keine Aehnlichkeit
mit den Formen des Quagga herauszufinden vermögen". Die
Streifen allein aber genügen, wie er meint, zu einem Be-
1) H. Settegast, „Die Thierzucht", Breslau 1878, Bd. I,
p. 225 u. f.
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- 90 —
weise nicht, weil Jeder erfahrene Pferdezüchter wisse, dass
die Fälle gar nicht so selten sind, in denen Füllen mit strei-
figen Zeichnungen, welche an Quagga- oder Zebrastreifen er-
innern, geboren werden. Sie verschwinden regelmässig mit
zunehmendem Alter des Füllens." Dazu bemerkt ein so er-
fahrener Züchter wie Nathusius: „Bei mir hatte eine
einfarbige, hellbraune Stute von Dan Dawson zuerst hinter-
einander fünf einfarbige Füllen von dem Vollbluthengst
Belzoni, darauf zwei einfarbige Füllen von dem Traber-
hengst Schulz; das achte Füllen, von einem Schimmelhengst
Chiradam, war bei der Geburt von einer unklaren graufalben
Farbe mit dunkelm Rückenstrich und hatte am Knie- und
Sprunggelenk zebraähnliche dunkle Querstreifen und zwar
viel deutlicher, als solche in dem Morton'schen
Falle vorhanden waren; noch im ersten Jahre ver-
schwanden diese Zeichnungen, und das Thier wurde Schimmel
wie der Vater."
Auch Versuche mit der Absicht, die Telegonie zu er-
weisen, sind bereits angestellt worden, wie ich aus einer
Anmerkung bei S e 1 1 e g a s t p. 226 ersehe. Ein Herr Lang
in Stuttgart hat zwanzig Jahre hindurch mit Hunden Ver-
suche angestellt, die ihm aber „auch nicht eine Thatsache
lieferten, welche der Infections-Theorie Vorschub zu leisten
geeignet gewesen wären". Natürlich beweisen hier negative
Erfolge nichts, und die Entscheidung muss durch neue Ver-
suche angestrebt werden, da aber positive Ergebnisse von
Versuchen bis jetzt nicht vorliegen, und da grade die com-
peten testen Beurtheiler, die wissenschaftlich gebildeten unter
den Thierzüchtern, wie Settegast, Nathusius und der
kürzlich verstorbene Leiter der preussischen landwirtschaft-
lichen Versuchsstation zu Halle, Professor Kühn, trotz sehr
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- 91 -
ausgedehnter Erfahrung in Züchtung und Kreuzung niemals
Erscheinungen der Telegonie beobachtet haben und dieselbe
deshalb entschieden bezweifeln, so scheint mir, dass nach
den in der Wissenschaft geltenden Principien
erst die Bestätigung derSage durch die metho-
dische Untersuchung, in diesem Falle durch
das Experiment im Stande sein würde, dieTele-
gonie zum Rang einer Thatsache zu erheben.
Ich schliesse damit meine Erwiderung an Herbert
Spencer, obgleich seine Angriffe noch manchen Punkt be-
rühren, auf den näher einzugehen, nicht uninteressant wäre.
Allein die Fragen, um welche es sich handelt, sind tief-
greifende und können nicht mit einigen Worten abgemacht
werden. Ich hoffe, später an anderer Stelle auf sie zurück-
zukommen. W T enn es mir auch schwerlich gelungen sein wird,
meinen Gegner zu überzeugen — das gewöhnliche Schicksal
polemischer Entgegnungen — , so wird doch vielleicht der
unbefangene Leser die gute Begründung meiner Ansichten
zugestehen. Weitere Polemik halte ich für nutelos. Ich
überlasse es ruhig der Zukunft , zu unterscheiden , ob und
inwieweit meine Ansichten zum unbestrittenen und festen
Besitz der Wissenschaft werden können. Sie haben wohl
jetzt schon manche gute Frucht getragen, indem sie der
Forschung neue Gesichtspunkte eröffneten und dadurch neue
Thatsachen ans Licht lockten, und ich hoffe, sie werden noch
weiteren Fortschritt bringen.
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- 92 -
In demselben Heft des Biologischen Centraiblattes, in
welchem der Eingangs besprochene Aufsatz von Wilckens
steht, befindet sich ein solcher von Carlo Emery 1 ), „Ge-
danken zur Descendenz- und Vererbungstheorie", dem ich
hier noch einige Worte widmen möchte. Nicht etwa, dass
ich auf alle die Fragen eingehen wollte, welche in der an-
regenden Arbeit berührt werden — das würde nicht so
kurzer Hand geschehen können — wohl aber möchte ich das
Verhältniss, in welchem der Verfasser zum Lamarckismus
steht, ein wenig beleuchten, da es mir im Interesse des Fort-
schreitens unserer Erkenntniss wünschenswerth erscheint, dass
Diejenigen zusammenstehen, welche die gleiche Ueberzeugung
haben, und dass diese Uebereinstimmung nicht durch blosse
Wortdifferenzen maskirt bleibe.
Der gedankenreiche Verfasser erklärt sich in seinem
Aufsatz in wesentlichen Punkten mit meinen Ansichten über
Vererbung einverstanden, scheint aber grade in Bezug auf
diejenige Frage, welche von allen am tiefsten in die Ent-
wickelungslehre eingreift, ganz entgegengesetzter Ansicht zu
sein, ich meine in Bezug auf die Nichtvererbung erworbener
Eigenschaften, denn er sagt: „dass erworbene Eigen-
schaften der Organismen wirklich vererbt
werden können, scheint mir heute zweifellos".
Man wird nun erwarten, E m 6 r y würde die Ansicht der
Lamarckianer zu der seinigen machen, nach welcher „funetio-
nelle, d. h. durch die Function gesetzte Abände-
rungen vererbt werden können, allein das ist durchaus nicht
seine Meinung, er spricht nirgends davon, dass das Keim-
1) „Biologisches Centralblatt" vom 15. Juli 1893.
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— 93 —
plasma durch Abänderungen des Körpers in adäquater Weise
umgewandelt werden könne, und steht offenbar dem La-
marckismus gegenüber auf meiner Seite.
Die ganze Frage gipfelt ja darin, ob functionelle Hyper-
trophie oder Atrophie vererbbar sind; an dieser Entschei-
dung hängt es, ob wir das Hauptveränderungsprincip La-
marck's, „üebung oder Nichtgebrauch eines Organs", bei-
behalten dürfen oder nicht.
Em6ry's Satz nun, dass erworbene Eigenschaften der
Organismen vererbt werden könnten, bezieht sich gar nicht
auf functionelle Abänderungen, sondern auf ganz andere Er-
scheinungen, die mit dem Lamarck' sehen Entwickelungs-
prineip nichts zu thun haben, nämlich auf die Vererb-
barkeit allgemeiner Zustände des Körpers, wie
des Alkoholismus, der Epilepsie und der erwor-
benen Immunität für gewisse Krankheiten. Er
stellt sich vor, es seien „chemische Fermente", welche in
flüssiger Form von den Keimzellen aufgenommen und so auf
die folgende Generation übertragen würden, und die nun
dort die entsprechenden Krankheiten oder Immunitäten er-
zeugten. Ich will darüber nicht streiten, ob diese Vor-
stellung haltbar oder gar heute schon beweisbar sei, aber
ich möchte fragen, ob es zweckmässig ist, diese Uebertragung
von Zuständen der Eltern auf die Kinder „Vererbung"
zu nennen? Ich selbst habe einige davon als „Infection"
des Keimes bezeichnet, soweit es mir nämlich nachgewiesen
oder doch wahrscheinlich schien, dass sie auf der Ueber-
tragung fremder parasitischer Organismen beruhen, wie dies
für die Pebrine der Seidenraupe sicher, für die Syphilis
mindestens wahrscheinlich, für die traumatische Epilepsie
wenigstens denkbar ist. Warum sollen wir den scharf ge-
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— 94 —
fassten Begriff der Vererbung wieder unklar werden lassen,
indem wir abnormale Vorgänge hineinrechnen, die mit der
Architectur des Keimplasmas nichts zu thun haben? Nur
von dieser und den sie zusammensetzenden chemischen
Baustoffen kann die wirkliche Vererbung bedingt sein, d. h.
die Wiederholung des elterlichen Baues im Kind, die Ver-
mischung der elterlichen Eigenschaften und die Durchsetzung
derselben mit solchen weiter zurückliegender Vorfahren. Die
diese normale Vererbung bewirkende Substanz kann keine
Flüssigkeit, sie muss eine feste Substanz sein, und zwar
deshalb, weil die ungeheure Mannigfaltigkeit des Keim-
plasmas nach Individuen und Arten, wie wir sie aus der
Beschaffenheit der fertigen Organismen erschliessen können,
undenkbar wäre, wenn die Vererbungssubstanz eine Flüssig-
keit wäre. Das hat vor mir schon Näge Ii in überzeugender
Weise dargethan. W T ie sollte diese unendliche Mannigfaltig-
keit zu Stande kommen, wenn die Molecüle der Vererbungs-
substanz als Lösung vorhanden wären, d. h. keine bestimmten
Lagerungsverhältnisse gegen einander einhielten, wenn sie
also rein nur auf der chemischen Verschiedenheit dieser
Molecüle beruhen müsste? üeberdies kann die lebende Sub-
stanz nicht aus freien Molecülen zusammengesetzt sein,
sondern sie muss aus fest zusammengeordneten Molecül-
gruppen bestehen, aus dem, was de Vries Pangene,
Wiesner Plasome, ich selbst Lebensträger oder Biophoren
genannt habe.
Ich will nicht gradezu bestreiten, dass ausser para-
sitischen Organismen auch noch gelöste „chemische Fer-
mente" den Keimzellen beigemengt sein können, obgleich mir
die Vorstellung solcher „Fermente" noch recht unbestimmt,
und ihre Existenz noch nicht wirklich erwiesen zu sein
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scheint, aber dann,' meine ich, sollte man sie nicht zur Ver-
erbungssubstanz rechnen, sondern sie als eine Zuthat be-
trachten, als eine Beimischung zur Keimzelle, als eine
„Intoxication" oder Beladung derselben mit Giftstoffen oder
Gegengiften. Gewiss sind die Erscheinungen, auf welche
Eni6ry sich bezieht, von grossem Interesse, die sonderbaren
Kachexien, welche nach der Exstirpation des Pancreas, der
Nebennieren und der Thyreoidea bei höheren Wirbelthieren
entstehen ; vielleicht ist es auch ein glücklicher Gedanke, die-
selben mit den nicht minder auffallenden Erscheinungen der
Arrhenoidie oder Telyidie in Parallele zu setzen und beide
auf das durch die Entfernung der betreffenden Organe, in
letzterem Falle also der Geschlechtsdrüsen, hervorgerufene
Fehlen eines wichtigen und geheimnissvollen Ausscheidungs-
stoffes zu beziehen — in jedem Falle aber haben derlei
Vorgänge mit der Vererbung nichts zu thun, und ich möchte
es für recht wünschenswerth halten, dass sie scharf von ihr
gesondert würden. Schon vor langer Zeit habe ich den Satz
verfochten , dass Ei- und Samenzelle in ihrer Vererbungs-
wirkung homodynam seien; heute zweifelt wohl Niemand
mehr daran, dass sie dies wirklich sind, dass sie beide
gleiche Mengen einer im Allgemeinen gleichen Vererbungs-
substanz enthalten. Dies schliesst aber nicht aus, dass sie
nicht in Bezug auf ihre eigene Lebensthätigkeit verschieden
seien, und wir wissen ja, dass sie dies wirklich sind, sie
sind verschieden gebaut und verhalten sich verschieden.
Sie scheiden auch aller Wahrscheinlichkeit nach verschieden-
artige Stoffe aus, deim sie ziehen sich gegenseitig an, und
die berühmte Entdeckung Pfeffer' s an niederen Algen
deutet darauf, dass solche Anziehungen auf der Ausscheidung
gewisser Stoffe beruhen, wie denn auch die Erfahrungen
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Auerbach' s mit der kyanophilen und erythrophilen Sub-
stanz der beiderlei Geschlechtszellen vielleicht eine Deutung
nach dieser Richtung zulassen. Aber Niemand wird behaupten
dürfen, dass diese hypothetischen Anziehungssubstanzen etwas
mit der Vererbungssubstanz zu thun hätten; diese bleibt viel-
mehr ganz unberührt von dem Verhalten der Geschlechts-
zellen und tritt erst in Function, wenn der neue Organismus
gebildet werden soll Die Keimzelle führt also Stoffe mit
sich und bringt sie in diesem Falle sogar hervor, welche den
Vererbungsvorgang zwar herbeiführen helfen durch Ermög-
lichung der Amphimixis, selbst aber durchaus nicht etwa
einen Theil der Vererbungssubstanz ausmachen. In ähnlicher
Weise können nun die Keimzellen noch mit anderen festen
oder — wenn Em6ry Recht hat — auch gelösten Stoffen
beladen sein, und wenn diese im Kind Aufnahme und Ver-
mehrung erlangen, erzeugen sie ähnliche Zustände, krank-
hafte oder Krankheit verhindernde, wie sie in den Eltern be-
standen hatten, als die betreffenden Keimzellen sich in ihnen
bildeten. Das ist nicht Vererbung, sondern entweder „An-
steckung des Keims" oder „Gifttransport" durch
den Keim.
So sind also auch Emery's interessante „Gedanken"
nicht geeignet noch bestimmt, dem Princip Lamarck's
wieder zur Geltung zu verhelfen; sie betreflen diese Frage
gar nicht, und es ist blos eine ungewöhnliche Ausdehnung
des Begriffes der Vererbung, welche den Schein eines Ein-
tretens für dieses Princip hervorruft.
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